Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/9/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Die AfD wünscht eine Geschäftsordnungsdebatte zur Tagesordnung nach § 29.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sie wünschen das Wort zur Geschäftsordnung?

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dann nehmen Sie es. Bitte, Sie haben das Wort.

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sprechen wird der Kollege Stephan Brandner dazu.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Der Kollege Brandner wünscht das Wort zur Geschäftsordnung. Dann haben Sie das Wort zur Geschäftsordnung. Bitte sehr. ({0}) Dazu brauchen wir keine Debatte zu beschließen. Wenn das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht wird, wird es erteilt. So ist die Regel. ({1}) Herr Kollege Brandner.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich habe noch gar nicht gefrühstückt. Hier steht kein Wasser. Könnte ich ein Schlückchen Wasser bekommen?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte?

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich hätte gerne einen Schluck Wasser, bevor ich beginne. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Brandner, einen Moment, bitte.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke schön.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Wenn Sie noch einmal Platz nehmen würden. Wir werden jetzt das Wasser hinstellen. ({0})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich habe es jetzt. Danke.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dann haben Sie jetzt das Wort, und bitte nehmen Sie es auch. ({0})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren! Es ist an mir, den Geschäftsordnungsantrag der AfD-Fraktion zu begründen. ({0}) Wahrscheinlich wird da einer von Ihnen ausgekungelt, der für alle erwidert. Ich tippe mal auf den Kollegen Buschmann, der das macht. Meine Damen und Herren, aus zwei Gründen lehnen wir die Tagesordnung ab: Der erste Grund ist ein weiterer Bruch mit einer langen parlamentarischen Tradition in diesem Hause: dass es der größten Oppositionsfraktion obliegt, den ersten Tagesordnungspunkt, den ersten Oppositionstagesordnungspunkt, am Donnerstag zu bestimmen. Das war immer so. Es ist plötzlich nicht mehr so. ({1}) Plötzlich gibt es ein roulierendes System, nach dem die größte Oppositionsfraktion, also die AfD, und dann eine weitere, meistens die FDP, diesen Tagesordnungspunkt bestimmen kann. Dass die FDP eine Art Wurmfortsatz der Regierung ist, wissen wir alle. Dass dadurch aber mit parlamentarischen Traditionen gebrochen wird, ist eine Schande für dieses Parlament, meine Damen und Herren. ({2}) Wenn ich über parlamentarische Traditionen rede, erlaube ich mir, an Ihre Tricks im Jahre 2017 zu erinnern, uns den seit über 100 Jahren feststehenden Alterspräsidenten zu versagen und sich da in die Tradition eines Reichsinnenministers und eines Reichstagspräsidenten zu stellen. Auch da haben Sie mit Traditionen gebrochen, meine Damen und Herren. Aber der Gipfel der Ignoranz und der Willkür des Umgangs mit uns ist das, was Sie hier mit dem Bundestagsvizepräsidenten veranstalten. Wir haben heute beantragt, eine Wahl aufzusetzen. Wir haben drei Kandidaten vorgeschlagen, meine Damen und Herren. ({3}) Es wurde von Ihnen abgelehnt, überhaupt nur die Wahl auf die Tagesordnung zu nehmen. ({4}) Damit verstoßen Sie gegen Verfassungsrecht, Sie verstoßen gegen das Geschäftsordnungsrecht, ({5}) und Sie verstoßen gegen einstimmige Beschlüsse dieses Parlaments. ({6}) Artikel 40 Absatz 1 des Grundgesetzes statuiert Bundestagspräsidenten und Bundestagsvizepräsidenten. Sie haben also Verfassungsrang. Wenn Sie in § 2 der Geschäftsordnung hineinschauen: Da ist statuiert – und das ist nicht etwa eine lose Abrede zwischen irgendjemandem –, dass jeder Fraktion mindestens ein Bundestagsvizepräsident zusteht. ({7}) Und da wir von der AfD eine Fraktion sind, steht uns das zu. Da können Sie erzählen, was Sie wollen. ({8}) Jetzt könnte man sagen: Die Geschäftsordnung interessiert uns nicht weiter, wenn es um die AfD geht. – Genauso handeln Sie heute und hier auch wieder. Es gibt aber auch noch einen Bundestagsbeschluss, den wir am 27. Oktober 2017 gefasst haben: Bundestagsdrucksache 19/3. Die scheint bei Ihnen allen in Vergessenheit geraten zu sein. Einstimmig – einstimmig! – hat dieser Deutsche Bundestag – bei zwei Enthaltungen – beschlossen, dass jeder Fraktion ein Bundestagsvizepräsident zusteht. Da gibt es keine Auslegungsmöglichkeiten, meine Damen und Herren, und darauf bestehen wir. ({9}) Deshalb ist es zwingend, dass natürlich auch der Tagesordnungspunkt zur Wahl eines Bundestagsvizepräsidenten aufgesetzt wird, meine Damen und Herren. Es ist geltendes Verfassungsrecht, geltendes Geschäftsordnungsrecht. § 2 Absatz 2 Satz 5 – Herr Buschmann, ich tippe mal, dass Sie gleich darauf eingehen werden – sieht vor, dass mehrere Kandidaten zur Wahl gestellt werden können. Das steht ausdrücklich da drin. ({10}) Da steht nirgendwo, dass diese Kandidaten nicht von einer Fraktion stammen dürfen. Und seien Sie doch froh darüber: Wir unterbreiten Ihnen ein weiteres Personaltableau mit fähigen Persönlichkeiten, die wir Ihnen vorgeschlagen haben, mit Herrn Otten, mit Herrn Podolay und mit Herrn Renner. Sie haben die Auswahl. Sie haben die Qual der Wahl, liebe Altfraktionen. ({11}) Jetzt sagen Sie alle: Ja, stellt doch einen auf; dann wählen wir einen guten. – Und jetzt wird es ganz perfide: Jetzt setzen Sie den Tagesordnungspunkt nicht mal mehr auf die Tagesordnung. Es gibt Bestrebungen der FDP, zu sagen: Jetzt wählen wir nur noch alle drei Wochen. ({12}) Ja, was ist das denn für eine Demokratie? So was geht überhaupt nicht. Entweder haben wir einen Anspruch darauf, und der ist statuiert in der Geschäftsordnung und im einstimmigen Beschluss auf Drucksache 19/3, oder wir haben ihn nicht. Dann sagen Sie doch ganz offen, dass Sie keinen wählen wollen. Ändern Sie die Geschäftsordnung, heben Sie den Beschluss 19/3 auf, und ändern Sie meinetwegen das Grundgesetz. Das wäre dann gradlinig von Ihnen. Aber zu heucheln, dass Sie Beschlüsse beachten würden, und hier das Gegenteil zu tun, das geht nicht. ({13}) Deshalb bitte ich Sie: Kehren Sie auf den Boden der Rechtsstaatlichkeit zurück! Blockieren Sie nicht weiter die Arbeit des Bundestages durch Geschäftsordnungstricks! Verhalten Sie sich einfach, wie Demokraten sich verhalten in einer funktionierenden Demokratie! Vielen Dank. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zur Vermeidung von Unklarheiten möchte ich Artikel 40 Absatz 1 des Grundgesetzes zitieren: Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer. Er gibt sich eine Geschäftsordnung. Es ist eine Vorschrift des Grundgesetzes, dass die Mitglieder des Präsidiums des Deutschen Bundestages gewählt werden. ({0}) Wird weiter das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? – Der Herr Kollege Buschmann wünscht das Wort. ({1}) – Es ist die Pflicht eines Bundestagspräsidenten, auf das Grundgesetz hinzuweisen. ({2}) Jetzt hat das Wort zur Geschäftsordnung der Kollege Buschmann.

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eines zeigt diese Maßnahme erneut: Keine andere Fraktion dieses Hauses steht mit dem Prinzip des Rechtsstaats und der Achtung vor den Institutionen unserer Verfassung ({0}) so sehr auf Kriegsfuß wie diese Fraktion der AfD. ({1}) Deshalb möchte ich diese Scharlatanerie hier einmal einordnen. Sie ist Ausfluss einer Ansage, die Ihr Fraktionsvorsitzender in der „FAZ“ in einem Interview gemacht hat, es solle hier im Parlament – wörtliches Zitat – Krieg geführt werden. ({2}) Krieg ist kein sportlicher Wettbewerb, sondern zielt auf Vernichtung ab. Was Sie vernichten wollen, ist das Ansehen dieses Parlaments und dieses Hauses. ({3}) Dies denke ich mir nicht aus. In der „FAZ“ vom 4. April 2019 ist zu lesen: Die AfD droht damit, die Arbeit des Bundestags systematisch zu behindern ... Dann folgt ein wörtliches Zitat aus einem internen Papier der AfD, das die „FAZ“ zitiert: ({4}) „In jeder Sitzungswoche fänden dann zeitraubende Wahlen statt“ ... Das werde „das Ansehen des Bundestags nachhaltig beschädigen und das Vertrauen in unsere Demokratie erschüttern“. ({5}) Darauf legen Sie es an. Schämen Sie sich! ({6}) Und wie gehen Sie vor, um dieses Ziel der Untergrabung des Ansehens des Bundestages hier zu erreichen? ({7}) Sie machen Taschenspielertricks. ({8}) Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages sieht vor, dass Wahlgänge im Zweifelsfall nur dann stattfinden, wenn sie vorher angekündigt und als Drucksache verteilt wurden und eine Schutzfrist von drei Wochen verstrichen ist. Das ist Ausfluss der wehrhaften Demokratie, um sich gegen Verfassungsfeinde in diesem Haus zur Wehr zu setzen. ({9}) Darüber, dass wir auf diese Regeln bestehen, wenn Sie uns mit Ansage den Krieg erklären, dürfen Sie sich nicht beklagen. Deutschland ist eine wehrhafte Demokratie gegen Leute wie Sie. ({10}) Was Sie in der Sache vortragen, entbehrt jeder juristischen Logik. Deshalb ist es Ihrem Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer vermutlich zu peinlich, das hier vorzutragen. Da muss Herr Brandner hier in die Bütt steigen, ({11}) um uns zu erklären, dass die Wahl eines Vizepräsidenten ein Benennungsrecht seiner Fraktion darstelle. Ich darf Sie aufklären: Sie haben ein Vorschlagsrecht, wählen tut der Bundestag mit Mehrheit. Daran werden Sie nichts ändern. ({12}) Gleich drei Kandidaten aus einer Fraktion für eine Position vorzuschlagen, obwohl Ihnen nur ein Benennungsrecht zusteht, ist nicht nur rechtlicher Blödsinn, es ist an Peinlichkeit nicht zu überbieten. ({13}) Jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand weiß, dass, wenn man ein Vorschlagsrecht für eine Position hat, man nicht drei Kandidaten vorstellen kann. Das ist ein Fortsetzungsroman mit Ansage. Wir wissen ja, worauf das hinausläuft: Sie wollen dann nämlich am Ende behaupten, wenn Sie drei Kandidaten vorschlagen, dass im dritten Wahlgang die relative Mehrheit reichen würde. Wer dann die Stimmen Ihrer Fraktion hat, der ist es dann. Sie wollen ein Wahlrecht in ein einseitiges Benennungsrecht umwidmen. Das ist undemokratisch! Das ist verfassungswidrig! Auf solche Hütchenspielertricks werden wir hier nicht hereinfallen. ({14}) Deshalb, meine Damen und Herren: Unser Parlament hat Regeln! Unser Parlament kennt Ordnung! Diese Regeln und diese Ordnung sind dazu da, um uns gegen Obstruktion, wie Sie sie vorhaben, zu schützen. Wenn Sie uns den Krieg erklären, davor haben wir keine Angst; denn unsere Verfassung ist wehrhaft gegen Leute wie Sie. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen mir nicht vor. Wir kommen damit zur Feststellung der Tagesordnungen der heutigen 98. und der morgigen 99. Sitzung mit den zuvor genannten einvernehmlichen Ergänzungen. Wer stimmt für diese so ergänzte Tagesordnung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Tagesordnung gegen die Stimmen der AfD mit den Stimmen der übrigen Fraktionen so beschlossen.

Not found (Minister:in)

Für Bau und Heimat.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Entschuldigung, für Bau und Heimat. Früher hieß es einfach nur Bundesminister des Innern. Das war auch ein schöner Titel. ({0})

Not found (Minister:in)

Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Gesundheitsbranche, in der Pflege, im Handwerk, auf dem Bau und in vielen technologischen Berufen suchen die Betriebe händeringend nach Fachkräften. Die demografische Entwicklung wird dieses Problem des Fachkräftemangels noch verstärken. Ich möchte festhalten, dass zuallererst unser Arbeitskräftepotenzial im Inland und in Europa genutzt wird, um dieses Problem zu bewältigen. Absehbar wird dies aber nicht ausreichen, um den Fachkräftebedarf bei uns in der Bundesrepublik Deutschland zu sichern. Deshalb legt die Bundesregierung heute den Entwurf eines Fachkräfteeinwanderungsgesetzes vor und gibt damit ein klares Bekenntnis zur Fachkräfteeinwanderung aus Drittstaaten ab, das heißt aus Staaten außerhalb der Europäischen Union. Wir schaffen mit diesem Gesetz die Voraussetzungen dafür, dass diejenigen Fachkräfte, die unsere Wirtschaft dringend braucht, gesteuert und geordnet zu uns kommen können. Das ist nach vielen Jahrzehnten, wie ich meine, eine historische Weichenstellung in der Bundesrepublik Deutschland. ({0}) Der Gesetzentwurf enthält klare Kriterien dafür, wer unter welchen Voraussetzungen zum Arbeiten nach Deutschland kommen darf. Damit bekommen die Unternehmen Rechtssicherheit, und die Fachkräfte, die zum Arbeiten nach Deutschland kommen wollen, bekommen eine Perspektive. Meine Damen und Herren, gebraucht werden Fachkräfte. Das sind einerseits Hochschulabsolventen und andererseits Fachkräfte mit einer qualifizierten Berufsausbildung. Wir legen Wert auf beide Gruppen. Es ist im Rahmen der Regelung des Aufenthalts- und Erwerbsrechts endlich der Fall, dass diese beiden Gruppen durch ein Gesetz dieselbe Behandlung und die gleiche Wertschätzung erfahren. Es ist wichtig, dass Hochschulabsolventen zu uns in unser Land kommen können, um zu arbeiten. Aber es ist mindestens genauso wichtig, dass wir Fachkräfte mit einer qualifizierten Berufsausbildung für die betrieblichen Berufe im dualen System den Hochschulabsolventen diesbezüglich gleichstellen. ({1}) Wir machen damit deutlich, dass wir die Fachkräftezuwanderung steuern wollen. Wir stellen ab auf die Qualifikation der Bewerber und Interessenten. Diese Qualifikation wird – das ist der Hauptteil des Gesetzes – aus dem Ausland durch deutsche Stellen geprüft. Nur wer eine anerkannte Qualifikation hat oder wer so weit qualifiziert ist, dass er mit Anpassungslehrgängen die volle Anerkennung erreichen kann, darf zur Erwerbstätigkeit einwandern. Das sind klare Regeln. Aber wir machen dieses Gesetz nicht nur für heute, sondern wir denken auch daran, dass sich die Konjunktur, die Arbeitsplatzsituation in Regionen oder im ganzen Land verändern können. Deshalb haben wir Vorsorge getroffen und sehen im Gesetz eine Verordnungsermächtigung vor. Bei einer Veränderung der Arbeitsmarktsituation in einer Region ist also sichergestellt, dass wieder eine Vorrangprüfung durchgeführt werden kann. Das heißt, dass bei einem Strukturwandel in einer Region die Menschen, die dort bereits leben, einen Vorrang bei der Arbeitsplatzvermittlung haben. Wir sehen eine weitere Verordnungsermächtigung vor, und zwar eine Zuwanderungssperre für Menschen aus bestimmen Staaten für den Fall, dass sich herausstellen sollte, dass aus bestimmten Staaten heraus missbräuchliche Entwicklungen zu verzeichnen sind. Auch das halte ich für eine sehr verantwortliche Politik. Den Grundsatz regeln, auf die Qualifikation abstellen, aber auch an eine schnelle Reaktionsmöglichkeit denken, wenn sich Strukturen oder die Konjunktur verändern oder wenn sich missbräuchliche Entwicklungen zeigen: Das ist Verantwortung in der Politik. ({2}) Ich will noch auf einen Punkt hinweisen, über den sich in diesen Stunden eine eigenartige Diskussion entwickelt hat. Wir haben seit Jahren eine Regelung für Hochschulabsolventen, die sich sehr bewährt hat, nämlich dass Hochschulabsolventen zu uns kommen können, um einen Arbeitsplatz zu suchen. Genau diese seit Jahren mit null Problemen versehenen Regeln erweitern wir jetzt auf die Ausbildungsplatz- und Arbeitsplatzsuche im dualen System. Das ist nur recht und billig. Wir binden das auch an Bedingungen, nämlich gute deutsche Sprachkenntnisse und entsprechende Schulabschlüsse. Deshalb ist das, was wir jetzt einführen, nichts Neues, sondern eine Gleichstellung mit der schon lange bestehenden Regelung für Hochschulabsolventen. Wir schaffen also klare Regeln. Wir werden dadurch jederzeit die Kontrolle darüber behalten, wer zu uns ins Land kommt und wer hier erwerbstätig werden kann. Es sind die Menschen, die wir brauchen und die unserer Volkswirtschaft nutzen. Genau das ist eine moderne und kluge Einwanderungspolitik. Für mich ist zentral, dass wir an der klaren und auch nachvollziehbaren strikten Trennung von Asyl und Erwerbsmigration festhalten. Das ist ein wesentlicher Teil dieses Gesetzes. Es geht hier um die Erwerbsmigration, und es geht nicht um eine Spielart des Asylverfahrens. Deshalb sage ich als Minister, der auch für Asylverfahren zuständig ist: Ich bin der tiefen Überzeugung, dass dieses Gesetz geeignet ist, die legale Migration zu stärken und die illegale Migration zurückzudrängen. Das ist ein ganz wichtiges politisches Ziel. ({3}) Das gesamte Gesetzesvorhaben bettet sich in die Gesamtstrategie dieser Koalition und Regierung ein, nämlich Migration zu ordnen und zu steuern. Wir haben ja die Leitbegriffe Humanität und Ordnung: auf der einen Seite Humanität und Schutzgewährung für Verfolgte sowie Integration für schutzbedürftige Menschen und auf der anderen Seite Ordnung durch Steuerung und Begrenzung. Zu dieser Steuerung gehört auch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Im Vollzug wird dieses Gesetz auf engste Zusammenarbeit mit der deutschen Wirtschaft angewiesen sein. Wir brauchen die deutsche Wirtschaft im Ausland für die Anwerbung der Fachkräfte in den Außenhandelskammern. Das wird eine Aufgabe sein, die der deutsche Wirtschaftsminister Herr Altmaier und auch der Sozialminister Hubertus Heil zu managen haben. Das Gesetz wird dann richtig mit Leben erfüllt, wenn die Wirtschaft und die Sozialpartner bei der Umsetzung engstens zusammenwirken. Das Gesetz entspricht meiner ganz persönlichen Überzeugung, auch wenn ich hier immer im Verdacht stehe, ich hätte nur die Begrenzung der Zuwanderung im Sinne. ({4}) Die Zukunft unseres Wirtschaftsstandortes, der Wohlstand und die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme hängen nach meinem Dafürhalten ganz entscheidend davon ab, wie gut es uns gelingt, die Fachkräftebasis der Unternehmen und Betriebe zu sichern. ({5}) Ich glaube, dass der heute vorgelegte Gesetzentwurf dafür eine gute, ich meine sogar, eine beste Grundlage bietet. ({6}) Ich kenne jedenfalls in Europa kein Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das moderner ist als das, was die Koalition hier heute vorlegt. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gottfried Curio, AfD. ({0})

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Abgeordnete! Ein Satz vorweg: Wir diskutieren oft gemäß unterschiedlicher gesellschaftlicher Zielvorstellungen – okay. Aber vonseiten der Altparteien erleben wir hier leider auch die nackte Arroganz der Macht wie jetzt bei der widerrechtlichen Verhinderung ({0}) einer demokratischen Auswahl unseres Vizepräsidenten. Heute ist ein schwarzer Tag für die Demokratie in Deutschland. ({1}) Dieses Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist eine Mogelpackung. Es dient gerade nicht dem Zweck, den es zu befördern vorgibt. Was lesen wir da? Keine Beschränkung auf Mangelberufe – also egal, ob wir die Leute überhaupt brauchen, Hauptsache mehr fremdkulturelle Zuwanderung. Keine Vorrangprüfung – also egal, ob ein Deutscher oder ein Europäer den Job machen könnte, Hauptsache außereuropäische Zuwanderung. Kein Nachweis der Gleichwertigkeit einer Qualifikation vor Einreise – ja erst hier Beginn einer Ausbildung. Also egal, ob überhaupt Fachkräfte kommen, wenn nur mehr Zuwanderung. Kein Arbeitsplatznachweis – erst hier Jobsuche. Also egal, ob überhaupt Arbeitskräfte kommen, aber bitte Zuwanderung – und das bei einer europäischen Jugendarbeitslosigkeit von über 20 Millionen. Wo sind da die Initiativen der Regierung für die eigene Jugend? Erst die Bildung an die Wand fahren und dann nach Fachkräften rufen. Na, danke sehr! ({2}) Tatsächlich wird das Gesetz die Armutsmigration Unterqualifizierter anheizen. Pseudofachkräfte aus Afrika als Reservearmee von Niedriglohnsklaven werden die Arbeitsmarktlage für deutsche Arbeitnehmer weiter verschlechtern. Die Folge: Lohndumping im Niedriglohnbereich, ({3}) Engpass am Wohnungsmarkt. Erst Hundertausende Migranten reinlassen und dann Wohnungsmangel beklagen. Überlastung der Städte durch Dauerzustrom in die Parallelgesellschaften – so wird die jetzt schon oft abgelehnte Integration immer aussichtsloser. Man hat es nicht mehr nötig. Das ist unverantwortlich. Wer nach einem halben Jahr ohne Arbeit bleibt, kann im umgekehrten Spurwechsel Asyl beantragen und dann auf unsere Kosten leben. Schon jetzt werden Hunderttausende abgelehnte Asylbewerber nicht abgeschoben. Die illegale Einwanderung läuft neben diesem Einwanderungsgesetz massenhaft weiter. Das Gesetz öffnet nur eine weitere Schleuse. Aber warum draußen Deutsch lernen, wenn man drinnen nur ein einziges Wort aussprechen können muss? Jetzt sind es sogar zwei Wörter. War sonst „Asyl“ das Sesam-öffne-dich, geht jetzt auch „Fachkraft“. ({4}) Dieses Gesetz ist eine Totgeburt. Während Sie auf der Lauer liegen – mit Schmetterlingsnetz ausspähend nach diesem seltenen Geschöpf einer vorbeilaufenden deutschsprechenden Fachkraft aus dem Senegal, die sich hier auf Jobsuche selbst durchschlagen will –, spazieren zugleich Hunderttausende nichtausgebildete, fremdsprachige, fremdkulturelle Nichtfachkräfte illegal über die grüne Grenze, die immer noch völlig ungeschützt ist, und lassen sich hier mit Wohnung, Geld, Integrations- und Sprachkursen und allen Rechten ausstatten. Mal Mut zur Wahrheit: Das Modell „Asylbewerber in Deutschland“ ist nun einmal unschlagbar, ist Lebensziel und Migrationszweck für Millionen und schlägt jedes Einwanderungsgesetz. ({5}) Dann setzt die Arbeitsduldung, ja sogar schon Ausbildungsduldung dem Ganzen die Krone auf. Dieses Spurwechselgesetz hebelt das schon fehlkonstruierte Einwanderungsgesetz noch einmal aus. Nix mehr mit Fachkräften! Abgelehnte Asylbewerber, die gar nicht hier sein dürften, die diesen Staat betrogen haben, sollen über das neue Duldungsticket hierbleiben können. Das ist die perfekte Legalisierung des Asylmissbrauchs, ein Zuwanderungsanreiz mit weltweiter Sogwirkung. ({6}) Sie werden nach jahrelangen Widerspruchsverfahren klagen, nach oft fragwürdig erlangten Duldungen ein paar Konditiönchen – ein bisschen Sprache, Ausbildungsbeginn, Jobversuch; der Ali, der den Dönerspieß aus dem Hinterzimmer nach vorne trägt, ist in Ausbildung – nachreichen. Sie alle werden zu regulären Einwanderern gemacht – mit voller Aussicht auf Daueraufenthalt und Staatsbürgerschaft. Spurwechsel als Lohn der Lüge, meine Damen und Herren! Dieses Gesetz hebt zum Schaden Deutschlands die gebotene Trennung von Asyl- und Einwanderungsrecht auf. ({7}) Das dient nicht pragmatisch den Interessen unserer Bürger, sondern missbraucht deren Leistungsfähigkeit für die Wohlfahrt ausländischer Migranten. Die AfD wird das beenden. Denn der gefährlichste Fachkräftemangel, den wir in Deutschland haben, ist der in der Regierung. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil. ({0})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle wollen doch, dass es in unserem Land gut läuft. ({0}) Wir erleben im Moment, dass Fachkräftemangel in vielen Regionen und Branchen eine große Wachstumsbremse ist. Wer in Berlin beispielsweise versucht, einen Handwerker zu bekommen, weiß, wie viel Arbeit schneller erledigt werden könnte, wenn wir mehr Fachkräfte zur Verfügung hätten. Das Problem wird sich in den nächsten Jahren verschärfen. Deshalb ist es vollkommen richtig, dass wir im Rahmen einer Gesamtfachkräftestrategie mit der deutschen Wirtschaft, mit den Gewerkschaften, mit Bund und Ländern erst einmal alles tun, die inländischen Potenziale in Deutschland zu nutzen. Ja, es ist richtig: Wir haben da noch viel Luft nach oben. Wir haben Fachkräftemangel und gleichzeitig 50 000 junge Menschen in Deutschland, die Jahr für Jahr ohne schulischen Abschluss die Schule verlassen. Wir haben 1,6 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ohne berufliche Erstausbildung. Denen müssen wir eine Chance geben. Das tut diese Bundesregierung, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({1}) Sie tut dies, indem sie Mittel für die Organisation der Ganztagsbetreuung in Bund und Ländern bereitstellt, mit Investitionen in digitale Bildung, mit Hilfen für die zweite Chance für diejenigen, die den Abschluss verpasst haben, mit Mitteln der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Es geht auch um die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie und um die bessere Verteilung der Arbeitszeit zwischen Männern und Frauen. Die Frauenerwerbsbeteiligung ist zwar viel höher als vor vielen Jahren, aber das Arbeitszeitvolumen ist immer noch nicht richtig zwischen Männern und Frauen verteilt. Es geht um Weiterbildung. All das ist notwendig. Gleichwohl – Horst Seehofer hat es zu Recht gesagt – werden wir ergänzende Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte aus dem Ausland brauchen – nicht nur aus dem europäischen Ausland, sondern auch aus Drittstaaten. Heute legen wir Ihnen das Fachkräfteeinwanderungsgesetz vor. Ich kann nur sagen: Wenn Sie uns nicht glauben, hören Sie auf den Zentralverband des Deutschen Handwerks, der sich gestern dazu geäußert hat. Er hat gesagt: Beide Gesetze – das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und das Beschäftigungsduldungsgesetz, das heute auch vorliegt – sind der richtige Weg; es ist eine ausgewogene Lösung und sortiert die Einwanderungs- und Migrationspolitik auf vernünftige Weise. Ich kann die Notwendigkeit dieses Gesetzes an einem praktischen Beispiel, basierend auf dem, was wir auf den Weg gebracht haben, verdeutlichen. Wir haben schon Zuwanderungsmöglichkeiten für akademisch Gebildete in Deutschland. Wir haben aber keine ausreichenden Zuwanderungsmöglichkeiten für beruflich Qualifizierte. ({2}) Es ist vollkommen richtig, dass wir dafür unbürokratische, praktische Lösungen schaffen. Eine Voraussetzung limitiert die Möglichkeiten, nach Deutschland zu kommen, im Gegensatz zu klassischen Einwanderungsländern stark. Das ist die Tatsache, dass die deutsche Sprache auf der Welt von ungefähr 100 Millionen Menschen gesprochen wird – 80 Millionen Menschen davon wohnen allein in Deutschland, ein paar auch in Österreich und in der Schweiz. Das heißt, im Gegensatz zu englischsprachigen oder französischsprachigen Ländern ist die Zahl potenzieller Einwanderer mit Deutschkenntnissen auf der Welt nicht so riesig. Warum halten wir trotzdem daran fest? Weil wir einen Fehler der Vergangenheit – die Arbeitskräftezuwanderung der 60er- und frühen 70er-Jahre – nicht wiederholen wollen. Um es mit Max Frisch zu sagen: Wir wollten damals Arbeitskräfte, aber es kamen Menschen. – Deshalb ist es richtig, dass, wenn wir Fachkräfte nach Deutschland holen, wir davon ausgehen müssen, dass viele von denen dauerhaft hierbleiben. Wir müssen das Thema Integration mitdenken. Es ist notwendig, im Ausland unsere Anstrengungen zu verstärken, dass mehr Menschen die deutsche Sprache mithilfe von Goethe-Instituten, mit Institutionen, die dafür notwendig sind, lernen können, damit wir die Potenziale nutzen können. Aber weil viele Qualifizierte uns nicht automatisch die Bude einrennen werden, ist es richtig, dass wir eine gemeinsame Anwerbestrategie mit der deutschen Wirtschaft organisieren und der Wirtschaft die Chance geben, das Ganze unbürokratisch hinzubekommen. Die Unternehmen haben ganz praktische Probleme: Visumserteilung, die Frage der Anerkennung von beruflichen Qualifikationen. Dafür haben wir in diesem Gesetz richtig gute Regelungen geschaffen. Meine Damen und Herren, heute ist ein guter Tag, indem wir im Rahmen einer Fachkräftestrategie Regelungen für eine ergänzende Fachkräfteeinwanderung ermöglichen. Lassen Sie mich noch einen Satz zum Thema Beschäftigungsduldung sagen. Es macht doch keinen Sinn, meine Damen und Herren, auf der einen Seite mühsam Fachkräfte aus dem Ausland zu holen, und andererseits die Fachkräfte, die wir schon bei uns haben, abzuschieben. ({3}) Deshalb haben wir gesagt: Wir brauchen eine pragmatische Lösung. Nächste Woche beraten wir das Geordnete-Rückkehr-Gesetz. Ja, es ist richtig, dass Menschen zurückgeführt werden müssen, die kein Recht haben, in diesem Land zu sein. ({4}) Aber wir brauchen Lösungen für Menschen, die ganz lange hier sind, die sich inzwischen integriert haben, die die deutsche Sprache können, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, die in Ausbildung oder in Arbeit sind. Für diese Menschen brauchen wir pragmatische Lösungen. Sie alle kennen doch die Fälle aus den Wahlkreisen, in denen uns das deutsche Handwerk, viele Mittelständler sagen: Wir haben hier Leute, die wir richtig gut gebrauchen können. ({5}) Mit der Beschäftigungsduldung gehen wir einen klugen, einen ausgewogenen Weg, um das Ganze zu organisieren. Es braucht entsprechende Vorzeiten, langfristige Duldungen. Es braucht Beschäftigung. Es braucht die Sicherung des Lebensunterhaltes an dieser Stelle. Es braucht Sprachkenntnisse. Und es muss natürlich klar sein, dass die Menschen straffrei hier sind. Wir schaffen mit der Beschäftigungsduldung die Chance, für einen Zeitraum in Arbeit zu bleiben, einen anderen Status zu bekommen. Wenn der absolviert ist, dann gibt es auch die Chance, dauerhaft hierzubleiben. Das ist, meine Damen und Herren, eine pragmatische Lösung. Wir vermischen nicht, wie einige glauben, humanitäres Asylrecht und Fachkräfteeinwanderung. Wir wissen: Das muss geordnet werden in Deutschland. Wir haben humanitäres Asylrecht in diesem Land; das hat Verfassungsrang. Fachkräfteintegration ist im Wesentlichen keine Frage der Humanität, sondern der wirtschaftlichen Bedürfnisse unseres Landes. Das muss klar sortiert sein. Aber, meine Damen und Herren, das schaffen wir heute. In vielen technischen Berufen, in vielen Bereichen der sozialen Dienstleistungen, beispielsweise in den Pflegeberufen, im Bereich des Handwerks haben wir heute schon ganz großen Fachkräftemangel. Deshalb, meine Damen und Herren, ist es eine Frage der Zukunftsfähigkeit, des Wohlstands und der Arbeitsplatzsicherung in diesem Land, dass wir die Dinge sortieren. Ich kann nur sagen: Wir haben heute gute Gesetze vorgelegt. Das deutsche Handwerk gibt uns noch eines mit auf den Weg: Sie erwarten, dass wir die Gesetzentwürfe zügig beraten und verabschieden. Es ist höchste Zeit, aber wir kriegen jetzt endlich, nach über 30 Jahren Debatte in diesem Land, ein modernes Einwanderungsgesetz. Das hilft unserer Gesellschaft, das hilft unserer Wirtschaft. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung im parlamentarischen Verfahren. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Linda Teuteberg, FDP. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesminister Heil, in einem sind wir uns einig: Es ist höchste Zeit! Nach 2015 wäre es allerdings vor allem höchste Zeit gewesen für einen großen Wurf, um das unübersichtliche, inkonsistente und oft einfach nicht mehr handhabbare Aufenthaltsrecht neu zu ordnen. Und endlich sowohl mehr geordnete, legale Migration zu ermöglichen als auch illegale Migration wirksam zu bekämpfen. ({0}) Stattdessen hat sich die Große Koalition jetzt für den Weg des vermeintlich geringsten Widerstandes entschieden. Statt einer großen, grundlegenden Reform versuchen Sie mit zahllosen größeren und kleineren Eingriffen, Fehler und Probleme in den Griff zu bekommen. Das ist ungefähr so aussichtsreich wie die Reparatur des Brandschutzsystems am BER. ({1}) Aber vor allem kommen Sie auf diesem Weg auch politisch nicht weiter. Jeder Eingriff, jede noch so kleine Veränderung führt zu endlosen Debatten und Auseinandersetzungen und im Ergebnis zum kleinsten gemeinsamen Nenner. Und zu Lösungen, die noch mehr Unübersichtlichkeit und Komplexität in dieses System bringen. Das alles zeigt sich leider auch an dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das uns die Bundesregierung hier vorlegt. Das ist zaghaft, das ist uninspiriert, das ist kein großer Fortschritt. ({2}) Nach der Einschätzung der Bundesregierung selbst werden mit diesem Gesetz höchstens 25 000 zusätzliche Fachkräfte pro Jahr nach Deutschland kommen. Wenn man berücksichtigt, dass jedes Jahr Tausende Fachkräfte das Land wieder verlassen, sind es im Saldo höchstens 15 000 bis 18 000 Fachkräfte mehr. Angesichts eines Fachkräftebedarfs, der in den nächsten Jahren in die Millionen geht, ist das viel zu wenig. ({3}) Statt des Klein-Kleins der Großen Koalition brauchen wir eine grundsätzliche Modernisierung für mehr legale Arbeitsmigration. Mit einem Punktesystem nach dem Vorbild erfolgreicher Einwanderungsländer. Mit einer stärkeren Betonung von beruflicher Erfahrung. Mit zentralen und zügigen Anerkennungsverfahren, damit die berufliche Qualifikation schnell und nach gleichen Kriterien überprüft wird. Mit der Möglichkeit zum Spurwechsel für gut integrierte Geduldete. Und mit modernen Angeboten für Information, Beratung und Vermittlung von Menschen, die sich vorstellen können, nach Deutschland zu kommen. ({4}) Hier werden wir uns weiterhin mit Vorschlägen in die Beratungen einbringen, um zu retten, was zu retten ist, bei diesem mutlosen Gesetzentwurf. Für einen echten Fortschritt, gerade auch für mehr Fachkräfteeinwanderung, braucht es aber mehr. Es braucht einen konsequenten, neuen Ansatz für ein umfassendes Einwanderungsgesetzbuch. Unser Konzept haben wir Ihnen heute noch einmal vorgelegt. Denn wir wollen und wir müssen die Dinge im Gesamtzusammenhang lösen. Mit klaren Regeln, welche Menschen nach Deutschland kommen sollen und dürfen. Für Fachkräfte. Für politisch Verfolgte. Für Kriegsflüchtlinge. Und eindeutigen und konsequenten Bestimmungen, um die Ausreise von Menschen durchzusetzen, die kein Recht haben, sich in unserem Land aufzuhalten. ({5}) Nur eine solche, eine umfassende Reform wird den großen praktischen Problemen, vor denen wir stehen, gerecht. Und gleichzeitig können wir durch die zu einer überzeugenden Gesamtlösung dazugehörende Debatte endlich einen neuen, großen Migrationskonsens schaffen, Vertrauen zurückgewinnen. Und die Akzeptanz für das Asylrecht und für legale Einwanderung stärken. Für diesen grundlegend neuen Ansatz werden wir in den kommenden Beratungen weiter werben. Ich freue mich auf ebenso kontroverse wie konstruktive Gespräche. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Susanne Ferschl, Die Linke, ist die nächste Rednerin. ({0})

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Herren Minister! Wir brauchen eine solidarische Zuwanderungspolitik. Konkurrenz und Unterbietung am Arbeitsmarkt brauchen wir nicht. ({0}) Es ist richtig, den Arbeitsmarkt für Menschen außerhalb der EU zu öffnen; aber die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Im Übrigen gab es Arbeitsmigration schon immer. Als Gewerkschafterin weiß ich, dass aus sogenannten Gastarbeitern Kolleginnen und Kollegen geworden sind und man gemeinsam für gute Arbeits- und Lebensbedingungen gekämpft hat. ({1}) Dieser Gesetzentwurf ist aber keine gute Grundlage. Er basiert auf einer völlig undifferenzierten Analyse des Arbeitsmarktes. Die Bundesregierung spricht von 1 Million offenen Stellen, verschweigt aber, dass es dreimal so viele Arbeitslose gibt. Gebetsmühlenartig wird ein Fachkräftemangel beklagt, den es in dieser Form gar nicht gibt. ({2}) Von 144 Berufsgruppen gibt es lediglich in sieben einen tatsächlichen Mangel. Es hakt doch an der Qualität der Arbeit. Miese Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen sind eben auf Dauer nicht attraktiv. ({3}) Wen wundert es denn, dass im Hotel- und Gaststättengewerbe Stellen unbesetzt bleiben, wenn Arbeitgeber hier weder den Mindestlohn noch nach Tarif bezahlen und die Arbeitszeiten immer weiter ausweiten wollen? Seit Jahren gehen die Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit zur beruflichen Weiterbildung zurück und ebenso die Ausbildungszahlen in den großen Betrieben. Viele Arbeitgeber stellen Jugendliche lieber als ausbildungsunfähig hin, anstatt Zeit und Geld in die Ausbildung zu investieren. Die Bundesregierung bedient ausschließlich wirtschaftliche Interessen, anstatt sich um gute Arbeit für alle zu kümmern. ({4}) Das Problem ist nicht die Einwanderung. Das Problem ist der deregulierte Arbeitsmarkt, und der bleibt Status quo. ({5}) Besonders erpressbar sind doch Fachkräfte aus Drittstaaten, da ein Arbeitgeberwechsel oder Arbeitslosigkeit mit dem drohenden Verlust der Bleibeperspektive einhergehen. Letztlich bedeutet der Gesetzentwurf: Wer aufmuckt, fliegt raus. Er verliert also nicht nur den Job, sondern auch das Aufenthaltsrecht. Das ist doch wirklich abartig, meine Damen und Herren. ({6}) Wie sollen Beschäftigte denn dann noch für ihre Rechte kämpfen können? Geflüchtete, die jetzt schon einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz haben, bekommen weiterhin kein echtes und verbindliches Bleiberecht. Die Liste der Einschränkungen ist länger als meine komplette Redezeit. Das ist zynisch. ({7}) Genauso zynisch ist, wie jetzt geplant, Arbeitsmigration mit einem Abschiebegesetz zu verbinden. Das ist mit uns nicht zu machen. ({8}) Um den Arbeitsmarkt zu verbessern, muss man ihn regulieren und die Tarifbindung erhöhen. Die Linke jedenfalls steht für eine offene, solidarische Zuwanderungspolitik und für gute Arbeit für alle Menschen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Seehofer! Herr Heil! Herr Seehofer, Sie hatten sich ja eigentlich vorgenommen, über Migration lieber gar nicht zu reden. Einwanderung – das ist Migration – ist ja in Ihrem Duktus „die Mutter aller Probleme“. In Wahrheit ist Einwanderung die Mutter vieler Lösungen, insbesondere beim Fachkräftemangel. Ich finde, das müssen Sie endlich akzeptieren, statt weiter rumzuschwurbeln, einzuschränken und zurückzugehen. ({0}) Sie haben auch heute wieder mehr über Ordnung und Begrenzung geredet als darüber, dass wir tatsächlich Einwanderung brauchen in diesem Land, und zwar von Fachkräften. ({1}) Sie haben sich ja nicht mal getraut, das Gesetz so zu nennen. Sie nennen es Fachkräfte– – und dann weiß man schon nicht mehr genau, wie man sagen soll. Es ist ein Einwanderungsgesetz. Wir sind ein Einwanderungsland. ({2}) Und dieses Einwanderungsland braucht ein modernes Einwanderungsgesetz. ({3}) Die Bundesregierung ist gerade sehr kreativ bei der Namensgebung von Gesetzen. Für das, was Sie uns hier heute vorlegen, habe ich einen Vorschlag. Ich sage: Das ist eher ein Fachkräfteeinwanderungsverhinderungsgesetz. Es reicht nicht mehr, es zu unterlassen, Einwanderung aktiv zu verhindern. Wir müssen sie jetzt fördern. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass klar ist: Wir sind ein guter Standort. Wir schaffen gute Bedingungen, übrigens auch für die Familien; denn Menschen, die als Fachkräfte hierherkommen, haben Familie, sie müssen abgesichert werden, und sie müssen auch eine Chance haben. Deswegen: Geben Sie sich endlich einen Ruck bei der Beratung des Gesetzes, und sorgen Sie endlich dafür, dass es Einwanderung gibt, dass wir die besten Kräfte bekommen für die vielen Bereiche, in denen wir sie tatsächlich brauchen. ({4}) Wir als Grüne haben etwas vorgelegt, die FDP hat etwas vorgelegt, die SPD hat etwas vorgelegt. Was wir jetzt haben, ist wieder mal nichts anderes als ein kleinster gemeinsamer Nenner. Und die Unternehmen sind ja nicht mehr leise, sondern laut und sagen: Wir sind auf Einwanderung angewiesen. Es geht um die Besetzung von Ausbildungsstellen, es geht um qualifizierte Fachkräfte, es geht um aktuell 1 Million unbesetzte Stellen. Liebe Frau Ferschl, ich glaube, dass wir uns sicher einig sind, wenn es darum geht, dass man Arbeitsbedingungen verbessern muss. Aber zu der Behauptung, das würde dann schon reichen, wir brauchten keine Einwanderung, ({5}) sage ich Nein. Das wird nicht reichen, weder angesichts des Fachkräftemangels noch angesichts der demografischen Entwicklung. Beides gehört für mich zusammen: gute Arbeitsbedingungen und Einwanderung. ({6}) Ich nenne ein paar Beispiele: energetische Sanierung von Häusern. Darüber reden alle, das wollen alle. Es fehlen jedoch aktuell 100 000 Handwerker. In diesem Bereich gibt es besonders viele offene Stellen. 20 Prozent der offenen Stellen entfallen auf den Industriesektor, 17 Prozent auf den Handel, 10 Prozent auf das Gesundheitswesen und hier vor allem auf die Pflege. Es bringt auch nichts, dass wir hier immer wieder beschwören: Wir brauchen mehr Pflegekräfte. Es bringt nichts, dass wir immer wieder beschwören, wo wir überall Veränderungen, Innovationen und Investitionen brauchen, wenn am Schluss die Leute fehlen, die es umsetzen können. ({7}) Herr Seehofer, Sie haben das in einem Nebensatz gesagt, aber eigentlich müsste darauf eine große Offensive folgen: Der Fachkräftemangel gefährdet den Wohlstand in Deutschland, unsere gute Entwicklung. – Wenn man das erkannt hat, dann muss man doch aktiv werden und handeln. Es muss doch allen klar sein: Dieses Deutschland wirbt in der ganzen Welt um die besten Kräfte. Dieses Deutschland sorgt dafür, dass die Fachkräfte hierherkommen wollen, und es macht nichts Verschwurbeltes, das am Ende immer noch so wirkt, als wollten wir es eigentlich nicht, sondern seien nur getrieben. Das ist der falsche Weg, meine Damen und Herren. ({8}) Die Beispiele sind vielfältig, wir kennen sie alle. Unternehmensnachfolge: Googeln Sie mal „Kasseler Traditionsbäckerei kämpft ums Überleben“, „Berliner Bäckerin, 82, findet keinen Nachfolger“. In so einer Situation muss die Botschaft doch klar sein: Wir strengen uns wirklich an. Wir Grünen haben einen Vorschlag gemacht: eine Talentkarte, mit der man sich in Deutschland ein Jahr lang nach Arbeit umsehen kann. Den Lebensunterhalt dürfte man in dieser Zeit übrigens auch mit geringqualifizierter Tätigkeit bestreiten. Wie sieht Ihre Regelung aus? Man darf für ein halbes Jahr kommen, aber man hat Arbeitsverbot in diesem halben Jahr. Wer bitte schön soll das denn machen? Wer bitte schön soll so viel Geld mitbringen können, dass er oder sie sich dann hier einen Fachkräftejob suchen kann? Wer bitte schön soll denn, wenn er beispielsweise im Thüringer Wald in einem Krankenhaus arbeiten will, schon von zu Hause das Geld mitbringen können, um hier ein halbes Jahr zu überleben? Das ist impraktikabel. Das geht nicht; das ist das Gegenteil dessen, was wir brauchen, meine Damen und Herren. ({9}) Auch bei der Berufsausbildung ist es so: Sie öffnen die Tür einen ganz kleinen Spalt. Man kommt da aber am Ende einfach nicht durch, weil die Voraussetzungen immer mehr statt weniger werden.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Göring-Eckardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage vom Kollegen Hebner, AfD?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, ich glaube, das macht wenig Sinn für uns alle.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die Antwort lautet: „Nein“? ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist ein klares Nein. ({0}) Außerdem lassen Sie eine ganze Reihe von Schwierigkeiten unangetastet, und das heißt: Es bleibt unattraktiv. Zum Thema Qualifikation: Wir wissen, wie das bei Fachkräften innerhalb der Europäischen Union ist. Wir wissen, welche Schwierigkeiten wir da haben. Auch da werden mehr Hürden aufgebaut und belassen, als dass sie abgebaut werden. Hier ist auch über den Spurwechsel gesprochen worden. Frau Teuteberg und Herr Heil haben darauf hingewiesen. Sie sagen: „Wir haben eine Arbeitsduldung“. Wenn aber jemand, der hier gut integriert ist, der Deutsch sprechen kann, der in ein Team eingearbeitet ist und für den sich Unternehmen angestrengt haben – über hundert Unternehmen, darunter Vaude, Trigema und Edeka, haben sich der Unternehmerinitiative „Bleiberecht durch Arbeit“ angeschlossen –, nur für zwölf Monate bleiben kann, dann hat er eben keine Planungssicherheit. Diese aber wird endlich benötigt. ({1}) Deswegen: Spurwechsel muss Spurwechsel heißen. Wir brauchen nicht schon wieder eine Zwischenlösung. Noch einmal, meine Damen und Herren: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Deutschland braucht ein modernes Einwanderungsgesetz, das so heißt. Diese Gesetze sind es nicht. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Thorsten Frei, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundesminister Seehofer ist umfassend auf das Fachkräfteeinwanderungsgesetz eingegangen, das wir heute in erster Lesung beraten. Es ist mitnichten so, liebe Frau Teuteberg, dass wir hier Stückwerk vorlegen. Wir gehen dieses Thema in seiner Gesamtheit mit einer ganzen Reihe von Gesetzentwürfen an, und zwar mit zwei Gesetzentwürfen, die wir heute in erster Lesung beraten, und mit dem Entwurf zum Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, der in der nächste Woche beraten werden soll. Für uns sind das zwei Seiten einer Medaille. Das ist in der Tat eine in sich konsistente Einwanderungspolitik. Deshalb glaube ich: Wir legen hier etwas Gutes vor, was den Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen, tatsächlich gerecht wird. ({0}) Die wirtschaftliche Prosperität einerseits und der demografische Wandel unserer Gesellschaft andererseits zwingen uns zum Handeln. Das, was die Bundesregierung dem Bundestag als Entwurf vorgelegt hat, ist die richtige Antwort. Das sage ich insbesondere an die Adresse der Grünen und der FDP, die mit Chancenkarten oder ähnlichen Modellen hauptsächlich ihr Punktesystem durchsetzen möchten. ({1}) Dazu möchte ich Ihnen zwei Dinge sagen: Sie geben vor, das Zuwanderungsrecht für Fachkräfte mit dem Punktesystem einfacher machen zu können. Das ist ein absoluter Trugschluss; das ist schlicht falsch, weil Sie ignorieren, dass es bereits heute 100 dicht bedruckte Seiten europäischer Gesetzestexte für Arbeitsmigration aus Drittstaaten gibt. Das, was Sie vorschlagen, löst nicht dieses alte Recht ab, sondern tritt daneben. Das heißt, es ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Es ist schlicht ein Bürokratiemonster. Wir lehnen das ab. ({2}) Darüber hinaus ist für uns vollkommen klar: Arbeitsmigration setzt das Vorhandensein eines Arbeitsplatzes voraus. Das zieht sich bei uns wie ein roter Faden durch diesen Gesetzentwurf, und dort, wo wir davon abweichen, beispielsweise wenn es um die Suche nach einem Arbeits- oder Ausbildungsplatz geht, setzen wir hohe Voraussetzungen, damit tatsächlich qualifizierte Personen zu uns kommen. Das ist der Unterschied zu Ihrem Konzept. So etwas wie eine Potenzialzuwanderung wird es mit CDU und CSU nicht geben. Wir wollen keine Migration ins Arbeitsamt. Wir wollen eine Migration in den konkreten Arbeitsplatz. Das ist der Punkt, um den es uns geht. ({3}) Lassen Sie mich drei wesentliche Erwägungen nennen, von denen wir uns bei diesem Gesetzentwurf haben leiten lassen. Zum einen haben wir schon heute – Experten bestätigen das auch – einen wirklich offenen Rechtsrahmen für die Arbeitsmigration von akademischen Fachkräften. Es ist absolut richtig, dass wir diesen Rechtsrahmen jetzt auch für diejenigen öffnen, die mit einer qualifizierten Berufsausbildung zu uns kommen. ({4}) Da wird dann auch die Begrenzung auf die Engpassberufe wegfallen. Diejenigen, die mit einer qualifizierten Berufsausbildung zu uns kommen, werden in allen Bereichen, wo es qualifizierte Tätigkeiten gibt, arbeiten können. Das ist ein Riesenfortschritt. ({5}) Ich will einen zweiten Punkt nennen: Es geht nicht nur um Gesetze, sondern auch um administrative Abläufe. Wir werden in manchen Bereichen besser werden müssen, beispielsweise wenn es um raschere Verfahren für Berufsanerkennungen oder um zügigere Visaerteilungen in unseren Auslandsvertretungen geht. Es geht auch um zentrale Anlaufstellen. Nur dann wird dieses Gesetz am Ende erfolgreich sein. Nur dann werden wir unser Ziel tatsächlich erreichen können. ({6}) Ich will einen dritten Aspekt ansprechen, der in der bisherigen Debatte schon eine Rolle gespielt hat. Für uns ist ganz entscheidend, dass eine Zuwanderungsstrategie in Bezug auf Arbeitskräfte immer auch mit einem Konzept zur Hebung der inländischen Arbeitskräftepotenziale einhergeht. Das bedeutet, dass wir eben auch diejenigen in den Blick nehmen müssen, die mit einer geringen oder ohne Qualifikation in Deutschland nicht über einen Arbeitsplatz verfügen. Denen wollen wir keinen zusätzlichen Druck auf dem Arbeitsmarkt machen. Minister Heil ist darauf eingegangen. Ein weiterer Aspekt, den man nicht aus den Augen verlieren darf, ist: Wir haben in Deutschland über 450 000 anerkannte Asylbewerber, die arbeitsuchend sind. Das ist auch ein Potenzial, das man zunächst einmal heben muss, bevor man in andere Richtungen weiterdenkt. ({7}) Ich möchte zum Schluss eines sagen: Wir legen hier ein Konzept vor, das eben nicht nur betriebswirtschaftlich, sondern auch volkswirtschaftlich sinnvoll ist. Das muss unser Ansatz sein. Das wird uns in den Beratungen leiten. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Martin Sichert, AfD. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wertes Präsidium! Meine Damen und Herren! Sie alle hier sind sich einig darin, dass jene, die uns anlügen und nur so tun, als wären sie verfolgt, dauerhaft bleiben können. Die einzige Bedingung, die Sie stellen, ist, dass jene eine Ausbildung auf unsere Kosten machen. Es geht beim Spurwechsel und bei der Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung nur um Wege, wie man abgelehnte Asylbewerber, die nicht verfolgt und keine Flüchtlinge sind, dauerhaft im Land behalten kann. ({0}) Die FDP setzt dem Ganzen die Krone auf, indem sie auch noch fordert, dass nach fünf Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft vergeben werden soll. Sie verramschen so nicht nur die deutsche Staatsbürgerschaft, Sie fördern auch noch die Islamisierung im Land. ({1}) Laut Koran darf ein Mann mehrere Frauen haben, er muss diese nur finanziell versorgen können. Jeder Muslim, der von einer Vielehe träumt, sie sich aber einfach nicht leisten kann, ({2}) braucht nur nach Deutschland zu kommen und kann dann seinen Traum im deutschen Sozialsystem verwirklichen. Ihr Spurwechsel bringt neben völlig falschem Anreiz nur Armut und Elend, weil das Geld, das Sie für das Durchfüttern von abgelehnten Asylbewerbern verwenden, einfach bei der Rente und bei den Sozialleistungen fehlt. ({3}) Die echten Fachkräfte vertreiben Sie doch aus Deutschland, weil sie mit immer höheren Steuern und Abgaben belastet werden, um diesen Wahnsinn zu finanzieren. Obendrein legen Sie auch noch die Axt an das Grundgesetz; denn dort steht in Artikel 16a: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Sie aber wollen jedermann dauerhaftes Bleiberecht geben. Sie setzen damit die wirklich politisch Verfolgten hierzulande wieder den Verfolgern aus ihren Heimatländern aus. ({4}) Und als wäre das alles noch nicht genug, setzt die Bundesregierung noch einmal einen obendrauf. Sie will die Vorrangprüfung abschaffen und bietet damit jeden Arbeitsplatz in Deutschland jedem Niedriglöhner aus Afrika oder Asien an. Herr Seehofer, es ist wirklich unverschämt, wenn Sie hier sagen, dass zuerst Arbeitskräfte aus Deutschland und Europa zum Zuge kommen sollen. Ihr Gesetzentwurf bewirkt genau das Gegenteil. ({5}) Es wird zu einem massiven Lohndumping bei allen Jobs für Geringqualifizierte in Deutschland kommen; denn die Deutschen, die sich weigern, beim Lohndumping mitzumachen, kann man dann durch irgendjemanden aus Nigeria oder Äthiopien ersetzen. In der Folge rutschen viele weitere Deutsche in Armut ab und sind auf Sozialleistungen angewiesen. Dabei sind die Probleme, die wir im Land haben, eigentlich schon groß genug. 5 Millionen Rentner in Deutschland haben weniger als 500 Euro Rente und 11 Millionen weniger als 1 000 Euro Rente im Monat. ({6}) Um diese Dinge müssten wir uns kümmern, anstatt ständig neue Armutszuwanderer ins Land zu locken. Meine Damen und Herren, ich bin stolz, Deutscher zu sein, aber ich schäme mich heute, Abgeordneter eines Parlaments zu sein, in dem die große Mehrheit sich darin einig ist, die Verelendung dieses Landes voranzutreiben. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Eva Högl, SPD, ist die nächste Rederin. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen schönen guten Morgen! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute im Deutschen Bundestag zum ersten Mal über ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Ich glaube, wir alle streichen uns diesen Tag dick im Kalender an. Für die SPD-Fraktion darf ich sagen: Wir warten schon lange darauf. Insofern ist heute ein guter Tag. ({0}) Endlich bekommt Deutschland ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Das ist ein Herzensanliegen der SPD. Wir engagieren uns dafür seit mehr als 20 Jahren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sagen hier und heute ganz klar: Deutschland ist ein Einwanderungsland, und darauf können wir stolz sein. ({1}) Es ist eine gute Nachricht, dass wir nach den USA weltweit Einwanderungsland Nummer zwei sind und dass Menschen gerne zu uns kommen, um hier zu leben und zu arbeiten oder um Schutz und Sicherheit zu bekommen. Wir haben 1998 ganz grundlegend das Staatsangehörigkeitsrecht reformiert, ({2}) und wir haben 2005 das Zuwanderungsrecht modernisiert. Jetzt wollen wir mit dem Einwanderungsgesetz den nächsten großen Schritt machen. Wir mussten in der Koalition – das ist bekannt – lange dafür werben und viele Jahre Überzeugungsarbeit leisten. Es war ein erster wichtiger Erfolg, dass wir das im Koalitionsvertrag vereinbart haben und dass das Kabinett das im Dezember beschlossen hat. Jetzt geht es endlich los, und jetzt wollen wir auch zügig beraten. Wir haben einen riesigen Fachkräftebedarf – das ist heute schon erwähnt worden; ich will es noch mal hervorheben –: in der Pflege, im Handwerk, auch in Technologiebereichen, in der Medizin, in der Bildung, im Ingenieurbereich. 1,6 Millionen Stellen sind in Deutschland unbesetzt. Viele Unternehmen suchen händeringend Auszubildende. Wir wissen das alle aus unseren Wahlkreisen. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir Fachkräfte aus Drittstaaten. ({3}) Wir brauchen Zuwanderung, wir brauchen Einwanderung, um unsere Wirtschaft zu stärken und unseren Wohlstand langfristig zu sichern. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz senden wir zwei wichtige Botschaften. Die eine ist Steuerung und Ordnung. Wir definieren ganz klar, wen wir einladen, zu uns zu kommen. Das ist ein ganz wichtiger Baustein in unserem Migrationsrecht. Die zweite Botschaft ist – das sage ich für die SPD-Fraktion ganz deutlich –: Wir brauchen mehr Einwanderung, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist kein Einwanderungsverhinderungsgesetz, sondern ein Gesetz, das dazu führen soll, dass Menschen zu uns ins Land kommen. Das sind zwei wichtige Neuerungen, die wir vereinbart haben, und ich hoffe, dass sie sich am Ende auch so durchsetzen und wir sie hier gemeinsam verabschieden. Wir öffnen die Einwanderungsmöglichkeiten für Menschen mit einer qualifizierten Berufsausbildung, und – auch das war für die SPD sehr wichtig – wir eröffnen die Möglichkeit, dass Menschen zunächst ins Land kommen, um hier einen Arbeitsplatz zu suchen oder eine Ausbildung aufzunehmen, das heißt, wir geben Menschen auch eine Chance, hierherzukommen. ({4}) Natürlich ist es für uns sehr wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Asylrecht und Einwanderungsrecht strikt getrennt bleiben. ({5}) Das soll so sein. Aber wir wissen ganz genau, dass viele Menschen, die schon sehr lange in unserem Land leben, über das Asylrecht gekommen sind. Sie sind gut qualifiziert. Sie machen eine Ausbildung. Sie haben unsere Sprache gelernt. Deswegen wollen wir diese Menschen nicht zurückführen, sondern ihnen hier in Deutschland eine Chance geben. Auch das ist ein wichtiger Bestandteil dieses Gesetzes. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Högl, –

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

– ein Kollege von der AfD möchte eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, möchte ich nicht, vielen Dank. Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch eine letzte Bemerkung. Es wird sehr darauf ankommen, wie dieses Gesetz in der Praxis umgesetzt wird. Denn wir können hier noch so gute Gesetzgebung machen: Am Ende ist es wichtig, dass die Behörden vor Ort die Anerkennung der Ausbildung, der Qualifikation sehr schnell auf den Weg bringen, dass die Ausländerbehörden zügig entscheiden. Das Ergebnis unserer guten gesetzlichen Grundlage muss in der Praxis sein, dass Menschen zu uns kommen und wertvolle Arbeit in den Betrieben leisten können. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen und hoffe, dass wir dieses wichtige Gesetz noch vor der Sommerpause verabschieden können, damit es sehr bald in Kraft tritt. Vielen herzlichen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Stephan Thomae, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Högl, es ist, mit Verlaub, die FDP gewesen, die vor einem Vierteljahrhundert, in den 90er-Jahren, zum ersten Mal einen Entwurf für ein Einwanderungsgesetz vorgelegt hat. ({0}) Damals war die SPD noch dagegen, weil Sie mutmaßten, damit werde dem Lohndumping Tür und Tor geöffnet. Die Union war damals dagegen, weil Sie sagten, damit werde einer ungeordneten Zuwanderung Tür und Tor geöffnet. Übrigens waren auch die Grünen, Frau Kollegin Göring-Eckardt, damals noch dagegen, vermutlich weil Sie dachten: Das kommt von der FDP; das ist schon mal per se verdächtig. So hat sich die Lebenslüge der alten Bundesrepublik, dass wir kein Einwanderungsland seien, noch ein weiteres Vierteljahrhundert fortgeschleppt, bis zum heutigen Tage, wo wir endlich – da stimme ich Ihnen zu, Frau Kollegin Högl – ein solches Gesetz hier im Deutschen Bundestag diskutieren und debattieren können. Gleichwohl: Die alten Bedenken, die alten Vorbehalte zeichnen sich auch in diesem Gesetzentwurf ab. Hier sind, Herr Minister, deutlich die Spuren der alten Vorbehalte vor allem Ihrer Partei zu erkennen. Ihr Entwurf ist übervorsichtig, zurückhaltend, zaghaft, mutlos, protektionistisch. Was es bräuchte, wäre ein mutiger, ein moderner Entwurf. Wir waren damals, vor 25 Jahren, schon moderner, als Sie es heute sind. ({1}) Ihr Entwurf ist so konservativ wie möglich und so progressiv wie nötig. Dabei bräuchten wir heute, bei heute schon 1,2 Millionen fehlenden Arbeitskräften, einen mutigen Schritt nach vorne, weil wir jetzt schon wissen, dass wir in etwa zehn Jahren fast 4 Millionen Arbeitskräfte hier im Lande benötigen und Arbeitsplätze haben, die wir nicht besetzen können. Um diesem Problem zu begegnen, Herr Kollege Frei, wäre ein Punktesystem durchaus das Richtige. Sie haben das kritisiert, weil Sie sagten, das sei dann Einwanderung zum Arbeitsamt statt Einwanderung in den Arbeitsmarkt. Angesichts der zu erwartenden Zahl von fast 4 Millionen fehlenden Arbeitskräften in zehn Jahren kann man doch nicht davon sprechen, dass eine Zuwanderung zum Arbeitsamt erfolgen würde. Was wir brauchen, ist ein logisches, konsequentes Zwei-Säulen-System. Wir brauchen eine Zuwanderung mit Arbeitsvertrag nach dem System der heutigen Bluecard. Wer also einen Arbeitsvertrag mitbringt, kann zuwandern, kann hier arbeiten. Aber das müssten wir vereinfachen. Wir müssten gerade für junge Leute, die weniger verdienen und noch mehr Zeit haben, um Altersvorsorge aufzubauen, die Gehaltsgrenze senken. Aber was wir eben auch brauchen, Herr Kollege Frei, ist eine Chancenkarte – die Grünen nennen es eine Talentkarte –, also die Möglichkeit, wenn jemand eine Qualifikation, eine Ausbildung mitbringt, diese Ausbildung, diese Qualifikation auch in unserem Arbeitsmarkt anzubieten und hier damit auf Jobsuche zu gehen. Erfolgreiche Einwanderungsländer haben ein solches System, haben ein Punktesystem mit klaren Kriterien. Das muss kein Bürokratiemonster sein, wie Sie es vermuten. Vielmehr kommt es auf wenige klare Kriterien bzw. Regeln an. Auch Berufserfahrung muss hier ins Gewicht fallen können. Der Vorschlag, den wir von der FDP vorlegen, basiert auf zwei Säulen: einer reformierten Bluecard und einer Chancenkarte, die es möglich macht, eine Qualifikation mitzubringen und in unserem Arbeitsmarkt anzubieten. Genau das brauchen wir. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Gökay Akbulut, Die Linke, ist die nächste Rednerin. ({0})

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und seine Genese zeigen: Das Thema ist eines der bewegendsten im derzeitigen politischen Diskurs. Die Bundesregierung, insbesondere die SPD, denkt, dass sie hier einen großen Schritt in Richtung legaler und moderner Einwanderungspolitik gemacht hat. ({0}) Aber nicht mal das klappt. Nicht mal eine Spur von Spurwechsel kriegen Sie hin. ({1}) Mit Ihrem Gesetzentwurf wird es für die Betroffenen weiterhin schwer, die Voraussetzungen für eine Einwanderung nach Deutschland zu erfüllen; denn die Hürden sind weiterhin viel zu hoch, ({2}) wie zum Beispiel die Diskussion um die Anerkennung von ausländischen Qualifikationen zeigt. Ihr Gesetzentwurf für die Asylsuchenden und diejenigen mit Duldung, den Sie auf Druck von rechts vom Fachkräfteeinwanderungsgesetz getrennt eingebracht haben, greift viel zu kurz. Selbst wenn die Betroffenen einen Arbeitsvertrag vorlegen oder schon eineinhalb Jahre gearbeitet haben, bekommen sie nur eine Duldung, also keinen sicheren Aufenthaltstitel und keine sichere Perspektive. Hier werden anstelle von Vereinfachungen von Verfahren weitere Unsicherheiten geschaffen. Diese Duldungsmaschinerie im Aufenthaltsrecht muss endlich beendet werden. ({3}) Durch Ihre Gesetzentwürfe zieht sich ein Grundgedanke: Die Möglichkeit der Einwanderung soll immer nur an die wirtschaftliche Nützlichkeit der Menschen geknüpft werden. Da sagen wir als Linke: Das geht so nicht. ({4}) Ich frage mich, mit wem Sie überhaupt gesprochen haben, um die Perspektive der Betroffenen in Ihren Gesetzentwurf einzubringen. Sie hätten die Vertreterinnen und Vertreter fachkundiger Verbände, der Gewerkschaften, der Wissenschaft und der Entwicklungsorganisationen sowie die Interessen der Herkunftsländer und ‑regionen mit einbeziehen müssen. Deshalb fordern wir Linke ein Gremium, welches diese Interessen und Akteure mit einbindet und berücksichtigt. ({5}) Die aktuelle Debatte und Gesetzgebung ist zu einseitig auf Fachkräfte aus Drittstaaten fokussiert. Der größte Teil – das hat der aktuelle Jahresbericht des SVR gezeigt – kommt aus den Mitgliedstaaten der EU. Da müssen wir etwas tun. Da müssen wir einen Unterstützungsmechanismus für die Betroffenen schaffen, die sich in prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen befinden. Für die Linke ist es ganz wichtig, dass die Einwanderungspolitik die Interessen aller Menschen einbezieht. Das bedeutet, dass wir eine solidarische Ausgestaltung brauchen. Diese muss sich an menschenrechtlichen, entwicklungspolitischen und humanitären Gesichtspunkten orientieren. ({6}) Für die Linke ist es wichtig, dass man die beschäftigten Deutschen und die Migrantinnen und Migranten nicht gegeneinander ausspielt und in eine Konkurrenzsituation bringt, die nur den Konzernen dient und die aufgrund dieses kapitalistischen Systems reproduziert wird. Stattdessen setzen wir uns für eine rechtebasierte und solidarische Einwanderungspolitik ein, bei der grundsätzlich alle Menschen die Chance auf Einwanderung und gute Arbeitsbedingungen sowie echte Teilhabe in unserer Gesellschaft haben. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/CSU. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Made in Germany, das ist die Erfolgsmarke, die weltweit gefragt ist. Sie ist nur möglich mit guter Arbeit, auch mit gut bezahlter Arbeit, mit Fachkräften. Fachkräftestrategie und Fachkräftegesetz haben deswegen vor allem ein Ziel: Wir wollen „made in Germany“ auch in Zukunft zu einer weltweiten Erfolgsstory machen. ({0}) Entgegen dem, was uns zum Teil vorgeworfen wird, verfolgen wir einen klaren Dreischritt: Erstens. Wir sorgen dafür, dass noch mehr Menschen in Deutschland besser qualifiziert werden können. Das haben wir gemacht, indem wir seit Beginn dieses Jahres eine Menge Geld in die Hand nehmen, um Langzeitarbeitslose durch zusätzliche Angebote aus der Langzeitarbeitslosigkeit herauszubringen. Das haben wir gemacht, indem wir mit dem Qualifizierungschancengesetz die Möglichkeit geschaffen haben, dass noch mehr wenig Qualifizierte mit Förderung der Bundesagentur für Arbeit einen qualifizierteren Job bekommen können. ({1}) Und das werden wir machen, wenn uns die Bundesbildungsministerin und der Bundesarbeitsminister – hoffentlich bald – eine nationale Fort- und Weiterbildungsstrategie vorlegen. Zweitens. Wir bauen auf die Zusammenarbeit in der Europäischen Union. Wenn Sie sich den Anstieg der Beschäftigung in Deutschland in den letzten Jahren anschauen, der zum Erfolg unseres Landes beigetragen hat, dann sehen Sie, dass 50 Prozent dieser zusätzlichen Arbeitsplätze mit Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus anderen EU-Staaten besetzt worden sind. Die Europäische Union und die Arbeitnehmerfreizügigkeit der EU sind keine Gefahr für uns, sondern ein Erfolgsrezept für Deutschland gewesen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ehrhorn?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Ehrhorn, bitte sehr.

Thomas Ehrhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004707, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank für die Erteilung des Wortes, sehr verehrter Herr Kollege. – Nach allem, was ich heute in diesem Hause gehört habe, muss ich die Frage stellen: Ist es nicht so, dass dies – und zwar getragen von allen Fraktionen, die hier versammelt sind, bis auf die AfD – darauf hinausläuft, einfach den Migrationspakt in die Tat umzusetzen, das heißt, aus illegaler Migration legale Migration zu machen? Das ist es doch, was Sie hier zurzeit planen, was Sie umsetzen. Ich kann mich, ehrlich gesagt, nur meinem Kollegen anschließen, der gesagt hat: Ich schäme mich für dieses Parlament, das dem deutschen Volk zumutet, ({0}) für diese unglaublichen Summen arbeiten zu müssen, jeden Tag um 6 Uhr aufzustehen und abends um 8 Uhr nach Hause zu kommen, um dann 50 Prozent der Lohntüte vom deutschen Staat weggenommen zu bekommen, um all diese Menschen zu ernähren. Sie wissen doch ganz genau, dass 70 Prozent oder mehr dieser Leute, die Sie ins Land holen, keine qualifizierte Berufsausbildung haben, dass sie dem deutschen Steuerzahler eine Last sein werden, aber kein Nutzen, Herr Kollege. Vielen Dank. ({1})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Kollege, ich antworte sehr gerne auf Ihre Zwischenfrage. Aber ich habe auch einen Wunsch an Sie und Ihre Kollegen: Es wäre schön, wenn auch Abgeordnete der Fraktion, der Sie angehören, sich ab und zu nicht in den sozialen Netzwerken, in denen Sie Ihre Fake News austauschen, bewegen würden, sondern vielleicht auch einmal die Gesetzvorlagen, die hier zur Beratung anstehen, lesen würden. ({0}) Zu Ihrer Zwischenfrage Folgendes: Der Kollege Frei hat schon darauf hingewiesen, dass wir nächste Woche das Gesetz zur geregelten Rückkehr beraten werden und noch einmal klarer präzisieren, dass, wer hier kein Bleiberecht hat, auch gehen muss. Bei dem Gesetz, das wir jetzt beraten, geht es darum, qualifizierten Fachkräften, die ein wissenschaftliches Studium hinter sich haben oder eine qualifizierte berufliche Tätigkeit ausgeübt haben und die zuvor Deutsch gelernt haben, die Möglichkeit zu geben, auf dem deutschen Arbeitsmarkt, wo sie dringend benötigt werden, zu arbeiten. Das ist übrigens die Grundlage dafür, dass das erfolgreiche Wirtschaftsmodell Deutschlands fortgeführt wird. Es geht um den Wohlstand Deutschlands und nicht um das Gegenteil. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe über die Arbeitsmigration in Europa gesprochen. Der Punkt ist: Etliche Länder, aus denen bis vor kurzem noch Leute zum Arbeiten ausgewandert sind, suchen heute Fachkräfte. Auch Polen, selbst Bulgarien oder Slowenien suchen Leute, die zu ihnen kommen. Das heißt, wir werden den Fachkräftebedarf der Zukunft nicht allein im Rahmen der Arbeitsmigration in Europa lösen können. Deshalb ist Stufe drei ein Fachkräftegesetz, das seinen Namen auch verdient. Es geht nicht um Hilfsarbeiter, es geht nicht um Hilfsjobs, es geht nicht um Geringqualifizierte. Es geht um Fachkräfte, Leute, die studiert haben, Leute, die eine Ausbildung gemacht haben, Leute, die berufliche Fachqualifikationen haben und die zusätzlich Deutsch können. Die stehen übrigens nicht Schlange, um nach Deutschland zu kommen. Mit Englisch kann man überall in der Welt ankommen. Deutsch ist eine schwere Sprache, für manche Deutsche übrigens auch. Deswegen ist es richtig, dass wir diesen Leuten ein faires Angebot machen. Wir werden sie in der Regel mit einem bewährten Instrument hierher holen, nämlich durch Vermittlungsabsprachen der Bundesagentur für Arbeit mit dem Entsendeland. Das heißt, es geht um die Vermittlung in einen konkreten freien Job. Es geht um eine qualifizierte Tätigkeit, die auch anständig bezahlt wird. Mit diesem Gesetz wollen wir die Voraussetzungen dafür schaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, das ist eine tolle Sache. Es sollte unser aller Verpflichtung sein, dass „made in Germany“ auch in Zukunft ein Erfolgsmodell bleibt. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Lars Castellucci, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute Morgen Argumente für Einwanderung gehört, wir haben auch Argumente gegen Einwanderung gehört. Aber auf eines sollten wir uns doch verständigen können: Deutschland, aus dem noch vor drei, vier oder fünf Generationen Menschen ausgewandert sind, weil dieses Land sie nicht ernähren konnte, ist heute zu einem attraktiven Land geworden, das mehr Arbeit zu bieten hat, als die Menschen, die schon hier sind, leisten können. Wir sind allen zu Dank verpflichtet, die es aufgebaut haben. ({0}) Unter diesen Leuten, die das Land aufgebaut haben, sind übrigens bereits heute fast 20 Millionen Menschen – fast ein Viertel der Bevölkerung – mit sogenanntem Migrationshintergrund, unter ihnen mein Vater, der übrigens ohne deutsche Sprachkenntnisse nach Deutschland gekommen ist, der keine Ausbildung hatte, der sich daran gewöhnen musste, was es hier zu essen gibt und dass alles auf einem Teller angerichtet wird, ({1}) der dann angefangen hat, Häuser mit zu bauen, und an den ersten Computern gestanden hat, die noch ganze Wände gefüllt haben. Ich finde, wir dürfen, wenn wir über Zuwanderer reden – das ist meine herzliche Bitte –, diese Gruppe von Menschen nicht immer wieder so darstellen, als wäre sie eine große Bedrohung für dieses Land. ({2}) Sie haben Schulter an Schulter mit den deutschen Kolleginnen und Kollegen dieses Land mit aufgebaut, als Väter und Mütter, und sie verdienen genau wie alle anderen unseren Respekt und unsere Anerkennung. ({3}) Respekt und Anerkennung sind sowieso der Schlüssel für alles. Wir haben hier Argumente für und gegen Einwanderung gehört. Auch die deutsche Bevölkerung ist für und gegen Einwanderung eingestellt. Es gibt eine aktuelle Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, nach der zwei Drittel der Deutschen Ja sagen zur Zuwanderung aus Gründen des Fachkräftebedarfs. Da sind die Menschen im Land weiter als manche Leute hier im Parlament. Manche Menschen sind aber auch skeptisch. Ich rate dazu, nicht zu glauben, dass jeder, der sich skeptisch oder ablehnend äußert, automatisch etwas gegen Einwanderung oder gegen die Menschen, die zu uns kommen wollen, haben. Ich glaube vielmehr, dass manche Menschen in diesem Land in ihrem Leben Respekt und Anerkennung vermisst haben. Vielleicht hängen sie in einer Beschäftigung fest, die unterhalb ihrer Qualifikation ist. Vielleicht schaffen sie nach der Familienphase den Wiedereinstieg nicht so, wie sie es sich vorstellen. Vielleicht fürchten sie auch die Konkurrenz, weil sie heute schon keine günstige Wohnung oder keine Kindergartenplätze finden. Deswegen ist es gut, dass wir heute nicht nur ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz diskutieren, sondern auch eine Fachkräftestrategie für alle Menschen in diesem Land. Wir müssen eine soziale Politik machen, die bei den Menschen ankommt – für bezahlbaren Wohnraum, für anständige Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt, für Renten, die wirklich Respekt gegenüber der Leistung der Menschen ausdrücken. Dann, glaube ich, ist das mit der Zuwanderung in diesem Land kein Problem. Die Leute werden sehen: Das ist Teil der Lösung. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Mathias Middelberg, CDU/CSU. ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, herzlichen Dank. – Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte an dieser Stelle zunächst unseren beiden beteiligten Ministern gratulieren, nämlich unserem Innenminister Horst Seehofer und unserem Arbeitsminister Hubertus Heil. ({0}) Ich glaube, die beiden haben für uns im Parlament sehr brauchbare und sehr geeignete Vorlagen zu den beiden Gesetzen erarbeitet, die hier heute zur Debatte stehen. Den einzigen Fehler, den sie vielleicht gemacht haben, ist, bei den vielen Euphemismen, die wir hier nutzen, nicht den Euphemismus „gut“ davorzuschreiben. Aber das ist im Kern dann doch kein Versäumnis; denn in der Sache sind es gute Gesetzesvorlagen. Das ist hier von vielen meiner Vorredner auch zu Recht betont worden. Der Kollege Castellucci hat sich hier mit dem Begriff „Einwanderung nach Deutschland“ auseinandergesetzt und der Frage, wie wir sie sehen. Wir sind ein offenes Land, und wir sind ein gegenüber Zuwanderung freundlich eingestelltes Land. Wir hatten in den letzten sechs Jahren eine Nettozuwanderung von 4 Millionen Menschen nach Deutschland. ({1}) Das hat auch sehr viele Vorteile. Ich will jetzt nicht nur über Wohnungen und Kitaplätze reden. Wir haben davon sehr profitiert; denn es war in großem Umfang eine Zuwanderung in unseren Arbeitsmarkt, in großem Umfang auch aus den benachbarten EU-Ländern. Das hat unseren Standort, das hat Deutschland und unseren Wohlstand vorangebracht. Jetzt müssen wir zielgerichtet daran arbeiten, wie wir das Thema Zuwanderung, das Thema „Einwanderung von Fachkräften“ weiter steuern. Dazu leistet das vorliegende Gesetz einen sehr guten Beitrag. Dabei müssen wir im Blick behalten, dass wir in diesem Land noch 2 Millionen Menschen haben, die arbeitslos sind, dass wir 1 Million Menschen haben, die in Unterbeschäftigung sind, also häufig in Maßnahmen der Bundesagentur, und dass wir auch 600 000 anerkannte Flüchtlinge haben, um die wir uns noch bemühen müssen und die wir in Arbeit bringen wollen. Wir haben also ganz unterschiedliche Zielrichtungen und ganz unterschiedliche Anliegen. Das erfordert differenzierte Antworten. Genau die gibt dieses Gesetz; die verschiedenen Punkte sind genannt worden. All denen, die sich da sehr skeptisch geäußert haben, sage ich: Wir haben hier wesentliche neue Tatbestände. Die Arbeitsplatzsuche ist jetzt für alle geöffnet, nicht mehr nur für Hochschulabsolventen. Wir geben die Möglichkeit einer Nachqualifizierung, wenn wir die Qualifizierung im Ausland nicht voll anerkennen können. Und wir sagen sogar: Ihr könnt auch zur Ausbildungsplatzsuche kommen. Ihr könnt also schon kommen, wenn ihr noch gar keine Fachkräfte seid, sondern auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz, der euch dann hier in Deutschland zu einer Fachkraft macht. – Selbst den Weg öffnen wir, unter durchaus strengen Bedingungen. ({2}) Aber hier liegt ein erhebliches Potenzial. Es geht um die Absolventen der 140 deutschen Schulen im Ausland; darüber hinaus haben wir alle Schulen der KMK-Liste benannt. Das ist ein Millionenpotenzial, das im Zweifel zur Verfügung steht. Deswegen ist es sachgerecht, dass wir hohe Anforderungen an diejenigen stellen, die schließlich zu uns kommen können, und von ihnen erwarten, dass sie gewisse Qualifikationen mitbringen, damit sie auf unserem Arbeitsmarkt auf lange Perspektive Erfolg haben. Insgesamt diskutieren wir hier eine abgewogene Lösung. Ich freue mich in diesem Sinne auf sachliche und – da bin ich sehr zuversichtlich – gute parlamentarische Beratungen. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/8285, 19/8286, 19/6889, 19/6542, 19/6541, 19/9052, 19/9855, 19/9924 und 19/7058 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Nicola Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004668, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Vollendung des europäischen Energiebinnenmarktes ist aus Sicht der Freien Demokraten eines der wichtigsten Projekte europäischer Integration. ({0}) Angesichts der enormen Herausforderung, eine sichere und wettbewerbsfähige Energieversorgung mit den Pariser Klimaschutzzielen zu vereinen, sollten sämtliche EU-Mitgliedstaaten an einem Strang ziehen und Europas Chancen nutzen. ({1}) Doch leider ist es insbesondere Deutschland, das immer wieder durch nationale Alleingänge in der Energiepolitik auffällt. Das verstößt nicht nur gegen den europäischen Geist, sondern es ist klimapolitisch, energiepolitisch und wirtschaftspolitisch unsinnig. ({2}) Beispiel Kohleausstieg. Obwohl der CO 2 -Ausstoß der Energiewirtschaft europaweit durch den Emissionshandel gedeckelt ist, möchte die Bundesregierung einseitig Kraftwerke stilllegen. Doch, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das führt nur bei einer gleichzeitigen Verknappung von Zertifikaten überhaupt zu mehr Klimaschutz. Gleichzeitig ist es eine enorme Herausforderung im Hinblick auf die Versorgungssicherheit; denn es ist derzeit eben nicht absehbar, dass wir rechtzeitig ausreichend Netze und Erzeugungskapazitäten haben, um die Lücke bei der gesicherten Leistung zu schließen. Beim Netzausbau hinken wir dramatisch hinterher, da die Bundesregierung einseitig auf den Ausbau von Erneuerbaren gesetzt hat. In windreichen Zeiten können wir Strom nicht abtransportieren und fluten stattdessen die Netze unserer europäischen Nachbarn. ({3}) Das hat schon dazu geführt, dass etwa Polen oder Tschechien an den Grenzen Phasenschieber installiert haben, um sich vom deutschen Überschussstrom abzuschotten. Österreich wurde von der deutschen Strompreiszone gleich ganz abgekoppelt. Diese Energiepolitik auf Kosten unserer europäischen Nachbarn muss ein Ende haben. ({4}) Wenn die Sonne nicht scheint, wenn der Wind nicht weht und wir keine Kohlekraftwerke mehr haben, dann soll der Strom aus dem europäischen Ausland kommen. Das ist ein sehr einseitiges Verständnis von europäischer Solidarität. ({5}) Es ist ein Unding, dass unsere Nachbarn und die Kommission in die jahrelangen Debatten über den Kohleausstieg nicht ausreichend einbezogen wurden. Da feiert nationales Denken trotz grünen Anstrichs Urstände, oder vielleicht auch gerade wegen des grünen Anstrichs. ({6}) Jedenfalls sind sachliche Fragen nicht gelöst, und Nachbarn werden vor den Kopf gestoßen. Wir Freien Demokraten setzen auf den europäischen Emissionshandel als ordnungspolitischen Rahmen für eine integrierte Energiewende, und zwar in ganz Europa und in allen Sektoren. Im Gegenzug wollen wir die Belastungen auf den Strompreis wie die Stromsteuer streichen und die Stromsteuerrichtlinie entsprechend anpassen; ({7}) denn diese Formen der CO 2 -Steuer, Frau Kollegin, sind gescheitert. ({8}) Deutschland und Europa werden auch in Zukunft auf Energieimporte angewiesen sein. Die Vision einer autarken, dezentralen Energieerzeugung stößt nicht nur bei Protesten von Naturschützern gegen Windräder und Strommasten an ihre Grenze. Mit dem Kohleausstieg wird die Bedeutung von Gas als Energieträger wieder steigen. Dazu zählt Erdgas, wenn es weiter aus Pipelines kommt, aber vermehrt auch Flüssiggas, das nach Europa kommen wird. Dazu zählt perspektivisch auch grünes Gas, Frau Kollegin, das durch Wasserstoffelektrolyse dort auf der Welt produziert wird, wo es bessere Standortbedingungen für erneuerbare Energieerzeugung als hierzulande gibt. ({9}) Umso wichtiger wäre es, dass die EU hierbei eine geschlossene, einheitliche Strategie hat, um beispielsweise einen Weltmarkt für klimaneutrale Gase zu forcieren. Aber Kanzlerin Merkel und Minister Maas haben Deutschland beim Thema Erdgas in eine katastrophale Verhandlungsposition manövriert. ({10}) Nord Stream 2 fliegt der Kanzlerin international um die Ohren Die Lehre aus diesen Debakeln muss sein, dass Deutschland wichtige Infrastrukturprojekte zukünftig auf europäischer Ebene abstimmt. Wir müssen die deutsche Energiewende korrigieren. Wir brauchen ein echtes europäisches Projekt mit Mehrwert für Verbraucher und Unternehmen. ({11}) Das ist die europäische Integration eines Energiebinnenmarktes. ({12}) Das sollte – auch wenn Sie schreien – eine zentrale Rolle einnehmen, sowohl in Brüssel als auch in Berlin. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jens Koeppen, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein europäischer Ansatz in der Klimapolitik ist nicht nur richtig und wichtig, sondern er ist Voraussetzung dafür, dass die Energiewende, dass die Energiepolitik im Sinne des Zieldreiecks gelingt. Da gebe ich Ihnen, liebe Kollegin Beer, uneingeschränkt recht. ({0}) Der Antrag der FDP ist sehr konsequent und gut strukturiert, und demzufolge ist an dem Antrag auch nicht viel herumzumäkeln. ({1}) Wer die energie- und klimapolitischen Ziele alleine in Deutschland erreichen will, der wird scheitern, übrigens unabhängig von der entsprechenden Regierungskonstellation. Nationale Lösungen sind aufgrund der Verfügbarkeiten der Ressourcen, der einzelnen Energiequellen, aber auch aufgrund der hohen Kosten von nationalen Alleingängen schlichtweg unsinnig. Aber: Europa gut, alles gut? Das wäre zu schön. Europa allein ist auch nicht die Lösung; denn Europa ist kein homogener Staat mit einheitlichen Interessen. Es gibt nationale Interessen. Allein die Diskussionen über Nord Stream 2 – Sie haben darauf hingewiesen – zeigen, dass es innerhalb der Europäischen Union sehr unterschiedliche Positionen gibt. ({2}) Deswegen brauchen wir einen europäischen Ansatz. ({3}) Ihre Punkte sind sehr klar formuliert. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob andere Länder in Europa unsere Position einfach eins zu eins übernehmen. ({4}) Deshalb brauchen wir, bevor solche Anträge vorgelegt werden, eine europäische Diskussion über Lösungsansätze, in der wir versuchen, die anderen Länder von unseren Vorschlägen zu überzeugen. Wir sollten nicht versuchen, unsere Lösungen den anderen Ländern einfach überzustülpen. Richtig ist: Wir müssen klar formulieren, was wir wollen und wo unsere Interessen liegen. Genauso richtig ist es aber, dass wir von der Bundesregierung nicht erwarten können, dass sie einfach mal so nach Brüssel geht und unsere Positionen eins zu eins durchsetzt. Das ist auch ein bisschen der Makel an Ihrem Antrag. Warum bezieht denn die Europäische Union nicht auch andere Sektoren in den Emissionshandel ein? Ich glaube, das scheitert nicht an Deutschland. Wir können das in Deutschland aber nicht allein beschließen. Dazu brauchen wir die anderen Mitgliedstaaten. Richtig ist aber auch: Viele Probleme der Energiewende liegen nicht bei unseren europäischen Nachbarn, sondern sie liegen bei uns. Deswegen müssen wir unsere Hausaufgaben machen, ({5}) auch – liebe Frau Verlinden – unabhängig von jedweder Regierungskonstellation. Ich möchte ein paar Beispiele nennen, in welchen Bereichen wir unsere Hausaufgaben zu machen haben, wo die Säge noch richtig klemmt. Erstes Beispiel ist das gut gedachte, aber mittlerweile völlig aus dem Ruder gelaufene EEG. ({6}) Hier müssen wir endlich das gesamte System vom Kopf auf die Füße stellen. ({7}) Denn Europa schaut sehr genau, wie wir das machen. Es schaut sehr genau auf die Kosten, die insbesondere die EEG-Umlage verursacht. Das war in den 90er-Jahren oder Anfang der 2000er-Jahre vielleicht erfolgreich, aber jetzt ist es nicht mehr zeitgemäß und auch nicht mehr zielführend. Zweites Beispiel ist die Versorgungssicherheit. Europäische Lösung heißt doch nicht, mit überschüssigem erneuerbarem Strom die europäischen Netze zu fluten und dann, wenn wir bei Dunkelflaute den Strom aus den Nachbarstaaten brauchen, allen verfügbaren Strom abzusaugen. ({8}) Am Ende ist das noch der Kernstrom aus Frankreich oder der Kohlestrom aus Polen. Das ist keine europäische Lösung. ({9}) Drittes Thema ist die Akzeptanz. Auch wenn Sie alle es nicht mehr hören können, werde ich nicht müde, das hier immer wieder zu bewerten: Wenn wir die Energiewende und die Energiepolitik gegen die Menschen durchdrücken, wird sie scheitern. ({10}) Mittlerweile gibt es über 1 000 Bürgerinitiativen, weitere schießen nahezu wie Pilze aus dem Boden. Wind onshore verliert zunehmend die Akzeptanz. (Timon Gremmels [SPD]: Wegen Leuten wie Ihnen! Alle möglichen Genehmigungen werden beklagt. ({11}) Die Verfahrensdauer zur Erteilung von Genehmigungen hat sich massiv verlängert. In sehr vielen Regionen gibt es mittlerweile ein Moratorium, bis eine Lösung gefunden worden ist. Ich kann die Menschen verstehen. Ich wiederhole: 800 Meter Abstand zur Wohnbebauung bei einer Anlage, die 230 Meter hoch ist, kann man den Menschen einfach nicht zumuten. ({12}) Nun hebt das Bundesumweltministerium den Klimaschutz berechtigterweise immer sehr hervor. Aber bei der Umsetzung der Maßnahmen, die zum Klimaschutz beitragen könnten, zum Beispiel die Beschleunigung beim Netzausbau, steht das BMU auf der Bremse. Ich erinnere nur an das Artenschutzportal im Zuge der NABEG-Berichterstattung, das wir gut gebrauchen könnten, oder an den Verzicht auf Ausgleichsflächen im landwirtschaftlichen Bereich und viele andere Maßnahmen. ({13}) Es ist nicht sehr kooperativ, gegen das Wirtschaftsministerium zu arbeiten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Viertes Thema ist die CO 2 -Speicherung. Es geht um CCS, also um die Abspaltung von CO 2 in Industrieprozessen und um die anschließende Speicherung in Gaskavernen oder vorübergehend in Salinen, also praktisch in der Erde. Die CCS-Technologie wurde in Deutschland einfach abgesagt, obwohl wir sie für den Klimaschutz gut gebrauchen könnten. Hier sind wir uns querbeet durch alle Fraktionen einig. Wenn wir CCS ausschließen, dann können wir – das wurde berechtigterweise gesagt – auch CCU nicht nutzen. Das ist schlicht und ergreifend nicht möglich. Deswegen sollten wir uns überlegen, ob wir solche Technologien ausschließen. Fazit: Eine erfolgreiche Energiepolitik im Rahmen von Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit kann nur europäisch gelingen. Wir brauchen energiepolitische Lösungen mit Europa, unabhängig von jedweder Regierungskonstellation in Deutschland. Aber wenn wir unsere Hausaufgaben nicht machen, wenn wir uns nicht klar darüber sind, was wir wollen, sind wir in einer schlechten Verhandlungsposition. ({14}) Die Voraussetzung für eine europäische Lösung ist, dass wir unser Feld hier selbst richtig bestellen. Das nimmt uns keiner ab. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Steffen Kotré, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Früher konnte Deutschland stolz auf seine Stromversorgung sein. Es gab verlässlichen und bezahlbaren Strom. ({0}) Deutschland konnte sich selbst versorgen. Das ist leider vorbei. ({1}) Dank der Verknappung der Stromerzeugungskapazität aufgrund der Energiewende der Altparteien, allen voran der von den Grünen vor sich hergetriebenen Bundesregierung, sind wir jetzt stärker auf das Verbundnetz angewiesen. Die Energiewende – wir haben es schon oft gehört – hat uns die weltweit höchsten Strompreise beschert. In dieser Situation schlägt die Bundesregierung jetzt eine CO 2 -Steuer vor. Eine CO 2 -Steuer in Verbindung mit dem falschen Ausstieg aus der Kohleverstromung und mit dem völlig übereilten Ausstieg aus der Kernenergie ({2}) und den damit verbundenen Entschädigungszahlungen wird weitere Preissteigerungen nach sich ziehen. Strom, Gas, Heizöl werden dann vielleicht nur noch von Besserverdienenden gut zu bezahlen sein. Das Maß ist voll, der Geldbeutel der Stromkunden leer, meine Damen und Herren. ({3}) Was nun Europa betrifft: 41 Leitungen verbinden zum Beispiel das Schweizer Übertragungsnetz mit seinen europäischen Nachbarn. 30 Prozent der Stromflüsse in Zentralwesteuropa laufen durch die Schweiz. Die Strommengen, die die Schweiz zur Durchleitung aufnehmen muss, übersteigen regelmäßig die vereinbarten Vergütungen. Dabei könnten wir durchaus guten Nutzen aus der flexiblen Wasserkraft der Schweizer Speicherseen ziehen. Doch was tut Europa? Es legt das Stromabkommen mit der Schweiz auf Eis. Warum? Um die Schweiz zu erpressen; ({4}) denn die Schweiz soll zum Beispiel ihren Arbeitsmarkt öffnen und noch andere Dinge machen. Das ist kein fairer Umgang mit einem Partner. Wir fordern an dieser Stelle die zügige Umsetzung des Stromabkommens mit der Schweiz. ({5}) Im Übrigen hat dieses erpresserische Gebaren der EU zur Folge, dass sich auch die Schweizer von der EU abwenden. Ist das so gewollt, meine Damen und Herren? ({6}) Zur Netzstabilität. Nur weil wir im Moment noch mehr konventionelle Kraftwerke im Netz haben, ist das Netz noch stabil. Der instabile neue Strom aus Windkraft und Solarenergie gefährdet unsere Netzsicherheit. Schon heute müssen wir energieintensive Unternehmen manchmal vom Netz nehmen, um es zu stabilisieren. Der Chef des zukünftigen kommunalen Stromnetzbetreibers Berlin Energie, Herr Wolfgang Neldner, sagt, dass das Risiko für einen größeren Stromausfalls steigt; und der muss es wissen. Der Grund für das zunehmende Risiko ist die immer komplexere Struktur der Energieerzeugung; denn die real existierende Energiewende hat dazu geführt, dass wir Hunderttausende Einspeisepunkte haben, eben Solardächer und Windräder. ({7}) Es ist völlig klar, dass wir kleinere Einheiten koordinieren müssen. Wir müssen sie noch besser aufeinander abstimmen, teilweise manuell. Dass ein solches System anfälliger ist, liegt auf der Hand. Noch mal ganz klar zur Energiewende. Diese Energiewende, die real existierende Energiewende, schädigt unsere Versorgungssicherheit. So sagt dann eben auch Herr Neldner, wie gesagt, Chef des zukünftigen Berliner Stromnetzbetreibers, dass er sich selbst schon Vorräte für den Fall des Blackouts zu Hause anlegt. Mittlerweile denken immer mehr Menschen so. Ich frage mich: Ist das eine Lösung für den Industriestaat Deutschland? Ich meine, nein. Das ist keine Lösung, das ist eine Schande, meine Damen und Herren. ({8}) An dieser Stelle muss europäisch gedacht werden. ({9}) Wir können in Deutschland nicht planlos alle konventionellen Kraftwerke stilllegen. Wenn wir das in Deutschland tun, dann fällt uns die Energiewende auf die Füße. Wir haben, wie ich schon sagte, den teuersten Strom; das kann man nicht oft genug wiederholen. Wir müssen Kernenergiestrom und auch Kohlestrom aus dem Ausland teuer zukaufen. ({10}) Wenn wir zu viel Strom aus erneuerbaren Energien produzieren, dann müssen wir sogar Geld dafür bezahlen, dass das Ausland diesen Strom abnimmt. Das ist ein völliger Anachronismus. ({11}) Mein Vorredner, Herr Koeppen von der CDU/CSU, hat es an dieser Stelle schon gesagt: Das EEG ist völlig aus dem Ruder gelaufen, meine Damen und Herren. ({12}) Wir hatten in 2017  329 sogenannte Stresstage, also Tage, an denen man schon mal das Eingreifen in die Stromnetze planen muss, und 2018 hatten wir davon 353, also ansteigende Kurve, permanent und dauernd; das sind Angaben der Bundesnetzagentur. Auch das zeigt den Verlust der Versorgungssicherheit auf. Zur Gasversorgung. Was nun der Spitzenkandidat der EVP für Europa, Herr Manfred Weber von der CSU, macht, ist klar gegen unsere nationalen Interessen gerichtet. ({13}) Er versucht, das deutsch-russische Projekt der Gasleitung Nord Stream 2 zu torpedieren und zu verhindern. Er will damit etwas verhindern, was sogar die Bundesregierung unterstützt. ({14}) Dabei sind wir aufgrund der Energiewende noch mehr auf Gaslieferungen, vor allen Dingen auf kostengünstige Gaslieferungen aus Russland angewiesen. Nun versucht Herr Weber von der CSU, auf Kosten des deutschen Steuerzahlers und des Energiekunden sein eigenes Süppchen zu kochen und uns in die Suppe zu spucken. Er will mit seinem Verrat an deutschen und auch europäischen Interessen dafür sorgen, dass seine persönlichen Chancen, zum EU-Kommissionspräsidenten gewählt zu werden, steigen. Er nimmt weder Rücksicht auf seine eigene Partei noch auf die Bundesregierung noch auf Deutschland. Er weiß nämlich, dass, wenn er die Interessen anderer Mitgliedstaaten vertritt, dann seine Wahlchancen steigen. Da kann ihm seine eigene Partei schlecht dazwischenreden. Mehrheit ist Mehrheit, er wird also unterstützt. Aber das, was Herr Weber hier macht, ist Verrat an deutschen Interessen. ({15}) Herr Weber hat unserem Vaterland sozusagen den Rücken zugekehrt. ({16}) Konsequent wäre es an dieser Stelle, wenn er sich um eine andere Staatsbürgerschaft bemühen würde und die deutsche Staatsbürgerschaft abgeben würde. Faktisch hat er das schon getan. ({17}) Vielleicht noch ein Aspekt zur europäischen Energiepolitik. Ich glaube, die europäische Solidarität besteht nicht darin, dass die Staaten ihre Kernkraftwerke an ihre Grenzen legen, hin zu den anderen Ländern. Ich glaube, das ist kein solidarisches Gebaren hier in Europa; das muss an dieser Stelle auch mal erwähnt werden. ({18}) Weil wir bei der Kernenergie sind: Die Grünen arbeiten sich daran gerade ab und machen das Tollhaus Deutschland perfekt. Sie sprechen von einer sogenannten Privilegierung der Kernkraft, die es aber nicht gibt. Es gibt keine Sonderstellung. Die AfD hält es für zielführender, die Kernkraftwerke hier bei uns – die sichersten in der Welt – länger laufen zu lassen, ({19}) aber leider gibt es dafür keine Mehrheit hier. Wenn sich die Grünen und die Grüninnen schon ins Knie schießen wollen, dann sagt die AfD: Nein, macht das bitte unter euch, aber nicht mit uns. Wir haben auch keine Antwort darauf, wie die Technologie der Kernenergie in Deutschland gehalten werden soll.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Darauf gibt es keine Antwort. Wir sagen aber: Das wollen wir erreichen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Johann Saathoff, SPD. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kotré, ich war im letzten Jahr in Fukushima. Ich habe gesehen, welche Auswirkungen Atomenergie hat, wenn so ein Reaktor havariert. Ich habe die Digitalanzeigen an der Autobahn gesehen, die die aktuelle radioaktive Strahlung angeben. Ich habe die Angst der Menschen gesehen, die nicht nur um ihr Hab und Gut fürchten mussten, sondern auch um ihr Erbgut im weitesten Sinne, die Angst davor hatten, dass ihre Kinder nicht gesund bleiben. Ich kann mich gut daran erinnern, wie in den 80er-Jahren das Atomkraftwerk in Tschernobyl explodiert ist und die radioaktive Wolke über Deutschland gezogen ist. ({0}) Die Menschen hier haben zu Recht entschieden, dass Atomenergie nicht mehr genutzt wird. ({1}) Gut ist, dass wir heute eine Debatte zu europäischer Energiepolitik führen. Energiepolitik kann man nämlich nicht mit nationalen Scheuklappen machen, weder in der fossilen Welt noch in der Welt der Erneuerbaren; das muss man sagen. Es hilft auch nichts, sich angesichts des Klimawandels in sein Schneckenhaus zu verkriechen und alles mit ungewöhnlichen Wetterphänomenen erklären zu wollen. Klimawandel, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine globale Herausforderung. Der Kampf gegen den Klimawandel ist eine globale Aufgabe. Der stellt man sich am allerbesten, wenn man das auf dem Kontinent gemeinsam macht. Gut ist im Antrag der FDP der Ansatz, auch die Bereiche Verkehr und Wärme in den europäischen Emissionshandel einzubeziehen. Ich glaube, das kann man begrüßen. Allerdings ist mir Ihr Antrag zu monokausal. Es liegt mir fern, das ETS als Allheilmittel für richtig zu halten. Der Markt wird Klimaschutz allein durch den Emissionshandel nicht regeln; diese Botschaft muss so klar gebracht werden. ({2}) Faktisch wirkt das ETS eher wie eine Bremse. Das liegt zugegebenermaßen nicht am System selber. Das liegt eher an der Ausgestaltung: zu viele Zertifikate – Frau Beer, Sie können ja in Ihrer zukünftigen Verwendung dafür sorgen, dass diese Ausgestaltung ein bisschen innovativer angegangen wird –, zu zögerliche Verknappung der Zertifikate und zu zögerliches Handeln in Brüssel. Nicht wenige halten es schlicht für unrealistisch, dass die notwendige Verschärfung über das ETS im Kampf für das Klima auf der Erde tatsächlich erreicht werden kann. Europa setzt die Rahmenbedingungen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Der Emissionshandel ist eben nur eines von vielen Instrumenten. Die Mitgliedstaaten müssen die europäischen Rahmenbedingungen ausgestalten. Wir wollen kein Europa mit erhobenem Zeigefinger, sondern wir wollen ein vielfältiges Europa mit vielfältigen Lösungen in der Energiepolitik. ({3}) Wir wollen in Deutschland die Energiewende erfolgreich fortführen: sicher, sauber und bezahlbar. Zur Energiewende gehört, dass es eben nicht nur um Klimapolitik geht, sondern natürlich auch um knallharte Wirtschaftspolitik. Wir müssen den Rahmen dafür setzen, dass in Deutschland die Produkte entwickelt werden, die morgen Exportschlager der erneuerbaren Welt sind. Das ist sozusagen unsere Verantwortung. Wir wollen unseren Nachbarn nichts diktieren, um das klar zu sagen. ({4}) Wir wollen ihnen zeigen, dass Industriepolitik und Klimaschutz zusammengehen. Dafür reicht das ETS nicht. Das kann man nur mit einem Klimaschutzgesetz machen. Die Akteure brauchen jetzt hinsichtlich des Klimaschutzgesetzes endlich verlässliche Rahmenbedingungen. ({5}) Wir wollen klare Sektorenziele definieren und klare Maßnahmen zur Erreichung der Reduktion von CO 2 -Emissionen, auf die sich alle einstellen können. Dafür ist die Einrichtung des Klimakabinetts eine richtige Maßnahme. Wir sollten uns parlamentarisch überlegen, ob wir dieses Klimakabinett nicht parlamentarisch spiegeln müssten, ob wir nicht also auch einen Ausschuss brauchen, der sich ausschließlich mit Klima- und Energiepolitik befasst. ({6}) Das Klimaschutzgesetz ist auch notwendig, um die europäischen Rahmenbedingungen umzusetzen. Das „Clean Energy Package for all Europeans“ wird aus meiner Sicht viel zu wenig beachtet. Dort gibt es ein verbindliches EU-Ziel für Erneuerbare bis 2030, nämlich 32 Prozent, Herr Koeppen, und zwar für alle Sektoren. Da müssen Sie uns mal erklären, wie Sie das erreichen wollen. ({7}) Es gibt ein Gesamteinsparungsziel in der Effizienz von 32,5 Prozent. Die Ziele sind ambitioniert. Wir sind von diesen Zielen sektorenübergreifend noch meilenweit entfernt. Wir müssen was tun. Neben den ambitionierten, aber auch notwendigen Zielen regelt die EU im „Clean Energy Package“ auch das europäische Strommarktdesign neu. Dazu gehört die Anpassung des Strommarktes an den steigenden Anteil der Erneuerbaren, die Erhöhung des grenzüberschreitenden Stromhandels. Die Versorgungssicherheit wird damit zum ersten Mal wirklich zum europäischen Projekt. Es scheint nicht immer die Sonne, und es weht nicht immer der Wind: Diesen Satz habe ich hier im Hause schon hundertmal gehört. Dieser banale Satz wird immer richtiger, je kleiner die Scholle ist, auf der Sie sich bewegen, und immer falscher, wenn es gelingt, nationale Scheuklappen abzulegen und europäisch zu denken. Ich will ein Beispiel nennen. Stellen Sie sich vor, ein Tiefdruckgebiet wandert über Europa; das soll ja gelegentlich vorkommen. Dann haben Sie innerhalb der fünf Tage, in denen es von der Biskaya bis über die polnische Grenze wandert, fünf Tage lang Wind und damit fünf Tage lang Windenergie, nicht immer überall, aber wenn Sie das vernetzt denken, haben Sie ausreichend Energie für ganz Europa zur Verfügung. Sie müssen den Mut haben, die nationalen Scheuklappen abzulegen und die Energiewende in Europa grenzübergreifend anzugehen. Zum „Clean Energy Package“ gehört auch, die Rolle des Verbrauchers im neuen flexiblen Marktdesign zu stärken und aktive Verbraucher in den Fokus zu stellen. Darauf legen auch die Grünen in ihrem Antrag den Fokus, genauso wie auf die dringend notwendige Reform der EEG-Umlage. Ich freue mich auf die Debatte, und ich freue mich auch auf eine intensive Ausschussarbeit in dieser Frage, weil das richtige Ansätze sind, die wir dringend miteinander angehen müssen. ({8}) Die vielleicht größte Herausforderung wird wohl im Bau und Betrieb der Netze nicht nur in Deutschland, sondern auch in ganz Europa liegen. Dieses Thema ist in den Anträgen zu Recht aufgegriffen worden. Man kann in Ostfriesland sagen: För een gaud Soop bruukst du mehr as bloot Prey. – Man braucht also viele Zutaten für eine gute Suppe. Für eine gute Energiepolitik braucht man eben viele Instrumente: nationale, aber vor allen Dingen auch europäische Instrumente. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Lorenz Beutin, Die Linke, ist der nächste Redner. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Liebe Nicola Beer von der FDP, als ich eben Ihre Rede gehört habe, habe ich gedacht: Irgendetwas stimmt daran nicht. – Ich habe vorher Ihre Aussagen gelesen, auch die, die Sie Ende letzten Jahres gemacht haben und von denen Sie noch immer nicht Abstand genommen haben. Sie haben erklärt, das zunehmende Auftreten von Extremwettern infolge des Klimawandels sei Fake News. ({0}) Das haben Sie wortwörtlich gesagt, ich habe es extra noch einmal nachgelesen. Sie haben auch gesagt, der Bericht des Weltklimarates betreibe Panikmache. – Ganz ehrlich: Erzählen Sie das den Menschen in Bangladesch, erzählen Sie das den Menschen in Indonesien, erzählen Sie das den Menschen in Mosambik! ({1}) Der Klimawandel, die Extremwetter sind eine Tatsache. ({2}) Das können wir nicht bestreiten, sondern wir müssen handeln. Worin unterscheidet sich Ihre Aussage von den Aussagen der Rechtsradikalen hier im Hohen Hause? Ich sehe da keinen Unterschied. Sieht so Ihre europäische Klima- und Energiepolitik aus? Ich hoffe nicht. ({3}) Wenn wir uns die Ausführungen der FDP zu Ihrem Antrag anhören, hören wir doch wieder nur die alte Leier davon, dass der Markt schon alles regeln würde. Wir sollen uns auf den europäischen Emissionshandel verlassen, und dann werde schon alles klappen. – Die Politik, die Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, ist in den letzten 30 Jahren krachend gescheitert. ({4}) Sie hat nicht zu mehr Klimaschutz geführt, sondern genau zum Gegenteil. ({5}) Wenn Sie mit Ihren Rezepten von gestern kommen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Sehen Sie es doch endlich ein: Dieser Neoliberalismus, den Sie hier wieder vorschlagen, hat abgewirtschaftet. ({6}) Wenn vom Bundesumweltministerium endlich ein Klimaschutzgesetz vorgelegt wird, in dem es um die Einsparziele nach Sektoren geht, dann sagen Sie, das sei alles Planwirtschaft, das sei nur die nationale Ebene, das könne nicht funktionieren. ({7}) Nein. Wir haben beim Klimaschutz kein Problem mit zu viel Staat. Unser Problem momentan ist, dass wir zu wenig verbindliche Regelungen, zu wenig verbindliche Vorgaben beim Klimaschutz auf nationaler Ebene haben. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Beutin, der Kollege Theurer, FDP, würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Theurer.

Michael Theurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004914, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade behauptet, dass der Emissionshandel nicht funktioniert. Fakt ist doch, dass in den Sektoren, die in den europäischen Emissionshandel einbezogen sind, nämlich die stromerzeugende Industrie, die Klimaschutzziele erreicht werden und es eine CO 2 -Minderung gibt, während in den Bereichen, in denen der Markt nicht funktioniert und die in den Emissionshandel nicht einbezogen sind, nämlich Verkehr und auch Wärme, also Heizungsenergie, die Klimaschutzziele eben nicht erreicht werden. Also, Ihre Behauptung, der Markt funktioniere nicht, ist doch absurd und nicht von den Fakten getragen. ({0}) Sind Sie bereit, diese Fakten zur Kenntnis zu nehmen, oder wollen Sie weiterhin faktenfrei diskutieren? ({1})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Kollege von der FDP, ich werde Ihnen das einmal erklären und das Ganze auseinandernehmen. Es gibt da unterschiedliche Komponenten. ({0}) Die erste Komponente ist die Frage: Was ist beim Klimaschutz in Deutschland die Berechnungsgrundlage? Berechnungsgrundlage ist die Zeitspanne von 1990 bis 2017. Das heißt, die Einsparungen, die wir bei den CO 2 -Emissionen feststellen können, gehen zu einem Teil – das sind etwa ein Drittel; ich habe das extra vorher nachgeguckt, weil ich mir gedacht habe, dass eine solche Frage aus Ihren Reihen kommt – auf den damaligen Zusammenbruch der DDR, auf den Rückbau der Indus­trieanlagen in Ostdeutschland, zurück; ein Drittel der Einsparungen beim CO 2 sind also darauf zurückzuführen. Etwa zwei Drittel der CO 2 -Einsparungen im Stromsektor sind darauf zurückzuführen – das können Sie gerne in den entsprechenden Studien nachlesen; ich schicke sie Ihnen auch gerne zu –, dass wir ein EEG haben, das als Eingriff funktioniert hat, ein EEG, das Sie übrigens abschaffen wollen. ({1}) Das EEG bedeutet genau das: Mit staatlichen Mitteln wird versucht, erneuerbare Energien anzuschieben, in den Markt zu bringen. Genau das brauchen wir. Es ist verheerend, dass Sie das abschaffen wollen. Ein weiterer Punkt. Die CO 2 -Preise ziehen jetzt an. Sie sollten ein paar Börsenmagazine lesen. ({2}) – Stimmt, eigentlich liest die FDP solche Magazine ganz gerne. – Dort wird zum Kauf von CO 2 -Zertifikaten geraten, weil man nun Gewinn damit machen kann. Das heißt, die Gewinne im Emissionshandel und der steigende Preis bei den Zertifikaten sind gerade auf eine Spekulation zurückzuführen. Ich will Ihnen mal erklären, wie ein Markt funktioniert. ({3}) Wir haben im Emissionshandel rund 2 Milliarden überschüssige Emissionszertifikate. Auch Sie können nicht erklären, wie ein Markt funktionieren soll, auf dem keine Knappheit herrscht; denn nach der Logik der FDP und der Logik der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung funktioniert ein Markt nur, wenn Knappheit besteht. Wenn keine Knappheit besteht, funktioniert ein Markt eben nicht. Das sind ein paar Basics. ({4}) Ich will kurz fortfahren. Ich habe gesagt: Wenn dann ein Klimaschutzgesetz vorgelegt wird – – Ach, da war ich gar nicht. Entschuldigung, aber ich bin in meinem Manuskript etwas verrutscht. ({5}) Die FDP lehnt – das sehen wir auch in Ihrem Antrag – eine kluge und lenkende Gestaltung der Wirtschaft im Interesse der Mehrheit der Menschen ab. Sie lehnt sie auch im Interesse unserer Umwelt ab. – Herr Präsident, haben Sie die Zeit, die ich für die Beantwortung der Zwischenfrage benötigt habe, nicht berücksichtigt?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sie hatten drei Minuten Redezeit. Sie sind nun fast zehn Minuten am Rednerpult.

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Okay, aber ich musste leider der FDP das noch mal erklären. Ich schließe. Sie diffamieren Jugendliche, die auf die Straße gehen und protestieren, und sagen, sie sollten sich das von den Profis erklären lassen. Die Profis sind aber nicht Sie. Die Profis sind diejenigen, die den Schülerinnen und Schülern recht geben. Die Profis sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sagen, dass jetzt Zeit ist, zu handeln. Also: Halten Sie sich an die Profis, und tischen Sie uns hier keinen Klimawandelskeptizismus auf! Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Ingrid Nestle, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der FDP spricht über die wichtige Rolle Europas in der Energiepolitik. Das ist ein ehrenwertes Anliegen. Auch wir Grüne zeigen in unserem Antrag, dass Brüssel viel weiter ist als die Bundesregierung. Die EU will es allen Menschen ermöglichen, in ihren eigenen vier Wänden eine Energiewende zu machen, an den wichtigen Märkten teilzuhaben, ihre Kreativität zu entfalten. Herr Altmaier, setzen Sie das endlich um! ({0}) Aber dann wird es leider schwieriger mit dem Antrag der FDP. Sie sagen: Nur Emissionshandel darf Klimaschutz machen. – Emissionshandel ist genauso marktwirtschaftlich wie eine CO 2 -Bepreisung, und andersherum. Der Unterschied ist: Der CO 2 -Preis gibt Investitionssicherheit und Preissicherheit für Bürger und Unternehmen. Und in der Vergangenheit haben Sie sich oft für schwache Ziele im Emissionshandel eingesetzt. Man fragt sich also: Warum lehnen Sie das eine marktwirtschaftliche Instrument, die CO 2 -Bepreisung, vehement ab, während Sie das andere, den Emissionshandel, als angeblichen Heilsbringer darstellen? ({1}) – Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen. – Die Erklärung ist: Sie fordern deshalb die Aufnahme des Verkehrs in den Emissionshandel, weil Sie genau wissen, dass das nicht kommen wird. Immerhin geben Sie in Ihrem Antrag offen zu, dass Sie auf Europa warten wollen – Herr Koeppen hat erklärt, wie lange das dauert –, und schieben Ihre Verantwortung an Europa und damit in die Zukunft ab. Diese Zeit haben wir nicht. ({2}) Ganz abgesehen davon genügt ein Blick in die Analyse des Bundesverbandes der Deutschen Industrie zur Verkehrskommission, um zu verstehen, warum der Emissionshandel so schlecht zum Verkehr passt. Wollte man die Klimaziele des Verkehrssektors allein über den Emissionshandel erreichen, würde ein CO 2 -Preis von über 200 Euro pro Tonne entstehen. Sie fordern also implizit einen höheren CO 2 -Preis als Fridays for Future und scheinen das noch nicht einmal zu merken. ({3}) Faktisch würden die Autofahrerinnen und Autofahrer erst mal ziemlich viel blechen, ohne etwas zu ändern. Weil Sie von der FDP flankierende Maßnahmen ablehnen, würde sich auch sonst nichts ändern. Irgendwann müsste der Verkehr natürlich trotzdem reduzieren, aber nach Ihrem Vorschlag dann ganz plötzlich und ohne Zeit, E‑Mobilität zu etablieren. Wir Grüne wollen, dass die Autoindustrie ab sofort ihren Teil der Verantwortung übernimmt und sparsamere Autos baut, anstatt das China zu überlassen. Wir wollen mit einem CO 2 -Preis diejenigen belohnen, die sich klimafreundlich verhalten. Wir wollen das den Menschen erleichtern, indem wir die Bahn gut und günstig machen, indem wir sichere Radwege schaffen, indem E-Mobilität einfach wird und indem wir die Einnahmen an die Bürgerinnen und Bürger so zurückgeben, dass diejenigen mit wenig Geld in der Tasche unterm Strich profitieren. ({4}) Wir wollen die Verantwortung nicht abschieben, nicht in die Zukunft und nicht auf die EU. Wir wollen, dass wir hier und jetzt unseren Teil beitragen. Dann werden die anderen es auch tun. Zum Abschluss eine Bitte an die Union. Sie haben gesagt, dass wir jetzt das EEG abschaffen müssen, weil die Erneuerbaren so teuer sind. Unter Ihrer Regierung haben wir viele Erneuerbare zugebaut, als sie noch teuer waren. Heute sind neue Erneuerbare günstiger als neue Fossile. Und jetzt wollen Sie das EEG abschaffen? Das ist völlig unlogisch. ({5}) Von Ihnen hört man vielfach das Wort „nachdenken“. Sie regieren seit 14 Jahren. Die Zeit zum Nachdenken ist vorbei. Irgendwann muss eine Regierung auch handeln. Irgendwann muss eine Regierung handeln und auf die Klimakrise reagieren. Die Frage ist: Finden Sie immer nur Gründe, warum Sachen nicht gehen, oder packen wir es an? Wir wollen es anpacken. Herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ingrid Nestle. – Bevor ich Andreas Lenz das Wort gebe, will ich Ihnen erst mal einen schönen guten Morgen wünschen, auch Ihnen, Herr Lenz. Der nächste Redner: Dr. Andreas Lenz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Guten Morgen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es liegen verschiedene Anträge der Opposition zu energiepolitischen Themen vor. Einige Punkte darin sind durchaus richtig. Vieles ist aber entweder unvollständig oder schlichtweg falsch. Zunächst einmal möchte ich betonen, dass wir beim Ausbau der erneuerbaren Energien vorankommen. Über 40 Prozent der Nettostromerzeugung erfolgt mittlerweile durch erneuerbare Energien. ({0}) Ebenso gilt es zu betonen, dass der Ausstoß von klimaschädlichen Treibhausgasen allein im letzten Jahr um 4,5 Prozent zurückging, und das bei steigender Wirtschaftsleistung. Das alles ist ein Erfolg. ({1}) Dass wir aber im Rahmen einer vollständigen Dekarbonisierung oder Klimaneutralität unserer Gesellschaft – wie auch immer man das ausdrückt – noch erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen, ist unstrittig. Was auch richtig ist, ist, dass diese Anstrengungen möglichst global und, wenn das nicht möglich ist, auf europäischer Ebene unternommen werden müssen. Aber es gibt nicht das eine Instrument, mit dem man sozusagen mit einem Schnipp alle vorhandenen Probleme lösen könnte. Im Gegenteil: Wir brauchen viele Instrumente, um unterschiedliche Technologien anzureizen, um Effizienzen hinsichtlich der weiteren Einsparung von Energie zu erzielen. Das alles hilft dann auch, den Ausstoß von CO 2 weiter zu reduzieren. Wir wollen hier möglichst viele Innovationen und möglichst wenige zusätzliche Belastungen. Wir wollen nicht die Lust am Gängeln und an Verboten. Wir wollen die Lust an Zukunft und an Innovation. ({2}) Die FDP fordert in ihrem Antrag: „Energiepolitik europäisch denken“. Sie waren zwar vier Jahre nicht in diesem Parlament, aber in dieser Zeit ist durchaus was passiert, auch auf europäischer Ebene, wo Sie eigentlich vertreten waren. So hat sich die EU für 2030 das Ziel gesetzt, die Treibhausgasemissionen um mindestens 40 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Darüber hinaus soll der Anteil der erneuerbaren Energien am Endenergieverbrauch der EU bis 2030 auf 32 Prozent gesteigert werden, und im Bereich der Energieeffizienz sollen zusätzlich 32,5 Prozent erreicht werden. Es gilt das Leitmotiv „Efficiency First“, also Effizienz zuerst. All diese Maßnahmen dienen auch der Umsetzung der Klimaschutzverpflichtungen der EU aufgrund der Pariser Verträge. Die FDP fordert mehr Anstrengungen im Bereich von Forschung und Entwicklung. Das ist zunächst richtig; es ist natürlich immer richtig. Sie fordern aber auch, dass beispielsweise der Unbundling-Grundsatz unbedingt eingehalten wird, also die Trennung von Netzbetrieb und Stromerzeugung. Das ist prinzipiell auch richtig, verhindert auf der anderen Seite aber teilweise Innovationen. Wir brauchen gleichzeitig Energienetzbetreiber, die die Netzsituation durch Speicher zukünftig weiter stabilisieren. Also: Innovationen bedürfen eines allumfassenden Ansatzes. Wir sind es, die zukünftig Power-to‑X-Technologien anreizen und auch die Wasserstofftechnologie auf den Markt bringen werden. Sie wollen – so wörtlich – die „unterschiedlichen energiepolitischen Strategien der EU-Mitgliedstaaten zusammenführen“. Die Koordinierung ist zwar wichtig – das ist überhaupt keine Frage –, wir können und wollen es allerdings den Ländern selber überlassen, welche Instrumente sie zur Erreichung der Ziele letzten Endes anwenden. Für uns gilt auch hier der Grundsatz der Subsidiarität. Der einzige Punkt, bei dem ich mit Herrn Beutin übereinstimme, ist der, dass bei Ihrem Antrag zwar einige Spezialisten am Werk waren, aber noch längst keine Profis in der Klima- und Energiepolitik. ({3}) Die Grünen nehmen wiederum explizit Bezug auf das EU-Paket „Saubere Energie für alle Europäer“. Das Clean-­Energy-Paket bildet mit acht Richtlinien und Verordnungen und über 1 000 Seiten Rechtstext den Rahmen für die europäische Energiepolitik der Zukunft. Sie von den Grünen haben die über 1 000 Seiten anscheinend schon durchgearbeitet und können jetzt schon sagen, was der nationale Gesetzgeber daraus machen muss. Deswegen fordern Sie in einem Schnellschuss, den aktiven Kunden in die nationale Gesetzgebung zu überführen. Zunächst findet die Entwicklung des aktiven Kunden oder Consumers – wie auch immer man das bezeichnen will – bereits statt. Die Umsetzung des EU-Pakets umfasst aber natürlich wesentlich mehr. Da geht es um Energieeffizienz, um die EU-Gebäuderichtlinie, um die Strombinnenmarktrichtlinie und, und, und. Sie wollen außerdem Unternehmen beim Eigenverbrauch zusätzlich belasten – das schreiben Sie in Ihrem Antrag – und dadurch Privatverbraucher entlasten. Das ist natürlich Gift für langfristige Investitionen. Wir haben gerade Investitionssicherheit bei der Kraft-Wärme-Kopplung, der KWK, geschaffen, und Sie wollen das jetzt zurückdrehen. Das ist nicht der richtige Weg. Wir werden auch die Spielräume des nationalen Gesetzgebers nutzen, die das EuGH-Urteil erlaubt. Es besagt, dass das EEG eben gerade keine Beihilfe ist. ({4}) Hier werden wir die Planungssicherheit weiter stärken. Natürlich ist das Klimasteuer- und -abgabensystem insgesamt ein Thema. Wir brauchen eine Abgaben- und Gebührenreform. Diese muss mehr auf CO 2 -Gesichtspunkten basieren und sektorübergreifend erfolgen. ({5}) Wir müssen und werden die Erneuerbaren noch stärker in den Wärme- und in den Mobilitätsbereich bringen. Wir müssen dieses richtige Vorhaben aber auch richtig umsetzen, damit es eben nicht zu sozialen Verwerfungen kommt. ({6}) Auch dem Weltklima bringt es nichts, wenn wir durch übereilte Reformen die energieintensive Industrie verlieren, die Landwirtschaft abschaffen und gleichzeitig individuelle Mobilität einschränken, wodurch es zu sozialen Verwerfungen kommt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Dr. Lenz, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Frau Nestle?

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, dass ich fragen darf. – Ich wollte mich einmal erkundigen, was für Sie „übereilt“ bedeutet. Ich habe 1998 angefangen, Klima- und Energiepolitik zu studieren. Seitdem und auch schon vorher wurde in Deutschland über die richtige Energie- und Klimapolitik nachgedacht. Wir haben alle Technologien und wissen, wie es bezahlbar geht. Wir haben alle politischen Instrumente. Wir haben sie in zig Studien aufeinander abgestimmt, verbessert, optimiert und bewertet. Seit 14 Jahren ist die Union mit in der Regierung. Was ist also für Sie „übereilt“, wenn wir von Ihnen einfordern, dass Sie heute mal eine Maßnahme nennen, zu der Sie sich wirklich bekennen? ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Nestle, vielen Dank für Ihre Frage. – Sie haben gerade in Ihren Ausführungen, wenn ich mich richtig erinnere, die FDP kritisiert, weil sie den ETS-Bereich auf andere Sektoren übertragen will, und haben argumentiert, dass der Preis für CO 2 nicht für jeden Sektor unbedingt der gleiche sein sollte. Das ist ja das Argument dafür, dass man sich die Sektoren genau anschauen muss, bevor man eine entsprechende Bepreisung einführt, und nicht alles über einen Kamm scheren darf. ({0}) Deswegen muss man sich solche Instrumente auch im Hinblick auf mögliche Kollateralschäden, die nicht erwünscht sind, beispielsweise im Bereich der energieintensiven Industrie, im Bereich der Mobilität, aber auch in anderen Sektoren, anschauen. Das werden wir machen, und wir werden hier nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. ({1}) Abschließend möchte ich sagen: Das Paket „Saubere Energie für alle Europäer“ muss sorgfältig in nationales Recht umgesetzt werden. Dabei gilt – das betont auch die Kommission und die EU insgesamt – natürlich auch das Zieldreieck von Bezahlbarkeit, Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und Klimaschutz. Deswegen müssen wir Ihre Anträge leider ablehnen. Warum wir auch die Euratom-Anträge ablehnen werden, wird Ihnen der Kollege Müller erklären. In diesem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und einen schönen Vormittag. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Lenz. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Sandra Weeser. ({0})

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe, die Debatte ist wieder animiert. Bevor ich in meine Rede einsteige, muss ich noch ein paar Worte verlieren. Interessanterweise ist das ETS ja nicht der einzige Punkt in unserem Antrag, wird hier aber von vielen genannt. Wir beschreiben sieben Ansätze für eine europäische Energiepolitik. ({0}) – Sie haben ihn wahrscheinlich nicht gelesen, Herr Gremmels, nicht wahr? ({1}) Frau Nestle, ja, wir sind für eine CO 2 -Bepreisung, aber nicht für eine CO 2 -Steuer. ({2}) Das möchte ich noch einmal ganz klar herausstellen; denn eine CO 2 -Steuer ist für uns nicht zielführend. Herr Beutin, ich fand es schon sehr interessant und auch ein bisschen amüsant, dass Sie uns Marktwirtschaft erklären. ({3}) Das ETS ist erfolgreich; das muss man sagen. Da hat die Marktwirtschaft gegriffen. ({4}) Meiner Wahrnehmung nach ist das sozialistische System in der ganzen Welt gescheitert. ({5}) Das nur zum Einstieg. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Blick auf die zukünftige Sicherheit bei der Versorgung mit Strom, dessen Bezahlbarkeit und den Klimaschutz in Europa muss dieses Parlament gemeinsam an einem Strang ziehen. Wenn wir ein Interesse an der Lösung der energie- und klimapolitischen Probleme unserer Zeit haben – ich gehe davon aus, dass das für eine Mehrheit des Hauses zutrifft – und gleichzeitig ein Interesse an einem konkurrenzfähigen Europa haben, dann müssen wir uns für die Energielandschaft Europa und für die Überwindung nationaler Alleingänge starkmachen. Es mag in diesem Haus sehr unterschiedliche Meinungen über den Weg zum Ziel geben; aber eins muss uns allen doch klar sein: Europa muss gemeinsam einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. ({6}) – Ich hoffe, dass wir das gemeinsam hinkriegen, wenn wir uns zusammensetzen. ({7}) Also: Eine gemeinsame energiepolitische Strategie bietet riesige Chancen. Ich stelle mir vor, dass Europa dabei seine unterschiedlichen geografischen Gegebenheiten nutzt. ({8}) – Jetzt lassen Sie mich doch mal ausreden! – Wir haben die windreichen Küsten, den sonnigen Süden und die steilen Berge. Wir haben sie gemeinsam besichtigt; Sie waren ja mit dabei. Das alles ist in Bezug auf die Stromerzeugung sinnvoll und effizient. Das bietet viel mehr Möglichkeiten, als jeder Staat allein hat. Im letzten Jahr waren wir mit einigen Abgeordneten dieses Hauses zu Besuch in der Schweiz. Wir haben dort eins von 19 Pumpspeicherkraftwerken besichtigt. ({9}) – Ja. – Leider blieb es nur beim Sehen. Denn als wir im Maschinenraum waren, da habe ich nichts gehört, da war es verdammt still, weil die Turbinen stillstanden. Wissen Sie, woran das liegt? Das liegt daran, dass diese Pumpspeicher momentan zum größten Teil nicht zum Einsatz kommen. ({10}) Das liegt daran, dass die Schweiz vom Strommarkt ausgeschlossen ist. Auf der einen Seite ringen wir darum, in Europa Energie aus Russland und aus den USA zu beziehen, auf der anderen Seite will Brüssel momentan kein Stromabkommen mit der Schweiz schließen. Das ist völlig absurd. ({11}) Und sosehr die Eidgenossen auf die Einbindung in das europäische Stromnetz angewiesen sind, so sehr braucht die EU die Schweiz als ideal gelegene Stromdrehscheibe samt ihren Speichermöglichkeiten für volatil erzeugten Strom. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Weeser.

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich weiß. – Die Infrastruktur der Schweiz ist bereits voll integriert. Das Netz besteht aus 41 Leitungen. 30 Prozent der Stromflüsse gehen durch die Schweiz. – Ich werde die Aufzählung nicht mehr bis zum Ende meiner Redezeit schaffen. ({0}) Wir brauchen einen EU-Binnenmarkt, der möglichst kostengünstig und vor allen Dingen auch emissionsarm ist.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Weeser, ich muss Sie jetzt unterbrechen; sonst kriege ich Ärger mit Herrn Kubicki. ({0})

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. – Schluss mit dem Flickenteppich in der Energiepolitik! Sorgen wir für eine verbundene Energielandschaft! Danke schön. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Weeser. – Nächster Redner in der Debatte: für die SPD-Fraktion Timon Gremmels. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zwei Wochen vor der Europawahl hat die FDP die Gunst der Stunde genutzt und für ihre Spitzenkandidatin vermeintlich ein Thema gefunden, das sie hier setzen kann, damit sich Frau Beer noch mal präsentieren kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, um mal Herrn Lindner zu zitieren: Hätten Sie das doch bloß mal den Profis überlassen. ({0}) Das beste Beispiel ist die Kollegin Weeser, die gerade formuliert hat, dass das ja alles schwierig ist mit den Pumpspeicherkraftwerken. Pumpspeicherkraftwerke sind energiepolitisch durchaus zu hinterfragen, weil es Spitzenleistungskraftwerke sind. Sie brauchen viel mehr Energie und Strom, um das Wasser nach oben zu pumpen und um es in Spitzenzeiten runterzulassen. Wenn in der Zeit Photovoltaik im Einsatz ist, dann ist das energiepolitisch sehr viel sinnvoller als das, was Sie hier vorgeschlagen haben, Frau Weeser. Energiepolitisch ist da also wenig Ahnung bei der FDP vorhanden. Sie haben da keine Profis. ({1}) Die Überschrift, man müsse Energiepolitik doch mal europäisch denken, klingt ja im ersten Moment gut. Und wer hätte ein Problem damit, wenn die FDP mal nachdenkt! Aber wir haben doch kein Erkenntnisproblem in Europa. Wir haben ein Umsetzungsproblem in Europa in der Frage der Energiepolitik. Das ist doch unser Problem, und das ist auch das FDP-Problem, da Sie hier keine Lösung präsentieren, sondern nur Fragen aufwerfen. ({2}) Wir haben doch in Europa verbindliche nationale Ziele vereinbart, zum Beispiel bei der EU-Richtlinie, bei den Energien aus erneuerbaren Quellen oder auch bei der CO 2 -Reduktion und der EU-Rechtsvorschrift zur Lastenteilung. Das sind doch Vereinbarungen, die wir getroffen haben, wo klar drinsteht, dass wir national handeln müssen. Und jetzt tut die FDP in ihrem Antrag so, als ob es auf EU-Ebene diese national festgelegten Ziele gar nicht gibt. Ehrlich gesagt, Frau Beer, von einer FDP-Spitzenkandidatin, die ins Europaparlament will, hätte ich deutlich mehr erwartet; das muss man an dieser Stelle mal sagen. ({3}) Frau Beer, wir haben ja eine gemeinsame Vergangenheit im Hessischen Landtag. Da war ich auch schon mit Energiepolitik beschäftigt. Ich erinnere mich an eine Debatte mit Frau Beer, bei der es um das Thema Fracking ging. Es gab einen kanadischen Anbieter, der würde gerne in Nordhessen schön Erdgas und Erdöl fracken, Chemie in den Untergrund pumpen und dort dann dafür sorgen, dass Gas und Öl gefördert wird. ({4}) An diese Debatte im Hessischen Landtag erinnere ich mich sehr gut, weil Sie, Frau Beer, damals gefordert haben, dieses Fracking in Nordhessen zu ermöglichen. Also, an alle Wählerinnen und Wähler: Wer Frau Beer und die FDP wählt, wird dafür sorgen, dass es in Deutschland Fracking geben wird. Das ist nämlich die Position der FDP, und das sollten auch die Wählerinnen und Wähler wissen. ({5}) Das Zynische war doch, dass Sie einerseits dafür eingetreten sind, in Hessen schön Fracking zu machen, und gleichzeitig gegen Windkraftenergie gekämpft haben. Das war nämlich die FDP, die mit ihren SUVs in die Wälder gefahren ist, um dort die Demonstrationen gegen Windkraft voranzutreiben. ({6}) Das ist der ganze Zynismus und die Doppeldeutigkeit dieser FDP. ({7}) Frau Beer, überlassen Sie es bitte den Profis! ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Gremmels, erlauben Sie eine Bemerkung, Kommentierung oder Frage von Frau Beer?

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es wäre unhöflich, wenn ich das jetzt nicht tun würde.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja, das wäre unhöflich. ({0})

Nicola Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004668, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ganz herzlichen Dank. – Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es in der damaligen Debatte darum ging, dass Forschungseinrichtungen Gelder aus der öffentlichen Hand gestrichen wurden, weil sie Membranen erfunden haben, die es möglich machen, Fracking mit Wasser zu betreiben und gleichzeitig auf dem Rückweg wieder Wasser mit Grundwasserqualität zurückzubekommen? Das durfte damals nicht sein, weil es nicht in Ihr Weltbild passte und weil sich die Bewertung von Fracking auch in Deutschland hätte ändern müssen. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Beer, es ist ganz einfach: Auch diese Landtagsdebatte wurde – wenn ich das richtig weiß – festgehalten. Ich stelle das Protokoll auf meine Homepage; dann kann sich jeder Bürger eine Meinung darüber bilden. Die FDP hat damals für Fracking gekämpft, die SPD war dagegen. Gut, dass wir uns damals auch in dieser Frage durchgesetzt haben. ({0}) Ich möchte an dieser Stelle aber noch mal deutlich machen, dass das Thema ETS durchaus schwierig und komplex ist. Sie wollen das Ganze auf europäischer Ebene lösen. Das kann man ja mal probieren und auch mal angehen; aber das ist ein langwieriger Prozess. Ich finde, wir müssen kurzfristiger handeln. Jetzt droht doch, dass wir die Klimaschutzziele, auf die wir uns verständigt haben – auch hier – 2030 verfehlen. Es drohen Strafzahlungen aus dem Effort Sharing. Das sind Strafzahlungen, die Deutschland dann vornehmen muss. Das wird doch auch auf die Steuerzahler umgelegt. Deswegen brauchen wir kurzfristig eine Lösung und dürfen das nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. ({1}) Ich zitiere jetzt einmal: Natürlich, wer wollte den Emissionshandel nicht ausweiten! Aber das System ist auf Jahre europaweit festgezurrt. Es lässt sich im Moment nicht aufschnüren. Die Ausweitung des Emissionshandels ist also eine Lösung für die fernere Zukunft.  Eine CO 2 -Steuer entscheidet daher als pragmatischer Lösungsansatz im Hier und Jetzt. Woraus habe ich jetzt zitiert? Es war nicht die „taz“. Es war das „Handelsblatt“ von gestern, das Ihnen das sozusagen ins Stammbuch schreibt. Wenn Sie schon nicht auf mich hören, hören Sie doch mal auf das „Handelsblatt“! Das machen Sie doch sonst auch so gerne, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Ich möchte an dieser Stelle noch etwas sagen. Sie haben in Ihrem Antrag auch ein paar richtige Punkte angesprochen. Ich will ja kein FDP-Bashing machen, sondern nur sachliche Kritik üben. ({3}) Also: Was Sie zum Thema Erdgas geschrieben haben, ist in der Tat richtig. Wir brauchen eine europäische Erdgasversorgung. Natürlich muss auch Gas künftig grüner werden; das schreiben Sie auch völlig zu Recht in Ihrem Antrag. Aber wenn wir jetzt parallel den Kohleausstieg und den Atomausstieg durchführen, brauchen wir auch eine gute Gasversorgung in Deutschland, und dafür ist ein Projekt wie Nord Stream 2 sinnvoll und richtig. ({4}) Was Herr Weber da macht, ist purer Populismus. Das ist billiger Wahlkampf, den er da macht, um die Stimmen aus Polen zu bekommen. Ich finde, das geht überhaupt nicht, und ich finde, da sollte die CDU-Vorsitzende ihrem Spitzenkandidaten mal in die Parade fahren. Hier geht es um eine europäische Versorgung. ({5}) Denn das Gas, das hier landet, soll ja nicht in Deutschland verbraucht werden, sondern in ganz Europa. Wenn Sie sich bewusst machen, dass die Niederlande und auch Deutschland weniger Gas fördern, dann wird Ihnen ganz klar: Wir brauchen Nord Stream 2. ({6}) Deswegen ist es auch gut so, dass es im europäischen Trilog einen Kompromiss gegeben hat. Am Ende haben 27 von 28 Ländern dem Kompromiss zugestimmt. Wie Herr Weber das wieder aufschnüren will, ist mir ein Rätsel. Er soll sich an dieser Stelle nicht verkämpfen. Wir werden dafür sorgen, dass er gar nicht erst EU-Kommissionspräsident wird. Dann haben wir auch da Ruhe. ({7}) Lassen Sie mich zum Schluss aus aktuellem Anlass noch etwas zum Thema Atomkraft sagen: Ehrlich gesagt, merke ich, dass an der einen oder anderen Stelle ein paar Steinchen ins Wasser geworfen werden, was Atomkraft angeht. So hat der Linde-Aufsichtsrat Wolfgang Reitzle vorgestern eine Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken gefordert. Ich sage Ihnen hier an dieser Stelle klar und deutlich: Es wird mit der SPD keine Laufzeitverlängerung geben. Im Jahr 2022 geht das letzte AKW vom Netz. ({8}) Deswegen ist es umso dringender, dass wir bei der Frage des Ausbaus der erneuerbaren Energien endlich voranschreiten. Da ist der grüne Antrag hilfreich. Da sind unsere Ideen hilfreich. Hilfreich wäre es aber auch, wenn Herr Altmaier endlich mal einen Ausbaupfad vorlegen würde. Es ist seine Aufgabe, sich dafür einzusetzen. Wir erwarten da dringend ein Konzept und eine Vorgabe. Danke. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Timon Gremmels. – Nächster Redner: Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da der Ausbau der erneuerbaren Energien und auch die Energiewende in Deutschland nur schrittchenweise vorankommen, da wir deutlich hinter dem zurück sind, was notwendig wäre, und da auch die Große Koalition bei dieser Frage versagt, müssen wir leider feststellen, dass Gas als Brücke notwendig ist. Wenn man das weiß, ist es einem völlig unverständlich, warum Manfred Weber von der CSU sich auf europäischer Ebene dafür einsetzt, Nord Stream 2 zu beenden. Ich finde das unverantwortlich. Das allein ist Grund genug, zu sagen, dass Weber kein geeigneter Mann an der Spitze der EU-Kommission ist. ({0}) Wir brauchen keinen neuen Kalten Krieger gegen Russland. Wir brauchen auch keinen Lobbyisten für US-amerikanisches Fracking-Gas. Nein, wir brauchen jemanden, der der Herausforderung gewachsen ist, und Herr Weber ist dieser Position nicht gewachsen. ({1}) Herr Kotré, Sie haben in diesem Zusammenhang in Ihrer Fake-News-Rede davon gesprochen, dass Herr Weber, wenn er eine falsche Politik macht, seine Staatsbürgerschaft zurückgeben sollte. Das wäre der völlig falsche Weg. Sie müssen auch aufpassen; denn wenn falsche Politik Maßstab für Staatsbürgerschaft ist, dann ist von der AfD bald niemand mehr da. ({2}) Deshalb, glaube ich, würde es uns reichen, wenn wir alles dafür tun, dass Manfred Weber diese Position nicht bekommt, sondern maximal das bleibt, was er heute ist, und das ist anscheinend schon zu viel. Wir machen mit unserem heute vorliegenden Antrag zu Euratom auch deutlich: Wir brauchen wieder eine Debatte über die Zukunft der Atomenergie. Sie, Herr Gremmels, haben eben gesagt, wie diese Debatte schon wieder abläuft. Es gab schon mal einen Ausstieg aus dem Ausstieg. Ich glaube, wir müssen aufpassen, dass die Bundesregierung nicht weiter mit gespaltener Zunge redet. ({3}) Wir wollen den Atomausstieg; er muss klargemacht werden. Wir müssen uns klar dazu bekennen. Da ist es nicht ehrlich, wenn wir in Deutschland den Atomausstieg umsetzen, aber über die Europäische Union weiterhin Atomstrom fördern. Das macht Euratom. Deshalb muss Euratom endlich aufgelöst werden. Sie haben heute die Chance, wenn es um die Abstimmung über unseren Antrag geht, Ihre Position glaubhaft auch im Abstimmungsverhalten zu zeigen. ({4}) Euratom ist ein Relikt aus der vergangenen Zeit. Euratom führt dazu – das wissen viele Menschen nicht –, dass wir auch heute noch mit Milliardenbeiträgen neue Atomkraftwerke fördern. Ich möchte nicht, dass wir mit unserem Geld weiter europäische Atompolitik fokussieren. Wir sagen, wir brauchen als Alternative eine Agentur für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Da wären diese Milliardenbeiträge viel besser angesiedelt. Man könnte dieser Agentur auch die Zuständigkeit für die Sicherheitsfrage übertragen. Und sie könnte einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass auf europäischer Ebene die Klimaschutzziele erreicht werden. Deshalb: Verleihen Sie Ihrer Politik ein bisschen mehr Glaubwürdigkeit, und stimmen Sie heute unserem Antrag auf Auflösung von Euratom zu! ({5}) Wir brauchen in der europäischen Energiepolitik einen sozialökologischen Umbau. Wir müssen da viel mehr tun. Wir glauben, dass die Bundesregierung an dieser Stelle versagt. Wir glauben auch, dass zu wenig Einfluss auf die europäische Politik genommen wird. Deshalb haben die Menschen in diesem Land am 26. Mai die Chance, für eine Politik gegen Klimawandel und für einen sozialökologischen Umbau zu stimmen. Die Linke ist da eine gute Wahl. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Ulrich. – Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen: Dr. Julia Verlinden. ({0})

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie wollen hier die Energiepolitik europäisch denken. Das klingt gut. Dann muss dafür aber auch mal jemand etwas tun. Das fordern die Schülerinnen und Schüler von Fridays for Future, die jetzt in diesem Moment in Rumänien vor dem EU-Gipfel für eine gute Zukunft demonstrieren – und zwar zu Recht. ({0}) Das Ziel muss klar sein: 100 Prozent erneuerbare Energie beim Strom, bei der Wärme, beim Verkehr so schnell es geht. Acht EU-Mitgliedstaaten fordern ein ambitionierteres Vorgehen beim Klimaschutz. Es ist ein Skandal, dass unsere Bundesregierung da nicht mitmachen will! ({1}) Stattdessen plant sie lieber die Strafzahlungen an die EU für ihre verpassten Klimahausaufgaben heute schon mal ein. Aber schauen wir uns mal den Status quo an: Wo steht denn Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern in der EU? Wie hoch ist denn der Anteil der Erneuerbaren? Von 28 EU-Staaten liegt Deutschland nur auf Platz 17. ({2}) Deutschland ist schlechter als der EU-weite Durchschnitt! Und was machen Sie auf dieser Seite des Parlaments? Sowohl Sie von der FDP als auch von der CDU verweigern Ihre Hausaufgaben hier in Deutschland. Und Ihre Ausreden sind echt abenteuerlich: Die FDP ist wie der Schüler, der für die Gruppenarbeit stimmt und dann die anderen die Arbeit machen lässt. ({3}) Das ist nämlich Ihr absurdes Verständnis davon, alles europäisch zu denken: Sie wollen sich auf den Erfolgen anderer Länder ausruhen, statt selbst irgendetwas zu leisten. ({4}) Die CDU hat in den letzten 13 Schuljahren im Fach Klimaschutz nicht aufgepasst und auch das Lösungsheft kein einziges Mal in die Hand genommen. ({5}) Und jetzt schimpft die CDU, dass das Thema im Abitur überhaupt abgefragt wird – und fällt krachend durch die Prüfung, weil sie ein leeres Blatt abgibt. Die Union hat absolut keine Ahnung, keine Ideen. Was für ein kollektives Versagen dieser heruntergewirtschafteten Partei! ({6}) Nur eins haben Sie noch nicht mitgekriegt, liebe CDU: Beim Klimaschutz ist Abschreiben explizit erlaubt. ({7}) Nehmen Sie sich ein Beispiel an den erfolgreichen europäischen Nachbarn! Kommen Sie endlich in die Puschen! Wenn es Ihnen mit Ihrem Koalitionsvertrag ernst ist, dann kümmern Sie sich dringend um eine Reform von Euratom. Nicht die Förderung von immer mehr Atomkraft, sondern Sicherheit muss oberste Priorität in der europäischen Zusammenarbeit sein.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Verlinden. ({0})

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Klimaschutz und ein atomkraftfreies Europa, das geht Hand in Hand. Es wird Zeit, dass Sie Verantwortung übernehmen! ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Julia Verlinden. – Nächster Redner in der Debatte: Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen! Ich möchte zu Beginn zwei wesentliche Punkte festhalten, die wir heute hier gelernt haben: Experte werden Sie, indem Sie Fridays for Future recht geben – so einfach ist das. Und: Investieren Sie in CO 2 -Zertifikate – damit kann man riesige Spekulationsgewinne einfahren. – Das sind die beiden Kernaussagen, die wir heute hier mitnehmen durften. Am Ende ist es relativ egal, ob es ein CO 2 -Zertifikat, ein CO 2 -Preis oder eine CO 2 -Steuer ist, Sie bezahlen das am Ende: entweder direkt an den Fiskus, oder Sie finden es auf den Preisschildern. ({0}) Das macht keinen Unterschied; das Geld ist weg. – So viel dazu. Energiepolitik ist Geopolitik. Das ist ein Thema, das heute etwas unterging. Das gilt nicht nur für den Verlauf von Netzen oder Pipelines; auch die erneuerbaren Energien kommen nicht ohne Ressourcen aus. Wir in Deutschland sind auf Seltene Erden, auf Selen, Lithium, Kobalt und vieles mehr angewiesen, wovon wir nichts im eigenen Land finden. So importieren wir das alles aus China, aus Südamerika oder auch aus einer Bürgerkriegsregion im Kongo. Diese Beispiele zeigen, dass wir eben keine Insel der Glückseligen sind, sondern dass der deutsche Alleingang in der Energiewende massive Auswirkungen auf unsere Außenpolitik haben wird und auch schon längst hat. ({1}) Dabei versperrt uns einengende Ideologie Möglichkeiten in unserem außenpolitischen Handeln. Wenn wir andere Länder zwingen wollen, unseren Weg mitzugehen, obwohl sie unter Umständen eine eigene Meinung haben, dann fördert das die europäische Integration nur mäßig. Statt auf eine nachhaltige und gesicherte Energieerzeugung unter eigener Kontrolle zu setzen, machen wir uns unter Umständen von Ländern abhängig, die unser freiheitlich-westliches Wertesystem nicht immer teilen. Ich bin sehr gespannt, was passiert, wenn uns eines dieser Länder mal den Versorgungshahn zudreht. Der Antrag der FDP enthält wichtige Ansätze, die unsere Energiepolitik wieder vom Kopf auf die Füße stellen können. Das sehen wir auch so. Als blaue Partei erteilen wir planwirtschaftlichen Absichten wie dem Kohleausstieg ein klares Nein, aber wir beziehen noch etwas klarer und eindeutiger Stellung, indem wir ganz deutlich sagen, dass Sicherheit, zuverlässige Energieversorgung nicht ohne Kernenergie machbar sind. Wir reden von einem Wiedereinstieg in eine saubere Kernenergie, die auch die Diskussion über Endlagerungsprobleme obsolet macht. ({2}) Mit diesen Forderungen stehen wir nicht alleine; der Journalist Dirk Maxeiner wie auch der Linde-Aufsichtsratschef Reitzle haben hierzu klare Worte gefunden. Das ermöglicht uns eine Kooperation unter anderem mit Frankreich. Ich denke an Kernforschungszentren in Cadarache oder Projekte wie ITER, deren langfristiges Ziel die Kernfusion ist. ({3}) Ähnliches gilt auch für die Brennstoffzelle, die ein bisschen zum Stiefkind der Energiegewinnung geworden ist. Stromerzeugung statt ideologischem Strom aus der Steckdose, der seine Emissionen nur ins Ausland verlagert und Ressourcenkonflikte provoziert! Ein solcher Strom kann nicht die Lösung sein. Ein guter Unternehmer streut seine Geschäfte. Das sollten wir auch mit unseren Energiequellen machen. Wir sollten auf mehrere Möglichkeiten setzen, um Sicherheit herzustellen. Freiheit von Forschung und Lehre, darüber wird immer gerne gesprochen. Hier könnten wir es einfach mal leben. Vielen Dank.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Mieruch. – Der letzte Redner in dieser lebendigen Debatte: Carsten Müller für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will versuchen, am Schluss der Debatte etwas zur Versachlichung beizutragen. Zunächst: Wir beraten heute insgesamt vier Anträge. Die Kolleginnen und Kollegen der FDP haben – das hat unser Eingangsredner, glaube ich, richtig dargestellt – einige nicht unwesentliche Punkte aufgegriffen, nach unserem Geschmack allerdings zum Teil mit einer etwas fragwürdigen Tonalität und in Teilen mit etwas wenig Tiefgang. Wir dürfen die Augen einfach nicht davor verschließen: Die Frage der Energieunion ist seit Jahren ein Hauptanliegen der Europäischen Union und ist es heute noch immer. Wir haben in den vergangenen Jahren bedeutende Fortschritte erreicht. Ich will diese nur kurz aufzählen: Das Paket zur Sicherung der Energieversorgung, das Paket „Saubere Energie für alle Europäer“ – das ist im Übrigen das größte jemals im Energie- und Klimaschutzbereich vereinbarte Legislativpaket der EU –, wir haben eine Vielzahl von EU-Klimavorschriften auf den Weg gebracht, es gibt die drei Mobilitätspakete 2017 bis 2018. Meine Damen und Herren, es gab aber auch einen Wechsel der Spielregeln. Die Verankerung des Grundsatzes „Efficiency First“ – das ist Gott sei Dank heute schon angesprochen worden – war eine wesentliche Neuerung. Das ist ganz wesentlich für ein Thema, auf das ich mit Blick auf den einen Antrag der Grünen kommen will. Dies nimmt nämlich das Bild der Wirtschaftlichkeit und der Umweltverträglichkeit auf. Das ist für uns wichtig und wird abgerundet durch die Versorgungssicherheit, ein Punkt, der oftmals zu kurz kommt. Aus Sicht der Union bildet das das unverzichtbare Zieldreieck im energiewirtschaftlichen Bereich. ({0}) Ich habe mir den Grünenantrag durchgelesen. An einer Stelle war ich schwer entsetzt. Die Grünen greifen das Thema der sogenannten Bürgerenergiegenossenschaften auf und wenden sich explizit gegen marktwirtschaftliche Ausschreibungen im Bereich der erneuerbaren Energien. ({1}) Meine Damen und Herren, wenn wir das machen, erreichen wir weniger Markt, erreichen wir weniger Nachhaltigkeit, erreichen wir weniger Preiswürdigkeit, und das alles führt dazu, dass wir Akzeptanz für das nicht leichte Unterfangen der Energiewende verlieren. Daher müssen Sie noch mal in Klausur gehen und sich über Ihre unausgegorenen Vorschläge dringend weitere Gedanken machen. ({2}) Ich nehme noch einmal das Thema der Bürgerenergiegenossenschaften auf.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Frau Nestle?

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön.

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich danke auch. – Sie sagen, wir würden uns hier explizit gegen marktwirtschaftliche Regeln wenden. Zum einen haben Sie gemerkt, dass wir versuchen, ganz viel mehr Markt hinzubekommen, indem wir diesen ganzen aktiven Kunden Marktzugang verschaffen wollen. Das ist ja der wesentliche Bestandteil des Antrages. Ich vermute, dass Sie mit Ihrem Fokus auf den kleinen Punkt abzielen, dass wir sagen: Ja, wir wollen Bürgerenergie-, Windenergieprojekte wieder vereinfachen und halten es für möglich, dass Bürger selbst teilhaben können an den Märkten, ohne die volle Komplexität zu verstehen. Ständig sagen Sie, wie schwierig es ist, dass wir keine Windparks mehr hinbekommen. Das war das Erfolgsrezept in Schleswig-Holstein, wo alle Dörfer gerufen haben: Wir wollen einen Windpark. – Das ist kaputt. Das ist das Einzige, was wir wieder machen wollen. Ansonsten würde ich das scharf zurückweisen und sagen: Wir wollen mit diesem Antrag mehr Markt schaffen und nicht weniger. ({0})

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Ihre Vermutung geht fehl und Ihre scharfe Zurückweisung somit ins Leere. Dafür gibt es verschiedene Anhaltspunkte. Ich erinnere mich, dass Sie vor etwa 30 Minuten zu den etwas irrlichternden Ausführungen des Kollegen Beutin zur Marktwirtschaft und zum Markt an sich frenetisch Beifall geklatscht haben. Wenn Sie an solch einer Stelle klatschen, dann erklärt das auch Ihre falsche Sicht auf die Dinge. ({0}) – Ich bin mit der Antwort noch nicht fertig. Wir müssen eines zur Kenntnis nehmen: Die sogenannten Bürgerenergiegenossenschaften und die Privilegierung derselben haben dazu geführt, dass aus dem Ausnahmefall der Regelfall geworden ist. ({1}) – Ich habe Sie auch ausreden lassen. – 90 Prozent aller Zuschläge gingen an diese sogenannten – ich sage bewusst „sogenannten“ – Bürgerenergiegenossenschaften unter Verzicht auf Planungserfordernisse. Im Ergebnis führte das dazu: 90 Prozent zugeschlagen an Vorhabenträger, die bisher nicht in der Lage waren, diese Vorhaben zu realisieren. Das ist genau das Gegenteil von Klimaschutz. Wir wollen eine Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien, und wir wollen eine effektive Beschleunigung des Ausbaus. Zuschläge allein nutzen nichts; sie müssen realisiert werden. ({2}) – Mir ist vollkommen klar, dass Sie, geschätzter Kollege Krischer, Themen rund um die Marktwirtschaft regelmäßig nicht verstehen. Aber das ist nicht mein Problem. Das ist Ihr Problem. Dafür reicht jetzt auch die begrenzte Redezeit bedauerlicherweise nicht mehr. ({3}) Auch im Falle einer Zwischenfrage würde ich Ihnen das angesichts Ihrer Einsichtsverweigerung nicht erklären können. Ich hatte Ihnen diesen Paradigmenwechsel, den wir unter Unionsführung vorgenommen haben, erklärt. Er zeitigt Erfolge. Wir haben einen Anstieg der EEG-Umlage verhindern können. Wir haben den Ausbau der Erneuerbaren, den wir, wie gesagt, sehr unterstützen, enorm beschleunigt. Es ist uns gelungen, den Strompreis für private Haushaltskunden zu stabilisieren. Wir hatten vor einigen Wochen hierzu eine Aktuelle Stunde. Wir haben ausgeführt, dass wir deutlich unter der allgemeinen Inflationsrate geblieben sind. Wir machen einen Angriff auf ganz neue Spielfelder. Wir kümmern uns um Innovationsausschreibungen, um auch beispielsweise die Erzeugung erneuerbarer Energien und Speicherung derselben zusammenzupacken und, wie gesagt, ganz neue Wege zu beschreiten. Auch das dient aus unserer Sicht dem wichtigen Akzeptanzgewinn. Ich will abschließend auf das Thema Euratom kommen. Uns liegen zwei Anträge vor, einmal der Grünen und einmal der Linken. Wir haben über diese Anträge im zuständigen Fachausschuss diskutiert. In der Diskussion ist es bereits zu einer ganz bemerkenswerten Verkürzung der Sachlage gekommen. Sie negieren offensichtlich, dass wir bei einer substanziellen Änderung des Euratom-Vertrages auf eine Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten angewiesen sind. Wir sehen das. Wir sehen auch, dass es einen Erneuerungsbedarf gibt. Das findet sich im Übrigen im Koalitionsvertrag; ich empfehle Nachlesen auf Seite 141. ({4}) – Nur weil Sie nicht merken, dass was passiert, heißt das noch lange nicht, dass nichts passiert. Denn das ist sozusagen Ihr regelmäßiges Auftreten. Wir sind dafür, dass aus dem Euratom-Vertrag heraus und auf dessen Grundlage der Ausbau der Kernenergie europaweit nicht mehr gefördert wird. Auch das lesen Sie im Vertrag. Aber, meine Damen und Herren, Sie gehen mit einer, ich finde, unverantwortlichen Leichtigkeit – das trifft die Grünen, und das trifft noch viel mehr die Linken – über wesentliche Inhalte des Euratom-Vertrages hinweg. Sie nehmen offensichtlich nicht zur Kenntnis, dass der Euratom-Vertrag die Grundlage für den Strahlenschutz der Bevölkerung bildet und dass der Euratom-Vertrag die sichere und diskriminierungsfreie Versorgung mit Nuklearmaterial für medizinische Anwendungen regelt und für uns für den Frieden so wichtig ist. Sie nehmen offensichtlich gar nicht zur Kenntnis, dass der Euratom-Vertrag die wesentliche Handlungsgrundlage für Überwachung und Nichtverbreitung von Kernmaterial liefert. ({5}) Die Europäische Kommission – man muss nicht alles ausschließlich gut finden, was dort gesagt wird – hat zutreffend festgestellt – ich zitiere –: Der Euratom-Vertrag bietet den fortschrittlichsten Rechtsrahmen der Welt auf dem Gebiet der nuklearen Sicherheit, der Abfallwirtschaft und des Strahlenschutzes. Wenn sich jetzt beispielsweise das Vereinigte Königreich bedauerlicherweise um den Abschluss bilateraler Verträge kümmern muss, dann ist es ein Zeichen für die Qualität des Euratom-Vertrages, dass sie wesentliche Passagen hieraus in ihre bilateralen Vereinbarungen aufnehmen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Müller, entschuldigen Sie. Erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung von Frau ­Kotting-Uhl?

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Von Frau Kotting-Uhl? Sie war heute noch nicht dran, und ich bekomme drei weitere Minuten Redezeit.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nein, das entscheide ich. ({0})

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Na gut, dann entscheide ich, dass Frau Kotting-Uhl nicht drankommt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja oder nein?

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Chance vertan. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ich habe Sie nicht verstanden. ({0})

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe Ihnen gerade meine Entscheidung mitgeteilt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Entschuldigen Sie, ich hatte Sie nicht verstanden. Also nein.

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) Das war eigentlich recht unmissverständlich. Sie hatten mir ein Angebot gemacht, dem ich gut widerstehen konnte. Meine Damen und Herren, zum Euratom-Vertrag abschließend. Der Erfolg beim Ausbau der Erzeugung erneuerbarer Energien in der Bundesrepublik Deutschland straft alle diejenigen Lügen, die behaupten, der Euratom-Vertrag stünde diesem entgegen. Er ergänzt ihn wesentlich. Deswegen können wir diese beiden Anträge nur ablehnen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Soldatsein ist kein Beruf wie jeder andere. – Das ist ein Satz, den wir häufig gehört haben. Der Satz stimmt. Aber er wird auch häufig genommen, um zu begründen, dass ganz normale Arbeitnehmerbelange, also sogenannte weiche Themen, für Soldatinnen und Soldaten nicht relevant sind. Das ist im doppelten Sinne falsch. Erstens sind diese weichen Themen ganz oft ganz harte Wirklichkeit. Und zweitens: Gerade weil Soldatsein kein Beruf wie jeder andere ist, gerade weil diese Männer und Frauen bereit sind, mehr zu geben als motivierte, engagierte Arbeitsleistung, gerade deshalb sollten wir die Soldatinnen und Soldaten mindestens genauso gut schützen, versorgen und sozial absichern wie alle anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land auch. Deshalb legen wir dieses Artikelgesetz vor. In der vergangenen Legislaturperiode haben wir mit der Agenda Attraktivität begonnen. Die ersten großen Themen sind „Vereinbarkeit von Dienst und Familie“, „Karrierepfade“ oder „Modernisierung der Unterkünfte“ gewesen. Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir weitere Großthemen an. Ich möchte einige Beispiele daraus exemplarisch nennen. Wir verbessern für unsere freiwillig Wehrdienstleistenden die Besoldung. Unsere FWDLer machen einen klasse Dienst; sie machen das freiwillig. Ihr Sold wird auf bis zu 80 Prozent der Bezüge der Zeit- und Berufssoldaten angehoben. Das kann für den einen oder anderen FWDLer durchaus einige Hundert Euro im Monat mehr bedeuten. Wir werden gleichzeitig für unsere FWDLer auch das Trennungsgeld und die Erschwerniszulagen zahlen. Die erhalten sie neu, wenn sie sich länger als ein Jahr verpflichten. Ebenso wie ihre Kameradinnen und Kameraden werden sie dann eingestuft. Das würdigt den Freiwilligendienst dieser jungen Männer und Frauen; das würdigt die freiwillige längere Verpflichtung. Insgesamt profitieren davon in Zukunft über 8 000 FWDLer. ({0}) Wir tun auch etwas für unsere Reservedienstleistenden. Sie bekommen Zulagen und Zuschläge. Die Höhe wird den Regelungen für aktive Soldatinnen und Soldaten angeglichen. Wir werden – das finde ich ganz wichtig – die Arbeitgeber, die eine maßgebliche Rolle bei den Reservedienstleistenden spielen, indem sie diese freistellen müssen, finanziell entlasten. Wir werden den Reservedienst so gestalten, dass er künftig auch zehn Monate im Jahr sowie in Teilzeit ausgeübt werden kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im letzten Jahr haben 17 500 Männer und Frauen Reservedienstleistungen erbracht. Die Verbesserungen in diesem Gesetz sind auch dazu da, diesen großartigen freiwilligen Einsatz zu würdigen und Dank und Anerkennung dafür auszusprechen. ({1}) Wir verbessern die Therapien für einsatzgeschädigte Soldatinnen und Soldaten. Manchmal kann es, insbesondere bei PTBS, sinnvoll und hilfreich sein, Familienangehörige mit in die Therapien einzubeziehen. Bisher wurden die Kosten dafür nicht von der Bundeswehr getragen. Das ändern wir jetzt. Gerade bei PTBS-Behandlungen kann das sinnvoll und notwendig sein. Es befinden sich zurzeit knapp 1 300 Soldatinnen und Soldaten aus ganz unterschiedlichen Gründen in der Rehabilitation. Dieses Gesetz ermöglicht, wenn es verabschiedet ist, dass die Kosten für Familienangehörige, wenn sie in die Therapie einbezogen werden, von der Bundeswehr übernommen werden. Wir entwickeln die Einsatzversorgung weiter. Bei Verletzungen, die im Einsatz geschehen, gibt es heute schon eine besondere Absicherung; das ist gut. Im Augenblick sind über 13 000 Männer und Frauen in einsatzgleichen Verpflichtungen. Bisher war es, wenn es in einsatzgleichen Verpflichtungen tragischerweise zu Unfällen oder Schäden gekommen ist, ein sehr bürokratisches Verfahren, wo jeder Einzelfall genau betrachtet werden musste. Dieses Gesetz regelt neu, dass bei einsatzgleichen Verpflichtungen ab Gefährdungsstufe 3 – das ist etwa die Enhanced Forward Presence in Litauen – die Versorgung bei Schäden automatisch genauso wie bei einem mandatierten Auslandseinsatz behandelt wird. Wir verbessern die Fürsorge über das Dienstzeitende hinaus. Das ist mir ein ganz wichtiger Teil; denn viele Soldatinnen und Soldaten auf Zeit verbringen zwar einen erheblichen Teil ihres Arbeitslebens bei der Bundeswehr, aber danach muss auch der Übergang in das zivile Erwerbsleben gelingen. Das ist gerade für ältere Soldatinnen und Soldaten oft eine gewaltige Herausforderung. Wir wollen diesen Schritt so gut wie irgend möglich vorbereiten. Deshalb bauen wir die Berufsförderung aus: mehr Bildungsoptionen, mehr Berufspraktika, höhere Lohnkostenzuschüsse. Das ist ganz wichtig, wenn die Eingliederung in einen neuen Beruf oder eine neue Arbeitnehmerfunktion in einem neuen Unternehmen gelingen soll. Gerade für länger dienende Zeitsoldaten verbessern diese Fortschritte in der Berufsförderung die Eingliederung in den zivilen Arbeitsmarkt. Und: Wir schaffen endlich das Schulgeld ab. Es war ja bisher ein absurder Zustand, dass wir, wenn wir am Ende der Dienstzeit für besondere, nachgefragte Berufe ausbilden, den Soldatinnen und Soldaten auf der einen Seite den Sold bezahlt und ihn auf der anderen Seite durch das Schulgeld sofort wieder abgenommen haben. Das schaffen wir jetzt ab; das ist gut. Von diesem Maßnahmenbündel profitieren über 5 000 Soldatinnen und Soldaten. ({2}) Schlussendlich als weiteres Beispiel: Wir verbessern die rentenrechtliche Absicherung im Übergang, den ich eben geschildert habe. Es gibt nach Ende der Dienstzeit sogenannte Übergangsgebührnisse. Bisher klaffte hier eine rentenrechtliche Lücke. Es wurden gar keine Rentenbeiträge gezahlt. Bei der Rente zählt nicht nur die Höhe der Beiträge, die gezahlt werden, sondern bei der Rente ist zum Schluss ganz wichtig, wie lange man eingezahlt hat. Diese Zeit kann man später nie wieder nachholen. Deshalb ist das ein ganz wichtiger Schritt. Wir schließen diese rentenrechtliche Lücke jetzt. Die Bundeswehr zahlt künftig auf die Übergangsgebührnisse Rentenbeiträge. Das bedeutet für jemanden, der fünf Jahre Übergangsgebührnisse bezieht – das kann durchaus häufig der Fall sein –, immerhin eine Rentensteigerung um circa 160 Euro im Monat im späteren Rentenleben. Das ist ein ganz wichtiger Meilenstein. ({3}) Wir verbessern auch die Rentensituation von FWDLern und Reservedienstleistenden, das heißt, wir erhöhen die Bemessungsgrundlage um 20 Prozent. Für das ganze Rentenpaket stehen im Jahr etwa 130 Millionen Euro zur Verfügung. Das zeigt auch, welch ein Gewicht dieses Maßnahmebündel hat. Meine Damen und Herren, mit diesem Artikelgesetz, das wir heute einbringen, stärken wir die Bundeswehr als attraktiven und verantwortungsbewussten Arbeitgeber. Vor allem aber honorieren wir mit diesen Verbesserungen den herausragenden Dienst, den unsere Soldatinnen und Soldaten für ihr Land leisten. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Ursula von der Leyen. – Nächster Redner: Jens Kestner für die AfD-Fraktion. ({0})

Jens Kestner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004777, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Damen und Herren Abgeordnete! Zuschauer und Kameraden vor den Bildschirmen! Heute geht es um den Gesetzentwurf zur nachhaltigen Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Ein starker Name: „Entwurf eines Gesetzes zur nachhaltigen Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr“. Für Außenstehende klingt das fast schon animalisch. Starke Begriffe wie „nachhaltig“, „Stärkung“, „Einsatzbereitschaft“ sollen dem Laien etwas Positives vermitteln. In Wirklichkeit ist es nichts anderes, als zu nebeln und zu blenden. ({0}) Frau von der Leyen, zu dem, was Sie eben zum Thema PTBS gesagt haben, sage ich: Sie wissen genau, dass Sie noch lange nicht da sind, wo wir eigentlich schon lange hätten sein sollen. Gerade nach 18 Jahren Afghanistan beschränken Sie sich auf die Vitalfunktionen. Das finde ich eine Frechheit. Wir sind noch lange nicht da, wo wir sein sollten, und Sie verkaufen das so, als sei das wunderbar und als würden Sie sich um unsere Soldaten kümmern. Nein, das tun Sie nicht. ({1}) Waren es nicht Sie, Frau Ministerin, die von der Agenda Attraktivität mit der dazugehörigen Trendwende Personal gesprochen und sie auch ausgerufen hat? ({2}) – Das ist meine normale Stimme. Das ist ein Führungsmittel, Entschuldigung. Im fünften Jahr der Zeitrechnung nach Amtsantritt von Frau von der Leyen legt man nun eine Selbstkapitulation der eigenen Politik vor. ({3}) – Bei Ihnen zu Hause will ich auch gar nicht sein. ({4}) Von all dem, was man angekündigt hat, hat man nichts umgesetzt. Sie möchten den Reservistendienst attraktiver machen, wie man hier lesen kann, möchten mehr Reservisten gewinnen, die in unseren Streitkräften dienen. Aber wo ist denn dann bitte der Rückhalt? Warum wurden denn die kritischen Stimmen aus dem Reservistenverband, die deutlich vorgebracht worden sind, nicht gehört? Sie haben Kritik angebracht und auch mit klaren Fakten untermauert. Das hat man mir gegenüber auch zum Ausdruck gebracht. Herr Veith – Sie sitzen mir genau gegenüber, Sie sind ja deren Präsident –, warum haben Sie denn nicht auf die Kameraden gehört? Warum haben Sie das hier nicht eingebracht? Warum haben Sie denn die Sorgen und Nöte nicht gehört? Warum sind sie hier nicht eingeflossen, so wie es sein sollte? ({5}) Hören Sie Ihren Kameraden nicht zu, oder sind Sie einfach zu schwach, hier in Berlin die Forderungen Ihres Verbandes, Ihrer Kameraden einzubringen? So kommt es mir nämlich vor. ({6}) So oder so, Herr Veith, für mich persönlich verraten Sie die Interessen der Reservisten – ich bin selbst einer –, auf die unsere Streitkräfte angewiesen sind, und das gerade in dieser personell kritischen Situation. Wir brauchen engagierte Kameraden, die sich in ihrer Freizeit für die Streitkräfte einbringen und ihre Fähigkeiten anbieten. Mit Ihrem Gesetzentwurf fehlt den Kameraden Geld, wenn sie sich entscheiden, zu dienen. Mit diesem Gesetzentwurf stärken Sie beileibe nicht die Attraktivität und den Einsatzwillen der Kameraden. Hier ist Ihnen kein so großer Wurf gelungen, wie eben von der Ministerin vorgetragen wurde – genau das Gegenteil ist der Fall. Noch dunkler wird es dann, wenn ich folgenden Punkt betrachte: Schaffung der temporären Möglichkeit, die Anwendung von Arbeitszeitvorschriften für bestimmte genau bezeichnete Tätigkeiten in den Streitkräften auszusetzen, wenn dies erforderlich ist, um diese Tätigkeit im erforderlichen Umfang ausüben zu können. Hier spricht man von der sogenannten Spezialistenregelung. Wer oder was sind denn dann bitte Spezialisten? Für wen gelten denn dann diese Sonderregelungen? Für alle und jeden letztendlich, weil es der Dienstbetrieb gar nicht mehr anders zulässt? Mit der Arbeitszeitverordnung, Frau Ministerin, hat man der Bundeswehr ein ziviles Instrument aufgepfropft, das überhaupt nicht zu ihr passt und das an allen Ecken und Enden kneift. ({7}) – Alles gut, ich habe das schon verstanden. Sie sind ehemaliger Soldat, Sie sind ein ehemaliger Kamerad, Sie sollten doch für Ihre Leute da sein, das würde ich eigentlich von Ihnen erwarten. ({8}) So etwas kann man nur machen, wenn man nicht versteht, wie Streitkräfte funktionieren, wenn man die innere Haltung nicht versteht und nicht weiß, wie unsere Streitkräfte ticken. Das habe ich Ihnen schon mehrfach gesagt, ({9}) aber das geht wahrscheinlich links rein und rechts raus. All das haben Sie nicht verstanden. Das haben Sie bei anderen Dingen gezeigt, und heute offenbaren Sie es ganz deutlich, Frau Ministerin. Man drängt gestandene Soldaten, gestandene Dienstgrade dazu, eine Nebentätigkeit anzumelden. Jetzt haben sie zwar genügend Zeit, aber es gibt keine monetären Anreize mehr. Das klassische Beispiel – das finden Sie überall in der Truppe – ist der Stabsfeldwebel, der im Fitnessstudio jobbt, um sich nebenbei etwas dazuzuverdienen. Respekt und Anerkennung, CDU, das sind Ihre Leute. Für die waren Sie immer da? Ja, gute Nacht! ({10}) Dann betrifft es die Kameraden, die mit ihrer Lebensplanung auf ein anderes System gesetzt haben. Heute haben sie genügend Freizeit – das kennen sie –, werden aber damit konfrontiert, dass es nur noch Freizeit gibt und keinen Dienst zu ungünstigen Zeiten und Anrechnungsfälle, wie sie es gewöhnt waren. Es gibt Kompaniechefs und Spieße, die nicht mehr wissen, wie sie ihre Aufträge erledigen können, weil die Kameraden wochenlang im Urlaub und nicht mehr da sind, wenn sie ihren Dienst erfüllt haben. ({11}) Ausbildungsmaßnahmen wie zum Beispiel auf einer Standortschießanlage muss man früher abbrechen, weil man pünktlich Dienstschluss machen muss. Dabei geht es nicht darum, ob das Ausbildungsziel erreicht ist bzw. ob ich gute oder schlechte Schießergebnisse erzielt habe. Nein, es geht einfach nur noch darum, dass ich pünktlich Dienstschluss habe. Eine Ausbildung wie das Nachtschießen ist nur noch unter den größten Mühen durchsetzbar. Früher war das Tagesgeschäft. ({12}) – Natürlich ist das so. Herr Otte, gehen Sie doch mal in die Truppe. Sie lesen nur noch auf dem Blatt Papier. Gehen Sie in die Truppe! Gehen Sie in die Truppe, dann werden Sie es sehen! ({13}) Beim deutschen Anteil der NATO-Battlegroup Litauen konnte nur durch das Einführen von Sonderregelungen verhindert werden, dass nach dem Abschluss ein ganzes Bataillon des Heeres mehrere Wochen im Urlaub gewesen wäre. ({14}) In den Bataillonen gibt es mittlerweile extra geschaffene Dienstposten, die sich damit beschäftigen, Zeiterfassungsbögen zu führen und diese auszuwerten: wieder ein Soldat mehr im zahnlosen Wasserkopf der Bundeswehr. Hier wird gekämpft, ja, aber nicht gegen den außenstehenden Feind, der vielleicht einmal gegen unsere Republik anrückt. Nein, hier wird gegen die Bürokratie gekämpft, die Sie alle der Bundeswehr aufgepfropft haben. ({15}) All dies ist absurd und eine Ausgeburt der Unfähigkeit, Truppen zu führen und zu verstehen, wofür die Bundeswehr steht und welche Aufgabe sie letztendlich erfüllen muss. ({16}) Die soldatische Lebensrealität sieht heute so aus, dass die Organisation des täglichen Dienstbetriebs immer mehr ins Ungewisse führt. Die gestalterische Flexibilität für die Ausbildung von Soldaten wird den Vorgesetzten genommen, und man kann bei den vorherrschenden Regeln ja schon von einer Art Planwirtschaft sprechen. Auch hier an Ihre Adresse, Frau Ministerin: Der Erfolg der Bundeswehr bemisst sich einzig und allein an der militärischen Einsatzbereitschaft der Streitkräfte. Das und nichts anderes ist das Maß aller Dinge; denn alles andere ist buntes Vogelgesinge. Das geht von Cis- und Transsternchen-Menschen in den Streitkräften über dubiose Beraterdienstleistungen, die Geschichte der „Gorch Fock“, Einsatzbereitschaft der Bundeswehr bis hin zu diesem Gesetz, das wieder alles will, aber letztendlich nicht alles erreicht, was wir für unsere Truppe erreichen sollten. Sie versuchen, hier nachzubessern, aber Sie scheuen sich doch, Fehler klar zu benennen und zu erkennen. Aber nur wenn man bereit ist, zu verstehen, was falsch ist, wird man in die Lage versetzt, etwas besser zu machen. Sie scheuen sich aus Angst vor der eigenen Courage, das Richtige zu tun. Wenn Angst die Seele auffrisst, dann ist man falsch auf dem Posten, den man bekleidet. ({17}) „Mut ist das, was man sich von vielen Politikern wünscht, aber nur von wenigen bekommt“, sagte einmal der Nobelpreisträger Günter Blobel. Auch hier wieder an Ihre Adresse, Frau Ministerin, und natürlich an die hier Anwesenden, die immer so schön dazwischengerufen haben, dass ich ja keine Ahnung habe: Jetzt gilt es, einmal Mut in Ihrem Leben zu beweisen. ({18}) Mut ist etwas Gutes. Wenn Mut Sie durchströmt, dann ist das etwas Kräftiges, etwas Vernünftiges, und dann tun Sie etwas Gutes für unsere Streitkräfte. Unterstützen Sie unseren Antrag „§ 30c des Soldatengesetzes ersatzlos streichen – Wöchentliche Rahmendienstzeit in der Bundeswehr flexibilisieren“.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie an Ihre Redezeit.

Jens Kestner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004777, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Damit würden wir den richtigen Weg für unsere Bundeswehr gehen – ich komme zum Ende, Frau Präsidentin – und wieder Luft zum Atmen schaffen, sodass unsere Armee wieder die Flexibilität im Dienst und in der Ausbildung erreicht, die sie braucht. Danke schön. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Herr Kestner. – Nächster Redner: Dr. Fritz Felgentreu für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Fritz Felgentreu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004272, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kestner, ein gutgemeinter Rat: Der Kommisston passt nicht zum Parlament. ({0}) Wenn Sie lieber Soldat wären, dann machen Sie eine Dauerwehrübung. Aber selbst da würde ich Ihnen raten: Seien Sie vorsichtig, wenn Sie in diesem Ton mit Ihren Untergebenen reden, wegen der Attraktivität der Bundeswehr. ({1}) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor gut drei Jahren ist die Soldatenarbeitszeitverordnung in Kraft getreten. Seitdem gilt für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr eine Wochenarbeitszeit von 41 Stunden – im Normalbetrieb natürlich, nicht im Einsatz oder im Manöver. Ungefähr ein Vierteljahr nach der Einführung hatte ich ein Gespräch mit einem etwas genervten altgedienten Offizier, der mir erklärte, dass ihn schon das Wort „Arbeitszeit“ stört. Denn ein Soldat, so mein Gesprächspartner, arbeitet nicht, er dient. Und deswegen sei das alles sträflicher Unsinn. Ich habe längere Zeit über das Gespräch nachgedacht; denn mein sozialdemokratisches Bauchgefühl sagte mir natürlich: Eine geregelte Wochenarbeitszeit ist eine gute Sache im Interesse der gesamten Organisation und der einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und mein Bauchgefühl als Reserveoffizier sagte mir: Ja, aber Soldat ist kein Beruf wie jeder andere. Das Selbstverständnis ist nicht das gleiche wie bei Beschäftigten in der Industrie. Soldatinnen und Soldaten verstehen den Unterschied zwischen Arbeit und Dienst und orientieren sich auch daran. Insofern hatte der Kamerad nicht vollkommen unrecht. Aber, meine Damen und Herren, die Schlussfolgerung aus solchen Überlegungen kann doch nicht sein, dass wir in unserer hochprofessionellen Freiwilligenarmee den Anspruch auf eine geregelte Arbeitszeit oder – von mir aus – Dienstzeit und auf planbare Freizeit zurücknehmen. ({2}) Andersherum wird ein Schuh daraus. Die Professionalisierung der Bundeswehr seit Abschaffung der Wehrpflicht erfordert auch vom Dienstherrn ein neues Verständnis für seine Fürsorgepflicht. Das Ziel ist eine zu Einsätzen und Landesverteidigung gleichermaßen befähigte leistungs- und kampfstarke Armee. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Bundeswehr attraktiv sein. Attraktiv ist die Bundeswehr nur, wenn sie einerseits dem Nachwuchs eine gute Perspektive für den Berufs- und Lebensweg bietet und andererseits den Soldatinnen und Soldaten, die schon lange in der Bundeswehr dienen, gute Bedingungen und eine zeitgemäße soziale Absicherung zu bieten hat; denn für die Attraktivität kommt es eben nicht nur darauf an, was der Berater im Karrierecenter vor den neuen Bewerberinnen und Bewerbern entfalten kann, und zwar buchstäblich in Form eines Prospekts, sondern auch auf die Berichte des 50-jährigen Stabsfeldwebels im Kreis seiner zivilen Freunde und Verwandten. Attraktivität ist ein ganzheitliches Konzept. ({3}) Diesem ganzheitlichen Konzept, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch der vorliegende Gesetzentwurf verpflichtet. Als Artikelgesetz wirkt es auf den ersten Blick wie ein etwas unübersichtliches Sammelsurium von Einzelvorschriften, aber es folgt in Gänze der Philosophie, die soziale Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten zu verbessern und den Dienst in der Bundeswehr für sie und auch für die Reserve und die freiwillig Dienstleistenden nicht unbedingt leichter, aber attraktiver zu machen. Ein echter Durchbruch ist auch aus unserer Sicht die Einführung einer Rentenversicherungspflicht, Frau Ministerin, für die Übergangsgebührnisse von Zeitsoldaten, die aus dem aktiven Dienst ausscheiden. ({4}) Das ist ein wichtiger Schritt zur Vorbeugung von Altersarmut, den wir als SPD lange gefordert haben. Insgesamt hilft der Ausbau des Berufsförderungsdienstes beim Übergang selbst, damit ehemalige Soldatinnen und Soldaten erfolgreich ihren Platz im zivilen Berufsleben finden. Sehr wichtig ist auch der klare Blick für die Bedürfnisse von Soldaten, die im Einsatz traumatisiert oder körperlich geschädigt worden sind. In Zukunft wird Angehörigen, wie zum Beispiel den Ehepartnern, die Teilnahme an Therapiemaßnahmen zeitlich begrenzt finanziert. Das ist eine in jeder Hinsicht sinnvolle Maßnahme; denn die Nähe zu geliebten Menschen kann bei der Therapie der Einsatzgeschädigten sehr hilfreich sein. Oft sind aber auch die Angehörigen selbst indirekt traumatisiert. Sie lernen in der Therapie, das Geschehene zu verarbeiten und damit zu leben. Echten Fortschritt bringt auch das Vorhaben, die Einsatzversorgung nicht nur in den Auslandseinsätzen, sondern auch bei NATO-Manövern oder NATO-Verwendungen und Aufträgen innerhalb des Bündnisgebietes zu gewähren. Warum soll der NATO-Dienst in Litauen schlechter abgesichert sein als der mandatierte Einsatz im Kosovo? Das war noch nie einzusehen. Vollständige Gleichbehandlung sieht der Gesetzentwurf allerdings noch nicht vor. Die Einsatzversorgung soll innerhalb der NATO erst ab einer Gefährdungslage der Gefahrenstufe 3 gezahlt werden. Das werden wir uns bei der Beratung des Gesetzentwurfs im Ausschuss noch einmal genauer anschauen müssen. Wo hakt es noch? Da ist die Idee, den Arbeitgebern die Zustimmung für Wehrübungen ihrer Beschäftigten leichter zu machen, indem man ihnen ab der dritten Woche eine Ersatzarbeitskraft bezahlt. Davon sind wir in der SPD-Fraktion noch nicht so richtig überzeugt. Natürlich ist es wichtig, dass ein Reservist nicht mit seinem Arbeitgeber in Konflikt gerät, wenn er als Soldat übt. Das Unternehmen bekommt dafür aber schon eine Entschädigung. Eine Verdoppelung ab der dritten Woche könnte Mitnahmeeffekte erzeugen. Wir halten viel davon, auch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber gelegentlich daran zu erinnern, dass wir ja alle gemeinsam Verantwortung für die Sicherheit unseres Landes tragen. ({5}) Ich komme zum Abschluss noch einmal zur wöchentlichen Arbeitszeit zurück. Einem Gummiparagrafen, der bei Bedarf im Grunde jede beliebige Überschreitung möglich macht, werden wir sicherlich nicht zustimmen. ({6}) Mir ist auch klar, dass dienstliche Notwendigkeiten gerade im Falle von Spezialistinnen und Spezialisten manchmal einen längeren Dienst erfordern. Die Überschreitung muss aber in jedem Fall ausgeglichen werden, und zwar vorzugsweise durch Freizeit und, wenn es nicht anders geht, durch Geld. Es gibt dabei also durchaus noch viel zu diskutieren. Wir sind unter den Kolleginnen und Kollegen des Verteidigungsausschusses im Gespräch darüber, ob wir die Diskussion nicht auch in Form einer Anhörung noch einmal vertiefen können. Ich freue mich darauf; denn der Gesetzentwurf enthält heute schon viel Gutes, wir wollen ihn aber noch besser machen. Bei all dem wollen wir nicht vergessen, dass der wichtigste Beitrag für eine attraktive Bundeswehr am Ende doch darin besteht, dass wir den Soldatinnen und Soldaten im Dienst mehr und eine bessere Ausrüstung zur Verfügung stellen. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Felgentreu. – Nächster Redner: Alexander Müller für die FDP-Fraktion. ({0})

Alexander Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004828, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Januar 2015 haben Sie, Frau Ministerin, in der Debatte zum Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz hier im Plenum festgestellt, dass die Bundeswehr im Bereich IT mit den Toparbeitgebern Google, SAP und BMW konkurriere. Während die genannten Firmen heute bei etwa einem Viertel der angehenden Informatiker als attraktive Arbeitgeber gelten, dümpelt die Bundeswehr nach wie vor bei 2 Prozent herum. Während die Truppe dringend Fachkräfte für Cybersicherheit, Waffensystemspezialisten und Flugzeugführer braucht, kommt die Union mit einem „Deutschland-Praktikum“ um die Ecke. ({0}) Im vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur nachhaltigen Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr finden sich zwar einige gute Vorschläge, manche Regelungen aber verschlechtern die Personalsituation. Damals hielten Sie, Frau Ministerin, geregelte Arbeitszeiten für selbstverständlich, und heute hebeln Sie diese wieder aus. Der Wegfall von finanziellen Leistungen für den Wochenenddienst wird für die betroffenen Reservisten, die häufig ohnehin ihre wertvolle Freizeit opfern, den Dienst in der Reserve weniger attraktiv machen. Und warum sparen Sie ausgerechnet bei der Behandlungsdauer von Angehörigen einsatzgeschädigter Soldatinnen und Soldaten? ({1}) Jede Verbesserung nützt aber wenig, wenn Ihre Hausleitung, Frau Ministerin, für andauerndes Chaos und Affären sorgt. Ihre Leute haben Ihnen frisierte Zahlen für die Entscheidungsfindung zur „Gorch Fock“-Sanierung vorgelegt, berichtet uns Ihr eigenes Ministerium. ({2}) Sie haben keine Konsequenzen daraus gezogen und lassen dieselben Menschen auf hochdotierten Posten weitermachen. ({3}) Wie können Sie als Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt über die Bundeswehr ein solches Beispiel abgeben? Die Soldatinnen und Soldaten müssen die Befehle der Führung des BMVg loyal befolgen. Deswegen ist die vorbildliche Führung des Ministeriums ganz besonders wichtig. Eine Führung der Bundeswehr, in der frisierte Zahlen keinen Vertrauensbruch darstellen und keine Konsequenzen haben, erodiert die Akzeptanz der Befehlskette. ({4}) Sie selbst haben der ganzen Truppe einmal ein „Haltungsproblem“ attestiert. Ich attestiere Ihnen, Frau Ministerin, dagegen ein Führungsproblem. Räumen Sie in Ihrem Haus auf! Ziehen Sie notwendige personelle Konsequenzen! Damit könnten Sie einen erheblichen Beitrag zur Attraktivitätssteigerung des Arbeitgebers Bundeswehr leisten. Wenn Sie die Einsatzbereitschaft der Truppe nachhaltig steigern möchten, müssen Sie auch die Materiallage dringend verbessern. Zur Beschaffung eines Stemmeisens aus dem Baumarkt und jeder Batterie müssen Anträge gestellt werden, und die Truppe wartet dann monatelang, teilweise jahrelang darauf. Vertrauen wir doch unseren Soldatinnen und Soldaten stärker. Ich sehe nicht ein, warum man ganzen Kompanien nur 500 Euro Handgeld im Jahr anvertraut, während diese mit millionenteurem Gerät arbeiten. ({5}) Lösen Sie die Handbremse! Entbürokratisieren Sie die Beschaffungsprozesse! Beenden Sie die Verzögerungen und Kostensteigerungen! Dann wird die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr auch besser. Ihr Gesetzentwurf, Frau Ministerin, geht in die richtige Richtung. Er enthält auch mehrere sinnvolle Maßnahmen. Damit wird aber noch nicht genug getan, um aus der Bundeswehr einen attraktiveren Arbeitgeber zu machen und um Ihre personalstrategischen Ziele zu erfüllen. Ermöglichen Sie den Soldatinnen und Soldaten wieder Vertrauen in die Führung Ihres Hauses, sorgen Sie für die rechtskonforme Vergabe von Haushaltsmitteln, geben Sie den Soldatinnen und Soldaten mehr Verantwortung in ihrem Job, und sorgen Sie für weniger Bürokratie! Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Müller. – Nächster Redner: Tobias Pflüger für die Fraktion Die Linke. ({0})

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns liegt ein Gesetzentwurf vor, mit dem Frau Ursula von der Leyen die Bundeswehr zu einem attraktiven, wettbewerbsfähigen und modernen Arbeitgeber machen will. Mit höherem Sold und mehr Sozialleistungen will Ursula von der Leyen mehr Menschen in die Bundeswehr locken. Der Name des Gesetzes sagt aber, worum es eigentlich geht, nämlich um die Stärkung der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Wir wollen nicht mehr und effektivere Einsätze; wir wollen zum Beispiel, dass die Auslandseinsätze der Bundeswehr beendet werden. ({0}) Im Prinzip haben wir hier Ihr Eingeständnis, Frau Ursula von der Leyen, dass Sie mit Ihrem Konzept, die Bundeswehr attraktiver zu machen, gescheitert sind. Seit Jahren klagt die Bundeswehr über zu wenig Bewerberinnen und Bewerber. Nimmt man die neuesten Zahlen zur Personalstärke der Bundeswehr, muss man sagen: Ursula von der Leyen hat ihr aktuelles Ziel von 182 000 Soldatinnen und Soldaten verfehlt. Es bleibt dabei: Rein objektiv ist die Bundeswehr als Arbeitgeber unattraktiv. Offenbar will Ursula von der Leyen junge Menschen mit besserer sozialer Absicherung ködern. Die teuren YouTube-Serien und die Plakatwerbung, mit der die Bundeswehr die Innenstädte zupflastert, hatten wohl nicht den gewünschten Erfolg. Einiges klingt gut in diesem Gesetzentwurf: mehr Sozialleistungen für Soldatinnen und Soldaten, höherer Sold, bessere soziale Absicherung, berufsfördernde Maßnahmen, bessere rentenversicherungsrechtliche Absicherung. Trotzdem werden wir als Linke dagegenstimmen, weil es ganz offensichtlich darum geht, die Einsatzbereitschaft, insbesondere für Auslandseinsätze, zu verbessern. Das lehnen wir ab. Und wir lehnen auch das, was Sie mit diesem Gesetzentwurf erreichen wollen, ab, nämlich eine Aufstockung der Personalstärke der Bundeswehr. Das sind die zentralen Punkte dieses Gesetzentwurfes. Deshalb werden wir dazu Nein sagen. ({1}) Die Bundeswehr soll von derzeit 180 000 auf 198 000 Soldaten im Jahr 2024 vergrößert werden. Diese sogenannte Trendwende Personal begründen Sie damit, Frau Ursula von der Leyen, dass – Zitat –eine „Refokussierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung“ notwendig sei. Aber was steckt denn dahinter? Das ist Aufrüstung, die stattfindet, Aufrüstung auch gegenüber Russland. Und es steht sogar konkret im Gesetzestext – ich zitiere –: Bei Maßnahmen, die sich unterhalb der Schwelle eines Einsatzes nach § 2 Absatz 1 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes bewegen, jedoch Einsatzcharakter im militärfachlichen Sinne haben, wie Enhanced Forward Presence in Litauen, wird zukünftig einheitlich Einsatzversorgung gewährt. Genau das lehnen wir als Linke ab. Wir wollen nicht mehr Einsätze, insbesondere nicht ohne Parlamentsbeteiligung. Wir brauchen keine Aufrüstung, auch nicht gegenüber Russland. Also brauchen wir auch nicht diese Trendwende Personal. ({2}) Sie gehen wieder in die völlig falsche Richtung. Wir haben einen Verteidigungshaushalt, der enorm gewachsen ist: 43,2 Milliarden Euro. Damit ist der Bundeswehretat seit 2014 um 40 Prozent gestiegen. Um das noch einmal klipp und klar zu sagen: Das lehnen wir ab. ({3}) Diese Aufrüstung geht im Übrigen auch auf Kosten der Soldatinnen und Soldaten. In diesem Bundeswehr-Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz wird nämlich die EU-Arbeitszeitrichtlinie von 2016, die die wöchentliche Arbeitszeit auf 41 Stunden begrenzt, teilweise wieder einkassiert. Das Soldatengesetz soll nämlich dahin gehend geändert werden, dass das geltende Arbeitszeitrecht bei der Luftraumüberwachung oder beim Rettungsdienst der Marine komplett ausgesetzt werden kann. So sozial ist dieses Gesetz also gar nicht, wenn man genauer hinschaut. Der Gesetzentwurf zeigt, dass soziale Erwägungen bei der Bundeswehr fallen, sobald sie der militärischen Effektivierung im Wege stehen. Das lehnen wir ab. ({4}) Nicht umsonst haben die Bundesländer Brandenburg und Thüringen dagegen im Bundesrat Bedenken geäußert; denn damit würde ein Präzedenzfall geschaffen, der geltende Arbeitszeitregelungen aushöhlt, wenn er denn Schule macht. Ein kleiner Hinweis an die Kolleginnen und Kollegen der SPD: Vielleicht überdenken Sie diesen Passus im Gesetzentwurf noch einmal. Im Übrigen ist interessant, wie sich hier die AfD positioniert. Sie hat dazu einen Antrag eingebracht, der nicht etwa für, sondern gegen die Begrenzung der Arbeitszeit der Soldatinnen und Soldaten ist; denn so was passe nicht – Zitat – „zum Wesen von Streitkräften“ und zur „deutschen militärischen Führungskultur“, behauptet die AfD. ({5}) Das Übliche: Die AfD ist wieder einmal arbeitnehmerfeindlich. ({6}) Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen kein Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz. Viel dringender wäre es, andere Berufe attraktiver zu machen: den der Erzieherinnen und Erzieher zum Beispiel, der Altenpflegerinnen und Altenpfleger, der Krankenschwestern und -pfleger. Die Wahrheit ist doch: Alles, was Sie für die Bundeswehr verbraten, fehlt an anderer Stelle im Bundeshaushalt. Statt die Bundeswehr aufzustocken, ist Abrüstung das Gebot der Stunde. Wir werden diesen Gesetzentwurf ablehnen, weil er in die völlig falsche Richtung geht, ({7}) und wir sagen Nein zu diesem sogenannten Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Tobias Pflüger. – Nächster Redner in der Debatte: Dr. Tobias Lindner für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Pflüger, gestatten Sie mir zu Beginn eine Bemerkung: Ich meine, es ist unstreitig hier in diesem Hause, dass der 8. Mai ein Tag der Befreiung war, und wir sind dankbar um den Anteil, den die Rote Armee am Sieg über den Faschismus hatte. Aber sich an dieses Pult zu stellen und über Aufrüstung gegenüber Russland zu reden, während Ihr Fraktionskollege Alexander Neu sich gerade auf Fraktionskosten auf dem Roten Platz in Moskau die Militärparade anschaut, ist schon ein Treppenwitz. ({0}) Kommen wir zum Gesetz selbst. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war richtig, die Wehrpflicht auszusetzen. Aber wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir sagen: Wir sind den Weg zur Freiwilligen- bzw. Berufsarmee bis heute nicht konsequent, realistisch und vollständig gegangen. Deswegen sind die zentralen Anliegen in diesem Gesetzentwurf, die Attraktivität und die Wettbewerbsfähigkeit der Bundeswehr und auch die Fürsorge gegenüber den Soldatinnen und Soldaten zu steigern, keine falschen Anliegen. Nein, in weiten Teilen sind sie notwendig. ({1}) Deswegen sollten wir miteinander darüber streiten, was die richtigen Mittel und die richtigen Wege dazu sind. ({2}) Frau Ministerin, Sie haben hier zu Recht gesagt: Die Bundeswehr ist kein Arbeitgeber wie jeder andere. – Sie befindet sich aber in Konkurrenz mit zivilen Arbeitgebern. Deswegen bewegen wir uns mit dem Bild, das wir von der Truppe zeichnen, und mit Schlagworten wie Rekrutierung, Werbung, Attraktivität, Fürsorge immer auf einem schmalen Grat. Wir müssen realistisch sein und uns eines klarmachen: Wir reden über eine Bundeswehr, bei der die 185 000 Sollstellen bis heute nicht voll mit Soldatinnen und Soldaten besetzt sind. Wir reden über eine Bundeswehr, bei der im vergangenen Jahr die Zahl der Neueinstellungen rückläufig war. Wir reden über eine Bundeswehr, die in Zeiten des demografischen Wandels auf dem Arbeitsmarkt natürlich auch in Konkurrenz steht mit einer anwachsenden Bundespolizei, mit einem anwachsenden Zoll, mit anwachsenden Länderpolizeien. In dieser Situation, meine Damen und Herren, müssen wir natürlich ein realistisches Bild zeichnen, auch was den Personalumfang anbetrifft. Uns Grünen ist es wichtiger, dass die 185 000 Stellen auch wirklich besetzt und attraktiv sind und dass die Frauen und Männer, die ihren Dienst in unseren Streitkräften leisten, gut und angemessen ausgestattet sind, als darüber zu reden, die Bundeswehr irgendwie auf 200 000 Stellen aufzublähen. ({3}) Denn, meine Damen und Herren, wenn wir als Parlament hergehen und unseren Streitkräften einfach nur mehr Aufträge zuweisen, weil wir von einer Bundeswehr ausgehen, die auf dem Papier größer ist, als sie realistisch betrachtet eines Tages tatsächlich einmal sein wird, dann sind wir nicht nur frustriert darüber, dass die Truppe nicht alles kann, was man von ihr fordert, sondern dann tun wir auch den Soldatinnen und Soldaten, die tagtäglich ihren Dienst in unseren Streitkräften leisten, unrecht und überfordern sie. Das sollten wir als verantwortungsvolle Politikerinnen und Politiker nicht tun. ({4}) In Ihrem Gesetzentwurf schlagen Sie viele Maßnahmen vor, die wir Grüne ausdrücklich begrüßen. Es ist richtig, dass die Angehörigen von Soldatinnen und Soldaten, die an einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden, in die Fürsorge einbezogen werden. ({5}) Es ist richtig, dass wir bei Angelegenheiten der Rentenversicherung mehr tun, meine Damen und Herren, und es ist natürlich auch richtig, dass jetzt eingeführt wird, dass alle Statusgruppen unserer Streitkräfte die Möglichkeit haben werden, Teilzeit zu beantragen. Das sind vernünftige Schritte. ({6}) Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zum Thema Arbeitszeit und zum Antrag der AfD-Fraktion sagen. Es ist richtig, dass Soldatinnen und Soldaten eine geregelte Arbeitszeit und im Friedensbetrieb eine Höchstwochenarbeitszeit haben. Das ist ein richtiger und ein vernünftiger Schritt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wenn man sich hierhinstellt und beantragt, das Ganze streichen zu wollen, dann zeichnet man aus meiner Sicht ein Bild, bei dem die Soldatin oder der Soldat voll auf die Rolle als Kämpfer reduziert werden, ohne daran zu denken, dass es Frauen und Männer wie wir sind, mit Familie, mit Angehörigen, mit einem Privatleben. Wer dieses Bild zeichnet, der sagt: Egal was am Ende rauskommt, wir schleifen die Leute, die in der Truppe dienen, und nehmen überhaupt keine Rücksicht auf ihr Menschsein und auf ihr Familienleben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Deswegen muss es beim Thema Soldatenarbeitszeitverordnung darum gehen, dass wir lebens- und praxisnahe Lösungen finden. Auch ich rede mit Angehörigen unserer Streitkräfte, die sagen: Wenn es um Lehrgänge geht, wenn es um Übungen geht, dann brauchen wir natürlich eine gewisse Flexibilität, damit man in solchen Situationen auch mehr als 41 Stunden in der Woche dienen kann. – Aber ich sage auch dazu: Dann muss das natürlich am Ende des Tages kompensiert werden – entweder durch Freizeit oder durch Geld, liebe Kolleginnen und Kollegen. Unter dem Gesichtspunkt, dass es darum geht, weitere Ausnahmen einzuführen, sehen wir Grüne in diesem Gesetz, ehrlich gesagt, mehr Schatten als Licht. Uns ist wichtig, dass man nicht irgendeine allgemeine Öffnungsklausel verankert, mit der man am Parlament vorbei jeden Angehörigen der Bundeswehr zu einer Spezialistin oder einem Spezialisten erklären kann und somit eine Ausnahme definiert. Wir werden in den parlamentarischen Beratungen sehr genau darauf achten, wie man mit dieser Formulierung umgeht und dass man sie so präzisiert, dass auch wir als Parlament am Ende des Tages wissen, wo Flexibilität geschaffen worden ist. Es darf eben keinen Wildwuchs bei den Ausnahmetatbeständen geben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Wir Grüne werden den vorliegenden Gesetzentwurf wohlwollend prüfen. Wir werden in einer anstehenden öffentlichen Anhörung zu diesem Gesetzentwurf den Finger dort in die Wunde legen, wo wir die Notwendigkeit von Verbesserungen sehen. Wir werden am Ende des Tages, weil wir wissen, dass kein Gesetz dieses Haus so verlässt, wie es eingebracht wurde, daran dann auch unser Abstimmungsverhalten festmachen. Ich danke Ihnen. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Tobias Lindner. – Nächste Rednerin: Kerstin Vieregge für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Kerstin Vieregge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004924, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Bundestagspräsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Koalition setzt mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf zur nachhaltigen Stärkung der personellen Bereitschaft nach dem Versichertenentlastungsgesetz ein weiteres wesentliches Versprechen aus dem Koalitionsvertrag um, von dem die Angehörigen der Bundeswehr unmittelbar profitieren. ({0}) Einer der Eckpfeiler dieses Artikelgesetzes ist zweifelsohne die Steigerung der Attraktivität des Dienstes bei der Bundeswehr. Der Arbeitsmarkt ist ein Feld, in dem unsere Streitkräfte zu oft gegenüber der Wirtschaft das Nachsehen haben. Dabei handelt es sich um ein Problem, welches naturbedingt nie vollständig zu lösen sein wird. Insbesondere in Zeiten guter Konjunktur liegen die Vorteile klar beim Mittelstand, beim Handwerk, bei der Industrie und anderen. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, den Arbeitgeber Bundeswehr fit für die Zukunft zu machen: mehr Geld für freiwillig Wehrdienstleistende, die Öffnung der Berufssoldatenlaufbahn für Unteroffiziere und Stabsunteroffiziere oder eine verbesserte Einsatzversorgung. Und dies sind nur drei Beispiele für die vielfältigen Verbesserungen, aber aus meiner Sicht einige der prägnantesten. Ich freue mich wirklich sehr darüber, dass den vielen erfahrenen Unteroffizieren und Stabsunteroffizieren nun die Möglichkeit eröffnet wird, Berufssoldat zu werden. Sie können damit ihre wichtigen Fähigkeiten ihr gesamtes Berufsleben lang bei der Bundeswehr anwenden. Es soll sich in jeder Hinsicht lohnen, den deutschen Streitkräften anzugehören. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird der durch Trendwende Personal und Agenda Attraktivität eingeschlagene Weg konsequent fortgesetzt. Und das ist gut. Diese Bemühungen sind für uns jedoch noch lange nicht am Ende. Das Ziel, die Bundeswehr attraktiver zu machen oder zu halten, entspricht einem dauerhaften Prozess. ({1}) Verbesserungen sind ohnehin dringend geboten. Die Ziele der Trendwende Personal müssen erreicht werden, auch um Bündnisverpflichtungen einhalten zu können. Beides bedingt einander. Ein verlässliches Bündnis muss aus starken Armeen bestehen, und zu einer starken Armee gehört leistungsfähiges Personal. Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder von uns weiß aus Gesprächen mit Soldaten und Zivilpersonal gleichermaßen, worin die Erwartungshaltung besteht. Bei Truppenbesuchen in meiner ostwestfälisch-lippischen Heimat und darüber hinaus werde ich von Soldaten aller Dienstgrade und Altersgruppen jedenfalls immer wieder auf ihre Motivation hingewiesen. Attraktivität hat selbstredend viel mit Laufbahnrecht, Fürsorge, Sozialmaßnahmen und Geld zu tun. Dem kommen wir hier nach. Und im Herbst wird mit dem Besoldungsstrukturenmodernisierungsgesetz ein weiterer wichtiger Schritt folgen. Zum anderen entsteht Attraktivität aber mittels Anerkennung militärischer Leistungen der Parlamentsarmee Bundeswehr und des Dienstes der Soldatinnen und Soldaten sowie zivilen Bediensteten durch Gesellschaft und Staat. Dort hat Deutschland viel Nachholbedarf, der natürlich nicht über ein Gesetz zu lösen ist. Daher möchte ich alle Kolleginnen und Kollegen dazu aufrufen, sich für eine Intensivierung der Anerkennung soldatischer oder militärischer Leistungen einzusetzen. Wir müssen das Bewusstsein für diese Leistungen in die Mitte der Gesellschaft holen. ({2}) Auch das wird zu einer weiteren Attraktivität des Arbeitgebers Bundeswehr beitragen. Ich kann auf jeden Fall voller Überzeugung sagen: Die Bundeswehr ist eine starke Truppe. An jeder Stelle leisten die Angehörigen der Bundeswehr großartige Arbeit. Es bereitet riesige Freude, sich für sie einzusetzen. Das Bundeswehr-Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz ist ebenso ein sichtbares Zeichen dieser Anerkennung wie hoffentlich noch weiterhin zu führende Sachdebatten. Lassen Sie uns also gemeinsam für die Bundeswehr streiten im Sinne der Soldaten und Soldatinnen und des Zivilpersonals; denn die zahlreichen Verbesserungen in den Bereichen Haushalt, Material und Personal müssen spürbar bei den Menschen in der Bundeswehr ankommen. Ich freue mich sehr auf die weiteren Beratungen, auch im Hinblick auf den bereits vorliegenden Änderungsantrag und die noch kommenden, und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Vieregge. – Nächste Rednerin für die FDP-Fraktion: Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann. ({0})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir über das Material der Bundeswehr gewissermaßen nur noch in der Geheimschutzstelle debattieren dürfen, freut es mich, dass wir wenigstens über die personelle Einsatzbereitschaft öffentlich sprechen können. Wir haben hervorragende Soldatinnen und Soldaten und zivile Beschäftigte, aber schlichtweg noch zu wenige, um die steigenden Anforderungen mit dem vorhandenen Personal bewältigen zu können. Dabei dürfen wir keine Arbeitsbedingungen entstehen lassen, die junge Menschen davor zurückschrecken lassen, zur Bundeswehr zu kommen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält viele punktuelle Verbesserungen, die den Betroffenen das Leben und Arbeiten leichter machen sollten. Diesen Schritt unterstützen wir ausdrücklich. Aber der ganz große Wurf gelingt nicht. Das liegt auch daran, dass eine der weitestreichenden Änderungen deutlich über das Ziel hinausschießt. Ich spreche von der Soldatenarbeitszeitverordnung. Die hat ja in der jetzigen Form mit der Realität überhaupt nichts zu tun. ({0}) Soldatinnen und Soldaten arbeiten nicht von 9 bis 17 Uhr nach dem Motto: Freitag ab eins macht jeder seins. Das wollen die meisten auch nicht und ist auch aus Sicherheitsgründen komplett absurd – nach dem Motto: Liebe Gegner auf dieser Welt, am Wochenende Angriffsverbot. Das erinnert mich übrigens – das kann ich nur empfehlen – an Asterix und Obelix bei den Briten. Wenn die sich mit den Römern geschlagen haben, gab es immer eine Heißwasserpause. Meine Damen und Herren, unsere Soldatinnen und Soldaten sind weiß Gott mit Leidenschaft dabei, doch sie erwarten zu Recht für ihre Leistungen Anerkennung und für ihre Arbeit einen fairen und unbürokratischen Austausch. Mit der jetzt vorliegenden Formulierung wird das Verteidigungsministerium ermächtigt, diese Verordnung im Prinzip aufzuheben. Ich zitiere: Soweit Soldaten … andere genau bezeichnete Tätigkeiten in den Streitkräften ausüben, die besondere militärische Kenntnisse oder besondere militärische Fähigkeiten erfordern, kann die Rechtsverordnung ausgesetzt werden. Meine Damen und Herren, über besondere militärische Fähigkeiten verfügt bei uns jeder in dieser modernen Armee. ({1}) Aber anstatt gleichzeitig direkt festzuhalten, wie die Überstunden künftig ausgeglichen werden sollten, verweisen Sie nur auf eine noch zu erlassende Rechtsverordnung. Meine Damen und Herren, wir, das Parlament, sollten darauf vertrauen, dass Ihr Haus das schon regelt. Liebe Frau Ministerin, bei allem Respekt, unser Vertrauen in Ihre Arbeit und die der Staatssekretäre ist in den letzten Monaten nicht größer geworden. Der Fanklub hat sich deutlich verringert. Und zum Schluss. Lieber Kollege Felgentreu, wir wollen eine Anhörung mit Sachverständigen. Das ist wichtig, das ist richtig. Grundsätzlich stehen wir dem Gesetzentwurf positiv gegenüber, aber wir werden in den parlamentarischen Beratungen Änderungen und Ergänzungen einbringen. ({2}) Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Strack-Zimmermann. – Nächste Rednerin: Gabi Weber für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabi Weber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004438, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Fast 120 000 Soldatinnen und Soldaten auf Zeit, rund 8 000 freiwillig Wehrdienstleistende und rund 35 000 Berufssoldatinnen und ‑soldaten garantieren derzeit die Sicherheit unseres Landes nach außen. Ihre Aufgaben erstrecken sich von der Landes- und Bündnisverteidigung bis hin zur Friedenssicherung unter dem Dach der Vereinten Nationen. Damit unsere Soldatinnen und Soldaten ihre Aufgaben optimal erfüllen können, müssen auch wir unsere Hausaufgaben machen. Als Abgeordnete ist es unsere Pflicht, die Bundeswehr materiell und personell gemäß ihren Aufgaben, die auch wir ihr geben, auszustatten. Gerade weil es in Deutschland keine Wehrpflicht gibt, müssen wir dafür Sorge tragen, dass der Beruf der Soldatin oder des Soldaten attraktiver wird. Neben hoher persönlicher Erfüllung muss dazu auch gehören, dass dieser Beruf soziale und finanzielle Sicherheit bietet. Kollegen und Kolleginnen, wenn wir hier von Attraktivität sprechen, geht es um ganz konkrete Fragen, die das Leben der Soldaten täglich prägen, zum Beispiel: Wann gilt ein Unfall als Dienstunfall? Können für meinen Partner oder meine Partnerin Kosten übernommen werden, wenn ich eine Psychotherapie benötige und er oder sie diese begleitet? Wie funktioniert meine soziale Sicherung nach der Dienstzeit, wenn ich Soldat oder Soldatin auf Zeit bin? Und: Wie vereinbare ich Soldatenberuf und Familie? – Viele dieser Fragen werden im vorliegenden Gesetzentwurf positiv beantwortet. Das neue Bundeswehr-Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz – ich könnte im neuen Stil auch „Gute-Truppe-Gesetz“ sagen – ({0}) enthält an dieser Stelle klare Fortschritte. Wir verbessern damit den Arbeitsalltag in der Bundeswehr ganz konkret und setzen wichtige Zeichen. Kolleginnen und Kollegen, zentrales Anliegen – das habe ich schon mal gesagt – ist, Sicherheit zu bieten, und das ist an vielen Stellen gelungen, zum Beispiel mit der Änderung des Soldatenversorgungsgesetzes, die für Soldaten und Soldatinnen auf Zeit eine deutlich bessere soziale Absicherung für das Alter schafft und insbesondere ihre Wiedereingliederung in den zivilen Arbeitsmarkt erleichtert, etwa durch die Förderung von Praktika. Auf der anderen Seite gibt es aber durchaus Nachholbedarf. Fast alle meine Vorredner sind auf ein Thema schon eingegangen: die Frage der Arbeitszeit. Das mache ich auch noch. Es gibt aber noch einen Punkt, nämlich dass laut Entwurf der Psychologische Dienst nun Informationen zur Weltanschauung – sei es Religion oder politische Einstellung – erheben soll, um die psychologische Eignung für eine Tätigkeit bei der Bundeswehr zu beurteilen. Die Aufgabe des Psychologischen Dienstes – so habe ich es immer verstanden und will es auch weiter verstehen – ist ausschließlich medizinischer Art und muss es auch bleiben. Das Bewerbungsverfahren darf nicht mit einer psychologischen Beurteilung bezüglich der Weltanschauung verknüpft werden. ({1}) Die Erkenntnis, ob jemand politisch für den Dienst in der Bundeswehr geeignet ist, muss im Bewerbungsverfahren gewonnen werden, und zwar von denen, die die Einstellung vornehmen, unter Hinzuziehung des MAD, wenn Zweifel bestehen, aber nicht durch den Psychologischen Dienst. ({2}) Liebe Kollegen und Kolleginnen, die Frage der Arbeitszeit ist hier von vielen schon angesprochen worden. Wie fänden Sie es denn, eine regelmäßige Arbeitszeit von 44 Stunden zu haben, während sich die Arbeitszeit ansonsten, im Bereich der Beamten oder in der freien Wirtschaft, völlig anders gestaltet? Unsere Arbeitszeiten als Abgeordnete, denke ich, dürfen wir nicht als Vergleich heranziehen. Hier geht es im Wesentlichen um die Frage: Können wir in der Bundeswehr im Normalbetrieb verlässlich garantieren, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für die Menschen auf Dauer möglich ist? – Das muss hier die zentrale Frage sein. Im Einsatz ist es eine andere Sache. Das haben wir auch im Rahmen der Debatten um die Soldatenarbeitszeitverordnung lange und intensiv miteinander diskutiert. Kurz und gut: Bei der Frage der Arbeitszeitregelungen, die im Gesetzentwurf enthalten sind, gibt es Nachbesserungsbedarf. Man darf auch nicht darüber hinwegtäuschen: Wenn eine gesetzliche Regelung geschaffen wird, steht sie immer oberhalb einer Verordnung. Das heißt, wenn ein Gesetz kommt und eine Regelarbeitszeit von 44 Stunden vorsieht, dann kann die Verordnung sagen, was sie will: Es gilt dann die Regelarbeitszeit von 44 Stunden. ({3}) Attraktivität, Kolleginnen und Kollegen, klingt anders. Deshalb ist diese Form der Arbeitszeitregelungen eigentlich kontraproduktiv, wenn wir Attraktivität herstellen wollen. Deshalb werden wir diese Diskussion, denke ich, unbedingt auch weiterhin führen müssen. Werte Kolleginnen und Kollegen, verstehen Sie mich jetzt aber nicht falsch. Ich freue mich, dass es gelungen ist, mit diesem Artikelgesetz einen Weg zu beschreiben, der insgesamt zu mehr Attraktivität führt. Es gibt nicht nur Kritikpunkte. Es gibt klare Fortschritte: die Absicherung auch von Soldaten auf Zeit in der Krankenversicherung, die Ausweitung der Definition von Dienstunfällen, die Möglichkeit der Teilzeitbeschäftigung für Reservistinnen und Reservisten und vor allen Dingen die bessere Bezahlung derjenigen, die Reservedienst leisten wollen. Im Gesetzgebungsverfahren selbst haben wir aber, wie eben schon von vielen aufgezeigt wurde, noch Handlungsbedarf. Nur wenn die Bundeswehr in der Bevölkerung breite Akzeptanz erfährt – und dazu wollen wir beitragen –, kann sie ein attraktiver Arbeitgeber sein, und dann stimmen auch die Bewerberzahlen. Mit dem Gesetz hat das Ministerium einen Teil seiner Hausaufgaben gemacht, und bei dem Übrigen werden wir über das Parlament gerne nachhelfen. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Gabi Weber. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Reinhard Brandl. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die zentrale Herausforderung für die Bundeswehr ist die Erhöhung der Einsatzbereitschaft. Die meisten Menschen denken bei dem Stichwort „Einsatzbereitschaft“ an Flugzeuge, die fliegen oder nicht, und Panzer, die fahren oder nicht. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Für die Bundeswehr mindestens genauso wichtig ist die personelle Einsatzbereitschaft, und zwar unter zwei Gesichtspunkten: Erstens. Gibt es genügend Soldaten? Zweitens. Sind die vorhandenen Soldaten auch bereit, den Einsatz zu erbringen? – Auch das ist Einsatzbereitschaft. – Meine Damen und Herren, beide Fragen kann man im Moment mit einem „Ja, aber“ beantworten. Zur ersten Frage: Gibt es genügend Soldaten? Wir haben – Stand: Anfang dieser Woche – 181 760 aktive Soldaten. Wir sollten laut Personalstrukturmodell, Jahresscheibe 2019, 184 530 haben. Somit ergibt sich eine Deckungsquote von knapp 99 Prozent, und die kann sich sehen lassen. Aber: Die Anzahl der Soldaten soll bis 2025 auf über 200 000 steigen. Meine Damen und Herren, das wird eine Herausforderung sein. Wir haben zwar im Moment gut 50 000 Bewerbungen im Jahr. Wir brauchen aber erstens mehr Spezialisten zum Beispiel, aber nicht nur, im IT-Bereich, zweitens mehr Reservisten und drittens mehr freiwillig Wehrdienstleistende. Den ersten Punkt, die Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt bei der Gewinnung von Spezialisten, gehen wir in dieser Legislaturperiode, in diesem Jahr noch, mit einem eigenen Gesetz zur Modernisierung der Besoldungsstrukturen an. Mit dem Gesetz, das wir heute hier debattieren, kümmern wir uns um Reservisten und auch um freiwillig Wehrdienstleistende. Was die Reservisten angeht, bin ich froh, dass der Präsident des Reservistenverbandes, Oswin Veith, unter uns ist, der direkt nach mir sprechen wird. Er wird darauf auch noch eingehen. Für uns ist zentral, dass wir die Reservisten stärker in die Truppe integrieren und alle Ungleichbehandlungen zwischen aktiven Soldaten und Reservisten aufheben. Das gilt bei der Besoldung, das gilt bei Zuschlägen, das gilt bei der Frage der Teilzeit, das gilt aber auch – ganz sichtbar – für die Reservistenkordel, die in Zukunft wegfallen wird. Bei den freiwillig Wehrdienstleistenden steigern wir die Attraktivität, indem wir den Sold erhöhen. Wenn heute ein junger Mensch nach der Schule für ein paar Monate freiwilligen Wehrdienst leistet, steigt er mit ungefähr 1 500 Euro ein und ist zum Schluss, als Hauptgefreiter, bei etwa 1 900 Euro. Meine Damen und Herren, das ist ein wirkliches Attraktivitätsmerkmal. Ich hoffe, dass wir damit wieder mehr Freiwillige gewinnen. Die zweite Frage „Sind die Soldaten auch bereit, den Einsatz zu erbringen?“, lässt sich nicht so einfach mit Zahlen beantworten. Wir verlangen von unseren Soldatinnen und Soldaten sehr viel. Ich will nur zwei Bereiche nennen: Die Bundeswehr ist heute eine Armee im Dauereinsatz, und die Bundeswehr ist heute eine Armee von Pendlern. Beides bedeutet große Belastungen nicht nur für die Soldaten, sondern auch für ihre Familien. Sie werden die Belastungen nur auf sich nehmen und den Einsatz nur erbringen, wenn sie sich auf der anderen Seite zu 100 Prozent darauf verlassen können, dass ihr Dienstherr alles unternimmt, um sie im Hinblick auf die Versorgung und die soziale Absicherung gutzustellen. Da ist schon viel geregelt; aber mit dem Gesetz gehen wir gezielt einige Lücken an, die auch bei unseren Truppenbesuchen immer wieder an uns herangetragen worden sind, zum Beispiel bei der Frage der Rentenversicherung für Zeitsoldaten, die ausscheiden und dann Übergangsgebührnisse erhalten, bei der Berufsförderung, bei der Versorgung bei Einsätzen wie in Litauen. Insgesamt ändern wir mit diesem Gesetz 30 Gesetze und Verordnungen. Meine Damen und Herren, in dem Gesetz ist viel drin, und es wird auch viel helfen. Aber wir werden es in den parlamentarischen Beratungen noch deutlich besser machen. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit in den nächsten Wochen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Brandl. – Der letzte Redner ist, wie schon angekündigt, für die CDU/CSU-Fraktion Oswin Veith. ({0})

Oswin Veith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004428, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Soldatinnen und Soldaten! Reservistinnen und Reservisten! Davon sitzen auch in diesem Saal sehr viele, wofür ich sehr dankbar bin. Heute ist ein guter Tag für die Bundeswehr und für die Reserve. Der Schutz der äußeren Sicherheit unseres Landes ist eine, wenn nicht die Kernaufgabe des Bundes. Auch wenn es in letzter Zeit viel um Material ging, ist es ebenso selbstverständlich, dass wir die Bundeswehr als Parlamentsarmee bei den von uns an sie gestellten Aufträgen so unterstützen, dass sie diese auch personell leisten kann. Angesichts einer deutlich verschlechterten Sicherheitslage müssen wir mehr Menschen für die Bundeswehr gewinnen und das – das wissen wir alle – unter deutlich schwierigeren demografischen Rahmenbedingungen als jemals zuvor. Dazu haben wir uns im Koalitionsvertrag verpflichtet. Wir wollen die im Koalitionsvertrag festgeschriebene Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr fortführen, was anfangs von vielen belächelt wurde. Aber seitdem sind zahlreiche Maßnahmen im Zuge der Agenda Attraktivität erfolgreich umgesetzt worden. Ein Kollege hier hat es besonders vermissen lassen, das anzusprechen. Aber auf seine Ausführungen werde ich später gerne noch eingehen. Sich nur darauf zu beschränken, die Defizite zu benennen und das Negative zu beschreiben, das machen wir nicht. Wir haben Wort gehalten und verbessern die Arbeitsbedingungen in Bundeswehr und Reserve Schritt für Schritt. Dafür sorgen wir auch heute mit dem uns vorgelegten Gesetzentwurf. Als Mitglied des Innenausschusses und als seinerzeit zuständiger Berichterstatter meiner Fraktion durfte ich in der vergangenen Legislaturperiode an einem ganzen Bündel von Gesetzesänderungen und Verbesserungen für die Soldatinnen und Soldaten mitwirken. Allen voran ist das Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz zu nennen und – die meisten wissen das nicht mehr – das Siebte Besoldungsänderungsgesetz. Das sind sperrige Begriffe, die man vernimmt, doch dahinter steht ein Dreiklang: erstens bessere Arbeitsbedingungen, zweitens bessere Vergütung und drittens bessere soziale Absicherung für unsere Frauen und Männer in Uniform. Dieser Dreiklang, meine sehr verehrten Damen und Herren, wirkt. Es ist wichtig, auch das heute zu betonen. ({0}) Ob zivil oder in Uniform: Seit Beginn der 90er-Jahre ging der Personalbestand in der Bundeswehr deutlich und drastisch zurück. Wir haben den Rückgang mittlerweile durch die von Frau Bundesministerin initiierte Trendwende – sie ist mehrfach angesprochen worden – gestoppt. Die Anzahl der Zeitsoldaten hat sich in den letzten Jahren um 6 500 erhöht. Auch das ist ein messbarer und, wie ich meine, erwähnenswerter Erfolg. Das ist ein schlagkräftiges Indiz dafür, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. ({1}) Die wichtigsten Punkte für die aktiven Soldatinnen und Soldaten sind in der Debatte bereits ausführlich erwähnt worden. Ich verzichte daher darauf, noch einmal darauf einzugehen. Aber wenn ich hier schon angesprochen werde, dann will ich auch deutlich erwidern. Als Reservist und Reserveoffizier des deutschen Heeres – mittlerweile im 38. Dienstjahr dabei – und als Präsident des Verbandes der Reservisten der Deutschen Bundeswehr kann ich nur sagen: Mein und unser besonderes Augenmerk gilt im Entwurf vor allem den dort formulierten Verbesserungen für die Reserve. Deshalb, Herr Kollege Kestner, an Sie gerichtet: Sie haben hier Ihren Vortrag quasi zurechtgebrüllt, hatten aber wenig in der Sache zu sagen. ({2}) Ihr Vortrag hatte wenig Substanz. Deswegen mein Rat an Sie: Politik macht man mit dem Kopf und nicht mit dem Kehlkopf. Lassen Sie sich das gesagt sein! ({3}) Ich will Ihnen nur einmal sagen, was alles auf den Weg gebracht wurde – Sie haben es nicht erwähnt, aber es gehört dazu –: im Februar 2015 das Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz und im Mai 2015 die Verbesserungen im Unterhaltssicherungsgesetz. Heute können wir sagen: Fast jeder Reservist, der Wehr übt, bekommt nahezu dasselbe Geld wie der Aktive über seine Bezüge. All das sind Verbesserungen, die wir erreicht haben. ({4}) Wir haben das Besoldungsänderungsgesetz auf den Weg gebracht. Wir haben die Trennungsgeld- und Umzugskostenvergütungen verbessert. Wir haben auch die Auslandsverwendungszuschläge, die auch Reservistinnen und Reservisten bekommen, deutlich angehoben.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Veith, ich fürchte, es führt jetzt zu weit, wenn Sie alle Erfolge aufzählen. ({0})

Oswin Veith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004428, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, nein.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Doch, doch.

Oswin Veith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004428, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das will ich auch gar nicht, Frau Präsidentin.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Die Redezeit ist deutlich überschritten.

Oswin Veith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004428, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann noch ein Satz.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Die Redezeit ist deutlich überschritten, mit Verlaub.

Oswin Veith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004428, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann ist das so. Danke schön. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Veith. Aber Sie verstehen, dass es meine Aufgabe ist, auf die Redezeiten zu achten. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/9491 und 19/9962 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze zu tauschen – das tun Sie ja schon – oder den Saal zu verlassen.

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir wissen, dass sich das Klima verändert. Die Leute können es selbst sehen. Mit diesem Gesetzesvorhaben packen wir den Kampf gegen den Klimawandel an; denn die Alternative wären die katastrophalen Folgen des Nichtstuns. „Die katastrophalen Folgen des Nichtstuns“, das wäre ein perfekter Einstieg in Ihr Kohleausstiegsgesetz gewesen, das Sie pünktlich ein Jahr nach der Einsetzung der Kohlekommission heute in den Bundestag hätten einbringen müssen, meine sehr verehrten Damen und Herren! ({0}) Leider stammt dieses Zitat nicht von der Bundeskanzlerin, nicht von der Umweltministerin, nicht vom Wirtschaftsminister, sondern von der neuseeländischen Premierministerin Jacinda Ardern, die erkannt hat, dass die katastrophalen Folgen des Nichtstuns schlimmer sind, als jetzt zu handeln, selbst wenn es Geld kostet. Wir als Opposition bringen daher heute einen Gesetzentwurf ein, den eigentlich Sie hätten einbringen müssen. Wir hätten uns schön zurücklehnen können. Wir hätten sagen können: Wir haben schon seit Jahren ein Kohleausstiegsgesetz in der Tasche, das bringen wir hier ein. – Nein, das tun wir nicht. Wir tun das bewusst nicht, weil die Zeit drängt. 2022 wollen Sie Kohlekraftwerke mit einer Leistung von 7 Gigawatt vom Netz nehmen. Nicht nur wir, sondern eigentlich alle hier im Land haben erkannt, dass sich Kohlekraftwerke nicht von selbst einfach abschalten, ({1}) dass sie sich nicht abschalten, nur weil ein Bericht der Kohlekommission auf dem Tisch liegt, auf den Sie immer wieder verweisen können. Einer Ihrer Ministerpräsidenten, der neben mir bei „Anne Will“ saß, hat das ja getan. Immer, wenn er auf den Tisch gehauen hat, hat er wohl gedacht, jetzt schaltet sich gleich ein Kohlekraftwerk ab. Nein, so passiert das nicht. Sie müssen schon ein entsprechendes Gesetz auf den Weg bringen. Und dass Sie das nicht tun, ist wirklich eine Schande. Dass Sie nicht handeln, ist katastrophal für unser Land. ({2}) Wir stehen wirtschafts- und klimapolitisch mittlerweile ziemlich allein da. Vor ein paar Tagen haben acht europäische Länder – Frankreich, Belgien, Luxemburg, Niederlande, Dänemark, Schweden, Portugal und Spanien – gemeinsam in einer Initiative gefordert, dass die Europäische Union bis 2050 klimaneutral sein soll. ({3}) Und wo sind Sie? Wo sind Sie als Bundesregierung? Wo sind Sie als regierende Fraktionen? Sie tauchen da einfach nicht mit auf. ({4}) Dieses Nichthandeln hat nicht nur katastrophale Folgen für den Ruf Deutschlands auf internationaler Ebene, nicht nur katastrophale Folgen für den Klimaschutz, sondern gerade auch für unsere Wirtschaftspolitik, für Ostdeutschland, für Regionen, die den Kohleausstieg bewältigen müssen. ({5}) Herr Vassiliadis, der nun nicht gerade mein bester Freund ist, hat doch gerade erst vor ein paar Tagen bei einem parlamentarischen Frühstück hier gesagt: Was tut ihr? Warum tut ihr nichts? Wir hängen vollkommen in der Luft. – Sie müssen jetzt endlich einen Gesetzentwurf einbringen. ({6}) Ich weiß, dass Sie jetzt damit kommen werden: Wir machen doch das Strukturfördergesetz. – Jetzt werde ich technisch, fachpolitisch – ich hoffe echt, dass hier nicht nur Umweltpolitiker sitzen, sondern auch ein paar Finanz- und Wirtschaftspolitiker –: ({7}) Sie wollen ein Strukturfördergesetz mit einem Volumen von 40 Milliarden Euro auf den Weg bringen. Das sind keine Peanuts, gerade wenn Sie sagen, unserem Haushalt wird es demnächst schlecht gehen. Dieses Strukturför­dergesetz koppeln Sie aber nicht daran, dass Kohlekraftwerke abgeschaltet werden. Sie koppeln es noch nicht einmal daran, dass Arbeitsplätze und die Kohlekonzerne in der Region gehalten werden. Nein, Sie wollen das Geld einfach mit der Gießkanne verteilen. Jeder kann sich melden: Ich könnte auch 1 Milliarde gut gebrauchen. – Das ist wirtschaftspolitisch wirklich fatal, meine Damen und Herren. ({8}) Wir zeigen in unserem Gesetzentwurf auf, wie man bei den Braunkohlekraftwerkskapazitäten 3 Gigawatt und bei den Steinkohlekraftwerkskapazitäten 4 Gigawatt Leistung abschalten kann. Wir sagen Ihnen auch, dass Sie die ältesten Kraftwerke – Niederaußem ist 1965 ans Netz gegangen; da war ich noch nicht einmal geboren – ohne Entschädigung abschalten können. Stattdessen sollten Sie die 40 Milliarden Euro gezielt nutzen. Geben Sie das Geld den Konzernen, die in der Region bleiben wollen. Es gibt dafür ein gutes Vorbild, den Globalisierungsfonds: Unternehmen bleiben in der Region, bekommen dafür Innovationsförderung. So halten Sie 8 000 Beschäftigte in der Region. Die Unternehmen erhalten Förderung, wenn sie verbindlich zusagen, ihren Konzern umzubauen zu einem Konzern der Zukunft, der nicht mehr Kohle produziert und nicht länger CO 2 emittiert, sondern auf Speicher und Nachhaltigkeit setzt. Geben Sie sich einen Ruck. Enttäuschen Sie die Kohlekommission, die Sie selbst vor einem Jahre eingesetzt haben, nicht, sondern bringen Sie jetzt und hier ein Kohleausstiegsgesetz auf den Weg, das eine vernünftige Unterstützung der Kohleregionen beinhaltet. Herzlichen Dank, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Andreas Lämmel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute wieder einmal eine spannende Debatte über einen Gesetzentwurf der Grünen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ihr seid schnell gewesen, gar keine Frage. Ihr legt heute einen Gesetzentwurf auf den Tisch, dessen Vorteil es vielleicht ist, dass er ziemlich dünn ist. Das wünschten wir uns bei manch anderen Gesetzentwürfen auch: schlank und dünn. Wenn man den Gesetzentwurf liest, stellt man aber fest, dass der Inhalt genauso dünn ist wie der Umfang. ({1}) Das ist aber auch klar; denn Sie beziehen sich zwar auf den Bericht der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“, picken sich aus dem Kommissionsbericht aber nur ein einziges Element heraus. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Wir betrachten diesen Strukturwandel ganzheitlich, während Sie nur einen Bestandteil herauslösen und sagen: Ihr müsst jetzt sofort die Kohlekraftwerke abstellen. – Das ist immer wieder der Trick der Grünen: Sie versprechen, dass der globale Klimawandel aufgehalten wird, wenn die Kohlekraftwerke jetzt sofort abgeschaltet werden. Unser Blickwinkel ist viel weiter gefasst. Der Zeitplan ist doch klar – darüber gab es doch nie Diskussionen –: ({2}) Als Erstes kommt der Kommissionsbericht. Wir hatten ja gehofft, dass die Bundesregierung ein klares Statement zum Kommissionsbericht abgibt; ({3}) sie entwickelt jetzt aber ein Eckpunktepapier, das in den nächsten Wochen durch das Kabinett gehen soll. Aus diesem Eckpunktepapier, in dem all die Punkte bearbeitet werden, die im Kommissionsbericht aufgelistet sind, entsteht letztendlich der Gesetzentwurf. Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist, wie gesagt, dass wir nicht nur abschalten wollen, sondern auch Strukturentwicklung betreiben wollen. ({4}) Das ist genau der Punkt. Unser Slogan lautet immer: Erst neue Arbeitsplätze schaffen, dann abschalten. Meine Damen und Herren, wenn es darum geht, aus politischen Gründen einen ganzen Industriezweig abzuschalten, weil er klimapolitisch angeblich nicht mehr in die Welt passt, dann muss sich die Politik auch darum kümmern, dass der Strukturwandel entsprechend gefördert wird. Diesen Aspekt lassen Sie völlig vermissen. Das ist aber auch klar. Damit befassen Sie sich gar nicht. Es ist Ihnen immer egal gewesen – das ist in allen klimapolitischen Diskussionen deutlich geworden –, was aus den Leuten wird. Sie haben nur Tonnen CO 2 im Kopf, und das ist leider sehr wenig. Sie schießen mit Ihrem Gesetzentwurf aus unserer Sicht vollkommen über das Ziel hinaus.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krischer?

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gern.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Lämmel, ehrlich gesagt, ich finde, das, was Sie hier zum Besten geben, ist eine Unverschämtheit. Wenn ich nicht irre, gehören Sie zu einer Regierungsfraktion. Die Kommission, die von der Bundesregierung eingesetzt worden ist, hat vor drei Monaten – vor über drei Monaten! – ihr Ergebnis vorgelegt. So! Ich komme aus einer Braunkohleregion. Die Menschen dort warten auf eine klare Ansage der Regierungsfraktionen oder der Bundesregierung, wie und in welchem Zeitraum genau dieser Kommissionsbericht umgesetzt werden soll. ({0}) Von einer seriösen Regierungsfraktion erwarte ich, dass sie, wenn sie schon keinen Gesetzentwurf zur Umsetzung vorlegt – dass Sie da ein bisschen langsamer sind als wir, das mag ja sein –, hier zumindest zusammen mit dem Koalitionspartner einen Antrag einbringt und den Menschen Klarheit darüber verschafft, wie es weitergehen soll. Dazu sind Sie ganz offensichtlich seit drei Monaten nicht in der Lage; denn sonst hätten Sie einen solchen Antrag hier eingebracht. Ich frage Sie jetzt hier: Wann werden Sie einen Beschluss im Deutschen Bundestag über die Umsetzung der Ergebnisse der Kommission herbeiführen, um den Menschen in den Regionen Klarheit über die weitere Entwicklung zu verschaffen und deutlich zu machen, wann die Klimaschutzziele erfüllt werden? Wann werden Sie etwas Entsprechendes vorlegen? ({1})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Offensichtlich haben Sie während meiner Rede auf Ihren Ohren gesessen. ({0}) Ich habe mich zum Zeitplan vorhin ganz klar geäußert. Ich sage es noch einmal: Sie picken sich ein ganz winziges Detail aus dem gesamten Kommissionsbericht heraus. Sie wissen genau, dass es nicht nur um die Abschaltung von Kraftwerken geht, sondern auch um einen Strukturwandelprozess. Tausende Leute wollen jetzt natürlich wissen, wie es mit ihnen weitergeht. ({1}) – Ja, regen Sie sich nicht so auf. – Mit Ihnen geht es überhaupt gar nicht weiter, weil Sie einfach nur den Schlüssel rumdrehen wollen, und dann ist das für Sie erledigt. Für uns ist das damit noch lange nicht erledigt. Ich sage es noch einmal zur Erläuterung: Im Moment werden die Eckpunkte erarbeitet. Das Eckpunktepapier befindet sich in der Ressortabstimmung; das wird durch das Kabinett gehen. Wenn der Kabinettsbeschluss vorliegt, wird daraus ein Gesetzentwurf entwickelt. Darin wird sich die Umsetzung des Kommissionsberichts abbilden. – Also, lieber einmal zuhören, bevor man solche halbgaren Zwischenfragen stellt, und, wie gesagt, nicht ablenken davon, dass Sie die Menschen überhaupt nicht im Blick haben. Ihnen geht es um etwas anderes. Früher hieß das „Tonnen-Ideologie“; das kennen wir noch aus DDR-Zeiten. Die hatten das Gleiche drauf wie Sie: ({2}) Da wurde nur in Tonnen gerechnet, und Pläne mussten erfüllt werden. Um die Leute ging es damals nicht. Um die Leute, um die Menschen in den Regionen geht es bei Ihnen auch heute nicht, meine Damen und Herren. ({3}) Wenn man den Gesetzentwurf weiterliest, wird es noch viel schlimmer. Herr Hofreiter, Sie stellen sich direkt in die Linie von Herrn Kühnert. Herr Kühnert will nun Konzerne aus dem Bereich der Wohnungswirtschaft enteignen, ({4}) und die Grünen haben jetzt ein Hauptkampffeld, nämlich die Enteignung von Energiekonzernen. Konzerne wie RWE sind ja Ihre Feindbilder. Ich will Ihnen bloß einmal Folgendes sagen: Wenn RWE wirtschaftlich in Turbulenzen gerät, weil Sie entschädigungslos sozusagen den Schlüssel umdrehen wollen, dann enteignen Sie damit erst einmal Kommunen – Sie wissen, dass es dabei um große kommunale Vermögen geht; denn zum Beispiel die Städte Dortmund und Essen sind Großaktionäre bei RWE –, und Sie enteignen Tausende Kleinaktionäre, die in RWE investiert haben, möglicherweise als Alterssicherung. ({5}) Das ist Ihre Politik: Sie enteignen den kleinen Mann doppelt. ({6}) Dass Sie von den Grünen sich auf diese Linie begeben, das finde ich schon ziemlich abgefahren; das muss ich ehrlicherweise sagen. Das hätte ich von Ihnen nie erwartet.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Trittin?

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gern, immer. Sie können dabei ja nur schlechter abschneiden. ({0})

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Lämmel, meine erste Frage: Haben Sie schon mal was davon gehört, dass Anlagen, auch Kohlekraftwerke, wie zum Beispiel das in Bremen-Farge oder in Niederaußem, nach einem bestimmten Zeitpunkt abgeschrieben sind und die vom Grundgesetz vorgesehene Entschädigungspflicht im Falle von Enteignung dann nicht mehr zieht? Sie können das in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nachlesen. Zweite Frage. Sie haben von der Enteignung von Aktionären gesprochen. Ich habe mir mal die letzten Tage aus anderem Anlass den Aktienkurs von RWE über die letzten 15 Jahre angesehen. Der Wert der Aktien hat sich mehr als halbiert. Können Sie mal beantworten, wer die Städte und Kommunen, BlackRock, die Kleinsparer, die Sie erwähnt haben, um mehr als die Hälfte ihres Vermögens enteignet hat? Wer trägt dafür die Verantwortung? Das sollten Sie sagen, bevor Sie dabei auf die Grünen verweisen. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens. Die Verantwortung – das haben Sie gerade selbst richtig festgestellt – tragen zur Hälfte die Politiker – das sind meistens Sie gewesen –, ({0}) die mit ihrer Politik sozusagen stückweise die Industrie in Deutschland, vor allen Dingen auch die energieintensive Industrie, aus dem Lande treiben. Zum Glück sind wir noch da. Deshalb können Sie nirgendwo allein regieren; das ist auch gut so. ({1}) Zweitens. Natürlich gibt es abgeschriebene Kraftwerke; das ist ja gar keine Frage. Sie sprachen gerade von der Steinkohle. In Ihrem Gesetzentwurf geht es jedoch nicht nur um die Steinkohle, sondern auch um die Braunkohle. Schauen Sie sich mal die Altersstruktur der Braunkohlekraftwerke an. ({2}) Sie differenzieren an dieser Stelle in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht. Also, wenn Sie da Unterschiede machen wollen, dann müssen Sie diese auch darstellen und nicht alles pauschal betrachten. ({3}) Ich bleibe dabei: Ihr Gesetzentwurf ist der Weg in die nächste Enteignung. Ich kann nur davor warnen; denn dann sind wir nicht mehr so weit weg vom VEB Energiekombinat. Das mögen Sie vielleicht, aber ich nicht. ({4}) Ich habe das nämlich alles live erlebt, wissen Sie. Ich habe keine Lust, das noch einmal hinter mich zu bringen. ({5}) Meine Damen und Herren, Sie haben ja auf die Gewerkschaft verwiesen. Natürlich ist die Gewerkschaft genauso unruhig, weil sie natürlich weiß, dass die Kohlekumpel und ihre Familienangehörigen, die in der Region von der Energie- und Kohlewirtschaft leben, wissen wollen, wo es langgeht. Aber sie wollen nicht hören: Abschalten! Zumachen! Schluss! Vielmehr wollen sie wissen: Was ist denn die Zukunftsperspektive? Genau das machen wir im Moment – ich kann es nur wiederholen; das ist der Unterschied zwischen uns, zwischen der Regierungskoalition und den Grünen –: Wir machen uns Gedanken, wie eine Region ohne Energiewirtschaft oder mit einer anderen Energiewirtschaft leben kann. Sie aber denken nur darüber nach, wie viel Tonnen CO 2 man endlich einsparen kann. Eine Sache ist reine Augenwischerei. Sie wissen doch ganz genau: Selbst wenn wir in Deutschland über Nacht alle Kohlekraftwerke abschalten würden, würde sich am Weltklima gar nichts ändern. ({6}) Es sind ja nur 0,2 Prozent CO 2 -Emissionen, die die deutsche Energiewirtschaft erbringt, meine Damen und Herren. Es gibt da doch so eine Redensart, wenn ich mich recht erinnere: Was stört es uns, wenn in China ein Sack Reis umfällt? So ist das auch mit der deutschen Kraftwerkswirtschaft mit Blick auf das Weltklima. Genau deswegen folgen unsere Nachbarländer dem deutschen Weg eben nicht. Meine Damen und Herren, Sie sollten Ihren Gesetzentwurf besser zurückziehen, bevor wir damit noch mehr Zeit verschwenden. Sie sollten lieber darauf warten, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung hier eingebracht wird. Es lohnt sich viel mehr, darüber zu diskutieren. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Karsten Hilse ist der nächste Redner für die AfD. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kohlekumpel! 105 Gigawatt, 0,7 Gigawatt, 46 Gigawatt: Diese Zahlen klingen sehr kryptisch. Sie werden auch den meisten von Ihnen nichts sagen, zumindest Ihnen nicht. Und doch zeigen sie, warum mit den sogenannten Erneuerbaren kein Industriestaat mit Strom zu versorgen ist. Sie veranschaulichen nämlich die Schwankungen der Stromproduktionen vom Januar dieses Jahres. Um das Rätsel für Sie zu lösen: 105 Gigawatt an elektrischer Leistung an Windenergie und Energie aus Solaranlagen waren im Januar in Deutschland installiert. Das sind schon jetzt gut 20 Gigawatt oder 30 Prozent mehr, als wir auch bei dem strengsten Winter in diesem schönen Land verbrauchen. Was haben diese Anlagen geliefert? Im Januar stieg die Natur immer mal wieder aus Wind und Sonne aus, sodass auch mal nur weniger als 1 Gigawatt – genau waren es 0,7 Gigawatt – zur Verfügung stand. Gebraucht wurden zum selben Zeitpunkt 72 Gigawatt, also über 100-mal mehr. Das entspricht 72 konventionellen Kraftwerken. Nur wenige Tage früher, als der Wind kräftig blies – von der Sonne kam de facto nichts –, schaffte er auch nur 46 Gigawatt, also nicht einmal die Hälfte der installierten Leistung. Auf den momentanen Spitzenbedarf bezogen fehlten satte 29 Gigawatt. Das entspricht 29 konventionellen Kraftwerken. Der April war besonders erfolgreich. Den ganzen Monat über konnten die plötzlich auftretenden Angebotsspitzen von unserem Netz nicht aufgenommen werden und mussten mit Zuzahlung ins Ausland verklappt werden. Netto kostete uns dieser grüne Spaß schlappe 1,9 Milliarden Euro mehr, als er an der Börse wert war. Das ist die neue grüne Stromwelt, in die Sie, Frau Bundeskanzlerin – gut, sie ist nicht da –, unterstützt von allen Altparteien, uns geführt haben. Flatterstrom, soweit das Netz reicht: nicht grundlastfähig, zu überhöhten Preisen und deswegen auch nur per Zwang in Form des EEG an den Mann bzw. die Frau zu bringen; von der ersten Minute an ungeeignet, ein Industrieland wie Deutschland zu versorgen. Die riesigen Lücken, die diese Stromerzeugung unweigerlich bringt, müssen die vielgeschmähten Kohle- und Kernkraftwerke ausfüllen. Aber genau die wollen Sie abschalten. Mit der Abschaltung kann es Ihnen nicht schnell genug gehen. Die circa 30 000 Arbeitsplätze, die allein in Sachsen direkt oder indirekt von der Braunkohle abhängig sind, werden als Kollateralschäden verbucht. Das ist Verrat an den Kohlekumpeln, die bei Wind und Wetter für eine sichere Stromversorgung stehen. Das ist Verrat! ({0}) Eine allein von Naturgewalten abhängige Stromversorgung kann und wird nicht funktionieren. Gegen die Naturgesetze können auch Sie keine Politik machen. Niemand kann das, egal welcher Größenwahn, zum Beispiel die ganze Welt retten zu wollen, ihn befallen hat. Wenn Sie schon am Kohleausstieg festhalten, den wir übrigens, sobald wir in Regierungsverantwortung sind, wieder rückgängig machen werden, dann versuchen Sie, wenigstens einmal rational zu handeln, und planen Sie ihn erst dann, wenn mindestens 40 Gigawatt Grundlast durch alternative Energien, zum Beispiel durch brauchbare Großspeicher, zur Verfügung stehen. Nichts anderes fordern wir in unserem vorliegenden Antrag. Alle versprochenen Anlagen wie Power-to-Gas, Power-to-X oder Power-to-Irgendetwas sind, wenn überhaupt, erst in Jahrzehnten in der Lage, diese 40 Gigawatt Grundlast zur Verfügung zu stellen. Bis dahin muss die Kohleverstromung als sicherer Grundlasterzeuger erhalten bleiben. ({1}) Der Kohleausstieg wird rein ideologisch begründet. Grundlage ist die Hypothese, dass der Mensch mit seinen CO 2 -Emissionen die Erderwärmung maßgeblich beeinflusst. ({2}) Dafür gibt es nach wie vor keinen einzigen Beweis. ({3}) Selbst wenn man dieser absurden Theorie vom menschengemachten Klimawandel glaubt, dann könnten wir die Erderwärmung bei sofortiger Abschaltung aller deutschen Kohlekraftwerke rein rechnerisch maximal um 0,000284 Grad Celsius verringern. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Hilse?

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Aber natürlich; immer gerne. Das verlängert meine Redezeit. ({0}) – Alles klar, Frau Hendricks. Stellen Sie doch auch eine Zwischenfrage. Ich beantworte sie gerne.

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Hilse, ich persönlich finde es ja sehr gut, wenn sich die AfD in der Klimafrage so positioniert. Ich glaube, Sie marginalisieren sich damit auf Dauer.

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sie marginalisieren sich.

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das bietet die Möglichkeit, Sie in einigen Jahren dann hier nicht mehr anzutreffen. Aber ich komme zu meiner Frage. Sie haben erneut die Zahl genannt, diese 0,00-­etc.-Zahl. Sie wissen ganz genau: Diese Zahl bezieht sich darauf, wenn man sie überhaupt ernst nehmen kann, dass wir in Deutschland ein Jahr lang die CO 2 -Emissionen aussetzen. Was macht diese Zahl für einen Sinn? Sollen wir dann nächstes Jahr die Braunkohlekraftwerke wieder anschalten, oder was ist der Sinn hinter dieser Zahl? Die zweite Frage. Nächste Woche werden Sie ja die Crème de la Crème der Pseudowissenschaftler hier im Deutschen Bundestag versammeln, zum Beispiel Tom Wysmuller vom Heartland Institute, das von den Koch Brothers, von Philip Morris und von der Erdölindustrie der USA finanziert wird. Dass Sie der Büttel der US-amerikanischen Erdölindustrie sind, ist das Ihre Aussage für den Klimaschutz? ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich bedanke mich erst einmal für die Frage. Ich gehe ganz kurz darauf ein. Sie haben nicht richtig aufgepasst, glaube ich. Ich habe nämlich gesagt: 0,000284 Grad Einsparung bei sofortiger Abschaltung aller deutschen Kohlekraftwerke. Das heißt, diese Kohlekraftwerke emittieren nie wieder CO 2 . Diese Emissionen können also nur einmal eingespart werden. Das ist das Ergebnis, das man nach den Formeln des IPCC erzielt. Grundlage ist der sogenannte Equilibrium Climate Sensitivity von 3,2 Grad, der aus Sicht der meisten Wissenschaftler überhöht ist. Diesen setzen Sie in die Formel ein. Dann können Sie das berechnen; das können Sie selber machen. Ich kann Ihnen gerne die Formel schicken. Aber Sie können sie auch beim IPCC nachlesen. Dann kommt genau der Wert von 0,000284 Grad Celsius heraus, um den sich die Erderwärmung verringert. Kommen wir zum nächsten Punkt. Sie zum Beispiel versammeln sich hinter einer – Entschuldigung, wenn ich das so sage – erkrankten jungen Dame bzw. deren Eltern ({0}) bzw. NGOs, die diese Kinder steuern. ({1}) Schauen Sie sich einmal an, wer das Spendenkonto von Fridays for Future – ich nenne die Bewegung nur No Education Fridays – verwaltet. ({2}) – Was hat das denn damit zu tun? – Schüler wären nie in der Lage, solche Demonstrationen selbst zu organisieren. Das kostet Geld; dafür braucht man Equipment. Das kann eine Schülerorganisation allein nicht machen. Dahinter stecken NGOs, Grüne, Linke wahrscheinlich, wie auch immer. ({3}) – Gut, alles klar. Ich möchte fortfahren. Für den genannten aberwitzig geringen Wert dem deutschen Steuerzahler laut IHK 170 Milliarden zu stehlen, ist für niemanden mit gesundem Menschenverstand nachvollziehbar. Der Wissenschaftsjournalist Nigel Calder prophezeite 1998 – ich zitiere mit Ihrer Genehmigung –: Alle Parteien in den Industriestaaten, ob links oder rechts, werden die CO 2 -Erderwärmungstheorie übernehmen. Dies ist eine einmalige Chance, die Luft zum Atmen zu besteuern. Weil sie damit angeblich die Welt vor dem Hitzetod bewahren, erhalten die Politiker dafür auch noch Beifall. Keine Partei wird dieser Versuchung widerstehen. Bei den schon länger hier Herumsitzenden hat Nigel ­Calder recht behalten. Die AfD fordert, diesen ideologischen Irrsinn endlich zu beenden und zu einer vernünftigen Energiepolitik zurückzukehren. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Johann Saathoff. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte insbesondere die Grünen direkt ansprechen. Ich will – auch im Namen der SPD-Fraktion – deutlich sagen: Ich kann Ihre Ungeduld absolut nachvollziehen und verstehen. ({0}) Der Abschlussbericht der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ – kurz: Kohlekommission – liegt seit einem guten Vierteljahr vor. Sie fragen sich, was hinter den Kulissen gerade wohl dazu geschieht. Deswegen haben Sie einen Gesetzentwurf vorgelegt. Bevor ich darauf eingehe, möchte ich gerne deutlich machen – auch nach dem, was zuvor hier im Hause gesagt wurde –, dass der Kohlekonsens eine gesamtgesellschaftliche Errungenschaft darstellt ({1}) und dass dieser Kohlekonsens nicht infrage gestellt werden darf. Das sind wir der Kommission schuldig, die diese Ergebnisse erzielt hat. Wir sind es ihr auch schuldig, ihre Vorschläge umzusetzen. ({2}) Es ist ein Konsens und nicht etwa ein Kompromiss. Für Kompromisse muss man Zugeständnisse machen, die man vielleicht eigentlich gar nicht machen wollte. Man hat irgendetwas Halbes hinbekommen. Ein Konsens ist etwas anderes. Konsensuale Ergebnisse sind Errungenschaften und Erfolge, auf die man stolz sein kann. Nichts anderes ist dieses Ergebnis. ({3}) Beim Kohlekonsens handelt es sich um einen Erfolg. Die Menschen dürfen zu Recht erwarten, dass die Umsetzung jetzt erfolgt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich glaube, Sie haben in den letzten Wochen viel Arbeit mit Ihrem Gesetzentwurf gehabt. Dafür gebührt Ihnen Respekt. Ich weiß, dass Greenpeace ebenfalls einen Gesetzentwurf erarbeitet hat. Aber Sie haben keinen inhaltsgleichen Gesetzentwurf vorgelegt. Sie haben eigene intellektuelle Arbeit dort hineingesteckt. Sie bilden mit Ihrem Gesetzentwurf im Grunde das ab, was aktuell geschieht und sich in den kommenden Monaten vollziehen wird bzw. auf jeden Fall vollziehen soll. Die Bundesregierung, vor allem das BMWi, verhandelt gerade mit den Kraftwerksbetreibern über die Abschaltung der Kraftwerke. Dabei handelt es sich – ich glaube, das können wir alle nachvollziehen – um keine einfache Materie; denn jedes Kraftwerk ist anders. Jedes Kraftwerk wird systemisch anders gebraucht. Es hängen nicht nur Stromkabel daran, sondern auch Tagebaue und Wärmelieferungen. Das muss mit ins Kalkül gezogen werden. Deshalb können entsprechende Regelungen nicht in ultrakurzer Zeit erarbeitet werden. Wir brauchen ein bisschen Zeit dazu. Wir brauchen auch die Ruhe, die bei einer solchen komplexen Sachlage notwendig ist. In Ostfriesland würde man sagen: Wenn de Minske vergrellt ist, verlüst he sein Klookheid. Also: Man braucht Zeit für eine gründliche Umsetzung. Auch eine gründliche Umsetzung sind wir der Kommission und dem Konsens schuldig. Man darf auch nicht vergessen, dass die Bundesregierung zusammen mit den Ländern parallel an einem Strukturstärkungsgesetz für die Kohleregionen feilt. Aus sozialdemokratischer Sicht darf ich, glaube ich, sagen, dass die ernsthafte Begleitung des Strukturwandels in den betroffenen Regionen genauso wichtig ist wie der Klimaschutz. ({4}) Wir können nicht einfach in den Regionen Kraftwerke abschalten und damit im wahrsten Sinne des Wortes die Lichter ausgehen lassen. Die Menschen brauchen eine nachhaltige Perspektive und nicht nur ein paar Projekte, die irgendwann beendet sind, nicht nur weiße Salbe. Sie müssen uns glauben, dass wir ihre Betroffenheit berücksichtigen und mit ihr gut umgehen. ({5}) Die betroffenen Regionen haben eine verantwortliche Strukturbegleitung verdient.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Baerbock?

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber sehr gerne, Frau Baerbock.

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, vor allen Dingen dafür, dass Sie eingangs deutlich gemacht haben, dass wir an einer sachorientierten Debatte interessiert sind. Das sind wir tatsächlich. Sonst hätten wir keinen Gesetzentwurf, sondern einen Antrag vorgelegt. Wir haben uns zudem einzelne Kraftwerke angeschaut und berücksichtigt, wie lange die Restlaufzeiten sind bzw. wie lange sie am Netz sind. ({0}) – Dass Sie nur labern können, Herr Lämmel, haben wir zuvor gehört. Ich habe jetzt eine inhaltliche Frage. Andere Gesetze, die wir verabschieden, treten auch nicht am Montag der Folgewoche in Kraft. Es gibt immer Übergangsfristen. In unserem Gesetzentwurf steht gerade mit Blick auf die Rechtssicherheit sehr deutlich drin, dass die Kraftwerke erst im Folgejahr, also 2020, abgeschaltet werden. Was spricht dagegen, nun das, was im Kommissionsbericht steht, als Gesetz zu verabschieden, nämlich dass wir Braunkohlekraftwerke mit einer Gesamtleistung von 3 Gigawatt und Steinkohlekraftwerke mit einer Gesamtleistung von 4 Gigawatt abschalten, während alles andere in einer Verordnung geregelt wird, genauso wie wir das auch bei anderen Gesetzen machen? Am Tag nach Inkrafttreten des Gesetzes müssen die Kraftwerke dann nicht abgeschaltet werden. Vielmehr gibt es ein Rechtsbekenntnis dieses Deutschen Bundestages, dass er hinter der von der Kohlekommission empfohlenen Abschaltung der Kraftwerke steht. ({1})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Baerbock, in Ostfriesland würde man sagen: Wat machs, is verkeerd. Ich erinnere mich an die Anwaltsgebührenverordnung. In der damaligen Debatte haben wir gesagt: Wir regeln erst einmal etwas. Wir wissen aber noch nicht genau, welche Wirkung wir damit erzielen, und werden das im Zweifel nachregeln. – Damals hieß es: Ihr wisst ja gar nicht, was ihr regelt. Vorsichtshalber sorgt ihr schon für Nachregelungsmöglichkeiten. Ich will das gar nicht negieren, was Sie nun vorschlagen. Ich will noch nicht einmal ausschließen, dass unser Gesetz nachher so etwas vorsehen wird. Dass wir aber – darin sind wir beide uns sicherlich einig – hier eine der komplexesten Rechtslagen generell in dieser Legislaturperiode zu lösen haben, darüber brauchen wir nicht zu streiten. Darüber, dass man einen entsprechenden Gesetzentwurf nicht innerhalb von zwei Monaten durch das Parlament jagen kann, wie man das bei anderen Gesetzentwürfen, die weniger komplexe Sachverhalte geregelt haben, getan hat, sind wir uns sicherlich ebenfalls einig. Hier können wir gemeinsam in die richtige Richtung schauen. Ich war in den betroffenen Regionen. Diese haben eine verantwortliche Strukturbegleitung verdient. Ich weiß, wovon ich rede; denn der Strukturwandel in Ostfriesland hat schon vor Jahrzehnten eingesetzt. Er wurde durch die Schließung der Fischereiwirtschaft und der Werften ausgelöst. Damals gab es kein Strukturstärkungsgesetz, das den Menschen geholfen hat. Wir mussten uns selber helfen. Das war kein freudiges Ereignis. Wir dürfen die Menschen, die nun vom Strukturwandel in der Energiewirtschaft betroffen sind, nicht alleinlassen. Wir werden mit ihnen zusammen ihre Zukunft gestalten. ({0}) Wenn wir nicht massiv und nachhaltig in die betroffenen Regionen investieren und mit ihnen eine Zukunft aufbauen, dann gehen sie uns verloren. Das wollen wir uns nicht leisten. Das gilt – das muss ich hier aus niedersächsischer Perspektive einflechten – auch für das Helmstedter Revier. Uns liegt auch noch ein Antrag der sogenannten AfD vor. „Unambitioniert“ wäre aus meiner Sicht noch zu viel Lob, ehrlich gesagt. Sie bezeichnen die Erneuerbaren als Zufallsstrom. Damit ist eigentlich alles gesagt. Gestern war Alexander Gerst zu Gast im Wirtschaftsausschuss. Ich fand, dass Sie sich für Ihre Verhältnisse brav benommen haben. Aber Sie haben die Erkenntnis nicht mitgenommen, dass die Erde der einzige Planet für uns ist und dass wir daher gut auf ihn aufpassen sollten. Der nächste, vielleicht bewohnbare Planet ist 39 Lichtjahre entfernt – ein weiter Weg für Sie. Aber diese Erkenntnis ist nicht angekommen. ({1}) Da Sie keinen Klimawandel sehen, hier ein paar Fakten: Die Durchschnittstemperatur ist im Vergleich zum Ende des 19. Jahrhunderts bereits um 1 Grad gestiegen. Die zehn wärmsten Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnungen liegen alle in der Zeit nach 1997. Und – da Sie ja die nationale Brille aufhaben – seit 2000 verlieren die Alpengletscher pro Jahr 2 bis 3 Prozent ihres Volumens und werden 2050 nur noch halb so groß sein, wie sie vor zehn Jahren waren. Wenn Sie den Klimawandel negieren, dann lassen Sie nicht nur die Menschen in der Küstenregion, sondern alle Menschen in Deutschland bitterlich allein. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Professor Dr. Martin Neumann hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünenfraktion, wenn man sich Mühe gibt und sich Ihre Vorlagen etwas genauer anguckt, kann man durchaus die eine oder andere Botschaft erkennen. Positiv ist die Botschaft, die Sie, Frau Baerbock, gesendet haben, nämlich dass wir endlich Klarheit brauchen. Das ist völlig richtig. Mit Blick auf den Wettbewerb ist es in dieser Situation für alle Beteiligten wichtig, zu wissen, wo es hingeht. Jetzt kommt das große Aber: Es haben mehrere Redner davon gesprochen, dass man die Energiewende, wenn man sie tatsächlich erfolgreich umsetzen will, komplex angehen muss; das ist, glaube ich, klar. Wir kommen immer wieder in die Situation, auch beim EEG, dass wir uns nur eine Seite genauer angucken, nämlich die Erzeugerseite – auch wenn Energie nicht erzeugt, sondern umgewandelt wird. Damit fehlt alles, was danach kommt, also die Leitungen, die Speicher, was auch immer. Wir müssen also dafür sorgen, dass das Thema komplex angegangen wird. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf, für den Einstieg in den Ausstieg aus der Kohle müssten Kraftwerke mit einer Leistung von 3 Gigawatt abgeschaltet werden. Wieso 3 Gigawatt? Warum nicht 5 Gigawatt? ({0}) – Ich sage es gleich, Frau Baerbock. Warten Sie doch ab! Ich erkläre Ihnen, was ich da problematisch finde. – Diese Zahlen kommen durch den einseitigen Blick auf die Erzeugerseite zustande. Man kann jedoch davon ausgehen, dass Sie wissen – es wissen müssten –, was das bedeutet. Es bedeutet nämlich auch eine gewisse Rücksichtslosigkeit; dazu komme ich noch. ({1}) – Da gibt es eine Frage.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Bitte schön, Herr Krischer.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, wir reden hier über das Ergebnis einer Kommission, die die Bundesregierung eingesetzt hat, um die Kohleverstromung in Deutschland zu beenden und den Strukturwandel herbeizuführen. Das Ergebnis liegt seit drei Monaten vor. Ich habe mit Interesse wahrgenommen, dass die FDP sich dafür gar nicht interessiert, dass Ihnen das völlig egal ist, dass Sie das ablehnen. Sie schreiben in dem Antrag, den wir unter einem vorherigen Tagesordnungspunkt behandelt haben, dass Sie keinen nationalen Kohleausstieg wollen. Deshalb frage ich Sie: Was ist eigentlich an der Stelle das Konzept der FDP? Wie wollen Sie am Ende die Energiewende schaffen und zum Klimaschutz beitragen? Ich gehe davon aus, dass auch Sie keine neuen Kohlekraftwerke bauen und keine Kraftwerke, die aus den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammen, weiterbetreiben wollen. Ich frage mich, ehrlich gesagt: Was ist Ihr Zukunftskonzept? Im Übrigen möchte ich Ihnen noch die Frage stellen: Ist Ihnen klar, dass in unserem Gesetzentwurf die Abschaltung von Braunkohlekraftwerken mit einer Leistung von 3 GW vorgesehen ist, weil das das einvernehmlich vereinbarte Ergebnis der aus 28 gesellschaftlichen Gruppen – dazu gehört übrigens auch der BDEW, dessen Vorsitzender, glaube ich, FDP-Mitglied ist – zusammengesetzten Kohlekommission ist, das jetzt umgesetzt werden muss? ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich hatte ja gesagt: Vielleicht warten Sie mal ab, was ich sage. – Ich will es noch einmal ganz deutlich machen: Worauf kommt es an? Es kommt darauf an, dass man nicht nur einseitig die Erzeugerseite betrachtet. Vielmehr muss man dafür sorgen, dass für die Wirtschaft und die Verbraucher, also das, was danach kommt, Versorgungssicherheit besteht. Das ist der Punkt. Jetzt komme ich darauf zu sprechen, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf hätten schreiben können. Ich mache es Ihnen ganz einfach: Sie brauchen nur mal in das Energiewirtschaftsgesetz – §§ 51 und 63 – zu gucken. Danach soll die Bundesregierung alle zwei Jahre einen Bericht vorlegen, dass Versorgungssicherheit gewährleistet ist. Es kommt darauf an, nicht einfach nur etwas abzuschalten – das ist purer Aktionismus –, sondern dafür zu sorgen, dass Versorgungssicherheit gewährleistet ist. ({0}) Sie können auch den besten Umweltschutz nicht betreiben, wenn Sie am Ende keinen Strom bzw. keine Energie haben. ({1}) Bitte betrachten Sie einmal das Ganze, anstatt alles, was Ihnen gefällt, herauszunehmen und den Rest die anderen machen zu lassen. ({2}) Ich habe gerade gesagt, dass die Frage der Versorgungssicherheit ganz wesentlich ist. Wenn Sie von einem Rückgang um 3 Gigawatt dort und 7,7 Gigawatt dort sprechen, dann sage ich Ihnen: Das können Sie alles machen; es erweckt aber den Anschein von Aktionismus. ({3}) Und wenn Sie sagen: „Wir schalten ab“, dann sage ich Ihnen: Das können Sie ja machen. Sie können einfach alles abschalten. Dann müssen Sie der Gesellschaft, den Verbrauchern und der Wirtschaft aber eine Antwort auf die Frage geben, wo der Strom bzw. die Energie herkommen soll. Das ist meiner Ansicht nach eine ganz entscheidende Frage. ({4}) Da meine Redezeit etwas knapp ist – ich habe nur vier Minuten –, will ich ganz kurz noch etwas zum Antrag der AfD sagen. Wir lehnen Ihren Antrag, den Antrag der Grünen, und auch den Antrag der AfD ab. ({5}) Sie haben sich darin mit dem Thema Versorgungssicherheit beschäftigt. Es kann aber nicht sein, dass Sie den Unternehmern die Aufgabe erteilen, dafür zu sorgen, dass Energie zur Verfügung steht, also dass Versorgungssicherheit gewährleistet ist. Ich hatte gerade gesagt, dass das eine staatliche Aufgabe ist und dass man dafür natürlich auch die Bundesregierung verantwortlich machen muss. Das bisherige Verfahren, das im Energiewirtschaftsgesetz steht, nämlich alle zwei Jahre einen Bericht vorzulegen, reicht uns nicht. In diesen Berichten stehen übrigens auch statische Daten, die einfach nicht ausreichen, um zu gewährleisten, dass ausreichend Energie zur Verfügung steht. Wir wollen, dass man jährlich Bericht erstattet, mit dynamischen Parametern. Das schafft Vertrauen; denn das ist das, was uns fehlt. Wir reden immer über Akzeptanz, wir reden über das, was notwendig ist, damit die Menschen mitmachen. Sie können doch nicht einfach sagen: Wir haben recht, und jetzt schalten wir einfach mal ab. ({6}) – Ja, trotzdem erfordert das entsprechende Konsequenzen; ich habe es gesagt. Wir wollen CO 2 einsparen. Das werden wir tun, aber nur dort, wo die CO 2 -Einsparungskosten am geringsten sind. ({7}) Das betrachten Sie nicht. Sie betreiben Aktionismus; Sie legen den Schalter um. Alles andere interessiert Sie nicht, und das gefällt mir an dem Gesetzentwurf nicht. Wir lehnen Ihren Gesetzentwurf und auch den Antrag der AfD ab. ({8}) Zum Schluss möchte ich sagen: Technologieoffenheit und Wettbewerb, diese beiden Größen sind der Schlüssel, ({9}) nicht das, was Sie tun. Sie schaden mit Ihren gefährlichen Ideologien der ganzen Sache, und genau das ist das Problem. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Lorenz Gösta Beutin. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Was wir in der Debatte hier erlebt haben, war teilweise wieder ein Trauerspiel. Von den Rechtsradikalen haben wir wieder einmal gehört, ({0}) dass sie alles auf Kohle setzen wollen. Ihnen ist der Klimaschutz vollkommen egal. Sie diffamieren die Schülerinnen und Schüler und jemanden, der eine Krankheit hat, machen ihn fertig und führen seine Position darauf zurück. Sie sollten sich einmal mit den Fakten auseinandersetzen; das würde Ihnen sehr helfen. ({1}) Auf die FDP brauche ich gar nicht einzugehen. Die Antwort ist immer: Markt, Markt, Markt. – Nein, das klappt nicht mehr. Wir brauchen Ordnungsrecht.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hilse?

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, danke. – Ich möchte noch einmal ganz klar sagen: Was mich in der Debatte erschreckt hat, war die Position von Herrn Lämmel; denn er hat vertreten, was wir sonst immer von Herrn Hilse hören: dass der Kohleausstieg nichts am Weltklima ändert und nichts zum Klimaschutz beiträgt. – Das ist nachweislich falsch. ({0}) 10 Prozent macht der europaweite CO 2 -Ausstoß am weltweiten Ausstoß aus, und sieben von zehn der dreckigsten CO 2 -Schleudern stehen in Deutschland. Das heißt, es würde sehr wohl etwas für den europäischen Ausstoß und auch für das Weltklima ausmachen. Deswegen steht der Kohleausstieg eben auf der Tagesordnung. ({1}) Doch leider steht es um die Energiewende hier in Deutschland schlecht. Wir haben es in den letzten Wochen erlebt. Wir haben mit Extinction Rebellion eine starke Klimabewegung auf den Straßen weltweit, die Fridays for Future gut ergänzt. Die Bewegung hat es erreicht, dass in Großbritannien der Klimanotstand ausgerufen worden ist. Sie hat es erreicht, dass eine so große Partei wie Labour in Großbritannien gesagt hat: Das steht auf der Tagesordnung. Wir müssen alle Gesetze, die wir machen, auf ihren Beitrag zum Klimaschutz abklopfen. – Das ist genau der richtige Weg. ({2}) In Deutschland hat Konstanz als erste Stadt den Klimanotstand ausgerufen. Das sollten wir doch auch mal zur Kenntnis nehmen. Aber was passiert hier? Die Große Koalition kommt nicht voran. Sie kommt nicht voran beim Kohleausstieg, bei der Verkehrswende, bei der Wärmewende, bei der Agrarwende – in allen Bereichen nicht. Dann haben wir Anfang dieses Jahres bei der Windenergie einen beispiellosen Einbruch historischen Ausmaßes erlebt. Das ist dramatisch. Das ist auch dramatisch für die Beschäftigten bei uns in Deutschland. Die Unternehmen rund um die Energiewende und die Windenergie sind mittlerweile einer der Grundpfeiler bei den Arbeitsplätzen in Deutschland. Was da gerade abläuft, was die Große Koalition da verzapft, ist fahrlässig. ({3}) Wir erleben also ein Nichtstun, während die Welt Feuer fängt, und genau das ist die Verantwortungslosigkeit. Aber was liegt nun vor? Uns liegt jetzt ein Gesetzentwurf der Grünen zum Einstieg in den Kohleausstieg vor. Sie schlagen eine Abschaltung der Kohlekraftwerke mit einer Leistung in Höhe von 7 Gigawatt bis 2022 vor, davon nur 3 Gigawatt in der Braunkohle. Ich weiß – Annalena Baerbock hat es eben dargelegt –: Es handelt sich dabei um einen Vorschlag der Kohlekommission, das in einen Gesetzestext zu gießen. Der Kollege Saathoff hat eben gesagt, der Kompromiss der Kohlekommission sei ein Konsens. Aber da kann ich leider nicht zustimmen. Schauen wir uns den Kompromiss der Kohlekommission einfach mal an: Es gibt ein Sondervotum der Umweltverbände, und die Umweltverbände sagen wortwörtlich – ich habe es mir noch mal angeguckt, und ich zitiere daraus –: Wir als Umweltverbände werden weiter Druck machen, um den Ausstieg zu beschleunigen. Die Aufgabe bleibt der schnellere Ausstieg als 2038. – Da haben die Umweltverbände verdammt recht. ({4}) Es sind nicht nur Fridays for Future, Extinction Rebellion oder Ende Gelände; auch fast 20 000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützen diesen Vorschlag. Sie haben es vorgerechnet und sagen: Der Kohlekompromiss ist eben leider nicht ausreichend, um die Klimaziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Wir haben dazu in der nächsten Woche eine Anhörung im Wirtschaftsausschuss. Wir als Linke schlagen einen Kohleausstieg bis 2030 statt bis 2038 und den schnelleren Einstieg in den Ausstieg vor. Wir müssen die 20 dreckigsten Kohlekraftwerke bis 2020 abschalten. 2022 ist leider zu spät. ({5}) Wir müssen den Kollegen in den Braunkohleregionen reinen Wein einschenken. Wir müssen ihnen sagen: Wir in der Bundesrepublik müssen handeln, es ist aufgrund einer existenziellen Notlage notwendig. – Aber sie brauchen auch Planungssicherheit. Die Menschen in der Lausitz, im Rheinland und im mitteldeutschen Revier müssen sehen, dass wir erkennen, was sie dort geleistet haben, dass wir ihre Traditionen anerkennen. ({6}) Wir müssen aber auch sagen: Es geht leider nicht mehr so weiter. Wir müssen handeln. Wir brauchen Arbeit und Beschäftigung in den Regionen; die müssen wir sichern. Wir müssen den Strukturwandel auf die Reihe kriegen. Das sind wir ihnen schuldig. Das ist dann keine Planwirtschaft, sondern das ist Planungssicherheit, das ist Förderung von strukturschwachen Regionen. Das müssen wir machen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, deswegen können wir leider Ihrem Gesetzentwurf an dieser Stelle nicht zustimmen. Wir werden uns enthalten, und wir hoffen sehr, dass wir weiterhin gemeinsam auf die Straße gehen und Fridays for Future und all die anderen Klimabewegungen unterstützen werden. Denn es geht um die Rettung der gesamten Menschheit, und da können wir nicht rumlavieren. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Karsten Hilse.

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Beutin, ich möchte Sie darauf hinweisen, dass ich nicht dieses Mädchen, dieses bedauernswerte Kind, angegriffen habe, ({0}) sondern ich habe diejenigen angegriffen, die sie missbrauchen: NGOs, Plant-for-the-Planet, Club of Rome, Grüne, Linke. Zufälligerweise deckt sich die Forderung von „No Education Friday“ – Sie nennen sie anders; ich nenne sie „No Education Friday“ –, 2030 die Kohlekraftwerke abzuschalten, mit Ihrer Forderung. Ich befürworte, dass Jugendliche im Rahmen von Demonstrationen und Schülerstreiks auf die Straße gehen, um gegen irgendetwas oder für irgendetwas zu demonstrieren. Aber wenn dort die Antifa und die Interventionistische Linke mitmachen und für die Abschaffung des Kapitalismus demonstrieren, dann habe ich große Zweifel daran, dass die Jugendlichen, die dort mitlaufen, überhaupt wissen, worum es geht. ({1}) Dann frage ich mich, ob die Initiatoren dieser No-Education-Fridays-Streiks wirklich fürs Klima demonstrieren oder ob es nicht in Wirklichkeit darum geht, dass die Jugendlichen sich von Menschen wie Ihnen beeinflussen lassen, die den Kapitalismus abschaffen wollen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Wollen Sie antworten, Herr Kollege Beutin?

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank für diese Frage. – Ich werde kurz auf einige Punkte eingehen: Nein, es ist kein Zufall, dass wir den Kohleausstieg bis 2030 fordern, und zwar nicht nur für Deutschland, sondern europaweit. Das ist tatsächlich deshalb kein Zufall, weil es den Berechnungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entspricht, dieser 20 000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die unter Scientists for Future die Proteste von Fridays for Future unterstützen. Das sind die Profis, und genauso wie wir es tun, haben Fridays for Future und die Schülerinnen und Schüler auf diese Profis gehört; und das ist richtig so. ({0}) Aber noch ein Wort zu Greta Thunberg. Das, was es so unerträglich macht, ist, dass dieser Rechtsradikalismus, diese Thesen hier im Hohen Hause überhaupt zu hören sind. ({1}) Sie reden hier davon, dass sie ja so bedauernswert ist: ihre Krankheit und so weiter und so fort. Wissen Sie, was für ein Problem wir in der Gesellschaft haben? Menschen, die Krankheiten haben, sind nicht behindert oder Ähnliches, ({2}) sie werden behindert von dieser Gesellschaft, und sie werden diffamiert von Menschen wie Ihnen, die genau solche Ausdrücke benutzen. Das ist erbärmlich und schlimm. ({3}) Noch ein Wort zum Thema der Verschwörung, die Sie hier angeführt haben: die ganzen NGOs und die Antifa und all diese bösen Menschen. Ich werde Ihnen mal etwas sagen: Selbstverständlich unterstützen NGOs das. Sie unterstützen die Positionen, die richtig sind. Das ist gut. Sie gehen da voran. Ich habe eben die Positionierung der Umweltverbände aus der Kohlekommission zitiert. Aber wenn Sie hier behaupten, Schülerinnen und Schüler im Alter von 16, von 17, von 18 oder auch 19 Jahren seien irgendwie fremdgesteuert, dann haben Sie etwas nicht verstanden. ({4}) Unsere Jugend ist in vielen Punkten weiter als Sie. Sie hat viel mehr kapiert, nämlich dass Klimaschutz auf dieser Welt notwendig ist und dass wir vor einer existenziellen Herausforderung stehen. Wir weisen deshalb Ihre Diffamierung in allen Punkten stark zurück. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat als Nächstes das Wort der Kollege Dr. Andreas Lenz. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns liegen heute ein Gesetzentwurf von den Grünen und ein Antrag von der AfD zum Kohleausstieg sowie ein Antrag zum Klimaschutz generell von den Grünen vor. Ich weiß jetzt nicht, ob der Gesetzentwurf sämtlichen Plagiatsprüfungen standhalten würde, aber sei es jetzt mal drum. Die Vorlagen liegen übrigens inhaltlich so weit auseinander, wie die Sonne von der Erde entfernt ist, um bei diesen astronomischen Dimensionen zu bleiben. Im Gegensatz dazu werden wir die Ergebnisse der WSB-Kommission, der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“, der sogenannten Kohlekommission, mit Vernunft umsetzen und eben auch der Reihe nach abarbeiten. Wir haben immer klargemacht: Wir wollen zuerst die Strukturstärkung und dann den energiewirtschaftlichen Teil beschließen. Wir halten hier eben Wort. Die Eckpunkte des Strukturstärkungsgesetzes werden im Moment gerade abgestimmt. Wir brauchen eine kluge Strukturpolitik, die nicht zu Brüchen in den Regionen führt, sondern zu Chancen. Lassen Sie mich hier vielleicht auch die Frage nach der individuellen Infrastrukturprojektförderung aufgreifen: Wir wollen eben nicht, dass durch eine Umgestaltung des Kosten-Nutzen-Faktors bestehende Projekte beeinträchtigt werden. Wenn, dann müssen die zusätzlichen Projekte on top gefördert werden.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lisa Badum?

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Lisa Badum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004659, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen. – Herr Lenz, gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie Mitglied in der Kohlekommission waren? Dann müsste Ihnen eigentlich bekannt sein, dass in deren Bericht steht, dass der Strukturwandel, die Förderung der Regionen synchron mit dem Kohleausstieg erfolgen sollen und dass Klimaschutz und Erhalt der Arbeitsplätze nicht gegeneinander ausgespielt werden sollen. Wie stehen Sie dazu?

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das, was Sie gerade gesagt haben, war zwar als Frage formuliert, war aber überhaupt keine Frage. Natürlich werden Maßnahmen, die den Energiebereich betreffen, schon jetzt diskutiert. Aber wir haben immer versprochen, dass wir uns zuerst um die Menschen kümmern und dann die Folgefragen entsprechend beantworten werden. ({0}) Wenn es um den Strukturbereich geht, dann brauchen wir natürlich noch mehr Kreativität von den Bundesländern. Wir brauchen Konzepte, die maßgeschneidert an den jeweiligen Stärken der Reviere ansetzen. Wir brauchen Leuchtturmprojekte, die tatsächlich auch solche sind. Wir müssen aktivieren und dürfen eben nicht langfristig alimentieren. Wir müssen Grundlagen für Zukunftschancen legen. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf richtigerweise, dass die Kommission bis 2022 eine Reduzierung der Leistung bei der Braunkohle um 5 GW und bei der Steinkohle um 7,7 GW vorgeschlagen hat. Wir haben aber erst das Jahr 2019. Zunächst müssen Gespräche mit den Kraftwerksbetreibern geführt werden. Wir müssen an möglichen Entschädigungen so viel wie notwendig leisten, aber eben auch nicht mehr, es geht schließlich um das Geld des Steuerzahlers. Auch Ausschreibungen, um die günstigsten Kraftwerksstillegungen zu ermitteln, werden geprüft werden müssen. Dass Sie natürlich – der Kollege Lämmel hat das schon zutreffend ausgeführt – am liebsten alle Betreiber enteignen würden, das haben wir schon zur Genüge gehört. Wir haben ordnungspolitisch einen anderen Wertekompass. ({1}) Zudem müssen auch Voraussetzungen zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit geprüft werden. Es findet ja keine Lotterie dazu statt, welches Kraftwerk als Erstes vom Netz geht. Das muss zur Strukturpolitik, aber vor allem zu den entsprechenden Strombedarfen in den Regionen passen. Durch einen verlässlichen Ausstiegstag wird letzten Endes gewährleistet, dass wir die Klimaschutzziele 2030 im Energiebereich einhalten. Das war auch die Maßgabe des Einsetzungsbeschlusses. Wir werden liefern und unserer Verantwortung gerecht werden. ({2}) Die AfD will im Gegensatz dazu die Aussetzung des Ausstiegs aus der Kohleverstromung. Im Sinne der Versorgungssicherheit brauchen wir natürlich Ersatz für die vom Netz gehenden Kapazitäten. Dieser kann nur in der Errichtung und Nutzung neuer Gaskraftwerke liegen. Es ist nicht so, dass es jetzt keine Alternative zur Kohle geben würde, aber wir brauchen – das sagt jede belastbare Studie – schnelle kaltstartfähige Gaskraftwerke, am besten übrigens dort, wo der Strom gebraucht wird, also im Süden der Republik. Diese Kraftwerke müssen natürlich schnell entstehen. Diese Gaskraftwerke können perspektivisch mit Power-to-X und mit Wasserstoffanteilen betrieben werden, passen also sehr gut ins Konzept der Energiewende insgesamt. Als Übergang ist Erdgas für die Versorgungssicherheit aber natürlich unerlässlich. Wir müssen darüber hinaus gewährleisten, dass unser Strommarkt die notwendigen Investitionen in Gaskraftwerke anreizt. Wenn wir feststellen, dass der Strommarkt das nicht gewährleistet, dann müssen wir entsprechend nachjustieren. Wir brauchen aus meiner Sicht eine gesetzliche Definition von Versorgungssicherheit. Übrigens steigen alle europäischen Länder weitestgehend aus der Kohleverstromung aus. Deswegen müssen wir auch auf europäischer Ebene das Thema der Versorgungssicherheit adressieren. Es ist eben schon ein Unterschied, Frau Baerbock, wenn man, wie dies viele Länder innerhalb der Europäischen Union tun, aus der Kohle aussteigt, aber eben nicht aus der Kernkraft. Deswegen stehen wir in Deutschland hier vor besonderen Herausforderungen. Diese können wir nicht negieren. Wir müssen aber vor allem national die Voraussetzungen dafür schaffen, dass das Thema der Versorgungssicherheit gesetzlich entsprechend definiert wird. Dadurch steigt die Planungssicherheit für Investitionen in Gaskraftwerke, und dies gibt die entsprechende Sicherheit. Als ich Ihre Anträge und den Gesetzentwurf las, also die der AfD und der Grünen, habe ich – das wird Ihnen nicht gefallen – eine Gemeinsamkeit festgestellt. Ich traue mich fast nicht, Ihnen das zu sagen, will es Ihnen aber auch nicht vorenthalten. Die Gemeinsamkeit liegt darin, dass beide den Menschen Angst machen, die einen mit Blackout-Horrorszenarien, die anderen mit Weltuntergangsszenarien aufgrund des Klimawandels. (Zuruf der Abg. Lisa Badum [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] Ich sage: Das Licht in Deutschland wird nicht ausgehen, und die Welt wird auch nicht untergehen. Wir brauchen keine Angst, sondern Zuversicht in die Zukunft, wir brauchen Technik und Innovation. Es fiel vorhin schon ein Zitat von Alexander Gerst. Er hat auch gesagt, wir seien die Spezies von Entdeckern. Das hat uns am Leben gehalten, und das wird uns am Leben halten. Gleichzeitig müssen wir natürlich Sorge für unseren Planeten, für unsere Erde tragen. Wir brauchen also eine verantwortliche Politik, die Probleme löst ({3}) und nicht Populismus betreibt. Deswegen lehnen wir Ihre Vorlagen ab. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Tino Chrupalla. ({0})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Die Haltung der AfD zum vorzeitigen Braunkohleausstieg ist bekannt, wir haben sie schon mehrfach hier im Plenum kundgetan: Wir sind dagegen. ({0}) Vor allem sind wir gegen einen ideologisch begründeten, überhasteten Ausstieg aus einer deutschen Schlüsselindustrie, die vielen Menschen zu Lohn und Brot verholfen hat. ({1}) Für die strukturschwachen Regionen im Osten wie meine Heimatregion, die Lausitz, ist dies der Todesstoß. Der Ausstieg aus der Braunkohle ist beschlossene Sache. Aber den Grünen geht es wieder einmal nicht schnell genug, weil ja sonst morgen die Welt untergeht. (Zuruf der Abg. Lisa Badum [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] Die Klimaritter sind sich nicht zu schade, Kinder für ihren Kreuzzug einzuspannen. Es grenzt wirklich fast an einen Glaubenskrieg, der hier von Ihnen geführt wird, und wir von der AfD sind die Ungläubigen. ({2}) Unserer Argumente will man sich lieber nicht annehmen. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, dass man uns am liebsten auf dem Scheiterhaufen verbrennen würde. ({3}) An Ihrem Gesetzentwurf fällt mir vor allem eines auf: die aufdringliche Wiederholung der Worte „Klimaschutz“ und „Klimakrise“. Wiederholung ist ja die beste Propaganda, sagt man. ({4}) Ich kenne das noch aus meiner Jugend aus der FDJ, sehr wohl. Das ist übrigens eine der wenigen Gemeinsamkeiten zwischen mir und der Kanzlerin. ({5}) Das sind genau die ideologischen Grundpfeiler dieses Gesetzentwurfs: Klimaschutz und Klimakrise. Liebe Kollegen, wir haben es hier mit Dogmen zu tun. Diese werden uns eingehämmert und so oft wiederholt, bis wir nicht mehr klar denken können. ({6}) Vor unserem geistigen Auge geht die Welt unter, weil Deutschland immer noch Braunkohle abbaut. Das sind bekannte Methoden der Suggestion und der Psychomanipulation, die Sie hier anwenden. ({7}) Vielleicht ist Ihnen das nicht einmal bewusst. Sie meinen es vielleicht sogar gut; das will ich Ihnen gar nicht absprechen. Aber ich würde mir wünschen, dass Sie den Grad Ihrer Verblendung endlich erkennen. ({8}) Ich habe nichts gegen Idealismus, Ökologie und ganzheitliches Denken. Das sind gute deutsche Traditionen, zu denen wir uns auch bekennen. Aber die Grünen haben es geschafft, diese schönen Traditionen ad absurdum zu führen. ({9}) Abgesehen davon kritisieren wir die Tatsache, dass man Steuermittel in Milliardenhöhe ausgibt, um alte, gewachsene Strukturen zu zerstören. Bewährte deutsche Schlüsselindustrien werden systematisch abgewickelt – mit deutschen Steuergeldern. Wiederum mithilfe von Steuergeldern sollen neue Industriezweige aufgebaut werden, von denen keiner weiß, ob sie uns wirklich den Segen bringen, der uns versprochen wird. Das hat Herr Altmaier in seiner sogenannten „Nationalen Industriestrategie“ gestern hier im Plenum angekündigt; ich würde das aber eher antinationale Industriestrategie nennen. Jetzt verstehe ich auch, weshalb die CDU mit den Grünen koalieren will. Herr Lämmel, das haben Sie in Ihrer Rede eindrucksvoll geschildert, Sie werden mit diesen Kollegen in Sachsen koalieren müssen, weil Sie sonst keine Mehrheit haben. Sie können sich im Prinzip gleich hinübersetzen; ({10}) denn Sie haben genau die gleichen Ziele. Für mögliche Umweltschäden durch digitale Technologien interessiert sich hier offenbar niemand. Wenn Sie glauben, dass das die Bürger nicht merken, haben Sie sich getäuscht. Vielen herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Timon Gremmels. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, dass wir das Thema Kohleausstieg nicht losgelöst von der gesamten energiepolitischen Debatte sehen dürfen. Frau Baerbock, Sie haben als Beispiele für Länder, die beim Kohleausstieg weiter sind als wir, Frankreich, Großbritannien und Belgien genannt. Das sind Länder, die auf Atomkraft setzen. Der große Unterschied ist: Wir steigen nicht nur aus der Kohle aus. Ich möchte daran erinnern, dass wir bis 2022 auch noch aus der Atomkraft aussteigen. Das ist der große Unterschied zu vielen anderen europäischen Ländern. ({0}) Es ist gut, dass wir aus beiden Technologien aussteigen; denn es sind rückwärtsgewandte Technologien. Wir müssen Richtung Zukunft schauen. Aber wir müssen das gemeinschaftlich mit den Beschäftigten und mit den Regionen machen. Der Vorteil des Kohlekonsenses der Strukturwandelkommission, deren Einsetzung übrigens die SPD in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt hat, ist, ({1}) dass wir einen gesellschaftlichen Mehrwert haben wollten, dass wir einen gesellschaftlichen Rückhalt haben wollten. Wir haben die Menschen, die Beschäftigten, die Gewerkschaften, die Umweltverbände und die Energiewirtschaft mitgenommen. Wir haben sie an einen Tisch geholt und gesagt: Lasst uns gemeinsam diese historische und schwierige Aufgabe für Deutschland auf den Weg bringen. – Deswegen sind wir stolz darauf, dass dieser Konsens nahezu einstimmig angenommen worden ist: 27 von 28 Mitgliedern haben zugestimmt. Dieser Konsens besteht aus zwei Teilen. Er besteht zum einen aus einem geplanten Strukturstärkungsgesetz und zum anderen aus einem geplanten Kohleausstiegsgesetz. Er besteht aus beiden Teilen. Die Grünen, Frau Baerbock, haben sich auf eine Frage konzentriert. Das kann man als Grüne machen, aber wir als Sozialdemokratie haben eine andere Aufgabe. Ich glaube, dass wir die schwierigere Aufgabe haben, weil wir das mit den Beschäftigten, mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, gemeinsam machen wollen; denn nur so gibt es Akzeptanz. ({2}) Wir müssen alle Aspekte dieses Konsenses berücksichtigen. Übrigens steht dort nicht, dass der Kohleausstieg auf jeden Fall erst 2038 erfolgt, sondern dort steht, dass der Ausstieg auf 2035 vorgezogen werden kann. Dort steht auch, dass als Sofortmaßnahme bis 2022 eine Abschaltung von 12,5 GW Kohlekraftwerke – das entspricht rund 20 Kraftwerksblöcken – umgesetzt werden kann. Das ist fast ein Drittel der heutigen Leistung. ({3}) Auch das müssen wir all denen sagen, die meinen, dass das erst 2038 der Fall sein wird. Wir brauchen aber auch Strukturwandel. Wir brauchen Hilfen für die Beschäftigten im Kohlebergbau. Wir brauchen einen Ausgleich für die Strompreise und eine Zukunft für die Menschen, die im Tagebau beschäftigt sind. Wir brauchen auch Versorgungssicherheit. Deswegen gilt es jetzt, zeitnah, aber ohne Hetze diesen Konsens, den wir gefunden haben, eins zu eins umzusetzen. ({4}) Frau Badum, Sie haben gestern der dpa gesagt: Wer nur über Gelder für die betroffene Region spricht, der wird keine einzige Tonne CO 2 einsparen. – Ich finde das, ehrlich gesagt, ein bisschen zynisch, weil wir es mit den Beschäftigten machen müssen. ({5}) Das sind zwei Seiten einer Medaille: Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit gehören für die Sozialdemokratie zusammen. Wir wollen Betroffene zu Beteiligten machen, mit den Menschen in den Braunkohleregionen zusammen in Richtung Zukunft gehen und dafür sorgen, dass die Menschen, die dort beschäftigt sind, zukünftig gute Arbeitsplätze haben, die tarifgebunden sind. Darauf müssen wir uns konzentrieren; denn wir wollen eben nicht, dass die Rattenfänger von der rechten Seite die Menschen verblenden. ({6}) Wir wollen sie mitnehmen. Wir gehen den schwierigeren Weg; wir gehen ihn aber konsequent. Die SPD ist schon seit spätestens 1986 die Partei des sozialökologischen Umbaus. Daran arbeiten wir gemeinsam mit all denjenigen, die uns begleiten. Danke schön. (Beifall bei der SPD – Dr. Martin Neumann [FDP]: Dann machen Sie es auch!

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner: Thomas Kemmerich, FDP-Fraktion. ({0})

Thomas L. Kemmerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004775, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer und Zuhörer! Für uns Freie Demokraten ist beim Klimaschutz nicht das Ob, sondern das Wie entscheidend. Schauen wir einmal auf das Wie des vorliegenden Gesetzentwurfes und des vorliegenden Antrags. In ihrem Gesetzentwurf fordern die Grünen einen Ausstieg aus der Braunkohleerzeugung – nicht aus der Nutzung – bis 2022. Der Atomstrom wird weg sein. Gegen Windenergie demonstrieren Sie inzwischen auch. Der Antrag der AfD ist ein pures Weiter-so. Sie präsentieren beide keinen vernünftigen Ansatz für eine klug gemachte Klimawende, die nicht nur funktioniert, sondern auch langfristig das Klima schont und der deutschen Volkswirtschaft nicht schadet. ({0}) Ich glaube, es ist ausreichend erwähnt worden, dass der Gesetzentwurf und der Antrag keinen Plan dafür enthalten, wie mit den betroffenen Regionen umzugehen ist, weder der Gesetzentwurf, der die sofortige Abschaltung vorsieht, noch der Antrag mit diesem Weiter-so. Wir können nicht leugnen, dass ein Veränderungsprozess stattfinden wird. Auch da brauchen wir kluge und langfristige Antworten. ({1}) Wenn wir nicht ausreichend Energie erzeugen können, werden wir weiterhin Atomstrom aus Frankreich beziehen und Kohlestrom aus Polen. ({2}) Das ist weder klimaschonend noch sozial verträglich; denn wir haben schon jetzt die höchsten Energiekosten in Europa. Schauen wir auf das Wie der Freien Demokraten. Wir glauben, dass Deutschland mit seinen Innovationen und Erfindungen großes Potenzial hat, klimafreundliche Energieerzeugung für die Zukunft zu sichern.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hilse?

Thomas L. Kemmerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004775, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne nach der Rede. – Dafür benötigen wir keinen hektischen Aktionismus der Bundesregierung und keine auf Panik- oder Angstmache basierenden weiteren Anträge. ({0}) Wir brauchen einen Masterplan für die Energiewende, die auf marktwirtschaftliche Anreize und Wettbewerb setzt. ({1}) Wir wollen – bitte zuhören; Zuhören erhellt – keine staatlichen Umverteilungsmechanismen à la CO 2 -Steuer. Wir wollen Anreize und marktwirtschaftliche Instrumente wie eine Weiterentwicklung des CO 2 -Zertifikatehandels über alle Sektoren, und das europaweit. ({2}) Wir wollen eines – an diese Kraft glauben wir –: Wir wollen Innovationsanreize für den Mittelstand, zum Beispiel Vernetzung per Blockchain-Technologie von Solaranlagen. Wir brauchen Power-to-X-Konzepte. Auch wenn sie heute noch wenig effizient sind, sind sie effektiver, als für stillgelegte und stillstehende Windräder Entschädigung zu zahlen. ({3}) Diese neuen Ideen entwickeln nicht wir Politiker, sondern unsere Naturwissenschaftler und Ingenieure. Deshalb brauchen wir zielgerichtete Investitionen in unsere Forschungszentren und Universitäten in diesen Sektoren. Das ist allemal besser, liebe Bundesregierung, als eine milliardenschwere Strafe für die Nichterzielung der Klimaziele zu riskieren. Wir als Bundesrepublik können die Poleposition im Klimaschutz einnehmen, aber wir können nicht alleine die Welt retten. Klimaschutz geht nur europäisch und global. Deshalb sollten wir als Politik Ziele definieren und die Umsetzung den Leuten überlassen, die über das technische Know-how verfügen. Wir setzen uns für einen ordnungspolitischen Rahmen ein, der vor allen Dingen dem Mittelstand ermöglicht, innovative Ideen, emissionsarme Energieerzeugung und energieeffiziente Produktionen zu entwickeln. So kann der deutsche Mittelstand zum Hidden Champion des Klimaschutzes werden und weltweit einen Beitrag für Wohlstand und Umwelt leisten. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Lisa Badum hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Lisa Badum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004659, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sie wissen vielleicht, dass wir Grüne nicht über alle Zahlen im Abschlussbericht der Kohlekommission begeistert waren. Aber wir haben das Bemühen, durch einen Konsens zu einem Ergebnis zu kommen, wirklich anerkannt. Dieses Bemühen scheint momentan im absoluten Stillstand zu versanden. Das merkt man, wenn man sich hier die Reden anhört. Was genau ist seit Ende Januar, seit dieser Bericht übermittelt wurde, passiert? Mitte März soll es ja ein Treffen mit RWE gegeben haben. RWE-Chef Schmitz sagte dazu, es wäre ein erstes Kennenlernen gewesen. Die Zeit läuft uns davon, und Sie spielen Blind Date mit RWE. Ernsthaft? ({0}) Es ist für mich ein bisschen schwierig, das zu verstehen, wobei ich versuche, es nachzuvollziehen. Bald sind Landtagswahlen. Sie denken, die Wählerinnen und Wähler könnten erschrecken, wenn sich etwas tut. Genau so ist Ihre Kohlepolitik. Sie haben sie aus Verzagtheit vor den Populisten schon seit Monaten auf Eis gelegt. Sie machen aus Angst kurzatmig Politik. Aber die Menschen in den Kohleregionen haben ebenso wie die Unternehmen ein Recht auf Planungssicherheit und übrigens, lieber Timon Gremmels, auch ein Recht auf Klimaschutz. Es ist falsch, das gegeneinander auszuspielen. ({1}) Das ist absolut falsch, und ihr macht es immer wieder. Das Fatale daran ist: Wenn Angst Ideen und Entscheidungen blockiert, führt das zu einem politischen Vakuum. Das ist der beste Nährboden für Populismus. Damit erzeugen Sie genau das, was Sie fürchten. Das ist das Schlimme an Ihrem Handeln. Sie könnten es anders machen, weil wir Ihre Verbündeten für den Kohleausstieg und eine zukunftsfähige Politik sind. Wir sind Ihre Verbündeten für mehr Mut in der Politik. Die Umweltbewegung auf der Straße wird täglich größer. Ich habe Ihnen heute wieder 114 000 Unterschriften für den Erhalt des Hambacher Waldes, für den Erhalt der Dörfer mitgebracht. ({2}) Es gibt nicht nur Fridays for Future, sondern auch Scientists for Future. RWE-kritische Aktionäre haben Vertretern von Fridays for Future ihre Redezeit auf der Aktionärsversammlung gegeben. Wir haben heute in Sibiu einen europäischen Gipfel, auf dem unsere Nachbarländer ehrgeizigere Klimaziele fordern. Das richtet sich hauptsächlich in unsere, in die deutsche Richtung. Es gibt keine Lobby mehr für den Status quo, ({3}) und wir ziehen die Konsequenzen daraus. Wir greifen das Ergebnis Ihrer Kommission auf, Herr Lämmel. Was wir hier vorliegen haben, ist der Kommissionsbericht, kein grüner Gesetzentwurf, sondern der Kommissionsbericht. ({4}) Es gibt also diesen Kommissionsbericht. Es gibt einen Gesetzentwurf. Was fehlt Ihnen denn eigentlich? Im Prinzip ist das Malen nach Zahlen. Sie können das jetzt machen. Ich bitte Sie: Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu, und malen Sie endlich ein Bild für unser aller Zukunft. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner: Dr. Klaus-Peter Schulze, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der letzten Nacht, als die Kohlekommission am Abschlussbericht gefeilt hat, ist es gelungen, einen wichtigen Satz zum Thema „Wasserhaushalt in den Kohlerevieren“ einzubringen. Ich bin sehr froh, dass sich meine Bemühungen gelohnt haben und das jetzt schriftlich fixiert ist. Wir haben hier viel zur Versorgungssicherheit, zu den Preisen, zum Strukturwandel, zur Arbeit und zu den Arbeitnehmern in den Revieren gehört. Aber zum Thema „Umweltschutz im Bereich Wasserwirtschaft“ wurde noch nichts geäußert. Wenn ich mir den Gesetzentwurf der Grünen anschaue, erscheint das Wort an keiner Stelle, weder im Gesetzestext noch in der Begründung. Das ist aus meiner Sicht ein gravierender Fehler. Ich habe bereits am 29. November letzten Jahres und am 31. Januar dieses Jahres auf diese Punkte hingewiesen, aber offensichtlich ist das nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Deshalb möchte ich darauf jetzt ein drittes Mal eingehen, mit einem anderen Beispiel; denn Wiederholung soll ein gutes pädagogisches Mittel sein, damit sich der eine oder andere etwas merkt. ({0}) In meinen letzten Reden bin ich auf die Mengen eingegangen. Heute möchte ich etwas zur Qualität sagen. Wenn es uns nicht gelingt, den Ausstieg so zu organisieren, dass die Restlöcher zeitiger geflutet sind als der Kippenkörper mit dem aufsteigenden Grundwasser, passiert das, was wir zurzeit im Praxistest an der sächsisch-brandenburgischen Grenze beobachten können: Wir bekommen eine Verockerung der Oberflächengewässer. Die Qualität wird durch das Eisenoxid, das aus der Pyritverwitterung kommt – das will ich hier im Einzelnen nicht erklären, könnte es aber –, stark beeinflusst. Durch das Eisenoxid werden die aquatischen Ökosysteme zerstört. Im Ergebnis – das kann man genau beobachten, wenn man sich so ein Gewässer anschaut – werden die dort vorhandenen Pflanzenreste nicht mehr abgebaut, sondern nur anaerob. Das hat zur Folge, dass neben CO 2 große Mengen Methan frei werden.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von einem Kollegen der AfD?

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Schulze, ich nehme an, dass Sie das aus Zeitgründen nicht erklären können. Ich würde Sie bitten, das dennoch zu erklären. Ich bin nämlich sehr interessiert daran. Vielen Dank. ({0})

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Was soll ich Ihnen erklären?

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das mit dem Eisenoxid.

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben in den tertiären Kippen Eisensulfid, also Pyrit. Dieses wurde durch den Tagebau belüftet. Anschließend kommt zwar wieder eine Deckschicht darauf. Aber die Belüftung hat dazu geführt, dass sich das Eisenpyrit, wenn es mit Wasser in Kontakt kommt, über mehrere Schritte in Eisensulfat und Eisenoxid umwandelt. Das Eisenoxid ist dann ab einer Konzentration von über 3 Milligramm als Ocker im Gewässer sichtbar. ({0}) Die Folgen sind, dass wir erhebliche Aufwendungen betreiben müssen, um diese Eisenoxidbelastung zu beseitigen. Mit Kollegen aus der Lausitz haben wir in der letzten Legislaturperiode gemeinsam unseren damaligen Finanzstaatssekretär überzeugen müssen, dass dies nicht Ländersache, sondern Bundessache ist, weil diese Belastung durch das Ausfahren der Tagebaue in den 90er-Jahren entstanden ist. Das kostet uns in dieser Periode des Verwaltungsabkommens zwischen 75 und 100 Millionen Euro. Das ist nur ein ganz kleiner Hotspot. Wenn wir das flächendeckend durchführen, entstehen solche Hotspots an vielen Stellen, und werden Folgekosten haben, die weit über das Jahr 2038 hinausgehen. Diese müssen wir dann sicherlich aus dem Bundeshaushalt finanzieren. Das kann man meiner Meinung nach bei der gesamten Debatte nicht ausblenden. ({1}) Wir hatten am vergangenen Wochenende eine Veranstaltung von der CDU Brandenburg. Dort gab es einen Antrag der Schülerunion, in dem es hieß: Wir wollen bis 2030 aus der Braunkohle aussteigen. ({2}) In der Debatte, die wir dort geführt haben, habe ich diese Zusammenhänge etwas weiter, als ich hier Zeit habe, ausgeführt. Hinterher sind einige zu mir gekommen, haben sich bedankt und gesagt: Endlich erklärt uns einer die komplexen Zusammenhänge. Jetzt sehen wir das eine oder andere etwas anders als bisher. ({3}) Vielleicht gelingt es auch heute mit meinem kleinen Beitrag, dass man weiter darüber nachdenkt. Wir sollten uns überlegen, wie wir das Thema insgesamt angehen; denn Umweltschutz ist nicht nur Klimaschutz. Zum Umweltschutz gehören auch der Wasserhaushalt und andere Dinge, über die wir morgen in der Aktuellen Stunde hier noch debattieren werden. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schulze. – Die Kollegin Dr. Nina Scheer ist die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt. ({0})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist es höchste Eile, dass die Klimaschutzmaßnahmen, die als Zielvorgaben auf dem Tisch liegen, endlich umgesetzt werden. Da sind wir uns sowohl in der Koalition, wie ich trotz der Wortmeldung von Herrn Lämmel unterstellen möchte, als auch alle zusammen einig. Das ist letztendlich auch die Handschrift des grünen Gesetzentwurfs, der uns heute vorliegt. Es ist allerdings etwas irritierend, wenn in dem Gesetzentwurf der Grünen zum einen aus dem Bericht der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ zitiert wird, zum anderen aber unterstellt wird, dass dieser Bericht, aus dem Sie das Zitat übernommen haben, nichts mit dem Prozess zu tun habe, der hier stattfindet. ({0}) Insofern ist auch nicht ganz korrekt, Frau Baerbock, dass Sie erklärt haben, Anknüpfungspunkt für diesen Gesetzentwurf sei für Sie die Einsetzung der Kommission im letzten Jahr gewesen. Von der Einsetzung der Kommission bis heute hat aber einiges stattgefunden. Die Kommission hat Anfang des Jahres den Bericht vorgelegt. Daraus haben Sie zitiert. Es wäre Ihnen ja gar nicht möglich gewesen, daraus zu zitieren, wenn Sie dieses Ergebnis nicht abgewartet hätten. Danach wurde ein Klimakabinett eingesetzt, und in der Tat arbeitet das Klimakabinett. ({1}) Ich möchte hier nichts verteidigen, wenn ich kurz auf die Äußerung von Herrn Lämmel eingehe. Aber, Herr Lämmel, ich fand es schon rätselhaft, wieso auf einmal Angriffe in Richtung SPD gefahren werden und uns Ratschläge gegeben werden, wie wir mit unserem Juso-Vorsitzenden umzugehen hätten. Man denkt sich dann schon: Soll hier möglicherweise davon abgelenkt werden, dass Herr Altmaier im Zuge der Klimaschutzberatungen natürlich in der Pflicht ist, zu liefern? Wir als SPD erwarten, dass sich die Ergebnisse, die die Kommission vorgelegt hat, klipp und klar in den Sektorzielen und den Sektorkonzepten wiederfinden. ({2}) Nichtsdestotrotz ist der Gesetzentwurf der Grünen zum Klimaschutz, auch Sofortprogramm genannt, im Grunde genommen eine Bestätigung des Prozesses. Er nimmt wortwörtlich auf, was die Kommissionsergebnisse bedeuten. Es ist aber auch zu erwähnen, dass dies zwar als Gesetzentwurf gekennzeichnet ist, aber letztendlich erwartet wird, dass die Bundesregierung ein Sofortprogramm macht. Vom Wording her ist es ein Gesetzentwurf – okay, das habe ich gelesen –, aber es ist ein Sofortprogramm, das bis 2022 zu wirken hat. Ich finde, man sollte nicht den Eindruck erwecken, als ob das Handeln der Bundesregierung plus das Klimaschutzgesetz, das im Bundestag noch in diesem Jahr verabschiedet werden wird, dem hinterherhinkt, was Sie jetzt vorlegen. Es darf nicht passieren, dass es hinterherhinkt; wir haben auch die Pflicht, alles zu tun, damit es nicht hinterherhinken wird. Aber es ist nicht so, dass mit Ihrem Klimaschutzgesetz zwingend ein schnellerer Zeitplan verfolgt wird. ({3}) Da wir hier ja auch den AfD-Antrag zu behandeln haben, will ich die letzte halbe Minute meiner Redezeit darauf verwenden und aufgreifen, dass Sie eingestanden haben, nicht mehr klar denken zu können. Dass das zutrifft, zeigt sich auch in dem Antrag, der hier vorliegt. Sie unterstellen, dass mit der Braunkohle auch in den Dunkelflauten die Fluktuationen auszugleichen sind und die Stabilität der Versorgungssicherheit zu gewährleisten ist. Das ist Nonsens, das ist Quatsch; das ist auch betriebswirtschaftlich und wirtschaftlich nicht haltbar. Wir müssen Versorgungssicherheit für 8 760 Betriebsstunden gewährleisten. Der wirtschaftliche Betrieb von Braunkohlekraftwerken liegt bei 6 000 bis 6 500 Betriebsstunden. Zurzeit sind sie mit 7 000 bis 7 400 Betriebsstunden in Betrieb. Wenn wir zweimal im Jahr 336 Stunden an Dunkelflauten unterstellen, wären das die Zeiträume, mit denen Sie über die Braunkohle eine Versorgungssicherheit wirtschaftlich gewährleisten wollen. Es ist rein wirtschaftlich – da haben wir die Klimapolitik außen vor gelassen – absolut unvorstellbar, das zu leisten. ({4}) In der Merit-Order läuft es derzeit so, dass die Bundesnetzagentur sich gezwungen sieht, 7 Gigawatt Gaskraftwerke abzuschalten. Auch das gilt es zu verhindern.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Ende. – Ich möchte anhand dieser Zahlen nur darauf hingewiesen haben, dass die AfD in der Tat nicht mehr klar denken kann. ({0}) Ich hoffe, das ist mir gelungen. In diesem Sinne: Für einen guten Klimaschutz. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/9920, 19/9963 und 19/9953 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 o sowie die Zusatzpunkte 9 a bis 9 i auf. Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestagspräsident hat es gerade gesagt: Wir haben heute über die letzte von insgesamt fünf Beschlussempfehlungen des Wahlprüfungsausschusses zu Einsprüchen gegen die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag zu entscheiden. Es ist sozusagen das abschließende Paket der Wahleinsprüche zur Bundestagswahl 2017, über die der Wahlprüfungsausschuss zu entscheiden hatte. Das Prüfungsverfahren des Deutschen Bundestags ist damit, wenn wir heute darüber beschließen, abgeschlossen. Die Wahlprüfung ist nicht nur in Artikel 41 des Grundgesetzes vorgesehen. Sie ist auch für das Vertrauen in die demokratische Legitimation dieses Hauses von besonderer Wichtigkeit. Wir haben in den letzten Wochen von den großen Wahlen in Indien mit 900 Millionen und in Indonesien mit 193 Millionen Wahlberechtigten gehört. Im Vergleich dazu ist die Wahl zum Deutschen Bundestag natürlich von moderatem Ausmaß. Gleichwohl kann auch die Wahl zum Deutschen Bundestag als Massenverfahren – wenn man das einmal so bezeichnen darf – benannt werden: Über 61 Millionen Deutsche waren wahlberechtigt. In ungefähr 90 000 Stimmbezirken wurden Stimmen abgegeben, und mehr als 650 000 Wahlhelferinnen und Wahlhelfer waren an der Durchführung der Wahl beteiligt. An dieser Stelle ist es, glaube ich, angebracht, den engagierten Wahlhelferinnen und Wahlhelfern ganz herzlich zu danken, die eine hochprofessionelle Durchführung der Wahl ermöglicht haben. ({0}) Trotzdem können natürlich Fehler passieren. Deshalb ist es gut und richtig, dass die Wahlberechtigten hiergegen in einem gesetzlich klar geregelten Verfahren Einspruch erheben können. Auch der Gang zum Bundesverfassungsgericht, so sieht es Artikel 41 des Grundgesetzes vor, ist als Rechtsmittel möglich. Für die Akzeptanz unserer Wahlen und damit für das Vertrauen in unsere Demokratie und den Rechtsstaat ist das Wahlprüfungsverfahren ganz wesentlich. Daher hat sich der Wahlprüfungsausschuss auch sehr intensiv und gründlich mit allen Wahlrechtseinsprüchen beschäftigt. 275 Einsprüche wurden gegen die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag eingereicht. Der Wahlprüfungsausschuss hat in fast allen Fällen empfohlen, diese zurückzuweisen. Der Grund dafür ist, dass ein Wahleinspruch nur Erfolg haben kann, wenn er erstens einen Wahlfehler feststellt und zweitens dieser für die Verteilung der Mandate relevant war oder relevant sein könnte. Das sind sehr hohe Hürden. Der Ausschuss ist allen behaupteten Verstößen gegen Wahlrechtsvorschriften gründlich nachgegangen. Er hat, wo erforderlich, Stellungnahmen der zuständigen Landes- oder Kreiswahlleiter eingeholt, sich mit dem Bundesinnenministerium in Verbindung gesetzt und teilweise Hinweise zu Verfahren geäußert, selbst wenn die aufgedeckten Mängel nach unseren Maßstäben im Ergebnis nicht durchgreifen konnten. Da wurde zum Beispiel in einem Fall bei der Auszählung der Stimmen versehentlich die Tür zum Wahllokal geschlossen. Wir alle wissen, dass die Auszählung der Stimmen öffentlich zu erfolgen hat. In einem anderen Fall konnte ein Wahlberechtigter, der im Rollstuhl saß, die Schwelle am Eingang des Wahllokals nicht überwinden. Zum Glück fanden sich tatkräftige Helfer, mit deren Hilfe er dieses Hindernis überwinden konnte. Bei all solchen Verstößen setzen wir uns mit den zuständigen Stellen auseinander. Wir bitten, die Rechtslage zur Kenntnis zu nehmen, und weisen die entsprechenden Wahllokale und Wahlvorstände darauf hin, die Rechtslage einzuhalten und die Mängel abzustellen. Wir gehen davon aus, dass derartige Mängel dann nicht wieder vorkommen. Zudem hat der Ausschuss zum ersten Mal in wenigen Fällen die Verletzung des subjektiven Wahlrechts festgestellt. Diese Möglichkeit ist seit 2013 rechtlich vorgesehen. So hatten in einem Fall Wahlberechtigte Briefwahl und damit einen Wahlschein beantragt. Ohne die Briefwahlunterlagen zu nutzen, sind sie dann am Wahltag mit dem Wahlschein im Wahllokal erschienen. Dort wurden sie zurückgewiesen. Rechtlich ist es aber selbstverständlich möglich, mit dem Wahlschein auch unmittelbar im Wahllokal zu wählen. Diese selten genutzte Möglichkeit war den Wahlhelfern vor Ort anscheinend nicht bewusst. Die Wahlberechtigten wurden somit zu Unrecht zurückgewiesen. Ihre einzelne Stimme hatte jedoch im Ergebnis keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des 19. Deutschen Bundestages. Auch hier haben wir eine subjektive Verletzung des Wahlrechts festgestellt. Hinweise an die Wahlhelfer sind erfolgt. Dies sei nur ein Beispiel, es zeigt aber sehr gut, wie wir im Wahlprüfungsausschuss arbeiten und dadurch auch immer wieder zur Verbesserung der Wahl und zur Akzeptanz von Wahlen beitragen. Dies erfolgt im Wahlprüfungsausschuss bisher überwiegend einstimmig, bei hohem Engagement der Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen. Ich würde mir wünschen, dass ein so hoher Anspruch an die Wahlprüfung auch an anderen Stellen gepflegt würde. Wenn man auf die Annullierung der Bürgermeisterwahl in Istanbul schaut, dann sieht man, dass dort viele Fragen hinsichtlich eines ordentlichen Wahlprüfungsverfahrens offen sind. ({1}) Meine Damen und Herren, nun zu den inhaltlichen Schwerpunkten unserer Wahlprüfung. Ich möchte bei der Vielzahl der Fälle nur auf drei Gruppen bzw. Aspekte eingehen, die für den Wahlprüfungsausschuss von besonderer Bedeutung waren. Fast 80 Einsprüche richteten sich dagegen, dass der Deutsche Bundestag mit 709 Abgeordneten schlicht zu groß sei. Das spiegelt sich auch in der Stimmung der Bevölkerung wider. Da der Bundestag im Wahlprüfungsverfahren allein über die ordnungsgemäße Anwendung des Wahlrechts befindet, haben wir auch dies natürlich geprüft. Ich kann Sie beruhigen: Die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages mit 709 Abgeordneten ist rechtmäßig; sie entspricht dem Wahlrecht. Die Verfassungsgemäßheit des geltenden Wahlrechts, an der der Wahlprüfungsausschuss übrigens keine Zweifel hegt, ist aber allein Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht hat durch seine Entscheidung an der Größe des Deutschen Bundestages natürlich maßgeblichen Anteil gehabt. Das muss man eben auch sagen. Der Wahlprüfungsausschuss hat sich intensiv mit Fragen des Zugangs aller Wahlberechtigten zur Wahl auseinandergesetzt. Die formalen Anforderungen an die Wahlberechtigung und den Zugang zur Wahl sind zwar klar geregelt, praktisch ist der Zugang aber immer wieder schwierig. Das gilt zum Beispiel für Menschen ohne festen Wohnsitz. Das gilt auch für Menschen, die in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und – darauf haben wir immer wieder hingewiesen – auf barrierefreie Wahllokale angewiesen sind. Und das gilt zum Beispiel für Menschen, die in Justizvollzugsanstalten eine Haft verbüßen. Ein Ergebnis dieser Wahlprüfung ist, dass auf diese Personengruppen besonderes Augenmerk gelegt werden muss. Information und Begleitung sind hierbei wichtig. Dadurch kann man den Zugang zur Wahl und die Möglichkeit zur Teilnahme an der Wahl deutlich verbessern. Dafür setzen wir uns ein. Schließlich hatte der Wahlprüfungsausschuss auch Einsprüche vorliegen, die – erneut – die Frage der Verfassungsgemäßheit des Wahlrechtsausschlusses von Vollbetreuten und in psychiatrischen Krankenhäusern Untergebrachten betraf. Hier wurde vereinbart, zunächst die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in dem damals noch anhängigen Verfahren abzuwarten. Mit der heutigen Beschlussempfehlung kann dies nun im Einklang mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom Januar entschieden werden. Wir schlagen vor, bei den betroffenen Einspruchsführern, die nicht an der Wahl teilnehmen konnten, eine subjektive Rechtsverletzung festzustellen. Die Gültigkeit der Bundestagswahl wird hierdurch jedoch nicht infrage gestellt. An zukünftigen Wahlen können die betroffenen Personen teilnehmen. Die Änderungen im Bundeswahlgesetz, der Bundeswahlordnung, auch im Europawahlgesetz und der Europawahlordnung sind auf dem Weg. Wir schließen heute die Wahlprüfung der Bundestagswahl 2017 ab. Die nächste Wahl, die Europawahl, steht schon vor der Tür. Auch hier hat der Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages über die Einsprüche – die deutschen Einsprüche gegen die Europawahl – zu entscheiden. Ich gehe davon aus, dass wir auch die kommenden Einsprüche in der äußerst sachlichen, kollegialen und freundlichen Atmosphäre beraten werden, die bisher bei den Beratungen in diesem Ausschuss geherrscht hat. An dieser Stelle möchte ich den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen ganz herzlich für die kollegiale und konstruktive Zusammenarbeit danken. Ich bedanke mich aber auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Wahlprüfungsausschusses, die uns ganz tatkräftig unterstützt haben. ({2}) Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zuzustimmen. Danke schön für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Professor Sensburg. – Auch ich darf mich herzlich für die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen im Wahlprüfungsausschuss bedanken. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung. In seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/9450 empfiehlt der Ausschuss, die aus den Anlagen ersichtlichen Beschlussempfehlungen zu den Wahleinsprüchen anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind alle Fraktionen. Gegenprobe! – Enthaltungen? – Keine. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 30 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 5/18 Drucksache 19/9974 Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, zu dem Organstreitverfahren 2 BvE 5/18 vor dem Bundesverfassungsgericht eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist die Beschlussempfehlung bei Enthaltung der Fraktionen der Grünen und der AfD und Zustimmung der Fraktionen der FDP, CDU/CSU, SPD und Die Linke angenommen.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Abgeordnete! Der Grund, warum wir heute diese Aktuelle Stunde verlangt haben, ist die Sorge um unser Land und um das Wohl unserer Bürger. Wir möchten, dass wir in unserem Land gemeinsam in Frieden und Wohlstand leben. Die Politik der Bundesregierung und der vermeintlichen Oppositionsparteien hat dieses Ziel nicht. Sie schafft Spaltung, Konfusion und Armut. Die Idee einer CO 2 -Steuer zeigt, wie weit die Abgeordneten der Union, der FDP und der ganze andere unappetitliche Rest sich von diesem Ziel entfernt haben. Ihre Version eines menschengemachten Klimawandels ist eine Mär: die moderne Version von Fegefeuer und ewiger Verdammnis. Ihre Politik, meine Damen und Herren Konsenspolitiker, ist die aktualisierte Version des alten Bündnisses aus Feudalherren und Pfaffen: Halt du sie dumm, ich mach sie arm. ({0}) Die Rolle der Pfaffen übernimmt dabei die Klimasekte; für das Armmachen zeichnen Sie, meine Damen und Herren Konsenspolitiker, verantwortlich. Ihre sogenannte CO 2 -Steuer ist de facto nichts anderes als eine Alles-Steuer. Es gibt kein Produkt, kein Nahrungsmittel, einfach nichts, das nicht in irgendeiner Form CO 2 -behaftet ist. ({1}) Liebe Zuschauer auf der Tribüne, es wird durch diese Steuer alles teurer werden. CO 2 , also Kohlendioxid, ist der Grundstoff allen pflanzlichen Lebens auf diesem Planeten. Diese Art der Photosynthese, die Absorption von Kohlendioxid bei Freisetzung von Sauerstoff, ist über 2 Milliarden Jahre alt. Aus diesen Prozessen entstehen die Kohlehydrate, die wir alle, Sie und ich, zum Leben brauchen. Nun will uns eine Regierungsfraktion mit ihren Plänen zu einer CO 2 -Steuer beglücken, also einer Steuer auf jedes Gramm freigesetztem CO 2 , egal bei welchem Prozess, bei welcher Dienstleistung es entsteht. Das ist eine Steuer, der keiner entkommen kann und die willkürlich darüber bestimmt, was Sie, liebe Steuerzahler auf der Tribüne und am Fernseher, sich noch leisten können und was nicht. ({2}) Das, was uns heute als neue Erfindung verkauft werden soll, gibt es bereits. Kohle, Benzin, Gas usw. und damit Energie im Allgemeinen wird bereits mit der Energie- und der Stromsteuer, wohlfeil Ökosteuer genannt, so teuer gemacht wie in fast keinem anderen Land dieser Welt. Wir reden also nicht über ein neues Instrument zur Steuerung des Verbrauchs von Energieträgern, sondern nur über ein weiteres Folterwerkzeug aus dem sozialistischen Enteignungskeller. ({3}) Wenn Sie also nun eine weitere Steuer auf das Gleiche fordern, stellen Sie damit lediglich die Unzulänglichkeit Ihrer bisherigen Bemühungen fest. Was Sie damit aber eigentlich bezwecken, ist klar: Der deutsche Steuerzahler soll weiter gemolken werden. Treffen wird diese Steuer diejenigen, die schon heute unter den Härten der Steuerlast in Deutschland ächzen, die Geringverdiener. Diese Steuer wird es für Otto Normalbürger unmöglich machen, sich mit seiner eigenen Hände Arbeit eine Zukunft, Wohlstand und Glück aufzubauen. Eine aktuelle Studie des Internationalen Währungsfonds verrät es uns: Bei einem Preis von 30 Euro pro Tonne CO 2 wird sich Kohle um 88 Prozent verteuern. Erdgas, mit dem viele Menschen im Land ihre Wohnungen heizen und ihr Essen kochen, kostet dann fast ein Drittel mehr. Solche Verteuerungen sind sozialer Sprengstoff. Sie werden den Bürgern unseres Landes jede Chance auf eine Zukunft in selbst erarbeitetem Wohlstand zerstören. Die soziale Frage, nämlich wie die Geringverdienenden diese neue Steuer, die in alle Bereiche ihres Lebens hineinwirken wird, stemmen sollen, wird nur vage beantwortet. Der Staat will kassieren und dann vielleicht einige Brosamen zurückverteilen, um die Steuerzahler ruhigzustellen. Aber die Menschen in unserem Land wollen Ihre CO 2 -Steuer nicht. Sie wird von zwei Dritteln der Bürger abgelehnt. Umfragen belegen dies. Die Mehrheit der Menschen weiß, dass hier Dinge besteuert werden, die bereits besteuert sind, und die Mehrheit der Menschen fürchtet sich vor den unkalkulierbaren Folgen für die Wirtschaft und für ihren Arbeitsplatz. ({4}) Wofür soll diese Steuer gut sein? CO 2 soll reduziert werden. Deutschland emittiert – wir wissen es – 2 Prozent des globalen menschengemachten CO 2 . China emittiert 28 Prozent. China darf bis 2030 ungehindert und in beliebiger Höhe weiter CO 2 emittieren, während Sie, meine Damen und Herren Konsenspolitiker, Hunderte Milliarden an Steuergeldern für Ihr ökopopulistisches Klima-Voodoo versenken. ({5}) Die Gletscher Islands wachsen. In der Antarktis entstehen jedes Jahr Milliarden Tonnen an neuem Eis. Der IPCC verdoppelt über Nacht das Carbon Budget und gibt damit offen zu, dass seine bisherigen Berichte falsch waren. Sie ignorieren das, meine Damen und Herren. Sie ignorieren das, weil die Verlockung, den Menschen im Land noch mehr Geld aus den Taschen zu ziehen, Sie blind und taub gemacht hat. Wir halten fest: Der Ruf nach einer CO 2 -Steuer ist der bisherige Höhepunkt einer staatlichen Verdummungskampagne. Ob unsere Wirtschaft das überlebt oder nicht, interessiert Sie nicht. Das Geld sprudelt ja trotz Bedenken des Bundesverfassungsgerichtes in Ihre Parteikassen. ({6}) Dafür blutet der Steuerzahler ja auch dann, wenn er selbst nichts mehr zu beißen hat. Meine Damen und Herren, Sie betreiben eine unverantwortliche Politik. Statt eine CO 2 -Steuer einzuführen, sollten Sie Ihre untauglichen Regularien wie zum Beispiel das EEG abschaffen. Dann kann sich die Großmutter, die ihr Leben lang gearbeitet hat, vielleicht im nächsten Winter wieder eine warme Wohnstube leisten. Danke. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: der Kollege Andreas Jung, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will gerne unseren Standpunkt in dieser Debatte klarmachen. Da gilt zuallererst, dass es uns wichtig ist, zu betonen, was für eine herausragende Aufgabe Klimaschutz ist. Das ist der Grund, warum dieser Bundestag, warum unsere Bundesregierung, übrigens über unterschiedliche parteipolitische Besetzungen hinweg, Klimaschutz im internationalen Prozess vorangebracht hat, warum wir immer wieder auf eine globale Antwort auf diese globale Frage gedrungen haben und warum wir gemeinsam den Erfolg des Pariser Klimaabkommens erreicht haben. ({0}) Wir nehmen das ernst. Diese globalen Verpflichtungen führen auch zu nationaler Verantwortung. Auch daran haben wir nie einen Zweifel gelassen. Auch daran lässt diese Koalition im Koalitionsvertrag keinen Zweifel. ({1}) Wir bekennen uns zu den Klimazielen und haben festgeschrieben: Es darf nicht sein, dass wir noch mehr Klimaziele nicht erreichen. Umso ernster müssen wir die 2030-Ziele nehmen, und dafür müssen wir eine Schippe drauflegen. ({2}) Wenn wir jetzt darüber debattieren, welcher der richtige Weg ist, dann ist uns wichtig, zu sagen: Unser C verpflichtet uns auf der einen Seite auf die Bewahrung der Schöpfung und auf der anderen Seite auf soziale Marktwirtschaft. Wenn wir beides zusammennehmen, dann heißt das: Wir wollen diese Debatte nicht verengen auf Verbote und Subventionen, sondern wir setzen auf marktwirtschaftliche Prinzipien. Wir wollen Klimaschutz mit marktwirtschaftlichen Prinzipien effizient machen. Wir reden nicht über eine CO 2 -Steuer. Wir reden über CO 2 -Bepreisung. Es ist richtig, wenn CO 2 einen Preis bekommt. Aber uns ist wichtig: Das muss man richtig machen, und richtig machen heißt, dass es klare Kriterien gibt. Das erste Kriterium ist: Das darf nicht noch on top obendrauf kommen. ({3}) Der Staat hat Einnahmen genug. Wir haben die Ergebnisse der Steuerschätzung. Mit diesen Einnahmen müssen wir auskommen. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen nicht stärker belastet werden; denn es ist ja nicht so, dass wir zu wenig Steuern, Abgaben, Umlagen, Entgelte haben. Vielmehr müssen wir die Frage beantworten, wie es uns eigentlich gelingt, dieses Gestrüpp an unterschiedlichen Maßnahmen so unter die Lupe zu nehmen, dass wir nicht zu mehr Steuern, zu mehr Abgaben kommen, sondern zu einer besseren Lenkungswirkung im Sinne von mehr und besserem Klimaschutz. Darum geht es uns. ({4}) Ich will dazusagen, dass es richtig ist, darüber nachzudenken, was man über das Vereinbarte hinaus tun kann. Aber genauso notwendig ist es, erst mal das umzusetzen, was man vereinbart hat. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die steuerliche Förderung der Gebäudesanierung voranzubringen, und haben das als prioritäre Maßnahme festgeschrieben. Deshalb erwarten wir und drängen als Union darauf, dass das tatsächlich umgesetzt wird. Das ist ein effizienter Weg für Klimaschutz. ({5}) Wir müssen die Menschen mitnehmen. Wir müssen im Sinne unseres Ziels, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, gerade die Menschen mitnehmen, die schon heute mit hohen Nebenkosten zu tun haben. Wir müssen die Menschen im ländlichen Raum mitnehmen, die weite Wege zur Arbeit haben und auf das Auto angewiesen sind. Für all diese Menschen brauchen wir Antworten. Eine Antwort ist für uns zu kurz gesprungen: Wir machen eine CO 2 -Steuer, teilen das Aufkommen durch 82 Millionen, und jeder bekommt quasi einen Beitrag ausgezahlt. Da brauchen wir intelligentere Systeme, und an denen arbeiten wir. Diese Frage wollen und müssen wir beantworten. ({6}) Und wir müssen die Frage beantworten: Wie schaffen wir es, Wirtschaft, Mittelstand, Handwerk auf diesem Weg mitzunehmen? Wir wollen eine Entlastung von Wirtschaft und Mittelstand, nicht eine zusätzliche Belastung. Deshalb wollen wir ein Instrument, das statt Nachteilen im Standortwettbewerb Anreize für Innovation, für Effizienz, für neue Technologien schafft. Das ist unser Schlüssel. Das wollen wir voranbringen, das müssen wir voranbringen. Wir wollen das im Übrigen tun mit unseren internationalen Partnern, mit unseren europäischen Partnern, mit allen, die gewillt sind, sich mit uns gemeinsam auf diesen Weg zu begeben. Das ist unser Weg, und daran werden wir mit großer Ernsthaftigkeit arbeiten. Ich will aber ganz ausdrücklich sagen: Das, was ich als Kriterien formulierte, sind Dinge, die wir berücksichtigen müssen, sind nicht Ausreden, um am Ende zu sagen: Wir können eben doch nichts erreichen. Wir müssen vorankommen. Wir müssen mehr tun. Wir haben eine besondere Verantwortung, und der stellen wir uns. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Professor Dr. Martin Neumann. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worum geht es bei dieser Diskussion? Es geht bei dieser Diskussion darum, die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, also die CO 2 -Emissionen deutlich zu verringern. Das ist unser Ziel, und all das, was wir hier tun, muss sich daran orientieren. Auch der zweite Punkt, den wir immer wieder diskutieren – ich staune ja, was Kollege Gremmels heute in einer vorangegangenen Debatte gesagt hat –, nämlich das Thema der Versorgungssicherheit und die Frage der Akzeptanz, ist ein ganz wichtiger. Wenn wir sozusagen schon wieder mit einer neuen Steuer kommen – wir haben ja schon Steuern wie die Ökosteuer; es gibt auch Steuern, die dann nicht mehr verschwinden –, ist die Akzeptanz an dieser Stelle doch etwas gefährdet. Es ist der falsche Weg. Wir wollen keine CO 2 -Steuer. ({0}) Denn wir haben einen anderen, einen besseren Weg. Uns geht es nicht darum, hier Preissignale auszusenden, sondern wir wollen ganz konkret die Mengen reduzieren. Und wenn wir die Mengen reduzieren wollen, brauchen wir den Emissionshandel. ({1}) Der muss tatsächlich ausgeweitet werden, weil wir dann die Möglichkeit haben, dort stärker CO 2 einzusparen, wo wir die geringsten CO 2 -Vermeidungskosten haben. Das genau ist der Punkt. ({2}) So können wir Wettbewerb, Innovation und neue Technologien schaffen. Noch mal ganz einfach gesagt: Der Atmosphäre ist doch völlig egal, wo das CO 2 herkommt. Die Frage ist doch, ob wir es dort vermeiden und abbauen, wo es nicht zu Kosten führt und wo es mit entsprechenden Maßnahmen einfach reduziert werden kann. Wir wollen den Emissionshandel im Grunde genommen ausweiten, ganz klar. Wir brauchen dafür auch einen Anreiz. Das meinen wir, wenn wir von Planbarkeit und Planungssicherheit reden. Wir müssen Unternehmen motivieren, tatsächlich in emissionsarme Technologien zu investieren. Das ist ein Schritt, der uns auf dem Weg, CO 2 -Emissionen zu verringern, letztendlich weiterhilft. ({3}) Jetzt kann man sich mal anschauen, wo wir da anfangen müssen. Es geht tatsächlich auch darum, zu überlegen, wo die CO 2 -Vermeidung angerechnet werden kann. Das betrifft nicht nur Wind- und Sonnenenergie. Es gibt auch andere Technologien, die es uns letztendlich ermöglichen, die CO 2 -Einsparziele zu erreichen. ({4}) Das heißt: Wenn wir die Mengen reduzieren, dann ist es wichtig, mit entsprechenden Marktmechanismen dafür zu sorgen, dass das Ganze im wettbewerblichen bzw. marktwirtschaftlichen Sinne abläuft, um zu verhindern, dass es hier Fehlleitungen gibt. Wir möchten, dass die CO 2 -Vermeidung – das ist ja das Ziel, das haben wir immer wieder gesagt; ich glaube, darüber gibt es auch keine Diskussion – am Ende auch bezahlbar bleibt, am Ende tatsächlich mit wettbewerblichen Elementen gestaltet werden kann, sodass alle Beteiligten an diesem System entsprechend motiviert werden. Ich will noch deutlich machen, welchen Irrweg wir nicht gehen sollten. Wenn wir über den Begriff Steuern reden, dann muss man der Gesellschaft erklären: Steuern sind am Ende etwas, was auch die Haushalte betrifft. – Da muss man dann tatsächlich die Haushalte einbeziehen. Die Frage ist: Was macht man dann mit den Steuereinnahmen? Wenn ich an die Diskussion denke, im Rahmen der Senkung der Stromkosten die Stromsteuer abzuschaffen, dann muss ich sagen, dass dies ein aufwendiger Weg ist, um zum Ziel zu kommen. Wir wollen letztendlich den Wettbewerb, den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht gefährden. ({5}) Es ist für den Klima- und Umweltschutz wichtig, niedrige Energiepreise zu haben, und zwar auch mit den Technologien – ich habe CO 2 -geminderte Energieträger angesprochen –, mit denen wir im Wettbewerb die Möglichkeit haben, wirtschaftliche Entwicklungen zu organisieren und – das ist, glaube ich, ganz, ganz wichtig; ich habe das Wort „Akzeptanz“ genannt – soziale Schieflagen bzw. negative soziale Folgen zu vermeiden. Also: Wir dürfen hier nicht irgendwelche Preisspiele machen, sondern es kommt darauf an, das Ziel zu verfolgen, die CO 2 -Emissionen zu senken, und das in einem Wettbewerb unter marktwirtschaftlichen Bedingungen. Hier ist die CO 2 -Steuer das falsche Instrument. Herzlichen Dank.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner: der Kollege Bernhard Daldrup, SPD-Fraktion. ({0})

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst sagen: Herr Dr. Kraft, Ihre Rede hat mich wieder einmal in zweierlei Dingen bestärkt. Erstens. Die AfD sind keine Patrioten. ({0}) Zweitens. Sie sind politische Klimavergifter. Sie haben mit dem Schutz nichts zu tun. ({1}) Außer Ihnen wissen wir eigentlich alle: Wenn wir das Klima schützen wollen, dann müssen wir den CO 2 -Ausstoß deutlich reduzieren – in Deutschland und weltweit. Dabei dürfen wir auch keine Zeit verlieren. ({2}) Für uns ist der Klimaschutz eine komplexe Aufgabe: Er bezieht sich auf verschiedene Sektoren, auf unterschiedliche Instrumente, auf mehrere Ebenen. Einen Preis für vermeidbaren CO 2 -Ausstoß zu finden, ist dabei eine Maßnahme, aber keineswegs die einzige und vielleicht nicht einmal die wichtigste. Aber die grundsätzliche Überlegung ist richtig: Der Markt allein ist weitgehend blind gegenüber klimaschädlichen Treibhausgasen. Das Prinzip Verantwortung verlangt deshalb Eingriffe in das Marktgeschehen – ganz im Sinne einer ökologisch verantwortlichen sozialen Marktwirtschaft; das, was Sie immer unter „Internalisierung externer Kosten“ diskutieren –, also umweltschädlichem CO 2 einen Preis zu geben. ({3}) Wenn es Geld kostet, Treibhausgase zu produzieren, achten vielleicht mehr Menschen darauf, solche Emissionen zu vermeiden. Aber machen wir nichts, tragen nicht die Verursacher die Kosten der Klimaschäden in Milliardenhöhe, sondern die Allgemeinheit und vor allem die nachfolgenden Generationen. Das ist die Folge internationaler Abkommen. ({4}) Herr Jung hat darauf zu Recht hingewiesen. Ja, Klimaschutz kostet Geld – unbestritten –, aber kein Klimaschutz kostet sehr viel mehr Geld. Darauf müssen wir achten. ({5}) Für uns in der SPD ist bei einem solchen Konzept einiges besonders wichtig. Erstens. Wenn es ein solches Konzept geben wird, das Klima zu schützen, dann muss es tatsächlich eine reale Lenkungswirkung haben. Zweitens. Es darf kein Instrument zur Finanzierung staatlicher Aufgaben sein. Wir wollen eher eine Klimadividende erwirtschaften. Nicht der Staat soll das Geld erhalten, sondern diejenigen Bürgerinnen und Bürger sollen es zurückerhalten, die sich klimagerecht verhalten. ({6}) Drittens. Der CO 2 -Preis muss sozialverträglich sein. Er darf Menschen mit kleinen Einkommen – darauf haben Sie auch hingewiesen – nicht zusätzlich finanziell belasten, wenn sie zur Arbeit fahren oder ihre Wohnung heizen. Viertens. Dieses Thema – darauf hat auch die FDP hingewiesen; das ist völlig richtig – hat auch eine nationale und internationale wirtschaftspolitische Komponente. Ich bin auch Sprecher für die Bereiche Bauen und Wohnen und Stadtentwicklung und will darauf hinweisen, dass der Bau zu den Sektoren mit dem höchsten CO 2 -Ausstoß zählt. Auch darauf wird man achten müssen. Einfach nur eine Steuer einführen, ohne auf das Gesamtkonzept der Energiebesteuerung zu achten, wollen wir nicht. Einfach an der Steuerschraube drehen, machen wir auch nicht. Darauf können Sie sich verlassen. Wer heute seine Stromrechnung ansieht, findet darin schon die EEG-Umlage, die KWK-Umlage, die Umlage nach der Stromnetzentgeltverordnung, die Offshorenetz­umlage, die Umlage für abschaltbare Lasten und auch die Stromsteuer, also eine ganze Reihe von Abgaben und die Strombesteuerung. Jede dieser Abgaben hat ihre eigene Geschichte, hat ihren Sinn. Das dient dazu, die Energiewende, die regenerativen Energien zu fördern. Das ist auch erfolgreich gewesen; ich will es an dieser Stelle eindeutig sagen. Das alles sind auch schon Beiträge zum Klimaschutz, aber wir müssen besser werden. ({7}) Tendenziell haben wir gerade den Energieträger mit zusätzlichen Kosten belastet, von dem wir zur Bekämpfung des Klimawandels auch den höchsten Beitrag erwarten, also den Strom, während wir Energiearten wie Diesel, Heizöl, Kerosin mit hohem CO 2 -Ausstoß weniger stark belasten. Um nicht missverstanden zu werden: Ja, wir wollen auch in Zukunft die Produktion regenerativer Energieproduktion fördern und ausbauen. Aber trotzdem müssen wir Effizienz und Zielgenauigkeit prüfen. Viele ernsthafte Vorschläge weltweit orientieren sich am Modell der Schweiz. Ich will mich dazu nicht äußern. Ich bin aber unserer Umweltministerin außerordentlich dankbar, mit welcher Leidenschaft und Hartnäckigkeit sie dieses Thema vorantreibt. Wir werden in Kürze vom Umweltministerium Vorschläge bekommen. Auch andere Ministerien haben sich auf den Weg gemacht. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir das Thema heute nicht so stark zerreden, dass wir uns in unserer eigenen Handlungsfähigkeit blockieren. ({8}) Ich will noch einen Satz zur politischen Debatte sagen: Die AfD kann heute nicht die Abschaffung einer Steuer fordern – das tun Sie sonst immer, wenn es um Steuern geht –; denn es gibt sie noch nicht. Deswegen machen Sie genau das, was Ihr Redner gerade gemacht hat: Ängste schüren, Legenden schüren, altes Muster, Thema erledigt, Glaubwürdigkeit verschenkt. Das ist Ihre Variante. ({9}) Aber andere machen auch keine Bella Figura beim Thema CO 2 . Frau Kramp-Karrenbauer ist bekanntlich schon jetzt gegen einen CO 2 -Preis. Sie plädiert stattdessen für die Ausweitung des europäischen Emissionshandels. Die FDP gerade auch. Ich will dazu sagen: Die lange Bank ist des Teufels liebstes Werkzeug, meine Damen und Herren. ({10}) Man kann durchaus nach europäischen Lösungen suchen; aber wer weiß, wie zäh diese Verhandlungen laufen, weiß, dass hier über Jahre nichts passieren wird. Deshalb dürfen das keine Alternativen sein. Ich glaube, wir haben in Deutschland in der Vergangenheit schon relativ oft gezeigt, dass wir zu mutigen Entscheidungen in der Energiepolitik fähig sind. Der Ausstieg aus der Atomenergie war so einer, der Abschied von der Kohleförderung ist es auch. Wir sollten auch jetzt die Kraft zu mutigen Entscheidungen aufbringen, wenn es um die Reduzierung klimaschädlicher Treibhausgase geht.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie zum Ende.

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, herzlichen Dank. Ich bin fertig. – Wir sind den heutigen und künftigen Generationen verpflichtet. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner: der Kollege Jörg Cezanne, Fraktion Die Linke. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir heute über eine CO 2 -Bepreisung reden, dann lassen Sie uns noch einmal die Herausforderungen in den Blick nehmen. Wir stehen historisch vor einer ungekannten doppelten Herausforderung. Wir müssen in den nächsten 30 Jahren – das ist nicht ganz so lang; ich habe sie schon zweimal hinter mir – die Produktions- und Lebensweise so verändern, dass die ökologischen Grenzen des Planeten eingehalten werden können, und dies unter Wahrung des sozialen Zusammenhalts, der Überwindung der sozialen Spaltung und dem Erhalt demokratischer Verhältnisse. ({0}) Es geht um das Ende der Nutzung jeglicher fossiler Energie, und es geht um die Durchsetzung einer Kreislaufwirtschaft, in der Rohstoffe nach der Nutzung nicht weggeworfen, sondern in geschlossenen Kreisläufen weiter genutzt werden. Ist die CO 2 -Bepreisung dazu ein sinnvoller Weg? Zunächst einmal muss man festhalten: Es geht hier um absolute Grenzen. Da hilft Preissteuerung allein nicht weiter. Lassen Sie uns einmal die historischen Herausforderungen anschauen. Wir müssen bis 2050 auf ein Niveau des CO 2 -Ausstoßes pro Kopf der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger von deutlich unter 2 Tonnen kommen. ({1}) Wir liegen im Moment bei 11 Tonnen. Das wird allein mit einem naiven Glauben an Preissteuerung nicht gehen. Wir brauchen die großen ordnungspolitischen Veränderungen. ({2}) Um es plastisch zu sagen: Wo keine Straßenbahn oder kein Zug fährt, hilft es auch nicht, den Benzinpreis zu erhöhen, weil es für niemanden etwas ändert, außer dass es das Leben schwerer macht. Wir brauchen die Verkehrswende. Wir brauchen den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs, der Bahn und am besten Preissenkungen bis hin zum Nulltarif. ({3}) Wir brauchen klare Ökodesignvorgaben für energie- und ressourcensparende Produkte und deren Wiederverwertbarkeit. ({4}) Das sind die Herausforderungen, die zunächst erreicht werden müssen. Erst in einem solchen ordnungspolitischen Rahmen kann eine CO 2 -Bepreisung überhaupt sinnvoll greifen. Dann kann sie korrigieren, kann sie falsche Preissignale eines fehlgesteuerten Marktes, der den Schaden, der durch das CO 2 entsteht, überhaupt nicht preislich berücksichtigt, korrigieren. Falsche Preissignale finden wir überall: Flugreisen sind zum Teil deutlich billiger als Bahnreisen, E-Autos – die nicht die Lösung sind, die wir aber trotzdem brauchen werden – wesentlich teurer als Autos mit Verbrennungsmotoren, gesunde Lebensmittel deutlich teurer als industriell erzeugte oder durch Massentierhaltung produzierte. Wir müssen die Schadenskosten, die durch das CO 2 entstehen, ausgleichen. Das Umweltbundesamt spricht hier von 180 Euro pro Tonne CO 2  – ein hoher Schadenspreis. Energiearmut ist aber bereits Alltag für Millionen Menschen: Laut Eurostat gaben 3,7 Prozent der Befragten 2016 an, dass sie ihre Wohnung nicht angemessen heizen konnten. Das wären fast 3 Millionen Menschen in Deutschland. Im Jahr 2017 gab es hierzulande 340 000 Stromsperrungen. Stromlieferanten haben ihren Kunden 4,8 Millionen Mal solche Sperrungen angedroht. Eine CO 2 -Abgabe oder -Bepreisung kann also zwingend nur so ausgestaltet werden, dass sie Menschen mit geringerem Einkommen nicht nur nicht mehr belastet, sondern sogar besserstellt. ({5}) Der Witz ist ja: Das geht auch. Man kann die CO 2 -Bepreisung so ausgestalten, dass die Einnahmen an die Verbraucherinnen und Verbraucher zurückgezahlt werden, so wie es in der Schweiz geschieht. Ein solcher Ökobonus würde für mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland, insbesondere für die Bezieherinnen und Bezieher unterer Einkommen, eine deutliche Verbesserung bringen. Sie würden im Jahr netto entlastet werden. So könnte es gehen. Die Bedingungen wären berücksichtigt. Wir sollten ernsthaft darüber reden. Es liegen verschiedenste Vorschläge vor, wie wir die Maßnahme sinnvoll ausgestalten können. Ich danke Ihnen. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Cezanne. – Als nächster Redner hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Oliver Krischer das Wort. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man bedenkt, dass vor bald 15 Jahren die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, gesagt hat, der Klimaschutz sei die größte Herausforderung unserer Zeit, des 21. Jahrhunderts, und sich dann vor Augen führt, dass die sie tragende Regierungsfraktion jetzt erst, nach fast 15 Jahren, anfängt, die Debatte über eine CO 2 -Bepreisung zu führen, dann ist das, ehrlich gesagt, eine Bankrotterklärung. ({0}) Ich glaube, das muss an der Stelle auch mal gesagt werden. In den letzten Tagen haben wir eine Parteivorsitzende gehört, die erst ein kategorisches Nein ausgesprochen hat. Dann gab es den halben Weg rückwärts. Lieber Andi Jung, ich höre dir ja immer gerne zu, und das sind ja auch schöne Reden; aber eine klare Botschaft, wie denn jetzt die Position der Union ist, in welche Richtung da gearbeitet wird, ob die regierungstragenden Fraktionen für eine vernünftige CO 2 -Bepreisung sind, habe ich nicht rausgehört. Das ist nicht deutlich geworden. Nur von Verantwortung zu reden, ist an der Stelle, ehrlich gesagt, zu wenig. ({1}) Das ist für ein Land, das im Klimaschutz nach vorne kommen muss, zu wenig. Es ist ja leider nicht so, dass wir an anderer Stelle in den letzten 15 Jahren ein Feuerwerk an Klimaschutzmaßnahmen erlebt hätten. Dann könnte man ja sagen: Gut, der CO 2 -Preis ist nur eine Maßnahme, die man zum Schluss mal umsetzen kann. – Da ist ja ganz offensichtlich absolute Blankheit. Das ist das Grundproblem, das wir in der Debatte haben: Die Union lehnt als große Fraktion jede konkrete Maßnahme, die es zum Klimaschutz gibt, ab, ist immer dagegen, erklärt immer, was sie nicht will, aber sagt nie, was sie da machen will. ({2}) Ich sage mal ehrlich: Ein CO 2 -Preis ist dabei wirklich nichts Neues und überhaupt nicht originell. Es gibt etliche Staaten auf der Welt – die Schweiz, Frankreich, Kanada, Schweden –, die ihn seit Jahren haben. Kucken wir mal nach Schweden: Die haben das 1991 eingeführt. Im Moment liegt der CO 2 -Preis dort bei 114 Euro pro Tonne. Die Bepreisung hat dazu geführt, dass die Schweden das, was wir nicht hinkriegen, nämlich den Gebäudesektor CO 2 -frei zu machen, geschafft haben und hier europäische Vorreiter sind. ({3}) Ich finde, jede Bundesregierung müsste sich daran ein Beispiel nehmen und entsprechende Maßnahmen ergreifen. ({4}) Ich sage an der Stelle deutlich: Diejenigen wie Sie, Herr Neumann, von der FDP – so habe ich jetzt auch die Parteivorsitzende der Union verstanden –, die jetzt sagen, man solle den europäischen Emissionshandel ausweiten, machen, wenn man ehrlich ist, nur eins: Sie schieben das Thema wieder auf die lange Bank. ({5}) Alle Fachleute sind sich einig, dass das erst nach der nächsten Reform gehen wird. Dann tun wir wieder jahrelang nichts. ({6}) Das, was Sie da wollen, ist am Ende weiterhin nichts anderes als verkapptes Nichtstun. Es muss aber jetzt gehandelt werden, weil das Klimaproblem drängt. Das sage ich in aller Deutlichkeit. Deshalb brauchen wir einen CO 2 -Preis über alle Sektoren hinweg, den wir selbstverständlich den Menschen zurückgeben müssen. Hier ist schon öfter die Schweiz erwähnt worden. Von ihr kann man sich einiges abkucken. Wir haben dazu einen entsprechenden Vorschlag gemacht. Ich finde, es ist langsam an der Zeit, dass Sie hier vorangehen, Ihrer Verantwortung als Regierung gerecht werden und entsprechende Vorschläge machen. Darum geht es jetzt, wenn wir beim Klimaschutz vorankommen wollen. ({7}) Ich sage aber auch: Ein CO 2 -Preis, den übrigens 3 500 Ökonomen auf dieser Welt, davon 27 Nobelpreisträger, fordern, ({8}) ist nur ein Teil der Maßnahmen, die wir beim Klimaschutz brauchen. Ein CO 2 -Preis ist eine wichtige Maßnahme, aber kein Allheilmittel. ({9}) Er muss in Fördermaßnahmen und in das Ordnungsrecht eingebettet sein, auch um das Ganze sozial abzufedern. Ich glaube aber, das ist durchaus machbar. Ich finde, Deutschland als ein Land, das vor einigen Jahren – lang, lang ist’s her – mal Klimaschutzvorreiter war, hat jetzt die Chance, mit der Einführung eines CO 2 -Preises, mit dem Kohleausstieg, mit einer vernünftigen, zukunftsgewandten Verkehrswende endlich wieder Vorreiter im Klimaschutz zu werden. Das ist dringend notwendig. Das braucht die Welt, das braucht das Klima, das braucht vor allen Dingen aber auch der Industriestandort Deutschland, der Klarheit in dieser Frage braucht; denn es sind inzwischen Dutzende Unternehmen, die einen CO 2 -Preis fordern.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich weiß gar nicht mehr, wieso Union und FDP das verhindern. Ich danke Ihnen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner in dieser Debatte hat der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Klimaschutz ist eines der zentralen Themen für die Zukunft unseres Landes und vor allem auch für die Wettbewerbsfähigkeit unserer deutschen Wirtschaft. Deswegen ist es notwendig und wichtig, dass wir hieran mit allergrößter Sorgfalt arbeiten – aber eben mit Sorgfalt und Intelligenz. Nur mit einer wettbewerbsfähigen deutschen Wirtschaft schaffen und erhalten wir den Wohlstand in unserem Land und damit die Grundlagen für alle anderen politischen Felder, ob Kultur, Soziales oder andere Felder. Es ist nicht richtig, dass nichts passiert ist. Der Anteil der regenerativen Energien ist von 3 Prozent auf 38 Prozent gestiegen. Die Haushalte haben ihren Energiebedarf in den letzten Jahrzehnten um 38 Prozent gesenkt, in der Industrie ist er um ein Drittel gesenkt worden. Das ist natürlich auch Einfluss der Politik dieser Koalition. Deswegen ist das, was Sie behaupten, nämlich dass nichts passiert ist, nicht richtig. ({0}) Die Diskussion, die derzeit über die mögliche Einführung einer sogenannten CO 2 -Steuer geführt wird, geht in die völlig falsche Richtung. Es erinnert an die damalige rot-grüne Politik der Einführung der sogenannten Ökosteuer. Da haben Sie von den Grünen ja mitgewirkt. Das Ergebnis war ausschließlich eine Verteuerung der Energie und eine Umverteilung der Mehreinnahmen. Umweltpolitisch war diese Ökosteuer ein vollständiger Flop. ({1}) Deswegen müssen wir einen anderen, neuen Pfad beschreiten, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Darüber, dass wir sie erreichen wollen, sind wir uns ja völlig einig. Wir wollen den Kohlestoffausstoß immer weiter reduzieren; aber wir wollen, dass das nicht ideologisch, sondern intelligent passiert. Es bringt aus meiner Sicht nichts, wenn wir allein eine CO 2 -Steuer einführen. Das wäre wesentlich zu kurz gesprungen und würde zu erheblich negativen Effekten bei der deutschen Wirtschaft und bei den Verbrauchern führen. Das würde nur zu einer erneuten Verteuerung der Produkte führen. Ich will an zwei Beispielen festmachen, was im Falle einer Steuererhöhung passieren würde: Denken Sie an einen Mieter in einem Mehrfamilienhaus. Er wäre der Hauptlastträger einer CO 2 -Steuer, weil er die Energie nutzt. Aber er kann zum Beispiel nicht an der Modernisierung einer Heizung mitwirken. Warum soll ein Vermieter Modernisierungsmaßnahmen vornehmen, von denen er nichts hat? Oder denken Sie an einen Pendler, den Sie belasten würden, weil er nicht auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen kann. Er würde für seinen Fleiß bestraft. Seine Leistung würde sich nicht mehr lohnen. Deswegen lehnen wir eine CO 2 -Steuer entschieden und mit Nachdruck ab. ({2}) Wir müssen Anreize schaffen und keine neuen Steuern. Wir müssen neue Technologien fördern und mit Klimaschutz weltweit zum Marktführer werden. Dazu brauchen wir eine intelligente industriepolitische Strategie. Unternehmen, die in Klimaschutz investieren, müssen entlastet werden. Dazu gehört zum Beispiel die steuerliche Forschungsförderung. Dazu gehört zum Beispiel die Modernisierung der Unternehmensbesteuerung, insbesondere in Bezug auf thesaurierte Gewinne, damit mehr Liquidität in den Unternehmen bleibt und mehr in neue Technologien investiert werden kann. ({3}) Dazu gehört, dass der Emissionshandel nicht nur für die Sektoren Energie und Industrie gilt, sondern auf die wichtigen Bereiche Verkehr und Wohnen ausgeweitet wird. ({4}) Dazu gehört auch eine Senkung der Energie- und Stromsteuer. Wir haben in den letzten Wochen über die Stromsteuer gesprochen. Es waren noch wichtige Hausaufgaben zu machen, gerade bei der Aufnahme der Abfall- und Abwasserwirtschaft. ({5}) Außerdem brauchen wir eine Diskussion über die EEG-Umlage. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir in diesem Jahr bei den anstehenden Entscheidungen falsch abbiegen, dann werden wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft schädigen und dem Grundgedanken des Klimaschutzes in keiner Weise helfen. ({6}) Deswegen: Lassen Sie uns in Anbetracht dieser Fragestellung richtig abbiegen. Wenn wir es richtig machen, haben wir die Chance, die deutsche Wirtschaft als Weltmarktführer in diesem Segment weiter zu platzieren, mit dem Klimaschutz Geld zu verdienen und mit dem Klimaschutz unseren Standort zu stärken. Lassen Sie uns mit mehr Intelligenz statt mit Ideologie an dieses Thema herangehen. Lassen Sie uns Leistungs- und Anreizsysteme schaffen anstatt neue Belastungen für die Unternehmen und die Bürgerinnen und Bürger. Herzlichen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Brehm. – Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, habe ich eine sitzungsleitende Bemerkung zu machen. Der Kollege Hans-Peter Friedrich hat mich gebeten, in seinem Namen eine Entscheidung betreffend eines Vorfalls im Hohen Hause anlässlich der Rede des Kollegen Dr. Rainer Kraft, AfD, mitzuteilen. Der Satz, der inkriminiert worden ist, lautet: Die Idee einer CO 2 -Steuer zeigt, wie weit die Abgeordneten der Union, der FDP und der ganze andere unappetitliche Rest sich von diesem Ziel entfernt haben. ({0}) – Das mag sein. – Die Aussage ist nicht nett; aber sie ist jedenfalls nicht rügefähig. Dafür wird kein Ordnungsruf erteilt. Vor allem will ich darauf hinweisen, dass auch die Abgeordneten der AfD selbst sich gelegentlich solcher verbalen Attacke ausgesetzt sehen. Hierfür wird es also keinen Ordnungsruf geben. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner hat das Wort der Kollege Marc Bernhard, AfD-Fraktion. ({2})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Lieber Kollege Brehm, ich habe wohl gehört, dass Sie keine CO 2 -Steuer wollen. ({0}) Ich hoffe wirklich, dass Sie sich damit durchsetzen. Ich bin mal gespannt. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie mir, dass ich Sie kurz unterbreche. Sie wissen, dass sitzungsleitende Entscheidungen der Erörterung entzogen sind, Frau Hendricks. Wenn Sie sich daran nicht halten wollen, dann erteile ich Ihnen einen Ordnungsruf. ({0}) – Ja, wenn Sie sich daran nicht halten wollen. Sie haben gerade dazwischengerufen. Herr Kollege, Sie können Ihre Rede fortsetzen.

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Die Menschen in unserem Land haben noch nie so viele Steuern bezahlt wie heute. Die Regierung erfindet immer neue Möglichkeiten, um die Menschen zur angeblichen Rettung der Welt abzukassieren: Energiesteuer, Stromsteuer, Luftverkehrsteuer, Ökosteuer, EEG-Umlage; um nur einige wenige zu nennen. Allein für die Energiewende – die Regierung hat uns damals versprochen, sie werde nicht mehr als eine Kugel Eis kosten – zahlt eine vierköpfige Familie heute rund 600 Euro pro Jahr mehr für Strom. Aber es reicht der Regierung bzw. Teilen der Regierung offensichtlich immer noch nicht. Jetzt soll Deutschland durch die Einführung einer CO 2 -Steuer die Welt im Alleingang retten. Die Umweltministerin will uns allen Ernstes weismachen, dass das Geld an die Bürger zurückfließt. Wer soll denn das glauben? Schon in der Vergangenheit wurde die Zustimmung zu einer neuen Steuer mit wohlklingenden Versprechungen und dem Hinweis, die Abgabe diene einem guten Zweck und werde niemanden über Gebühr belasten, erkauft. ({0}) Genauso war es mit der Sektsteuer, die zweckgebunden zur Finanzierung der kaiserlichen Kriegsmarine eingeführt wurde. Die kaiserliche Kriegsmarine gibt es schon seit über 100 Jahren nicht mehr, die Sektsteuer bezahlen wir aber immer noch. Wie Sie daran sehen: Ist eine Steuer erst mal eingeführt, wird sie nie wieder abgeschafft und über kurz oder lang zweckentfremdet. ({1}) Laut Umweltbundesamt soll die CO 2 -Steuer bis zu 180 Euro pro Tonne betragen. Das bedeutet für jeden Kopf der Bevölkerung, ob Kleinkind oder Greis, eine durchschnittliche zusätzliche Belastung von 2 000 Euro pro Jahr. ({2}) Bei der Herstellung aller Güter des täglichen Lebens, ob nun Brot, Kleidung, Taschentücher, Smartphones oder schlichtweg einfach nur Wasser, wird CO 2 erzeugt, übrigens auch beim Atmen. Mit einer CO 2 -Steuer würde also praktisch das Leben an sich besteuert. ({3}) Der ganze Irrsinn gipfelt dann in der abstrusen Forderung von Klimahysterikern, die uns sogar auffordern, zur angeblichen Klimarettung keine Kinder mehr in die Welt zu setzen. ({4}) Und wozu all das? Für nichts, rein gar nichts! Denn der Anteil Deutschlands am menschengemachten CO 2 -Ausstoß beträgt gerade einmal 1,8 Prozent, während der Anteil Chinas 28 Prozent und der von Indien 8 Prozent beträgt. Zusammen mit allen Schwellen- und Entwicklungsländern erzeugen diese Länder also mehr als 60 Prozent der CO 2 -Emissionen weltweit. Gemäß dem Pariser Klimaabkommen dürfen die Schwellen- und Entwicklungsländer, die über 60 Prozent des CO 2 erzeugen, bis 2030 weiter unbegrenzt, also ohne Limit, ihren CO 2 -Ausstoß erhöhen, und genau das tun sie auch. Welchen konkreten Effekt auf das Weltklima soll unter diesen Voraussetzungen eine CO 2 -Steuer in Deutschland haben? Sie sagen damit im Prinzip nichts anderes, als dass Deutschland im Alleingang das Weltklima retten soll. Glauben Sie denn wirklich, dass es Sinn macht, dass wir die paar Kohlekraftwerke in Deutschland abschalten, während weltweit derzeit 1 500 neue Kohlekraftwerke im Bau sind? ({5}) Die Wahrheit über das Pariser Klimaschutzabkommen ist, dass die Europäer über den Tisch gezogen worden sind. Es würde sehr viel mehr Sinn machen, vernünftige CO 2 -Abscheidungsanlagen in die Zigtausende Kohlekraftwerke in China und Indien oder anderswo einzubauen, als bei den Menschen in Deutschland immer mehr Steuern abzukassieren. ({6}) Selbst wenn wir in Deutschland kein CO 2 mehr produzieren, alles abschalten, nicht mehr heizen, keinen Strom mehr verbrauchen, uns nicht mehr fortbewegen und, nicht zu vergessen, auch das Atmen einstellen, ({7}) hätte das überhaupt keinen Einfluss auf das Weltklima. Es ist völlig egal, wie viel Deutschland von seinem 1,8-Prozent-Anteil an den CO 2 -Emissionen einspart – 20, 50 oder 100 Prozent. Egal wie viele Kohlekraftwerke wir abschalten und vor allem wie hoch die CO 2 -Steuer wäre: Wir erreichen damit nichts, rein gar nichts, außer eine noch höhere Belastung der Menschen, eine massive Wettbewerbsverzerrung gegenüber Ländern wie China und dadurch die Zerstörung von Millionen von Arbeitsplätzen in unserem Land. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin hat die Parlamentarische Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter das Wort. ({0})

Rita Schwarzelühr-Sutter (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003847

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wie man sieht, ist der Klimaschutz mitten in unserer politischen Debatte angekommen – und das ist gut so. Dafür, dass es so ist, bin ich den vielen jungen Menschen, aber auch ihren Eltern, den Wissenschaftlern und den Unternehmerinnen und Unternehmern dankbar; denn sie fordern ambitionierte Schritte ein. Sie fordern, jetzt zu handeln, anstatt abzuwarten und zu vertrösten. Deswegen wird das Jahr 2019 das Jahr des Klimaschutzes. Dass gerade die Diskussion über eine CO 2 -Bepreisung Fahrt aufnimmt, zeigt mir: Wir brauchen tiefgreifendere Veränderungen als bisher. Eine Bepreisung von CO 2 -Emissionen kann den Umstieg auf klimafreundlichere Technologien endlich beschleunigen, gerade bei unseren Sorgenkindern, dem Verkehrs- und dem Wärmebereich. Ich möchte aber auch deutlich sagen: Es kommt entscheidend darauf an, wie wir diesen Umstieg gestalten. Eine CO 2 -Bepreisung muss helfen, das Klima zu schützen, und sozial gerecht sein. ({0}) Unser System der Entgelte, Abgaben, Umlagen und Steuern hat seine Lenkungswirkung beim Klimaschutz teilweise verloren. Der Strom ist in den letzten zehn Jahren teurer geworden, obwohl er von Jahr zu Jahr zu einem immer größeren Anteil aus erneuerbaren Energien stammt. Demgegenüber kosten Benzin, Diesel, Heiz­öl und Gas so viel wie im Durchschnitt der letzten zehn Jahre. Das ist doch eigentlich absurd und wird zu Recht bemängelt. Deshalb spricht einiges für eine Veränderung der Preise. In einer Marktwirtschaft können wir Anreize für Innovationen setzen. Es geht jetzt nicht darum, alles einfach teurer zu machen, sondern darum, ein Signal dafür zu geben, dass es sich lohnt, CO 2 -ärmere Produkte zu kaufen und in klimafreundliche Technologien zu investieren. Wir wissen: Klimaschutz kostet Geld. In einer sozialen Marktwirtschaft müssen wir immer darüber nachdenken, wie wir Anreize setzen können, aber natürlich auch darüber, wie wir die Kosten verteilen. Deshalb ist es selbstverständlich, dass wir bei allen Maßnahmen zum Klimaschutz die Verteilungswirkungen ganz genau im Blick haben. Der Staat darf mit einer CO 2 -Bepreisung kein zusätzliches Geld einnehmen, sondern er muss das Geld den Bürgerinnen und Bürgern in geeigneter Form zurückgeben. ({1}) Dabei gilt: Eine gesamtwirtschaftliche Aufkommensneutralität bedeutet nicht eine individuelle Belastungsneutralität. Wir müssen uns fragen: Was passiert mit der Pendlerin auf dem Land, und was passiert mit dem Mieter, der Mieterin in der Stadt? Deswegen arbeiten wir an einem Konzept, das wirksam das Klima schützt, das gerecht bei den Kosten und am Ende auch praktikabel in der Umsetzung ist, und zwar ziemlich schnell. ({2}) Belastungen für Menschen, die sich kurzfristig kein Elektroauto leisten können oder, wie wir schon gehört haben, keinen Einfluss auf die Heizung in ihrer Mietwohnung haben, lassen wir nicht zu. Wir können untere und mittlere Einkommensgruppen insgesamt nicht stärker belasten. Eines möchte ich betonen: Ein CO 2 -Preis kann ein sinnvoller Baustein einer umfassenden Klimaschutzpolitik sein, aber sicherlich nicht das Allheilmittel. ({3}) Das ist nur gemeinsam mit anderen Maßnahmen sinnvoll. Denkverbote helfen uns übrigens nicht. Die Klimaschutzziele 2030 ernst zu nehmen, bedeutet, ambitionierte und ganz konkrete Maßnahmen zu beschließen. Man kann nicht nur sagen, was man alles nicht will, sondern wir müssen auch sagen, wie es vielleicht gehen könnte. ({4}) Daher ist ein CO 2 -Preis keine Alternative zu einem Klimaschutzgesetz. Das Klimaschutzgesetz, wie die Bundesumweltministerin es vorgeschlagen hat, gibt den Rahmen vor und macht Verantwortlichkeiten klar. Ein CO 2 -Preis kann eine konkrete Maßnahme sein, um diesen Verantwortlichkeiten gerecht zu werden. Die Debatte darüber, wie wir unsere Klimaschutzziele 2030 erreichen, führen wir mit allen verantwortlichen Ressorts im Klimakabinett, und wir haben vereinbart, noch dieses Jahr klare Beschlüsse zu fassen – dieses Jahr –, und zwar – das ist für uns wichtig – sozial gerecht. Wenn wir das so umsetzen, dann werden wir – davon bin ich überzeugt – auch die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger erhalten. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, der Klimaschutz ist eine der großen Herausforderungen, vor denen wir weltweit stehen; ich glaube, das wurde deutlich. Das Thema ist ja nicht ganz neu. Schon in den 80er- und 90er-Jahren haben wir uns weltweit mit dem Thema beschäftigt. In den 80er- und 90er-Jahren, als das Kyoto-Protokoll verhandelt und verabschiedet wurde, haben die Industriestaaten noch den Großteil der Emissionen verursacht. Das hat sich in den letzten 15, 20 Jahren fundamental gewandelt. China beispielsweise, das noch Ende der 80er-Jahre bei den CO 2 -Missionen vergleichsweise keine Rolle gespielt hat, emittiert heute allein 30 Prozent. Lange Zeit wurde international darüber diskutiert, ob diese Staaten jetzt erst einmal so viel emittieren dürfen, wie die Industriestaaten in den letzten 100 Jahren emittiert haben, damit das ausgeglichen ist, und über anderes mehr. All diese Diskussionen haben wir geführt. Sie sind, Gott sei Dank, alle beendet. Es gibt jetzt ein weltweites Ziel. Im Pariser Klimaschutzabkommen steht, wie wir weltweit, in allen Ländern, damit umgehen sollen. Das ist gut so. Insofern haben wir Ziele. Aber zu Recht wird gefragt, auch von vielen meiner Vorredner heute: Mit welchen Instrumenten wollen wir das Ziel erreichen? Aus meiner Sicht kommt dabei dem Emissionshandel eine zentrale Rolle zu. Die zweite Frage, über die wir auch national diskutieren, lautet: Was ist die Rolle Deutschlands? Welche Rolle spielen wir dabei? Es wurde klar – das kann einem gefallen oder nicht –, dass wir, da der Anteil Deutschlands am weltweiten CO 2 -Ausstoß nur 2 Prozent beträgt, mit nationalen Maßnahmen allein das Weltklima nicht werden retten können. Aber Deutschland spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Instrumente. Ich will an dieser Stelle für den Emissionshandel werben. Der Emissionshandel ist vor 15 Jahren nicht zuletzt auf deutsche Initiative hin in Europa eingeführt worden. Der Emissionshandel gilt in den Sektoren Industrie und Stromerzeugung. Er funktioniert. Er erfüllt genau das, was er erfüllen soll. Es gibt Mengenvorgaben. Der Emissionshandel ist nämlich ein Instrument zur Mengensteuerung. Er erfüllt das Ziel der Reduktion, er übererfüllt sogar das degressive Ziel der Mengenreduktion. ({0}) Deshalb ist es richtig, den Emissionshandel nicht nur zu erhalten, sondern auch weiter auszubauen, und zwar in Europa – darauf komme ich noch zu sprechen –, aber auch weltweit, weil nur ein weltweiter Emissionshandel ein geeignetes Instrument ist. Der Versuch der Europäischen Union, den Emissionshandel im europäischen Flugverkehr einzuführen, indem man das einfach den anderen diktiert hat, ist missglückt. So wird das nicht funktionieren. Der Emissionshandel ist auf andere Regionen auszuweiten. In China gibt es heute die Idee und erste Projekte, den Emissionshandel einzuführen. Auch in den Neuenglandstaaten gibt es Inseln, wo es den Emissionshandel gibt. Der Emissionshandel muss verknüpft werden – zwischen Europa und diesen Inseln –, um eine bessere Lenkungswirkung zu erreichen. Dann haben wir weltweit ein Instrument, das hinsichtlich der CO 2 -Vermeidung kosteneffizient und technologieoffen ist. Das ist eine Chance. Dieses Instrument müssen wir von Europa aus in die Welt bringen. ({1}) Da kann Deutschland seinen Beitrag leisten. Deutschland kann auch einen Beitrag leisten, indem wir die Technologien voranbringen. Im Übrigen ist es bei weitem nicht so, dass nichts passiert ist; Herr Krischer, das wissen Sie genauso gut wie ich. Wir hatten mal 1,3 Milliarden Tonnen CO 2 -Emissionen, ({2}) jetzt sind es noch 800 Millionen Tonnen. Wir haben in den letzten Jahren die Energieeffizienz in mehreren Bereichen verdoppelt. Das heißt, mit dem gleichen Einsatz an Energie haben wir das doppelte Sozialprodukt erwirtschaftet. Wir haben zum Beispiel den Heizölverbrauch in Deutschland in den letzten fünf Jahren um 50 Prozent reduziert. Unsere Aufgabe kann es also sein, die Technologien voranzubringen. Vorhin wurde der ÖPNV angesprochen. Diese Bundesregierung will die Digitalisierung des öffentlichen Verkehrs. Wir wollen zum Beispiel in Stuttgart ETCS, die europäische Zugsteuerung, einführen. Sie ermöglicht es, auf der Stammstrecke – ohne Ausbau – 50 Prozent mehr Verkehr zu führen. ({3}) Wenn dort 50 Prozent mehr Verkehr geführt werden, dann ist das ein Beitrag zur Reduktion des CO 2 -Ausstoßes im Verkehrsbereich. Diesen Beitrag können wir leisten. ({4}) So gibt es viele Beispiele, wie wir es machen sollten. Definitiv nicht richtig und der falsche Ansatz wäre es aber, nationale CO 2 -Steuern einzuführen, die die internationalen und europäischen Ansätze konterkarieren. Deshalb ist unsere Wahl der Emissionshandel.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ihn wollen wir europäisch ausweiten: auf den Gebäude- und Verkehrssektor. Da muss Deutschland federführend sein und der Schrittmacher sein. Das ist das richtige Instrument: für Deutschland, für Europa und für die Welt. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Timon Gremmels, SPD-Fraktion. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die Diskussion dieser Aktuellen Stunde betrachtet und den Antragsteller außen vor lässt, dann kann man feststellen: Das ist eine sehr sachliche, eine sehr ausgewogene und eine abwägende Diskussion. Wir sind uns alle in der Frage einig, dass wir, in welcher Form auch immer, schauen müssen, dass wir dem CO 2 auch im Verkehrs- und Gebäudebereich sowie in der Landwirtschaft ein Preisschild anhängen müssen. In dieser Frage müssen wir in Richtung eines CO 2 -Preises gehen. Bei der Union weiß man nicht. Die Antwort hängt ein bisschen davon ab, ob man Herrn Günther, Herrn Laschet oder Herrn Weber fragt. Das müssen Sie intern noch klären. Wir haben gesagt: Wir wollen dieses Thema nicht auf die lange Bank schieben; das haben auch meine Vorredner schon deutlich gemacht. In der Frage eines europäischen Emissionshandels – ich habe heute Morgen schon aus dem „Handelsblatt“ zitiert; das will ich nicht wiederholen – heißt es: Das bedeutet, dieses Thema auf die lange Bank zu schieben. – Das ist ein Vertagen des Projekts auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Das wollen wir nicht. Wir müssen handeln, und zwar dringend. Da gibt es auch andere Möglichkeiten. Ein CO 2 -Preis kann da eine Teillösung sein, ein Aspekt. ({0}) Dieser CO 2 -Preis ist nicht die eierlegende Wollmichsau. Man hat in der aufgeregten Debatte der letzten Tage manchmal den Eindruck: Haben wir eine CO 2 -Bepreisung, wie auch immer sie aussieht, dann wird alles gut. Damit wären dann alle Spatzen gefangen. – Nein, das ist nur ein Baustein von vielen. Er entpflichtet uns nicht von der Einhaltung der Sektorenziele. Auch mit einer CO 2 -Bepreisung brauchen wir noch ein Erneuerbare-Energien-Gesetz. Wir brauchen auch ein Klimaschutzgesetz. Aber die CO 2 -Bepreisung kann ein Baustein sein. Mein Appell an uns alle ist: Lassen Sie uns jetzt nicht wegen kleinteiliger Geländegewinne im Europawahlkampf in der Tagespolitik Instrumente zerreden und kaputtmachen, die wir später vielleicht noch dringend brauchen. ({1}) Das ist mein wirklich großer Appell. Die Angstmacher der AfD versuchen das ja gerade. Manch einer ist geneigt, auf diesen Zug aufzuspringen. Das halte ich für absolut schädlich und kontraproduktiv. Es kann ein wichtiges Instrument sein, wenn man die CO 2 -Bepreisung schlau gestaltet. ({2}) Es gibt ja verschiedene Konzepte und verschiedene Beispiele – die Schweiz ist genannt worden; auch Herr Edenhofer und sein Institut haben dazu Vorschläge gemacht –, die deutlich machen, dass am Ende des Tages die, die weniger verdienen, sogar die größten Profiteure einer Klimadividende sein können, weil sie hinterher mehr im Portemonnaie haben als vorher. ({3}) Sie brauchen mir nicht zu glauben. Ich habe heute Morgen das „Handelsblatt“ zitiert. Jetzt zitiere ich noch die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“; Sie kennen also jetzt meine Lektüre. Was steht da? „Die CO 2 -Steuer schadet den Reichen“. Es gibt sozial ausgewogene Konzepte für die Menschen, die sich das nicht leisten können, also etwa den Pendler bei mir aus dem Wahlkreis, der von Helsa-St.-Ottilien jeden Morgen mit einem älteren Auto bis nach Kassel zur Arbeit fahren muss und abends zurück, weil er sein großes, noch nicht saniertes Haus und seinen Garten pflegen muss. Auch diese Menschen müssen wir im Blick haben. Auch da müssen wir kucken, dass sie nicht die Leidtragenden sind, die am Ende des Tages die Zeche zahlen. Das ist unsere Verantwortung, dass wir als Sozialdemokraten aufpassen, dass wir die Bürger mitnehmen. Wir wollen die Bürger als Partner des Klimaschutzes. Ich glaube, dass die Menschen mittlerweile sehr viel schlauer sind, als das manch einer von den Politikern hier darstellt. Die Menschen wissen, dass ein Handlungsbedarf da ist. ({4}) Sie sehen das nicht nur an dem überhitzten Sommer im letzten Jahr. Sie sehen es auch daran, dass freitags Schülerinnen und Schüler auf die Straße gehen. Ehrlich gesagt, angesichts Ihrer Verunglimpfung frage ich: Wie groß muss denn die Angst der AfD sein, ({5}) dass Sie eine Greta Thunberg als krank diskreditieren und in Misskredit bringen, dass Sie Verschwörungstheorien darüber aufbauen, wie die finanzielle Unterstützung von Fridays for Future ist? Ich glaube, die AfD sollte in der Frage der Finanzen ganz ruhig sein. Klären Sie erst mal, woher Ihre Parteispenden kommen. Machen Sie da mal reinen Tisch, bevor Sie junge, engagierte Menschen, die sich für den Klimaschutz starkmachen, diskreditieren! ({6}) Wir brauchen aktiven Klimaschutz. Ich war bei der UN-Klimakonferenz in Kattowitz dabei. Da ist das ziemlich deutlich geworden. Sie merken es, wenn Sie mit Menschen reden, die von den Marshallinseln kommen. Diese sagen: Wir überleben nicht, wenn alle so weitermachen, weil der Meeresspiegel ansteigt. ({7}) Wir werden am Ende des Tages absaufen. – Deswegen müssen wir handeln. Wir als Bundesrepublik Deutschland haben eine Verpflichtung, mit gutem Beispiel voranzugehen. ({8}) Ich sage noch einmal deutlich: Mit einem klug gemachten Klimaschutz, mit einer guten Energiepolitik, mit einer dezentralen Energiewende schaffen wir auch Arbeitsplätze. Es ist schon heute so, dass es durch erneuerbare Energien sehr viel mehr Arbeitsplätze gibt als bei einer konventionellen Energiepolitik. ({9}) – Hören Sie doch mit Zwischenrufen wie „Hochsubventionierte Arbeitsplätze!“ auf! Wenn wir nicht handeln, wird das Ganze zehnmal teurer. Ich sage – das soll mein Schlusssatz sein –: Wenn wir nichts tun, müssen wir beim Effort Sharing richtig viel Geld zahlen: bis zu 60 Milliarden Euro. Wer wird das wohl am Ende zahlen? Das ist doch der Steuerzahler. Nichtstun ist am Ende des Tages deutlich teurer, als jetzt gemeinsam zu handeln. Insofern: Für eine sozial gerechte CO 2 -Bepreisung, dafür steht die SPD. Ich danke Ihnen. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Gremmels, herzlichen Dank. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Anja Weisgerber, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! In diesem Jahr stellen wir wichtige Weichen für die Klimapolitik. Da gibt es nicht nur ein Instrument. Deshalb war es genau der richtige Schritt, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Klimakabinett eingesetzt hat und dass die Minister jetzt mit Teamgeist an den erforderlichen Maßnahmen in allen Sektoren arbeiten. Einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele wird der Energiesektor leisten. Noch in diesem Jahr werden wir ein Kohleausstiegsgesetz verabschieden. Gleichzeitig werden wir sicherstellen, dass die Energieversorgungssicherheit zu bezahlbaren Strompreisen gewährleistet bleibt. Meine Damen und Herren, es ist eine Riesenleistung und auch Herausforderung, dass wir als Industrienation nach dem Ausstieg aus der Kernenergie jetzt den Ausstieg aus der Kohleverstromung gestalten. Das muss an dieser Stelle auch mal gesagt werden. ({0}) Außerdem wollen wir bis 2030 den Anteil erneuerbarer Energien am Strom auf 65 Prozent ausbauen. In allen Sektoren setzen wir auf Technologie, Fortschritt und Innovation. Dafür sind steuerliche Anreize notwendig. Wir müssen den Umstieg auf Wasserstoff, der mit erneuerbaren Energien hergestellt wird, auf Power-to-X attraktiver machen. ({1}) Dafür müssen wir die EEG-Umlage und die Stromsteuer senken. Im Verkehrsbereich setzen wir auf alle alternativen Antriebe. Neben der Elektromobilität ist es wichtig, noch stärker auf die synthetischen Kraftstoffe zu setzen und sie in die Breite zu bringen. Das schaffen wir, wenn wir die Energiesteuer, ehemals Mineralölsteuer, auf diese Kraftstoffe senken. Im Gebäudebereich müssen wir schnellstmöglich all diejenigen entlasten, die ihr Haus klimafreundlich sanieren. Bauminister Seehofer wird diese Maßnahme in das Klimakabinett einbringen. Meine Damen und Herren, wir werden nicht lockerlassen, bis diese Maßnahme endlich kommt. ({2}) Für all diese Maßnahmen brauchen wir Geld. Hier ist der Bundesfinanzminister gefragt. Jetzt muss er zeigen, wie viel ihm Klimaschutz wirklich wert ist. Neben den Einzelmaßnahmen wird als sektorenübergreifendes Instrument die CO 2 -Bepreisung diskutiert. CO 2 -Bepreisung ist nicht gleich CO 2 -Steuer. ({3}) In der ganzen Diskussion dürfen wir nicht vergessen, dass wir den europäischen Emissionshandel bereits als Bepreisungssystem haben. Das ist ein marktwirtschaftliches Instrument; denn es wird dort CO 2 eingespart, wo es am kostengünstigsten ist. Die CO 2 -Reduktion funktioniert über die Verknappung der Menge. Ja, wir müssen den Emissionshandel international exportieren, weil es ein Erfolgsprojekt ist. Der Emissionshandel deckt heute bereits die Sektoren Energie und Industrie ab. Nun wird darüber diskutiert, was mit den Sektoren Verkehr und Wärme passieren muss. Hier sind wir mitten in der Diskussion und prüfen alle Modelle. Dabei gilt für uns aber Folgendes: Solche Schritte müssen zumindest in Abstimmung mit den europäischen Partnern angegangen werden. Eine einseitige Belastung für die Bürgerinnen und Bürger lehnen wir ab. Unserer Ansicht nach muss es doch andere Möglichkeiten geben, als nur an einer Stelle einseitig die Steuern zu erhöhen, meine Damen und Herren. ({4}) Das Thema darf nicht dazu benutzt werden, dass sich der Staat die Taschen vollmacht. Wir sind uns darüber einig, dass ein solches Instrument nicht die Mobilität unterdrücken darf. Ich denke da insbesondere an die Pendlerinnen und Pendler in den ländlichen Räumen. ({5}) Wir dürfen auch nicht zulassen, dass der Industriestandort Deutschland Schaden nimmt und es in der energieintensiven Industrie zu Arbeitsplatzverlagerungen ins Ausland kommt. Meiner Meinung nach hat die FDP darauf keine Antwort. ({6}) Im Übrigen: Es gibt bereits heute einige Steuern im Energiebereich, zum Beispiel die Energiesteuer, die Stromsteuer oder die Kfz-Steuer. Die Steuern sind aber nicht konsistent und sind nicht konsequent auf CO 2 bezogen. Wir müssen all diese Steuern einem CO 2 -Check unterziehen ({7}) und jedenfalls überall dort mit den Steuern runtergehen, wo CO 2 eingespart wird. Wir fordern, dass endlich auch mal darüber diskutiert wird, wo Steuern und Abgaben abgesenkt werden können – Stichworte „Stromsteuer“ und „EEG-Umlage“ –; denn wir müssen die Bürgerinnen und Bürger entlasten, wenn sie CO 2 sparen. Das ist die Lösung. Wir werden uns die notwendige Zeit für die Entwicklung der Maßnahmen und für kluge Klimaschutzinstrumente nehmen; denn auch wir vonseiten der Union wollen Klimaschutz. Aber wir wollen auch die Akzeptanz der Menschen; denn ohne die Akzeptanz der Menschen ist unser großes gemeinsames Projekt, den Klimawandel einzudämmen, nicht zu machen. Das Projekt wird scheitern, wenn wir die Akzeptanz verlieren. Danke schön. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Weisgerber. – Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Carsten Träger, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Carsten Träger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004426, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Kraft von der AfD, heute haben Sie die Maske gelüftet und die Fratze des Hasses gezeigt. ({0}) Ihnen geht das Angstthema Migration aus. Deshalb suchen Sie ein neues Gespenst. Nun schüren Sie die Angst vor angeblichen Steuererhöhungen. Da liegen Sie falsch. ({1}) Sie lügen sich in die Tasche nach dem Motto: Wer nicht an den Klimawandel glaubt, muss ihn auch nicht bekämpfen. – Aber mit dem Glauben ist das so eine Sache. „Glauben“ heißt nicht „wissen“. Das mag in vielen Fällen nicht tragisch sein. In der Politik aber ist Nichtwissen dramatisch, weil wir hier in diesem Hohen Haus weitreichende Entscheidungen zu treffen haben, Entscheidungen, die das Leben von Millionen Menschen in Deutschland betreffen und in dieser Frage des Klimawandels sogar das Schicksal unseres Planeten. Da ist Ihr Nichtwissen bedrohlich. Es ist lebensbedrohlich für uns alle hier, für unsere Kinder und Enkel. ({2}) Es ist ja nicht so, dass wir es nicht besser wüssten. 97 Prozent der Wissenschaftler sagen, dass wir vor einem Klimawandel stehen, der menschengemacht ist und den wir bekämpfen müssen. ({3}) Für alle Menschen, die mit offenen Augen durchs Leben gehen, steht längst fest: Der menschengemachte Klimawandel findet statt, und wir müssen alle Anstrengungen bündeln, um ihn zu stoppen oder wenigstens einzudämmen. ({4}) Übertragen auf die Fraktionen in diesem Haus hier: Alle stimmen dem zu, bis auf Sie von der AfD. Aber Sie kandidieren auch für das Europaparlament, das Sie abschaffen wollen, und glauben an das Märchen vom bösen Wolf. Alle anderen sind sich immerhin einig: Wir müssen etwas tun. Wir müssen es dringend tun. Also könnte man sagen: Wohlan! Gehen wir es an! Machen wir was! – Leider sind wir uns nicht einig, welchen Weg wir gehen wollen, was wir tun wollen. Dabei sagen uns alle Experten – auch der einfache Menschenverstand sagt uns –: Gebt klimaschädlichem Verhalten einen Preis, und dann wird es weniger stattfinden. ({5}) Die Wissenschaft fordert einen solchen Preis schon seit Jahren. Unsere europäischen Nachbarn erheben einen solchen Preis schon seit Jahren, und zwar mit gutem Erfolg. Die Schülerinnen und Schüler von Fridays for Future gehen seit Monaten auf die Straße. Auch die deutsche Wirtschaft fordert die Einführung einer CO 2 -Bepreisung. Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen von FDP und Union, sollten Sie doch mal ins Grübeln kommen. Für uns Sozialdemokraten ist klar: Wir wollen das machen. Wir wollen CO 2 einen Preis geben. Wir wollen klimaschädlichen Stoffen einen Preis geben. Wir wollen einen umweltfreundlichen Preis, der eine Lenkungswirkung entfaltet. Das bedeutet einen Preis, der Unternehmen sowie Verbraucherinnen und Verbraucher dazu bewegt, sich klimafreundlich zu verhalten. Das gilt für Produkte mit weniger Verpackungsmüll genauso wie für das Heizen, Kühlen und Autofahren. Wir wollen ein sozial gerechtes System, das kleine und mittlere Einkommen nicht belastet. Der Preis wird keine neue Einnahmequelle des Staates sein. Vielmehr werden wir die Einnahmen den Bürgerinnen und Bürgern zurückgeben. ({6}) Wir wollen einen intelligenten Anreiz, der Rücksicht darauf nimmt, dass sich nicht alle Menschen kurzfristig klimafreundlich verhalten können, zum Beispiel die schon angesprochenen Pendler, die aufs Auto angewiesen sind, oder Menschen, die in energetisch schlechten Wohnungen leben, weil sie sich nicht mehr leisten können. Für diese Menschen brauchen wir kluge Regelungen. Kolleginnen und Kollegen, wenn uns das gelingt, werden die Menschen diesen Weg mitgehen. Die sauberen Technologien werden die schmutzigen verdrängen. So geht intelligenter und nachhaltiger Klimaschutz. Für uns ist klar: Eine CO 2 -Bepreisung alleine macht nicht selig. Aber sie kann und sie wird einen großen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele leisten, weil sie Innovationen und Investitionen in saubere Technologien anreizen und fördern wird. ({7}) So wird Deutschland zum Vorbild für andere. Dann werden uns andere folgen. So schützen wir das Klima nicht nur national, sondern auch global. So fördern wir auch den Wirtschaftsstandort Deutschland. Das sollte doch in unser aller Interesse liegen. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Träger. – Damit schließe ich die Aktuelle Stunde.

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Warum diskutieren wir über den Bundeswehreinsatz in Mali? Mali ist ein Staat in der Sahelregion, der für die Stabilität der gesamten Region eine enorme Bedeutung hat. In Mali gab es vor einigen Jahren heftige bewaffnete Auseinandersetzungen. Es gab danach einen Friedensvertrag. Die Bundeswehr ist dort im Rahmen einer internationalen Mission tätig, um die Umsetzung dieses Friedensvertrags zu unterstützen und abzusichern. ({0}) Klar ist in einer solchen Situation: Entwicklung und Frieden kann es nicht geben, wenn staatliche Autorität nicht funktioniert, wenn das staatliche Gewaltmonopol nicht funktioniert. Genau an dieser Stelle unterstützt die Bundesrepublik Deutschland die malische Regierung und die Entwicklung dort im Land; denn ohne Stabilität ist auch keine Entwicklung möglich. ({1}) Für uns ist auch klar: Das ist ein Einsatz unter schwierigen politischen Bedingungen. Es ist aber auch ein gefahrvoller Einsatz. Ich bin mit dem Kollegen Koob und der Kollegin Tatti zusammen mit dem Bundesaußenminister im Februar dort gewesen. Wir haben fast hautnah erlebt, wie gefährlich die Situation dort ist. Damals gab es einen großen Anschlag auf das Ausbildungscamp. Neben MINUSMA gibt es nämlich auch noch eine Ausbildungsmission, über die wir anschließend reden werden. Beides gehört unmittelbar zusammen; denn am Ende geht es darum, dass wir den malischen Staat in die Lage versetzen, die Verantwortung wieder selbst in die Hände zu nehmen. Das internationale Engagement kann nur eine Unterstützung, eine Brücke in die Zukunft sein. Bei unserer Reise ist aber auch deutlich geworden: Es gibt trotz unseres Engagements keine einfache Aufwärtsentwicklung in diesem Land. Zum Teil hat sich die Situation sogar verschlechtert. Im Zentrum Malis gibt es wieder verstärkt bewaffnete Auseinandersetzungen, gibt es heftige Anschläge. Vor wenigen Tagen gab es eine Regierungskrise mit einer kompletten Regierungsumbildung. Der Verfassungsprozess kommt nur sehr schleppend voran. Die vorgesehenen Wahlen sind verschoben worden. All das sind Rückschläge auf dem Weg, den wir gemeinsam mit Mali gehen wollen. Wenn man aber jetzt die Frage stellt: „Wäre es dann sinnlos, in eine solche Operation zu gehen, und ist das Engagement, das die Bundeswehr dort seit 2013 leistet, umsonst?“, dann kann man, glaube ich, sagen: Nein, dieser Einsatz ist nicht umsonst. ({2}) – Wir erzählen das, weil die Erfahrung dafür spricht. ({3}) Es ist ziemlich deutlich, Herr Kollege: Ohne die internationale Stabilisierung – das erfährt man in vielen Gesprächen vor Ort – wäre die Situation viel, viel schwieriger, wenn nicht gar am Rande eines Bürgerkrieges. ({4}) Wir haben dort Gespräche mit Vertretern des malischen Parlaments und mit Organisationen der Zivilgesellschaft geführt und auch mit denen geredet, die dort Aufbauarbeit leisten. Sie alle haben uns gesagt: Ein Mindestmaß an Sicherheit ist eine wichtige Voraussetzung für den Aufbau des Landes. – Deshalb sind wir da. ({5}) Ich will an dieser Stelle noch einmal allen Soldatinnen und Soldaten, die dort im Einsatz sind, Danke schön sagen. Es ist ein gefahrvoller Einsatz, und trotzdem setzen sie sich dieser Gefahr aus. Ich habe in einer Reihe von Gesprächen, die ich mit unseren Soldatinnen und Soldaten führen konnte, festgestellt, dass sie sich der Situation sehr bewusst sind. Sie sagen sehr klar und deutlich: Wir haben das Gefühl, dass wir hier an der richtigen Stelle sind. Wir finden den Einsatz gut. Wir wollen Mali auf einem guten Weg in die Zukunft unterstützen. – Deshalb unterstützt die SPD die Verlängerung dieses Mandats. Herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Matschie. – Als nächster Redner hat der Kollege Rüdiger Lucassen, AfD-Fraktion, das Wort. ({0})

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute auf der Tribüne und draußen am Bildschirm! Der Bundestag wird gleich über die Verlängerung des sogenannten Stabilisierungseinsatzes in Mali abstimmen, und – Achtung, Spoiler – in den Reihen von CDU/CSU und SPD werden alle Abgeordnete ihre Hände heben ({0}) und diesen zum Scheitern verurteilten Einsatz der Bundeswehr um ein weiteres Jahr verlängern. ({1}) Die Abgeordneten der Regierungsparteien werden das tun, weil sie es seit 1993 immer so taten, jedes einzelne Mal. Damals, vor 26 Jahren, brachte die Regierung ihren ersten Antrag für einen Auslandseinsatz in Somalia ein. Seitdem stimmte der Bundestag 195‑mal über den Beginn oder die Verlängerung eines Auslandseinsatzes deutscher Streitkräfte ab. Von diesen 195 Anträgen stimmte das deutsche Parlament – Sie werden es bestimmt erraten – 195‑mal zu. Verlässlich wie in Nordkorea, meine Damen und Herren! ({2}) Jetzt zu Ihrem Mali-Antrag. ({3}) – Ja, hören Sie gut zu! – Die Bundesregierung spricht immer von einer robusten Friedensmission. Was ist für die Bundesregierung „robust“? Kampfeinsatz? Unter Punkt 3 – Auftrag – heißt es: „aktiver Schutz des Mandats von MINUSMA durch das Bekämpfen asymmetrischer Angriffe“. Klingt robust. Nur kann Militär keine Angriffe bekämpfen. Angriffe finden statt, und Soldaten können sie abwehren. Bekämpfen könnte die Bundeswehr aber feindliche Truppen, irreguläre Kämpfer oder Terroristen. Das tut sie aber nicht; denn eine Seite weiter heißt es im Antrag: Die Teilnahme an Operationen zur Terrorismusbekämpfung ist weiterhin nicht vom Auftrag erfasst. Also kein Kampf. Was versteht die Bundesregierung also unter „robust“? Dann heißt es weiter: „Waffen- und Munitionsmanagement“. Was ist das? Entwaffnet die Bundeswehr Rebellen? Nein, darf sie nicht. Was versteht die Bundesregierung also unter „robust“? Der ganze Antrag ist ein Papier zur Verschleierung, gespickt mit Worthülsen, wo die Soldaten eigentlich Klarheit bräuchten. Das ist unredlich, feige und angesichts der Tatsache, dass Sie unsere Männer und Frauen dieser Gefahr aussetzen, zutiefst verantwortungslos. ({4}) Die Sicherheitslage in Mali verbessert sich nicht; sie verschlechtert sich stetig. Sie sprechen in Ihrem Antrag mal von „fragil“, mal von „angespannt“, an anderer Stelle von „unbeständig“. Das Wetter im April ist unbeständig, meine Damen und Herren Abgeordnete. Für einen militärischen Einsatz mit über 1 000 deutschen Soldaten ist eine so unpräzise Sprache fehl am Platz. ({5}) Ich frage mich auch: Wo ist der Beitrag des General­inspekteurs bei so einem Antrag? General Zorn ist der höchste militärische Berater der Bundesregierung. Warum lässt er eine solche Verschleierung und eine so unpräzise Auftragserteilung zu? Er ist Vorgesetzter, er hat Fürsorgepflicht, und es sind seine Soldaten, die dieses Tarnen und Täuschen der Bundesregierung ausbaden müssen. ({6}) Es sind nicht nur die schlecht mandatierten Auslandseinsätze; das Gesamtbild dieser Regierung in der Sicherheits- und Militärpolitik ist völlig aus den Fugen geraten. ({7}) Zu Hause, an der Heimatfront, da bricht es zusammen: Einsatzbereitschaft des Großgeräts – mangelhaft; Personalgewinnung – mangelhaft; Beschaffungswesen – dysfunktional. Auf der anderen Seite aber Hunderte Millionen Euro für Projekte wie die „Gorch Fock“ und für externe Berater, die sich das BMVg zur Beute machen. ({8}) Gleich werden also die Abgeordneten von CDU/CSU und SPD die Hände heben und den Mali-Einsatz verlängern, zum 196. Mal. Es ist ihnen egal, dass diese strategielose Politik dort scheitert, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– egal, wie desolat die Lage der Bundeswehr im Heimatbetrieb ist, und egal, welche Risiken die Soldaten für diesen unsinnigen Einsatz auf sich nehmen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, ein letzter Satz.

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Jawohl. – Eines bewundere ich dann doch an Ihnen, liebe Kollegen: dass Sie sich morgens noch im Spiegel anschauen können. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Henning Otte das Wort. ({0})

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht um einen sehr wichtigen Auftrag für die Sicherheit und Stabilität. Deswegen lassen Sie mich nach der Rede meines Vorredners noch einmal kurz die Kernelemente darstellen. Es geht um die Umsetzung des Abkommens für Frieden und Aussöhnung; es geht um die Wiederherstellung der staatlichen Autorität; es geht um die Förderung der nationalen Aussöhnung auf allen Ebenen; Schutz von Zivilpersonen vor asymmetrischen Bedrohungen; Gewährleistung des Schutzes des Personals der Vereinten Nationen; Förderung und Schutz der Menschenrechte; Schaffung eines sicheren Umfelds für humanitäre, zivile Entwicklung; Projekte zur Stabilisierung; Waffen- und Munitionsmanagement. Meine Damen und Herren, dieser Auftrag in Mali ist eingebettet in ein umfassendes Stabilitäts- und Sicherheitskonzept. Es geht darum, deutlich zu machen, dass Stabilität in der Sahelzone notwendig ist, weil eine Destabilisierung Konsequenzen nicht nur für die Menschen dort hätte, sondern auch für Europa. Deswegen ist es gut, dass es eine G-5-Sahel-Einheit gibt, bestehend unter anderem aus Mali, dem Tschad, Mauretanien und Niger. Es geht darum, deutlich zu machen: Hier wird Verantwortung übernommen für eine ganze Region, die für uns von so besonderer Bedeutung ist. Ich kann nur sagen, dass der Besuch unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht nur ein Zeichen der Anerkennung war, sondern auch einen klaren Überblick über die Lage gegeben hat. Die Nationen dort brauchen neben der Ausbildung auch Ausrüstung, um ihren Beitrag zu leisten, den Deutschland gerne unterstützt. Deswegen will ich noch einmal sagen: Die eindimensionale Sicht, die eben zum Ausdruck kam, wird der Verantwortung Deutschlands nicht gerecht. 60 Nationen sind in Mali im Einsatz, auch unterstützt durch EUCAP Sahel Mali und EUTM Mali, das heißt 13 000 Soldatinnen und Soldaten, 1 700 Polizeikräfte und 1 200 zivile Mitarbeiter, die gemeinsam einen Beitrag dafür leisten, dass Mali und damit die gesamte Region stabilisiert wird; denn es geht um ein Schlüsselland. Deswegen ist es gut, meine Damen und Herren, dass wir diesem Antrag der Bundesregierung und dieser Mandatierung zustimmen. ({0}) Die Bundeswehr ist dort aktuell mit 900 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, und das Mandat hat einen Umfang von bis zu 1 100 Soldatinnen und Soldaten für Objektschutz und Aufklärung. Dort herrschen Sand, Staub und Weite, und unsere Soldatinnen und Soldaten leisten dort einen sehr bedeutenden Beitrag unter gefährlichen und erschwerten Bedingungen. Aktuell herrschen dort 40 Grad Celsius. Nachts sind es bis zu 30 Grad. Ich sage noch einmal deutlich, dass wir nicht wie mein Vorredner die Arbeit der Soldatinnen und Soldaten ins Lächerliche ziehen, sondern wir sagen herzlichen Dank für die Arbeit. Diese Arbeit ist unverzichtbar für die Sicherung und Stabilität, meine Damen und Herren. Deswegen unterstützt die CDU/CSU unsere Bundeswehr, wo sie nur kann. ({1}) Wie eine solche Unterstützung aussieht, will ich Ihnen sagen. Die Bundeswehr ist dort mit der Heron im Einsatz. Wir wollen die Heron weiterentwickeln, die ermöglicht, ein umfassendes Lagebild auch auf Distanz zu bekommen, ohne dass wir unsere Soldaten gefährden. Wir wollen, dass der Einsatz der Heron mit der modernisierten Ausstattung Heron TP weitergeführt wird. Die Ausbildung dazu läuft, und ich sage zusätzlich auch noch einmal ganz deutlich für die Union: Wenn es notwendig ist, dann wollen wir auch, dass man mit der Heron bewaffnet agieren kann, um unsere Soldatinnen und Soldaten zu unterstützen. Das ist ein weiteres Indiz dafür, dass wir bereit sind, unsere Unterstützung für die Soldaten zur Verfügung zu stellen, wenn es denn sein muss. ({2}) Denn am Ende ist eines von unverzichtbarer Bedeutung: der Schutz unserer Truppe, meine Damen und Herren. Das sind wir auch den Familien schuldig. ({3}) Insgesamt geht es darum, dass wir Verantwortung übernehmen: für unser Land, für Deutschland, für die Bündnisverteidigung, aber auch für die Konfliktbewältigung und die Stabilisierung dort, wo es notwendig ist. Mali hat eine Schlüsselfunktion. Mali ist von besonderer Bedeutung für die Sahelzone. Deswegen geht es darum, dort Stabilität zu erzeugen. Denn nur mit einem stabilen Mali können wir einen Beitrag leisten, damit Konflikte nicht zu uns kommen und damit wir Frieden und Freiheit bewahren können, meine Damen und Herren. Wir bitten um Unterstützung und um Zustimmung für dieses so wichtige Mandat. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Otte. – Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Marcus Faber, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Deutschland ist erst vor wenigen Wochen für zwei Jahre in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingezogen. Das ist eine Aufgabe mit sehr großer Verantwortung. Heute können wir hier zeigen, dass wir dieser Verantwortung auch gerecht werden. Wir haben derzeit 845 deutsche Soldaten im UN-Einsatz MINUSMA in Mali, und wir Freien Demokraten sind davon überzeugt, dass Mali alle diese 845 Soldaten auch dringend braucht. ({0}) Deshalb werben wir dafür, dieses Mandat heute zu verlängern. Verantwortung erschöpft sich aber nicht darin, hier einfach weiterzumachen, sondern Verantwortung heißt auch, diesen Einsatz noch besser zu machen. Die Bundesregierung muss deshalb bei den Vereinten Nationen für eine Schwerpunkterweiterung des Mandats werben. Der Fokus des Einsatzes darf nicht nur auf Nordmali liegen. Denn besonders fragil ist die Lage derzeit in Zentralmali. Die Zahl der bewaffneten Konflikte nimmt dort zu. Die Zahl der Anschläge durch improvisierte Sprengfallen hat sich hier von 2017 auf 2018 verdreifacht. Die traurige Wahrheit ist auch, dass wir unserer Aufgabe, dem Schutz der Zivilbevölkerung, dort nicht vollends gerecht werden. Sonst hätte es einen Anschlag wie im März mit über 130 Todesopfern nicht gegeben. Deshalb brauchen wir eine Schwerpunkterweiterung hin nach Zentralmali, und zwar so schnell wie möglich. ({1}) Meine Damen und Herren, diese Schwerpunkterweiterung sollte aber nicht nur geografisch sein; sie muss auch inhaltlich sein. Unsere Soldatinnen und Soldaten vor Ort sind sehr gut ausgebildet, und sie leisten hervorragende Arbeit. Das sollten wir nutzen und diese Fähigkeiten auch besser weitergeben. Ausbildung und Weiterbildung von Soldaten aus verbündeten Staaten sollten wir stärker in den Blick nehmen. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit Sprengfallen, sogenannten IED. Sowohl beim Erkennen als auch beim Entschärfen haben wir hier sehr gute Fähigkeiten. Dieses Wissen sollten wir nach dem Prinzip „Train the Trainer“ an verbündete Nationen wie Tschad, Guinea oder Bangladesch weitergeben. Denn auch damit tragen wir dazu bei, dass Mali nicht länger der gefährlichste Einsatzort der Bundeswehr bleibt. ({2}) Da ich gerade von „gefährlich“ spreche, komme ich direkt zum nächsten Punkt, werte Kollegen von der AfD. Sie lehnen den Einsatz ab. Sie halten ihn nicht nur für kurzsichtig, sondern auch für gefährlich. Das halte ich wiederum für gefährlich; denn wir reden hier von einer Region, in der Menschen das Land verlassen, weil die Konflikte außer Kontrolle geraten. Aus Ländern wie Mali kommen die Flüchtlinge, gegen die Sie Tag für Tag wettern. Bevor Sie allerdings Leute dahin zurückschicken wollen, wo sie aus Ihrer Sicht hingehören, wäre es aus meiner Sicht schlauer, dafür zu sorgen, dass sie gar nicht erst wegmüssen. ({3}) Wir müssen die Fluchtursachen dort bekämpfen. Wir müssen dort für Frieden und Stabilität sorgen. ({4}) – Da können Sie ruhig gehen, Herr Gauland. – Wir Freien Demokraten ducken uns da nicht weg. Wir stehen für die Verlängerung des MINUSMA-Mandates. ({5}) Deshalb, Frau von der Leyen: Passen Sie das Mandat bitte an die aktuelle Situation in Mali an! Ich würde mich auch freuen, wenn Sie auch Missionen wie im Niger mit unseren Spezialkräften in Zukunft mandatieren würden. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Faber. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Christine Buchholz, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich war in den letzten Jahren viermal in Mali – das letzte Mal im Februar –, und die Lage hat sich in diesen Jahren immer weiter verschlechtert. Der Bundeswehreinsatz und MINUSMA haben daran nichts geändert. Im Gegenteil: Das Land wurde nicht befriedet, sondern zunehmend militarisiert. Die bewaffneten Konflikte haben sich vom Norden nach Zentralmali und auch in die Regionen ausgedehnt. Ich will an der Stelle ganz deutlich sagen: Die Linke lehnt es ab, wenn im Niger Spezialkräfte der Bundeswehr nigrische Soldaten ausbilden, und das auch noch ohne Bundestagsmandat. ({0}) Es ist höchste Zeit: Die Bundeswehr muss raus aus Mali und allen anderen Sahelstaaten. ({1}) Außenminister Maas behauptete hier vor einem Monat – Zitat –, ohne MINUSMA gäbe es „Bürgerkrieg und Hunderttausende Flüchtlinge“. Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was er bei seiner letzten Reise nach Mali gemacht hat. Denn diese Einschätzung hat nichts mit der Realität zu tun. Es gibt doch jetzt Bürgerkrieg und Hunderttausende von Flüchtlingen. Ist es denn kein Bürgerkrieg, wenn wie im März bei einem Massaker in der Ortschaft Ogossagou 157 Menschen getötet werden? Die Opfer waren Zivilisten, die Angreifer waren es nicht. Überlebende berichten, dass es sich bei ihnen um rund 100 bewaffnete Männer einer ethnisch ausgerichteten Miliz handelte, die von Dutzend Uniformierten begleitet wurden. Wir wissen doch, dass in viele solcher Gewalttaten auch Soldaten der malischen Armee verstrickt sind. Und genau diese Armee soll nun im Rahmen des neuen ­MINUSMA-Mandates auch bei Operationen aktiv unterstützt werden. Die Bundeswehr verhindert keinen Bürgerkrieg in Mali, sondern wird unter dem Dach von MINUSMA Teil der militärischen Eskalation. Das ist die Realität, die Herr Maas zur Kenntnis nehmen sollte. ({2}) Was die Flüchtlinge angeht: Auch da hat sich, anders als die Bundesregierung unterstellt, nichts getan. Die Zahl der Binnenflüchtlinge hat sich sogar im letzten Jahr verdreifacht. Doch anstatt den Menschen zu helfen, ist die Bundesregierung vor allem damit beschäftigt, in der Sahelzone Flüchtlinge weiter mit militärischen und polizeilichen Mitteln abzuwehren. Das ist zutiefst inhuman und zynisch. Der Blauhelmeinsatz bringt übrigens nicht nur keinen Frieden. Es gibt eine Zusammenarbeit mit dem sogenannten Antiterrorkampf der französischen Armee. Diese führt im Rahmen der Kampfoperation Barkhane nächtliche Razzien und gezielte Tötungen durch. Im letzten Jahr deckte die „Welt“ auf, dass die Bundeswehr mit einer Drohne eine nächtliche Razzia in einem Dorf unterstützt hat. Offenbar ist das kein Einzelfall. Gestern bestätigte mir der Generalinspekteur im Verteidigungsausschuss, dass diese Art der Unterstützung bis heute weiterläuft. ({3}) Ich frage Sie: Wie viele sogenannte Verdächtige sind bei solchen Razzien verschleppt und ermordet worden? Es kann doch nicht angehen, dass die Bundeswehr wie in Afghanistan nun auch in Mali solche Mordoperationen unterstützt. ({4}) Die Bundesregierung verfolgt in Mali übrigens keine humanitären Ziele. Das „Handelsblatt“ brachte es jüngst auf den Punkt: Es gehe in der Sahelzone darum, sich ein Stück von der amerikanischen Militärmacht zu emanzipieren und – ich zitiere – selbstständig Interessen durchzusetzen. ({5}) Genau so ist es. Es geht der Bundesregierung um die eigene sogenannte militärische Glaubwürdigkeit, um den geostrategischen Interessen des deutschen Kapitals in einer rohstoffreichen Region Einfluss zu verschaffen. ({6}) Es geht Ihnen nicht um die malische Bevölkerung. Da können Sie krakeelen, wie Sie wollen. Ich glaube, Sie beweisen damit nur, dass ich offenbar einen wunden Punkt bei Ihnen getroffen habe. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Buchholz, kommen Sie bitte zum Schluss.

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Linke sagt: Frieden und Gerechtigkeit können nicht von außen nach Mali gebracht werden. Sie müssen von innen erkämpft werden. Das macht man nicht mit der Bundeswehr. Deswegen werden wir auch diesmal das MINUSMA-Mandat ablehnen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Dr. Frithjof Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Grüne haben der Friedensmission MINUSMA bisher mit großer Mehrheit zugestimmt und werden es trotz der komplizierten Lage in Mali diesmal wieder tun. Warum? Ohne MINUSMA hätte es kein Friedensabkommen für den Norden Malis gegeben. Für uns ist entscheidend, dass die Mission den Druck auf die Schlüsselakteure im Konflikt aufrechterhält, das Friedensabkommen von Algier umzusetzen. ({0}) Es ist nach wie vor die zentrale Aufgabe der Mission, dazu beizutragen, die Lage in Mali so zu stabilisieren, dass eine politische Lösung der Konflikte überhaupt gefunden werden kann. Denn es herrscht momentan eine Art Stillstand bei der Umsetzung des Friedensabkommens, die von mehreren Gruppen gezielt verschleppt wird. Es ist richtig, das zu kritisieren. Auch das Engagement der malischen Regierung und ihr Bemühen um politische Reformen sind bisher nicht ausreichend gewesen. Und ja, es ist richtig: Die Sicherheitslage hat sich in einigen Regionen des Landes noch verschlechtert. Dass sich die gewalttätigen Auseinandersetzungen jetzt auch in Zentralmali ausbreiten und dabei instrumentell ethnische Konflikte geschürt werden, das ist besonders beunruhigend. Die Ursachen sind sozialer, wirtschaftlicher und politischer Natur. Sie müssen entsprechend politisch adressiert werden: ({1}) durch verstärkte zivile Krisenprävention, durch erhöhten politischen Druck auf alle Akteure im Friedens- und Aussöhnungsprozess und gerade auch durch die stärkere Beteiligung der Zivilgesellschaft und von Frauen in diesen Prozessen. ({2}) Hier ist vor allen Dingen auch die neue malische Regierung gefordert. Ich sage aber auch: In dieser komplizierten Lage muss der Nutzen des Mandates kontinuierlich bewertet werden. Hochproblematisch finden wir in diesem Zusammenhang die immer stärkere Vermischung der UN-Mission mit der militärischen Aufstandsbekämpfung in den G-5-Sahelstaaten durch deren gemeinsame Eingreiftruppe und die französische Operation Barkhane. Ich sage klar: Es ist eine Sache, sich für eine demokratische Entwicklung und den Friedensprozess in Mali im UN-Rahmen zu engagieren, es ist eine andere, sich etwa mit dem diktatorischen Regime von Idriss Déby im Tschad zu verbünden und es zu unterstützen. ({3}) Das muss aufhören und darf nicht mit der UN-Mission heillos vermischt werden. Das gilt übrigens auch für die Ausbildung nigrischer Spezialkräfte ohne Mandat in Niger. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich im Rahmen der Mandatsverlängerung im Sicherheitsrat dafür einzusetzen, die militärische Unterstützung der G 5 aus dem Mandat für MINUSMA zu streichen. ({4}) Der Rücktritt der gesamten malischen Regierung und die Bildung der neuen Regierung Cissé sind Ausdruck einer dramatischen politischen Krise im Land. Es gibt dadurch jetzt aber auch die Chance auf einen Neuanfang mit den nötigen Reformen und einer Deeskalation der Lage in Zentralmali. Wenn dies nicht gelingt, ist die Gefahr groß, dass die politischen Grundlagen für diese wichtige UN-Mission weiter erodieren. Die internationale Gemeinschaft ist deshalb gerade jetzt gefordert, sich politisch noch stärker einzusetzen, dies zu verhindern. Danke für die Aufmerksamkeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schmidt. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Andreas Nick, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit sechs Jahren leistet die Bundeswehr einen erheblichen Beitrag zur Stabilisierung Malis und zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Ort. Zusammen bilden die VN-Mission MINUSMA und die EU-Ausbildungsmission EUTM mit einer Mandatsobergrenze von 1 450 Einsatzkräften den derzeit größten Auslandseinsatz der Bundeswehr. Allen unseren Soldatinnen und Soldaten vor Ort, darunter auch den Angehörigen des Sanitätsregiments 2 aus Rennerod in meinem Wahlkreis, gilt unser besonderer Dank. ({0}) Ich wiederhole hier bewusst, was ich bereits vor anderthalb Jahren in einer Debatte zu diesem Mandat gesagt habe: Der Einsatz in Mali zählt zu den anspruchsvollsten und gefährlichsten, die wir bisher mandatiert haben. Daraus ergibt sich für uns Parlamentarier eine ganz besondere Verantwortung. Ich möchte hierbei auf zwei Aspekte näher eingehen. Der erste ist operativer Natur. Es ist von zentraler Bedeutung, dass unsere Soldatinnen und Soldaten bei einem solchen Einsatz auf die bestmögliche Ausrüstung zurückgreifen können. Ich will nochmals betonen, dass wir uns bei künftigen Beschaffungsvorhaben noch stärker an den Anforderungen einer Armee im Einsatz orientieren müssen. ({1}) Das gilt vielleicht noch dringlicher für die Wartungs- und Instandhaltungsverträge mit privaten Dienstleistern, wie wir es beim Thema TIGER erlebt haben. Wenn wir hier in namentlicher Abstimmung unsere Soldatinnen und Soldaten für einen solchen Einsatz mandatieren, dann ist es auch unsere Verantwortung, im Haushalt und in der mittelfristigen Finanzplanung die hierfür notwendigen Mittel bereitzustellen. ({2}) Damit komme ich zur strategischen Evaluierung. Im Sinne unseres Grundsatzes der vernetzten Sicherheit kann ein militärischer Einsatz stets nur Teil eines umfassenden Prozesses zur politischen Konfliktlösung und zum Aufbau lokaler Sicherheitsstrukturen sein. Angesichts der anhaltend fragilen Lage in Mali – das ist schon angesprochen worden – hat die militärische Absicherung des Friedensprozesses nicht an Bedeutung verloren. Obwohl durch MINUSMA der Konflikt im Norden weitestgehend eingedämmt werden konnte, bedrohen ethnische Spannungen, islamistische Extremisten und kriminelle Netzwerke weiterhin die Stabilität des Landes. Diese Probleme beschränken sich aber keineswegs nur auf Mali. Vielmehr betreffen sie die gesamte Sahelzone. Mit ihrem Besuch hat die Bundeskanzlerin in der vergangenen Woche in den G-5-Staaten Burkina Faso, Mali und Niger noch einmal die Bedeutung der Region für uns in Deutschland und in Europa sowie den Handlungsbedarf vor Ort unterstrichen. Wir müssen unsere Partner im Sahel noch stärker dazu befähigen, selbst Sicherheitsverantwortung zu übernehmen. Die deutsche und europäische Unterstützung für die G-5-Staaten bei der Finanzierung, Ausbildung und Ertüchtigung der „Force Conjointe du G5 Sahel“ ist ein wichtiger Schritt dazu. Ich weise darauf hin: Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Guterres, hat diese Woche erneut auch die Erteilung eines robusten UN-Mandates nach Kapitel VII für die „Force Conjointe“ gefordert. Wir bedauern ausdrücklich, dass dies bislang vor allem am Widerstand der Vereinigten Staaten gescheitert ist. Wir finden die Anführung rein finanzieller Gründe und den Fokus auf die rein bilaterale Arbeit der USA in dieser Region für nicht leicht nachvollziehbar. Denn unsere Sicherheitsinteressen in Europa sind hier unmittelbar berührt. Eines ist klar: Eine Verschärfung der Krise im Sahel hätte direkte Auswirkungen auch auf die Sicherheitslage bei uns, sei es in Form verstärkter Migrationsbewegungen oder der Ausbreitung der terroristischen Bedrohung aus der Region. Der Einsatz der Bundeswehr in Mali schafft Sicherheit sowohl in Afrika als auch bei uns in Europa und trägt dazu bei, die Voraussetzungen für eine in Eigenverantwortung umgesetzte politische Lösung in der Region Sahel zu bereiten. Die CDU/CSU-Fraktion stimmt der Verlängerung des Mandats deshalb zu. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Nick. – Als nächster Redner hat für die SPD-Fraktion der Kollege Thomas Hitschler das Wort. ({0})

Thomas Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004303, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Soldatinnen und Soldaten sind aktuell bei MINUSMA in einer Situation, in der sie an ihre Grenzen gehen müssen. Sie leisten ihren Dienst bei Temperaturen von über 40 Grad Celsius und bei einer Luftfeuchtigkeit zwischen 55 und 75 Prozent. Das verlangt auch einem trainierten Soldatenkörper sehr viel ab. Hand aufs Herz: Wahrscheinlich wäre kaum einer von uns in der Lage, unter solchen Umständen gute und konzentrierte Arbeit ableisten zu können. Die Soldatinnen und Soldaten, liebe Kolleginnen und Kollegen, erfüllen bei diesen extremen Bedingungen ihren Dienst, den wir hier mandatiert haben. Was wir dabei nie vergessen dürfen: MINUSMA ist ein gefährlicher Einsatz; das haben viele Vorrednerinnen und Vorredner betont. 195 Angehörige der UN-Friedensmission sind seit ihrem Beginn 2013 gefallen, darunter auch zwei Hubschrauberpiloten der Bundeswehr. Wir denken heute auch an sie, wenn wir über dieses Mandat abschließend beraten. ({0}) Wir reden also über das gefährlichste Einsatzgebiet, in das wir unsere Truppe zurzeit schicken. Dieser Tragweite sind wir uns bewusst. Wir haben den allerhöchsten Respekt vor dem persönlichen Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten und sind ihnen dankbar für ihren Dienst. Wir schulden unseren Frauen und Männern aber nicht nur Respekt und Dank; wir schulden ihnen auch unseren Einsatz für die bestmöglichen Rahmenbedingungen bei diesem Mandat. ({1}) Im vergangenen Jahr, Kolleginnen und Kollegen, war ich selbst in Mali und habe von dort vier Hausaufgaben für uns mitgebracht, die die Truppe mir bei Gesprächen vor Ort aufgegeben hatte. Das waren die Verbesserungen der Zuverlässigkeit von Hin- und Rückflügen für Menschen und Material, der Transport vom und zum Flughafen Bamako in geschützten Fahrzeugen, die Fertigstellung der Unterkünfte und des Standorts Niamey in Niger sowie die Modernisierung der persönlichen Ausstattung der Soldatinnen und Soldaten. Und: Wie mir die Soldatinnen und Soldaten in den letzten Tagen berichtet haben, klappt die An- und Abreise mittlerweile deutlich besser. Die Flüge zwischen Köln und Bamako sind in der Regel pünktlich. Auch beim Transport vom Flughafen zum Lager hat sich einiges verbessert. Die Transporte finden jetzt in geschützten Fahrzeugen statt, wie es die Truppe vor Ort in der Vergangenheit als sinnvolle Verbesserung gefordert hat. Auch bei der Infrastruktur hat sich mittlerweile ein hoher Standard etabliert; das ist gut und wichtig. Deshalb danke ich auch den zuständigen Stellen im Verteidigungsministerium, liebe Frau von der Leyen. Wir tragen nämlich gemeinsam Verantwortung für die Männer und Frauen im Einsatz. Es ist entscheidend, dass wir diese Verantwortung auch gemeinsam wahrnehmen und nicht nur darüber sprechen. Es gibt für uns alle aber auch ein paar zentrale Punkte, um die wir uns künftig gemeinsam kümmern müssen, zum Beispiel die finale Umsetzung der Baumaßnahmen in Niamey, ein wichtiger Bestandteil für den gesamten Einsatz. Es ist bedauerlich, dass der Baufortschritt nicht im Zeitplan ist. Grundsätzlich lässt sich aber über die Infrastruktur sagen, dass die Soldatinnen und Soldaten sich im Einsatz mittlerweile gut geschützt und sicher fühlen. Sie wohnen in klimatisierten und gut geschützten Unterkünften; diese sind mittlerweile die Regel und nicht die Ausnahme. Aber: Wenn unserer Soldatinnen und Soldaten ins Freie gehen, trifft sie die Hitze wie ein Hammerschlag. Und genau da kommt es auf die individuelle persönliche Ausstattung an. Ein deutlicher Fortschritt ist auch dabei erreicht worden. Wir haben es geschafft, dass die Soldatinnen und Soldaten, die in den Einsatz gehen, ihre Schutzwesten bereits in Deutschland bekommen, also keinen Moment ohne Schutz im Einsatz sind. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist wichtig, und darauf müssen wir auch künftig pochen. ({2}) Was aber noch nicht in ausreichender Stückzahl vorhanden ist, sind besondere Teile der Bekleidung wie beispielsweise die Combatausrüstung oder, wenn im Spätsommer die Regenzeit beginnt, in manchen Bereichen der Nässeschutz. Hier müssen wir gemeinsam Wege finden, dass künftig kein Soldat und keine Soldatin ohne diese notwendigen Ausrüstungsgegenstände in den Einsatz geht. Wir, Kolleginnen und Kollegen, haben in der Großen Koalition vor wenigen Wochen einen wichtigen Schritt gemacht und 1,3 Milliarden Euro für die persönliche Ausstattung der Soldatinnen und Soldaten bewilligt. Das war gut, das ist richtig so, und genau das müssen wir in Zukunft verstetigen. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Thomas Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004303, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lassen Sie mich zum Schluss feststellen: MINUSMA ist wichtig für Mali; die Bundeswehr ist wichtig für MINUSMA. Lassen Sie uns deshalb diesen Einsatz fortführen! Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Hitschler. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat mit dem Anspruch auf ungeteilte Aufmerksamkeit der Kollege Dr. Volker Ullrich das Wort. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Mali übernehmen wir eine besondere Verantwortung. Wir tun das deswegen, weil diese Stabilisierungsmission mit über 50 teilnehmenden Nationen und über 11 000 Soldaten in internationale Verantwortung eingebettet ist. Die Verantwortung ergibt sich aber auch daraus, dass dieser Einsatz anspruchsvoll und gefährlich ist. Und doch ist er notwendig und verantwortbar, weil es nicht nur um das Abkommen von Algier, um die Frage der Aussöhnung im Norden von Mali, sondern weil es auch darum geht, dass wir klar und deutlich machen, dass wir eine Verantwortung für Westafrika und die Sahelzone insgesamt haben. Wir können nicht auf der einen Seite von mehr Verantwortung, die wir übernehmen, und von der Stabilisierung von staatlichen Strukturen sprechen und auf der anderen Seite dann nicht bei diesem wichtigen Einsatz dabei sein. Es geht um die Durchsetzung von Menschenrechten, um die Stabilisierung der Zivilgesellschaft und letzten Endes auch darum, Verhältnisse in der Sahelzone zu schaffen, die das Leben der Menschen dort besser machen. Ich erinnere daran, dass es bereits einmal durch die Destabilisierung in dieser Region zu den Verhältnissen gekommen ist, die wir heute vorfinden. Mali war von 1992 bis 2012 eine in relativem Maßstab stabile Demokratie. Durch die Vorkommnisse in Libyen und durch die Destabilisierung der Region sind diese Konflikte erst entstanden. Wir müssen alles dafür tun, dass solche Konflikte zukünftig vermieden werden, auch im Interesse der Menschen. Das ist unsere Verantwortung. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Ullrich, kann ich Sie einen kleinen Moment unterbrechen? Ich halte auch die Redezeit an. – Ich bitte das Plenum wirklich um Ruhe und würde auch der Regierungsbank raten, Frau Ministerin, dass die Zwiegespräche eingestellt werden. Das ist nicht üblich, wenn ein Redner hier redet; das meine ich in allem Ernst. ({0}) Ich habe heute Nacht nichts vor; ich habe Nachtdienst. Wir sind jetzt bei 3.15 Uhr; wir können das gerne noch ein bisschen länger hinauszögern. Wenn der Redner keine Ruhe für seine Rede bekommt, werde ich ihn nicht weiterreden lassen. Ich bitte wirklich darum, die Ruhe zu bewahren. Das gilt auch für den Kollegen Wadephul und andere, die kleine Schwätzchen halten, auch für Herrn Storjohann; alle kommen Sie heute ins Protokoll. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in allem Ernst: Der Redner hat die ungeteilte Aufmerksamkeit verdient, und ich bitte, ihm auch zuzuhören. – Herr Kollege Dr. Ullrich, Sie haben das Wort.

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich möchte darauf hinweisen, dass es natürlich auch Kritik an diesem Mandat gibt. Diese Kritik müssen wir ernstnehmen und daraus auch entsprechende Handlungsaufträge entwickeln. Wir wissen, dass im Augenblick der Anteil des Eigenschutzes relativ hoch, aber unumgänglich ist. Wir wissen, dass es zu Rückschlägen kommt, gerade weil im Bereich Zentralmali die Dschihadisten ethnische Konflikte instrumentalisieren, um damit den Staat Mali zu spalten. Wir wissen auch um die innenpolitische Instabilität des Landes, welches sich jetzt mit einer neuen Regierung auf den Weg gemacht hat, Stabilität zu gestalten. Aber die Frage, die wir uns stellen müssen, auch vor dem Hintergrund des furchtbaren Massakers vom März in Ogossagou, ist, ob denn die Situation verbessert würde, wenn wir und wenn andere Staaten sich zurückziehen würden, oder ob die Situation noch schlimmer werden würde mit all den Problematiken, die für die Menschen auftreten würden. Deswegen: Wer von Verantwortung in der westafrikanischen Zone spricht, wer über Verantwortung im Sahelbereich spricht, der kann diese Mission nicht ablehnen. Es geht darum, dass wir mit dieser Mission einen Beitrag leisten, dass diese Region im Interesse der Menschen, die dort leben, stabiler wird. ({0}) Wir werden von den Menschen, gerade auch von der jungen Generation gefragt werden: Was tut ihr für unsere Freiheit und für Frieden? – Wir wissen, dass Frieden und Freiheit Sicherheit brauchen. Wir wissen auch, dass Stabilität und der Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens geschützt werden müssen. Wenn der Staat dies nicht selbst kann, dann braucht er Hilfe von außen. Die vielen Blauhelmsoldaten, die in Mali unterwegs sind, sind für einige Menschen, vielleicht sogar für viele Menschen in Mali ein Zeichen der Hoffnung: dass wir Verantwortung übernehmen und sich in dieser Region die Verhältnisse zum Besseren wenden. Deswegen ist es richtig, diesen Einsatz zu befürworten. Unser Dank und unsere Anerkennung gelten allen Soldatinnen und Soldaten, die sich in diesem Einsatz befinden. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich, auch für Ihr Durchhaltevermögen. – Damit schließe ich die Aussprache. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali, MINUSMA. Es liegen hierzu mehrere persönliche Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung des Bundestages vor. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/9932, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 19/8972 anzunehmen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind jetzt alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist erkennbar der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung über die Beschlussempfehlung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist offensichtlich nicht der Fall. Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen sich jetzt wirklich wieder hinsetzen; denn wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/10009. Ich gehe davon aus, dass auch die Mitglieder der AfD-Fraktion mitbekommen haben, worum es jetzt geht. ({0}) Noch einmal: Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/10009. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist ganz einfach festzustellen, dass dieser Entschließungsantrag gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen aller anderen Fraktionen des Hauses abgelehnt ist.

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich auf Mali schaue – im Übrigen eines der ärmsten Länder dieser Erde –, dann mischt sich bei mir immer große Sorge mit viel Hoffnung. Besonders beeindruckt hat mich das Projekt Friedensgarten in Timbuktu. Bei diesem Projekt handelt es sich um ein Vorhaben, das insbesondere von der Welthungerhilfe unterstützt wird und unter dem Titel „Peace Garden“ läuft. Es ist ein Projekt, das vor allem durch Frauen lebt. Hier arbeiten Frauen aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zusammen, und sie versuchen, einen Garten für das Leben mitten in der Wüste zu schaffen, und vor allem schaffen sie Frieden. Unter der Beteiligung von 42 ganz unterschiedlichen Frauenorganisationen wird dieser Garten dem Anbau von Bohnen, Salat, Roter Bete oder auch Tomaten gewidmet. Was soll ich Ihnen sagen? Wenn Sie auf diesen Garten schauen, dann – das können Sie hoffentlich nachvollziehen – öffnet sich mein Herz. Die Erzeugnisse werden dann auf dem Markt in Timbuktu angeboten und verschaffen den Frauen und ihren Gemeinschaften eine Lebensgrundlage. Darauf können sie sehr stolz sein. Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten das mit ihnen sein. ({0}) Das verpflichtet uns aber auch zu ihrer Unterstützung. Und mehr noch: Wir sollten dieses Projekt schützen, liebe Kolleginnen und Kollegen; denn in Mali kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Auf der einen Seite kämpfen die überwiegend noch nomadisch lebenden Tuareg, die von der Viehzucht leben, auf der anderen Seite mehr oder weniger die sesshaften schwarzafrikanischen Bauern. Das Wiederaufflammen der bewaffneten Konflikte im Jahre 2012 hat in der Tat viele Menschenleben gekostet. Der massive Konflikt dort zog zunehmend auch radikal-islamistische Gruppen an. Diesen blutigen Konflikt zu befrieden, ist mit ein Grund dafür, warum sich Deutschland an diesen militärischen Unterstützungen in Mali beteiligt. Zur Präzisierung: Wir haben eben über MINUSMA gesprochen. Ich will noch mal deutlich machen, was EUTM Mali leisten kann. Es handelt sich um eine Beratungs- und Trainingsmission, um die G-5-Sahelstaaten zu unterstützen. Dort sind 620 Personen aus 25 Staaten im Einsatz. Aus Deutschland werden maximal 350 Soldatinnen und Soldaten gestellt. Ich will auch eine Erfolgsmeldung liefern, weil das in diesen Zeiten für Mali so notwendig ist: Bisher sind dort 13 000 Angehörige der malischen Streitkräfte ausgebildet worden. Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehört den dort stationierten Soldatinnen und Soldaten unser tiefer Dank. ({1}) Das Beispiel des Friedensgartens zeigt aber auch, dass wir nicht nur eine Verpflichtung auf der Grundlage der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen haben. Nein, es geht viel weiter. Es geht bei dieser Ausbildungsmission nämlich darum, dass wir ein krisengebeuteltes Land stabilisieren und dass die Menschen in Mali mit unserer Unterstützung ein selbstbestimmtes Leben führen können. Und ja, wir können das keineswegs nur durch militärisches Engagement leisten. Deshalb braucht es hier einen ressortübergreifenden Ansatz. Aber auch das militärische Engagement ist ein ganz wesentlicher Ansatz in unseren Leitlinien, die da heißen: Krisen verhindern, Konflikte bewältigen und Frieden fördern. ({2}) Ich will noch mal deutlich machen, dass es zwei Aspekte sind, die bei der Verlängerung dieses Mandates eine zentrale Rolle spielen. Es geht bei dieser Ausbildungsmission nicht nur darum, im Sicherheitsbereich tätig zu werden. Es geht darüber hinaus auch um eine Vermittlung von Grundwerten und Menschenrechten sowie um die Fragen der Demilitarisierung, der Demobilisierung und der Wiedereingliederung. Das ist an dieser Stelle so wichtig.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Auch in dieser Komplexität müssen wir dies begreifen. Deshalb darf ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Namen der SPD-Fraktion um die Unterstützung für dieses Mandat und vor allem für die Menschen in Mali bitten. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächster Redner erhält für die AfD-Fraktion der Kollege Gerold Otten das Wort. ({0})

Gerold Otten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004846, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung macht es sich sehr einfach mit den beiden Mandaten für Mali. Sie möchte die Zustimmung des Bundestages, auch um unseren Soldaten den Rücken zu stärken; denn, so konnte man in der ersten Lesung hören, man zeige die Bereitschaft Deutschlands zur Übernahme von Verantwortung in der Welt, und dort sei schließlich auch die Armee der Europäer am Entstehen. Meine Damen und Herren, die Regierung spricht hier wie so oft von Friedens- oder Stabilisierungsmissionen, weil sie den eigentlichen Zweck von Streitkräften nicht zu verstehen scheint. ({0}) Unsere Verantwortung gilt aber zuallererst unseren Soldaten, die von uns in den Einsatz geschickt werden, ({1}) in einen Einsatz, der Gefahren für Leib und Leben beinhaltet. Dieses Risiko muss durch das Ziel und auch durch die Wahl der Mittel gerechtfertigt sein. Aber trotz Milliardenbeträgen der Weltgemeinschaft, trotz des vernetzten Ansatzes und trotz des deutschen Engagements verschlechterte sich die Sicherheitslage in Mali deutlich. Woran liegt das, und welche Schlüsse ziehen wir daraus? Der eigentliche Grund der deutschen Präsenz, der Konflikt zwischen den Tuareg und der Regierung von Mali, ruht gegenwärtig. Die Wiederwahl Keïtas mit Zustimmung der nordmalischen Eliten ist ein deutlicher Beweis. Dies ist dem Einsatz und dem Geld der Weltgemeinschaft zu verdanken. Doch an die Stelle des alten Konflikts sind zwei neue getreten: der interethnische Konflikt von Milizen gegen bestimmte Volksgruppen und ein asymmetrischer Krieg von islamischen Dschihadisten gegen die Regierung und ihre Unterstützer. Die Lösung des interethnischen Krieges ist klare Aufgabe der Regierung; doch die ist eher Teil des Problems. Ich erinnere hier nur an das Massaker von Ogossagou im März dieses Jahres. Ich frage Sie: Wo verfolgt die Regierung Keïta Kriegsverbrechen? Wo verfolgt sie Übergriffe auf die Zivilbevölkerung? Wo zeigt sich die Bereitschaft der Regierung, ihrer Pflicht gegenüber allen Bevölkerungsgruppen Malis nachzukommen? ({2}) Es ist doch eher zu befürchten, dass der interethnische Konflikt sowie das Verhalten der Regierung und der Sicherheitskräfte den Dschihadisten weiter in die Hände spielen. Dadurch kann der vielfach beschworene vernetzte Ansatz kaum Wirkung entfalten. Das alles konterkariert die Bemühungen der Weltgemeinschaft. Es konterkariert auch die deutschen Bemühungen. Schlimmer noch: Dschihadisten ist ihr Leben ebenso egal wie das ihrer potenziellen Ziele, und zu diesen zählen nun auch deutsche Soldaten der Trainingsmission. Das hat der Anschlag auf das Lager Koulikoro gezeigt. Genau dort, in Koulikoro, werden malische Sicherheitskräfte weiterhin ausgebildet. Da sind MINUSMA und EUTM Mali nicht voneinander zu trennen. Das ist auch eine Folge der Verschärfung der Sicherheitslage. Ich sehe aber keine Reaktion der Bundesregierung, nur weitere Floskeln und weiteres Durchwurschteln wie bisher. ({3}) Wenn wir den militanten politischen Islam in Mali bekämpfen wollen, dann hilft keine Symbolpolitik. Eine kluge politische Führung weiß, wann und mit welchen Mitteln militärisches Engagement sinnvoll ist und wann nicht. Die Bundesregierung will aber immer nur irgendwie dabei sein. An der Trainingsmission selber wird unverändert festgehalten. Sie soll ja auch dazu dienen, so heißt es, dass die Malis ihre Sicherheit irgendwann selbst in die Hände nehmen können. Das klingt zunächst gut; aber ich frage Sie: Glauben Sie denn wirklich, dass in Schnellkursen ausgebildete malische Soldaten das schaffen, woran in der Vergangenheit selbst moderne Armeen gescheitert sind? Kissinger hat mal dazu gesagt: Irreguläre gewinnen, wenn sie nicht verlieren, aber Reguläre verlieren, wenn sie nicht gewinnen. – Da passen Stimmen ins Bild, die bereits jetzt vor einer Afghanistanisierung Malis warnen. Es gibt einen schnell fortschreitenden Kontrollverlust über weite Teile des Landes und eine sich ständig verschärfende Sicherheitslage. Daher verbarrikadieren sich die malischen Sicherheitskräfte zunehmend in ihren Stützpunkten. Alles genau wie in Afghanistan. Bohrt man aber tiefer, wie wir es mit einer Kleinen Anfrage getan haben, erfährt man Erstaunliches über EUTM Mali. Die Bundesregierung weiß nicht, wie viele malische Soldaten von unseren Soldaten ausgebildet wurden; ({4}) es steht eine grob gerundete Zahl von 10 000 hier im Raum. Sie kann auch keine Aussagen über den Ausbildungserfolg treffen. Und wo die Soldaten nach ihrer Ausbildung eingesetzt werden: Fehlanzeige. Aber sie weiß zumindest, dass im Durchschnitt nur zwei von drei geplanten Lehrgängen durchgeführt werden. Weil man sich aber bei den Malis nicht ganz sicher sein kann, gibt es auch Kurse in humanitärem Völkerrecht und über Menschenrechte. Das beruhigt vielleicht Ihr schlechtes Gewissen, hat aber mit der Lebenswirklichkeit in Mali nichts zu tun. ({5}) Eine Überprüfung des Mandats muss also zu folgendem Schluss kommen: Wenn das Ausbildungsziel der Trainingsmission nicht überprüfbar ist, wenn sogar die Gefahr besteht, dass durch unsere Trainingsmission zweifelhafte Banden unterstützt werden, dann sollten wir unsere Ressourcen sparen und sie sinnvoller einsetzen. ({6}) Wenn man will, dass Keïta seine Reformversprechen endlich einlöst und allen Volksgruppen in Mali Sicherheit garantiert, dann stellen Sie den deutschen Anteil oder besser die ganze Trainingsmission infrage. Dann werden wir sehen, welchen Wert er unserem Einsatz beimisst. Nur so verstärken wir den politischen Druck auf ihn. Um das geschehen zu lassen, lehnen wir den Antrag der Bundesregierung ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Ursula Groden-Kranich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Liebe Gäste! Im vergangenen Jahr habe ich zum ersten Mal an der Soldatenwallfahrt nach Lourdes teilgenommen und dort viele Gespräche mit Soldatinnen und Soldaten, auch aus anderen Ländern, geführt, auch darüber, was es bedeutet, in Auslandseinsätzen zu dienen: körperlich, psychisch, für die Familien, für das Miteinander in der Truppe. Und diese Gespräche habe ich auch in einer der Kasernen meines Wahlkreises, der Kurmainz-Kaserne, aus der viele Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätze berufen werden, geführt, und sie haben mich sehr bewegt. Ich möchte auch heute die Gelegenheit nutzen und diesen Männern und Frauen danken. ({0}) Danke an unsere Soldatinnen und Soldaten für alles, was sie in Mali und an allen anderen Auslandsstandorten leisten, für die dortige Bevölkerung und genauso für uns alle hier, die wir ein ganz unmittelbares Interesse an einem stabilen Afrika haben. Ich habe den Soldatinnen und Soldaten damals versprochen: Ich werde mich bei allen Abstimmungen zu Bundeswehrmandaten an diese Begegnungen erinnern und, wo immer ich kann, dazu beitragen, dass sie unsere Unterstützung haben, die Unterstützung des deutschen Parlamentes, das sie in diese schwierigen Missionen schickt. ({1}) Bundeskanzlerin Merkel war erst kürzlich in Mali, und sie hat noch einmal bestätigt, dass Mali und die Länder der Region enorm auf unsere Hilfe angewiesen sind. Wir wollen so weit stabilisieren, dass die Region irgendwann aus eigener Kraft Sicherheit herstellen und bewahren kann. Dies umso mehr, als völlig klar ist, dass dort – im Gegensatz zu anderen internationalen Schauplätzen – die Hauptlast bei der EU liegt und auch weiterhin liegen wird. Die USA zeigen hier nicht den Hauch von Interesse, Verantwortung zu übernehmen. Das müssen wir Europäer in Mali alleine hinkriegen, in einer nicht immer ganz einfachen, aber ganz wichtigen Zusammenarbeit ganz intensiv mit unseren französischen Freunden. Worum geht es uns bei EUTM Mali? Was sind dort die Aufgaben unserer Bundeswehr? Im März 2015 wurde in Mali das auf vier Jahre ausgelegte Streitkräfteplanungsgesetz erlassen, und wir haben maßgeblich daran mitgewirkt, dieses Gesetz mit Leben zu füllen. Mit EUTM Mali ergänzen wir die Mission MINUSMA, über die wir gerade gesprochen haben. Der Schwerpunkt liegt aber jetzt auf der Ausbildung der malischen Streitkräfte, damit sie zukünftig die Kontrolle über ihr Staatsgebiet und darüber hinaus ausüben können. Die EU unterstützt die gemeinsame Einsatztruppe der G-5-Sahelstaaten, weil wir nur mit einem regionalen Ansatz bei der Bekämpfung von Terrorismus und grenzüberschreitender Kriminalität weiterkommen können. Zudem ist es ein wichtiges Ziel, irreguläre Migration zu begrenzen und den Schleppern in Afrika keine neue Fluchtroute zu eröffnen. ({2}) Seit 2015 hat es an vielen Stellen Fortschritte gegeben. Klar ist aber, dass die malischen Streitkräfte zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht so weit sind, Operationen eigenständig zu planen und durchzuführen. Wenn unser bisheriger Einsatz also Sinn machen und nachhaltig wirken soll, müssen wir den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten verlängern, damit sie weiterhin am Aufbau von selbstständigen und funktionierenden malischen Streitkräften mitwirken können. Ja, es stimmt – auch Bundeskanzlerin Merkel hat es bei ihrem letzten Aufenthalt wieder bestätigt –: Mali ist momentan die gefährlichste Mission der Bundeswehr. Gerade deswegen richte ich die dringende Bitte an Sie, unsere Soldatinnen und Soldaten bestmöglichst auszustatten und damit die möglichen Gefahren so kalkulierbar und gering wie irgend möglich zu halten. Was nicht geht: mehr Stabilität in Afrika wollen, Fluchtursachen bekämpfen wollen, Teil eines starken Europas in der Welt sein wollen, aber gleichzeitig immer vor Verteidigungsausgaben zurückschrecken ({3}) und die Gefährlichkeit von Auslandseinsätzen beklagen. Das ist verantwortungslos. ({4}) Ich habe den Soldatinnen und Soldaten in Lourdes versprochen, an sie zu denken und im Parlament für ihre Sache zu werben. Von daher bitte ich Sie nun herzlich, dem Antrag auf Fortsetzung von EUTM Mali zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Ulrich Lechte, FDP-Fraktion. ({0})

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Die Entscheidung über die Beteiligung an beiden Mali-Missionen war diesmal nicht leicht. Bei der Beratung in den Ausschüssen konnten wir zwar über einige Schwierigkeiten sprechen, aber nicht alle kritischen Punkte ausräumen. Die Sicherheitslage verschlechtert sich. Das gilt jetzt nicht mehr nur für den Norden, sondern, wie schon berichtet, leider auch für Zentralmali. Da ist natürlich die Frage berechtigt, was wir denn mit unserer Ausbildungsmission seit 2013 erreicht haben. Wir haben circa 13 000 Soldaten der malischen Armee ausgebildet – heißt es. Das ist ja schön. Aber was können die denn nun? Welche militärischen Fähigkeiten haben sie? Und wie sieht es mit der Achtung der Menschenrechte aus? Denn auch das sind Ausbildungsinhalte, die wir dort unterrichten. Die Bundesregierung konnte diese Fragen nicht zufriedenstellend beantworten. Wir haben keinen Überblick – und das, obwohl wir den Missionskommandeur stellen. Aber wie sollten wir auch einen Überblick haben? Nach einem mehrwöchigen Training werden die Absolventen ohne internationale Berater in die Unruheprovinzen im Zentrum und im Norden des Landes verlegt. Wir wissen aber nicht genau, wohin. Somit sind auch mögliche Erfolge unserer Ausbildung nur schwer überprüfbar. Aber angesichts der Sicherheitslage kann man vermuten, dass allein das Training nicht ausreicht. Was wäre zu tun? Es hat sich gezeigt, dass die malischen Soldaten meist dann erfolgreicher operieren, wenn sie durch internationale Kräfte im Feld begleitet und angeleitet werden. Das machen zwar die Franzosen, aber wir nicht. Warum nicht? Die Resolution 2423 des UNO-Sicherheitsrats von 2018 sieht ausdrücklich gemeinsame Operationen mit der Armee von Mali sowie einsatzbegleitende Unterstützung und Mentoring vor. Diese Resolution wird sowohl in unserem MINUSMA-Mandatstext als auch im EUTM-Mandatstext erwähnt. Aber warum haben wir diese Möglichkeit aus dem UNO-Mandat nicht in unsere Bundestagsmandate übernommen? ({0}) Diese Frage konnte mir die Bundesregierung ebenfalls nicht zufriedenstellend beantworten. ({1}) Eine solche einsatzbegleitende Unterstützung würde übrigens auch ganz eindeutig ein Mandat des Bundestages erfordern. Bei dem EUTM-Mandat, wie es jetzt vorliegt, bin ich mir seit kurzem aber nicht mehr so sicher. Der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels – gerade war er noch da; er musste wohl zum Telefonieren nach draußen – hat am Dienstag meines Erachtens zu Recht kritisiert, dass die Mission Gazelle im Niger ohne Beteiligung des Bundestags beschlossen wurde. Darauf hat die Regierung geantwortet, dass diese Mission unterhalb der Mandatsschwelle liege, weil es nur eine Ausbildungsmission sei und eine Verwicklung in Kampfhandlungen unwahrscheinlich sei. Ja, gilt denn das Gleiche dann nicht auch für EUTM Mali? Was sind genau die Kriterien, ab wann uns die Regierung einen Auslandseinsatz zur Mandatierung vorlegen muss? Auch das konnte die Bundesregierung im Auswärtigen Ausschuss nicht zufriedenstellend beantworten. Hier besteht Handlungsbedarf: ({2}) Wir brauchen eine klare Abgrenzung – übrigens für uns alle hier im Raum – zwischen zustimmungspflichtigen Mandaten und Missionen auf Geheiß des Verteidigungsministeriums. Und unseren Soldaten sind wir Rechtssicherheit schuldig, meine Damen und Herren. Trotz unserer Bedenken werden die Freien Demokraten dem Mandat zustimmen. Wir wollen den Streit zwischen Regierung, Wehrbeauftragtem und unserem Parlament nicht auf dem Rücken unserer Soldaten austragen. Die machen nämlich in Mali und Niger eine hervorragende Arbeit, obwohl sie unter einer so schlechten und uninformierten Regierung dienen und auch leiden müssen. ({3}) Dafür bedanke ich mich bei unseren tapferen Soldatinnen und Soldaten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Lechte. – Als nächster Redner hat der Kollege Stefan Liebich, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn Sie in den nächsten Wochen in Ihren Wahlkreisen zu Hause erklären müssen, dass der größte Auslandseinsatz der Bundeswehr 5 000 Kilometer entfernt im west­afrikanischen Mali stattfindet, dann kann es sein, dass Sie mit zwei Fragen konfrontiert werden, nämlich erstens: „Warum ist die Bundeswehr eigentlich dort?“, und zweitens: Wie läuft das eigentlich? Zur ersten Frage hat die Bundeskanzlerin sich im letzten Sommer vor Kommandeuren der Bundeswehr geäußert. Sie erklärte – ich zitiere die Pressemeldung –, „wie die Dinge gehen“. Erst habe es terroristische Attacken in Frankreich gegeben, dann habe Paris „eine Art Bündnisfall“ ausgerufen und um Hilfe gebeten, „und plötzlich sind wir in Afrika“. Genau so war es. Zwar hat Frankreich sich damals eher Hilfe im Kampf gegen den IS in Syrien erhofft, und Mali hat auch nichts mit dem Terroranschlag in Paris zu tun – aber egal. Frank-Walter Steinmeier hat zu Beginn seiner zweiten Amtszeit als Außenminister im Jahr 2013 gesagt, es ginge nicht länger, dass Frankreich sich nur um Afrika kümmert und Deutschland nur um Osteuropa. Allerdings haben die französischen Interessen in Afrika eine koloniale Geschichte und eine Tradition der militärischen Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen. Ich finde, dazu sollten wir lieber Abstand halten. ({0}) Wie läuft eigentlich der Einsatz? Ich habe mir mal den Spaß gemacht, auf der offiziellen Seite von EUTM Mali nachzuschauen. Sie können das auch gerne tun. Dort gibt es einen zweiminütigen Film bzw. eher eine Diashow mit glücklichen malischen und EU-Soldaten, dazu die Slogans: „one goal“, „together“ und „to train“, „we are united“. Toll! Das Leben in Mali ist leider kein Werbefilm. Die Sicherheitslage – wir haben es von vielen Rednern gehört – wird schlechter, der Friedensprozess kommt nicht voran, und wir haben es mit einem ernsten Dilemma zu tun. Zwar kann die Europäische Union und auch die Bundeswehr die malische Armee ausbilden, wir können aber nicht entscheiden, was die malische Armee tut und wie sie es tut. So berichtet die UNO, dass malische Soldaten auf einem Wochenmarkt in Boulikessi zwölf Menschen ohne Verfahren willkürlich getötet haben. Schon zuvor haben UN-Ermittler über ähnliche Vorkommnisse berichtet: Malische Soldaten hätten Häuser angezündet, Zivilisten gekidnappt und erschossen, hieß es. Außerdem wird in 44 Fällen von außergerichtlichen Hinrichtungen durch malische Soldaten ermittelt. Wenn die Bundeswehr Soldaten ausbildet, die so handeln, dann trägt auch Deutschland Mitverantwortung für deren Opfer. Das dürfen wir nicht zulassen. ({1}) Wenn die malische Regierung Einsätze für von der Bundeswehr ausgebildete Soldaten anordnet und diese Einsätze den Friedensprozess eher zurückwerfen als voranbringen, dann können wir als Bundestag zwar nichts dagegen tun, tragen aber doch auch Verantwortung für Konsequenzen. Genauso ist es geschehen. Dem können wir doch nicht zustimmen. Angela Merkel hat mal gesagt: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass deutsche Soldaten in Mali gut sind, aber am allerbesten, wenn sie zur Ausbildung der malischen Soldaten eingesetzt werden … Dabei schwingt so eine Idee mit, nämlich dass man mit reinen Ausbildungsmissionen irgendwie Verantwortung zeigt, ohne tatsächlich Verantwortung zu übernehmen. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. ({2}) Wenn es schiefgeht, dann stecken wir mittendrin. Das darf so nicht bleiben. ({3}) Anknüpfend an den Kollegen Lechte, allerdings mit einer anderen Konsequenz, will ich auch noch mal auf das aktuelle Beispiel zu sprechen kommen. Das, was wir hier jetzt diskutieren und entscheiden, ist kein exekutiver Einsatz. Die Soldaten sind nicht berechtigt, Kampfhandlungen durchzuführen oder die malische Armee zu begleiten. Sie dürfen Waffen nur zum Selbstschutz tragen. Trotzdem diskutieren und entscheiden wir hier darüber und verleihen ein Mandat für diesen Einsatz. Ich finde den Vorwurf des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, dass genau das Gleiche in Niger auch passiert, total berechtigt. ({4}) Die Soldaten sollen dort ausbilden, müssen sich zum Selbstschutz bewaffnen, weil die Lage so gefährlich ist, und hier im Deutschen Bundestag wird nicht darüber diskutiert und entschieden. ({5}) Ein selbstbewusstes Parlament müsste das Parlamentsbeteiligungsgesetz an dieser Stelle klarstellen und nicht, Herr Lechte, die Regierung bitten, anders zu handeln. Wir werden zu diesem Vorstoß Nein sagen und zu dem Mandat insgesamt auch. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Liebich. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausbildung von Streitkräften ist so viel mehr und muss so viel mehr sein, als nur militärische Fertigkeiten zu trainieren oder Streitkräfte auszurüsten. Wer ausbildet, der trägt eine Mitverantwortung dafür, was die Streitkräfte mit ihren erworbenen Fähigkeiten im Anschluss tun. Es sind sehr klare Reaktionen gegenüber der malischen Regierung angesagt, wenn es zu so fürchterlichen Vorfällen kommt wie dem, wo zwölf Zivilisten durch die malische Armee auf einem Viehmarkt getötet worden sind. Bei solchen schrecklichen Ereignissen muss die Bundesregierung viel entschlossener reagieren. ({0}) Sie dürfen hier nicht wegschauen, und Sie müssen daraus auch die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Das bedeutet zum Beispiel: Sorgen Sie dafür, dass Ausbildungsinhalte im Bereich der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts noch mehr ausgebaut werden und auch politisch ein größeres Gewicht bekommen. Meine Damen und Herren, niemand will, dass sich die Angriffe von Islamisten und die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung wiederholen, die wir 2012 beobachten mussten. Es ist von zentraler Bedeutung für die Menschen in Mali, dass es irgendwann Sicherheitskräfte gibt, die sie vor Gewalt und Terror schützen, Sicherheitskräfte, die gut ausgebildet wurden und denen die Menschen vertrauen können. Es war von Anfang an klar, dass diese Mission kein einfaches Unterfangen sein würde. Berechtigte Kritik darf dann aber eben nicht in besserwisserischer Schwarzmalerei enden, und es wäre keine kluge Entscheidung, jetzt in Mali einfach hinzuwerfen. Das würde den Menschen dort auch nicht helfen. ({1}) Das Ziel der Mission bleibt ja richtig: verantwortungsbewusste malische Sicherheitskräfte, die einer starken politischen Kontrolle unterliegen und in denen früher verfeindete Gruppen der Gesellschaft gemeinsam für mehr Sicherheit für die Menschen in Mali sorgen. Deshalb werden wir Grüne dem Mandat heute wieder mit großer Mehrheit zustimmen. Aber lassen Sie mich in Richtung der Bundesregierung eines ganz deutlich sagen: Das ist keine Selbstverständlichkeit, und das ist auch nicht in Stein gemeißelt. Eine erfolgreiche Ausbildung gibt es nur, wenn es auch umfassende, nachhaltige Reformen des Sicherheitssektors gibt. Dazu gehören Verbesserungen bei der Polizei, bei der Justiz und bei der Bekämpfung von Korruption. Der Erfolg dieser Ausbildungsbemühungen hängt sehr davon ab, ob es endlich Fortschritte im Friedens- und Versöhnungsprozess gibt. Das betrifft auch das Mandat, das wir vorher hier beraten haben. Da hätte ich mir von der Bundeskanzlerin mehr Klartext bei ihrer Reise nach Mali gewünscht. ({2}) Meine Damen und Herren, wir Grüne haben auch schon in den vergangenen Mandatsberatungen, sowohl zu MINUSMA als auch zu EUTM, kritisiert, dass Sie 2016 die Ausbildung der Eingreiftruppe der G-5-Sahelstaaten – Niger, Tschad, Burkina Faso, Mauretanien und Mali – in die Mandate aufgenommen haben. Seit Monaten bilden deutsche Streitkräfte nun zusätzlich, ohne Bundestagsmandat, die nigrischen Spezialeinheiten aus, in einer Grenzregion, in der es immer wieder zu dschihadistischen Angriffen kommt. Die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes für diesen Teil von Niger sprechen Bände. Wenn das Risiko besteht, dass die Soldatinnen und Soldaten dort in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt werden – deshalb sind sie ja bewaffnet –, dann wäre es richtig und angemessen, wenn es dafür ein Mandat des Deutschen Bundestages gäbe. ({3}) Da reicht mir auch nicht die Aufforderung der FDP, dass das Ministerium das mal klären soll. Ich finde, gerade wenn wir darüber streiten, gerade wenn einige sagen: „Es ist rechtlich vielleicht nicht eindeutig“, dann muss es bei einer Parlamentsarmee doch heißen: Im Zweifel für das Parlament, im Zweifel also für ein Mandat. ({4}) Meine Damen und Herren, ich will dazu aber auch noch mal was Inhaltliches sagen; denn es ist ja bekannt, dass es für die Zukunft Planungen gibt, dass die deutschen Spezialkräfte gemeinsam mit der Armee Operationen durchführen sollen. Wenn es hier zu diesem sogenannten Partnering mit den Spezialkräften kommt, dann wäre das eine gefährliche Rutschbahn weg von Ausbildungsbemühungen hin zur Aufstandsbekämpfung. Wir reden dann eben von offensiver Terrorbekämpfung. Für uns Grüne ist eine solche Mandatsausweitung eine rote Linie. Wenn sie überschritten wird, dann werden wir diesem Mandat nicht mehr zustimmen können. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Thomas Erndl. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Die Reise unserer Bundeskanzlerin in der letzten Woche hat Afrika noch mal stärker ins Blickfeld gerückt. „Das Wohlergehen Europas ist mit dem unseres Nachbarn Afrika untrennbar verbunden“, steht in den afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung. Von uns erfordert das umfassendes Engagement, zum Beispiel im Rahmen des Marshallplans mit Afrika, den unser Entwicklungsminister Gerd Müller vorgelegt hat. Sichtbare Fortschritte in der Entwicklung werden aber oft durch islamistischen Terrorismus, organisierte Kriminalität oder ethnische Auseinandersetzungen gefährdet oder zunichtegemacht. Dabei ist klar: Ohne grundlegende Sicherheit gibt es keine Entwicklung, und wir sind dabei gefordert. Denn der Sahelzone kommt aus europäischer Sicht eine besondere Bedeutung zu. Deshalb muss deren Stabilität unser zentrales Anliegen sein. Wir können natürlich den Kopf in den Sand stecken, so wie das hier von links und rechts gemacht wird. Aber ich glaube nicht, dass das zielführend ist; denn ein stabiles Mali und eine stabile Sahelzone liegen in unserem deutschen und im europäischen Interesse. ({0}) Wir setzen hier auf einen vernetzten Ansatz. Bundesregierung, EU und Vereinte Nationen wollen gemeinsam mit weiteren internationalen Partnern die Region nachhaltig stärken und zu eigener Sicherheitsverantwortung führen. Dabei ist MINUSMA – darüber haben wir vorhin hier debattiert und entschieden – zentral. Dazu gehört auch die Ausbildungsmission EUTM Mali. Mit fast 200 Soldatinnen und Soldaten sind wir in dieser Mission der größte Truppensteller und derzeit auch Inhaber des Kommandos. 13 000 Soldaten wurden bisher ausgebildet. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten hier herausragende Arbeit, und dafür gilt ihnen von hier aus unser Dank. ({1}) Diese Mission hat die Europäische Union auf Bitten der Regierung in Mali und der anderen G‑5-Sahelstaaten eingerichtet. Hier zeigt die EU auch außenpolitische Handlungsfähigkeit. Bei dieser Mission geht es um Ausbildung, Beratung der malischen Sicherheitskräfte und der G‑5-Sicherheitskräfte in Mali. Das ist auch im Antrag der Bundesregierung so festgehalten. Auch wenn das eine große Aufgabe, ein langer Weg ist: Wir sollten uns nicht entmutigen lassen; denn diese Ausbildungsunterstützung ist notwendig. Die G‑5-Sahelstaaten, mit die ärmsten Länder der Welt, geben 15 Prozent, teilweise 25 Prozent des Inlandsprodukts für Streitkräfte und Sicherheit aus. Was das für die Möglichkeiten an Investitionen in Bildung, Infrastruktur, Gesundheit, Soziales bedeutet, muss jedem klar sein. Vor dem Hintergrund einer jungen und schnell wachsenden Bevölkerung ist das fatal. Ich sage es noch einmal: Ohne Sicherheit gibt es keine Entwicklung. Nur so können Perspektiven für junge Menschen entstehen. Nur so können wir von einem Kontinent der Chancen sprechen, auch wenn es ein weiter Weg ist. Natürlich ist notwendig, dass die Menschen auch Vertrauen in die eigenen Sicherheitskräfte haben. Deswegen sind Schulungen – es wurde angesprochen – in Menschen- und Völkerrecht nicht umsonst. Das ganze Paket gehört dazu. Natürlich ist es notwendig, dass staatliche Autorität im ganzen Land hergestellt wird und terroristische Rückzugsräume bekämpft werden. Das müssen irgendwann die Sicherheitskräfte vor Ort selber leisten. Wir begleiten Mali und die G‑5-Sahelstaaten auf diesem Weg. Deswegen bitte ich um Zustimmung zur Mandatsverlängerung. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Siemtje Möller hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Siemtje Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Schaut man sich in der Welt um, muss man sagen: Wir hier in Deutschland haben großes Glück, in einem so stabilen und vergleichsweise sicheren Gemeinwesen zu leben. ({0}) Für dieses hohe Maß an Sicherheit reicht es aber nicht aus, die Hände in den Schoß zu legen und zuzusehen, wenn andernorts Stabilität massiv bedroht ist. Nein, Sicherheit und Stabilität erfordern auch unser Handeln. Das gilt auch mit Blick auf unseren Nachbarn Afrika; denn wenn dort Staaten zerfallen, sich Terrorismus und Konflikte ausbreiten und Menschen zur Flucht gezwungen werden, dann spüren wir die Auswirkungen auch hier bei uns in Europa, in Deutschland. Daher haben wir neben unserer humanitären Verantwortung ein ureigenes strategisches Interesse an Stabilität und Sicherheit auf dem afrikanischen Kontinent. ({1}) Es ist daher sehr zu begrüßen, dass sich Deutschland mittlerweile verstärkt in Afrika einbringt. Und es ist gut, dass die Bundesregierung dabei einen klaren Fokus auf die Sahelregion und insbesondere auf Mali legt. Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe, die Mitwirkung Deutschlands an der Mission der Vereinten Nationen MINUSMA, an der europäischen Trainingsmission und auch an der Polizeiausbildung EUCAP Sahel Mali – Deutschland leistet im Land eine ganze Menge. Und gerade die Beteiligung am EUTM-Einsatz ist so wichtig für die langfristigen Erfolgsaussichten; denn – das haben wir schon gehört – im Rahmen von EUTM Mali hilft die Bundeswehr dabei, die malischen Sicherheitskräfte zu befähigen, irgendwann Schritt für Schritt selbst für die Sicherheit und Stabilität im Land sorgen zu können. ({2}) Durch die Ausbildung, Beratung und materielle Unterstützung der gemeinsamen Einsatztruppe der G-5-Sahelstaaten im Rahmen dieser Mission wird auch der grenzübergreifende Charakter vieler Sicherheitsbedrohungen in der Sahelregion adressiert. Der EUTM-Einsatz ist damit ein wichtiger Baustein für nachhaltige Sicherheit in dieser Region. Und er ist – auch das sollte man sich vor den Europawahlen noch einmal vergegenwärtigen – ein starkes Beispiel für gelebte europäische Kooperation in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. ({3}) Und das ist ja das, was wir uns in Europa wünschen: dass wir gemeinsam für unsere Sicherheit einstehen. Durch das internationale Engagement und die Arbeit in Mali selber konnten dort unbestreitbar Erfolge erzielt werden. Die Verabschiedung des Friedensabkommens, die Ausrichtung einer nationalen Versöhnungskonferenz und der Beginn der Integration ehemaliger Kämpfer in die malische Armee sind hier zu nennen. Aber, um es ganz klar zu sagen: Es gibt in Mali leider vieles, was uns sorgen muss – allen voran die Sicherheitslage, die in weiten Teilen des Landes fragil ist und sich in manchen Regionen noch verschlechtert hat. Die Gründe für die Instabilität in Mali sind vielfältig: Konflikte zwischen verschiedenen Volksgruppen und Ethnien, die Ausbreitung islamistischer Terrorgruppen, das Einsickern von Waffen und Milizen aus Libyen. Aber auch die grassierende Armut und das hohe Bevölkerungswachstum sind Faktoren, die die Instabilität fördern. Und es kommt hinzu, dass die politische Lage vor Ort schwierig ist, wie auch der Rücktritt der malischen Regierung vor wenigen Wochen wieder gezeigt hat. Mali ist nun darauf angewiesen, dass die neue Regierung unter Ministerpräsident Cissé die Umsetzung des Friedensabkommens mit neuer Tatkraft vorantreibt. Und Mali hat es aus meiner Sicht verdient, dass die internationale Gemeinschaft dieses Land auf diesem schwierigen Weg zu Sicherheit und Stabilität weiter begleitet. ({4}) Die europäische Trainingsmission EUTM Mali ist dabei ein unverzichtbares Element dieses internationalen Engagements. Für die Verlängerung des Mandats werbe ich deshalb ausdrücklich. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Peter Beyer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gemeinsam mit dem Einsatz in Afghanistan ist EUTM Mali der personalintensivste und sicherlich auch einer der gefährlichsten Einsätze der Bundeswehr. Das machen wir nicht alleine, sondern dieser Einsatz ruht auf den Schultern von 22 EU-Mitgliedstaaten. Und es zeigt, dass es ein Beleg für die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union ist, gemeinsam auch schwierige Missionen mit militärischen Komponenten zu stemmen. Es wurde in dieser Debatte schon mehrfach angeführt, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika global mehr und mehr zurückziehen. Deswegen ist es gut, dass die Europäer diese Erfahrung machen. Die Bundeswehr ist dabei Teil des vernetzten Ansatzes der Bundesregierung und des umfassenden internationalen Ansatzes zur Stabilisierung der Region und des afrikanischen Kontinents insgesamt. Der zentrale Auftrag ist und bleibt die Ausbildung und die Beratung der Streitkräfte. Die Bundeswehr leistet damit einen essenziellen Beitrag zur Wiederherstellung der militärischen Fähigkeiten Malis. Für ihren ehrenvollen und schwierigen Einsatz gilt der Dank von uns allen den deutschen Soldatinnen und Soldaten. ({0}) Klar ist dabei aber auch, dass Mali ohne funktionierende Streitkräfte in der Sicherheit akut gefährdet bleibt. EUTM Mali soll die malischen Streitkräfte befähigen, Malis territoriale Integrität zu gewährleisten und ein sicheres Umfeld zu garantieren. Das Ziel der Mission ist, die malischen Soldaten hierbei zu ertüchtigen, selbst Verantwortung für die Sicherheit ihres Landes zu übernehmen. Das geschieht durch Ausbildung der Streitkräfte, das geschieht durch Beratung des malischen Verteidigungsministeriums und auch durch sanitätsdienstliche Unterstützung. Es wurde schon mehrfach in der Debatte gesagt, dass mittlerweile 13 000 malische Soldaten ausgebildet worden sind. Dabei ist immer auch wichtig, dass es Teil der Beratungs- und Ausbildungsmission ist, dass es eine Vermittlung von Kenntnissen im humanitären Völkerrecht, bei den Menschenrechten und beim Schutz der Zivilbevölkerung gibt. Wir wollen vermehrt zu einer Ausbildung der Ausbilder kommen. Es ist wichtig, die Verantwortung irgendwann komplett an die malische Regierung zu übertragen. Deutschland stellt – darauf wurde auch schon hingewiesen – mit Brigadegeneral Peter Mirow derzeit den Kommandanten. Das Kommando wird im Juni, also im nächsten Monat, an Österreich übergeben. Aber auch dann wird Österreich weiterhin auf Unterstützungsleistungen Deutschlands angewiesen sein. Meine Damen und Herren, zu Recht ist EUTM Mali eng verzahnt mit der vorhin debattierten ­MINUSMA-Mission. Es besteht ein gemeinsames Ziel, Mali dauerhaft zu ertüchtigen, selbst für die Sicherheit und Stabilität des Landes zu sorgen und einen der großen Krisenherde Afrikas zu entschärfen. An dieser Stelle sei eine kurze Anmerkung zu der Kritik an der Ausbildung von Kampfschwimmern erlaubt. Gestern haben wir im Auswärtigen Ausschuss eine Schilderung der Bundesregierung gehört. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion waren diese Ausführungen der Bundesregierung schlüssig. Das liegt zuvörderst daran, dass eine Gefahr, dass deutsche Soldatinnen und Soldaten in bewaffnete Konflikte in Niger hineingezogen werden, nicht besteht. Deswegen ist eine Mandatierung hier nicht erforderlich. ({1}) Meine Damen und Herren, Islamisten und Rebellengruppen sorgen immer noch für hohe Gefahrenpotenziale in Mali und bedeuten ein permanentes Sicherheitsrisiko, aber nicht nur für Mali, sondern auch für uns. Die Stichworte heißen: Fluchtursachenbekämpfung und Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Dabei bleibt für uns unverzichtbar, dass im Mittelpunkt die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten stehen muss. Ihnen gebührt die bestmögliche Ausrüstung, es muss ein sinnvolles Ineinandergreifen der verschiedenen Mandate einhergehen. Und es erfasst auch in die Zukunft gerichtet die Frage, wie wir das Mandat weiterentwickeln und auch in Zukunft effektiv gestalten wollen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege.

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, der letzte Satz. – Ich wünsche allen Soldatinnen und Soldaten, die dort unter schwersten Bedingungen ihren Dienst tun, eine erfolgreiche Mission und eine gesunde und sichere Heimkehr. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Beyer. – Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp­fehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Militärmission der Europäischen Union als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte (EUTM Mali). Zu dieser Abstimmung liegen mir mehrere persönliche Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vor. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/9933, den Antrag auf Drucksache 19/8971 anzunehmen. Wir stimmen über diese Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die namentliche Abstimmung über die Beschlussempfehlung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Dann hat jeder seine Stimme abgegeben. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung gebe ich Ihnen später bekannt. Ich bitte, soweit Sie hierbleiben wollen, Platz zu nehmen, andernfalls den Saal zügig zu verlassen; denn wir wollen zu Tagesordnungspunkt 10 kommen, und zwar ohne Verzögerung. Wir haben momentan einen Zeitplan, der heute Nacht um 3.15 Uhr endet. Ich bitte also, sich jetzt kollegialerweise zügig zu entscheiden: hierbleiben oder gehen.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den zwei Mandaten zu Mali entscheiden wir nun heute auch über die Beteiligung der Bundeswehr an dem EU-Mandat EU NAVFOR Operation Atalanta. Mit diesem Mandat werden Transporte des Welternährungsprogramms und der AMISOM-Mission der Afrikanischen Union geschützt. Natürlich werden aber auch die Seeleute anderer Schiffe beraten, um sie vor Piraterie und Geiselnahme zu schützen. Die Operation agiert in einem Risikogebiet für Seefahrer. Die Gewässer vor Somalia und den Nachbarländern waren in 2011 noch Ziel von 176 Angriffen. Wir können den Erfolg unmittelbar sehen: Im ganzen Jahr 2018 gab es lediglich zwei Angriffe von Piraten im Einsatzgebiet. Die jüngsten, erfolglosen Angriffe auf zwei Schiffe im April waren die ersten seit Oktober 2018. Wenn man es an über 200 derartigen Vorfällen weltweit misst – die Dunkelziffer dürfte noch viel höher liegen, weil nicht jeder versuchte Angriff oder Beschuss gemeldet wird –, dann ist das ein richtig erfolgreicher Einsatz. Hier sprechen wir auch von einer erfolgreichen europäischen Zusammenarbeit; denn an diesem Mandat beteiligen sich 19 EU-Länder und zwei Beitrittskandidaten. Die Zusammenarbeit funktioniert sehr gut, wie uns immer wieder gemeldet wird. Die Schiffe und Aufklärungsflugzeuge der EU verfolgen das Ziel, sichere Hilfslieferungen des Welternährungsprogramms in die Region des Horns von Afrika zu gewährleisten. Von 2009 bis 2018 konnten 455 Schiffe des Welternährungsprogramms mit 1,8 Millionen Tonnen Hilfsgütern sicher in somalische Häfen einlaufen. Ich glaube, es ist jedem klar, wie unglaublich wichtig diese humanitäre Versorgung der Menschen vor Ort ist. Der militärische Einsatz ist auch Teil eines umfassenderen Ansatzes, der vor allem auf die humanitäre Hilfe setzt. Die deutsche Förderung in diesem Bereich konzentriert sich dabei auf Ernährungshilfe, Unterkünfte, Wasser- und Sanitätsversorgung sowie Hygiene und Gesundheit. Und der deutsche Beitrag zu diesem Mandat besteht aus einem Seefernaufklärer mit dem dazugehörigen Fachpersonal, logistischen Unterstützungselementen in Dschibuti sowie Personal im eingeschifften Verbandsstab im Hauptquartier in Spanien. Würden die maritimen Transportwege im Einsatzgebiet von Atalanta wieder unsicherer, dann hätte das direkte Auswirkungen auf die ohnehin schon dramatische humanitäre sowie fragile politische Lage in vielen Ländern der Region. ({0}) Deshalb möchte ich auch heute noch mal eines erwähnen, auch wenn es nicht Teil dieses Einsatzes ist – ich habe es auch in meinen letzten Reden immer wieder erwähnt –: Am dringendsten wäre jede Form von Hilfe derzeit im gegenüber von Somalia liegenden Jemen. Leider ist die Lage dort zurzeit so dramatisch, dass Hilfstransporte im Grunde überhaupt gar keine Chance haben, ihr Ziel zu erreichen. Wir werden große politische Anstrengungen brauchen, um den Menschen auch dort endlich helfen zu können. Der deutsche Beitrag ist aber auch nicht nur Routine – auch das möchte ich noch einmal deutlich sagen –, der schlicht Jahr für Jahr fortgesetzt wird. Er verändert sich. So soll das Mandat auch im Rahmen dieser Verlängerung erneut angepasst werden. Die personelle Obergrenze soll jetzt um ein Drittel auf 400 Soldatinnen und Soldaten reduziert werden. Damit bleibt Deutschland einer der Haupttruppensteller und wird seiner Verantwortung auch in diesem Einsatz weiter gerecht. Lassen Sie uns den Soldatinnen und Soldaten vor Ort den Rücken stärken und diesem Mandat unsere Unterstützung geben. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Jan Nolte. ({0})

Jan Ralf Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004842, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die AfD legt einen strengeren Maßstab an als alle anderen Fraktionen dieses Hauses, wenn es darum geht, unsere Bundeswehr in den Auslandseinsatz zu entsenden. Die Linken lasse ich jetzt mal außen vor; denn sie legen ja gar keinen Maßstab an. Sie wissen von vornherein, dass sie alles ablehnen, was mit der Bundeswehr zu tun hat. Es geht nur noch darum, wie weit die Begründung jeweils an den Haaren herbeigezogen werden muss. ({0}) Die Bundeswehr ist keine Einsatzarmee; das ist zum Glück mittlerweile Konsens. Wer aber sagt, dass Landes- und Bündnisverteidigung genauso wichtig sei wie die Einsätze, der ist immer noch auf dem Holzweg. Die originäre Aufgabe der Bundeswehr ist die Verteidigung Deutschlands, ist die Landes- und Bündnisverteidigung. Auslandseinsätze müssen eine Ausnahme bleiben. ({1}) Die AfD macht es sich deswegen nicht leicht, solchen Einsätzen zuzustimmen. Sie müssen in einem nationalen Interesse stehen, es muss ein klares und zielführendes Konzept vorhanden sein, und das Risiko, dem wir unsere Soldaten aussetzen, muss in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen des Einsatzes stehen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Mandaten erfüllt Atalanta diese Voraussetzungen unserer Meinung nach. Es ist ohne Frage ein toller Erfolg, dass durch unseren Einsatz innerhalb der vergangenen fast elf Jahre 1,8 Tonnen Nahrungsmittel nach Somalia gebracht werden konnten. Aber mit Blick auf die Debatte zur ersten Lesung über diesen Einsatz muss ich mich doch wundern, dass immer so getan wird, als sei das der einzige Aspekt und die einzige Rechtfertigung für diesen Einsatz. Ich habe den Eindruck, manch einer hier hielte es für verpönt, zu sagen: Ja, auch Deutschland hat nationale Interessen. Als Exportnation ist es in unserem Interesse, dass die Handelswege zur See frei von Kriminellen sind. ({2}) Es ist natürlich auch unser Anspruch, die Mitarbeiter unserer Reedereien davor zu schützen, von Piraten entführt zu werden. Deswegen sind wir dort. Während von 2008 bis 2011 fast täglich Piratenangriffe vor Somalia stattfanden, hat sich das mittlerweile extrem reduziert. Es finden nur noch vereinzelte Angriffe statt; der letzte Angriff ist aber auch erst zwei Wochen her. Der neue Piratenhotspot vor Westafrika zeigt auch, dass das Geschäftsmodell der Piraterie als solches für Kriminelle immer noch attraktiv ist. Gerade vor dem Hintergrund der weltweiten Piraterielage kann man klar sagen, dass der Einsatz vor Somalia erfolgreich gewesen ist und dass wir ihn auch in der Zukunft brauchen. Die Bundesregierung muss aber jetzt die afrikanischen Staaten stärker in die Pflicht nehmen. Somalia freut sich sicherlich über unser Engagement im Rahmen von Atalanta, EUCAP Somalia, EUTM Somalia und den vielen anderen Missionen, die unter anderem den Aufbau der Polizei zum Ziel haben. 2017 hat Somalia etwa 200 Millionen Euro Entwicklungshilfe von uns bekommen, ist aber im Gegenzug nicht bereit, uns mit unseren Piratenproblemen zu helfen und Pässe auszustellen, damit wir die somalischen Piraten, die noch in Deutschland sind, endlich nach Somalia zurückschicken können. ({3}) Nigeria muss es hinbekommen, seine Küstengewässer zu sichern. Solange Nigeria dazu nicht willens oder in der Lage ist, muss es wenigstens Schiffen gestatten, eigene Sicherheitskräfte an Bord zu haben, die diesen Schutz dann gewährleisten. Wir stimmen dem heute vorliegenden Antrag also zu. Zum Abschluss noch ein Tipp in Richtung Regierung, die ja sehr ambitioniert ist, was die Kriminalitätsbekämpfung in Afrika angeht. Man kann viel glaubwürdiger andere beim Zerschlagen krimineller Netzwerke beraten, wenn man zuvor gezeigt hat, dass man sein Wissen auch im eigenen Land anwenden kann. Es gibt nicht nur Clans in Somalia, sondern auch in Berlin; bitte auch das nicht vergessen. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Jürgen Hardt. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegin Özoğuz hat eindrücklich darauf hingewiesen, wie erfolgreich der Einsatz in Somalia ist. Vor wenigen Jahren haben wir in der Tat fast wöchentlich von Entführungen von Schiffen, von Lösegelderpressungen und von verletzten oder gar getöteten Seeleuten gehört. Das gehört Gott sei Dank der Vergangenheit an. Das ist eine große Leistung der europäischen Mission Atalanta, es ist aber auch ein hervorragendes Beispiel für gutes Zusammenwirken von internationalen Einrichtungen und der Reeder bzw. der Schifffahrt, indem man sich darauf verständigt, was klug ist, um vorbeugend gegen Piraterie vorzugehen. Die eine oder andere sorglose Handhabung dieses Themas an Bord von großen, seegehenden Schiffen gehört sicherlich der Vergangenheit an. In den Reedereien wird intensiver darüber nachgedacht, wie man sich vor Piraterie schützen kann. Das Gesamtsystem ist ein Schutzsystem, das hervorragend funktioniert. Wenn wir den Einsatz aus deutscher Sicht betrachten, so stellen wir fest, dass wir nicht mehr mit einem deutschen Schiff am Einsatz beteiligt sind, sondern mit einem Seefernaufklärer. Insgesamt sind gegenwärtig zwei Seefernaufklärer – einer aus Deutschland – und zwei Schiffe mit dem entsprechenden Personal im Einsatz. Die Reduzierung der Mandatsobergrenze ist sinnvoll und möglich, weil voraussichtlich in absehbarer Zeit kein weiteres deutsches Schiff eingesetzt werden muss. Ein Schiff bedeutet immer eine Besatzung von plus/minus 250 Mann. Durch die Reduzierung der Mandatsobergrenze sind weniger Soldaten im Einsatz, was aber nicht weniger Engagement bedeutet. Ich hatte vor kurzem die Gelegenheit, mit einigen Kolleginnen und Kollegen und dem Staatssekretär Silberhorn unsere Kameraden in Dschibuti zu besuchen. Mich hat vor allem das Engagement der Soldaten vor Ort begeistert und auch die Empathie, die sie für diesen Einsatz und für die Menschen in der Region haben. Die Bundeswehr stellt mit einer Taucherdruckkammer und entsprechendem medizinischen Personal eine ganz wesentliche Schlüsselfähigkeit, die für den gesamten Einsatz wichtig ist. Seegehende Schiffe müssen in der Lage sein, Taucher einzusetzen. Jeder Taucher weiß, dass es unheimlich wichtig ist, dass man für den Fall, dass ein Unfall passiert, eine Druckkammer dabei hat. Es ist ein hervorragender Beitrag, durch den wir höchst effizient mit relativ kleinem Personaleinsatz, aber doch mit einer Schlüsselfähigkeit vertreten sind. Als ehemaliger schiffstechnischer Taucher weiß ich, wovon ich rede. ({0}) Wenn wir über die Fortsetzung des Mandats im Rahmen der EU und vielleicht auch über die Anpassung des Mandates reden, sollten wir uns der Frage widmen, ob das Mandat möglicherweise zukünftig einen noch wirksameren Beitrag leisten kann, Waffen- und Menschenschmuggel in diesem Seegebiet, insbesondere im Golf von Aden, einzuschränken. Ich glaube, dass wir in den nächsten Jahren erleben werden, dass in der Region um das Horn von Afrika, nicht nur unter dem Aspekt der Piraterie, sondern auch unter dem Aspekt des Waffen- und Menschenschmuggels oder auch des illegalen Übertritts von Kämpfern, der Infiltration in einzelne Staaten, eine gefährliche Situation entsteht. Immerhin liegt in diesem Seegebiet der Jemen mit seiner gesamten Küste. Ich fordere die Bundesregierung herzlich auf, auch in Brüssel offensiv darüber nachzudenken, wie Atalanta für die Zukunft vielleicht einen noch größeren Beitrag zur Sicherheit leisten kann. Mit Blick auf die 78 Soldatinnen und Soldaten, die gegenwärtig in Somalia eingesetzt sind, hat unser Besuch auch die eine oder andere Frage aufgeworfen. Ich bin Thomas Silberhorn sehr dankbar, dass er die Themen sofort aufgegriffen hat. Die Soldaten als kleines Kontingent sind natürlich nicht so ausgestattet, wie das in unseren großen Feldlagern der Fall ist: mit Marketenderwesen und entsprechenden Einrichtungen, wo man in seiner Freizeit Kameradschaft pflegen kann. Die Soldaten leben in einem Hotel. Das ist ein gutes Hotel, aber wenn man dort lange Zeit ist, reicht die Hotelbar nicht aus, um Kameradschaftspflege zu betreiben. Ich finde es total wichtig, dass die Bundeswehr auch darauf ihr Augenmerk legt und wir sicherstellen, dass sich die Soldaten mit dem versorgen können, was sie brauchen. Wichtig ist vor allem auch, dass das Postwesen funktioniert. Es ist nicht Teil der klassischen deutschen Feldpostkette – dafür ist der Einsatz zu klein –, aber es muss natürlich trotzdem funktionieren, und es funktioniert jetzt auch besser, als das zwischenzeitlich der Fall war. Das sind Themen, die wir von einem solchen Truppenbesuch mitnehmen, die die konkrete Arbeit in der Truppe betreffen und die dann umgesetzt werden können. Somit wünsche ich im Namen der CDU/CSU-Fraktion den Soldatinnen und Soldaten jedes erdenkliche Soldatenglück und jeden erdenklichen Erfolg. Mögen Sie alle wieder heil zurückkommen. Herzlichen Dank. ({1})

Christian Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004871, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Einsatz der Bundeswehr an der von der Europäischen Union geführten Mission EU NAVFOR Somalia, Operation Atalanta, ist grundsätzlich sinnvoll, um es zu Beginn klar zu sagen. Mein Kollege Olaf in der Beek hat bereits in der ersten Lesung auf Aspekte der Entwicklungshilfe und den vernetzten Ansatz in der Region hingewiesen. Ich möchte daran anknüpfen. Die Operation Atalanta schützt den Seeverkehr am Horn von Afrika und sichert den Schiffen des Welternährungsprogramms und der AMISOM freie Fahrt. Im März 2019 wurden allein 1,48 Millionen Menschen mit dringend benötigter Nahrung erreicht; für Somalia ist das ein enorm wichtiger Beitrag. ({0}) Nötig ist das, weil dort immer noch Piraten ihr Unwesen treiben; die Pirateriefälle der vergangenen Wochen haben es gezeigt. Ich stimme zu, Pirateriebekämpfung ist auch Symptombekämpfung. Das spricht aber nicht gegen ein Engagement, nicht gegen die Fortsetzung der Operation Atalanta. Im Gegenteil: Es wäre absurd, diesen Einsatz mit dieser Begründung zu beenden. ({1}) Deutschland hat zudem großes Interesse an einem funktionierenden Welthandel. Daher liegt die Pirateriebekämpfung in unser aller Interesse, auch im Interesse der Europäischen Union. Atalanta ist eine herausfordernde Operation, weil sie eine internationale Kooperation von verschiedensten Ländern voraussetzt. Zu betonen ist an dieser Stelle, dass der seit 2012 tendenziell zu verzeichnende Rückgang der Piraterie auch ein Erfolg der Reeder ist. Sie investieren – Kollegen haben es angesprochen – in Selbstschutz an Bord, somit in einen verbesserten Schutz. Aber ohne den Beitrag der Operation Atalanta, also auch ohne den deutschen Beitrag, wären diese ineinandergreifenden Faktoren nicht wirkungsvoll. Abschreckung durch Präsenz ist die wesentliche Komponente, und Abschreckung leistet auch dieser Einsatz. Deutschland ist an der Operation Atalanta mit einem im Wesentlichen logistischen Element in Dschibuti beteiligt. Zudem umfasst unser Beitrag derzeit den Seefernaufklärer P-3C Orion. Insgesamt 78 Soldatinnen und Soldaten leisten dort ihren Dienst. Lassen Sie mich dennoch Kritik äußern. Der Jemen-Krieg und die saudische Seeblockade haben die Lage in der Region eher destabilisiert. Die staatlichen Strukturen in Somalia sind schwach ausgeprägt. Vielfach wird von einem Failed State gesprochen. Das Mandat geht zu wenig auf diese geänderte Lage ein. Was wir brauchen, ist eine Evaluation des Einsatzes. Der zweite Kritikpunkt betrifft die materielle Einsatzbereitschaft des eingesetzten Systems. Gerade bei dem in der Operation Atalanta eingesetzten P-3C Orion ist die grundsätzliche Problematik erkennbar. Der Ende 2018, zu Beginn des Wintermonsuns, zurückgekehrte „Jester“ leistete über 280 Flugstunden im Mandatsgebiet. Das ist hervorragend. Aber: Es ist wesentlich für Atalanta, dass es gelingt, überhaupt Systeme für diesen Einsatz abzustellen. Der Bericht zur Einsatzbereitschaft 2017 zeigte auf, dass im Schnitt nur zwei Systeme einsatzbereit waren, und das trotz des immensen Aufwandes, der geleistet werden muss, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, was auch im aktuellen Bericht des Bundesrechnungshofs deutlich wurde. Meine sehr geehrten Damen und Herren, bemerkenswert ist, dass Deutschland unter diesen Bedingungen seine Verpflichtungen einhalten kann. Das zeigt, dass wir stolz auf unsere Soldaten sein können. Sie leisten einen hervorragenden Dienst, trotz dieser Rahmenbedingungen. ({2}) Deshalb ein großer Dank an alle, die an der Operation beteiligt waren und aktuell beteiligt sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Fraktion wird diesem Einsatz zustimmen. Wir halten die Operation Atalanta für ein gutes und erfolgreiches Mandat. Freie Seefahrt ist ein hohes Gut. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Heike Hänsel. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Lassen Sie mich vorab in diesen geschichtsträchtigen Tagen des 8. und 9. Mai – der 8. Mai, Tag der Befreiung von Krieg und Faschismus, und 9. Mai, Tag des Sieges über den deutschen Faschismus – hier meine Empörung zum Ausdruck bringen: Ich finde es ungeheuerlich, dass die NATO ausgerechnet an diesem Tag, heute, mit einer Großübung beginnt, in der sie einen russischen Überfall auf ein NATO-Mitgliedsland simuliert. ({0}) Wie geschichtsvergessen muss man dafür eigentlich sein? ({1}) Ich finde, es wäre angemessen, den Tag der Befreiung von Krieg und Faschismus, den 8. Mai, endlich gebührend zu würdigen und ihn als gesetzlichen Feiertag hier einzuführen. ({2}) Das wäre richtig. Das würde auch den Auftrag verdeutlichen, für eine friedliche Außenpolitik zu streiten und nicht die Bundeswehr in alle Welt zu schicken. ({3}) Wir sollen ja alleine heute drei Auslandsmandate verlängern. ({4}) Mit ihrem Antrag auf Verlängerung des Atalanta-Mandates, den die Bundesregierung hier vorlegt, versucht sie, der Öffentlichkeit weiszumachen, es ginge bei diesem Bundeswehreinsatz im Indischen Ozean vor der Küste Somalias um die militärische Bekämpfung von Piraten, um das Welternährungsprogramm zu schützen. ({5}) Erstens. Wenn man in die Datenbank des Internationalen Maritimen Büros schaut, dann sieht man, dass weltweit in der letzten Zeit überhaupt keine Überfälle von Piraten in dieser Region aufgezeichnet wurden. ({6}) Es gab überhaupt nur zwei Versuche. Stattdessen finden die meisten Überfälle vor der westafrikanischen Küste und im indonesischen Archipel statt. Nach Ihrer Logik müssten Sie bald die Bundeswehr überall stationieren, um Piraterie zu bekämpfen. Zweitens wäre es deutlich besser, diese 40 Millionen Euro, die Sie jetzt ausgeben wollen, direkt dem Welternährungsprogramm zu geben. ({7}) Das Welternährungsprogramm hat nämlich erst 25 Prozent des Jahresbedarfs der Menschen in Somalia für dieses Jahr finanziell abgesichert. Sie schicken die Bundeswehr in den Indischen Ozean nicht für das Welternährungsprogramm, sondern um geopolitisch Präsenz zu zeigen; denn in dieser Region verlaufen die wichtigsten Haupthandelsrouten zwischen Europa, der Arabischen Halbinsel und Asien. ({8}) Seit wann ist es Auftrag der Bundeswehr, Handelswege in aller Welt zu schützen? ({9}) Das hat mit dem grundgesetzlich verankerten Verteidigungsauftrag der Bundeswehr überhaupt nichts mehr zu tun. Nein, dieser Einsatz ist grundgesetzwidrig, und wir wollen, dass er endlich beendet wird. ({10}) Ich finde es besonders zynisch, dass Sie sagen, Sie wollen die Menschen in Somalia humanitär versorgen, während in Sichtweite der Bundeswehrschiffe, vor der Küste des Jemen, eine der grausamsten Hungerblockaden durch Saudi-Arabien stattfindet; im Jemen ist die größte humanitäre Katastrophe weltweit zu verzeichnen. Es wäre angebracht, dagegen endlich etwas zu tun und Saudi-Arabien nicht länger mit Waffen zu beliefern. ({11}) Der Einsatz dauert jetzt schon elf Jahre. Das muss man sich mal vorstellen! Wollen Sie den Einsatz ebenso wie die Einsätze in Afghanistan und Mali auf Unendlichkeit ausrichten? Wo bleiben Ihre politischen Anstrengungen, um die Ursachen der Piraterie zu bekämpfen? Wo bleibt Ihre politische Initiative zur Lösung des Konflikts, des Bürgerkriegs in Somalia? ({12}) Wo bleiben die konkreten Maßnahmen, um gegen legale und illegale große Fischfangflotten in der Region Somalia aktiv vorzugehen? ({13}) Diese entziehen den Fischern nach wie vor die Lebensgrundlage. Das sind altbekannte Zusammenhänge. Dagegen wird viel zu wenig gemacht. Wir wissen, dass die Drahtzieher der Piraterie nicht in Mogadischu sitzen, sondern in den westlichen Metropolen, in London, in den großen Hauptstädten. Wo bleiben Ihre Initiativen, um diese Kriminellen – das ist organisierte Kriminalität – endlich dingfest zu machen? ({14}) Es geht auch um Finanzströme in der Europäischen Union. Die Geldwäsche – dabei geht es um europäische Banken – ist endlich aktiv zu bekämpfen. Die Bundeswehrsoldaten als Weltpolizisten einzusetzen, ist keine Lösung für diese Probleme. Das Grundgesetz muss wieder der Maßstab für die Außen- und Sicherheitspolitik werden. Das ist auch Auftrag des 8. Mai. Danke schön. ({15})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Dr. Tobias Lindner. ({0})

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Hänsel, Sie werden gleich an meiner Rede merken, dass auch aus Sicht von uns Grünen an diesem Mandat nicht alles richtig ist, dass auch wir an einigen Stellen Bedenken haben. Wenn Sie sich aber an dieses Pult stellen und darüber reden, was vor den Augen von Bundeswehrsoldaten auf Bundeswehrschiffen am Horn von Afrika passiere, dass Deutschland geopolitischen Einfluss in dieser Region haben wolle, dann trauen Sie unserer Truppe noch viel mehr zu als der Rest dieses Hauses. Wir sind dort mit einem Seefernaufklärer unterwegs. Nach Ihren Ausführungen muss dieses Flugzeug schon sehr mächtig sein. ({0}) Kommen wir zum Mandat selbst. Meine Damen und Herren, auch im jetzt elften Jahr ist dieses Mandat leider noch notwendig, wenn man sich die Lage in der Region anschaut, wenn man sich klarmacht, wie viele Menschen gerade in Somalia auf Nahrungsmittel angewiesen sind. Allein im Jahr 2019 sind es mehr als 1 Million Kinder. Angesichts der Sicherheitslage in dieser Region ist es richtig, dass die Vereinten Nationen die Schiffe des Welternährungsprogramms schützen. Es ist richtig, sie bei ihrem Auftrag, die Menschen in Somalia mit Nahrungsmitteln zu versorgen, zu unterstützen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) In dieser Situation will ich ganz ehrlich sagen, weil in der Debatte im Zusammenhang mit dem Schutz der Schiffe des Welternährungsprogramms immer mitschwingt, es gehe auch um See- und Handelswege allgemein: Es gibt keinen Grund, warum man, wenn man die Schiffe des Welternährungsprogramms schützt, dann der Besatzung eines kommerziellen Frachters, wenn dieser in Not gerät, den Schutz verweigern soll. Dieses Mandat hat natürlich auch seine Schwachstellen. Eine Schwachstelle ist – das haben auch Vorredner in diesem Haus schon gesagt –: Wir reden hier natürlich nur über Symptombekämpfung. Wir bekämpfen das Symptom Piraterie. Aber wenn wir wollen, dass Piraterie am Horn von Afrika und anderswo auf diesem Planeten der Vergangenheit angehört, dann müssen wir die Ursachen bekämpfen. Dazu gehört natürlich eine bessere politische Lage am Horn von Afrika als die, die wir jetzt haben. Dazu gehört es, gegen Staatszerfall zu kämpfen. Dazu gehört es aber natürlich auch, mehr für Ernährung, mehr für humanitäre Hilfe und mehr für das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen zu tun, meine Damen und Herren. ({2}) Eine der Ursachen, dass es zu Angriffen auf die Schiffe kommt, ist nämlich auch, dass dieses Welternährungsprogramm an vielen Stellen unterfinanziert ist und anders als in der Vergangenheit auf kleinere Schiffe, die leichter anzugreifen sind, setzen muss. Also ist es auch eine Vorsorge gegen Piraterie, mehr für humanitäre Hilfe und mehr für das World Food Programme zu tun. ({3}) Der zweite Punkt, der wie in den Vorjahren auch bei der Mehrheit meiner Fraktion dazu führen wird, dass sie sich, auch wenn sie dieses Mandat im Kern richtig findet, heute enthalten muss, ist die Landoption, die in diesem Mandat seit wenigen Jahren enthalten ist, also die Möglichkeit, gegebenenfalls an Land zu wirken. ({4}) Abgesehen von der Tatsache, dass man auf diese Option überhaupt erst einmal zurückgegriffen hat – ich persönlich halte sie für unnötig und sage: man kann sie aus dem Mandat auch rausnehmen –, bringt sie nicht nur wenig Nutzen, sondern birgt eben auch ein hohes Risiko, wenn es zu einem solchen Einsatz kommt. Deswegen würden wir als Grüne den Fokus auf Aufklärung am Horn von Afrika und auf Schiffe legen, um gegebenenfalls einen Pirateneinsatz zu unterbinden. Aber lassen Sie diese unsägliche Landoption raus, wenn Sie ermöglichen wollen, dass dieses Mandat in diesem Haus von einer breiten Mehrheit getragen wird. ({5}) In diesem Sinne, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns in den kommenden Jahren daran arbeiten, dass dieses Mandat kein Perpetuum mobile wird. Ich will noch erleben, hier an diesem Pult zu stehen und sagen zu können: Wir haben die Ursachen von Piraterie und von Armut und Hunger am Horn von Afrika eingedämmt, und wir brauchen dieses Mandat nicht mehr. – Arbeiten wir gemeinsam daran. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Christian Schmidt. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich sind nicht Zahl und Dauer solcher Einsätze das Entscheidende. Aber manchmal braucht es die Dauer, um nachhaltig zu sein. Fast bin ich versucht, aus den zusammengewürfelten Argumenten oder Nichtargumenten, die wir heute von der Linken gehört haben, den Erfolg dieser Mission abzuleiten. Es ist eine Tatsache, lieber Herr Kollege Lindner: Der Erfolg fängt mit dem Wirken an Land an. Als jemand, der damals mit dabei war, mitzuentscheiden, dass wir diese Komponente, die von anderen NATO-Staaten gefordert worden war, nutzen, kann ich sagen: Jawohl, das Wirken an Land ist wichtig, damit die Piratenschiffe gar nicht erst ins Wasser kommen. Das hat sich anscheinend bewährt. ({0}) Deswegen ist die Androhung eines Einsatzes, das Bewusstsein der Gefahr für die, die Piraterie betreiben wollen, das Wichtige. ({1}) Der zweite Punkt ist in der Tat die illegale Fischerei; eine katastrophale Entwicklung für die ökonomische Situation, nicht nur in Somalia, sondern auch vor der Westküste Afrikas. Wir haben die Verpflichtung, etwas für eine ordnungsgemäße Fischerei zu tun, nicht nur wegen der Frage der Überfischung, sondern auch wegen des Wegfalls der Ernährungsmöglichkeiten beispielsweise für Somalia. Das ist ja auch gemacht worden. Der dort fliegende Seefernaufklärer, der P-3C Orion, stellt so manches fest, was er an die Thunfischkommission für den Indischen Ozean melden kann. Es geht nicht darum, Thunfische zu zählen, sondern darum, dass dieser Aufklärer Menschen mit ihren Schiffen und Trawlern in den Gewässern sieht, die da gar nicht hingehören und die aus diesen Fischgründen illegal Fische holen. Natürlich war das auch einer der ausschlaggebenden Punkte für die Entwicklung dieses Piraterieunwesens. Deswegen muss man auch hier sagen: Es hat sich anscheinend gut bewährt, was hier mit Atalanta geleistet worden ist. ({2}) Nun wollen wir versuchen, dass es auch zu einer strafrechtlichen Verfolgung kommt. Das ist bisher noch nicht ganz gelungen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat im Jahr 2010 sieben Punkte vorgestellt und gefragt: Wie gehen wir mit denen um, die Piraterie betreiben? Vor dem Landgericht Hamburg lief einmal ein solches Strafverfahren, der sogenannte „Taipan“-Prozess. So hieß das deutsche Schiff. Aber es kann nicht sein, dass wir die Piraten aus Somalia nach Deutschland transportieren, um hier ihre Taten strafrechtlich zu ahnden und sie dann möglicherweise auf Dauer im Land zu haben. ({3}) Nein, die internationale Gemeinschaft, die Vereinten Nationen – das will ich schon ansprechen – brauchen dafür ein Konzept, sei es ein internationaler Strafgerichtshof für Straftaten im Bereich der Piraterie, sei es eine Vereinbarung mit den nationalen Gerichtshöfen und Strafgerichten in der Region, sei es eine regionale Struktur in Zusammenarbeit mit den dort ansässigen Ländern. Das ist eine Aufgabe, die wir nicht deswegen aufgeben dürfen, weil es im Augenblick aufgrund der vielen positiven Entwicklungen durch die Atalanta-Mission ruhig ist, sondern wir müssen weiter daran arbeiten, eine gute Struktur aufzubauen, damit solche Taten strafrechtlich geahndet werden. Piraterie ist und bleibt eines der größten Übel der Menschheit. Wir brauchen die Ernährung der Bevölkerung. Wir brauchen aber auch freie Handelswege. Frau Kollegin Hänsel, ist es denn gar so schlimm, wenn die Handelswege für zivile Schiffe und für die Schiffe des Welternährungsprogramms gesichert sind? ({4}) Ich meine, nicht. ({5}) Ich meine, das ist gut und richtig. Danke. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dirk Vöpel. ({0})

Dirk Vöpel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004433, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 2008 beteiligt sich unsere Bundeswehr nun ununterbrochen am Antipiraterieeinsatz EU NAVFOR Somalia, Operation Atalanta, am Horn von Afrika. Nach mehr als einem Jahrzehnt kann sich der Erfolg dieser Mission sehen lassen. Die Zahl der von Piraten angegriffenen Schiffe ist von 176 im Jahre 2011 auf zwei Angriffe in 2018 kontinuierlich gesunken. In den letzten zehn Jahren wurden 136 Piratenboote aufgebracht und 166 mutmaßliche Piraten den Strafverfolgungsbehörden übergeben, 145 wurden anschließend verurteilt. Die Lieferungen der für die Region dringend benötigten Hilfsgüter, die zu 90 Prozent auf dem Seewege erfolgen, wurden seitdem zu 100 Prozent sichergestellt. Konkret waren dies – wir haben es mehrfach gehört – über 450 Schiffsladungen des Welternährungsprogramms und knapp 140 der AMISOM mit insgesamt 1,8 Millionen Tonnen Hilfsgütern. Ob diese unverzichtbare humanitäre Hilfe ihr Ziel ohne den Schutz der Soldatinnen und Soldaten erreicht hätte, ist fraglich. Doch auch wenn die Piraterie vor der Küste Somalias seit 2008 stark eingedämmt wurde, zeigen die letzten Monate, dass diese Gefahr weiterhin vorhanden ist. Erst vor wenigen Tagen, am Morgen des 23. Aprils, reagierte Atalanta erfolgreich auf einen Piraterievorfall. Vier Tage zuvor, am 19. April, erbeuteten fünf mutmaßliche Piraten ein jemenitisches Segelschiff und nahmen dessen Besatzung gefangen. Zwei Tage später nutzten sie dieses gekaperte Schiff, um sich dem unter südkoreanischer Flagge fahrenden Fischereiboot „Adria“ auf verdächtige Art und Weise zu nähern. Die Besatzung der „Adria“ versuchte, auszuweichen, und erhöhte die Geschwindigkeit. Ein spanisches Fischerboot, das sich in der Nähe befand, eilte zur Hilfe. Nachdem beide Boote von den Piraten beschossen wurden, konnten die Sicherheitskräfte an Bord den Angriff jedoch erfolgreich abwehren. Das Piratenschiff konnte einen Tag später durch den Einsatz von „Jester“, dem deutschen Seefernaufklärer, ausgemacht werden. Die Besatzung der spanischen Fregatte „Navarra“ konnte die 23 Geiseln des entführten Segelschiffs unverletzt befreien, nahm die fünf mutmaßlichen Piraten fest und brachte sie auf die Seychellen. Dort wurden sie den Behörden übergeben. Erst Ende März, zum Ende des Wintermonsuns, war der deutsche Seefernaufklärer mit seiner Crew unter dem neuen Kontingentführer Korvettenkapitän Michael Langhof nach Dschibuti zurückgekehrt. Unsere acht Soldatinnen und 70 Soldaten, die aktuell im Rahmen von Atalanta in Dschibuti und im Hauptquartier in Rota stationiert sind, haben hier erneut einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Piraterie geleistet. Vielen Dank dafür! ({0}) Kommen Sie nach Ihrem Einsatz gesund nach Hause! Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Beispiel zeigt, dass die Operation Atalanta nach wie vor notwendig ist. Die Bedrohung wird zwar wirksam unterdrückt, ist aber keinesfalls beseitigt worden. Die Gefahr eines erneuten Aufflammens der Piraterie ist nicht gebannt. Der Einsatz am Horn von Afrika ist zwingend notwendig, um humanitäre Hilfslieferungen zu schützen und die Region weiter zu stabilisieren. Die sozialdemokratische Fraktion wird der Mandatsverlängerung zustimmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Markus Grübel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zehn Jahren stand ich hier am Rednerpult und habe zu Atalanta geredet. Damals war die Piraterie am Horn von Afrika auf dem Höhepunkt. Heute können wir sagen: Atalanta ist und war sehr erfolgreich. Die Piraterie vor der Küste Somalias ist stark zurückgegangen und nähert sich asymptotisch der Nulllinie. Alle Schiffe des Welternährungsprogramms und der Mission AMISOM haben ihre Häfen sicher erreicht. Es geht um 1,8 Millionen Tonnen Hilfsgüter für 6 Millionen Menschen. Allein das müsste Die Linke überzeugen und sie veranlassen, dem Mandat zuzustimmen. ({0}) Die Mission Atalanta ist aber nach wie vor erforderlich, trotz der großen Erfolge. Erst im letzten Monat gab es wieder zwei Vorfälle, Frau Hänsel; Herr Vöpel hat das gerade ausgeführt. Eine spanische Fregatte, ein deutscher Seefernaufklärer und Sicherheitsteams der angegriffenen Boote haben die Angriffe erfolgreich abgewehrt. Der Schutz der Seeverbindung für humanitäre Hilfe und freien Handel in der Welt ist also weiter erforderlich. Der Handel zwischen Europa, Afrika und Asien ist von größter Bedeutung, und die Bedeutung nimmt zu. Ein fairer Welthandel löst die Armutsprobleme in vielen Ländern der Welt. Ein fairer Welthandel führt auch zu mehr Stabilität und mehr Sicherheit. Durch fairen Handel geht es allen besser. Dazu brauchen wir sichere Seewege. 90 Prozent des Handels zwischen Europa, Asien und Afrika gehen über den Golf von Aden. Über 20 000 Schiffe fahren jährlich in das gefährliche Seegebiet. Durch den Beitrag unserer deutschen Marine und unserer europäischen Partner schützen wir dieses Seegebiet. Der Schutz der Handelswege liegt im Interesse aller Länder der Welt. Es ist kein Zufall, dass auch russische und chinesische Schiffe immer wieder in diesem Seegebiet vertreten sind. Dass wir Deutsche als Exportnation ein berechtigtes Interesse an freien Handelswegen haben, ist kein Geheimnis und auch nichts, was zu kritisieren ist. ({1}) Das stand im Weißbuch 2006. Das hat unser Bundespräsident Horst Köhler 2010 völlig richtig gesagt, und das steht im Weißbuch 2016. Ich zitiere: Auftrag der Bundeswehr ist es, ... gemeinsam mit Partnern und Verbündeten zur Abwehr sicherheitspolitischer Bedrohungen für unsere offene Gesellschaft und unsere freien und sicheren Welthandels- und Versorgungswege beizutragen … Piraterie ist ein brutales, organisiertes Verbrechen, genauso wie Drogenhandel, Menschenhandel, illegaler Waffenhandel und Schutzgelderpressung. Das mit Piraterie erbeutete Geld fließt wieder in dunkle Kanäle, in Bestechung und wieder in organisiertes Verbrechen. Dieses Geschäftsmodell zu unterbinden oder wenigstens unwirtschaftlich zu machen, ist unsere Pflicht. Herr Kollege Tobias Lindner, die Landoption macht die Piraterie unwirtschaftlicher. Allein dass die Europäer das Mandat geändert haben, hat schon Wirkung gezeigt. Wir müssen gar nicht mehr dorthin, weil es bereits Wirkung zeigt. Ihre Argumente sind also keine ausschlaggebenden Gründe, die Mandatsverlängerung abzulehnen. ({2}) Atalanta ist ein Beitrag zur Stabilisierung der Region. Dazu gehören auch die Missionen EUCAP Somalia, EUTM Somalia und AMISOM. Die Operation ist erfolgreich, und unser Engagement konnten wir schon spürbar reduzieren. Der Annäherungsprozess zwischen Äthiopien und Eritrea gibt zur Hoffnung Anlass, dass sich auch in dieser Region der Welt die Dinge zum Guten ändern. Ich fasse zusammen: Alle Fakten sprechen für Atalanta, die überwältigende Mehrheit des Hauses hoffentlich auch. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Grübel. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp­fehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Europäische Union geführten EU NAVFOR Somalia Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp­fehlung auf Drucksache 19/9934, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 19/8970 anzunehmen. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Auch zu dieser Abstimmung liegen mehrere Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags vor. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Ich eröffne die Abstimmung über die Beschlussempfehlung.

Siegbert Droese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004704, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke schön. – Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Gerade fand hier in Berlin ein sogenannter kleiner Westbalkan-Gipfel unter Leitung von Merkel und Macron, aber ohne wichtige Balkanstaaten wie unsere Partner in Rumänien und Bulgarien, ohne Österreich, ohne Italien, ohne Ungarn statt. ({0}) Wie nicht anders zu erwarten, war das Ergebnis nahe null: Symbolpolitik, außer Spesen fast nichts gewesen. ({1}) Nutzen für die EU und Nutzen für den Balkan: keiner. ({2}) Die laufende Debatte zum Westbalkan zeigt drei Dinge: Erstens. Die EU lernt nicht aus ihren Fehlern. Zweitens. Es gelten Doppelstandards in der EU bei der Bewertung von Ländern. Und drittens – für uns sehr wichtig –: Die Menschen in der EU werden wie immer nicht gefragt. Die EU hat auch Sorgen mit anderen Ländern des Balkans, akut mit Rumänien, zum Teil mit Bulgarien. Trotz CVM sind dort erhebliche Rückschritte bei der Rechtsstaatlichkeit an der Tagesordnung. Allein diese Probleme müssten die EU davon abhalten, sich auf neue Abenteuer mit neuen Problemmitgliedern einzulassen. Aber weit gefehlt! ({3}) Am erschreckendsten ist jedoch etwas anderes: Der Faktor „ökonomischer Nutzen für die EU“ spielt auf den zahnlosen Konferenzen fast nie eine Rolle. Wenn die EU sich vor allem als Wirtschaftsgemeinschaft verstünde, dann würde sie gar nicht auf den absurden Gedanken kommen, Länder wie Albanien oder Nordmazedonien als Vollmitglieder in die EU aufzunehmen, vom Problemgebiet Kosovo ganz zu schweigen. Was, meine Damen und Herren, spricht aus ökonomischen Gründen dagegen, den Ländern des Westbalkans zunächst eine privilegierte Partnerschaft anzubieten? Das wäre fair, das wäre sinnvoll. Aber wie argumentiert die EU bezüglich der Beitrittskandidaten? Die EU sagt: Wenn die sechs Balkanländer nicht in die EU kommen, gibt es einen Massenexodus der Jugend in Richtung EU. – Da frage ich mich: Lesen die EU-Funktionäre in Brüssel eigentlich hin und wieder ihre eigenen Sachstandsberichte? Dann wüssten sie, dass dieser Exodus längst stattfindet. Für die AfD-Bundestagsfraktion ist der gesamte Westbalkan auf lange Sicht als EU-Raum nicht geeignet. ({4}) Die EU schafft es ja nicht einmal, das Problem zwischen Serbien und dem Kosovo zu lösen. Fünf Länder der EU, darunter Spanien, einer unserer engsten Partner, haben den Kosovo nicht als Staat anerkannt. Das wird bei Spanien wegen der Katalonien-Frage sicherlich auch so bleiben. Man jubelt über die Namensänderung von Mazedonien in Nordmazedonien. Dies sei das größte Hindernis, so die EU, für einen EU-Beitritt gewesen. Und was ist mit Korruption, organisierter Kriminalität, Rechtsunsicherheit, fehlender Infrastruktur, fehlender Kaufkraft, fehlenden Absatzmärkten? Das alles sind, wie wir von der AfD finden, sehr wichtige Parameter. Ein Beitritt dieser Länder hat kaum einen ökonomischen Mehrwert für die Europäische Union, der ansonsten immer so stark beschworen wird. Es fehlt dem Westbalkan an allen Voraussetzungen für eine Vollmitgliedschaft. Der Jugoslawien-Krieg ist noch lange nicht bewältigt; das dauert aus der Sicht von Experten noch Generationen. In der Wirtschaft existieren ganz andere Strukturen und Mentalitäten, die man nicht bis 2025 oder 2030 an die EU-Standards wird anpassen können. Dann argumentiert die EU noch mit geostrategischen Gründen: Die Russen seien auf dem Balkan kurz vor dem Einmarsch, und die Chinesen bauen Autobahnen und Häfen, als gäbe es gar keinen Welthandel. Deshalb müssten die Länder auch alle möglichst schnell in die NATO. Leider hat die Volksabstimmung in Nordmazedonien etwas ganz anderes ergeben. Dort war das Ergebnis, dass das Quorum nicht erreicht wurde und sich keine Mehrheit für die Aufnahme in die EU oder in die NATO aussprach. Egal – Frau Mogherini und Herr Juncker jubeln trotzdem. Meine Damen und Herren, die EU muss sich gerade in der Westbalkan-Frage auf ihre Wurzeln als Wirtschaftsgemeinschaft besinnen und sich endlich wieder von ökonomischem Sachverstand leiten lassen. Die AfD-Fraktion sagt daher Ja zur privilegierten Partnerschaft des Westbalkans, aber auch klar Nein zu einer Vollmitgliedschaft. ({5}) Die EU sollte den Menschen auf dem Westbalkan reinen Wein einschenken. Der Westbalkan ist weder ökonomisch noch rechtsstaatlich reif für einen Beitritt. Wer von einer Beitrittsperspektive, beginnend 2025, fabuliert, verweigert sich – so ist unsere Meinung – schlichtweg den Realitäten dort vor Ort oder hat, wie es bei Juncker wohl öfter der Fall ist, vernebelte Sinne, so nehmen wir an. Die AfD-Fraktion ist der klaren Überzeugung: Die EU muss zunächst einige wichtige Probleme lösen – Brexit, Frankreich-Krise, Streit mit den osteuropäischen Partnern, ({6}) Euro-Krise, Griechenland-Krise, Transferunion, um nur einige zu nennen –; ({7}) sonst lösen wir die EU. Die nächsten 15 bis 20 Jahre ist ein Beitritt des Westbalkans illusorisch und weder im Interesse der EU noch im Interesse Deutschlands. Die Interessen Deutschlands stehen für meine Fraktion, die AfD-Fraktion, immer an erster Stelle. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Florian Hahn. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen heute einmal mehr über einen Antrag der AfD-Fraktion diskutieren. Es ist ja auch das gute Recht der AfD-Fraktion wie jeder anderen Fraktion, entsprechende Anträge zu stellen. Aber nachdem wir in dieser Legislatur jetzt bereits über ein Jahr hier miteinander diskutieren, uns austauschen und die Argumente abwägen, kann man eigentlich schon erwarten, dass solche Anträge auch Hand und Fuß haben. Schon in den vergangenen Debatten mussten wir immer wieder mal auf handwerkliche Fehler in Ihren Anträgen hinweisen. Auch in dem uns vorliegenden Antrag, Kolleginnen und Kollegen der AfD-Fraktion, haben Sie Wesentliches übersehen. Sie schreiben wortwörtlich: Dennoch möchte die Europäische Kommission im Jahre 2019 offiziell die Beitrittsverhandlungen eröffnen, voraussichtlich zunächst mit Albanien, Montenegro und/oder Nord-Mazedonien. Ich möchte nur darauf hinweisen: Die Europäische Kommission führt längst Beitrittsgespräche mit Montenegro, und dies schon seit 2012. ({0}) Gehen Sie also nicht so schlampig mit den Dingen um, sondern beschäftigen Sie sich mal ganz genau damit. ({1}) Ich kann nur sagen: Uns in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind dieses Thema und die ganze Region Westbalkan sehr wichtig. Aus europäischer Sicht können wir es uns nicht erlauben, diese Region stiefmütterlich zu behandeln, so wie Sie es vorschlagen. Es geht auf dem westlichen Balkan um ganz zentrale Interessen. Es geht um den EU-Binnenmarkt, der wie ein großes Konjunkturprogramm wirkt. Er sorgt für Wettbewerb und Wachstum. So wurde die Europäische Union zum größten Wirtschaftsraum der Welt, noch vor den USA und China. Die Europäische Union ist auch der größte Handelspartner der Welt. Deutschland profitiert als Exportnation von dieser Vernetzung ganz besonders. So weit zu den deutschen Interessen, die wir in dieser Frage haben. ({2}) Schauen Sie sich die Entwicklung in der Europäischen Union an! Alle – ich wiederhole: alle – Länder haben von dem europäischen Binnenmarkt profitiert. Überall haben sich die Lebensbedingungen der Menschen verbessert. Natürlich haben wir auch ein großes Interesse an Stabilität. Die Europäische Union trägt maßgeblich zur Stabilisierung innerhalb der Mitgliedsländer und auch zwischen ihnen bei. Beispiele hierfür sind Südtirol und Nordirland. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Befriedung auf dem Balkan im Schutz der Europäischen Union vorangetrieben werden kann. Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass auch andere Länder große Interessen mit dem westlichen Balkan verbinden, und das nicht unbedingt zugunsten unserer Interessen. Kein anderer Akteur kann aber ein so attraktives Angebot machen wie die Europäische Union, und das sollten wir entsprechend nutzen. ({3}) Schließlich geht es auch um das Thema Migration. Die Länder des westlichen Balkans brauchen eine europäische Perspektive. Sehen die Menschen in ihrem Land keine Zukunft in Europa, machen sie sich auf den Weg nach Europa, und das gilt vor allem für die jungen. Meine Damen und Herren, die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bedeutet noch lange keinen Beitritt. Das ist ein Prozess, der sich so lange hinzieht, bis alle Bedingungen, die sogenannten Kopenhagener Kriterien, erfüllt sind. Das kann dauern, vielleicht zehn Jahre, vielleicht auch länger. Und da darf es keine Rabatte geben. Darauf zu achten, ist auch unsere Aufgabe im Deutschen Bundestag, und das tun wir. Schauen Sie sich die Bedingungen an, die wir zum Beispiel an eine Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Serbien geknüpft haben. Der Deutsche Bundestag war das einzige Parlament in der Europäischen Union, das solche konkreten Vorgaben gemacht hat. Wir gehen nicht blauäugig an die Sache heran. Mit europäischen und bilateralen Initiativen versuchen wir, eine positive Entwicklung zu fördern. Im konkreten Fall von Albanien und Nordmazedonien sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass zahlreiche Reformanstrengungen mit bemerkenswertem Engagement und messbarem Erfolg durchgeführt wurden und werden. Nordmazedonien hat eine entscheidende Hürde genommen, indem es den Namensstreit beendet hat. Es ist aber weiter viel zu tun. Und Albanien kämpft mit großen Anstrengungen, um der Korruption im Lande Herr zu werden, den Drogenanbau in den Griff zu bekommen und den Justizapparat zu säubern. Ich möchte noch auf einen anderen Aspekt hinweisen: Den stärksten Hebel und die härtesten Druckmittel gegenüber den Ländern haben wir in der Phase von Beitrittsverhandlungen. Sie sind eine große Chance für die betroffenen Länder und für uns als Europäische Gemeinschaft. Klar ist: Der westliche Balkan gehört zu Europa. Wir müssen den Ländern dort helfen, Anschluss an europäische Standards zu finden. Sie brauchen eine Perspektive. Ich würde mich freuen, wenn wir sie ihnen gemeinsam geben könnten. Klar ist aber auch: Liefern müssen die Länder im Beitrittsprozess selbst. Sie haben es selbst in der Hand, ob der Traum von einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union Realität werden kann oder nicht. Herzlichen Dank. ({4})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa hat seinen Preis, Europa hat aber auch seinen Wert. Diese Aussage des leider viel zu früh verstorbenen Guido Westerwelle fasst gut zusammen, was wir bei Diskussionen über die Europäische Union oft vergessen. Ja, es läuft nicht alles gut innerhalb unserer Europäischen Union, aber der Preis des Scheiterns wäre um ein Vielfaches höher. Der Frieden, die Stabilität, die Sicherheit und, ja, auch die wirtschaftliche Stärke haben einen unfassbaren Wert. Daher sage ich wie viele von Ihnen voller Inbrunst und Überzeugung: Ja, ich bin ein glühender Europäer. ({0}) Diesen Wert haben viele Länder erkannt, und genau deswegen wollen sie Mitglied der EU werden, so auch die Länder des Westbalkans – zu Recht. 2018 hat die Europäische Kommission die Perspektive für diese Länder erneut bekräftigt. Wir haben aus früheren Erweiterungen gelernt: Es darf keine Aufweichung der Kopenhagener Kriterien mehr geben. Das ist uns heute allen klar. Die EU lernt eben doch. Die nächsten umfassenden Fortschrittsberichte der Kommission als wichtigste Grundlage für eine objektive Bewertung des Stands der Reformen in jedem einzelnen Land kommen, und zwar schon Ende Mai. Deswegen beweist die AfD mit ihrem Antrag nur eines: Es geht heute um rein taktische Spielchen, aber eben nicht um die Zukunft Europas. ({1}) Vor den Europawahlen wollen Sie mit den Rezepten des letzten Jahrhunderts Ressentiments schüren. Sie wollen Menschen und Länder spalten und trennen und den jungen Menschen damit die gemeinsame europäische Zukunft verbauen. Es geht Ihnen doch nicht um Europa und Frieden; es geht Ihnen nicht um Wohlstand und Sicherheit. Sie legen die Axt des Hasses an all das, wofür wir Demokraten stehen. ({2}) Das sieht man daran, wie Sie mit der russischen Einflussnahme in der Region umgehen. Sie spielen sie herunter, verharmlosen sie und verleugnen die Realität. Herr Droese, wer schreibt Ihnen denn all diesen Unsinn auf? Ist es der Kreml direkt, oder machen Sie das nur gegen Spenden? ({3}) Wären Sie aufrechte Demokraten, könnten Sie niemals die Augen vor der gezielten Desinformation durch Russland verschließen. Sie würden die Bestechungen durch russische Diplomaten anprangern und den Anstand haben, den Ländern des Westbalkans den Respekt entgegenzubringen, den souveräne Staaten verdienen. ({4}) Jedes Land hat es doch verdient, dass seine Anstrengungen und Entwicklungen für sich betrachtet werden, die Fortschritte und Erfolge, die mit großen Mühen in jungen Demokratien erkämpft werden. Es ist doch ein gutes Zeichen, dass in Montenegro schon heute jeder mit dem Euro zahlen kann, obwohl das Land noch nicht Mitglied der EU ist. Es sind gute Zeichen, dass in Mazedonien mit dem Sprachgesetz die Versöhnung der Volksgruppen und Minderheiten vorangebracht wird, dass Freundschaftsverträge mit Nachbarn geschlossen werden und dass der Namensstreit zwischen Nordmazedonien und Griechenland beigelegt wurde. Und es ist ein gutes Zeichen, dass dieser Reformprozess durch die Wahlen am letzten Sonntag noch einmal bestätigt wurde und durch die Bevölkerung weitergetragen wird. ({5}) Es ist auch ein gutes Zeichen, dass die Überprüfung der Richter in Albanien vorangeht, diese Überprüfung eben kein zahnloser Tiger ist. Bisher konnten über 100 Überprüfungen abgeschlossen werden, und im Verfassungsgericht gibt es jetzt viele offene Stellen. Wir müssen den Reformwillen ernst nehmen, die Fortschrittsberichte kritisch und objektiv hinterfragen und den Ländern eine klare Perspektive innerhalb der europäischen Familie bieten. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die große Mehrheit in diesem Haus kämpft für ein offenes und einiges Europa, nicht nur heute, am Europatag, und nicht nur bis zur Europawahl am 26. Mai. ({7}) Wir kämpfen für ein Europa der Toleranz und des Miteinanders, für ein Europa der Bürgerrechte und des Rechtsstaats, für ein Europa, das zusammenwächst und Chancen schafft. Wir kämpfen für ein Europa der Freiheit. Dafür lohnt es sich zu kämpfen – jeden Tag. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Hacker. Jetzt rufe ich zu ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag die Kollegin Nezahat Baradari auf. ({0})

Nezahat Baradari (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004947, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der westliche Balkan befindet sich direkt vor unserer Haustür: Die Flugzeit von Frankfurt am Main nach Tirana beträgt zwei Stunden und fünf Minuten – exakt genauso lange wie von Berlin nach Rom. Die Menschen in der Region sind Europäer im Herzen Europas, umgeben von EU-Mitgliedstaaten. Seit rund 18 Jahren schweigen die Waffen in allen Ländern des Westbalkans, es herrscht Frieden. Die friedliche Lösung des Namensstreits zwischen Griechenland und Mazedonien zeigte, dass mit großem politischem Mut und großer Entschlossenheit ein schmerzlicher Kompromiss für beide Länder möglich war, ohne kriegerische Auseinandersetzungen. ({0}) Eine klare EU-Beitrittsperspektive sorgte für Versöhnung und Ausgleich. Eine ernstgemeinte Annäherung der Länder des westlichen Balkans an die EU ist aus vielerlei Gründen auch in unserem eigenen Interesse. ({1}) Erstens. Ein Braindrain in der gesamten Region, also eine Abwanderung von gut qualifizierten Menschen, muss verhindert werden; denn dies würde zu erheblichen demografischen Problemen vor Ort führen und zu einer zunehmenden Migration nach Deutschland. ({2}) Zweitens. Nur mit klaren EU-Regeln lassen sich der Drogenschmuggel und der Menschenhandel in der Region effektiv bekämpfen und eindämmen. Durch die Kooperation mit Frontex in Nordmazedonien wurden rund 16 000 illegale Grenzübertritte nach Westeuropa verhindert. Ebenso hat die verstärkte Sicherheitszusammenarbeit mit Italien dazu geführt, dass die Menge des beschlagnahmten Cannabis innerhalb eines Jahres um 81 Prozent abnahm. Drittens. Unsere technischen Innovationen und das deutsche Know-how können dazu beitragen, die vielfältigen Herausforderungen in dem Bereich Umwelt- und Klimaschutz sowie bei der Abfallentsorgung und der Infrastruktur zu lösen sowie Absatzmärkte in der Region für die Wirtschaft zu erweitern. ({3}) Viertens. Die Stabilisierung und Anbindung des westlichen Balkans an die EU ist in unserem eigenen geo- und sicherheitspolitischen Interesse. Die EU konkurriert hier mit Russland, China und den Golfstaaten. Wollen wir dabei die Verlierer sein? Nein, nur durch eine starke EU-Außenpolitik können wir die Entstehung eines politischen Vakuums verhindern und den Stabilitätsraum EU ausdehnen. ({4}) Fünftens. Eine Infragestellung der EU-Beitrittsper­spektive würde den Nationalisten vor Ort Aufwind geben und weitere Reformfortschritte ausbremsen sowie erneut auf dem Balkan die Lunte an das Pulverfass legen. Eine wie auch immer geartete Partnerschaft zweiter Klasse wird die Länder des westlichen Balkans langfristig nicht motivieren, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu stabilisieren sowie Korruption zu bekämpfen. Die von der EU gemachten Zusagen für den Beginn von Aufnahmegesprächen – ich betone hier: Gesprächen – müssen eingehalten werden; denn bei dieser Entscheidung geht es eindeutig auch um die politische Glaubwürdigkeit der EU auf dem gesamten Westbalkan. ({5}) Also: Die Aufnahme von Beitrittsgesprächen ist ein Prozess ohne Automatismus – das möchte ich hier ganz klar betonen –, geknüpft an klare Konditionen und mit hoher Kontrolldichte. Es darf weder Erleichterungen noch Abkürzungen geben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Angebot für eine weitere Annäherung der Länder des Westbalkans an die EU muss ernst gemeint sein. Die Hand, die die EU den Balkanstaaten gereicht hat, muss ausgestreckt bleiben und darf keine Faust sein. ({6}) Diese ausgestreckte Hand müssen unsere Partnerinnen und Partner aber auch greifen. Ehrlich, glaubhaft und verlässlich muss der weitere gemeinsame Weg der Anbindung an die EU gegangen werden. Europäer müssen sich die Hände reichen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Sevim Dağdelen. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lateinamerika ist in seiner Geschichte nur allzu oft als Hinterhof der USA betrachtet worden. Militärische Interventionen und ein rein geostrategischer Umgang prägten jahrzehntelang das Bild. ({0}) Diese Art der Hinterhofpolitik, die eine eigenständige Entwicklung nicht oder kaum zulässt, wurde zu Recht gerade auch hier in Europa parteiübergreifend stets kritisiert. Wenn wir uns aber den Umgang der Europäischen Union mit dem Balkan anschauen, so gewinnt man den Eindruck, dass es auch hier eine europäische Hinterhofpolitik gibt, ({1}) eine Politik, die an einer eigenständigen Entwicklung dieser Länder nicht interessiert ist. Es ist doch ein Drama, dass man diesen Ländern den EU-Beitritt oder auch eine privilegierte Partnerschaft verspricht, um sie geostrategisch einzubinden, aber nicht im Mindesten an einer Entwicklung in diesen Ländern interessiert ist. ({2}) Es ist in diesem Zusammenhang besonders beschämend, dass es jetzt chinesische Firmen sind, die im Rahmen des Seidenstraßenprojekts auf einen Ausbau der Infrastruktur setzen, während die Europäische Union es bislang sträflich versäumt hat, Verkehrsprojekte auch zum Nutzen der Region zu fördern. Es war kein Thema, dass man vor 100 Jahren schneller mit der Bahn von Belgrad nach Thessaloniki oder eben nach Istanbul reisen konnte, als es heute der Fall ist. Es ist zudem eine Tatsache, dass, wenn die EU ihr eigenes Recht ernst nimmt, man bestimmten Ländern selbstverständlich keine EU-Mitgliedschaft ermöglichen kann. Ein Land wie Montenegro ist im internationalen Vergleich, was die Pressefreiheit angeht, auf Platz 104, ({3}) Albanien bei der Korruption auf Platz 99, noch hinter der Türkei Erdogans. Das kann man doch nicht irgendwie schönreden! ({4}) Deshalb verstehe ich auch den Jubel der EU-Kommission nicht, dass sich hier rechtsstaatlich alles zum Besseren wenden würde. Das deckt sich jedenfalls nicht mit den Beobachtungen von Transparency International oder auch den Reportern ohne Grenzen. Ich finde es kreuzgefährlich, dass man hier aus geostrategischen Gründen Hoffnungen weckt, die man dann am Ende wieder enttäuscht. ({5}) In diesem Zusammenhang ist es frappierend, wie nahe die AfD in ihrem Antrag zum Westbalkan dem Ansatz der Bundesregierung oder auch der EU-Kommission folgt. Statt der Eröffnung einer Beitrittsperspektive für die Balkanstaaten soll es um eine privilegierte Partnerschaft gehen. Ihre Begründung finde ich ziemlich interessant: Sie schreiben, dass die Begründung der Europäischen Kommission, die Länder des Westbalkans müssten aus geostrategischen Gründen aufgenommen werden, nicht trägt, weil der geostrategischen Vereinnahmung der Region bereits mit dem Beitritt zur NATO Genüge getan würde. ({6}) Ich fände es verheerend, wenn die Hinterhofpolitik der EU auf dem Balkan – egal mit welchen Mitteln – fortgesetzt würde. ({7}) Die Ergebnisse sind nämlich auch bei der Politik der NATO verheerend. Ich darf in diesem Zusammenhang an den 20. Jahrestag des Überfalls auf Jugoslawien erinnern; ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg der NATO, unter dessen Folgen – der verschossenen Uranmunition – die serbische Bevölkerung noch heute leidet, nämlich mit sehr hohen Krebsraten. Warum, so frage ich, hat die Bundesregierung sich nicht wenigstens bemüht, sich an der Beseitigung dieser anhaltenden Kriegsschäden auf dem Balkan zu beteiligen? ({8}) Stattdessen setzen Sie gerade gegenüber Serbien Ihre Hinterhofpolitik fort, indem Sie – gegen europäisches Recht – Serbien die völkerrechtswidrige Anerkennung des Kosovos als Voraussetzung für einen EU-Beitrittsprozess aufzwingen. Das ist inakzeptabel, ({9}) und Sie wissen auch, dass fünf Mitgliedstaaten der EU Kosovo nicht anerkannt haben ({10}) und Kosovo auch kein Land der Vereinten Nationen ist. Ich finde, wir brauchen eine Wende in der europäischen Balkanpolitik. Statt um einen Hinterhof muss es um einen gleichberechtigten Dialog und gleichberechtigte Partnerschaften gehen. Mit einer Politik der Erpressung oder der Einspannung in eine Konfrontationspolitik gegen Russland wird man den Balkan weiter zu einem Feld der Auseinandersetzung zwischen Großmächten machen. Damit muss Schluss sein! ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Manuel Sarrazin spricht für Bündnis 90/Grüne. ({0})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD ist eine Partei, die in ihrem Programm vom Dexit, also letztlich vom Austritt Deutschlands aus der EU, fabuliert. Aber vorher wollen Sie noch anderen Staaten den Beitritt versagen. Den logischen Widerspruch müssten eigentlich sogar Sie erkennen. ({0}) Dann ist da auch die Frage: Haben Sie sich mal überlegt, ob ein Erfolg Ihrer Politik nicht letztlich die Ursache dafür sein könnte, Migrationsbewegungen nach Deutschland auszulösen? ({1}) Sie wollen den Menschen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, die mit Stolz und Respekt auf Deutschland schauen, die die EU-Perspektive haben wollen, ja, die Hoffnung haben, dass die Länder in ihrer Region früher oder später etwas mehr so sind wie Deutschland und die deswegen die Fahrtrichtung EU haben wollen, die Hoffnung auf Veränderung vor Ort nehmen. ({2}) Wie Kollege Hahn gerade gesagt hat: Damit sind Sie für die Menschen aus der Region die potenzielle Fluchtursache. ({3}) Ihr Antrag ist zudem ein Anschlag auf die vitalen Sicherheitsinteressen unserer engen Partner: Ungarn, Österreich, Italien, Kroatien, Slowenien und aller anderen Staaten der Europäischen Union. Aber ich habe bewusst eine Auswahl von Staaten genannt, von denen Sie immer behaupten, sie wären die besten Freunde der rechtsnationalen Regierungen. Warum ist Herr Salvini für den Beitritt dieser Länder? Warum ist Herr Orban für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien? Warum ist Kroatien explizit gegen Ihren Antrag, der Region die EU-Perspektive wegzunehmen? Weil die genau wissen, was ihre Sicherheitsinteressen sind. ({4}) Sie sind eine rechtsnationale Partei, die nicht im Interesse Deutschlands handelt. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und den Regionen. ({5}) Ich warne davor: Unterschätzen Sie nicht die Ungeduld der Gesellschaften vor Ort. Die Erweiterung ist die Voraussetzung für die noch nicht erfolgte Aussöhnung und für den Frieden in der Region. Ohne die Perspektive auf eine Vollmitgliedschaft werden wir nicht nur die Grenzen, die diese Region heute noch trägt, nicht überwinden können, wir werden den Nationalismus nicht überwinden können, sondern wir werden auch die politischen Folgen der Kriege in dieser Region, die noch nicht abschließend geregelt sind, nicht lösen können. Die EU-Perspektive ist die Voraussetzung für die Überwindung der Folgen der Balkankriege. Ohne diese Perspektive besteht die Gefahr, dass die Region destabilisiert wird, ja, dass die Region vielleicht auch wieder in Krieg und Zerstörung zurückfällt. Die EU-Perspektive ist unser einziges wirksames Mittel, die positiven Veränderungen, die wir alle gemeinsam wollen, auch durchzusetzen, und sie ist das wichtigste Moment für eine extern besetzte, aber für die Gesellschaften intrinsische Motivation, Reformen anzugehen. Ohne die EU-Perspektive werden die Gesellschaften vor Ort nicht in der Lage sein, die schwierigen und schmerzhaften Reformen, die nötig sind, anzugehen. ({6}) Ich sage es ganz bewusst an das ganze Haus: Die Erweiterung von 2004 war sehr erfolgreich. Wenn wir uns anschauen, wo Polen 2004 stand und wo es jetzt steht, dann stellen wir fest: Ohne die EU-Erweiterung wäre alles schlechter in Polen. Aber vergessen wir nicht: 2002/2003 gab es einen Moment, in dem wir aufgrund von Zögern und Zaudern fast versagt hätten, die Bereitschaft der polnischen Gesellschaft zu unterstützten, durch weitere Reformen in Richtung EU zu gehen, Das heißt, die Glaubwürdigkeit der EU steht und fällt damit, dass die Möglichkeit besteht, tatsächlich Schritte in Richtung Europa zu machen. Der Lackmustest dafür wird die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Mazedonien in diesem Jahr sein. Danke sehr. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Philipp Amthor. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selbst am heutigen Europatag schafft es die AfD nicht, über den eigenen Schatten zu springen, und selbst am heutigen Europatag schaffen Sie es hier nicht, mit einer halben Silbe einmal etwas Positives über diese Europäische Union und ihre Errungenschaften zu sagen. ({0}) Wir betreiben das Gegenteil. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frieden, Freiheit, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit, das sind die Errungenschaften der Europäischen Union. Das sind vor allem Errungenschaften, die stark sind, weil wir sie gemeinsam mit anderen Staaten angehen. Dafür können wir heute an diesem Europatag ein Zeichen setzen. ({1}) In Europa ist nicht alles perfekt; aber es ist doch eine Erfolgsgeschichte. Das wollen Sie nicht sehen. Sie schwadronieren stattdessen hier und andernorts, im Parlament und im Europawahlkampf, über den Ausstieg Deutschlands aus der Europäischen Union. Sie treten als AfD bei einer Europawahl an, um das Europaparlament abzuschaffen, und dann sagen Sie: Das haben wir doch alles nicht so gemeint. – Das ist nicht unsere Vorstellung von Europa, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({2}) Für uns ist wichtig: Bei aller Euphorie und bei allen positiven Stimmungen zu Europa steht die CDU/CSU-Bundestagsfraktion vor allem auch für Realismus in dieser Debatte. ({3}) Wir stehen für ein Europa, das seine Grenzen kennt. ({4}) Zu einer Europäischen Union, die ihre Grenzen kennt, gehört es, dass wir sagen: Wir wollen zum Beispiel in der Erweiterungsdebatte keine Vollmitgliedschaft der Türkei. Wir haben uns – das ist für uns ein wichtiger Grundsatz – zu den Balkanstaaten bekannt. Das ist unsere Agenda, auch wenn Sie uns anderes unterstellen wollen. Für uns gilt: Vertiefung vor Erweiterung. Das ist für uns der entscheidende Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Wir haben uns in unserem Europawahlprogramm dazu bekannt, dass wir eine EU-Erweiterung in den nächsten fünf Jahren nicht als realistisch empfinden. Wir arbeiten für Vertiefung statt Erweiterung. Gleichzeitig müssen wir aber auch sehen – das ist in der Debatte heute schon angeklungen –, dass wir die strategische Bedeutung des Weltbalkans natürlich nicht vergessen; denn sie ist stark. Es liegt im deutschen Interesse und es liegt im europäischen Interesse, dass wir den Westbalkan teilhaben lassen an unserer Integration in Bezug auf die Wirtschaftskraft sowie an unserer Integration in Bezug auf funktionierende Rechtsstaatlichkeit und dass wir diese Region nicht in eine Abhängigkeit gegenüber Russland bringen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Droese, bitte. ({0})

Siegbert Droese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004704, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Kollege Amthor, vielen Dank für die Gestattung der Frage. – Ich habe gerade meinen Ohren nicht getraut. Wir hatten vor wenigen Wochen im Hohen Hause eine Türkei-Debatte. Dort sagten Sie, Sie möchten nicht, dass die Türkei die Vollmitgliedschaft erreicht. Das war der Sinn unseres Antrages. Wir werden darüber noch diskutieren. Aber ich hatte, ehrlich gesagt, ein völlig anderes Bild von der Union. Können Sie mir das erklären? Jetzt entsteht nämlich für die Bevölkerung und uns hier im Hohen Hause der Eindruck, dass die Union nicht für einen Beitritt der Türkei stimmen würde. Das klang jetzt ein bisschen anders. Danke.

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Droese, nach Ihrer Wortmeldung entstünde der Eindruck, die AfD würde hier vernünftige Anträge vorlegen. Das ist nicht der Fall. ({0}) Ich weiß ja nicht, was Sie bei der Debatte gemacht haben. Vielleicht haben Sie den guten Argumenten unserer Redner nicht zugehört, die damals dargestellt haben, warum wir das ablehnen. Dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union ist, können Sie in unserem Wahlprogramm nachlesen; da steht auch noch viel anderes drin. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Lektüre! Tut Ihnen sicher gut! – Herzlichen Dank dafür. ({1}) Aber ich war da angekommen, dass wir mit Blick auf den Westbalkan schon auch die geostrategische Bedeutung sehen müssen; die ist wichtig für Deutschland. Die Aufnahme von Gesprächen zu einer Erweiterung bedeutet ja nicht, dass sie dann auch kommt. Es gibt für uns keinen Rabatt auf die Beitrittskriterien. Wir erwarten stabile Institutionen, einen besseren Kampf gegen Korruption, Rechtsstaatlichkeit, ein Bekenntnis zur Marktwirtschaft und eine Übernahme des EU-Acquis in den Regeln. Das sind für uns die Kriterien. Aber ich will der AfD dann doch noch etwas Positives sagen: ({2}) Herr Brandner, Sie bekommen von mir ja wirklich selten Lob. Aber als Vorsitzender des Rechtsausschusses – ich war ganz erstaunt – haben Sie im November 2018 eine Delegationsreise nach Albanien und Kosovo gemacht. ({3}) – Hören Sie gut zu! – Bei dieser Reise haben Sie dann als Vorsitzender des Rechtsausschusses – ich lese Ihnen das einmal vor – folgende Abschlusserklärung unterschrieben – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: Albanien ist ein Land in der Mitte Europas, dessen berechtigte Erwartung und Hoffnung, bald Beitrittsverhandlungen mit der EU zu führen, wir überall zu spüren bekommen haben. ({4}) Und noch besser – ich zitiere weiter –: Insgesamt war sich die Delegation einig, dass Kosovo Unterstützung verdient, um so früh wie möglich Mitglied der EU werden zu können. ({5}) Entweder wissen Sie nicht, was Sie da unterschrieben haben, oder Sie haben kein Gewicht in Ihrer Fraktion. Beides tut mir leid für Sie. Wir lehnen Ihren Antrag ab. Herzlichen Dank.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Metin Hakverdi, SPD-Fraktion. ({0})

Metin Hakverdi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004289, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) – Man muss lesen, was man unterschreibt, auch auf Reisen. ({1}) Natürlich ist es legitim, die Frage nach den Grenzen der EU-Erweiterung aufzuwerfen. Diese Frage müssen wir uns in der Vergangenheit, in der Gegenwart und auch in der Zukunft stellen. Aber darum geht es der AfD – das haben wir heute gemerkt – in Wahrheit nicht. Der AfD geht es heute darum, dieses Haus als Bühne für ihren Anti-Europa-Wahlkampf zu nutzen, und das ist nicht in Ordnung. ({2}) Unter welchen Bedingungen soll ein Beitritt zur Europäischen Union möglich sein? Eine wichtige und sehr ernste Frage. Grundlage sind nach wie vor die Kopenhagener Kriterien, wie sie sich in Artikel 2 und Artikel 49 des EU-Vertrags wiederfinden. Sie kennen sie alle: Wahrung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Wettbewerbsfähigkeit, die Bereitschaft, sich die EU-eigenen Verpflichtungen und Ziele zu eigen zu machen. Jeder – jeder! – europäische Staat kann, wenn er diese Kriterien, diese Werte erfüllt, die Mitgliedschaft beantragen. So steht es in Artikel 49. Es wäre töricht und den Zielen des Friedens, des Wohlstands und der Sicherheit absolut abträglich, hätte man hier einzelne Regionen ausgeschlossen. Hätten die Gründer der EU wie die AfD gedacht und sich an Ressentiments orientiert, die sich übrigens im Laufe der Zeit immer wieder verändern, hätten sie andere Voraussetzungen wie Religion, Herkunft, Kultur, Sprache verwendet, dann wäre dieses wunderbare Europa mit seinen 28 Mitgliedstaaten nie zustande gekommen. Hätten die Gründer der Europäischen Union wie die AfD gedacht, einzelne Regionen Europas von Anfang an auszuschließen, dann bestünde die EU heute wahrscheinlich aus sechs Mitgliedstaaten und hätte niemals die Ausstrahlungs- und Transformationskraft entfaltet, die heute ganz Europa friedlicher, sicherer und wirtschaftlich erfolgreicher macht. ({3}) Das ist – das ist hier schon mehrfach gesagt worden, aber ich unterstreiche es – auch im deutschen, nationalen Interesse. Selbst dem stolzen Vereinigten Königreich fällt es ungemein schwer, aus diesem Erfolgsprojekt auszusteigen. Trotzdem: Bei den Voraussetzungen zu einem Beitritt darf es keinen Rabatt geben. Auch das ist hier schon gesagt worden. Übrigens: Der Beitritt eines neuen Mitgliedstaates steht aktuell gar nicht an, auch nicht in 2025. Wir brauchen Zeit und müssen uns anstrengen, die Institutionen der Europäischen Union fit zu machen. Wir müssen die Entscheidungsstrukturen in der Europäischen Union verbessern. Die Europäische Union muss auch mit vielen Mitgliedstaaten noch handlungsfähig bleiben. Wir müssen weiterhin die Mechanismen zur Achtung unserer Werte in den Mitgliedstaaten verbessern. Mitglieder müssen vor allem nach einem Beitritt die gemeinsamen Werte achten und fördern und nicht nur vor einem Beitritt. ({4}) Bevor wir in diesen Bereichen unsere Hausaufgaben nicht gemacht haben, können wir kein neues Mitglied in die Europäische Union aufnehmen. Das bedeutet aber nicht, dass keine Beitrittsverhandlungen geführt werden sollen. Wir sollten die Zeit innerer Reformen unbedingt nutzen, um Reformen bei Anwärterstaaten zu forcieren. Beitrittsverhandlungen führen nicht automatisch zum Beitritt. Das muss allen Anwärtern klar sein. Das muss aber auch hier im Haus allen klar sein, damit wir nicht ängstlich mit diesem Instrument umgehen. ({5}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns mit der Weiterentwicklung der EU und mit der klaren Bestimmung unserer eigenen Interessen auch nicht zu viel Zeit lassen. Die Welt da draußen wartet nicht auf uns. Wenn Sie im Westbalkan unterwegs sind – ich weiß, dass viele Kollegen regelmäßig in der Region sind –, sehen Sie, dass andere, außereuropäische Mächte versuchen, dort Fuß zu fassen. Deshalb ist die vollständige Integration des Westbalkans im vitalen Sicherheitsinteresse der Europäischen Union. Wir sollten unsere Kraft darauf verwenden, diese Region nach den Schrecken der Kriege nachhaltig zu transformieren. Daher geht es jetzt darum, dass wir in der EU unsere Hausaufgaben machen und uns reformieren. Auf dem Westbalkan geht es darum, die notwendigen Reformen einzuleiten. Beides ist richtig. Weder gibt es einen Freifahrtschein für eine EU-Mitgliedschaft, noch dürfen wir die Beitrittsperspektive von Anfang an ausschließen. Beides liegt in unserem nationalen Interesse. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Letzter Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Peter Beyer. ({0})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich am Anfang klarzustellen: Wir stehen zur EU-Perspektive der Westbalkanstaaten. ({0}) Da sind wir verlässlicher Partner für all diejenigen, die an die Tür der Europäischen Union klopfen. Richtig ist dabei natürlich auch, dass wir die Augen vor den Realitäten nicht verschließen. Es kann keinen Automatismus geben beim Beitritt zur EU. Es kann auch nicht im Vorhinein ein gesetztes Datum für eine Vollmitgliedschaft geben. Und auch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ist schon aus guten Gründen an sehr strikte Kriterien geknüpft. Es gilt, diese Kriterien nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Gut 20 Jahre nach dem Ende der Zerfallskriege in Jugoslawien hat die Region eine beachtliche Leistung vorzuweisen. Die verschiedenen Ethnien und Religionen in der Region haben gelernt, friedlich zu koexistieren, und das innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeit. Nun gilt es, die Unsitten der Kriegszeiten zu überwinden, den Ballast der Geschichte abzuwerfen und mit großem Ernst und mit Bemühen den Weg in die europäische Staatengemeinschaft zu beschreiten – nach dem Motto: Wer beitreten will, muss auch beitragen. Daher müssen wir auch immer wieder die Herausforderungen auf dem Weg in die EU benennen. Das sind die Erreichung von Rechtsstaatlichkeit, von demokratischen Strukturen, es muss eine Entpolitisierung der Verwaltung stattfinden, es muss ein effizientes und transparentes Justizwesen aufgebaut werden, und zuallervorderst steht die Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität. Das alles sind zentrale Punkte, mit denen die Regierungen der Länder des Westbalkans tagtäglich zu tun haben, die sie tagtäglich angehen müssen und – das ist eine Forderung – auch wirklich umsetzen müssen. Das können wir nicht für sie tun. Das ist ihre eigene Verantwortung; da sind sie selbst gefordert, meine Damen und Herren. Der EU-Annäherungsprozess ist dabei das mit Abstand am besten geeignete Instrument, den Staaten des westlichen Balkans kritisch, konstruktiv und auch letztlich erfolgreich beiseitezustehen, damit die rechtsstaatlichen und demokratischen Strukturen aufgebaut werden können. Wir tun das, wir stehen an der Seite dieser Staaten, und wir fühlen uns dazu verpflichtet. Das Ganze geschieht nicht aus purem Altruismus. Vor der Türe des europäischen Hauses haben wir ein eigenes Interesse an stabilen und friedlichen Verhältnissen; denn – das wurde in der Debatte schon eingeführt – ein Aufbrechen von Konflikten – ja, auch von bewaffneten Konflikten – ist durchaus eine reale Gefahr in den multiethnischen und multireligiösen Gemengelagen, mit denen wir es dort zu tun haben. Auch KFOR hat immer noch eine Berechtigung, und zwar auch noch auf unabsehbare Zeit, meine Damen und Herren. Wir haben also ein eigenes Interesse daran, uns der Region so zuzuwenden, dass jeder einzelne Staat EU-fit wird und eine ehrliche Aufnahmeperspektive in die Europäische Union hat. Ich habe eine weitere Besorgnis. Das ist der wachsende Einfluss dritter Akteure: Die Staaten sind zuallererst Russland, China, die Emirate und auch die Türkei. Nähme man den Menschen, meine Damen und Herren, die EU-Perspektive, wäre das nicht bloß eine grobe Enttäuschung der Erwartungen der größtenteils jungen Menschen in der Region. Nein, es wäre vor allem auch ein Verrat an uns selbst, an unseren eigenen Interessen. Daher ist der Antrag der AfD nur allzu durchschaubar. Wir haben ja bekanntlich Informationen über ihre Russland-Nähe und die Unterstützung durch Russland. Es ist durchschaubar, dass Sie Putin frei Haus das Argument liefern sollen, dass die EU kein verlässlicher Partner ist und dass sie sich eben nicht an gegebene Versprechen hält, sodass letztlich nur der Kreml eine veritable Zukunftsperspektive für die Staaten des westlichen Balkans zur Verfügung stellt. Der Antrag ist falsch, er betrügt die Menschen, er betrügt unsere eigenen deutschen Interessen und zeugt darüber hinaus von gröbster Unkenntnis der Realitäten in der Region des Westbalkans insgesamt. Daher ist er abzulehnen. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/9968 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst eine Vorbemerkung: Wir haben in Deutschland, glaube ich, eine einmalige Unternehmenslandschaft. Wir haben hervorragende Konzerne, hervorragende Familienunternehmen, eine hervorragende Handwerkerlandschaft, wir haben hervorragende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die das Bruttoinlandsprodukt erarbeiten und die auch Vermögen schaffen. Wer auf eine Konzernseite geht, sieht, dass dort eine hohe Transparenz angekündigt wird. Dort stehen Sätze wie: „Sie bekommen einen exklusiven Einblick in unseren global agierenden Konzern“ – Transparenzgewinn ist ein Wort, das ganz oft vorkommt –, „Sie können die Geschäfte etwas genauer kennenlernen“. Und: „Wir wollen“ – ganz anständig – „viel an das Gemeinwesen zurückgeben“. Sie finden wirklich ganz tolle Ankündigungen, und die glauben wir den Konzernen auch. Sie haben allen Grund, öffentlich mit ihren Informationen umzugehen. Deshalb ist es auch gut, dass es diesen Antrag gibt; denn der Antrag unterstützt genau diese Transparenz, diese Offenheit. Er formuliert: Würden Konzerne Kennzahlen wie Umsatz, Gewinn und Steuern für jedes Land einzeln ausweisen, ließe sich Gewinnverkürzung besser erkennen. Das ist die große Hoffnung. Nun ist es so, dass wir das BEPS-Projekt, also das Bemühen, die Gewinnverlagerung einzudämmen, auf OECD-Ebene ja schon beschlossen haben. Es gibt völkerrechtliche Verträge, auf deren Basis ein automatischer Informationsaustausch zwischen den Ländern stattfindet, allerdings zwischen den Steuerverwaltungen. Dabei geht es um Gewinne, Anzahl der Arbeitnehmer; ungefähr 20 Kennzahlen werden schon zwischen den Finanzverwaltungen ausgetauscht. Die Europäische Kommission hat nun eine Novelle vorgelegt und den Vorschlag gemacht, die Rechnungslegungsvorschriften so zu verändern, dass man diese Kennzahlen auch öffentlich bekannt macht. An dieser Stelle gibt es einen Streit, eine Diskussion, auch zwischen den Koalitionsfraktionen. Die CDU/CSU sagt: Keinesfalls öffentlich. Wir sagen – das steht sogar in unserem Europaprogramm –: Wir möchten es gerne öffentlich machen. ({0}) Das Problem ist nun: Dieser Vorschlag der Kommission hängt im sogenannten Trilog. Die Kommission ist dafür, das Europäische Parlament ist dafür; aber im Rat gibt es Verklemmungen, weil einzelne Länder dagegen sind. Deutschland kann nicht zustimmen, weil Deutschland von unserer Regierung vertreten wird und die Regierungskoalition sich nicht einig ist. Das ist ein gewisses Problem. ({1}) – Sie verwechseln etwas. Parlament ist nicht gleich Regierung; deshalb bin ich auch kein Teil der Regierung. Aber das können Sie noch dazulernen. ({2}) Es gibt aber gute Argumente dagegen, das öffentlich zu machen. Es könnte benutzt werden, um jemanden an den Pranger zu stellen. ({3}) Jetzt frage ich aber, ob das An-den-Pranger-Stellen nicht auch auf jeder Konzernpressekonferenz und auf jeder Hauptversammlung funktioniert; denn dort wird doch immer öffentlich erklärt, was der Konzern alles transparent machen will. Da gibt es natürlich auch die Möglichkeit, jemanden an den Pranger zu stellen. Es gibt eventuell weniger Länder, die mitmachen. Das ist völlig klar. Allerdings: Wer jetzt schon nicht mitmachen will, der verschweigt den anderen Steuerverwaltungen das, was er nicht sagen will. Auch das gilt jetzt schon. Was ich besonders schlimm finde – das stimmt –: Es könnte auch falsche Interpretationen von korrekten Zahlen geben. Auch das ist ein großes Problem. Allerdings muss man sagen, dass das auch heute schon nicht vermeidbar ist. Es ist im Moment ein politisches Problem. Ich denke, dass die Hoffnung besteht, dass dann, wenn man von hohen Gewinnen und niedrigen Steuern liest, der Verdacht aufkommt: Da kann es sich eigentlich nur um Steuerhinterziehung handeln; da kann etwas nicht stimmen. – Diese Interpretation, glaube ich, müssen wir ein bisschen genauer verfolgen; denn natürlich können Konzernverluste oder Rückstellungsverpflichtungen dazu führen, dass ein Konzern hohe Gewinne gemacht hat und trotzdem wenig Steuern bezahlt. ({4}) Bei dieser Fehlinterpretation muss man aufpassen, dass man nicht plötzlich Leute an den Pranger stellt, die es nicht verdient haben. Darauf gilt es zu achten; das wollen wir machen. Allerdings darf man das auch nicht überhöhen. Wir haben bei den Banken sehr gute Erfahrungen gemacht. Bei den Banken gibt es das öffentliche Country-by-Country Reporting, also den Austausch der Daten, schon länger. Und bei den Banken ist kein Problem entstanden. ({5}) Oder kann jemand feststellen, dass die Banken deshalb an den Pranger gestellt worden wären? ({6}) Nein, sie stehen am Pranger, weil sie kriminell waren, weil sie betrogen haben, weil sie Dinge getan haben, die sie nicht tun durften; aber sie stehen nicht wegen der Bereitstellung öffentlicher Informationen am Pranger. Insofern sieht man, dass es gut ist, damit vorsichtig umzugehen. Um vielleicht noch einer Fehlinterpretation vorzubeugen: Die Zahlen, die in diesem Austausch genannt werden, dienen gar nicht der Besteuerung. Der Besteuerung dienen die nationalen Gewinnermittlungsvorschriften, und die Veröffentlichung der Daten lässt keinen Rückschluss auf die Besteuerung zu. Auch da gibt es Fehlinterpretationen, vor denen ich warnen möchte. Ich glaube, übertriebene Befürchtungen, übertriebene Hoffnungen führen in die Irre. Die Lehren, die wir in den vergangenen Jahren daraus gezogen haben, sind die Basis für diesen Antrag. Er ist gerechtfertigt, und wir würden ihn auch unterstützen. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Jörn König für die AfD. ({0})

Jörn König (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004788, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Tribünen und an den Fernsehbildschirmen! Herr Binding, vielen Dank erst mal, dass Sie noch mal so deutlich und transparent gemacht haben, dass die EU im Grunde zu keinen Entscheidungen kommt und nicht handlungsfähig ist, obwohl sie sich eigentlich schon seit Jahrzehnten mit diesem Thema beschäftigt. Das wurde wieder sehr deutlich. ({0}) – Auch richtig. Der Antrag der Linken befasst sich damit, dass multinationale Konzerne Gewinne über Ländergrenzen verschieben und ihre Steuerlast drücken. Ja, auch die AfD ist dafür, Steuerflucht zu bekämpfen. Auch wir fordern: Die Konzerne müssen dort ihre Gewinne versteuern, wo sie erwirtschaftet werden. Aber bitte tun Sie doch nicht so, als sei dieses Problem typisch für die deutsche Wirtschaft und gerade den Mittelstand. ({1}) Die Steuereinnahmen sind in den letzten 22 Jahren auf das Doppelte gestiegen. Auch der Mittelstand in Europa ist inzwischen multinational. Die Einnahmen sind nicht das Problem in Deutschland. Die Ausgaben sind das größere Problem, und vor allen Dingen ist die Steuerverschwendung ohne jede Strafe und ohne jede Konsequenz das größte Problem. ({2}) Mehr Konzerntransparenz würden wir uns in der Tat wünschen, zum Beispiel bei der Zahlung von Sponsorengeldern an die alten Parteien, wodurch dem Staat Millionen von Steuern verloren gehen. Beispielsweise hat der größte Tabakkonzern der Welt, Philip Morris, Hunderttausende von Euro an Sponsorengeldern an CDU, CSU, SPD und FDP gezahlt. Dies wurde in den Rechenschaftsberichten nicht als Zahlung von Philip Morris ausgewiesen, sondern nur als Sammelposten. So wurden das Sommerfest der CDU Sachsen und das Jubiläum der SPD-Zeitschrift „Berliner Republik“ gesponsert. Also, an jeder Marlboro-Zigarette, die Sie rauchen, partizipieren die alten Parteien, und dem Staat gehen Millionen an Steuerzahlungen verloren. Das Thema „Steuerschlupflöcher für Großkonzerne wie Amazon“ steht seit Jahrzehnten auf der Tagesordnung. Passiert ist nichts! Da können Sie mal sehen, wie handlungsunfähig diese hochgelobte EU ist. Die heutige EU ist einfach unfähig. ({3}) Ischias-Juncker und seine Großmacht Luxemburg ziehen andere Länder über den Tisch und nennen das dann Partnerschaft. Ihre Forderung nach länderspezifischen Betriebsauswertungen multinationaler Konzerne ist letztendlich ein Eingeständnis, dass nationale Lösungen der richtige Weg sind, um multinationale Konzerne dort zu besteuern, wo der Umsatz gemacht wird. ({4}) Das hat sogar die EU erkannt und hat dann auch eine länderbezogene Berichterstattung von multinationalen Konzernen gegenüber den Finanzbehörden beschlossen – aber natürlich ohne jede Sanktionsmöglichkeit. Niemand muss sich daran halten. Wieder ist Handlungsunfähigkeit die Folge. Die heutige EU ist einfach unfähig. ({5}) Leider geht der Antrag der Linken in eine andere Richtung. Er schürt Vorurteile, spaltet die Gesellschaft und die Wirtschaft. ({6}) So fordern Sie nicht nur eine Berichtspflicht gegenüber den Finanzbehörden, sondern Sie fordern auch Transparenz gegenüber der Zivilgesellschaft. Das ist grober Unfug. „Zivilgesellschaft“ ist ein Unwort; denn es gibt nur eine Gesellschaft, und die ist nicht unterteilt in Militär- und Zivilgesellschaft. Das Wort „Zivilgesellschaft“ ist nur eine Täuschung für linke Lobbyorganisationen und NGOs. ({7}) Der Antrag schafft ein Klima der Wirtschaftsfeindlichkeit und des Klassenkampfes. ({8}) Hier im Bundestag fordern Sie Transparenz gegenüber der Zivilgesellschaft, auf Parteitagen fordern Sie bereits die Enteignung von Konzernen. ({9}) Wollen Sie mittels der geforderten Transparenz genau die Informationen sammeln, die Sie brauchen, um zu wissen, wo sich eine Enteignung der Wirtschaft zuerst lohnt? Aber nicht nur Linke träumen von Konzernenteignungen, auch führende SPD-Politiker wie Kevin Kühnert schreien nach Enteignung. ({10}) SPD und Linke sind für den deutschen Mittelstand schon lange nicht mehr wählbar. ({11}) Selbst für Arbeiter sind SPD und Linke unwählbar geworden. Zuerst haben in Mecklenburg-Vorpommern bei der Landtagswahl 2016 mehr Arbeiter AfD statt SPD gewählt. ({12}) Nun hat es auch der Betriebsratsvorsitzende von BMW gemerkt. Er sagte wörtlich: Für Arbeiter deutscher Unternehmen ist diese SPD nicht mehr wählbar. Da können wir als AfD nur sagen: Recht hat er. ({13}) Um auf den Antrag zurückzukommen: Die AfD lehnt ihn ab; denn Klassenkampf ist der falsche Weg, um Steuerflucht zu bekämpfen. ({14}) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Frau Merkel wegen ihrer Messertoten als Kanzlerin zurücktreten sollte. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner in der Debatte ist der Abgeordnete Fritz Güntzler von der Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir kommen jetzt zur Sache zurück, Herr Kollege Dehm. Das wäre schon mal ganz gut. ({0}) Ich habe versucht, dem Kollegen König zu folgen; vielleicht war das ja schon der erste Fehler. Ich habe bis jetzt noch nicht verstanden, was die AfD eigentlich will. ({1}) Ich habe bis jetzt nur verstanden, was sie nicht will. Wir sind uns auf sehr breitem Raum einig, dass es unfairen Steuerwettbewerb und Steuergestaltung gibt. Wir sind uns vielleicht nicht darüber einig, in welchem Umfang es das gibt; aber wir sind uns einig, dass wir etwas dagegen machen wollen. ({2}) Darum hat die Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode unter Bundesminister Wolfgang Schäuble ja auch den BEPS-Prozess mit eingeleitet; Lothar Binding hat darauf Bezug genommen. Ein Punkt der 15 Aktionspunkte ist der Aktionspunkt 13, bei dem es um das Country-by-Country Reporting, also um die Berichterstattung der Unternehmen, geht. Eine Veröffentlichung der Informationen war im BEPS-Projekt damals nicht vorgesehen. Wir sollten weiter daran arbeiten und diskutieren, wie wir sukzessive zu Lösungen kommen. Wenn ich den Antrag der Linken lese, dann stört mich schon der erste Satz; denn dort muss ich lesen: Multinationale Konzerne verschieben Gewinne über Ländergrenzen und drücken ihre Steuerlast. So allgemein formuliert ist dieser Satz falsch. Ich finde diesen Generalverdacht gegenüber den Unternehmerinnen und Unternehmern in unserem Land eigentlich auch unverschämt. ({3}) Natürlich gibt es Unternehmen, die das tun; aber allen Unternehmen, die international tätig sind, das per se zu unterstellen, halte ich nicht für richtig, und das sollten wir auch nicht tun, meine Damen und Herren. ({4}) Nach allen Gutachten, die vorliegen, zeigen die Zahlen – Durchschnittszahlen sind ja immer was Besonderes –, dass die Steuerquote multinational tätiger Unternehmen in Deutschland 2 bis 3 Prozent höher ist als die Steuerquote rein nationaler Unternehmen. Sie zahlen also im Durchschnitt sogar mehr Steuern als nur national tätige Unternehmen. Das nehmen Sie in Zukunft bitte auch mal zur Kenntnis. Und nun zur Frage, ob wir ein öffentliches Country-by-Country Reporting brauchen. Wir haben dies in § 138a der Abgabenordnung als Berichterstattung zwischen den Finanzverwaltungen geregelt. Das halten wir auch nach wie vor für richtig, weil die Finanzverwaltungen dafür zuständig sind, die richtigen Steuern in der richtigen Höhe zu erheben. Damit sind die Unternehmen zu nahezu 100 Prozent transparent gegenüber den Finanzverwaltungen. Das ist, glaube ich, ein wichtiger Schritt, den wir bei der Berichterstattung durch diesen Informationsaustausch vollzogen haben. Sie suggerieren mit Ihrem Antrag – Lothar Binding hat das auch ein wenig getan –, dass man durch ein öffentliches Country-by-Country Reporting eine höhere Wirkung gegen aggressive Steuerplanungen erreichen kann. Ich verweise aber gerne auf die Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, des ZEW, also nicht irgendeines Instituts, das 2017, nachdem es sich die Banken und den Rohstoffsektor, in dem wir ein öffentliches Country-by-Country Reporting haben, angekuckt hat, schon erklärt hat: „Country-by-Country Reporting, Zwang zur Transparenz hilft kaum gegen aggressive Steuerplanung.“ Von daher sollten wir uns die Frage stellen, welche wirklich guten Instrumente es eigentlich gibt, mit denen wir etwas erreichen können, und wir sollten diesen Weg nicht weitergehen. Zu den Instrumenten komme ich gleich. Aber ich möchte in der verbliebenen Zeit auch noch mal kurz auf die Dinge eingehen, die unseres Erachtens beim öffentlichen Country-by-Country Reporting problematisch sind. Letztendlich hat Lothar Binding sie eigentlich schon alle genannt. Ich fand seine Schlussfolgerung dann ein bisschen überraschend. Die Probleme hast du sehr schön dargestellt, Lothar. Das größte Problem sind die Fehlinterpretationen von Zahlen; denn dabei geht es um handelsbilanzielle Zahlen. Es sind keine Zahlen der steuerlichen Gewinnermittlung. Wir haben außerdem das Problem, dass wir zwar Länderzahlen, aber keine standardisierten Regeln für die Ermittlung von Unternehmensgewinnen in allen Ländern zur Bewertung von Unternehmensaktiva haben. Das heißt, wir vergleichen da unter Umständen Äpfel mit Birnen. Auch Lothar Binding hat darauf hingewiesen, dass man nicht einfach den Steueraufwand nehmen und durch den Gewinn teilen kann, um eine Steuerquote zu ermitteln. ({5}) Diesen Irrsinn haben ja schon die Grünen im Europäischen Parlament gemacht, Frau Paus. Herr Giegold hat ja so eine tolle Studie vorgelegt, die ihm dann links und rechts um die Ohren gehauen wurde, weil sie völlig falsch war. Ich zitiere gerne wieder das ZEW, das von „gravierenden methodischen Mängeln“ spricht. Das ist nämlich genau das Problem, wenn man die Zahlen einfach nimmt, dividiert und zu einem Ergebnis kommt. Man muss die Zahlen auch interpretieren können. Wir haben eben viele steuerfreie Gewinne; Dividenden sind in vielen Ländern steuerfrei gestellt. Es gibt auch nichtabziehbare Betriebsausgaben. Wir haben viele Probleme, sodass die Zahlen nicht einfach vergleichbar sind und die Gefahr besteht, dass es zu völlig falschen Aussagen kommt und damit die Prangerwirkung, die man hier auch schon angesprochen hat, entsteht. Diese Gefahr ist meines Erachtens sehr groß. Wir haben die Gefahr von Doppelbesteuerung. Wir haben das Problem, dass es für Drittstaaten einen Anreiz gibt, sich an dem Informationsaustausch nicht zu beteiligen, weil sie an die Daten kommen würden, ohne sich zu beteiligen. Das war bis jetzt auch immer die Aussage des Bundesfinanzministeriums. Ich hatte gedacht, so wäre das auch noch unter dem jetzigen Minister. Ich gehe erst mal davon aus, dass die Bundesregierung da mit einer Stimme spricht. Wir haben außerdem das Problem, dass Geschäftsinteressen der Unternehmen verletzt werden können, da, wenn sie eine reine Betriebsgesellschaft sind, natürlich Margen offengelegt werden müssten, was im Wettbewerb, wenn Sie mit Lieferanten in Verhandlungen sind, zu Problemen führt. Meine Damen und Herren, ich glaube, wenn wir das Problem der aggressiven Steuerplanung und Steuerverlagerung lösen wollen, müssen wir an die Wurzel des Problems herangehen. Das ist der Steuerwettbewerb. Die Frage ist, welche Antworten wir auf die Fragen zum internationalen Steuerwettbewerb geben. Man könnte natürlich auch unsere Steuersätze senken, damit die Steuerspreizung nicht so groß ist. ({6}) Das wäre ein Weg. ({7}) Vielleicht ist das nicht der alleinige Weg. Natürlich ist das Race-to-the-Bottom-Prinzip – wo ist das Ende des Unterbietungswettlaufs? – bekannt; das ist ja klar. Es könnte aber erst mal ein Weg sein, Anreize zu minimieren. Der zweite Punkt, über den wir wirklich debattieren sollten, ist die globale effektive Mindestbesteuerung von Unternehmensgewinnen. Dazu haben wir einen OECD-Prozess aufgelegt, bei dem wir zu einer Modernisierung der Hinzurechnungsbesteuerung kommen. Das heißt, wenn Tochtergesellschaften unter einem gewissen Niveau Steuern zahlen, werden die Gewinne dem Mutterkonzern zugerechnet und zu einer höheren Besteuerung hochgeschleust. Das ist ein Vorschlag, den die Bundesregierung, den der Bundesfinanzminister verfolgen und den sie im Rahmen der Ratspräsidentschaft 2020 – so habe ich es vernommen – auch auf die europäische Ebene bringen wollen. Ich glaube, das sind Dinge, über die wir streiten sollten, zu denen wir gemeinsam mit der ersten Säule, bei der es um die Verteilung von Besteuerungsgrundlagen bei der OECD geht, etwas entwickeln sollten. Damit erreichen wir viel mehr als mit so einer Scheinlösung, die nichts bringen wird. Von daher lehnen wir diesen Antrag ab. Ich hoffe, wir müssen nicht allzu oft über diesen Antrag diskutieren, sondern können über Maßnahmen, die wirklich erfolgreich und zielgerichtet sind, beraten. Herzlichen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist die Abgeordnete Katja Hessel für die Fraktion der FDP. ({0})

Katja Hessel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicherlich keine Frage in diesem Haus: Aggressive Steuervermeidung und Steuerhinterziehung müssen bekämpft werden. Dieser Aussage würde sicherlich jeder hier im Plenum zustimmen. Wir wollen faire Wettbewerbsbedingungen, um sicherzustellen, dass die Ehrlichen nicht die Dummen sind, und wir wollen natürlich auch dafür sorgen, dass die deutschen mittelständischen Unternehmen im Steuerwettbewerb keine Nachteile haben. ({0}) Steuerhinterziehung und Steuervermeidung zu bekämpfen und gleichzeitig für einen fairen Steuerwettbewerb zu sorgen, dafür treten wir als Freie Demokraten ein. Der Antrag hier ist dafür aber leider völlig ungeeignet. ({1}) Er ist nicht dazu geeignet, die aggressive Steuervermeidung oder Steuerhinterziehung wirkungsvoll zu bekämpfen. Es gehe darum, mehr Transparenz zu schaffen, steht darin. „Transparenz“ klingt natürlich immer gut. Aber um was geht es denn? Es geht darum, Unternehmen an den Pranger zu stellen. Wir wollen Transparenz; da können wir uns dem Kollegen Güntzler voll und ganz anschließen. Wir wollen eine Transparenz gegenüber den Finanzbehörden. Wir brauchen Transparenz aber sicherlich nicht, um Unternehmen an den Pranger zu stellen. ({2}) Wir hatten zu vielen Anträgen zum Thema „Paradise Papers/Panama Papers“ bereits vor über einem Jahr eine Anhörung im Finanzausschuss. Dort wurde uns von den Experten gesagt: Das Problem ist – das ist auch bei der SPD angekommen –, dass die Daten, die veröffentlicht wurden, ohne eine Interpretation nicht aussagefähig sind. Genau das ist doch das Problem. Wir würden mit einem öffentlichen Country-by-Country Reporting einen Alleingang in der EU machen. Das schwächt den Standort, und gerade dies können wir uns momentan nicht leisten, Frau Paus. Wir können es uns nicht leisten, unseren Wirtschaftsstandort zu schwächen. ({3}) Genau das ist das Problem. Wir haben doch jetzt einen Austausch der Daten zwischen den Finanzbehörden. Der funktioniert noch nicht richtig; da sind wir uns einig. Diesen Datenaustausch gilt es doch zu verbessern und international auszuweiten. Wenn wir ein öffentliches Country-by-Country Reporting machen, dann werden wir genau dies nicht tun; dann haben wir nämlich keinen Anreiz mehr für Drittstaaten, sich an diesem Austausch zu beteiligen, weil diese Staaten die Daten auch von anderer Seite kriegen. ({4}) Wir haben als Bundestag auch eine Verantwortung gegenüber unseren Unternehmen, nämlich die, dass wir mit den Daten, die sie uns melden, verantwortlich umgehen. Es gibt in Deutschland eine Art Steuergeheimnis. Dies gilt es doch auch zu halten. ({5}) Wenn es darum geht, liebe Kollegen, Steuervermeidung zu bekämpfen, dann geht es doch in allererster Linie auch um die Frage: Was machen wir mit den Umsatzsteuerkarussellen? Wie kommen wir hier in der EU, wo Steuern in Milliardenhöhe hinterzogen werden, zu einem Regelwerk für einen internationalen Austausch? Hier geht es um richtige Steuerausfälle. ({6}) Bei dem Antrag der Linken geht es um reinen Populismus, und deswegen lehnen wir diesen Antrag ab. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion Die Linke der Abgeordnete Fabio De Masi. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Apple-Konzern zahlte 2014 einen Steuersatz von 0,005 Prozent auf seine Gewinne in der EU. Für alle, die etwas schwach im Kopfrechnen sind: Das sind 50 Euro Steuern für jede Million Gewinn. ({0}) Welcher Taxifahrer, welcher Handwerker, welche Krankenschwester verdient mehr als 1 Million Euro? Sie alle zahlen aber mehr als 50 Euro Steuern, und deswegen will Die Linke die Enteignung der Taxifahrer, der Krankenschwestern und der Handwerker bei den Steuern in diesem Land stoppen. ({1}) Die US-Konzerne sagen immer, auch Richtung EU: Fasst uns nicht an; denn wenn wir unsere Gewinne zurück in die USA bringen, werden wir dort besteuert. – Die „New York Times“ veröffentlichte die Zahlen für 2018: Amazon machte Gewinne von 11 Milliarden Euro und bekam von der US-Regierung 129 Millionen Euro zurück. Es gibt einen einfachen Vorschlag, um Licht in diesen steuerpolitischen Darkroom zu bringen und die großen Konzerne zu etwas Striptease zu zwingen, nämlich dass internationale Konzerne für jedes Land in der EU öffentlich machen, wie hoch ihre Gewinne, ihre bezahlten Steuern, ihre Umsätze oder die Anzahl der Beschäftigten sind. ({2}) Sind die Gewinne in einem Land hoch, aber die Steuern dauerhaft niedrig oder existiert in einem Land nur ein Anrufbeantworter oder ein Briefkasten, aber es werden dort viele Gewinne verbucht, ist dies ein starkes Indiz, dass Gewinne über Ländergrenzen verschoben werden. Heimische Unternehmen veröffentlichen übrigens diese Kennzahlen in ihren Jahresabschlüssen. Von daher möchte ich die FDP daran erinnern, dass zu Wettbewerb vollständige Information und Transparenz gehören. ({3}) Und weil Sie unseren Antrag hier als populistisch bezeichnet haben, will ich Sie nur darauf hinweisen – Sie können ja mal Ihren Kollegen Theurer, der Mitglied des Europäischen Parlaments war, fragen –, dass die FDP sich im Europäischen Parlament mehrheitlich für ein öffentliches Country-by-Country Reporting ausgesprochen hat. ({4}) Dasselbe könnte ich übrigens in Richtung der Union sagen. Da gibt es den Kollegen Werner Langen. Unterhalten Sie sich mal mit ihm oder mit Markus Ferber von der CSU. Bei den Sozialdemokraten ist das ohnehin klar. Wer ist aber noch für den Vorschlag der Linken für die öffentliche Berichtspflicht? Es ist der Pate der Steueroase Luxemburg und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Es sind Italien, Frankreich und selbst die Steueroase Niederlande. Wer blockiert? Malta, Luxemburg und, ja, auch der deutsche Finanzminister Olaf Scholz. ({5}) Meine Damen und Herren, wer meint, die europäische Idee zu retten, indem die EU niemals in die Lage versetzt wird, ihren Job zu machen und so für Steuergerechtigkeit zu sorgen, der sollte aufhören, im Wahlkampf für Steuergerechtigkeit zu plakatieren. ({6}) Mir sind die Gegenargumente alle bekannt. Ich habe sie mit Fritz Güntzler ja diese Woche schon auf dem Fußballplatz besprochen. ({7}) Sie überzeugen mich dennoch nicht. ({8}) Kollege Güntzler sagt, die Öffentlichkeit könnte diese Zahlen falsch interpretieren. Aber ist die deutsche Bevölkerung denn so viel dümmer als die Franzosen oder die Italiener, die dafür sind? Ihre Regierungen unterstützen den Vorschlag eines öffentlichen Country-by-Country Reporting, und es war der SPD-Finanzminister aus Nordrhein-Westfalen, Norbert Walter-Borjans, der die GroKo aufgefordert hat, endlich mehr Mut zu zeigen und heute dem Antrag der Linken zuzustimmen. ({9}) Jahrelang, seit 1977, gab es eine Verpflichtung in der EU zum Austausch von Steuerinformationen zwischen Finanzbehörden. Das Ergebnis war – wir konnten es bei den Luxemburg Leaks besichtigen –: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Es gibt einen Grund, warum Sie hier nicht zustimmen: Sie haben Angst vor den Strafzöllen von Donald Trump. Aber ich sage Ihnen: Meinen Sie wirklich, Donald Trump wird Deutschland verschonen, weil wir die US-Konzerne nicht anfassen? Nein, Maßnahmen gegen Steuerflucht, das ist die einzige Sprache, die Donald Trump versteht. ({10}) Wer die europäische Idee retten will, der muss dafür sorgen, dass die EU liefert. Stimmen Sie daher unserem Antrag zu. Vielen Dank. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Lisa Paus von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Konzerne zahlen selten volle Steuern in der Europäischen Union. Das hat eine Studie im Auftrag der Grünen Anfang des Jahres offenbart. Zwar liegt der durchschnittliche gesetzliche Steuersatz in der Europäischen Union für Unternehmen bei gut 23 Prozent; aber tatsächlich zahlen Unternehmen nur 15 Prozent Steuern. Dadurch entgehen den Staaten jährlich geschätzt zwischen 50 und 190 Milliarden Euro, und der größte Verlierer dabei ist Deutschland. Die Einnahmen aus Unternehmensteuern könnten in Deutschland um ein ganzes Drittel höher liegen, als sie es derzeit sind. Wie kann das sein? Der Steuerwettbewerb zwischen den Nationalstaaten findet eben nicht nur über Steuersätze, also darüber, wie hoch die Steuer ist, statt, sondern auch darüber, was wie besteuert wird. So wird zum Beispiel so manches Eigenkapital, dessen Erträge in Deutschland mit 25 Prozent zu besteuern sind, wenn es die Grenze nach Luxemburg überschreitet, plötzlich zu Fremdkapital und damit zu einer Ausgabe, und damit wird es vom zu versteuernden Gewinn abgezogen. Wir finden: Nicht das Unternehmen mit den schlechtesten Produkten, aber der aggressivsten Steuervermeidungsabteilung sollte im Wettbewerb erfolgreich sein, sondern das Unternehmen mit den besten Produkten, meine Damen und Herren. ({0}) Deshalb wollen wir gemeinsame Regeln, was wie besteuert wird in der Europäischen Union, also eine gemeinsame europäische Bemessungsgrundlage für Unternehmen. Deshalb wollen wir Grüne europäische Mindeststeuersätze. ({1}) Ich weiß: Der rechten Hälfte dieses Parlamentes sind europäische Mindeststeuersätze ein Dorn im Auge. FDP, AfD und Union lehnen das ab. Sie singen unverdrossen weiter das neoliberale Lied von den heilsamen Wirkungen des nationalen Steuerwettbewerbs. So weit, so bekannt. Aber warum Sie dann hier heute mit fast noch größerer Vehemenz dagegen sind, dass Unternehmen ihre Jahresergebnisse nach Nationalstaaten untergliedert veröffentlichen, damit mehr Transparenz in den Steuerwettbewerb kommt – das ist der einzige Inhalt dieses Antrages –, das können Sie keinem wirklich erklären. ({2}) Ihre Blockade ist weder im nationalen Interesse – ich habe dargelegt, dass tatsächlich Chancen bestehen, dass die Einnahmen um 30 Prozent steigen –, noch ist sie im Interesse eines gut funktionierenden Wettbewerbs. ({3}) Ludwig Erhard und Friedrich von Hayek würden sich im Grabe umdrehen. ({4}) Wenn man wie Sie Steuerwettbewerb will, sollte man bedenken: Es gibt gerade dann optimale Ergebnisse, wenn alle über die gleichen Informationen über die relevanten nationalen steuerlichen Rahmenbedingungen verfügen. Wir haben dann einen fairen Wettbewerb zwischen den großen Konzernen mit großen Steuerabteilungen und dem exportorientierten Mittelstand mit normaler Steuerabteilung. Wenn wir diesen Antrag beschließen, dann bekommen wir fairen Wettbewerb, nicht umgekehrt. ({5}) Das, was Sie machen, ist fadenscheinig, ist hohl und ist vorgeschoben. Die Wahrheit ist: Sie schützen weiterhin die Steuertrickser, weil Sie nicht wollen, dass dauerhaft und nicht nur einmal durch eine grüne Studie bekannt wird, wie wenig Steuern nicht nur Konzerne wie Google und Amazon, ({6}) sondern inzwischen auch deutsche Konzerne – Autokonzerne, Chemiekonzerne und andere – zahlen. Das ungute rechte Bündnis aus Politik und Großkonzernen gegen faire Marktwirtschaft und Steuergerechtigkeit, das müssen wir aufbrechen. ({7}) Aber was macht Olaf Scholz? Was macht die SPD? Scholz macht den Steigbügelhalter dieses unguten Bündnisses. Er macht genau das Gleiche, was Katarina Barley und die SPD beim Uploadfilter und beim Artikel 13 gemacht haben. Die SPD sagt: Ja, ja, ja. Die Minister handeln: Nein, nein, nein. Heute ist die letzte Gelegenheit. Alles ist fertig. Die EU-Kommission hat ein Gesetz vorgelegt; das Europäische Parlament hat fraktionsübergreifend zugestimmt. ({8}) Deswegen fordere ich Sie ein letztes Mal auf: Überwinden wir diese Blockade der Bundesregierung! Schaffen wir heute mit der Zustimmung zum Antrag mehr Transparenz und Steuergerechtigkeit in der Europäischen Union! ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion der SPD die Kollegin Cansel Kiziltepe. ({0})

Cansel Kiziltepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider müssen wir nicht nur feststellen, dass immer mehr Großkonzerne unglaubliche Kreativität beim Finden von Steuerschlupflöchern beweisen, nein, sie sind auch äußerst kreativ, wenn es darum geht, Argumente gegen mehr Steuertransparenz zu erfinden. Deswegen möchte ich heute mit ein paar Scheinargumenten zum Thema „public Country-by-Country Reporting“ aufräumen. Für diejenigen, die nicht wissen, was sich hinter diesem Wort verbirgt: Es geht um die Offenlegung der Umsätze, Gewinne und Steuerzahlungen je Land. Das wollen wir auch als SPD. ({0}) Frau Hessel, Sie haben nicht nur in der Plenardebatte im Februar dieses Jahres, sondern auch heute die Behauptung aufgestellt, EU-Unternehmen seien durch mehr Transparenz schlechtergestellt als ihre Konkurrenten aus China. ({1}) Ich sage Ihnen: Das stimmt nicht. Werfen Sie doch einfach mal einen Blick in die EU-Richtlinie! Die Richtlinie soll nämlich für alle in der EU tätigen Unternehmen gelten. Nach diesen Kriterien sind das 90 Prozent aller multinationalen Konzerne. Aber machen Sie sich keine Sorgen! Es gibt hier im Haus manche Kollegen am rechten Rand des Saales, die grundsätzlich nichts gegen die Steuerumgehung tun wollen. Aber manche Ihrer Kollegen wissen nicht, was im deutschen Steuerrecht steht. Die befürchten nämlich, die Offenlegung von Steuerkennzahlen wäre ein Verstoß gegen das Steuergeheimnis, frei nach dem Motto: Das Finanzamt packt jetzt aus. – Aber dem ist nicht so. Die jährliche Veröffentlichung eines Jahresabschlusses ist gang und gäbe in diesem Land, nicht mehr und nicht weniger. ({2}) Herr Güntzler, Ihr Vorschlag, durch Steuersenkungen, durch Steuerwettbewerb die Steuerumgehung einzugrenzen, ({3}) ist ja wohl der totale Irrweg. Sie sollten wissen: Es ist keine Zeit für Steuergeschenke. ({4}) Am absurdesten ist jedoch folgendes Argument, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Öffentlichkeit könne die Information gar nicht erst verstehen, und deswegen könne man sie auch gleich geheim halten. Ganz ehrlich: Das ist nichts als Hohn gegenüber den Menschen, die sich tagtäglich für mehr Steuergerechtigkeit in diesem Land einsetzen. ({5}) Wer so denkt, hätte auch die Bibel verbrannt, als sie noch auf Latein war. ({6}) Dem Antrag der Linken können wir leider dennoch nicht zustimmen. Liebe Kollegen, das hat einen ganz banalen Grund: Die Kolleginnen und Kollegen aus der Union wollen es einfach nicht. Eine Koalition ist wie eine Beziehung: Manche Ansichten der Partnerin oder des Partners sind einfach nicht nachzuvollziehen. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt, und vielleicht wachen auch die Unionskollegen eines Tages auf und erkennen: ({7}) Deutschland braucht mehr Steuertransparenz. Mehr Transparenz ist der Weg zu mehr Steuergerechtigkeit in diesem Land. Davon brauchen wir definitiv mehr. Das wollen wir als SPD. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Bevor ich den letzten Redner in der Debatte aufrufe, möchte ich die Kollegen, die jetzt zur namentlichen Abstimmung kommen, bitten, Platz zu nehmen und die Gespräche einzustellen, damit der letzte Redner auch noch vernehmbar ist. Das ist Sebastian Brehm für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Würden wir dem Antrag der Fraktion Die Linke heute zustimmen, so würden wir die Axt an die Wurzel der deutschen Wirtschaft und damit die Axt an unseren Wohlstand legen. ({0}) Sie fordern eine umfassende öffentliche länderspezifische Berichterstattungspflicht von multinationalen Konzernen und damit einen Bericht über alle wichtigen Konzernkennzahlen wie Umsatz, Gewinn und Steuern für jedes Land einzeln. ({1}) Bei dem sogenannten BEPS-Projekt, also dem international abgestimmten Vorgehen gegen schädlichen Steuerwettbewerb und gegen aggressive Steuergestaltungen international tätiger Unternehmen, sieht der Aktionspunkt 13 ein Country-by-Country Reporting, also eine Berichterstattung, vor, aber nicht öffentlich. Das ist der wesentliche Unterschied in der gesamten Diskussion, die wir heute führen. Würde man die steuerlichen Zahlen veröffentlichen – Frau Kollegin Kiziltepe, es werden die handelsrechtlichen Zahlen veröffentlicht, nicht die steuerrechtlichen Zahlen –, so würde man das Ziel nicht erreichen und man würde bei vielen Ländern die Bereitschaft, dass sie auch intern reporten, verlieren. Deswegen brauchen wir einen Country-by-Country Report, aber einen internen. Wenn wir das so machen würden, wie Sie es vorschlagen, dann führt das zu einer Schwächung unserer Unternehmen und zu einem hohen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Drittstaaten würden deutsche Konzernzahlen auswerten und sie im Wettbewerb gegen die deutschen Unternehmen einsetzen. Das kann doch nicht unser Ziel sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Zudem besteht auch die ernsthafte Gefahr von Fehlinterpretationen. Der Kollege Güntzler hat schon ausführlich darauf hingewiesen. Mit Ihrer Forderung würde man zunächst auch das oberste Prinzip des Steuergeheimnisses zum Schaden der eigenen Wirtschaft aufgeben. ({3}) Das ist mit uns als CDU/CSU-Fraktion nicht machbar. ({4}) Anstatt unsere deutsche Wirtschaft zu diskreditieren – wie in Ihrem Antrag; den Text muss man sich wirklich mal durchlesen – oder gar Enteignungen für die deutsche Wirtschaft zu fordern wie Frau Kiziltepe oder Herr Kühnert, stehen wir hinter den Unternehmerinnen und Unternehmern in Deutschland. Sie leisten einen wichtigen Beitrag für unser Land. Deswegen sollte die Politik auch hier ein verlässlicher Partner sein. ({5}) Es muss doch unser Ziel sein, die international tätigen Unternehmen und damit übrigens auch den deutschen Mittelstand, der mit den internationalen Unternehmen als Zulieferer eng verbunden ist, zu unterstützen und wettbewerbsfähig zu halten. ({6}) Wie schaffen wir das? Das schaffen wir, indem wir endlich wettbewerbsfähige Besteuerungsgrundlagen in Deutschland schaffen. Das schaffen wir mit einer Modernisierung der deutschen Unternehmensbesteuerung, die drei Leitprinzipien hat, die ich gerne vorstellen würde. ({7}) Gerade aufgrund der Steuerreformen in den angrenzenden Ländern – nicht nur in Europa, sondern auch in den USA – kommt es hier zu Wettbewerbsverzerrungen. Deswegen brauchen wir eine Modernisierung der deutschen Unternehmensbesteuerung. Wir brauchen drei wichtige Punkte. Erstens. Wir brauchen eine Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich, indem wir die Steuerbelastungen für thesaurierte Gewinne, also für Gewinne, die im Unternehmen verbleiben, die für Investitionen herangezogen werden, zum Beispiel für neue Technologien, reduzieren. Wir brauchen hier eine Reduzierung der Steuersätze. ({8}) Teilweise zahlen Personenunternehmen in Deutschland über 45 Prozent und im benachbarten Ausland 15 Prozent. ({9}) Das kann nicht richtig sein. Das führt dazu, dass Unternehmen aus Deutschland abwandern. Deswegen brauchen wir hier eine Senkung der Steuersätze für thesaurierte Gewinne. ({10}) Wie schaffen wir das? Wir schaffen das zum Beispiel durch die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Da haben wir noch etwas miteinander zu tun. ({11}) Wir schaffen es mit einer Reform der Gewerbesteuer und einer Option für die Unternehmen, auch nach Körperschaftsteuerrecht zu versteuern. Zweitens – das ist ein wichtiger Punkt, der in Ihrem Antrag völlig negiert wird –: Wir brauchen Bürokratieentlastungen für unsere Wirtschaft und keine weiteren Bürokratiebelastungen für die deutsche Wirtschaft. ({12}) Verstehen Sie mich nicht falsch: Transparenz ist richtig, Transparenz ist notwendig und wichtig. ({13}) Aber es muss im richtigen Maß sein und mit den richtigen Mitteln erreicht werden. Anstatt zum Beispiel einer Anzeigepflicht für nationale Steuergestaltungsmodelle das Wort zu reden, sollten wir lieber zeitnahe Betriebsprüfungen durchführen. Das schafft Transparenz, das schafft Rechtssicherheit für den Staat und schafft auch Rechtssicherheit für die deutschen Unternehmen. ({14}) Übrigens, wenn wir schon mal die Chance haben, eine Bürokratieentlastung zu erreichen, indem wir zum Beispiel ein neues Steuergesetz – Stichwort: Grundsteuer – bürokratiearm gestalten, dann sollten wir das auch machen, anstatt weitere Bürokratiebelastungen zu verursachen. ({15}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir brauchen drittens optimierte Strukturen. Es gibt schon Mindestbesteuerungssätze im Außensteuerrecht, und zwar in Höhe von 25 Prozent. Wir brauchen eine Anpassung an die normale Besteuerung in Deutschland; denn die Steuersätze im Außensteuerrecht sind wesentlich zu hoch und führen zu unfairen Belastungen deutscher Unternehmen im Ausland. Wir brauchen auch weiterhin eine Senkung der Zinssätze und alles andere auch, ({16}) etwa notwendige Rückstellungen im Bereich von Forschung und Entwicklung. Wir brauchen also eine Modernisierung der Unternehmensbesteuerung in Deutschland. Dieses Thema müssen wir miteinander besprechen; denn wenn wir Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit erhalten wollen, dann müssen wir unsere deutschen Unternehmen unterstützen und verhindern, dass ausländische Unternehmen mehr Informationen erhalten, mit denen sie unsere deutschen Unternehmen kaputtmachen können, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({17}) Sie schaden mit Ihrem Antrag der deutschen Wirtschaft, Sie schaden mit Ihrem Antrag auch dem Mittelstand. ({18}) Damit schaden Sie auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserem Land. ({19}) Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab. Herzlichen Dank. ({20})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung. Es geht um die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Konzerntransparenz gegen Steuerflucht“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8388, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/7906 abzulehnen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion Die Linke namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Ist das überall der Fall? – Dann eröffne ich die Abstimmung.

Stephan Mayer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003589

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich danke dem Deutschen Bundestag, dass heute die erste Lesung des Gesetzes zur Entfristung des Integrationsgesetzes stattfindet. Das Bundeskabinett hat bereits am 27. Februar diesen Gesetzentwurf gebilligt. Wenn man sich dieses Gesetz ansieht, dann könnte man aufgrund der Länge meinen, es wäre ein unwichtiges Gesetz – es ist zugegebenermaßen im Vergleich zu den allermeisten anderen Gesetzen ein sehr kurzes Gesetz –; aber die Schlussfolgerung wäre falsch, weil es ein sehr wichtiges Gesetz ist. Es geht um die Entfristung der Regelung zur Wohnsitzauflage des § 12a Aufenthaltsgesetz. Man kann mit Fug und Recht behaupten: Diese Regelung hat sich bewährt. § 12a des Aufenthaltsgesetzes ist mit dem gesamten Integrationsgesetz am 31. Juli 2016 verkündet worden. Wenn es jetzt nicht zu der Entfristung der Regelung zur Wohnsitzauflage käme, würde sie am 6. August dieses Jahres auslaufen. Man kann klar sagen: Das Instrument der Wohnsitzauflage hat sich als zentrales und wichtiges Integrationsinstrument bewährt. Um was geht es, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen? Es geht darum, dass bei anerkannten Asylbewerbern, Flüchtlingen oder auch subsidiär schutzberechtigten Personen die Möglichkeit besteht, den Aufenthalt in einem Bundesland für einen Zeitraum von drei Jahren festzulegen. Diese Wohnsitzauflage hat überhaupt nichts mit Diskriminierung zu tun. Es geht vielmehr darum, dass man im Sinne der zu integrierenden Personen alles dafür tut, dass sie möglichst gute Bedingungen vorfinden, was die Versorgung mit angemessenem Wohnraum, die Aneignung von deutschen Sprachkenntnissen und eine Perspektive für Beschäftigung anbelangt. Der Bundesrat hat mit seiner am 12. April beschlossenen Stellungnahme klar zum Ausdruck gebracht, dass er eine Entfristung der Wohnsitzauflage wünscht. Es gibt auch sehr viele Bundesländer, die die Möglichkeit nutzen, bei der Verteilung innerhalb des Bundeslandes, bei der Binnenverteilung, von der Wohnsitzauflage Gebrauch zu machen. Insofern darf ich Ihnen namens der Bundesregierung wärmstens ans Herz legen, die Regelung zur Wohnsitzauflage zu entfristen. Die Wohnsitzauflage kann angeordnet werden, aber sie muss nicht angeordnet werden. Die Bundesländer können von der Möglichkeit der Anordnung der Wohnsitzauflage Gebrauch machen, sie müssen es aber nicht. Das ist mir wichtig zu betonen: Sie gilt nicht für die Personen, die einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung mit einer Wochenarbeitszeit von mindestens 15 Stunden nachgehen. Abgesehen davon gibt es eine Härtefallklausel. Aus unserer Sicht ist die Wohnsitzauflage ein wichtiges und zentrales Integrationsinstrument. Ich halte es für wichtig, dass der Gesetzgebungsprozess zügig vorangetrieben wird, um zu verhindern, dass es am 6. August dieses Jahres zu einem Auslaufen der Regelung zur Wohnsitzauflage kommt. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ergänzend zu der Entfristung der Regelung zur Wohnsitzauflage haben wir in den Gesetzentwurf aufgenommen, dass die Bedeutung und die Rechtfertigung der Wohnsitzauflage innerhalb von drei Jahren wissenschaftlich evaluiert werden. Ein weiterer Punkt ist – das ist insbesondere im Sinne derer, die sich ehrenamtlich gemeinnützig für Flüchtlinge einsetzen –, dass die Haftungsbeschränkung, die mit Einführung des Integrationsgesetzes ins Werk gesetzt wurde, und zwar dergestalt, dass der Verpflichtungsgeber maximal über einen Zeitraum von drei Jahren für die Lebenshaltungskosten des Asylbewerbers oder Flüchtlings aufkommen muss, fortgesetzt wird. Andernfalls würde auch diese Regelung im Sinne der Verpflichtungsgeber, was die Begrenzung der Haftung anbelangt, auslaufen. Deshalb ist es wichtig, dass der vorliegende Gesetzentwurf den Deutschen Bundestag, aber auch den Bundesrat möglichst innerhalb der nächsten Wochen passiert. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Integration ist eine der epochalen Herausforderungen unserer Zeit. Wir tun als Bundesregierung sehr viel dafür, insbesondere die Personen, die eine Bleibeperspektive haben, die als Asylbewerber, als Flüchtlinge oder als subsidiär Schutzberechtigte anerkannt sind, in unsere Gesellschaft zu integrieren. Aber wir dürfen die Gesellschaft nicht überfordern. Wir sind der Meinung: Wenn es zu einem Auslaufen der Regelung zur Wohnsitzauflage käme, dann bestünde konkret die Gefahr, dass sich Parallelgesellschaften bilden und dass ein überproportionaler Zuzug, insbesondere in die Großstädte, in Ballungszentren erfolgt. Das ist persönlich durchaus nachvollziehbar, weil man natürlich dazu tendiert, dorthin zu ziehen, wo sich Familienangehörige und Freunde bereits aufhalten, aber das ist nicht unbedingt im Sinne einer erfolgreichen und zielgerichteten Integration. Wir wollen der Gefahr der Zunahme von Segregationstendenzen deutlich entgegenwirken und haben deshalb den vorliegenden Gesetzentwurf eingebracht. Ich bitte um eine seriöse, intensive, aber auch zügige Befassung mit diesem aus unserer Sicht sehr wichtigen Gesetzgebungsvorhaben im Deutschen Bundestag. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär Mayer, es kommt in unserer Fraktion selten dazu, dass man einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Thema „Migration und Integration“ auf den Tisch bekommt und nicht entsetzt den Kopf schüttelt. Es ist mir also eine Freude, Ihnen heute mitzuteilen, dass es durchaus Positives in dieser Drucksache gibt. Wir sind selbstverständlich für eine Entfristung der Wohnsitzregelung für international Schutzberechtigte. Allerdings darf eine solche Einschränkung der Freizügigkeit natürlich nicht ohne Grund eingeführt werden. Sie ist ja kein Selbstzweck, sondern soll vielmehr der Integration dienen, und das scheint sie in der Tat zu tun. Die Residenzpflicht für Asylbewerber ist ein wichtiges, wenn auch bei weitem nicht allmächtiges Mittel, um der Bildung von Parallelgesellschaften entgegenzuwirken. Gerade diese Parallelgesellschaften sind es, die jede noch so edle Integrationsmaßnahme hinfällig machen. Was bringt ein Deutschkurs, ein Integrationskurs oder Ähnliches, wenn tagtäglich am Ende des Kurses die Rückkehr in ein nach Deutschland verpflanztes Stück Herkunftsland stattfindet? Wenn nicht nur unsere ach so solidarischen EU-Staaten, sondern auch unsere Bundesregierung es tolerieren und fördern, dass jeder Migrant sein Ziel Deutschland erreicht, kann man wenigstens in Deutschland ein klein wenig Ordnung im Asylchaos einfordern. ({0}) Denn es geht hier schließlich nicht um Gastarbeiter, dringend benötigte Arbeitsmigranten oder Touristen, sondern um Menschen, die vor Krieg und Verfolgung in ein sicheres Land geflohen sind und aus diesem sicheren Land dann meist zu den sozialen Fleischtöpfen Deutschlands weiterziehen. Aber selbst da, wo wir es mit wirklich Schutzbedürftigen zu tun haben, kann als Gegenleistung durchaus erwartet werden, dass die Freizügigkeit zur effizienten Bereitstellung der Hilfe vorübergehend eingeschränkt wird. ({1}) Die Wohnsitzregelung auslaufen zu lassen, wäre eine Katastrophe für Kommunen und Länder, die Planungssicherheit bei den Asylkosten und den Integrationsmaßnahmen brauchen. Außerdem ist die Regelung ein Segen für die Kommunen und Regionen, die schon jetzt mit Parallelgesellschaften und ethnischen Enklaven zu kämpfen haben; siehe nur Berlin und viele Städte in Nordrhein-Westfalen. Die bereits existenten Phänomene sollten uns übrigens auch mahnen, dass das Problem nach der Erteilung eines entsprechenden Aufenthaltsstatus nicht vorüber ist. Teilweise sinnvoll ist auch die Weiterführung der Haftungsbeschränkung bei den Verpflichtungsgebern, also den Flüchtlingsbürgen. Klar ist und bleibt: Verträge sind zu halten, pacta sunt servanda. Wer bürgt, muss zahlen. ({2}) Nur weil sich der Traum vom eigenen Gutmenschentum am Ende unangenehm auf dem eigenen Bankkonto niederschlägt anstatt in den Steuergeldern der arbeitenden Bevölkerung, ist das kein Grund, Forderungen ganz oder teilweise auszusetzen oder zu beschränken. Genauso wenig kann sich die Bundesregierung aus ihrer Verantwortung für den eingebrockten Ärger herausstehlen, indem sie zwischendurch einfach die Spielregeln ändert und Bürgen länger und mehr zahlen lässt, als vereinbart war. Wer wirklich getäuscht wurde, der verdient eine entsprechende Entlastung. Eindeutig ist natürlich eine Sache: Am Ende muss weiterhin die Heimkehr stehen, sobald die Umstände im Heimatland dies erlauben, was inzwischen bei vielen klassischen Herkunftsländern der Fall ist, zum Beispiel im Irak, wo sich der irakische Außenminister Al-Hakim und der deutsche Außenminister Maas schon vor einem halben Jahr einig waren, dass es sich nicht mehr um ein Kriegsgebiet handelt, die Sicherheitslage gut sei und die irakische Regierung die in Deutschland aufgenommenen Iraker zur Rückkehr aufruft. Ich hätte nie gedacht, dass ich dies einmal sage, aber: Hören Sie auf Heiko Maas, zumindest diesmal! ({3}) Denn wir reden hier von etwa 270 000 Irakern, die sich auf Kosten der Steuerzahler in Deutschland aufhalten. Asyl ist keine Dauerkarte, Asyl ist Schutz auf Zeit, und unter diesen Vorzeichen sollten die Integrationsmaßnahmen verstanden werden, die durch die Wohnsitzregelung unterstützt werden sollen. Sie wollen die Länder und Kommunen nicht überfordern, indem sie die Freizügigkeit einschränken und alle Maßnahmen deutlich planbarer machen. Das ist löblich. Wir warten geduldig darauf, dass sich die Bundesregierung bewusst wird, wie sehr sie die Länder und Kommunen, aber auch die einzelnen Bürger täglich noch überfordert. Mit ihrer Verweigerung, funktionsfähige Grenzkontrollen bei fehlenden EU-Außengrenzkontrollen durchzuführen, und mit ihrem Versuch, mit Resettlement-Programmen und mit lächerlich niedrigen Abschiebezahlen Furore zu machen, wird der vorliegende Gesetzentwurf bestenfalls oberflächliche Reparatur bleiben. Die beste Integrationsmaßnahme für Schutzbedürftige ist und bleibt die konsequente Abweisung und Abschiebung all derer, die sich einen Dreck um die Gesetze und um die Gesellschaft scheren, in die sie integriert werden sollen. Vielen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriela Heinrich für die Fraktion der SPD. ({0})

Gabriela Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004296, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir das Integrationsgesetz wie vereinbart entfristen. Konkret geht es dabei im Wesentlichen um zwei Punkte: Wir wollen die Wohnsitzregelung für anerkannte Flüchtlinge verlängern, und wir kümmern uns um die Sicherheit von Flüchtlingsbürgen im Hinblick auf die Haftung. ({0}) Ich möchte zum Anfang eines deutlich klarstellen, weil es oft verwechselt wird: Die Wohnsitzregelung ist etwas anderes als die Residenzpflicht. Die Wohnsitzregelung bedeutet keine Einschränkung beim Reisen. Sie legt fest, in welchem Ort ein anerkannter Flüchtling seinen Wohnsitz haben muss, und sie gilt für diejenigen, die Sozialleistungen beziehen. Sie endet spätestens nach drei Jahren oder auch schon dann, wenn ein Flüchtling eine Arbeit, eine Ausbildung oder ein Studium aufnimmt. Natürlich kann man dafür umziehen. Und es muss selbstverständlich eine Härtefallregelung für Frauen geben, die von familiärer Gewalt bedroht sind. Eingeführt wurde die Wohnsitzregelung 2016, weil damals in kurzer Zeit viele Flüchtlinge kamen. Dabei hat sich gezeigt – das ist menschlich absolut nachvollziehbar; Sie haben es schon gesagt –, dass die meisten Flüchtlinge dort wohnen möchten, wo sie Verwandte oder Freunde haben, und sie meist die Stadt dem Land vorziehen. Der Zuzug von Flüchtlingen war und ist insofern eine besondere Herausforderung für die Städte. Mittlerweile kommen nicht mehr so viele Flüchtlinge zu uns. Trotzdem denken wir, dass eine Verteilung weiter sinnvoll bleibt. Das ist der Grund dafür, dass sich die Mehrheit der Länder und alle kommunalen Spitzenverbände für die Entfristung der Wohnsitzregelung ausgesprochen haben. Entfristung bedeutet hier: Die Wohnsitzregelung soll bleiben. Die Bundesländer werden weiter eigenverantwortlich entscheiden, ob und wie sie die Regelung nutzen wollen. Eine generelle Wohnsitzauflage gibt es zum Beispiel im grün regierten Baden-Württemberg, in Hessen und in Bayern. Andere Länder nutzen die Möglichkeit, nur für bestimmte Städte eine Zuzugssperre einzuführen, zum Beispiel Niedersachsen und Brandenburg. Diese Flexibilität ermöglicht es, die Wohnsitzregelung bedarfsgerecht anzuwenden; und das ist sinnvoll. ({1}) Die Wohnsitzregelung muss zurückhaltend eingesetzt werden – auch darüber haben wir schon gesprochen –, und sie muss die bestmögliche Integration zum Ziel haben. Ja, sie ist ein Eingriff in die Freizügigkeit. Ein solcher Eingriff darf immer nur mit Augenmaß erfolgen, und das auch nur dann, wenn es gute Gründe dafür gibt. Wohnsitzauflagen für Migranten sind dann rechtlich zulässig, wenn sie der Integration dienen. Das hat der Europäische Gerichtshof so entschieden. Als SPD-Bundestagsfraktion hätten wir uns deshalb ein bisschen mehr Engagement des Innenministeriums beim Thema Evaluation gewünscht. ({2}) Wir müssen wissen, ob die integrationspolitischen Ziele erreicht werden. Deswegen sieht der jetzt vorliegende Gesetzentwurf eine Überprüfung innerhalb von drei Jahren vor. Für uns als SPD ist entscheidend: Wir wollen eine funktionierende Integrationspolitik, und die entscheidet sich vor Ort. Dazu gehören Sprachkurse, Wertevermittlung, Kenntnisse über Land und Leute, Kontakte zu Deutschen und nicht zuletzt Arbeit und Teilhabe. Wenn das mit einer strukturierten Verteilung – genau das ist die Wohnsitzauflage – besser gelingen kann, dann ist sie unsere Unterstützung wert. Vielen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Agnes-Marie Strack-Zimmermann für die FDP. ({0})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, es ist wunderbar: Sie sind der Einzige, der es immer wieder schafft, meinen Namen umzudrehen; aber das macht nichts. Das ist eine Herausforderung; ich weiß das seit 61 Jahren. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kommen wir jetzt zu dem wichtigen Thema, zum vorliegenden Gesetzentwurf zur Wohnsitzregelung. Ich gestehe, ich bin keine Juristin; aber ich komme aus der Kommunalpolitik, und deswegen erlaube ich mir, ein paar Sätze dazu zu sagen. Wir sehen die in dem vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehene Entfristung der Wohnsitzregelung kritisch. Die Wohnsitzregelung ist eingeführt worden, um sicherzustellen, dass integrationspolitische Maßnahmen für Länder und Kommunen planbar sind und auch tatsächlich erfolgen können. Das hat sich im Großen und Ganzen bewährt. Um diese Regelung wirklich bewerten zu können, wollte die Bundesregierung uns innerhalb von drei Jahren – die sind jetzt vorbei; 2016 eingeführt, wir haben 2019 – eine wissenschaftliche Evaluation vorlegen, inwieweit die Wohnsitzregelung eine nachhaltige Integration fördert; denn darum geht es uns. Aber es ist wie immer bei Integrationsangelegenheiten: Viel heiße Luft; wirksame Taten suchen die Kommunen häufig vergebens. Und wo ist die Studie? Dieses Vorgehen nervt. Ich finde es auch unverantwortlich. Schon am nächsten Montag – das geht jetzt wirklich zackig; das kennen wir beim Innenministerium normalerweise nicht – soll eine Anhörung stattfinden. Das ist schon allein deshalb interessant, weil diese Anhörung angesetzt wurde, bevor uns der Gesetzentwurf überhaupt erreicht hat. ({1}) Es ist uns völlig schleierhaft, warum eine Regelung entfristet werden soll, deren Effektivität noch nicht erwiesen ist und bei der völlig unklar ist, ob eine Kontrolle – also ob die Leute, die einen Wohnsitz zugewiesen bekommen haben, auch wirklich dort bleiben – überhaupt stattfindet. Wir beobachten durchaus eine Konzentration in Großstädten und Ballungszentren. ({2}) Das wirft natürlich die Frage auf, ob diese Regelung – nur darum geht es ja – auch praktisch durchgesetzt wird und ob die Regierung an dieser Stelle wirklich genau hinguckt. ({3}) Herr Staatssekretär, Sie sagten, Sie tun viel. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich glaube, es würde helfen – auch wenn das Thema heute nicht mehr diese Brisanz hat wie 2015/16 –, wenn Sie mal aus Berlin in diese Ballungszentren fahren und sich vor Ort anschauen würden, was dort noch zu tun ist. ({4}) Jetzt soll es ganz rasch gehen. Ja, wir können die Regelung verlängern; sie zu entfristen sehen wir aber – ich sagte es schon – äußerst kritisch. Meine Damen und Herren, wir halten das ursprüngliche Anliegen des Gesetzes – ich sage es noch einmal: 2015/16 waren angespannte Zeiten, gerade für die Kommunen – für ausgesprochen richtig. Die Wohnsitzregelung sollte eine faire Lastenverteilung innerhalb des Bundesgebietes gewährleisten und – Sie sagten es zu Recht – eine besonders starke Konzentration in den Ballungsgebieten verhindern und auch soziale Konflikte verhindern. An der Stelle möchte ich noch einmal hervorheben: Ohne das Engagement der Kommunen – in den Ämtern wurde improvisiert, was für deutsche Amtsstuben ungewöhnlich ist – und das Engagement der vielen Ehrenamtlichen wäre das nicht gegangen. Trotz der am Anfang kaum vorhandenen Unterstützung durch die Bundesregierung – die hat das Problem ja ignoriert – ist eine Superarbeit vor Ort geleistet worden. An dieser Stelle muss man es noch einmal betonen: Ohne die vielen Ehrenamtlichen wären die Kommunen schlichtweg abgesoffen. ({5}) Meine Damen und Herren, ein Gesetz, das nicht durchgesetzt werden kann, muss man besser machen oder abschaffen. Insofern wäre eine Evaluation wirklich sehr hilfreich gewesen. Es ist übrigens auch zu fragen, ob es nicht sinnvoll wäre, dass Städte den einen oder anderen Flüchtling in Nachbarregionen ziehen lassen können, dorthin, wo Raum ist. Das ist momentan nicht möglich. Für manche Großstädte wäre das hilfreich. Wir warten ab, was da kommt. Ich sage es noch einmal: Das jetzt mit dieser Geschwindigkeit zu machen, halten wir für falsch. Wir sollten über die Entfristung nachdenken – das Gesetz ist nicht schlecht –, es jetzt aber hopplahopp zu entfristen, halten wir für einen Fehler. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächstes spricht die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was die Kollegin Strack-Zimmermann hier vorgetragen hat, muss man unterstützen. Ich finde es wirklich wichtig, dass so ein Gesetz evaluiert wird. Zuvor haben Herr Mayer und Frau Heinrich ziemlich bagatellisiert, was diese Regelung für die Betroffenen heißt. Eine Wohnsitzauflage bedeutet nämlich Zwang. Man muss dorthin gehen, wohin man zugeteilt wird. Das bedeutet oft, dass man in ländliche Gebiete bzw. Städte gehen muss, ({0}) in denen man kein soziales Umfeld hat. – Marian, hör zu! ({1}) Möglicherweise wird man von der Familie getrennt. Das ist schon ein enormer Einschnitt. Da hier von einem Integrationsgesetz die Rede ist, fragt man sich doch: Wo sind denn die wirklichen Integrationsangebote? Wie stärkt man wirklich das soziale Umfeld? ({2}) Ganz nebenbei möchte ich hier erwähnen: Nach der Genfer Flüchtlingskonvention und der EU-Qualifikationsrichtlinie haben anerkannte Flüchtlinge ein Recht auf Freizügigkeit. Sie dürfen ihren Wohnort in der Regel frei auswählen. Es gibt natürlich Einschränkungen dieses Rechts. Die sind aber nur unter engen Voraussetzungen mit dem Ziel einer besseren Integration zulässig, wie der Europäische Gerichtshof klargestellt hat. Es müsste einmal evaluiert werden, ob das tatsächlich so gehandhabt wurde. Wohnsitzauflagen erschweren oftmals die Integration in den Arbeitsmarkt. Das kann man beispielsweise einer wissenschaftlichen Studie entnehmen. Diese zeigt, dass die Hälfte der Menschen die Arbeit, die sie in ihrer Umgebung gefunden haben, vor allen Dingen durch persönliche und soziale Kontakte bekommen haben. Das kennen wir auch aus unserer persönlichen Erfahrung. Wer mit Migrantinnen und Migranten und Flüchtlingen zusammenarbeitet, weiß, dass es häufig Freunde oder Familienangehörige sind, die diese Menschen vermitteln. Diese Kontakte haben diese Menschen durch eine Wohnsitzauflage oft nicht. Das ist eindeutig belegt. Übrigens ist auch die Wohnungssuche ein Problem. Nehmen wir als Beispiel einmal das noble Viertel im Landkreis Starnberg in Bayern. Dort sind die anerkannten Flüchtlinge gezwungen, in sogenannten Containerwohnanlagen zu wohnen. Sie sind damit auch unter Kontrolle. Sie sind also – das kann man sagen – lagerähnlich untergebracht. Ich möchte wirklich einmal wissen, was es mit Integration zu tun hat, wenn Menschen nicht so leben können, wie sie wollen. Sie werden eher entmutigt. Es ist für sie diskriminierend. Besuchen Sie ruhig einmal so ein Lager. Ich habe es mehrfach gemacht. Man kann sehen, wie frustriert die Leute dort sind. ({3}) Wohnsitzauflagen sind außerdem ein Hindernis für einen effektiven Gewaltschutz. Das finde ich einen besonderen Skandal. ({4}) Wenn Frauen von Gewalt betroffen sind und in ein Frauenhaus außerhalb des ihnen zugewiesenen Ortes gehen müssen, ist das nach dem Gesetz eine Ordnungswidrigkeit. Das ist wirklich ein Skandal. ({5}) Das Gesetz enthält zwar eine Härtefallregelung. Doch bisherige Erfahrungen zeigen, dass diese in der behördlichen Praxis keinen hinreichenden Schutz garantiert. Wir kennen aus den Beratungsstellen mehrere Fälle, bei denen die Frauen in lebensbedrohlichen Verhältnissen wohnen. Die betroffenen Beraterinnen und Berater schätzen die Situation so ein, dass die Aufhebung der Wohnsitzverpflichtung oft nicht genehmigt wird. Das muss sich ändern, meine Damen und Herren. Das hätte man im Rahmen eines solchen Gesetzes evaluieren können. ({6}) Zum Schluss möchte ich noch etwas zu den Kosten sagen, die den Flüchtlingshelfern und -helferinnen nach wie vor aufgebürdet werden.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Sie müssen zum Schluss kommen, Frau Kollegin.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zu meinem letzten Satz. – Wir sind der Meinung: Das ist eine staatliche Aufgabe, keine Aufgabe für Personen, die humanitäre Hilfe leisten. Deswegen ist diese Dauer viel zu lange: Drei Jahre kann kaum jemand den Lebensunterhalt eines Menschen finanzieren. Ich danke Ihnen. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Filiz Polat. ({0})

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind im Moment mit einem Aufgebot an Gesetzentwürfen im Migrationsrecht konfrontiert, mit dem die Bundesregierung ihre Strategie der Abschreckung und Desintegration vorantreibt, und die SPD macht das leider mit. ({0}) Zu Recht wirft Pro Asyl gemeinsam mit den Flüchtlingsräten der Bundesländer in einem offenen Brief, der vorgestern an die Abgeordneten der SPD-Fraktion verschickt wurde, die Frage auf – ich zitiere, Herr Präsident –: Wir fragen uns, inwieweit die Bundesregierung noch für Menschenwürde und den Schutz von Menschenrechten einsteht ... Alle Gesetze bewegen sich an den Grenzen der Grundprinzipien des deutschen Rechtsstaates oder überschreiten diese. Beim hier debattierten Integrationsgesetz – das möchte ich einmal betonen, weil das hier kaum Erwähnung gefunden hat – sprechen wir über die Einschränkung der Freizügigkeit von bereits anerkannten Geflüchteten, meine Damen und Herren. ({1}) Da Sie das zu vergessen scheinen und auch die SPD sich nicht mehr an die harten Verhandlungen von 2016 erinnert: Wir sprechen hier von Artikel 26 der Genfer Flüchtlingskonvention sowie Artikel 33 der EU-Qualifikationsrichtlinie. Das, was Sie hier heute vorgetragen haben, ist wirklich eine Farce. ({2}) Es ist die Rechtsprechung – Frau Jelpke hat es gesagt – sowohl des Bundesverwaltungsgerichtes als auch die des Europäischen Gerichthofes. Ein Eingriff in diese Freizügigkeit kann, Herr Wendt, eben nicht zur Steuerung von Sozialtransferleistungsempfängern erfolgen, sondern ein Eingriff ist nach europäischer Rechtsprechung nur dann rechtskonform, wenn die Wohnsitzregelung für Asylberechtigte ein geeignetes und erforderliches Mittel ist – da waren die Juristinnen und Juristen am Werk –, um die Verbesserung der Integrationsbedingungen tatsächlich zu fördern. Den Beweis, ob dies so ist, meine Damen und Herren, bleibt die Bundesregierung aber schuldig. In den Antworten auf die Kleinen Anfragen meiner Fraktion sagt die Bundesregierung selbst, dass nach wie vor kaum Erkenntnisse zu den Wirkungen vorliegen. Deshalb ist es fatal, dass wir heute – Frau Strack- ({3}) Zimmermann hat es gesagt – das Gesetz entfristen – vielen Dank –, ohne die bereits verankerte Evaluierung vorgenommen zu haben. Meine Damen und Herren, ich will es noch einmal betonen: Das war eine Forderung, die von Ihnen selbst, liebe SPD, hineinverhandelt wurde, um diesen schweren Eingriff zu begründen. Eine weitere Begründung in der damaligen Gesetzesberatung zur Einführung der Wohnsitzregelung ist ebenfalls entfallen. Die verstärkte Zuwanderung 2015/16 war eine der Hauptbegründungen. Die Krönung des Ganzen – meine Kolleginnen und Kollegen haben es gesagt – ist allerdings, dass Sie unter Missachtung der parlamentarischen Gepflogenheiten bereits gestern eine Anhörung im Ausschuss beschlossen haben, bevor wir hier und heute über die Einbringung beraten können. Das ist wirklich unparlamentarisch. ({4}) Als überzeugte Europäerinnen und Europäer werden wir als Grüne weiterhin das Recht auf Freizügigkeit verteidigen. Es ist wichtig, glaube ich, das vor der Europawahl zu betonen. Dies gilt gleichermaßen für Geflüchtete mit einem rechtmäßigen Aufenthaltstitel. Die Kollegin Jelpke hat es gesagt – das haben uns auch die Beratungsstellen und die Frauenhäuser geschrieben, auch der Deutsche Juristinnenbund hat das in einer Stellungnahme deutlich gemacht –: Die Wohnsitzregelung ist darüber hinaus ein großes Hindernis für insbesondere von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt betroffene Frauen. Da sind die Regelungen, so schreiben sie, sogar gefährdend, da sie eine erhebliche Hürde für einen schnellen und effektiven Gewaltschutz darstellen. Deswegen gehört dieser Passus gestrichen. Darauf hat der Bundesrat Sie auch hingewiesen, Herr Mayer. ({5}) Ich komme zum Schluss. Die Zuzugsperre, über die kaum jemand geredet hat, die sogenannte kommunale Obergrenze, ist aus unserer Sicht zutiefst diskriminierend und der falsche Ansatz. Ich habe alle Städte mit Zuzugssperre besucht. Hier sind nicht die Geflüchteten das Problem, meine Damen und Herren, sondern die fehlende finanzielle Unterstützung in der Infrastruktur durch den Bund. Mit den aktuellen Kürzungsplänen gerade an dieser Stelle stellt der Finanzminister diesen Kommunen ein Bein, statt – das fordern wir von der Bundesregierung – sich endlich dauerhaft und strukturell an den Integrationskosten zu beteiligen. Meine Damen und Herren, Migration ist nicht das Problem, sondern die uns regierende Zweckgemeinschaft. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Alexander Throm für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in der Tat einen ganzen Strauß von Gesetzen zur Migrationssteuerung auf der Tagesordnung. Wir müssen das Migrationsgeschehen auch innerhalb von Deutschland steuern und dabei gleichzeitig die Chancen von anerkannten Schutzbedürftigen fördern. Die Wohnsitzauflage – das haben die letzten drei Jahre in der Praxis gezeigt – ist dafür ein geeignetes Instrument. Deshalb wollen wir sie den Ländern und Kommunen, die das wollen, dauerhaft zur Verfügung stellen und verhindern, dass die Frist für diese Regelung Mitte dieses Jahres ausläuft. Um was geht es? Es geht darum, dass wir beispielsweise das knappe Gut Wohnraum, so gut es geht, den Schutzberechtigten entsprechend zur Verfügung stellen, dass wir für Kindergartenplätze, für Schulplätze und für angemessene Integrationsleistungen durch Integrationskurse und Sprachkurse sorgen. Es ist doch eigentlich nicht bestreitbar, dass eine gewisse Ballung von bestimmten Gruppen in einer Gemeinde oder in einer Stadt zu sozialen Problemen führt und dass wir diesen Problemen begegnen müssen. Deswegen wollen wir, dass gerade Städte, große, aber auch mittelgroße Städte, nicht überfordert werden. Das nützt in der Tat niemandem, am wenigsten den Flüchtlingen selbst. ({0}) Ja, es geht auch darum, der Segregation entgegenzuwirken. Das heißt, dass sich Menschen gleicher Herkunft und gleicher Sozialisation in einer Gemeinde oder einer Stadt niederlassen. Es ist sicherlich verständlich, dass man Gleichgesinnte sucht. Aber wir haben auch hier in den letzten Jahren und Jahrzehnten Erfahrungen gemacht, dass es eher integrationshemmend als integrationsfördernd ist. Insofern ist das ein nachvollziehbares Argument für die Wohnsitzregelung. Ich kann ehrlich gesagt nicht erkennen, dass das, was wir machen, unzumutbar für die Betroffenen ist. Wir beweisen als Deutschland jeden Tag unsere Humanität. Wer an Leib und Leben gefährdet war, wird doch Verständnis dafür aufbringen, dass er zeitweise – bei aller Fürsorge, die wir ansonsten für ihn und seine Familie haben – in der Wohnsitznahme beschränkt wird. Das halte ich für einen durchaus zulässigen Eingriff. ({1}) Gerade wenn wir auf die Flächenländer Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg schauen, stellen wir fest: Hier ist es erforderlich, diese Regelung anzuwenden. Wir haben hier auf der einen Seite große Ballungszentren und auf der anderen Seite ländliche Gegenden. Der grüne Ministerpräsident Kretschmann aus Baden-Württemberg hat – zugegebenermaßen in einem anderen Zusammenhang – gesagt, dass man gewisse Gruppen trennen und einige von ihnen in die Pampa schicken müsse; Sie erinnern sich bestimmt. Zwar gibt es nirgendwo in Deutschland eine Pampa. Aber in diese vermeintliche Pampa können wir diese Gruppen nur dann schicken, wenn wir eine Wohnsitzregelung haben. Herr Kretschmann hat sich also vehement und durchaus mit kräftiger Rhetorik für eine Fortgeltung dieser Regelung eingesetzt. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Ihre Vorsitzende Frau Baerbock hat dann dazu gesagt, sie hätte das anders formuliert – das hätte ich auch gemacht; da gebe ich ihr recht –, aber die Grünen hätten immer gesagt, dass es für Asylsuchende eine dezentrale Unterbringung geben müsse; das sei die beste Prävention. Auch da gebe ich ihr recht. In diesem Zusammenhang kann eine dezentrale Unterbringung von Schutzberechtigten nur durch die Wohnsitzregelung erfolgen. Ich habe Hoffnung, dass bei den Grünen ein gewisses Umdenken einsetzt, zumal wir bei diesem Gesetz Erfahrungen aus den letzten Jahren berücksichtigen. Wir gestalten es durchaus flexibler und werden den Bedürfnissen der Betroffenen eher gerecht, beispielsweise bei besonderen Familienkonstellationen oder bei der Trennung von Täter und Opfer im Fall von häuslicher Gewalt. Ja, Frau Kollegin Polat, es ist ein knappes Verfahren; da gebe ich Ihnen recht. Es muss der Ausnahmefall sein, dass wir das auf diese Weise parlamentarisch einbringen. Aber es ist ein überschaubarer Sachverhalt. Deswegen glaube ich, dass es für alle im Haus ausnahmsweise zumutbar ist, dieses Verfahren nun so beginnen zu lassen. Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Lars Castellucci für die SPD. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich etwas zur Wohnsitzauflage sage, möchte ich zuerst ein paar Worte über die Flüchtlingsbürgen verlieren. – Ist Herr Wirth nicht mehr anwesend? ({0}) Da Herr Wirth gesagt hat, dass die Bürgen im Fall des Falles auf ihren Kosten sitzen bleiben sollten, möchte ich der Ordnung halber darauf hinweisen, dass es gut ist, dass hier ein Kompromiss gefunden wurde und dass niemand auf ewig eine Bürgschaft eingehen soll. Wer hilfsbereit ist und sich um die Elendsten kümmert, darf den von Ihnen verwendeten Begriff „Gutmensch“ als einen Ehrentitel für sich in Anspruch nehmen. ({1}) Weil Sie sich sichtlich darüber gefreut haben, dass Asyl Schutz auf Zeit ist und die Leute dann wieder gehen sollen, will ich sagen: Ich bin froh, dass Abgeordnetenmandate auf Zeit vergeben werden. Ich freue mich, wenn auch Sie dieses Parlament irgendwann verlassen. ({2}) Zur Wohnsitzauflage möchte ich für die SPD-Fraktion klar sagen: Wir treten für die Freiheit und nicht für ihre Einschränkung ein. Dass wir die Freiheitsrechte der betreffenden Menschen einschränken müssen, fällt uns deshalb nicht leicht. Wir treten für die Freiheit von vielen ein, nicht von wenigen, für die Freiheit von Not, für die Freiheit von Furcht. So hat das Willy Brandt gesagt. Wenn wir also Eingriffe vornehmen, dann muss es dafür schon gute Gründe geben. Der zentrale, wichtige Grund ist: Wenn wir das nicht getan hätten, wenn wir nicht gesteuert und geordnet hätten, dann wären noch viel größere Eingriffe in die Freiheit nötig geworden, dann hätten wir die Aufnahme- und Hilfsbereitschaft unserer Bevölkerung aufs Spiel gesetzt. Das durften wir nicht tun. Heute können wir sagen: Steuerung und Ordnung sind uns gelungen. Auch mit der in Rede stehenden Regelung haben wir die Aufnahme- und Hilfsbereitschaft unserer Bevölkerung erhalten können. Deswegen war das eine sinnvolle Regelung. ({3}) Wenn ich mir ein Asylsystem wünschen dürfte, dann würde darin keine Wohnsitzauflage vorkommen. Dann würden wir vor Ort demokratisch entscheiden, wie viele Menschen wir aufnehmen wollen. ({4}) Wir würden schauen, welche Sprachen die Betreffenden schon sprechen und welche Qualifikationen sie mitbringen. Wir würden schauen, wo sie schon jemanden kennen, wo sie gut ankommen und wo sie geschützt sind. Aber Politik ist kein Wunschkonzert, und auch das Leben ist kein Wunschkonzert. Wir müssen uns um die Realitäten kümmern, deswegen müssen auch solche Regelungen sein, wie wir sie getroffen haben. Als ich in der Erstaufnahmeeinrichtung in Mannheim war, habe ich Folgendes erlebt: Nachts kamen die Sonderzüge. Dann wurde mittels Bussen verteilt. Decken, Essen und Trinken wurden bereitgestellt, Plätze zugewiesen. Am nächsten Morgen war die Hälfte der Menschen, die in der Nacht angekommen waren, weg. Jetzt erklären uns Linke und Grüne einmal bitte, wie wir in einer solchen Situation Ordnung schaffen sollen, wie geklärt werden soll, wo die Unterkünfte sind, und wie wir für Integration sorgen können. Das ist aus meiner Sicht so nicht möglich. Deswegen sind Steuerung und Ordnung nötig. Man kann diesen Eingriff in die Freiheitsrechte durchaus rechtfertigen. Solange jemand von uns unterstützt wird und Hilfe bezieht, können wir auch die Spielregeln aufstellen, nach denen das geschieht. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Castellucci, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schauws?

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte sehr.

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben gerade darüber gesprochen, dass Sie für die Freiheit eintreten und dass Sie sich auch wünschen, das anders zu regeln. Aber ich frage Sie jetzt: Wir stehen am Anfang dieses Verfahrens und der Beratungen. Sie haben gerade sehr deutlich von meiner Kollegin Filiz Polat und auch von Ulla Jelpke gehört, dass die Wohnsitzauflage eine so hohe Hürde für die Frauen, die in den Unterkünften von häuslicher Gewalt betroffen sind, darstellt, dass sie die Schutzeinrichtungen, die normalerweise Frauen bei häuslicher Gewalt aufsuchen können, nicht nutzen können. Aufgrund der Wohnsitzauflage und der bürokratischen Hürden wird es wahrscheinlich nie dazu kommen, dass eine Frau, die in einer Unterkunft von Gewalt – insbesondere von sexualisierter – betroffen ist, den Schutz erhält, den normalerweise jede Frau haben müsste. Ich möchte Sie fragen, ob Sie eine Chance sehen, dass Ihre Fraktion im Laufe des Verfahrens mit darauf hinwirkt, dass der entsprechende Passus gestrichen wird, wie es der Bundesrat empfohlen hat? Das haben wir Grüne die ganze Zeit schon bei den AnKER-Zentren gefordert. Es kann nicht sein, dass eine Frau wegen Bedrohung und sexualisierter Gewalt, die ihr angetan wird, eine Ordnungswidrigkeit oder sogar eine Straftat begeht. Ich bitte um Ihre Antwort.

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank für diese Frage. – Auf solche vulnerablen Gruppen müssen wir an jedem Ort, an dem sie sich in Deutschland befinden, achten. Bei dieser Aufgabe läuft bislang nicht alles perfekt; das ist uns bewusst. Ich signalisiere Ihnen gerne Gesprächsbereitschaft im Hinblick auf das, was Sie vorgetragen haben. Da die Evaluation angesprochen wurde: Wir müssen zuerst entfristen, damit diese Regelung weiterläuft und damit dann eine sinnvolle Evaluation stattfinden kann. In dieser Evaluation werden wir auch den Schutz besonders bedürftiger Gruppen untersuchen lassen. So haben wir uns das vorgenommen. ({0}) Ich will Ihrer Fraktion noch einmal sagen: Linke und Grüne haben ihre Vorlagen bei Gesine Schwan entlehnt. Bestimmte Kommunen, die aufnehmen wollen, sollen das tun können und dafür besonders unterstützt werden. Das ist mir im Grunde sehr sympathisch. Wenn die Menschen den Kommunen zugewiesen sind und zusätzliche Gelder fließen, aber die Menschen dann eine Woche später nicht mehr dort sind, weil sie weitergezogen sind, stellt sich doch die Frage, ob dieses System funktioniert. Sie werden also ständig mit der Frage konfrontiert sein, wie das zu schaffen ist. Wir müssen daran arbeiten, damit wir für Verlässlichkeit und Planbarkeit sorgen. Dafür braucht es in diesem Fall auch einmal solche Instrumente. ({1}) Nun steht die Entfristung des Integrationsgesetzes auf der Agenda. Das hört sich so an, als ob wir noch nicht fertig wären. Ich bin tatsächlich gefragt worden, als die Geflüchteten kamen: Herr Castellucci, wie lange wird es dauern, bis alle integriert sind? – Die Wahrheit ist: Integration ist eine Daueraufgabe jeder Gesellschaft. Dazu braucht es keine Geflüchteten und keine Migration; denn Integration bedeutet, dass es einen gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt, dass das Zusammenleben funktioniert und dass niemand verloren geht. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe, an der wir uns weiter abarbeiten müssen. Dabei können wir uns von dem vielen inspirieren lassen, was in diesem Land auch gelingt. Zum Schluss – etwas abgewandelt – Ernst Bloch: Je mehr wir in das Gelingen verliebt sind statt in das Scheitern, umso eher wird es uns auch gelingen. Vielen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Nina Warken für die Fraktion CDU/CSU. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn der Gesetzgeber ein neues Gesetz auf den Weg bringt, dann tut er oft gut daran, wenn er sagt: Dieses Gesetz und seine Wirkungen schauen wir uns in ein paar Jahren noch einmal an. Wir gehen mit Bedacht vor, wir finden eine Regelung, die wir für ausgewogen und verhältnismäßig halten, und dann sehen wir in drei Jahren, ob die Regelung funktioniert hat und ob sie sich als angemessen und zweckmäßig erwiesen hat oder eben nicht. Die Bundesregierung und dieses Haus, meine Damen und Herren, sahen sich vor rund drei Jahren einer der größten Herausforderungen für unser Land gegenüber, weil Menschen aus unterschiedlichen Teilen der Welt ihre Heimat verlassen haben, um nach Europa und nach Deutschland zu kommen. Wir haben hierauf – es wurde schon angesprochen – mit verschiedenen Maßnahmen reagiert, sowohl auf europäischer Ebene als auch hier bei uns in Deutschland. Unsere Städte und Gemeinden, unsere Landkreise, die Länder, unsere Behörden und die Bevölkerung haben erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen. Und wir können heute sagen – ob dies hier nun jeder hören will oder nicht –: Unser Land hat die Herausforderungen, hat diesen Kraftakt erfolgreich gemeistert, und darauf darf dieses Land, dürfen die Menschen in diesem Land, gerade wegen der großen Anstrengungen, auch stolz sein. ({0}) Es ist deswegen, meine Damen und Herren, konsequent und richtig, wenn wir die Geltung bestimmter Regelungen verlängern, weil sie sich als Erfolg erwiesen haben. Regelungen, die wir und insbesondere die Länder und Kommunen brauchen, um die anstehenden Aufgaben erfüllen zu können. Ziel einer dieser Regelungen war und ist es, die Integration von anerkannten Schutzberechtigten zu fördern und integrationshemmenden Tendenzen entgegenzuwirken. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir wissen schon, dass die von uns geplante Entfristung zum Teil kritisiert wird, nicht nur hier im Haus, sondern auch von verschiedenen Organisationen und Verbänden. Und uns ist auch bewusst, dass Wohnsitzauflagen für die Betroffenen eine Beschränkung des Rechts auf Freizügigkeit darstellen. Dennoch halten wir es für geboten und gerechtfertigt, die im Integrationsgesetz getroffene Regelung beizubehalten. Wir wollen mit der Wohnsitzauflage und den damit verbundenen Maßnahmen die Integration der anerkannten Schutzberechtigten fördern und voranbringen. Denn nur, wenn die Behörden wissen, wo sich die Betroffenen aufhalten – das wurde auch schon gesagt –, können ihnen Angebote und Hilfestellung unterbreitet werden. Die Wohnsitzauflage dient dem Schutz und der Unterstützung der anerkannten Schutzberechtigten. Und Wohnsitzauflagen tragen gerade dazu bei, die Rahmenbedingungen für erfolgreiche Integration zu verbessern. Planbarkeit der Integrationsangebote und Vermeidung von Segregation sind wichtige Ziele, die wir mit der Regelung verfolgen. Und deshalb teilen wir auch nicht die Meinung derjenigen, die behaupten, dass Wohnsitzauflagen die Wohnungssuche, das familiäre Zusammenleben, die Bindung zur Community sowie die Integration in den Arbeitsmarkt erschweren würden. Denn vor allem die aus der Verwaltungspraxis gewonnene Erfahrung hat uns darin bestärkt, an der Wohnsitzauflage, für die sich im Übrigen nicht nur eine große Mehrheit der Länder, sondern auch alle kommunalen Spitzenverbände ausgesprochen haben, weiter festzuhalten. Das, meine Damen und Herren, ist für mich auch das Ausschlaggebende, wenn ich sehe, dass die Praxis vor Ort an einer solchen Regelung gerne festhalten würde. ({1}) Gerade die Regelungen, nach denen die zuständigen Ausländerbehörden Schutzberechtigten einen bestimmten Wohnort zuweisen können, sowie die „Zuzugssperren“, nach denen Schutzberechtigte verpflichtet werden können, den Wohnort nicht an einem bestimmten Ort im betreffenden Bundesland zu nehmen, sind ausdrücklich begrüßt worden. Die Länder und die kommunalen Spitzenverbände weisen ausdrücklich darauf hin, dass sie mit diesen durch den Bund eröffneten Regelungsmöglichkeiten Integrationsmaßnahmen bisher gezielt steuern konnten und weiterhin auch so verfahren möchten. Nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass wir im Gesetzentwurf eine Evaluierung der Wohnsitzregelung innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes vorsehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es uns nicht leicht gemacht, diesen Gesetzentwurf in das parlamentarische Verfahren einzubringen. Doch die Gründe, die ich genannt habe, sprechen für eine Entfristung. Abschließend möchte ich ausdrücklich noch einmal sagen: Wir wollen die Betroffenen nicht gängeln, sondern wir wollen ihnen eine angemessene Integration in unsere Gesellschaft ermöglichen. Ich denke, was sich als gut und praktisch bewährt hat, sollte man auch beibehalten. Daher bitte ich um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Vielen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 19/8692 und 19/9764 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Andere Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Internetgemeinde! Nun ist es passiert, und keiner wundert sich: Die Urheberrechtsrichtlinie für den digitalen Binnenmarkt ist mit Artikel 17, dem Uploadfilter, durch alle Gremien der EU – mit dem vollen Programm: Lobby-Hearings, diffusen Deals sowie sogar angeblich falsch gedrückten Knöpfen bei der Parlamentsabstimmung. Es ist hier erstens unstreitig, dass die Mühlen des Trilogs einmal ganz offensichtlich auf dem falschen Fuß erwischt wurden. Innerhalb von zwei Jahren hatte man alles so schön festgeklopft, und dann gibt es plötzlich Massenproteste gegen die Beschränkung der Meinungsfreiheit. Allein in München sind fast 50 000 Menschen auf die Straße gegangen. ({0}) Wie konnte das passieren, allemal so knapp vor EU-Wahlen? Zweitens ist auch unstreitig und für jeden recherchierbar, dass den deutschen Verhandlungsführern erst dann so langsam aufging, was sie da durchgewunken haben, nämlich das weitgehende Zurückdrängen von kommentierenden Meinungen auf Content-Plattformen. Das lag weitgehend daran, dass diese Plattformen gar nicht konsumiert wurden und man sie nur vom Hörensagen oder von der Zuarbeit kannte. Und nein, es zählt hier nicht, wenn ich ab und zu meinen letzten Wahlspot auf ­YouTube anschaue oder eine verpasste Talkshow. ({1}) Denn glauben Sie mir: Kaum jemand unter 30 weiß inzwischen noch, wo seine TV-Kanäle auf der Fernbedienung liegen; denn er hat vielleicht gar kein TV-Gerät mehr. Man schaut dort ausschließlich YouTube, Twitch oder sonstige Streaming-Plattformen. Damit steht drittens fest, dass die ganze Richtlinie an einem Grundproblem gekrankt hat und weiterhin krankt: der Regelung von digitalen Lebenswirklichkeiten durch Leute, die sich noch sämtliche E-Mails ausdrucken und sogar stolz darauf sind, nur fünfmal am Tag auf ihr Handy zu schauen. Meine Damen und Herren, YouTuber benutzen natürlich geschütztes Material, und zwar in der Regel auch nicht durch das Zitatrecht und sonstige Schranken geschütztes, nämlich dauernd und in jedem Bezug. Jedoch ist dies nicht zum Nachteil ihrer Konkurrenten bzw. anderer Content-Schöpfer, solange diese sich an die Situation auf YouTube anpassen, nämlich Aufmerksamkeit durch Teilen, Multiplikation durch Fair Use. Die Akteure im Web 2.0 tun das schon lange wie der Fisch im Wasser. Aufregen tun sich hier nur Pressekonzerne, Medienverbände usw. Diese schreien Zeter und Mordio, „Skandal!“. Content-Management endet plötzlich nicht mehr, wenn ich den Sendeplatz um 20.15 Uhr erreicht habe. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Kollege Peterka, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hoffmann?

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, gerne, wenn die Zeit angehalten wird.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Ja.

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Es gehört ja in Ihrer Fraktion zu den Ausnahmeerscheinungen, dass mal jemand den Mumm hat, sich eine Frage stellen zu lassen. ({0}) Meine Frage ist auch ganz schnell formuliert. Sie haben das Ganze jetzt ein bisschen wirr, mit allgemeinen, oberflächlichen Zwischenbemerkungen von oben beurteilt. Ich hätte von Ihnen gern eine Aussage: Ist Ihnen das aktuelle Urheberrecht bekannt? Davon gehe ich aus; Sie sind ja Jurist. Ich hätte von Ihnen gern anhand von zwei, drei Beispielen erklärt bekommen, wie Sie die Einhaltung des Urheberrechts auf YouTube sicherstellen wollen, wenn Sie zugeben: Selbstverständlich ist es so, dass jeder YouTuber geschützte Inhalte hochlädt. – Deswegen meine Frage: Wie schützen Sie das Urheberrecht, das im Übrigen schon vor der Richtlinie in Deutschland gegolten hat, wenn Sie ganz selbstverständlich sagen, dass ein YouTuber geschützte Inhalte hochlädt?

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank für diese Zwischenfrage. Dazu kommen noch Ausführungen. Es ist dringend notwendig, dass hier auf ein Fair-Use-Prinzip geschwenkt wird. Es wurde von der Union auch schon angedeutet, dass man hiermit lieb­äugelt – unter dem bisherigen Urheberrecht. ({0}) – In der Protokollerklärung steht das. ({1}) Ich werde jetzt fortfahren und komme noch zum Fair-Use-Prinzip: Es ist notwendig, dass das in der heutigen digitalen Lebenswelt eingeführt wird. Das hat dann in diesem Sinn auch nichts mehr mit dem alten Urheberrecht zu tun; denn ich habe es schon ausgeführt: Es ist nicht zum Nachteil derjenigen, die kopiert werden; es ist nicht zum Nachteil, wenn meine Videos geteilt werden. ({2}) Das ist ein neues Rechtsgebiet. Man geht einen neuen Weg, bzw. ich bin dafür, dass das getan wird, wie ich Ihnen gleich auch noch sagen werde. – Danke für die Frage. Wie gesagt – jetzt komme ich dazu –: Ähnlich qualifiziert – es tut mir leid – sind die Beschwichtigungen der Koalition in der Protokollerklärung Deutschlands. Hier werden nämlich die ernsthaften Bedenken der Öffentlichkeit plötzlich angenommen, und vorsorglich wird auch behauptet, man wollte die Uploadfilter in Europa von Anfang an gemeinsam verhindern. Ich höre das Lachen aus Paris bis hierher. ({3}) Plötzlich wird vollkommen überzogen das Zitatrecht als Lösung angepriesen. Es werden befreiende Erklärungen des Uploaders angedacht – er soll irgendwelche Häkchen setzen –, und es wird von kurzen Ausschnitten fabuliert, die angeblich schon immer zulässig waren. All das hat keine rechtliche Grundlage in der Richtlinie. Wenn kein Lizenzvertrag, dann Maßnahmen nach Stand der Technik, das heißt Uploadfilter. Und diese Filter erkennen nicht mal zulässige Zitate. Aus die Maus! Im Übrigen ist eine Art globale Zwangslizenz, die von der Union angedacht wird, auch nicht möglich; denn Artikel 5 der 2001er-Urheberrechtsrichtlinie gilt fort, und sie blockiert zusammen mit der EU-Rechtsprechung die Ausweitung von Verwertungsgesellschaften, was dafür notwendig wäre. Nun wurde, meine Damen und Herren, dem erzürnten Wahlvolk, das man bei den unter 30-Jährigen vermutet, versprochen, dass man bei einem Scheitern dieser tollen Ideen die Richtlinie ganz neu aushandelt, also auf den Anfang und damit zu den Mühlsteinen in Brüssel zurückkommt. Wir erinnern die Regierung hiermit an dieses vage Versprechen. Ein Tipp für ganz Mutige: Andere Mitgliedstaaten sind in Bezug auf den Wortlaut sehr kreativ beim Umsetzen von Richtlinien in nationale Gesetze. Wenn Sie schon ein Fair-Use-Prinzip andeuten und herbeifabulieren – lesen Sie es nach –, dann gehen Sie das hier doch mal konkret an. Zeit wird’s nämlich für ein modernes Urheberrecht. Abschließend: Dieser Fall ist auch ein Paradebeispiel für weltfremde Ergebnisse, die aus dem EU-Trilog kommen. Daher regen wir unabhängig von der Subsidiarität eine möglichst formelle Endabrechnung für den Nutzen des einzelnen Bürgers an – für moderne Lebenswelt zum Beispiel der einzelnen Bürger. Und nein, das wird bisher nicht ausreichend getan. Kompromisse aus der Blase des Trilogs werden, wie man hier sieht, nicht mehr angefasst, weil sie schon so schön lange im Ofen waren. Erst müssen 50 000 Menschen in München auf die Straße gehen – übrigens egal, welche politische Einstellung sie haben. ({4}) Hier wäre es mal an der Zeit, mit einem neuen Ansatz und einer neuen Bewertung dieses EU-Wirrwarrs voranzugehen. Wie gesagt: Zeit wird’s. Über das Urheberrecht können wir uns gerne noch bilateral unterhalten. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Ansgar Heveling für die Fraktion CDU/CSU. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem aktuellen Antrag der AfD-Fraktion ist es wie mit ihren allermeisten Anträgen: Erst müssen wir bis ultimo warten, dass der Antrag überhaupt vorgelegt wird. Da könnte man denken: Oh, die AfD befasst sich so intensiv mit dem Thema, dass es etwas länger dauert. ({0}) Aber dann liegt der Text vor einem, und man schlägt die Hände über dem Kopf zusammen vor lauter verfassungsrechtlichem Flachwurzlertum. ({1}) Sicherlich ist es auch deswegen so, dass sich von den Vertretern der AfD-Fraktion im Rechtsausschuss bis auf den Redner offensichtlich keiner ins Plenum getraut hat. ({2}) Dabei macht dieser Antrag ganz groß auf. Es wird nichts Geringeres als die Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts allem vorangestellt. Ja, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, die Lüth-Entscheidung aus den frühen Jahren der Bundesrepublik ist eine der Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Und so soll die Erwähnung des Lüth-Urteils zu Beginn des AfD-Antrags wohl auch vornehmlich dazu dienen, die Bedeutungsschwere des Anliegens zu untermauern. Doch: Hätte die AfD mal nicht nur oberflächlich ein knappes Zitat aus dem Lüth-Urteil – wahrscheinlich via Wikipedia – genommen, sondern sich insgesamt mit der Entscheidung beschäftigt! Denn das Lüth-Urteil gibt wirklich wesentliche Hinweise zur Bedeutung und Reichweite der Meinungsfreiheit. Es wird definiert, was „allgemeine Gesetze“, die Schranken für die Meinungsfreiheit darstellen, sind, und es wird die Wechselwirkungslehre konstituiert. Nichts von diesen wesentlichen Punkten findet sich aber im Antrag der AfD wieder. Vielmehr schließt an den Hinweis auf das Lüth-Urteil der Satz an: Der hohe Stellenwert der Meinungsäußerungsfreiheit kommt darin zum Ausdruck, dass Meinungsäußerungen nicht vor ihrer Verbreitung auf ihre Vereinbarkeit mit dem geltenden Recht geprüft werden müssen … Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist aber nichts anderes als verfassungsrechtliche Camouflage! ({3}) Denn Sie verschweigen, dass sich das naturgemäß nur auf Artikel 5 Absatz 1 Satz 3 des Grundgesetzes bezieht, also auf das Zensurverbot. Damit hat aber weder das Lüth-Urteil zu tun, noch hat es Relevanz für die Urheberrechtsrichtlinie. Denn es ist bis heute nach wie vor klar herrschende Auffassung, dass sich das Zensurverbot ausschließlich an den Staat richtet und die Funktion einer Schranken-Schranke hat. Aber darum geht es hier ja gerade nicht; es geht nicht um staatliche Vorzensur. Wenn es aber nicht um Zensur geht: Worum geht es dann? Es geht um ganz normale Grundrechtsabwägungen. Artikel 5 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes ermöglicht rechtmäßige Beschränkungen der Meinungsfreiheit, sofern sie durch „allgemeine Gesetze“ erfolgen. Lassen wir hierzu das Lüth-Urteil sprechen: Die … Meinungsäußerung ist als solche, d. h. in ihrer rein geistigen Wirkung, frei; wenn aber durch sie ein gesetzlich geschütztes Rechtsgut eines anderen beeinträchtigt wird, dessen Schutz gegenüber der Meinungsfreiheit den Vorrang verdient, so wird dieser Eingriff nicht dadurch erlaubt, daß er mittels einer Meinungsäußerung begangen wird. Es wird deshalb eine „Güterabwägung“ erforderlich: Das Recht zur Meinungsäußerung muß zurücktreten, wenn schutzwürdige Interessen eines anderen von höherem Rang durch die Betätigung der Meinungsfreiheit verletzt würden. Der Gesetzgeber muss also erstens beachten, dass er nicht gezielt eine Regelung schafft, die auf die Beschränkung der Meinungsfreiheit orientiert ist. Sonst wäre es kein „allgemeines Gesetz“. Dem entspricht die Urheberrechtsrichtlinie aber; denn es geht darum, anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern – zum Beispiel dem geistigen Eigentum aus Artikel 2 Absatz 1 und aus Artikel 14 Grundgesetz – Geltung zu verschaffen. Dann müssen sich aber entsprechende Regelungen im Rahmen der Wechselwirkungslehre in der Wechselbeziehung zwischen kollidierendem Recht und Meinungsfreiheit bewegen. Auch hierauf wird der Gesetzgeber zwingend zu achten haben. Das gilt aber schon jetzt, unter dem geltenden Urheberrecht. Dementsprechend wollen wir alle Möglichkeiten nutzen, die nationale Umsetzung der Urheberrechtsrichtlinie so auszugestalten, dass Uploadfilter verzichtbar sind. Die Richtlinie selbst dürfte dazu in genügendem Maße Anknüpfungspunkte bieten. Sie ist in ihrer Struktur auf komplexe Abwägungen ausgerichtet. Das muss der nationale Gesetzgeber nachvollziehen, und ich bin zuversichtlich, dass das gelingen wird. ({4}) Vergessen wir eines nicht: Zunächst einmal geht es darum, dass die Richtlinie zu Lizenzvereinbarungen führen soll. Das fällt bei der AfD schon mal ganz unter den Tisch. Dann stellen sich die Fragen nach der Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit überhaupt nicht. Und zweitens geht es dann aber um Fragen der Haftung und damit eben um verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen Dritter, namentlich der Urheber. Das in Einklang zu bringen, dafür steht uns dank der Lüth-Entscheidung die Wechselwirkungslehre zur Verfügung. Ich bin mir sicher, dass es gelingen wird, das bei der Umsetzung der Urheberrechtsrichtlinie in das deutsche Urheberrecht auch tatsächlich so zu machen. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Manuel Höferlin für die Fraktion der FDP. ({0})

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vorab – vielleicht sollte man das erklärend vorwegschicken –: Ich beziehe mich mit meiner Rede explizit auf den Antrag der AfD und nicht auf die Rede der AfD. ({0}) – Genau: Das hat nicht unbedingt was miteinander zu tun. Als Netzpolitiker bin ich ja – ich habe es schon an anderer Stelle erwähnt – hier einiges gewohnt. Ich bin auch daran gewohnt, dass Debatten manchmal erst dann geführt werden, wenn es eigentlich zu spät ist. Die Kollegen von der sogenannten Alternative setzen heute noch einen drauf. Deswegen für Sie noch einmal, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rechtsaußen: Der richtige Kampf gegen Uploadfilter war schon; er ist vorbei. Deswegen haben Sie jetzt erst mal was verpasst. ({1}) Um Sie auf den neuen Stand zu bringen: Der Kampf begann schon 2016, nicht erst jetzt, und er fand seinen Höhepunkt im März dieses Jahres. Da sind wir Freien Demokraten in einem Bündnis mit anderen Parteien und Organisationen mit 10 000 Menschen auf die Straße gegangen. Sie habe ich da nicht gesehen. ({2}) Von daher kommt Ihr Antrag nicht nur viel zu spät, sondern er ist auch viel zu knapp und nicht umfassend genug. Ihre Forderungen entsprechen im Übrigen genau dem, was die Bundesregierung in ihrer Protokollerklärung zu der Richtlinie festgehalten hat. ({3}) Fragen Sie doch einfach mal die Kollegen da drüben! Sie schicken Ihnen wahrscheinlich die Protokollerklärung auch zu. Das zeigt aber auch, dass Sie mit Ihrem Antrag überhaupt nicht an der Sache interessiert sind. ({4}) Denn wer es beim Thema Uploadfilter ernst meint, schreibt nun wirklich nicht bei der GroKo ab. Denn wer den Kampf gegen Uploadfilter ernst meint, der wird auch sehen, dass die GroKo beim Thema Uploadfilter Glaubwürdigkeit verloren hat. ({5}) Die GroKo hat im Europäischen Parlament seit 2017 mit Herrn Voss in vorderster Reihe immer wieder in jeder Verhandlungsrunde für die Uploadfilter gekämpft und sie auch durchgedrückt. Gleichzeitig schreiben dieselben Parteien hier in Berlin 2018 in ihrem Koalitionsvertrag – ich zitiere –: Eine Verpflichtung von Plattformen zum Einsatz von Upload-Filtern, um von Nutzern hochgeladene Inhalte nach urheberrechtsverletzenden Inhalten zu „filtern“, lehnen wir als unverhältnismäßig ab. ({6}) Ungeachtet dieser Formulierung hat die SPD-Justizministerin Barley im Februar dieses Jahres an der Reform in Brüssel samt Uploadfiltern mitgearbeitet und dem auch zugestimmt, nur um direkt nach der Abstimmung zu erklären, sie halte Uploadfilter für falsch. ({7}) Trotzdem weist die gleiche Ministerin dann einen Monat später bei einer weiteren Abstimmung im Ministerrat an, erneut für die Reform samt den Uploadfiltern zu stimmen, um im Anschluss daran zu erklären, dass sie öffentlich bedauert, dass die Reform eine Mehrheit gefunden habe. ({8}) Auch die Bundeskanzlerin bekennt sich hier im Bundestag in der Fragestunde zu dem Vorhaben samt den Uploadfiltern. Trotzdem lässt sie bei der Zustimmung in Brüssel eine Protokollerklärung beifügen, dass man das, was man gerade beschlossen hat, doch nicht ganz richtig findet, und die Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner stimmt dann schlussendlich der Reform mit den Uploadfiltern zu. Deswegen sollten Sie, wenn Sie wirklich gegen Uploadfilter wären, vielleicht nicht der Protokollerklärung der GroKo mit Ihrem Antrag zustimmen. ({9}) Wer so ein falsches Spiel treibt wie die GroKo, muss sich am Ende auch nicht wundern, wenn Hashtags wie #niemehrCDU oder #niemehrspd in den sozialen Medien trenden. Zu dem Thema höre ich aber von der sogenannten Alternative nichts. Ich höre auch nichts von den unrühmlichen Errungenschaften, die die Urheberrechtsreform sonst noch teilweise mit sich bringt: das Leistungsschutzrecht, das hier nicht funktioniert, die unzureichenden Ausnahmen von Filterpflichten für Start-ups und den innovativen Mittelstand. Das zeigt mir: Sie sind wieder einmal nicht an der Sache interessiert, sondern Sie versuchen, jetzt hier auf einer Empörungswelle noch nachzureiten. Das werden Sie nicht schaffen, meine Damen und Herren. Die Haltung von uns Freien Demokraten ist klar: Wir stehen klar gegen Uploadfilter. Wir werden das auch weiterhin tun. Und Ihren Antrag lehnen wir ab; denn er ist fachlich schlecht, unglaubwürdig, belegt Ihre fundamentale Unkenntnis bei dem Thema und ist genauso aus der Zeit gefallen wie Rechtspopulisten. ({10}) Herzlichen Dank. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der SPD ist der Kollege Florian Post. ({0})

Florian Post (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie wichtig der AfD dieses Thema ist, sieht man schon daran, dass der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Herr Brandner, Mitglied der AfD, dieser Debatte mal wieder fernbleibt. ({0}) Ich glaube, auch das spricht Bände und sollte in diesem Zusammenhang gleich zu Beginn dieser Debatte mal erwähnt werden. ({1}) – Ja, wo ist er denn? Ist er hier, oder ist er nicht da? Dass die Debatte über Uploadfilter sehr emotional geführt wird, ist gut und richtig. Sie wurde auch bei uns innerhalb der Partei sehr emotional und sehr ausgiebig geführt. Ich finde aber, dass wir hier den falschen Titel wählen. Es geht zunächst mal um die Umsetzung einer Richtlinie. Es bleibt zu Beginn natürlich auch festzustellen, dass unser derzeit geltendes Urheberrecht veraltet ist und einer Anpassung bedarf. Es geht hier um die Abwägung von Interessen: Rechte von Urhebern zu schützen, aber auch die Meinungs- und Informationsfreiheit nicht einzuschränken. Es geht also um Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Auf europäischer Ebene wurde ebenfalls circa zweieinhalb Jahre diskutiert, und auch innerhalb der europäischen Parteienfamilien wurde sehr intensiv diskutiert. Das zeigt nur, dass wir uns alle die Debatte um dieses Thema nicht einfach machen. Allerdings muss man auch betonen, dass freies Internet nicht mit Kostenfreiheit zu verwechseln ist. Es geht uns ausdrücklich darum, dass wir Geschäftsmodelle, die sich ausschließlich darauf gründen, durch Uploads von urheberrechtlich geschützten Inhalten Geld zu verdienen, einschränken wollen. Wir als SPD machen kein Geheimnis daraus, dass wir Uploadfilter ablehnen. Daher haben auch die SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament gegen Uploadfilter gestimmt. ({2}) Allerdings – das gehört halt auch zur Demokratie – hatten wir für diese Position keine Mehrheit. Deswegen geht es jetzt umso mehr darum, wie die Umsetzung dieser Richtlinie im Detail aussieht. Daher hat die Justizministerin, Katarina Barley, richtig gehandelt, als sie ihre Zustimmung zur Richtlinie mit einer Protokollerklärung verknüpft hat, in der sie – ich habe es gerade schon erwähnt – auch ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass es um die Verhinderung von Geschäftsmodellen geht, die sich ausschließlich darauf gründen, mit den Uploads urheberrechtlich geschützter Inhalte Geld zu verdienen, und dass es natürlich auch darum geht, unzulässiges Löschen von vornherein gar nicht erst möglich zu machen. Das kann beispielsweise dadurch passieren, dass Personen, die Uploads vornehmen, gleich darauf hinweisen, dass sie keine urheberrechtlich geschützten Inhalte hochladen. Wichtig ist für uns auch – darum geht es uns ebenfalls –, dass Plattformen oder Dienste wie Wikipedia, Blogs, Foren, Messenger-Dienste, Verkaufsportale oder auch Cloud-Dienste davon nicht betroffen sind und keine Einschränkungen erfahren. Letztendlich wird zu Artikel 17 Absatz 10 in der Protokollerklärung festgehalten, dass die Bundesregierung davon ausgeht, dass der Dialog der Kommission mit allen Interessengruppen genutzt wird, um Leitlinien zur Anwendung des Artikels 17 zu entwickeln, und dass letztlich eine faire Vergütung für die Rechteinhaber, für die Kreativen, erfolgt und nicht unzulässigerweise Nutzerrechte verletzt werden. ({3}) Einschränkungen der Meinungsfreiheit – auch darauf können Sie sich verlassen – wird die SPD nicht zulassen. Wir werden das mit Entschiedenheit zu verhindern wissen. In diesem Sinne wollen wir auch die weitere Debatte auf einer sachlichen Ebene weiterführen und das Ganze zu einem konstruktiven Ergebnis führen. Danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über Uploadfilter und die Gefahren für Demokratie und Meinungsfreiheit haben wir hier schon mehrfach und mit großer Leidenschaft diskutiert. Was aber eigentlich fehlt, ist eine Debatte hier in diesem Hause darüber, was die Reform den Kreativen, den Urhebern und Urheberinnen tatsächlich bringen könnte. Ihre Interessen waren sozusagen immer die Fahne, hinter der diese Reform vertreten worden ist. Wird denn nun auch alles gerechter für die Urheberinnen und Urheber oder nicht? Nach meiner Einschätzung mitnichten. Die Interessen der Kreativen sind zwischen den verschiedenen Verwertungsinteressen genauso zerrieben worden wie die der Nutzerinnen und Nutzer. Lassen Sie mich das einfach mal an ein paar Beispielen belegen. Erstens. Abgearbeitet wurde vor allem die Wunschliste der Verlage, so das Leistungsschutzrecht für Presseverlage und die Verlagsbeteiligung. Zu beidem gibt es in Deutschland bereits höchst fragwürdige Erfahrungen. In Deutschland hat es eben keine besseren Vergütungen für Autoren bzw. Journalisten und Journalistinnen nach Einführung des Leistungsschutzrechtes gegeben. Und gegen die Verlagsbeteiligung hat wohlgemerkt ein Urheber geklagt, und er hat recht bekommen. ({0}) Nunmehr wird sie wieder möglich, muss aber erneut – nicht auf EU-Ebene, sondern in Deutschland – verhandelt werden, und der Ausgang ist völlig offen. Zweitens. Auch im Urhebervertragsrecht sind die Rechte der Kreativen gegenüber den Verwertern nicht gestärkt worden. Vielmehr sind auf Druck der Verlagslobby gute Ansätze, die mal drin waren, rausgestrichen worden. Einige glauben nun, mit der Reform seien sie die Gewinner. Sie werden vermutlich ziemlich ernüchtert feststellen, dass sie immer noch nicht vor einem Ausverkauf ihrer Rechte durch Total-Buy-out-Verträge geschützt sind. Ihre neuen Informationsrechte bringen eben keine hinreichenden Kenntnisse darüber, was eigentlich mit ihren Werken passiert bzw. wie sie genutzt werden. Also können sie auf dieser Basis kaum weitere Forderungen für bessere Vergütungen begründen. Drittens. Viel wurde von kollektiven Lizenzen und neuen Schranken geredet. Kreative sollten an den Einnahmen der Plattformen beteiligt werden. Aber: Die Richtlinie sieht das so gar nicht vor, und alle Versuche, die entsprechenden Regelungen hineinzuschreiben, sind abgewehrt worden. Nichts in der Richtlinie erleichtert Lizenzvereinbarungen – schon gar keine europaweiten. Nichts in der Richtlinie erlaubt neue Schranken, die an der Stelle solcher Lizenzvereinbarungen stehen könnten. Nichts in der Richtlinie führt dazu, dass Kreative gerechter an den Erlösen aus solchen Vereinbarungen beteiligt werden. ({1}) Und schließlich viertens. Die Richtlinie orientiert sich ausschließlich an klassischen Geschäftsmodellen zwischen den Kreativen und den Verwertern. Es geht gar nicht um eine direkte Vergütung von Kreativen, sondern stattdessen um mehr Geld für Verlage und Verwertungsgesellschaften. Das ist doch das eigentliche Ziel gewesen. Was diese dann gnädigerweise weitergeben, ist völlig offen und muss wieder hart verhandelt werden. Wer hier also darüber hinaus alternative, netzbasierte Publikationen vorzieht, geht erst recht leer aus. Und zudem muss er sich dann noch mit den Uploadfiltern herumschlagen. Fazit: Uploadfilter zu verhindern oder einzuschränken, ist eine Aufgabe, die es zu erfüllen gilt. Eine andere Aufgabe ist es, Kreativen sowie Urheberinnen und Urhebern bessere Vergütungen zu sichern. Das bleibt nach wie vor, auch nach der EU-Copyright-Reform, im Wesentlichen eine Aufgabe auf nationaler Ebene. ({2}) Meine Damen und Herren, demzufolge sind wir, auch sechs Jahre nach Beginn dieser Verhandlungen, von einer echten Urheberrechtsreform für die Kreativen, für die Nutzenden, für eine moderne und gerechte Informationsgesellschaft genauso weit entfernt wie vor diesen sechs Jahren. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Tabea Rößner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich die Plenarplanung gesehen habe, dachte ich erst, die AfD-Fraktion habe den TOP nur als Platzhalter aufgesetzt. ({0}) Aber Sie wollen tatsächlich noch einmal über die Urheberrechtsrichtlinie reden, obwohl wir das ja in den vergangenen Wochen schon mehrmals getan und unsere Position auch ausgiebig ausgetauscht haben. ({1}) Nun, Sie sind bei Ihrer Themensetzung nicht gerade für Kreativität bekannt. ({2}) Der Antrag kann in drei Sätzen zusammengefasst werden. Erstens spielen Sie sich als Garant der Meinungsfreiheit auf. Zweitens betreiben Sie unwürdiges Europa-Bashing. ({3}) Und drittens übernehmen Sie die fadenscheinige Selbstverpflichtung der Bundesregierung. Alles in allem: nichts Neues, nichts Konstruktives, nichts, was uns in der Debatte weiterbringt. ({4}) Da kann man nur sagen: Wer Blau wählt, bekommt halt nur heiße, verpestete Luft. ({5}) Dass Sie sich als Garant der Meinungsfreiheit sehen, ist schon bemerkenswert. Da muss man schon mehr machen, als Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu zitieren. Meinungsfreiheit muss gelebt werden. Es bedeutet, die Meinung anderer zuzulassen. Es bedeutet auch Meinungsvielfalt. Aber bei jeder Gegenrede schreien Sie auf, und einige Funktionsträger von Ihnen versuchen sogar, auf die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einzuwirken, wie das jetzt auch in Österreich zu beobachten ist. Das ist alles andere als Meinungsfreiheit, das bedeutet auch einen Eingriff in die Rundfunkfreiheit, und das darf nicht sein! ({6}) Sie schreiben in Ihrem Antrag, die EU sei „den wahren Auswirkungen im Alltag“ der Bürgerinnen und Bürger „entwachsen“. Wenn eines sicher ist, dann das, dass Sie in die Auseinandersetzung über die wahren Probleme nie hinein gewachsen sind. Wo ist denn beispielsweise Ihr Konzept, wie der Klimakrise begegnet werden soll? Sie verweigern sich doch gerade der konstruktiven Auseinandersetzung. Und darin liegt auch der wahre Grund Ihres Antrags. Ihnen geht es nicht um eine sachliche Debatte zum Urheberrecht im digitalen Zeitalter. Die Interessen der Kulturschaffenden kommen in Ihrem Antrag überhaupt nicht vor. Dabei ist doch ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen der Nutzerinnen und Nutzer und der Kulturschaffenden im digitalen Raum so zentral und wichtig. ({7}) Ihnen geht es nur um eines, nämlich ums EU-Bashing. Der Versuch, unter dem Deckmantel eines Sachthemas Ihre Antieuropapropaganda zu betreiben, ist mehr als offensichtlich. Woher kommt sonst die Dringlichkeit dieses Antrags? Die Urheberrechtsrichtlinie ist beschlossen. Die Mitgliedstaaten müssen sie innerhalb von zwei Jahren umsetzen. Etwas inhaltlich Neues, geschweige denn etwas Überraschendes oder eine Lösung tragen Sie nicht dazu bei. Die Europawahl steht an, und da wollen Sie auch mit diesem Antrag Ihren europafeindlichen Wahlkampf in den Bundestag tragen. Sie kreiden der EU den Schlingerkurs der Bundesregierung bei diesem Thema an. Damit heulen Sie aber den falschen Mond an. Beschweren Sie sich also bei den Verantwortlichen: bei Katarina Barley, Julia Klöckner und Angela Merkel. ({8}) Ihre Forderung, Uploadfilter auszuschließen und sonst die EU-Richtlinie nachzuverhandeln, ist auch nicht neu. So ähnlich steht es bereits in der Protokollerklärung der Bundesregierung, nur ist die deutlich differenzierter und erwähnt immerhin die Interessen der Kulturschaffenden. Sie aber käuen nur wieder, was andere vor Ihnen schon besser gesagt haben. Die kostbare Plenumszeit sollte besser für sachliche Arbeit genutzt werden. ({9}) Zusammenfassend können wir sagen: viel Papier, keine Inhalte. Seien Sie doch wenigstens dann so ehrlich wie die Partei Die PARTEI, die auf ihre Plakate schreibt, dass sie Inhalte überwinden will. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Motschmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte heute Abend den Blick gern noch einmal auf diejenigen richten, um die es geht. Das sind nämlich die Kreativen, die Künstlerinnen und Künstler, die Sie nie sehen oder denen Sie offenbar nicht begegnen. Aber als Sprecherin für Kultur und Medien bin ich deren Anwältin. Das möchte ich hier zum Ausdruck bringen. Es geht mir um die Werke unserer Komponisten, die Bücher unserer Schriftsteller, die Filme unserer Produzenten und Regisseure und auch um die Artikel unserer Journalisten. Geistiges Eigentum – das müsste eigentlich Konsens sein; das hoffe ich jedenfalls – ist genauso zu schützen wie das materielle Eigentum. ({0}) Wir können uns doch nicht darüber beschweren, dass die Chinesen unsere Patente stehlen und plagiieren, wenn wir selbst unsere Künstler und Kreativen ihres geistigen Eigentums berauben. Die Union steht ganz klar an der Seite der Kreativen. Und die Union ist gleichzeitig die einzige politische Kraft, die einen fundierten Vorschlag zur nationalen Umsetzung ohne Uploadfilter gemacht hat. ({1}) Wir wollen die Uploadfilter nicht. Wir wollen andere Wege gehen, und es gibt auch andere Wege; die haben wir aufgezeigt. Das Internet ({2}) nimmt vielen Kreativen die Möglichkeiten, zu verdienen, und nimmt ihnen mehr, als es ihnen bietet. Das wird über kurz oder lang dazu führen, dass wir die Armut bei vielen Künstlern noch vergrößern. Ich will das nicht; Sie wollen das vielleicht. Dann haben wir am Ende weniger Künstler, aber immer mehr Überlebenskünstler. Ich möchte, dass die Kreativen wirklich mit ihren Werken, mit ihrer geistigen Arbeit verdienen. Die kulturelle und die geistige Verarmung könnten voranschreiten, wenn wir das Urheberrecht nicht auf die neue digitale Welt einstellen. ({3}) Genau das ist mit dem gemeint, was beschlossen wurde. Meinungsfreiheit wollen wir doch nicht verlieren. Wer will das denn? Kein Mensch will das. ({4}) – Die sind sehr wohl darin. Es geht um einen fairen Ausgleich zwischen beiden Seiten. Aber Sie reden immer nur über das Netz, und ich rede über die Künstler. ({5}) – Ja, ich habe genau zugehört. ({6}) Diese Künstler prägen übrigens das geistige Klima in unserem Land. Deshalb müssen wir sie gut behandeln. Die angeblichen Verteidiger der Meinungsfreiheit im Netz machen sich einen zu schlanken Fuß. Zur Frage, wie die Urheber zu ihren Erlösen oder zu ihrem Broterwerb kommen, habe ich aus der Netzgemeinde bislang herzlich wenig gehört. Das, was ich in Diskussionen dazu gehört habe, war ziemlich schlimm. Wir hören immer nur, was alles nicht geht. Machen wir uns doch nichts vor: Es wird doch schon gefiltert. Ich selbst bin die größte Verteidigerin der Meinungsfreiheit. Aber diese Freiheit ist doch bereits eingeschränkt, weil es viele Dinge gibt, die schon jetzt – Gott sei Dank – rausgefiltert werden, wie Kinderpornografie und vieles andere.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Motschmann, setzen Sie bitte den Schlusspunkt.

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin, und versuche, den Rest meiner Rede in wenige Sätze zu fassen, ({0}) obwohl das nicht so leicht ist. Ich verstehe nicht, warum man allein ein Augenmerk auf das Geschäft von Google, Facebook und Co legt und warum man die Interessen der Künstler und der Kreativen nicht sehen will.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie können selbstverständlich weiterreden, aber das tun Sie jetzt auf Kosten der Redezeit Ihres Kollegen.

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, das will ich doch nicht. ({0}) Ich höre auf und freue mich auf die nächsten Reden. Ich bin sehr zufrieden mit dem – das sage ich auch im Namen meiner Fraktion –, was wir in der EU beschlossen haben. Ich bin sicher, dass wir jetzt zu einer guten Umsetzung im Land kommen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Saskia Esken das Wort. ({0})

Saskia Esken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! Ich hatte einen Traum und träumte von Uploadfiltern. ({0}) Ich bin in einem Copy-Shop, ({1}) um mein Flugblatt für einen Infostand zu vervielfältigen. Ich lege also mein kreatives Schneide- und Klebewerk auf den Kopierer, tippe ein: „200 Kopien“, und drücke auf Start. Der Kopierer scannt das Original. Ich warte darauf, dass der Papiertransport endlich losgeht – und dann passiert gar nichts. ({2}) Ich will schon zum Counter gehen und mich beklagen, da kommt eine Fehlermeldung: „Error 17 – Copy denied“. Wie jetzt, Kopie abgelehnt? Der Mitarbeiter erklärt mir ganz zerknirscht, in meinem Original sei wohl ein urheberrechtlich geschützter Inhalt erkannt worden, für den der Gerätehersteller leider keine Lizenzvereinbarung hat. Nein, er kann jetzt auch nicht erkennen, was an meinem Bastelwerk tatsächlich geschützt sein soll, ({3}) aber da könne man nichts machen. Verrückte Geschichte? Ich glaube, mein Traum hat mir die Sache mit den Uploadfiltern für die analoge Welt erklärt. Was beim Kopierer völlig absurd klingt, soll im Netz Wirklichkeit werden: Artikel 17 der EU-Urheberrechtsrichtlinie verpflichtet digitale Plattformen nicht nur zur Vereinbarung von Lizenzen mit allen Urhebern dieser Welt – das sind doch ein paar mehr, als man sich das ausmalen mag –, sondern macht sie auch für die Uploads ihrer Nutzer haftbar. Die Plattformen können dieser Haftung nur entgehen, wenn sie Maßnahmen ergreifen, um nichtlizenzierte Uploads zu verhindern. Das ist ohne Uploadfilter, so die einhellige Meinung, kaum zu machen. In der Sache geht es nicht nur um den wichtigen Ausgleich zwischen Urheberrecht und Meinungsfreiheit, sondern vor allem geht es um das, was wir immer fordern: dass Menschen im Netz nicht nur als Nutzer, als Verbraucher agieren, sondern auch als Gestalter. Es geht um die Kreativität des Netzes, es geht um Netzkultur – Netzkultur, die so ein Uploadfilter niemals erkennen kann. Für die Fairness gegenüber Kulturschaffenden, Kreativen und Urhebern, um die es heute schon so oft gegangen ist, gibt es beim Kopierer mit Geräteabgabe und Pauschalvergütung gute Lösungen, die hier zwar auch zur Debatte standen, die sich am Ende aber nicht durchsetzen konnten. Das ist schade. Was bleibt, ist Schadensbegrenzung. Die Union hat einen Vorschlag erarbeitet, der den Schaden in der nationalen Umsetzung begrenzen will. Wir glauben, dass es nicht funktionieren wird. Wir halten aber auch sonst nicht viel von diesem Vorschlag, weil es eine nationale Umsetzung ist. Wir wollen kein Netz der nationalen Netze. Wir wollen den digitalen Binnenmarkt Europa stärken und nicht zerklüften. ({4}) Wir wollen, dass im vereinten Europa und insbesondere im digitalen Europa einheitliches Recht gilt und dass dieses Recht einheitlich umgesetzt wird. Außerdem wollen wir uns gar nicht ausmalen, wie der enge Freund der Kollegen von der AfD, Viktor Orban, die Anordnung von Uploadfiltern gegen Meinungsfreiheit und Pressefreiheit einsetzen könnte. ({5}) Insofern sage ich zum Antrag der AfD nur so viel: Mit Freunden von diesem und anderen Autokraten, die Demokratie und Freiheitsrechte mit Füßen treten, debattiere ich nicht über Meinungsfreiheit. Mit Leuten, die Meldeportale für unliebsame Pädagogen betreiben und schwarze Listen von AfD-kritischen Journalisten führen, debattiere ich nicht über Meinungsfreiheit. ({6}) Was bleibt, ist also, wie gesagt, Schadensbegrenzung, aber bitte auf europäischer Ebene. Die Regierung hat in ihrer Protokollerklärung zum Beschluss der Richtlinie klargemacht: Wir wollen den Artikel 17 ohne Uploadfilter umsetzen, aber in ganz Europa. – Möglicherweise müssen wir dazu – und zwar noch innerhalb der Umsetzungsfrist – auch den rechtlichen Weg für Pauschallizenzen ebnen. Wenn alle Stricke reißen, dann wollen wir zumindest klare Regeln dafür haben, wie Nutzer sich gegen die Ablehnung eines Uploads wehren können. So oder so bin ich der Überzeugung – anders als andere hier im Haus –: Unser Kampf für ein zeitgemäßes, faires, Freiheitsrechte wahrendes und kreativitätsfreundliches Urheberrecht im Netz ist mit der Umsetzung dieser Richtlinie noch lange nicht beendet. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Kamann. ({0})

Uwe Kamann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004772, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kollegen! Werte Besucher! Liebe Kollegen von der AfD! ({0}) Wenn ein Mitarbeiter aus meiner Firma zu mir kommt und Kritik übt, höre ich mir die sehr gerne an. Aber wenn er keine konstruktiven Lösungsvorschläge hat, dann schicke ich ihn wieder zurück, weil er seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Das Gleiche müsste man mit Ihnen und Ihrem Antrag machen. ({1}) Ja, Meinungsfreiheit ist unverzichtbar. Ich habe aber kein Anrecht darauf, dass jeder meine Meinung weiterverbreiten muss. ({2}) Keiner kommt auf die Idee, von der Tagesschau zu verlangen, dass Jan Hofer seine Meinung abends im TV vorlesen soll, und, wenn er das nicht macht, den Untergang der freien Welt zu beschwören. Warum sollte das in der digitalen Welt anders sein? Liebe Kollegen, es gibt keinen Rechtsanspruch auf Veröffentlichung. Portale wie YouTube stehen nun in der Haftung, wenn Urheberrechtsverletzungen bei ihnen stattfinden. Problematisch sind dabei vor allem die Automatismen. Es geht bei Datenmassen aber leider nun mal nicht ohne technische Hilfsmittel, und das sind die verhassten Uploadfilter. Sie, liebe GroKo, können an der Umsetzung schrauben, wie Sie wollen. Am Ende werden technische Hilfsmittel eingesetzt. Das müssen die Unternehmen so machen; das nennt man Risikovorsorge. Oder Sie entbinden die Unternehmen von ihrer Haftung. Zur Wahrheit gehört aber auch: Solange die Filter technisch ungenügend ausgereift sind, werden zwangsläufig manche Dinge zu Unrecht nicht hochgeladen. Aber das ist ein Problem, das technisch zu lösen ist und keine bewusste Zensur. Noch etwas, werte Kollegen von der AfD: Machen Sie sich doch bitte vorher Gedanken, wie eine konkrete Lösung für ein konkretes Problem aussehen könnte. Immer nur zu kritisieren, ohne angemessene Lösungsvorschläge zu machen, hat mit konstruktiver Sachpolitik für unsere Bürger jedenfalls nichts zu tun. Danke schön. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Matthias Hauer das Wort. ({0})

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Musiker, Autoren und andere Urheber angemessen zu vergüten, sie an den Einnahmen der großen Internetplattformen zu beteiligen, die Rechte der Kreativen zu stärken – über diese Ziele sind sich hier alle weitgehend einig. An der Frage, wie man diese Ziele erreicht, scheiden sich dann die Geister. Das Ganze hat sich an Artikel 13 und Artikel 17 sicherlich entzündet. Ich persönlich habe mich von Anfang an gegen diesen Artikel 13 ausgesprochen. Und natürlich war auch ich enttäuscht über die Zustimmung des Europäischen Parlaments, über die mehrheitliche Zustimmung von EVP, Liberalen und Sozialdemokraten und über die Zustimmung von SPD-Ministerin Katarina Barley im Ministerrat. Über hunderttausend Menschen sind gegen Artikel 13 auf die Straße gegangen, sogar weit mehr haben die Onlinepetition unterzeichnet. Es gab sehr viele kritische Stimmen, und die haben wir ernst zu nehmen. Und mein Eindruck war: Es sind gerade die jungen Leute, die sich in dieser Debatte besonders gut auskennen. Während sich die einen Politiker – das haben wir auch in der heutigen Debatte wieder gemerkt – darauf konzentrieren, die europäische Entscheidung zu betrauern und nach hinten zu schauen, haben wir als CDU/CSU die gegensätzlichen Positionen intensiv diskutiert und diese Sorgen aufgenommen. Wir schauen nach vorne. Auf Initiative unseres Generalsekretärs haben wir gemeinsam mit den Digitalpolitikern, den Rechtspolitikern einen Kompromiss für die nationale Umsetzung erarbeitet. Vieles davon findet sich auch in der gerade schon oft angesprochenen Protokollerklärung der Bundesregierung wieder. Unser Vorschlag ist ein guter Kompromiss, um Uploadfilter überflüssig zu machen, gleichzeitig Internetplattformen in die Pflicht zu nehmen, die bislang hohe Gewinne mit dem geistigen Eigentum anderer erzielen. ({0}) Und wer einen besseren Vorschlag hat, der möge ihn auf den Tisch legen, spätestens – da haben Sie ja noch ein bisschen Zeit – im Gesetzgebungsverfahren. Wie funktioniert das CDU-Modell? Es gilt der Grundsatz „Bezahlen statt blocken“. Damit können erst einmal alle Inhalte hochgeladen werden. Unterhalb einer zeitlichen Grenze sind Uploads in jedem Fall gebührenfrei. Oberhalb der Grenze muss die Plattform für urheberrechtlich geschützte Inhalte Lizenzen erwerben. Die Urheber kennzeichnen ihre Werke mit einem digitalen Fingerabdruck, womit jeder Urheber die Möglichkeit hat, eine Vergütung oder Löschung zu verlangen oder auf seine Ansprüche zu verzichten. Im Übrigen soll eine Pauschallizenz gelten. Das alles bewegt sich auch im Rahmen unseres nationalen Umsetzungsspielraums. Das Ausschöpfen eines solchen Spielraums ist eben kein Verstoß gegen Europarecht. Wir sollten mit Hochdruck an der nationalen Umsetzung arbeiten, damit das deutsche Gesetz zum Vorbild werden kann, EU-weit gegen Uploadfilter und Overblocking konsequent vorzugehen. Als CDU/CSU machen wir uns für eine faire Vergütung für Urheber stark, für ein freies Internet mit unzensierten Kommunikationswegen, für Rechtssicherheit auch im Netz und für starke Nutzerrechte. Daran sollten wir im Deutschen Bundestag gemeinsam arbeiten. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/9969 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Sabine Weiss (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004187

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf stellen wir die Ausbildung in der nichtärztlichen Psychotherapie auf eine neue Grundlage. Zugleich verbessern wir die psychotherapeutische Versorgung. Vorgesehen sind ein dreijähriges Bachelor- und ein zweijähriges Masterstudium. Dieses fünfjährige Studium findet an Universitäten statt, die mit ihren bewährten Strukturen den Systemwechsel am besten gewährleisten. Das Studium wird mit einer staatlichen Prüfung abgeschlossen. Sie wird Voraussetzung für die Erteilung der Approbation. Die Prüfung wird sich selbstverständlich auf die Feststellung der zur Ausübung des Berufes erforderlichen Handlungskompetenzen konzentrieren. Mit der Approbation werden das Führen der Berufsbezeichnung und die Ausübung der heilkundlichen Psychotherapie erlaubt. Die Berufsbezeichnung „Psychotherapeutin“ und „Psychotherapeut“ führen wir dabei neu ein. Der neue Studiengang soll dann zum Wintersemester 2020 erstmals angeboten werden. Inhaltlich ist das Studium breit angelegt; das wird vor allem die Approbationsordnung zeigen, die wir noch entwickeln. In ihr wird es verpflichtende Vorgaben für eine Ausbildung in allen wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren geben. Dabei wird auf Anteile praktischer Arbeit geachtet. Theorie und Praxis werden von Anfang an miteinander vernetzt. Wie bisher bleibt die wissenschaftliche Anerkennung psychotherapeutischer Verfahren im Berufsrecht Aufgabe des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie. Nach dem Studium ist dann für die Phasen der Weiterbildung zu entscheiden, ob die berufliche Zukunft in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen oder Erwachsenen liegen soll und welches therapeutische Verfahren vertieft wird: Verhaltenstherapie, Psychoanalyse oder ein anderes anerkanntes Verfahren. Diese Weiterbildung ist wichtig; denn den Zugang zur Versorgung erhalten nur Fachpsychotherapeutinnen und Fachpsychotherapeuten. Ich möchte noch kurz weitere Beispiele für Verbesserungen durch das Gesetz nennen. So können zukünftige Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten während der Weiterbildung in einem Angestelltenverhältnis in der Versorgung tätig sein. Außerdem räumen wir Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, entsprechend ihren erworbenen Kompetenzen, mit Ergotherapie und psychi­atrischer Krankenpflege neue Verordnungsbefugnisse ein. Und wir beauftragen den Gemeinsamen Bundesausschuss, eine berufsgruppenübergreifende koordinierte Zusammenarbeit der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten mit anderen Leistungserbringern zu regeln, damit Patientinnen und Patienten schnell die für sie richtige Behandlung erhalten. Die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten leisten einen wichtigen Beitrag zu unserer Gesundheitsversorgung. Ich denke, mit diesem Gesetz schaffen wir für sie eine eigenständige und fundierte universitäre Ausbildung. Damit wird ihre Qualifikation noch besser und ihr Beruf noch attraktiver. Das ist für Therapeutinnen und Therapeuten und Patienten gleichermaßen gut. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist ein weiteres wichtiges Gesetz für eine sichere Versorgung. Politik soll Dinge verbessern, die verbessert werden können. Hier können wir etwas verbessern und bitten Sie deshalb um zügige und konstruktive Beratungen. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Robby Schlund für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Der Erkenntnisprozess in der Psychologie ist ein fließender und setzt ein hochkomplexes und integratives Verständnis der Funktion, Dynamik und Struktur der Seele voraus. In diesem Erkenntnisprozess sind zusätzlich noch vergangene, gegenwärtige und visionale Ebenen verwoben. „Der Psychologe muss Mechaniker sein – vor, während und nach dem Gespräch“, sagte Walter Fürst einmal. Glauben Sie, dass Sie mit der Verkürzung der praktischen Ausbildung genau dieser oben erwähnten Komplexität, Integrativität und dem psychotherapeutischen Handwerkszeug gerecht werden können? Ich glaube das eher nicht. Bleiben wir doch gleich mal bei dem Handwerkszeug, zum Beispiel dem Gespräch. Haben Sie sich jemals Gedanken gemacht, meine Damen und Herren, wie ein Gespräch zwischen zwei Menschen abläuft? Ich werde Ihnen ein kurzes Beispiel geben. Stellen Sie sich vor: Es treffen sich zwei Kinder. Der Vater des einen Kindes ist Pfarrer; der Vater des anderen Kindes ist Tischler. Sie stehen vor einem Tisch, und die Sonne scheint. Da sagt das Kind, dessen Vater Pfarrer ist: Die Sonne scheint auf den Tisch. – Das Tischlerkind wiederum sagt: Da ist ein Tisch, auf den die Sonne scheint. – Wissen Sie, was der Unterschied ist? Der Unterschied ist, dass die Bewertung des Gesprächs bei den Kindern völlig unterschiedlich ist. Jetzt stellt sich die Frage, wie das erst bei unterschiedlichem Sprachniveau aussehen soll, wenn bei einem solchen Gespräch schon große Differenzen bestehen. Meine Damen und Herren, daran sehen Sie, dass es gar nicht so einfach ist, in dieser Mischung aus nonverbaler und verbaler Kommunikation komplexe Krankheitsbilder wie Psychosen und psychische Störungen zu erkennen. In einem Ihrer Gesetzentwürfe zum TSVG – Herr Spahn ist leider nicht da – wurde aufgrund der langen Wartezeiten schon einmal der Vorschlag gemacht, eine gestufte und gesteuerte Versorgung bei Psychotherapeuten einzuführen. Dagegen sprachen sich der Bundesrat sowie circa 200 000 Unterzeichner einer Petition aus. Jetzt wird erneut zum Schlag ausgeholt. Beim Psychotherapeutenausbildungsreformgesetz und dem Thema „koordinierte und strukturierte Versorgung“ kommen Sie, Herr Spahn – er ist leider nicht da –, durch die Hintertür. Nicht nur das: Sie kommen auch wieder mit Reformen zulasten der Patienten. Der Spitzenverband ZNS lehnte den Gesetzentwurf mit folgenden Worten ab – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –: Es werden mit dem Reformansatz keine Probleme gelöst, sondern neue geschaffen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde verlangt eine komplette Neuausrichtung des Gesetzentwurfs, und auch die Bundesärztekammer spricht von vielen ungeklärten Fragen. Das Ziel, die Attraktivität der Ausbildung zum Psychotherapeuten zu steigern, wird mit dem Gesetzentwurf leider nicht erreicht, meine Damen und Herren. ({0}) Der eigentliche Grund für die Reform des Ausbildungsprozesses ist der Bologna-Prozess, also die europäische Nivellierung, und zwar auf dem kleinsten gemeinsamen Niveau. Nicht nur das: Der Praxisanteil ist viel zu gering. Der Bundesrat führt dazu aus – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –: Im weiteren Gesetzgebungsverfahren sei zu prüfen, wie ein ausreichend großer Praxisanteil in der direkten Versorgung von Patientinnen und Patienten vor der Erteilung der Approbation gewährleistet werden kann. Wir fordern deshalb erstens die Erweiterung des Vollzeitstudiums um mindestens ein praktisches Semester, zweitens eine schriftliche länderübergreifende einheitliche Prüfung, in der auch Facharztkenntnisse überprüft werden, drittens eine verpflichtende Sprachprüfung für nicht deutschsprachige Bewerber auf dem Sprachniveau von mindestens C2, und viertens fordern wir als Anwalt der Patienten vor allen Dingen eines, meine Damen und Herren: mehr Patientensicherheit. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal: Dieses Gesetz, das wir heute einbringen, ist dringend notwendig; denn die Art und Weise, wie wir Psychotherapeuten ausbilden, ist im Prinzip seit 1998 so gut wie nicht mehr verändert worden. Seitdem hat sich die Lage aber massiv verändert. Die Methoden, mit denen heute Psychotherapie betrieben wird, sind vielfältiger und besser geworden, sind auseinandergegangen und haben sich weiterentwickelt. Vieles wird wissenschaftlich sehr viel besser verstanden, als das früher der Fall war. Die Forschung hat Fortschritte gemacht. Wir haben mittlerweile auch gelernt, dass in diesem Studium am besten gelernt werden kann, wenn man praktische Anteile und Theorie kombiniert und kein Praxissemester in das Studium integriert, sondern am Patienten unterrichtet wird. Auch in das Medizinstudium integrieren wir das immer stärker. Insgesamt gibt es eine faszinierende Entwicklung in der Psychologie und in der Psychotherapie. Die Belange entwickeln sich dort aber auseinander, weil die Psychologie zum Teil ganz neue Bereiche abdeckt, die in der Psychotherapie keinen Platz haben und umgekehrt. Man kann das Psychologiestudium und das Psychotherapiestudium in den ersten Studienjahren gut kombinieren. In späteren Studienjahren müssen sich die Disziplinen aber auseinanderentwickeln; denn dazu gehören ganz unterschiedliche, ich sage einmal, Leidenschaften, Kenntnisse und auch Fähigkeiten, die man entwickeln muss. Dem wird der moderne Ansatz, den wir hier entwickelt haben, gerecht. Wir haben daran Jahre gearbeitet – übrigens mit den Verbänden zusammen. Wir haben ein Studium selten so stark reformiert wie dieses, und zwar in Kooperation mit den betroffenen Verbänden, mit dem Fakultätentag Psychologie, mit den Psychologenverbänden, mit den Psychotherapeutenkammern, den niedergelassenen Psychologinnen und Psychologen und den Fachvertretern. Es ist über die Jahre hinweg gereift und besonders gut vorbereitet und findet derzeit auch sehr viel positive Resonanz. ({0}) Wir werden ja zu Recht zumindest für die Einbeziehung aller Betroffenen gelobt. Wir haben Jahre daran gearbeitet. Ich kann Kritik daher zwar verstehen – das ist keine Frage; es ist noch nicht das endgültige Produkt –, aber ich nehme für uns in Anspruch, dass wir uns bei der Entwicklung eines Gesetzentwurfs selten so intensiv mit den Betroffenen und den Fachleuten, ja sogar mit den Auszubildenden abgestimmt haben. Ich komme zu dem zweiten Teil unserer Reform, nämlich zur eigentlichen Ausbildung. Derzeit besteht ein unhaltbarer Zustand. Derjenige, der das Studium hinter sich hat, aber noch nicht approbiert ist, geht danach in eine Ausbildung, während der er, wenn er überhaupt eine Vergütung bekommt, im Prinzip wie ein Praktikant vergütet wird. Er kann nicht arbeiten, obwohl er eigentlich schon Versorgungsaufträge übernimmt. Das ist sowohl für die Patienten als auch für die Auszubildenden eine unhaltbare Situation. Daher verändern wir das. Die Approbation erfolgt nach dem Studium, und dann folgt wie in der Zahnmedizin und in der Medizin eine klassische Weiterbildung, während der man unter Anleitung am Patienten arbeiten kann. Darauf bereitet dieses praxisorientierte Studium vor. Das ist eine ganz andere Qualität. Das ist genau das, was die Patienten sehen wollen. Das ist genau das, was auch für diejenigen würdig ist, die dieses Studium abgeschlossen haben. Nach fünf Jahren Studium mit Praxis­anteilen, die in das Studium integriert sind, ist man in der Lage, eine Weiterbildung zu machen, während der man unter Anleitung auch Patienten behandelt. So wird daraus ein richtig gutes, bezahltes, einheitliches Konzept von Studium und Weiterbildung. Wir werden die Finanzierung regeln. Wir werden die Zeiten regeln. Wir werden die Übergänge regeln. Wir werden auch dafür sorgen, dass diejenigen, die sozusagen noch in der Übergangsphase, also in der Ausbildung und noch nicht in der Weiterbildung, sind, nicht durch das Netz fallen. Wir werden auch das Steuerungsgesetz, das eben zur Sprache kam, einbringen. Darauf kann ich jetzt nicht eingehen; das wird mein Kollege machen. Wir wollen das, was Herr Spahn vorhatte, nicht. Wir wollen keine Steuerung im Sinne einer Delegation oder Facharztprüfung. Wir wollen vielmehr, dass die Steuerung aus dem System kommt. Sie muss von den Fachleuten, von den Psychotherapeuten selbst, geleistet werden. Dazu werden wir im Verbund mit den Betroffenen eine gute Lösung finden. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun Dr. Wieland ­Schinnenburg. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsidentin! Meine Damen und Herren! Keine Frage: Hier liegt ein vernünftiger Ansatz vor. ({0}) – Entschuldigung! Das fängt schon schlecht an. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Es liegt ein guter Ansatz vor. Es ist richtig, dass man analog zur Humanmedizin zunächst eine spezifische anspruchsvolle Ausbildung zum Psychotherapeuten macht, dann approbiert wird und anschließend in einer Weiterbildung die Sache vertieft. Es gibt aber ganz erheblichen Nachbesserungsbedarf, oder – um es in der Fachsprache zu sagen –: Das Psychotherapeutenausbildungsreformgesetz muss noch mal auf die Couch. Lassen Sie mich das an sieben Punkten näher erläutern. Der erste und wichtigste Punkt ist: Minister Spahn will, dass wir hier die Katze im Sack kaufen. Wir erfahren nichts Näheres über die Studieninhalte, und wir erfahren auch nicht, was in der Approbationsprüfung abgeprüft werden soll. Das heißt, Sie wissen eigentlich gar nicht genau, was am Ende passieren soll. ({1}) Dies, meine Damen und Herren, ist nicht akzeptabel. Zweiter Punkt. Es gibt einen viel zu geringen Praxisanteil. Wenn wir schon die Parallele zur Humanmedizin ziehen, dann muss ich sagen: Die Humanmediziner müssen ein praktisches Jahr absolvieren. Man kann darüber streiten, ob man ein praktisches Jahr braucht oder ob ein Praxissemester reicht. Das brauchen wir auf jeden Fall. Kurz gesagt: Man kann Psychotherapie nicht nur aus Büchern lernen, man muss auch am Menschen, am praktischen Fall lernen, wie es denn geht. Dies belegt nicht nur das Beispiel der Kinder von Pfarrern und Zimmerleuten, sondern das gilt bei allen Menschen. Deshalb wollen wir ein Praxissemester. Der dritte Punkt: die Prüfungen. Die Approbationsprüfung, wie sie bisher vorgesehen ist, ist einfach unzureichend. Wir fordern wie die Bundesärztekammer eine dritte Prüfung, eine schriftliche Prüfung, die sicherstellt, dass derjenige, der die Prüfung bestanden hat, am Ende auch in der Lage ist, selbstständig psychisch kranke Menschen zu behandeln. Das ist aus meiner Sicht derzeit nicht sichergestellt. Vierter Punkt. Minister Spahn zeigt ein weiteres Mal, wie wenig er von der Expertise von Fachleuten hält. Es gibt einen Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie, gebildet von Bundespsychotherapeutenkammer und Bundesärztekammer. Diesen Beirat gibt es; das ist gut. Aber im Gesetzentwurf steht nur, dass sich die Behörde bei der Anerkennung eines Verfahrens im Zweifelsfall in irgendeiner Weise darauf stützen kann. Das, meine Damen und Herren, ist zu wenig. Fachleute sollen sagen, was gebraucht wird, und nicht Minister Spahn in seinem Ministerbüro. ({2}) Fünfter Punkt. Wir fordern überall Transparenz. Diese Transparenz wird mit diesem Gesetz nicht hergestellt. Es gibt den einheitlichen Begriff des Psychotherapeuten, und Sie wissen als Patient nicht: Ist dieser Mensch in Psychotherapie ausgebildet worden, oder ist er in Humanmedizin ausgebildet worden? Deshalb wollen wir, dass die einen den Titel „Psychologischer Psychotherapeut“ führen und die anderen den Titel „Ärztlicher Psychotherapeut“. Das ist ein Grundgebot der Transparenz. Auch dieses wird mit diesem Gesetz verletzt. ({3}) Sechster Punkt. Ein ganz wesentliches Problem des derzeitigen Systems ist doch, dass die Psychotherapeuten in Ausbildung, freundlich formuliert, in einer finanziell ungünstigen Lage sind. Man könnte es auch ganz anders formulieren. An diesem Punkt tut der Minister nichts. Es muss doch wenigstens möglich sein, dass das Schulgeld, also die Bezahlung für die theoretische Ausbildung nach der Approbation oder nach dem Studium, nicht von den Studenten oder von den Auszubildenden selber getragen werden muss. Dazu finden wir im Gesetz ebenfalls nichts. Das entscheidende Problem wird nicht angegangen. ({4}) Siebter Punkt. Die halbseidene Lösung wird nicht etwa in Kürze greifen, sondern, wenn man es genau nimmt, erst in zehn Jahren. Noch in diesem Jahr und auch noch im nächsten Jahr werden Menschen ihre Ausbildung nach dem alten System beginnen und in genau dem Schlamassel stecken, in dem die Auszubildenden seit Jahren stecken. Was wir hier sehen, ist keine Lösung, sondern die Aufschiebung einer Lösung. Auch das, meine Damen und Herren, reicht nicht aus. Sie merken: Auf der Couch ist noch viel zu tun. Wir als Freie Demokraten, als Serviceopposition, sind gerne bereit, zu helfen. Lassen Sie uns aus einem guten Ansatz ein gutes Gesetz machen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sylvia Gabelmann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sylvia Gabelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004723, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Besucherinnen und Besucher! Dieser Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Psychotherapeutenausbildung kommt mindestens fünf Jahre zu spät. Immerhin hatte die Große Koalition schon 2013 eine Reform angekündigt. Den Preis für diese Untätigkeit – es wurde eben auch schon erwähnt – zahlen die Psychotherapeutinnen und -therapeuten in Ausbildung, die Jahr für Jahr unter prekären, untragbaren Bedingungen arbeiten, mit geringer oder gar keiner Bezahlung, häufig ohne soziale Absicherung. Umso unverständlicher ist es, dass es im Gesetzentwurf keine Übergangsregelung für die 20 000 Psychologinnen und Psychologen gibt, die in den nächsten Jahren noch die alte Ausbildung durchlaufen werden. Es ist doch einfach nur zynisch, zu sagen, die Menschen hätten ja vorher gewusst, was auf sie zukommt, und sie unter diesen Bedingungen weiterarbeiten zu lassen. ({0}) Die Linke fordert sofort umzusetzende Übergangslösungen für die Psychotherapeutinnen und -therapeuten in Ausbildung, um endlich die ausbeuterischen Bedingungen zu beenden. ({1}) Nicht nur die Übergangsregelungen fehlen bei diesem Gesetz, sondern auch ein Konzept für die Finanzierung der Weiterbildung. Es ist völlig unklar, wie im ambulanten Teil der Weiterbildung Ausbildungs- und Supervisionsstunden honoriert werden sollen. Die Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, wie etwa ein Fonds analog dem Förderfonds für ärztliche Weiterbildung, werden bewusst ignoriert. Die Linke bringt einen eigenen Antrag in diese Lesung ein, in dem wir fordern, endlich Übergangsregelungen und ein Konzept zur Finanzierung der Weiterbildung vorzulegen. Nicht nur Übergangsregelungen und Weiterbildungsfinanzierung sucht man vergeblich in diesem Gesetz, sondern auch einen Entwurf für eine Approbationsordnung. Das heißt: Herr Spahn hat ein unfertiges Gesetz abgeliefert. ({2}) Auch ohne die Approbationsordnung ist schon jetzt abzusehen, dass dieser Gesetzentwurf die gravierende Einseitigkeit im jetzigen Psychologiestudium fortschreiben wird. 59 der 60 Lehrstühle für Klinische Psychologie an staatlichen Universitäten sind mit Verhaltenstherapeuten besetzt. Das heißt, den Studierenden ist es nicht möglich, zwischen verschiedenen Psychotherapieverfahren eine fachkundig begründete Wahl zu treffen. Wir wollen daher ein Angebot verschiedener Verfahren, und wir wollen, dass alle Lehrenden die Fachkunde für ihr eigenes Verfahren nachweisen können. Nur so können sich die Studierenden frei zwischen den wissenschaftlich anerkannten Verfahren entscheiden, und nur so kann auch die Verfahrensvielfalt in der Versorgung der Patientinnen und Patienten gesichert werden. Es braucht wieder ein stärkeres gesellschaftskritisches Verständnis von Psychologie und Psychotherapie. Psychische Probleme sind auch ein Spiegel von gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen. Die angehenden Psychotherapeutinnen und -therapeuten sollten im Studium befähigt werden, über die individualisierte Sicht hinaus einen übergreifenden soziologischen Blick einzunehmen. ({3}) Das kommt mir in Ihrem Gesetzentwurf leider viel zu kurz. Legen Sie also endlich Übergangsregelungen, ein Konzept für die Finanzierung des ambulanten Teils der Weiterbildung und eine Approbationsordnung vor, und stellen Sie sicher, dass alle wissenschaftlich anerkannten Verfahren und auch in der Wissenschaft diskutierte Neuerungen in das Studium Eingang finden. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Maria Klein-Schmeink für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Werte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich ist das Thema weitaus dramatischer und schwerwiegender, als die etwas müde Debatte im Moment vermuten lässt. Das mal vorweg. ({0}) Wir müssen nämlich feststellen, dass wir dringenden Reformbedarf bei der Psychotherapeutenausbildung haben. ({1}) Dieser Reformbedarf ist nicht neu. Er fällt auch nicht vom Himmel, sondern er ist schon lange bekannt. Die Ergebnisse des Gutachtens, das die erste Große Koalition auf den Weg gebracht hat, wurden im April 2009 vorgestellt. Das heißt: Heute, zehn Jahre später, können wir froh sein, dass jetzt endlich ein Gesetzentwurf vorliegt, der Verbesserungen verspricht. Das ist erst mal gut. ({2}) Aber nach einem so langen Vorlauf ist ja die Frage: Werden die zentralen Probleme denn überhaupt gelöst? Und da muss man sagen: Dieser Gesetzentwurf springt erheblich zu kurz. ({3}) Meine Damen und Herren von SPD und Union, Sie haben noch einiges zu tun, um die zentralen Probleme wirklich zu lösen. Eines der zentralen Probleme ist natürlich, dass die Ausbildungssituation der PiAs, also der Psychotherapeuten in Ausbildung, dermaßen prekär ist, dass man sagen muss: Diese Ausbildung ist so etwas wie ein Hobby, das ich mir erlaube und das dazu führt, dass ich entweder von den Unterhaltsleistungen meiner Familie oder meines Lebenspartners oder meiner Lebenspartnerin abhängig bin, aber in keiner Weise von den Entgelten leben kann, obwohl ich 38 Stunden pro Woche in der praktischen Tätigkeit, in der Versorgung verbringe und zusätzlich die Ausbildung absolvieren muss und zusätzlich Supervisionsstunden nehmen muss und Ähnliches. Die allermeisten schließen diese Phase mit 20 000, 30 000 oder 40 000 Euro Schulden ab, und das für einen Beruf, für den ich erst ein Psychologiestudium absolviert habe und der gleichzeitig für die Patientenversorgung eine zentrale Stellung innehat. Das, meine Damen und Herren, kann kein zukunftsfähiges Konzept sein. Da muss was passieren. ({4}) Heute Morgen titelte die „Tagesschau“: Ist die Zeit der Hungerlöhne vorbei? – Ich muss leider sagen: Mit diesem Gesetzentwurf ist das nicht geregelt. Sie haben zwar für die praktische Tätigkeit in der stationären Versorgung eine Regelung geschaffen. Das führt auch dazu, dass der Praktikantenstatus für diese lange Zeit endlich ein Ende hat und wir zu einem Angestelltenstatus kommen können. Das ist das eine. Aber für die ambulante Weiterbildung haben Sie keinerlei Lösung. Dort drohen weiterhin Schulgeld und andere Belastungen. Das, meine Damen und Herren, kann so nicht bleiben. Da müssen Sie nachsteuern. ({5}) Zweiter Punkt. Wir werden parallel Psychotherapeuten in Ausbildung nach der alten Regelung haben und solche, die ab 2020 ins Studium gehen sollen und dann künftig Psychotherapeuten in Weiterbildung werden. Diese beiden Rechtszustände laufen parallel. Das heißt, in den Psychiatrien werden wir Menschen haben, die für ihre Tätigkeit bezahlt werden, und andere, die ein Praktikumsgehalt oder eine Praktikumsentschädigung bekommen ({6}) oder die gar, wie es heute für 19 Prozent der Fall ist, nur eine sozialversicherungspflichtig nicht abgedeckte Tätigkeit als Praktikant haben. ({7}) So kann das nicht weitergehen. ({8}) Weiteres: Eine Vielzahl derjenigen, die das Feld der Kinder- und Jugendpsychotherapie abdecken, werden heute an den Fachhochschulen ausgebildet, sind hervorragende Praktiker. Sie haben nicht sichergestellt, dass diese Fachhochschulen weiterhin in die Ausbildung einbezogen sind. Das schließen Sie aus, indem Sie sich ausschließlich auf die Universitäten konzentrieren. ({9}) Auch das ist nicht tragfähig. ({10}) Ich warte darauf, dass Sie auch da eine vernünftige Lösung vorlegen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Klein-Schmeink, achten Sie bitte auf die Redezeit.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben keinerlei Übergangslösung. Auch da werden Sie nachsteuern müssen. Von daher fordere ich von Ihnen: Überprüfen Sie den Gesetzentwurf insgesamt. Arbeiten Sie nach. Sorgen Sie dafür, dass wir eine tragfähige Lösung bekommen, und dann können wir schauen, wie wir weitermachen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Emmi Zeulner das Wort. ({0})

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir als Parlamentarier kennen das: Es kommt ein Referentenentwurf aus einem Ministerium, und in der Regel dauert es nur wenige Stunden, bis es Änderungsvorschläge von allen Seiten hagelt. Deshalb – gerade habe ich mich manchmal wie im falschen Film gefühlt – ist die Reform der Psychotherapeutenausbildung etwas Besonderes; denn hier bleibt die große Welle der Änderungswünsche vonseiten der Fachebene aus, da das Gesetz aus dem Gesundheitsministerium die Probleme nachhaltig löst. Der Tenor war durchweg positiv. Auf dem Deutschen Psychotherapeutentag im März 2019 wurde der Gesetzentwurf einhellig begrüßt. Auch das ist einmal ein schöner Beginn eines Gesetzgebungsverfahrens. ({0}) Mit der Novellierung stellen wir die Ausbildung auf völlig neue Füße und passen das veraltete Berufsrecht an die gestiegenen und neuen Herausforderungen an, mit dem Ziel, die Versorgung psychisch kranker Menschen wirklich zu verbessern und die Ausbildung für junge Menschen auch wieder attraktiver zu machen. Bereits zum Wintersemester 2020 schaffen wir einen eigenständigen zweistufigen Studiengang. So schließt an ein dreijähriges Bachelorstudium ein zweijähriges Masterstudium an. Mit bestandener staatlicher Prüfung wird dann die Approbation erteilt. Danach folgt die anschließende Weiterbildung in der Praxis. Es ist also anders, als die AfD in ihrem Antrag darstellt, dass das Studium keine ausreichende Praxis im Sinne des Patientenschutzes beinhalte. Im Gegenteil: Wir sehen die Weiterbildung mit einer gezielten Begleitung als sehr gute praktische Ausbildung an. Das Gleiche würde ich dem Kollegen der FDP sagen. Aber leider haben Sie keinen Antrag eingereicht. In dieser Zeit können die sogenannten Psychotherapeuten in Weiterbildung, die PiWs, bereits in der vertragsärztlichen Versorgung im ambulanten und stationären Bereich angestellt werden. Dies ist vergleichbar mit der Anstellung eines Assistenzarztes. Das wurde bereits gesagt. Auch können die erbrachten Leistungen der PiWs über die GKV abgerechnet werden. Damit lösen wir ein Kernproblem; denn ja – da haben viele recht –, vorher wurden die Therapeuten in Ausbildung wie Praktikanten gesehen und auch so bezahlt. Es ist aber nicht attraktiv und für uns auch nicht hinnehmbar, nach fünf Jahren Studium mit beispielsweise 450 Euro monatlich und Zehntausenden Euro Schulden aufgrund der Ausbildungskosten nicht einmal den eigenen Lebensunterhalt decken zu können. Und genau da setzt das Gesetz an. Wir setzen damit bundeseinheitliche Qualifikationsstandards auf Masterniveau und legen die Grundlage für ein geregeltes Einkommen. ({1}) Neben allen Punkten, in denen große Einigkeit besteht, sind mir vor allem drei Punkte bei der Ausbildung ein großes Anliegen. Erstens müssen wir uns überlegen, ob wir bei der Weiterbildung finanzielle Strukturen wie bei der ambulanten Weiterbildung der Hausärzte schaffen. Zweitens gilt es, die bisherigen Ausbildungsstätten auch ab 2025 in die neue Weiterbildungsstruktur zu integrieren. Und drittens müssen wir uns noch einmal die Forderungen der PiAs, also der Psychotherapeuten in Ausbildung, anschauen. Eine Übergangszeit von zwölf Jahren, in denen keine vergleichbare Vergütung wie bei den PiWs stattfindet, ist den jungen Leuten schwer erklärbar. Zwölf Jahre sind mir einfach zu lange. Neben der Ausbildung an sich umfasst das Gesetz auch zusätzliche Punkte im Rahmen der psychotherapeutischen Versorgung bzw. beim Zugang zu einer solchen, die in den letzten Monaten zu großen Diskussionen geführt haben. Ich glaube, viele Missverständnisse sind aus der Befürchtung heraus entstanden, dass die Politik zurück zum Delegationsprinzip möchte und ein anderer als die Therapeuten selbst über den Zugang zur Therapie bestimmt. Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Das wollen wir nicht. Es wird kein Delegationsverfahren durch die Hintertür geben, und wir wollen auch keine minutenweise Vorgabe für die Behandlung der Patienten; denn der Zugang für psychisch Kranke muss weiter niedrigschwellig bleiben, und die Therapiefreiheit muss erhalten bleiben. ({2}) Dreh- und Angelpunkt bleibt für mich im Gesamten das Netzwerk. Viele Therapeuten haben immer wieder angesprochen, dass es an den Schnittstellen tatsächlich hapert. Deshalb sollten wir auch im Sinne einer guten Netzwerkarbeit die Einführung einer Vergütungsziffer für Koordinationsleistungen prüfen. In diesem Sinne freue ich mich auf die weitere Beratung. Vielen herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dirk Heidenblut das Wort. ({0})

Dirk Heidenblut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist ohne Zweifel an der Zeit, dass wir dieses Gesetz machen. Wir haben in diesem Jahr – wenn ich „wir“ sage, meine ich vor allen Dingen natürlich die Verbände der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten – zu Recht 20 Jahre Psychotherapeutengesetz gefeiert. „Zu Recht“ sage ich deshalb, weil vor 20 Jahren ein neuer Heilberuf auf den Weg gebracht wurde, auf den man stolz sein kann und in dem wir Fachkräfte haben, die wir dringend brauchen. Ich sage aber auch, dass wir dringend schauen müssen, wie wir die Ausbildung dieser Fachkräfte verbessern und verändern können, und zwar aus ganz vielen Gründen. Einige hat der Kollege Lauterbach angesprochen. Natürlich hat das auch etwas mit der Frage der Studienreform zu tun. Ich will nicht auf alle Details im Gesetz eingehen, ich will aus meiner Warte sagen: Es ist wichtig, dass das Gesetz vorliegt. Es ist durchaus ein gutes Gesetz, das vorliegt, aber auch gute Gesetzentwürfe sind durchaus noch verbesserungsbedürftig. ({0}) Insofern, Herr Kollege Schinnenburg – Stichwort „Serviceopposition“ –, sind wir dabei. Wenn Sie auch dabei sind, ist das kein Problem. Mir wurde gerade gesagt, es gibt sogar einen Antrag, an dem wir uns bedienen können. Da schauen wir einmal im weiteren Prozess. Eines jedoch sage ich ganz deutlich, auch für die SPD: Ein ganz zentrales Problem wird bisher tatsächlich wenig bis gar nicht angegangen. Das zentrale Problem ist die Finanzierungsfrage, vor allem die Finanzierungsfrage im Bereich der Weiterbildung, auch und gerade der ambulanten Weiterbildung, in der auch Fragen wie Kosten der Supervision und Ähnliches eine Rolle spielen. Ein weiterer Punkt ist auch für uns ganz wichtig. Zum einen, glaube ich, muss man sicherstellen, dass es nach Möglichkeit überhaupt nicht zu zwölf Jahren Übergangszeit kommt. Das kann man dadurch erreichen, dass man zum Beispiel diejenigen, die jetzt einen Bachelorstudiengang beginnen, in die Lage versetzt, aus dem Bachelorstudiengang wechseln zu können. Wir müssen den jungen Menschen gar nicht zumuten, wenn sie zum Beispiel in diesem Jahr mit ihrem Studium anfangen, dass sie dann möglicherweise noch die alte Ausbildung komplett absolvieren müssen. Warum soll es nicht Möglichkeiten geben? Warum sollen wir nicht Brücken bauen? Ich habe mich bei mir vor Ort bei der Ruhr-Uni informiert. Das ist – das darf ich übrigens als RUBi mit Stolz sagen – zurzeit eine der Universitäten mit dem besten Angebot für die Psychotherapeutenausbildung. ({1}) Dort wurde mir klipp und klar und unmissverständlich gesagt: Es gibt eigentlich kein Problem damit, diejenigen, die in den Bachelorstudiengang gehen, in das neue System zu überführen. – Damit hätten wir schon viel Zeit gespart und viele Probleme gelöst. Aber ganz klar ist: Wir können die PIAs nicht so lassen, wie sie zurzeit sind. Natürlich müssen da Übergangsregelungen her; denn das ist doch überhaupt nicht zumutbar. Das war doch auch ein Grund, warum wir dieses Gesetz angegangen sind. Wir wollten den Menschen die Möglichkeit geben, diese hochkomplexe Ausbildung anständig bezahlt zu bekommen, statt noch Geld mitbringen zu müssen. ({2}) Deshalb werden wir uns selbstverständlich dafür einsetzen, dass an der Stelle deutlich nachgebessert wird. Wir werden auch über die Frage, wie viel Praktikumszeit nötig ist, sicherlich noch diskutieren. Die Punkte Hochschulen, Fachhochschulen und Universitäten sind angesprochen worden. Da freue ich mich auf die weiteren Diskussionen. Mein stellvertretender Fraktionsvorsitzender hat mir noch mitgegeben – das hatte ich gar nicht vorgesehen –, auch noch etwas zum zweiten Teil des Gesetzentwurfs zu sagen. Ich will versuchen, das in der Kürze der Zeit noch hinzukriegen. Zunächst einmal finde ich gut, dass wir uns auch in diesem Gesetzentwurf mit der Versorgung beschäftigen. Ich glaube, das, was der Minister hier hineingepackt hat, ist deutlich besser als das, was damals im TSVG stand. Das ist auch aus Experten- und Expertinnengesprächen erwachsen. Aus meiner persönlichen Sicht ist das aber immer noch nicht das, was wir am Ende werden haben müssen; denn es geht uns um bestimmte Personengruppen, die nicht gut versorgt sind. Da brauchen wir – die Kollegin hat es angesprochen – eine gezielte Vernetzung und Koordination. Da stellt sich mir aber schon die Frage, ob die Psychotherapie-Richtlinie an der Stelle überhaupt die richtige Richtlinie ist. Darüber muss man noch mal nachdenken. Aus meiner Sicht braucht es da eine eigene Richtlinie, die genau diese Fragen regelt. Aber alles Weitere werden wir jetzt besprechen. Hier leuchtet schon die Lampe. Ich komme also zum Schluss und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist Dr. Georg Kippels für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Kippels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Entgegen der Bewertung, die Frau Kollegin Klein-Schmeink eben vorgenommen hat, dass das hier eine schläfrige Diskussion sei, habe ich eigentlich viel mehr den Eindruck, dass wir in einer sehr intensiven und streitigen fachlich-sachlichen Auseinandersetzung sind. Wir beschäftigen uns hier in der Tat mit einer für die gesundheitliche Versorgung sehr wichtigen Thematik. Wenn auf den allgemeinen Grundsatz zurückgegriffen werden darf, dass kein Gesetz aus dem Bundestag he­rausgeht, wie es eingebracht worden ist, so trifft das mit Sicherheit auf die vorliegende Problemstellung zu. Der Begriff „Psychotherapeutenausbildungsreformgesetz“ suggeriert, dass es relativ einfach ist, ein Berufsbild zu kreieren, es mit mehr oder minder wohlgesetzten Worten zu beschreiben und einen Ausbildungsgang zu entwickeln, der eine gewisse Zeitphase in Anspruch nimmt, sich vielleicht in verschiedene praktische und akademische Stufen aufteilt, auf die am Ende mehr oder minder absehbar eine Berufsausbildung folgt, die im konkreten Fall die Grundlage dafür legen soll, Menschen in besonderen Lebenslagen versorgen zu können. Aber ich glaube, die Wortbeiträge haben klar gezeigt, dass in diesem Gesetzgebungsprozess sehr viele unterschiedliche Facetten miteinander vereint werden müssen und das Verfahren weit mehr zum Gegenstand hat, als einfach nur einen Ausbildungsweg zeitlich und im Hinblick auf einige Begrifflichkeiten zu ordnen. Im Rahmen meiner Fachgespräche, die ich im Vorfeld geführt habe, ist mir zunächst mal im Zusammenhang mit den Legaldefinitionen sehr deutlich geworden, wie schwierig es ist, sehr unterschiedliche Auffassungen, die in den verschiedenen Verfahren zum Ausdruck kommen, miteinander zu vereinen, also auf der einen Seite eine qualitativ gesicherte Versorgung der Patienten im Rahmen der Berufsausübung sicherzustellen, auf der anderen Seite aber in ausreichendem Maße eine Öffnung für Wissenschaft und Forschung zu gewährleisten und zugleich eine Abgrenzung vorzunehmen, damit im Rahmen der normalen Therapie keine Versuche, Experimente und weiteren Untersuchungen durchgeführt werden. Bei der Vereinbarung von wissenschaftlicher Kompetenz mit der Notwendigkeit, bestimmte Ausbildungsschritte und praktische Erfahrungen vorzusehen, liegt die Herausforderung im Grunde genommen darin, ausgehend von einer bestimmten Berufsauffassung und Berufsausübung, die sich in einer Zeitspanne von 20 Jahren herausgebildet haben, jetzt in eine vollkommen neue Phase überzugehen. Frau Gabelmann, Sie haben es ja eben beschrieben: In der Zwischenzeit haben sich verschiedene Schwerpunkte herausgebildet. Eine Vielzahl der Lehrstühle beschäftigt sich etwa mit der Verhaltenstherapie. Das ist natürlich ein Umstand, der nicht ohne Weiteres mit einem Gesetzestext vom Tisch gefegt werden kann. Es bedarf, was die Zusammenführung in einem neuen Konstrukt anbelangt, einer sehr intensiven Überzeugungsarbeit gegenüber Wissenschaft und Lehre. Ich bin sehr gespannt, wie wir auf Grundlage der Erkenntnisse, Kritikpunkte, Anregungen, aber auch Befunde aus der Praxis in den nächsten Tagen und Wochen ein neues Berufsbild generieren. Unser Anspruch muss es sein, für Patienten auf der einen Seite Qualität und auf der anderen Seite Sicherheit zu garantieren. Dieser Systemwechsel ist mit Sicherheit nichts, was durch Umlegen eines Schalters binnen weniger Monate umgesetzt werden könnte. Übergangsfristen bedarf es bei solchen grundlegenden Fragestellungen immer. Sie müssen natürlich so ausgestaltet sein, dass sich das System qualitätsgesichert auf die Veränderungen einstellen kann. Ich freue mich auf die Anhörung, die bereits in der nächsten Sitzungswoche stattfindet. Die anschließenden Diskussionen werden mit Sicherheit alles andere als einschläfernd sein. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/9770, 19/9970, 19/9912 und 19/9272 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Esther Dilcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Schönen guten Abend! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der FDP, mit dem wir uns beschäftigen, hat einen vielversprechenden Titel: „Rechtsanwaltsgebühren zukunftssicher gestalten“. Produktive und konstruktive Gestaltungsvorschläge suchen wir auf den zwei DIN-A4-Seiten jedoch vergeblich, sieht man einmal von der Forderung nach einer pauschalen Indexierung ab. Gestalten bedeutet jedoch weitaus mehr, und die Forderung nach einer Anpassung der Anwaltsgebühren an die allgemeine Tariflohnentwicklung wird dem doch sehr umfangreichen und sehr differenzierenden Gebührensystem des RVG in keinster Weise gerecht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das RVG selbst besteht aus 62 Paragrafen und zwei Anlagen. 62 Paragrafen sind erst mal nicht viel; aber die zwei Anlagen haben es in sich. ({0}) Die eine enthält eine kleine Tabelle, in der steht, wie hoch die jeweilige Rechtsanwaltsgebühr bei einem bestimmten Gegenstandswert ist. Die andere Anlage beschreibt aber ganz kleinteilig die einzelnen Gebührentatbestände. Da muss man sich schon manchmal ganz schön reinfuchsen. – Frau Kollegin Keul, Sie runzeln gerade die Stirn. Wenn man ein gebührenrechtliches Seminar gemacht hat, weiß man, in welche Fahrwasser man bei der Abrechnung geraten kann. ({1}) Das ist nicht ganz so einfach. Dieses Gesetz und auch die Änderungen bedürfen der Zustimmung der Länder. Das ergibt sich aus unserem Grundgesetz. Nach Artikel 104a Absatz 4 Grundgesetz sind Zustimmungsgesetze solche, die in bestimmter Weise Auswirkungen auf die Finanzen der Länder haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum erwähne ich das? Ich erwähne es, weil der Koalition bei den Debatten im Ausschuss immer wieder vorgeworfen wird, wir würden die Länder nur vorschieben. ({2}) Aber das tun wir keineswegs. Sie müssen tatsächlich zustimmen. Da nützt es wenig, wenn wir vorpreschen und Gesetze verabschieden und der Bundesrat letztendlich sagt: Nee, ohne uns! Das machen wir nicht mit. – Dann hätten wir uns die Arbeit umsonst gemacht. Also ist es effektiver, die Länder von vornherein mit ins Boot zu nehmen. ({3}) Bereits im letzten Jahr wurde der Forderungskatalog von BRAK und DAV an die Länder geleitet mit der Bitte um Stellungnahme. Dort findet jedoch noch eine Evaluation der letzten Gebührenerhöhung statt, die auch Gegenstand der Justizministerkonferenz im Juni 2019 sein soll. Wir werden das Ergebnis abwarten, um uns mit den Ländern ins Einvernehmen zu setzen. Warum stellt die FDP den vorliegenden Antrag? Ich vermute, weil Klappern zum Handwerk gehört. Dabei läuft das Verfahren bereits im Ministerium. Wir beschäftigen uns auch im Ausschuss damit. Die FDP stellt zwar den Antrag, aber das Ziel wird damit verfehlt. Ich würde sagen: Setzen, sechs! Ich versichere an dieser Stelle, dass wir uns als Koalition und natürlich auch das Ministerium sich mit den äußerst fundierten und sehr pragmatischen Forderungen der Gebührenrechtler bei den Standesvertretungen der Anwaltschaft auseinandersetzen werden. Eine pauschale Erhöhung würde auch nicht zu einer angemessenen Bezahlung der Kolleginnen und Kollegen führen. Das haben Studien ergeben, die zum Beispiel das Soldan Institut durchgeführt hat. So verdienen Sozialrechtler zum Beispiel erheblich weniger als Gesellschaftsrechtler, nur weil sie den Tätigkeitsschwerpunkt Sozialrecht haben. Wenn wir uns eingehend damit beschäftigen und die Anpassungen individuell vornehmen, können wir auf die Unterschiede bei den Einkommen der Anwälte Einfluss nehmen. Das können wir mit einer allgemeinen Indexierung und Pauschalierung nicht erreichen; denn dann würden genau die Anwälte abgehängt, die jenen Zugang zum Recht gewähren, die ihn sich nicht leisten können, sondern über Prozesskostenhilfe, Verfahrenskostenhilfe oder Beratungshilfe Zugang zum Recht suchen müssen. Wir lehnen daher den vorliegende Antrag der FDP ab und werden mit den Ländern über eine Reform des RVG verhandeln und zeigen, wie Gestalten tatsächlich funktioniert. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Stephan Brandner für die AfD-Fraktion. ({0})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren, mir wurde zugetragen, ich wäre gerade vom Kollegen Post vermisst worden. Jetzt bin ich wieder da. Wo ist der Kollege Post? ({0}) So kann das gehen. Er ist geflüchtet. ({1}) Meine Damen und Herren, was sich am heutigen Abend wie Lobbypolitik für Rechtsanwälte anhört, ist keine. Wir reden heute über die Notwendigkeit, die seit etwa sechs Jahren nicht erhöhten Gebühren für Rechtsanwälte angemessen zu erhöhen, und zwar nicht die Gebühren für Großverdiener unter Rechtsanwälten, die hohe Stundensätze abrechnen können, sondern die für die Kollegen, die auf Grundlage des RVG, des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes, liquidieren müssen. Diese Kollegen sind es, die als Organe der Rechtspflege der breiten Masse unserer Bürger den Zugang zum Recht erst ermöglichen. Es geht also um nichts weniger als um die Sicherstellung der Versorgung mit Rechtsanwaltsdienstleistungen in der Fläche unserer Republik. Wir Rechtsanwälte sind eine der Säulen des Rechtsstaats. Ohne eine tüchtige Anwaltschaft, die auskömmlich finanziert ist, ist es dem Bürger schwer bis unmöglich, seine Rechte wahrzunehmen oder durchzusetzen. Es sollte daher der Politik ein wichtiges Anliegen sein, für die Rechtsanwälte gute strukturelle und finanzielle Rahmenbedingungen zu schaffen. Doch die Große Koalition kocht da eher auf Sparflamme, Frau Dilcher, und es hat zumindest den Anschein, als würden uns Rechtsanwälten bei der Berufsausübung mehr und mehr Steine in den Weg gelegt; denn es häufen sich die Angriffe gegen unseren, meinen Berufsstand. Nehmen Sie beispielsweise die Steuertransparenzrichtlinie der EU, womit nicht nur eine Abschreckung erfolgt, sondern unser gesamter Berufsstand nahezu kriminalisiert wird. Die Finanzminister der Länder wollen, wenn man das aufmerksam verfolgt, die Spitzeldienste, die die Anwälte offenbar zu leisten haben, auf Deutschland ausdehnen und damit das Mandatsgeheimnis Schritt für Schritt aushöhlen, um uns Rechtsanwälten, den Steuerberatern und den Wirtschaftsprüfern das Leben schwer zu machen. Als wäre das nicht genug, wurden uns Anwälten mit dem sogenannten besonderen elektronischen Anwaltspostfach, abgekürzt beA, weitere Schwierigkeiten bereitet. Das beA ist unpraktisch, unsicher und teuer. Gleichwohl halten viele Anwälte das Anwaltspostfach für etwas Besonderes, nämlich für etwas besonders Schlechtes. Nun der seit langem fehlende Blick auf die Anpassung der Vergütung. Wie dringend das ist, zeigen uns, wenn man sie saldiert, die Teuerungsraten in den letzten Jahren, die zu steigenden Kosten geführt haben. Bereits vor über einem Jahr, im April 2018 – Frau Dilcher hat es erwähnt –, hat die Bundesrechtsanwaltskammer in Verbindung mit dem Deutschen Anwaltverein der Justizministerin ein ausgefeiltes Konzept zur Anpassung bzw. Erhöhung der Vergütung vorgelegt, was nach über sechs Jahren Nullrunden natürlich nicht unangemessen war. Der Bundesregierung freilich war das zunächst egal. Sie hat das Ansinnen erst ignoriert, und dann wurde es sechs Monate später – zwischenzeitlich ist nichts passiert – ohne Fristsetzung an die Länder gesandt. Das war nichts anderes als eine Aufforderung zur Nichtbehandlung, und so halten es die Länder bis heute. Denn bis heute liegen nicht alle Stellungnahmen der Länder vor. Beispielsweise ein grüner Justizsenator aus Hamburg – Frau Keul, hören Sie genau zu –, also ein Senator aus Ihrer Partei, verweigert immer noch jegliche Zuarbeit. Ich bin gespannt, wie Sie das gleich rechtfertigen wollen. Meine Damen und Herren, die AfD sagt klipp und klar, dass eine Gebührenerhöhung für Rechtsanwälte dringlich ist und kurzfristig erfolgen muss. Neben einer linearen Erhöhung ist auch eine strukturelle Änderung vonnöten. Denken Sie zum Beispiel an die Terminsgebühr, die angepasst werden muss. Denken Sie zum Beispiel auch an die Erhöhung von Rahmengebühren im Sozialrecht. Und weil wir das Problem als dringend erkannt haben und uns sehr an einem funktionierenden Rechtsstaat gelegen ist, haben wir dieses Problem als Erste angepackt. Meine Zusage vom Parlamentarischen Abend bei der Bundesrechtsanwaltskammer am 17. Januar hatten wir eingehalten und das Thema Ende Januar auf die Tagesordnung des Rechtsausschusses gesetzt. Sechs Wochen später wurde die FDP wach und dachte: Mensch, das ist ja ein nettes Thema. Da pinseln wir auch einen Antrag zusammen. – So kam es dann zu dem peinlichen, erschreckend kurzen und blumigen Antrag, Herr Martens, mit dem Sie die Vorlage eines „konkreten Konzeptes“ von der Bundesregierung verlangen. Ich bin schon froh, dass Sie kein unkonkretes Konzept von der Bundesregierung verlangen. Man sieht also: Auch hier springt die FDP auf einen fahrenden Zug. Wären Sie, meine Damen und Herren von der FDP, ein Huhn, würden Sie gackern, wenn ein anderes Huhn ein Ei legt. ({2}) Eine Fraktion, die sich als Regierung im Wartestand betrachtet, teilweise – ich habe es heute Morgen erwähnt – ein Wurmfortsatz der Regierung ist und wohl noch Zugriff auf Mitarbeiter des Justizministeriums hat – in ihrer Freizeit selbstverständlich –, muss viel besser und viel mehr liefern. Wir von der AfD werden das in Kürze tun; denn für uns geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit. ({3}) Solch schlampige, auf bloße Effekte ausgerichtete Arbeit wie die, die die FDP heute hier abgeliefert hat, ist peinlich. Das hilft weder dem Rechtsstaat noch den Rechtsanwälten. Rechtsanwälte, der Rechtsstaat und dieser Bundestag haben bessere Arbeit verdient, meine Damen und Herren von der FDP, als diese Schlamperei, die Sie uns hier unterbreitet haben. ({4}) Allerdings ist zuzugeben: Der Antrag nützt zwar nichts, aber er schadet auch nicht. ({5}) Deshalb werden wir uns enthalten und den Rechtsanwälten damit signalisieren, dass wir sie durchaus unterstützen. Wir hoffen, dass die Bundesregierung dann auch langsam – –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Brandner, kommen Sie bitte zum Schluss.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich falte schon zusammen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das ersetzt nicht den Schlusspunkt.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wir hoffen, dass die Bundesregierung tätig wird. Wir sind guten Mutes, dass, wenn der Europawahlkampf zu Ende ist und wir eine neue Hausspitze im Justizministerium haben, dieses Thema endlich angegangen wird. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Jan-Marco Luczak das Wort. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ein starker Rechtsstaat braucht starke Rechtsanwälte. Gerade in der Rechtspflege sind Anwälte der Garant für den Zugang zum Recht, und der Zugang zum Recht wiederum ist für das Funktionieren und auch für die Akzeptanz unseres Rechtsstaates eine unabdingbare Voraussetzung. Deswegen ist es richtig, dass in der Verfassung der Zugang zum Recht garantiert ist. Anwälte können aber nicht allein von hehren Zielen, nicht allein von honorigen Worten, die wir hier in Debatten des Deutschen Bundestages führen, und auch nicht allein von Luft und Liebe leben, sondern sie müssen wirtschaften. ({0}) Sie müssen sich und ihre Familien ernähren. Sie müssen ihren Kanzleibetrieb aufrechterhalten. Wenn man sich einmal anschaut, was in den letzten Jahren so passiert ist, wird man feststellen: Die Gehälter für die Mitarbeiter sind gestiegen, die Kosten für Strom, für Versicherungen und für Software sind gestiegen. Und was mit den Mieten in den letzten Jahren passiert ist, darüber lesen wir jeden Tag zur Genüge in der Zeitung. Deswegen ist es Zeit für eine Anpassung der Gebühren. Die letzte Gebührenanpassung ist im Jahre 2013 erfolgt. Das ist jetzt fast sechs Jahre her. Wir wollen eine fundierte und auch hochqualifizierte Rechtsberatung, und das spiegelt sich natürlich auch in den Gebühren wider. Sie muss letztlich durch diese gesichert werden. Deswegen ist diese Gebührenanpassung so notwendig. Ein Punkt ist mir an dieser Stelle sehr wichtig: Es geht uns nicht allein um die Rechtsanwälte, die ihren Rechtsrat in den großen Städten, in den Ballungsgebieten, in den Metropolen anbieten, wo es aufgrund der Mandate vielfach möglich ist, nach Stundensätzen abzurechnen, sondern es geht uns vor allen Dingen darum, dass der Rechtsstaat auch in der Fläche funktioniert. Auch in den eher strukturschwachen Regionen und in den ländlichen Gebieten müssen Anwälte vor Ort sein. Auch dort muss die Rechtsberatung sichergestellt werden. Die Kostensteigerungen, die natürlich auch in diesen Regionen stattgefunden haben, haben aber dazu geführt, dass es dort wirklich sehr schwer geworden ist, als Anwalt wirtschaftlich zu arbeiten, da die Gebührensätze nicht angepasst worden sind. Das müssen wir im Blick behalten, um die Rechtsberatung auch in der Fläche sicherzustellen. Es war daher gut, dass der DAV und die BRAK gemeinsam schon im Jahr 2018 einen Forderungskatalog vorgelegt haben, diesen an das BMJV weitergereicht und gesagt haben: Hier muss etwas passieren. – Dieser Forderungskatalog ist vom BMJV – das muss man ehrlicherweise sagen – ein bisschen dilatorisch behandelt worden. Er ist den Ländern zur Stellungnahme geschickt worden. Man hat aber keine Frist gesetzt, ({1}) was natürlich zur Folge hatte, dass die Länder sich ziemlich viel Zeit mit ihren Stellungnahmen gelassen haben. Bis Anfang des Jahres haben nur einige wenige Länder überhaupt Stellung zu diesem Forderungskatalog bezogen. Nachdem ein bisschen Druck auf den Kessel gegeben wurde, haben mittlerweile fast alle Länder ihre Stellungnahme abgegeben, bis auf ein Land; Frau Keul, die aus Hamburg kommt, spricht ja gleich noch. Sie kann da ja vielleicht noch ein bisschen Druck machen. ({2}) Fast alle Länder haben ihre Stellungnahme jetzt also abgegeben. Wir haben das Thema im Rechtsausschuss aufgerufen. Man konnte feststellen: Alle Fraktionen sind sich in der Sache einig, sind sich einig, dass hier etwas geschehen muss. ({3}) Das heißt, das Ob steht, glaube ich, gar nicht mehr in Rede. Wir reden jetzt nur noch über das Was und Wie. ({4}) Herr Kollege Martens, bevor Sie an dieser Stelle frohlocken, sage ich: Man muss sich Ihren Antrag genauer anschauen. ({5}) Wir sind uns im Ziel einig: Wir wollen die Gebühren anheben. Aber Sie haben es sich mit Ihrem Antrag doch ein bisschen zu einfach gemacht. Sie fordern nämlich nur eine lineare Anpassung – dafür sind auch wir; das sage ich noch einmal –, doch zu strukturellen Reformen haben Sie nichts ausgeführt. BRAK und DAV haben in ihrem Forderungskatalog ja auch strukturelle Reformen vorgeschlagen. Die muss man natürlich, wenn man das seriös machen will, auch in den Blick nehmen. ({6}) Wir können ja nicht einfach sagen: Wir machen jetzt eine lineare Anpassung, und danach gucken wir uns mögliche strukturelle Änderungen an. – Das gehört natürlich zusammen. Und wenn man das in einem Antrag nicht zusammen anpackt, dann bleibt der Antrag Stückwerk. Zu den strukturellen Änderungen findet sich aber nichts in Ihrem Antrag. Das ist schwierig. Der zweite Punkt, den man sich in der Tat kritisch anschauen muss, ist die von Ihnen vorgeschlagene Indexierung. Das klingt erst einmal gut. Man muss sich die Details aber sehr genau anschauen. Es gibt noch viele andere Berufsgruppen, die nach einer Gebührenordnung arbeiten, die ihre Honorare nicht frei bestimmen können. ({7}) Die fragen dann natürlich berechtigterweise: Was ist eigentlich mit meinen Gebühren? Müssen die nicht auch indexiert werden? Auch das muss man im Blick behalten. Als Argument für eine Indexierung wird immer angebracht, dann müsste sich der Gesetzgeber nicht ständig damit befassen, und auch die Länder wären dann nicht ständig mit im Boot. Das klingt natürlich erst einmal einleuchtend. Dieses Argument lässt aber außen vor, dass wir, wenn wir eine solche Indexierung machen wollten, dafür mit den Ländern ins Gespräch kommen müssten. Die Länder werden – da muss man realistisch sein – natürlich keinen Blankoscheck ausfüllen. Die Länder wissen ja gar nicht, wie die Steigerungsraten in der Zukunft aussehen werden. Deswegen glaube ich, dass wir die Länder bei einer solchen Forderung nicht ins Boot bekommen. Ein weiterer Punkt, der gegen eine Indexierung spricht: Es ist dann nicht mehr möglich, Gewichtungen vorzunehmen. In den letzten Jahren waren bestimmte Rechtsgebiete besonders nachgefragt. Tatsächliche Entwicklungen haben dazu geführt, dass die Gebühren nicht mehr auskömmlich sind. Wenn man eine pauschale Indexierung vornimmt, werden – das kann man voraussehen – strukturelle Änderungen wahrscheinlich gar nicht mehr vorgenommen. Um uns diesen Spielraum, diese Flexibilität zu erhalten, sollten wir, glaube ich, sehr genau hinschauen und fragen, ob die Indexierung hier richtig ist. Dazu, wie es in der Vergangenheit gelaufen ist, will ich aber sagen: Die Zeiträume zwischen den Gebührenanpassungen waren, glaube ich, zu lang. Seit der letzten Anpassung sind, wie gesagt, sechs Jahre vergangen. Auch die Rechtsanwälte haben natürlich ein Stück weit Anspruch auf Rechtssicherheit und Investitionssicherheit. Deshalb sollten wir uns eine Art Selbstverpflichtung auferlegen bzw. ein gemeinsames Verständnis zugrunde legen, dass wir uns einmal in der Legislaturperiode, also alle vier Jahre, die Gebühren anschauen und dann auch zu einer entsprechenden Anpassung kommen. Ich komme zum Schluss. Wir müssen die Länder in die Verantwortung nehmen. Das ist ganz wichtig. Wir sind uns, glaube ich, einig. Wir haben mit den Ländern einen Pakt für den Rechtsstaat abgeschlossen. In diesem Rahmen haben wir viele Dinge in den Bereichen Polizei und Justiz gemacht. Die Anwälte gehören dazu. Auch sie sind Teil dieses Rechtsstaates, und zwar ein wesentlicher Teil. Deswegen gehört die Anpassung der Rechtsanwaltsgebühren als letzter Baustein zum Pakt für den Rechtsstaat dazu. Ich freue mich auf die Debatte. Ich glaube, es herrscht große Einigkeit. Die letzten Details werden wir hoffentlich sehr schnell miteinander regeln. ({8}) Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun Dr. Jürgen Martens. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Antrag greift die FDP das Thema der Vergütung von Rechtsanwälten auf. Die Notwendigkeit zur Anpassung der Vergütungsordnung, die lineare Anpassung, wird hier allgemein auch nicht in Zweifel gezogen. Die letzte Anpassung – im Jahr 2013 – wurde übrigens auch von liberalen Justizministern im Bund und in den Ländern mit verantwortet; daran sei hier einmal erinnert. Die Große Koalition hat sich bisher nicht an dieses Thema getraut, jedenfalls nicht mit sichtbaren Ergebnissen. ({0}) Davor fand die letzte lineare Anpassung der Rechtsanwaltsgebührenordnung 1994 statt. 19 Jahre warten, dann mindestens 6 Jahre warten, vielleicht werden es auch 7 oder 8 Jahre. Die jetzige Bundesjustizministerin jedenfalls wird das Thema garantiert nicht mehr erledigen. Das mutet an, als hätten die GroKo und die Bundesregierung irgendwo einen Stempel, auf dem steht: Wiedervorlage nach Sachbearbeiterwechsel. ({1}) Sie werden verstehen, dass wir eine solche Herangehensweise in diesem Bereich nicht akzeptieren wollen. Die Berufsvertretungen der Rechtsanwälte – 165 000 Rechtsanwälte in Bundesrechtsanwaltskammer und Deutscher Anwaltverein – haben sich schon im April 2018 an das BMJV gewandt und unter Vorlage eines sehr detaillierten Plans angemahnt, dass allein mit Blick auf die allgemeine Teuerungsrate etwas passieren muss. Es ist nichts passiert. Die Bundesregierung versteckt sich hinter den Länderjustizministern. Man weiß natürlich – das können Sie mir glauben; ich weiß das aus eigener Erfahrung –, dass die Länder sehr, sehr zurückhaltend sind, wenn es um Gebührenanhebungen geht, ({2}) sind sie doch diejenigen, die zahlen, wenn die Kosten für Verfahrenskostenhilfe und Prozesskostenhilfe steigen. Ich kenne beiden Seiten der Barrikade. ({3}) Da nützt es nichts, wenn sich beide gleichzeitig wegducken, meine Damen und Herren. Das ist die Garantie dafür, dass nichts passiert. Deswegen haben wir diesen Antrag hier eingebracht. ({4}) – Herr Brandner, das mit dem „peinlich“ würde ich gerade an Ihrer Stelle sehr, sehr vorsichtig handhaben. ({5}) Zu Beginn Ihrer Ausführungen habe ich noch gedacht: Guck mal an, der bringt ja zwei vernünftige Sätze zusammen. – Aber dann ({6}) war offensichtlich der aufgeschriebene Text zu Ende. Dann kam wieder nur jene billige Polemik, die wir von Ihnen so übersattsam gewohnt sind. ({7}) Sie haben es angesprochen: Die Frage der Vergütungssätze nach dem RVG ist auch eine Frage nach dem Zugang zum Recht, nach der Gewährleistung des Rechts in der Fläche. ({8}) Das betrifft diejenigen Anwälte, die eben nicht hohe Stundensätze, sondern nach dem RVG abrechnen. Diese Anwälte bearbeiten die Masse der Fälle: Scheidungen, Verkehrsunfälle, Streit mit dem Sozialamt, Mietstreitigkeiten, all diese Dinge, die in der Masse und im täglichen Leben der Bürger entscheidend sind für die Wahrnehmung des Rechtsstaates und sein Funktionieren. Deswegen glaube ich – das ist an die Große Koalition gerichtet –, dass es gefährlich und fahrlässig ist, die Wirkungen zu unterschätzen, die es hat, wenn man die Existenzsorgen, die finanziellen Ängste derjenigen, die in der Fläche den Zugang zum Recht gewährleisten, nicht wirklich ernst nimmt, meine Damen und Herren. ({9}) Wenn wir in unserem Antrag keine konkreten Zahlen benennen, dann geschieht dies nicht aus Schlampigkeit oder Nachlässigkeit ({10}) – auch nicht aus Faulheit –, sondern weil wir ganz einfach Spielräume nicht vorzeitig einengen wollen, die die Möglichkeit einer linearen wie auch strukturellen Anpassung bieten. ({11}) Wenn es dann heißt, das sei jetzt Klientelpolitik zugunsten der Rechtsanwälte, dann nehme ich das eher als Kompliment entgegen. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Diejenigen, die sich von Berufs wegen mit Recht, mit Gesetz und dem Rechtsstaat befassen, kommen dann möglicherweise schneller als andere zu dem Ergebnis, dass dieser Rechtsstaat bei den Freien Demokraten ziemlich gut aufgehoben ist. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Friedrich Straetmanns für die Fraktion Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Rechtsanwaltsgebühren zukunftssicher gestalten“. Vorab gesagt: Wir unterstützen dieses Anliegen. ({0}) Noch vor der Sommerpause ein konkretes Konzept zur Reform des Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte vorzulegen, ist von der Bundesregierung nicht zu viel verlangt. ({1}) Das reformierte RVG muss sowohl die Forderung nach einer strukturellen als auch einer linearen Anpassung der Gebühren enthalten. Dabei muss die Tariflohn­entwicklung berücksichtigt werden. ({2}) Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte müssen in der Lage sein, wirtschaftlich arbeiten zu können, ohne von Mandaten mit höherer Gebührenvereinbarung abhängig zu sein. ({3}) Von daher ist es zu begrüßen, wenn die FDP sich diesen Bedürfnissen auch außerhalb großer Wirtschaftskanzleien zuwendet. ({4}) Die laufende Anpassung der Vergütung an die Tariflohnentwicklung wäre übrigens auch an anderer Stelle dringend nötig, nicht nur beim Mindestlohn. Gerade diese Woche diskutierten wir im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz die Vergütung der Berufsbetreuerinnen und Berufsbetreuer. Meine Damen und Herren der Koalitionsfraktionen, hier geht es bei vielen um die nackte wirtschaftliche Existenz. Zugleich muss in diesem Land eine adäquate Betreuung gewährleistet werden. Kommen Sie auch hier endlich zu einer sachgerechten Lösung. ({5}) Mit den Forderungen im Antrag der FDP ist es aus unserer Sicht noch nicht getan. Meiner Fraktion und mir geht es um die Gewährleistung des grundgesetzlichen Anspruchs der Bürgerinnen und Bürger auf Gleichheit im Recht. Dieser Anspruch muss eben auch unabhängig vom Geldbeutel der rechtsuchenden Person gewährleistet sein. Hier bestehen gravierende Defizite. ({6}) Nehmen wir zum Beispiel die Prozesskostenhilfe. Diese wird von Menschen benötigt, die mit ihrem kärglichen Einkommen kaum über die Runden kommen und sich deshalb die Kosten eines Gerichtsverfahrens allzu häufig nicht leisten können. Betroffen sind Menschen, die gezwungen sind, für Hungerlöhne zu arbeiten, und vor allem Bezieherinnen und Bezieher von Leistungen nach dem SGB II und XII. Das sind Menschen, die unter der mangelhaften Hartz-IV-Gesetzgebung schon genug zu leiden haben. Glauben Sie mir: Das habe ich in meiner Tätigkeit als Sozialrichter oft erleben müssen. Zu einer existenziellen Bedrohung zähle ich es aber ausdrücklich auch, wenn Menschen um ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland streiten. Diese Regierung schiebt Menschen in Bürgerkriegsländer wie Afghanistan ab und gewährleistet hier keinen adäquaten Rechtsschutz. Das, was durch engagierte Anwältinnen und Anwälte unter hoher Arbeitsbelastung und unzureichender Vergütung geleistet wird, wird durch Mitglieder dieser Bundesregierung auch noch als „Anti-Abschiebe-Industrie“ verun­glimpft. Meine Damen und Herren, das ist eine Sauerei, um es einmal deutlich zu sagen. ({7}) Erhöhen Sie besser erst einmal die Gegenstandsstreitwerte in den Asylverfahren, damit diese überhaupt angemessen anwaltlich betreut werden können! Oder noch besser: Beenden Sie diese Abschiebepolitik! ({8}) Zum Thema Gegenstandsstreitwerte erlaube ich mir eine weitere Anmerkung. Es gibt auch Rechtsbereiche, in denen wir durchaus über niedrigere Werte reden sollten. Das betrifft ganz besonders massenhafte Abmahnungen im Bereich des Urheberrechts: ein durchaus profitables Geschäft mit Standardbriefen und vielen unbedarften Konsumentinnen und Konsumenten, die der Anwaltschaft in diesem Bereich lukrative Profite bei überschaubarem Aufwand versprechen. Hier sollten die Schlupflöcher geschlossen und eine wirksame Bagatellregelung geschaffen werden, die kostenpflichtige Abmahnungen unterbindet. ({9}) Es bleibt jedoch insgesamt dabei, dass die Forderung der Anwältinnen und Anwälte nach angemessener Vergütung berechtigt ist. Insoweit weist der Antrag der FDP auch deutlich in die richtige Richtung. Wir werden daher zustimmen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Katja Keul das Wort. ({0})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anwaltschaft ist als unabhängiges Organ der Rechtspflege eine tragende Säule unseres funktionierenden Rechtsstaates. Um bundesweit den Zugang zum Recht zu gewährleisten, sind wir ganz besonders auch auf die Einzelanwälte und auf kleinere Kanzleien in der Fläche angewiesen. ({0}) In diesen Kanzleien werden in der Regel keine Honorarvereinbarungen getroffen, wie das bei den Großkanzleien üblich ist, sondern es wird weiterhin nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz abgerechnet. ({1}) Diese staatliche Gebührenordnung ist eine soziale Errungenschaft aus der Zeit der Gründung der Sozialversicherung und sollte sicherstellen, dass die Rechtsangelegenheiten aller Bürger bearbeitet werden, indem für hohe Streitwerte höhere Gebühren als für niedrigere Streitwerte anfallen, unabhängig vom Zeitaufwand. Durch diese sogenannte Mischrechnung sollen sowohl arme als auch reiche Rechtsuchende zu ihrem Recht kommen. Über die Zeit hat dieses System natürlich auch Schwächen entwickelt, da viele Berater von Großmandanten und Unternehmen heute gar nicht mehr nach der Gebührenordnung abrechnen, sondern Stundenhonorare vereinbaren. Das ist für viele Rechtsuchende nicht bezahlbar. Die Flucht in die Stundenhonorare belastet außerdem die Mischrechnung der verbleibenden Anwältinnen und Anwälte, die nach wie vor in der Fläche für die Menschen zur Verfügung stehen. Sie sind quasi die Hausärzte des Rechtsstaates. ({2}) Die Gebührenordnung stellt für diese Anwälte immer noch die Abrechnungsgrundlage dar und garantiert auch einkommensschwächeren Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zum Recht. Damit das auch so bleibt, ist es wichtig, dass sich die dort festgeschriebene Vergütung auch an den tatsächlichen Kosten orientiert. Das ist sechs Jahre nach der letzten Anpassung nicht mehr der Fall. Nicht nur das elektronische Postfach hat etliche IT-Nachrüstungen erforderlich gemacht. Dazu kommen kontinuierlich steigende Kosten für Gehälter, Fortbildungen, Miete und Büroführung. Eine Anpassung der Rechtsanwaltsgebühren ist auch nicht zwangsläufig an eine Erhöhung der Gerichtskosten geknüpft, auch wenn die Ländervertreter das so einfordern. Das würde nämlich wieder zusätzliche Hürden für rechtsuchende Bürgerinnen und Bürger schaffen. Die Gerichtskosten sind nicht dazu da, die außergerichtlichen Kosten abzudecken, sondern, wie der Name schon sagt, die bei Gericht anfallenden Kosten. Anwaltsgebühren hingegen sind außergerichtliche Kosten. Richtig ist, dass die Länder die Kosten für die Prozesskostenhilfe tragen müssen, die sich durch die Gebührenordnung ebenfalls erhöht. Aber letztlich ist die Prozesskostenhilfe auch zu Recht eine öffentliche Aufgabe, die nicht allein auf Kosten der Anwaltschaft erbracht werden darf. ({3}) Die Prozesskostenhilfegebühren sind nämlich deutlich niedriger als die normalen Gebühren und nach oben gedeckelt. Wo gibt es das schon, dass Berufsträger von Gesetzes wegen verpflichtet werden, für eine geringere Vergütung zu arbeiten, um den Zugang zum Recht für Bedürftige sicherzustellen? Die Prozesskostenhilfe ist eine Stärke unseres Rechtsstaates, um die uns viele andere Länder beneiden, und sie kostet uns noch nicht einmal viel. Der staatliche Aufwand für die Prozesskostenhilfe in Deutschland beläuft sich gerade einmal auf 5 Euro pro Einwohner und Jahr. Das sollte uns der Zugang zum Recht für alle in diesem Rechtsstaat schon wert sein, und das sollte aus dem allgemeinen Steueraufkommen auch zu leisten sein. ({4}) Wenn die Menschen nämlich keinen Zugang mehr zu bezahlbarer Rechtsberatung haben, weil immer weniger Anwaltskanzleien bereit sind, nach der Gebührenordnung abzurechnen oder Prozesskostenhilfemandate anzunehmen, dann schaffen wir Probleme, die uns am Ende richtig teuer zu stehen kommen. Wir Grüne halten daher eine Erhöhung der gesetzlichen Gebühren ebenfalls für dringend notwendig und stimmen dem FDP-Antrag heute zu. ({5}) Allerdings gibt es aus der Anwaltschaft heraus noch einige weitere wichtige Vorschläge zu strukturellen Änderungen, die unter anderem die Vergütung im Familien- und Sozialrecht betreffen. Auch mit diesen strukturellen Anpassungen sollten wir uns näher befassen. Wer bereit ist, bedürftige Rechtsuchende zu vertreten, soll dadurch nicht zwangsläufig selbst bedürftig werden. ({6}) – Im Übrigen gehört Hamburg noch nicht zum ländlichen Niedersachsen, um das ergänzen zu dürfen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Reden der Kollegin Sonja Amalie Steffen für die SPD-Fraktion ({0}) und des Kollegen Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion ({1}) nehmen wir zu Protokoll. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Rechtsanwaltsgebühren zukunftssicher gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10002, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/8266 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der AfD-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Ausführung der EU-Prospektverordnung und zur Änderung von Finanzmarktgesetzen Drucksachen 19/8005, 19/8617, 19/9079 Nr. 6 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Drucksache 19/10000 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 27 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Sobald die notwendige Aufmerksamkeit hergestellt ist, können wir auch mit den Beratungen beginnen. Das Wort hat der Kollege Matthias Hauer für die CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir entscheiden heute über die weitere Ausführung der EU-Prospektverordnung. Wir wollen Unternehmen den Zugang zu den Kapitalmärkten erleichtern. Gerade kleine und mittlere Unternehmen erhalten damit eine größere Vielfalt an Finanzierungsmöglichkeiten. In Zeiten, in denen einige Politiker ihre linken Träume von Planwirtschaft und Enteignung ausleben wollen, ist es umso wichtiger, zu sagen: Wir als CDU/CSU wollen, dass Unternehmen in Deutschland wachsen können, dass sie Steuern zahlen, dass Menschen gutbezahlte Arbeit finden und dass der Mittelstand das Rückgrat unserer sozialen Marktwirtschaft bleibt. ({0}) Wachstum und Wohlstand erreicht man eben nicht mit Planwirtschaft und Enteignungen, sondern dadurch, dass deutsche Unternehmen neue Märkte erschließen und die besten Produkte entwickeln. Dazu brauchen sie irgendwann Kapital. Mit dem vorliegenden Gesetz können sich Unternehmen leichter über die Kapitalmärkte und über Crowdfunding finanzieren. Bereits im letzten Jahr haben wir dafür gesorgt, dass Unternehmen erst bei Wertpapieremissionen ab 8 Millionen Euro einen teuren und aufwendigen Prospekt erstellen müssen. Dabei haben wir den europarechtlichen Spielraum komplett ausgenutzt. Mit dem vorliegenden Gesetz erleichtern wir KMUs den Zugang zu den Kapitalmärkten weiter. ({1}) Das Bundesfinanzministerium hatte schon mit dem Gesetzentwurf unsere Forderung aufgenommen, die Ausnahmeregelung für CRR-Kreditinstitute auf 8 Millionen Euro auszuweiten. Durch die starke Regulierung ist diese Erleichterung gerade für kleine Banken und Sparkassen geboten. Das begrüßen wir sehr. ({2}) Als Union konnten wir auch bei den Einzelanlageschwellen ein paar Verbesserungen für die Anleger erreichen. Bei Bezugsrechtsemissionen und für die meisten GmbH & Co. KGs entfallen diese Schwellen komplett. Bei prospektfreien Angeboten heben wir sie leicht an. Das geht in die richtige Richtung. Aber mehr war mit der SPD leider nicht zu machen. Sie war an dieser Stelle ein bisschen mutlos. Der Bundesrat war schlauer. Er hatte schon im letzten Jahr zu Recht kritisiert, dass damit die Entscheidungshoheit der Privatanleger beschränkt wird. Auch einige SPD-geführte Länder hatten diese Weisheit. Wir als Union wollen Anleger informieren, damit sie eigene Anlageentscheidungen treffen können. Die SPD will Anleger bevormunden und ihnen pauschal vorschreiben, wie viel Geld sie in welche Anlagen investieren dürfen. Das ist nicht der Anlegerschutz, wie wir ihn uns vorstellen. Auch durch Crowdfunding wird die Kapitalaufnahme einfacher. Künftig muss erst ab einer Emission im Wert von 6 Millionen Euro ein aufwendiger Prospekt erstellt werden. Diese Grenze lag vorher bei 2,5 Millionen Euro. Gerade für Start-ups wird dadurch die Kapitalaufnahme durch Schwarmfinanzierung erleichtert. Wir verbessern zudem den Anlegerschutz. Bei einer Schwarmfinanzierung für Immobilien kann der Anleger nun schon im Informationsblatt erkennen, wie das Objekt besichert ist: schuldrechtlich oder dinglich. Durch die stärkere Entflechtung von Emittent und Crowdfunding-Plattform stärken wir die Intermediärfunktion der Plattform. Bei einem anderen Punkt hat die SPD ihre eigene Mutlosigkeit sogar noch getoppt: bei der Behandlung der GmbH-Anteile. Wir alle wissen, dass die weit überwiegende Zahl der kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland in der Rechtsform der GmbH organisiert ist. Dank der Opposition – Entschuldigung –, dank der SPD – manchmal geht es schneller, als man glaubt – profitieren die GmbHs von der Befreiung von der Prospektpflicht überhaupt nicht. Das hätten wir als CDU/CSU gerne geändert. Immerhin gibt es einen Schritt in die richtige Richtung. Wir erweitern den Befreiungstatbestand auf Genussrechte, und die Bundesregierung wird zu der Frage der GmbHs weiter evaluieren. Abschließend möchte ich mich für die konstruktiven Beratungen über den Gesetzentwurf bedanken bei den Mitarbeitern der Ministerien, bei den Sachverständigen, bei meinem Kollegen Johannes Steiniger sowie bei den Berichterstatterkollegen der anderen Fraktionen. Bei den GmbH-Anteilen ist leider kein großer Wurf gelungen. Abgesehen davon konnten wir aber viele Verbesserungen mit dem Gesetz durchsetzen, für bessere Finanzierungsmöglichkeiten des Mittelstandes und für einen starken Anleger- und Verbraucherschutz. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Kay Gottschalk für die AfD-Fraktion. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Präsidentin! Verehrte Kollegen! Herr Hauer, danke für das Ehezerwürfnis zwischen CDU/CSU und SPD, das Sie gerade zelebriert haben. Das ist sicherlich gute Wahlkampfhilfe für die Europawahl. Aber kommen wir zur Zielgeraden, auf der sich dieser Gesetzentwurf zur Ausführung der EU-Prospektverordnung befindet. Ich muss an dieser Stelle noch einmal ausführen, dass die Diskussion in der Anhörung am 8. April dieses Jahres sehr spannend und interessant war. Viele Dinge, die wichtig sind und von Fachleuten in der Diskussion genannt wurden, wurden von Ihnen nicht berücksichtigt. Aber ich muss auch einmal ein Lob aussprechen – das ist das erste Mal; ich denke, der Abend ist noch voller Wunder –: Tatsächlich haben SPD und CDU/CSU kurz vor Schluss doch noch erkannt, dass beim Crowdfunding nachgelegt werden muss. Beim Crowdfunding war bisher das öffentliche Angebot von Vermögensanlagen untersagt, wenn ein Emittent auf das Unternehmen, welches Crowdfunding anbietet, einen maßgeblichen Einfluss ausüben kann. Das war gut und richtig so. Nun nehmen Sie auch die andere Seite der Medaille – das ist tatsächlich lobenswert – ins Visier, nämlich den Fall, wenn der Anbieter des Crowdfundings, also der Dienstleistungsplattform, Einfluss auf den Emittenten ausüben kann. Hierzu wird eine Ergänzung in § 2a Absatz 5 im Vermögensanlagengesetz vorgenommen. Das ist richtig so. Kommen wir aber in der Kürze der Zeit zu den Kritikpunkten. Erstens. Ich möchte den Anwalt Mattil nicht in Gänze zitieren. Aber er hat sehr gut deutlich gemacht: Ein Prospekt darf in Deutschland auch in englischer Sprache emittiert werden. Das bedeutet für denjenigen, der sein Recht einfordern will, dass er ein teures Übersetzungsbüro beauftragen muss, damit er sein Recht durchsetzen kann. Bei einer Anlage von 10 000 Euro entstünden dem Anleger bei der Übersetzung eines durchschnittlich 220-seitigen Prospekts – das hat Herr Mattil berechnet – Kosten in Höhe von 15 000 Euro. Meine Damen und Herren, das ist zynisch. Ich bitte Sie, wenn Sie regulieren, endlich mit Gewicht in Europa aufzutreten und dort Druck zu machen, dass die entsprechende europäische Richtlinie dahin gehend geändert wird. ({0}) Zweitens. Das habe ich in meinen Reden immer gesagt: Der Anlegerschutz ist komplett hinten runtergefallen. Sie haben die Anlageschwelle von 10 000 auf 25 000 Euro festgesetzt. Die BaFin hat weiterhin nur ein formelles Prüfungsrecht. Aber der Hammer ist eigentlich – das haben Sie hier verschwiegen, Herr Hauer –: 60 Prozent im Crowdfunding – das sind 220 Millionen von 364 Millionen Euro –, das für Start-ups, also für junge Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen sollen – Sie haben eben vom Mittelstand gesprochen –, bei der Beschaffung von Venture-Capital und Risk-Capital wichtig ist, werden mittlerweile für Investments in Immobilien genutzt. Es werden schlichtweg Immobilien finanziert. ({1}) Die Fachleute in der Anhörung haben gesagt, dass Anlagen, die durch das Crowdfunding finanziert werden, in minderwertige Immobilien gesteckt werden, in Immobilien auf dem A-Markt, oder dort, wo Banken, Versicherungen und Sparkassen tätig sind, keine Finanzierung finden. So tragen Sie mit diesem Gesetz sogar dazu bei, dass durch Crowdfunding riskante Investments auf einem ohnehin überhitzten Immobilienmarkt getätigt werden. Wo ist denn da bitte schön der Anlegerschutz, und wo sind denn da die Sicherung und der Weg einer gesunden Marktwirtschaft? Das ist an dieser Stelle leider nicht gegeben. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Gottschalk, kommen Sie bitte zum Schluss.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zum Ende. ({0}) Trotz einiger guter Lichtblicke werden wir diesem Gesetzentwurf so nicht zustimmen können; denn der Anlegerschutz ist hier nur ein blankes Märchen zu später Stunde. Danke schön. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun Hubertus Zdebel das Wort. ({0})

Hubertus Zdebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004449, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Umsetzung der EU-Prospektverordnung in nationales Recht geht heute in die zweite Runde. Es ist sicherlich ein recht sperriges, aber für den Anlegerschutz sehr wichtiges Thema, über das wir heute diskutieren. Um es gleich zu sagen: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vertut die Bundesregierung die zweite Chance auf mehr finanziellen Verbraucherschutz. ({0}) Die Hauptkritikpunkte von uns Linken, die wir schon im vergangenen Jahr vorgetragen haben, bleiben nach wie vor bestehen. Wir sehen die immer weitere Anhebung der Schwellenwerte auf nun 8 Millionen Euro bei Wertpapieren und 6 Millionen Euro im sogenannten Crowdfunding-Bereich, also im Bereich der Schwarmfinanzierung, bis zu deren Höhe Wertpapierherausgaben prospektfrei sind, grundsätzlich sehr kritisch. Wertpapierprospekte sind zwar sehr umfangreich und auch sehr kompliziert – da stimme ich durchaus dem einen oder anderen zu –, aber sie erfüllen für die Verbraucherinnen und Verbraucher eine wichtige Funktion als Haftungsgrundlage und damit als Basis für Schadensersatzansprüche. Das jetzt vorgesehene dreiseitige Infopapier kann das, was im Prospekt steht, nicht ersetzen. ({1}) Deswegen sind wir der Auffassung, dass das Recht auf Schadensersatzansprüche usw. nicht durch eine allzu großzügige Prospektfreiheit ausgehebelt werden darf, weder für Wertpapiere noch für die sogenannte Schwarmfinanzierung. Auch der gravierende Mangel bei der Sprachenregelung für Prospekte ab einem Herausgabevolumen von 8 Millionen Euro bleibt weiter bestehen. Im Schadensfall müssen Geschädigte den Prospekt auf eigene Kosten in die geltende Amtssprache – hier bei uns selbstverständlich Deutsch – übersetzen lassen, um Schadensersatzansprüche geltend machen zu können. Dies ist ein sehr teures Unterfangen: circa 15 000 bis 20 000 Euro, je nach Umfang des Prospekts. Das schreckt natürlich sehr viele der Geschädigten ab, überhaupt vor Gericht zu gehen. Wir Linken finden das völlig unakzeptabel. Wir sind der Meinung: Verbraucherinnen und Verbraucher brauchen endlich das Recht auf eine vollständige Übersetzung des Prospekts durch den Anbieter, auch wenn dafür EU-Recht geändert werden müsste. ({2}) Zusammenfassend lässt sich sagen: Im Kleinen gibt es zwar auch positive Aspekte in diesem Gesetzentwurf wie die Abschaffung des unvollständigen Verkaufsprospekts, aber Entscheidendes wird mit diesem Gesetzentwurf nicht geleistet. Vielmehr erhöhen sich Verlustrisiken für Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn zum Beispiel die Prospektbefreiung beim Crowdfunding nun auch auf Genussrechte ausgedehnt wird. Als ob es die Pleite von Prokon nie gegeben hätte! Das ist meines Erachtens nicht hinnehmbar. ({3}) Der finanzielle Verbraucherschutz muss nach Auffassung der Linken noch stärker in die Aufsichtsstrukturen einfließen. Das ist das Kerndilemma, das Sie aber überhaupt nicht angehen. Neben einer Ausweitung des Aufsichts- und Kontrollumfangs der Finanzaufsicht BaFin –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Zdebel, achten Sie bitte auf die Zeit.

Hubertus Zdebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004449, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– ich komme zum Schluss – muss unbedingt auch ein präventives Instrument eingeführt werden. Deswegen fordern wir Linken schon seit längerer Zeit eine obligatorische Zulassungsprüfung; denn nur mit einem solchen Finanz-TÜV kann wirklich der entscheidende Schritt gemacht werden, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Setzen Sie jetzt bitte den Punkt.

Hubertus Zdebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004449, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– um den überschießenden, zu Blasenbildung neigenden Finanzsektor wieder auf die der Realwirtschaft dienende Funktion zurückzustutzen. Das ist meines Erachtens die Kernaufgabe. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Ryglewski, Schäffler, Stefan Schmidt und Radwan für die SPD, die FDP, die Grünen und die Union nehmen wir zu Protokoll. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur weiteren Ausführung der EU-Prospektverordnung und zur Änderung von Finanzmarktgesetzen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10000, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/8005 und 19/8617 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen und der AfD-Fraktion angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Mehrheit der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der AfD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10000 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der AfD-Fraktion angenommen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In ganz Europa haben sich Kommunen zu „Solidarischen Städten“ erklärt und ihre Bereitschaft bekundet, mehr Schutzsuchende aufzunehmen. In Deutschland sind es mindestens 51 Kommunen und Städte. Angesichts des inhumanen Trends der EU-Flüchtlingspolitik sehen wir in diesem Netzwerk eine absolut begrüßenswerte Maßnahme. ({0}) Tausende Schutzsuchende ertrinken Jahr für Jahr im Mittelmeer. Ihr Tod wird von der EU billigend in Kauf genommen, eine staatlich organisierte Seenotrettung gibt es nicht. Private Seenotrettungsschiffe retteten dagegen in den letzten Jahren Hunderten von Flüchtlingen das Leben. Wir müssten ihnen dankbar sein; doch stattdessen haben wir die Situation, dass diese Retter von EU-Regierungen diffamiert und kriminalisiert werden, ({1}) dass ihre Schiffe beschlagnahmt, ihre Kapitäne und Crews eingesperrt werden. ({2}) Zugleich stoppte die EU vor wenigen Wochen die Mission Sophia, in deren Rahmen immerhin 50 000 Menschen in Seenot das Leben gerettet wurde. Die EU hat dafür gesorgt, dass es im Mittelmeer jetzt fast gar keine Rettungsschiffe mehr gibt. Das ist einfach nur noch schäbig, meine Damen und Herren, vor allen Dingen, wenn man sieht, dass die EU die libysche Küstenwache unterstützt, die bekanntlich eine kriminelle Bande ist, die private Rettungsschiffe angegriffen hat. Flüchtlinge werden durch sie in – man muss es so sagen – irreguläre Gefängnisse gebracht, die selbst deutsche Diplomaten mit Konzentrationslagern verglichen haben. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir, wie gesagt, die Initiative „Solidarische Städte“ sehr. ({3}) Meine Damen und Herren, als Malta im vergangenen Jahr das Flüchtlingsschiff „Lifeline“ nicht in den Hafen einfahren ließ, bot Berlin an, einen Teil der 230 Flüchtlinge unkompliziert aufzunehmen. Ich finde, das ist eine großartige Geste, und möchte hier auch ausdrücklich Danke sagen. ({4}) Aber den Kommunen und Ländern fehlen einfach die rechtlichen Kompetenzen, um Flüchtlinge selbstständig aufzunehmen. ({5}) Innenminister Seehofer verweigerte damals die erforderliche Zustimmung und verlängerte damit das Elend der Menschen auf der „Lifeline“. Deshalb fordern wir mit unserem Antrag: Eine solche Zustimmung muss künftig zügig und verbindlich erfolgen. ({6}) Es ist klar, dass wir solidarische Städteunterstützung brauchen. Nationale Regierungen, aber auch die EU könnten einen Fonds einrichten. Das stellen wir ebenfalls im Antrag dar. Durch Investitionen, Infrastrukturmaßnahmen würde das wichtige Signal ausgesandt werden, dass man der Aufnahme von Flüchtlingen positiv gegenübersteht. Unsere Forderungen finden sich im Übrigen auch in dem Osterappell zur Seenotrettung wieder, der von 210 Bundestagsabgeordneten unterzeichnet wurde, und in einem offenen Brief, der von 250 Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Gewerkschaften und Jugendverbänden unterzeichnet wurde. Wir fordern Sie also auf: Machen wir einen ersten Schritt, dass Kommunen, die bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, das auch wirklich selbstständig machen können. Dann haben wir schon viel getan, um Menschen, die aus Seenot gerettet wurden, ein gutes Zuhause zu geben. Ich danke Ihnen. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen ja, wie es die Linken und die Grünen mit der Umsetzung geltenden Rechts halten, besonders dort, wo sie politische Verantwortung tragen. Das betrifft die Fragen der inneren und der öffentlichen Sicherheit – erst heute durften wir wieder über die Vorschläge zum Umgang mit Drogenkriminalität im rot-rot-grün regierten Berlin verwundert den Kopf schütteln – ({0}) ebenso wie die Durchsetzung rechtsstaatlicher Vollzugsmaßnahmen im Asylbereich. In einer bekannten Samstagabendsendung des deutschen Fernsehens hätte es dazu wahrscheinlich heißen können: Michael Kuffer aus München wettet, dass er unter 16 Bundesländern die grün- und linksregierten Bundesländer allein anhand der Rückführungsstatistiken identifizieren kann. ({1}) Was jedoch eine neue Qualität hat, ist, dass Sie offen kommunizieren und jede sich bietende Möglichkeit unterstützen, die Durchsetzung geltenden Asylrechts zu unterlaufen. Dass Sie sich dabei pauschal auf die Zivilgesellschaft berufen, zeugt nicht nur von Ignoranz, sondern, vorsichtig ausgedrückt, auch von einem ausbaufähigen Demokratieverständnis. Ich muss Ihnen das so deutlich sagen. ({2}) Wir kennen es zur Genüge, dass sich die Linken über Andersdenkende gerne moralisch erheben. Dass Sie aber jenen Menschen, die nicht Ihrer Ansicht sind, die zu den Grenzen der Leistungsfähigkeit eine andere Meinung haben als Sie, die Zugehörigkeit zur Zivilgesellschaft gleich gänzlich absprechen, ja, dass Sie deren Existenz schlicht negieren, das, liebe Freunde, ist neu. Es ist ein Treiber für genau jene Radikalisierung in Teilen unserer Bevölkerung, die Sie zu Recht beklagen. Ich will es Ihnen aber sagen: Sie sollten wissen, dass die Zivilgesellschaft in unserem Land in der Frage, welche Aufnahmekapazitäten dieses unser Land hat und sich leisten sollte, tief gespalten ist. ({3}) Mit dieser arroganten Diktion ({4}) setzen Sie die Unterstützung der Bevölkerung – der Zivilbevölkerung, auf die Sie sich berufen – für tatsächlich hilfsbedürftige Menschen vorsätzlich aufs Spiel. ({5}) Es gibt in unserer Gesellschaft immer noch einen breiten Konsens darüber, dass wir denjenigen, die wirklich unseres Schutzes bedürfen, ({6}) helfen, solange sie schutzbedürftig sind. Aber ich sage Ihnen auch: Wir können dieses Versprechen nur einlösen, wenn wir dafür sorgen, dass die Menschen, die unseren Schutz nicht oder nicht mehr brauchen, unser Land auch zügig wieder verlassen müssen. ({7}) Da sage ich Ihnen Folgendes zu Ihrem Vorschlag mit den kommunalen Modellen: Es ist auch nach geltendem Recht völlig unproblematisch möglich, dass sich Kommunen überdurchschnittlich engagieren, wenn sie sagen: Das können wir leisten. – Das geht darüber, dass innerhalb der Länder die Verteilung auf die Kommunen entsprechend den Leistungsfähigkeitserklärungen der Kommunen vorgenommen werden kann. Dazu müssen wir als Bundesgesetzgeber nicht tätig werden. Aber da, wo ich herkomme, sagen wir Folgendes: Liberal samma scho, aber bläd samma ned – Liberal sind wir schon, aber nicht blöde. ({8}) Über Modelle kommunaler Unterstützung wollen Sie uns Aufenthaltsrechte unter der Tür durchschieben, die wir als Bundesgesetzgeber nicht gewähren können, weil die Frage des Aufenthalts an der Grenze der Kommunen nicht halt macht; denn jemand, der die Eintrittskarte für das Bundesgebiet bekommt, wird sich über Grenzen von Kommunen und auch über Grenzen von Bundesländern hinweg bewegen, und die Aufenthaltsbeendigung endet immer wieder hier. Hier ist das Problem, das wir lösen müssen. Das verschweigen Sie. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deshalb können wir das nicht mitmachen, können wir diesen Vorschlag nicht mittragen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kuffer. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Bernd Baumann, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als in Italien noch die Sozialdemokraten regierten, 2016, starben im Mittelmeer 5 149 Menschen, elendiglich ertrunken, auf das Meer gelockt von kriminellen Schleusern und Menschenhändlern. ({0}) Jetzt, im ersten Quartal 2019, waren es nur noch 289. Dieser Rückgang ist einzig und allein auf die erfolgreiche Grenzpolitik der neuen Regierung Italiens zurückzuführen. ({1}) Meine Damen und Herren, wir gratulieren Matteo Salvini zu dieser großartigen und mutigen Leistung. Aber 289 Tote sind immer noch zu viel. Noch erfolgreicher sind die Australier, sie zeigen, wie man verhindert, dass Migranten im Meer ertrinken und Schlepperbanden profitieren. Das gelingt, obwohl Australiens riesige Seegrenzen viel schwieriger zu schützen sind als Europas Grenze im Mittelmeer. Als die linke Labor-Partei noch in Australien regierte – bis 2013 –, starben 1 200 illegale Bootsmigranten vor den Küsten Australiens. Das Meer spülte zerstückelte Leichen von Kindern an. Haie hatten sie in den Gewässern zerfressen. Die neue, nun konservative Regierung begann 2013 ihr Programm „Souveräne Grenzen“, eine breite Medienkampagne mit dem Titel „No Way“ und machte in allen Herkunftsländern klar: Illegal Einreisende haben keine Chance, no way. Die Marine unterband illegales Anlanden, versorgte aber alle Migranten gut und brachte sie in sichere Häfen außerhalb von Australien. Dafür dürfen nun aber jedes Jahr 20 000 echte Flüchtlinge ins Land. Wer bloß den Schleppern die höchsten Preise zahlt, hat keine Chance mehr. Ergebnis: Seit drei Jahren gibt es keinen einzigen Toten mehr, auch keine von Haien zerfressenen Kinder. Das ist humane Grenzpolitik ohne links-grünen Eifer und Geifer, aber mit Vernunft, mit Menschlichkeit und politischem Weitblick, meine Damen und Herren. ({2}) Die Links-Grünen wollen aus solchen Beispielen aber nichts lernen. Sie fordern mit ihren heutigen Anträgen, Salvini in den Rücken zu fallen und der Schleusermafia die Arbeit zu erleichtern. Ihr Clou dabei: Deutsche Städte und Gemeinden sollen diese Migranten jetzt nach eigenem Willen und direkt bei sich aufnehmen können, das heißt ohne Kontrolle durch den Bund. ({3}) Es entstünde eine Art riesige Rolltreppe, ein endloses Fließband für Migranten aus Orient und Afrika direkt hinein ins Herz unserer Städte und Gemeinden. Meine Damen und Herren, ist das nach den Erfahrungen der letzten Jahre nur naiv? Nein, das ist schon längst gemeingefährlich. ({4}) Seien Sie einmal ehrlich: Wer kommt denn zurzeit in Booten über das Meer? Die größte Gruppe stellen Marokkaner. Flüchtlinge aus Marokko, einem Land, in dem jährlich über 11 Millionen Urlauber aus aller Welt die Sonne genießen? Für solche Wirtschaftsmigranten wie aus Marokko, die ohne jeden Schutzgrund kommen, erträumen sich Grüne und Linke jetzt ihr Dauerfließband nach Deutschland. Dabei müssen doch zehn deutsche Durchschnittsverdiener täglich schuften, um mit ihren Steuern einen einzigen dieser Migranten zu versorgen, hart arbeitende Krankenschwestern, Busfahrer, einfache Handwerker. Jeder Patriot muss es doch ablehnen, unsere Steuergelder so sinnlos an die ganze Welt zu verschleudern. ({5}) Aber Patriotismus bei den Grünen? Wie sagte noch der Obergrüne Robert Habeck? Dass er – wörtlich – Patriotismus stets zum Kotzen fand. ({6}) Er wusste – wörtlich – mit Deutschland nichts anzufangen und weiß es bis heute nicht. ({7}) Bei dieser Art von Politik, meine Damen und Herren, merkt man das deutlich. Mit den Deutschen kann er nichts anfangen, mit ihren Steuergeldern schon. ({8}) Viel schlimmer noch: Bei alldem sind die Links-Grünen nicht allein. ({9}) 50 deutsche Städte und Gemeinden unterstützen diesen Vorschlag ausdrücklich und erklären sich bereit, immer neue Bootsmigranten aufzunehmen. ({10}) Und von wem werden diese Städte überwiegend regiert? Von CDU und SPD. Die wollen das auch. ({11}) Egal was die Parteien hier im Bundestag behaupten, in der Praxis unterstützen CDU/CSU und SPD diesen links-grünen Fanatismus Tag für Tag. Für eine solche bescheuerte Politik hat die AfD nur eine Antwort: No Way. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Baumann, ich wollte eigentlich mit etwas Angenehmem anfangen. Aber ich muss mit Ihnen anfangen. ({0}) Das ist mein Schicksal. Ich frage mich immer – ich habe es immer noch nicht begriffen –, warum Sie es tatsächlich in Ihren Programmen und manchen Reden wagen, sich auf das christliche Abendland zu berufen. ({1}) Wenn Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister – ob die nun von der CDU sind oder von sonst einer Partei; ich würde mich auch freuen, wenn AfD-Bürgermeister so handelten; wobei ich mir nicht wünsche, dass es sie gibt – sich bereit erklären, um ein Zeichen zu setzen, Geflüchtete aus dem Mittelmeer aufzunehmen, dann ist das ein zutiefst christlicher Akt. Es ist kein Grund, diese Menschen zu denunzieren. ({2}) Zweitens. Wenn Sie so gern Tote aufrechnen, sollten Sie bei dieser Bilanz diejenigen, die in Afrika auf dem Weg sterben oder die in libyschen Lagern umkommen oder die in den von Ihnen so geschätzten Unrechtsregimen wie Syrien sterben, auch aufrechnen. Wenn Sie uns diese Bilanz präsentieren würden, würde ich mich sehr freuen; denn es wäre ein Akt der Fairness. ({3}) Zum Dritten glaube ich, es ist kein Grund, auch nicht um diese Uhrzeit, auf diese Weise, in dieser Form zynisch über diese Situation, die gegenwärtig im Mittelmeer immer noch herrscht, und auch die vielen Toten, von denen wir wissen und doch nicht wissen wollen, zu sprechen. ({4}) Es ist zynisch, das zu tun, um daraus parteipolitischen Profit zu schlagen, und es ist zutiefst zynisch, wenn man eine Parteiprogrammatik verfolgt, die sonst nie Menschenrechte so ernst nimmt. Wenn Sie sich einmal mit deutschem Bildungsgut auseinandersetzen würden, könnten Sie Hannah Arendt fragen. Sie definiert Menschenrechte als das Recht, Rechte zu haben. ({5}) Anders als Sie war ich auf einem solchen Schiff. Ich würde Ihnen das auch empfehlen, ich würde der gesamten AfD-Fraktion einmal drei Wochen auf einem Schiff im Mittelmeer mit Bootsflüchtlingen empfehlen. ({6}) Denn dann erkennen Sie, was es bedeutet, sich in einer Situation zu befinden als Mensch ohne das Recht, Rechte zu haben. ({7}) Ich denke, dass wir alle, ungeachtet wie wir zu diesen Anträgen stehen, in dem Gedanken geeint sein sollten, dass es nicht weiter sein darf, dass Menschen tagelang, wochenlang auf Schiffen darauf warten müssen, wieder Menschen zu werden, die ihre Rechte wahrnehmen können. ({8}) Wir können auch nicht hinnehmen – wider besseres Wissen hinnehmen –, wie Menschen in libyschen Lagern verrecken, vergewaltigt werden, Misshandlungen erleben oder wie sie im Mittelmeer ertrinken. Ein kleines Beispiel, das vor einigen Wochen passierte: Wenn nicht das Außenministerium, dem ich zu großem Dank verpflichtet bin, agiert hätte, wären nicht nur 8 Menschen von einem Boot mit 28 Menschen ertrunken, sondern es wären alle gestorben. Das heißt, es wäre vielleicht einmal diese Frage – jenseits aller großen Lösungen der Migrationspolitik – ein Punkt, an dem wir alle gemeinsam an einem Strang ziehen könnten, um eine Lösung zu finden. Das wäre mein Appell. Jetzt komme ich aber zu dem, was ich eigentlich sagen wollte, bevor Herr Baumann nachhaltig meine Laune verdarb. Ich komme gerade von einer Veranstaltung im Forum der Allianz mit dem Titel #myeurope. Da erlebte man Hunderte von Leuten mit großer Begeisterung für dieses Europa. Ich wünschte mir, solche Begeisterung natürlich auch in anderen Stadtteilen zu erleben, in Neukölln, in meinem Wuppertal-Oberbarmen. Ich wünschte, die auch am Mittelmeer erleben zu können. Ich wünschte mir auch, dass wir alle in Fragen der Migration einmal jenseits von Debatten über Abschiebung und über deren Weiterentwicklung – so notwendig die in diesem Bereich sein mögen – und auch ohne immer wieder die nächsten Toten beklagen zu müssen, aber auch ohne den anderen wieder vorzuwerfen, dass sie entweder viel zu human oder viel zu liberal seien, im Bereich der Migrationspolitik endlich wieder Hoffnung einkehren lassen und mehr Kreativität und mehr Menschlichkeit und zugleich Pragmatismus walten lassen. Insofern werte ich Ihre Anträge, auch wenn ich sie nicht komplett teile, zumindest als einen Anstoß, dass wir gemeinsam diese Hoffnung wagen können. ({9}) – Wieso? Frau Polat, Sie selber waren mit mir auf dem Mittelmeer und haben sich die Situation angeschaut. ({10}) Gemeinsam haben wir den Osterappell unterschrieben. Es nützt aber nichts, wenn Sie sich jetzt in Ihren Anträgen auf den Plan von Gesine Schwan, übrigens einer sehr geschätzten und herausragenden Sozialdemokratin, berufen, der aber als solcher ein Plan für die gesamteuropäische Migrationsfrage ist. Der Ansatz, den Sie hier unterstützen, kann mit der Frage der Seenotrettung verbunden werden, aber er ist nicht der entscheidende Punkt. ({11}) Wir können doch nicht suggerieren, dass allein davon entscheidend abhängt, ob wir vorankommen. ({12}) Wir brauchen dringender denn je endlich eine zivile, im Idealfall eine öffentliche, eine staatliche Seenotrettung. Da sind sich viele hier in diesem Raum einig. ({13}) Wir müssen sehen, wie wir einen Ad-hoc-Verteilmechanismus bekommen, der ad hoc, das heißt sofort, funktioniert und nicht nach Tagen oder Wochen. Im Rahmen dessen kann ein Element tatsächlich sein, dass Kommunen aufnehmen können. Aber da müssen wir uns erst einig werden – und das sind wir keineswegs –, ({14}) ob jeder, der gerettet wird, ({15}) automatisch eine Aufenthaltserlaubnis bekommt oder ob jeder ein Asylverfahren durchlaufen muss. Das sind durchaus andere Ansätze. Wenn Sie in Ihrem Antrag fordern, dass wir § 23 Absatz 1 Aufenthaltsgesetz in eine Benehmenslösung umwandeln, ({16}) dann hieße das genau solches: dass jeder, der gerettet wird, eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland bekommt. Das ist nicht die Position unserer Fraktion. Gleichwohl lasse ich mir von Ihnen nicht vorwerfen, dass wir uns gegen Seenotrettung aussprechen, keineswegs. Nur sind die Wege dahin durchaus unterschiedlich. ({17}) Aber wir sollten geeint sein, alle, über Fraktionsgrenzen hinweg, dass wir diesen Zustand nicht weiter erdulden dürfen. Dafür müssen wir ringen. Ich möchte es nicht mehr erleben, dass wir in diesen permanenten Auseinandersetzungen hier immer parteipolitisch überformt im Modus des Vorwurfs einander deutlich machen, dass wir eigentlich die Vertreter der wahren Lehre sind. Was nutzt uns allen das? Was nutzt uns das, wenn wir dieses Land immer mehr in die Spaltung treiben? Wir müssen beides gleichzeitig schaffen: Wir müssen diejenigen, die Skepsis haben, die zweifeln, die Angst haben gegenüber Zuwanderung, ernst nehmen und gleichzeitig diejenigen, die Politik für Geflüchtete machen. Das ist verdammt noch mal unsere politische Aufgabe, das ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, nicht mehr und nicht weniger. ({18}) Es ist nicht hilfreich, zu sagen, wie es im Antrag der Linken steht, dass die EU die libysche Küstenwache aufrüsten würde, „damit diese“ die Menschen, die Geretteten, in „Folter, Vergewaltigung und Tod … zurückschleppt“. Man achte auf die Worte: „damit“! Wir können uns einig sein, dass da womöglich Fahrlässigkeit ist und dass wir das in Kauf genommen haben.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Lindh, kommen Sie bitte zum Schluss. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber es nützt nichts – gerade vor der Europawahl –, Europa und der EU ins Gesicht zu schlagen, um damit Kooperation zu erreichen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Lindh, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie haben jetzt noch einen Satz.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, wir müssen zusammen einen Weg finden, um Leben zu retten, um Menschen zu unterstützen. Das ist unsere Aufgabe und nicht eigene parteipolitische Gewinnspiele. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

So, Leute, jetzt kommt mal runter, es ist ein ernstes Thema. ({0}) – Es ist manchmal schon heftig, zwischen AfD- und CDU-Herren zu sitzen. ({1}) Aber gut. ({2}) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fast fünfzig Kommunen in Deutschland sind bereit, freiwillig mehr Flüchtlinge bei sich aufzunehmen, als sie nach dem Königsteiner Schlüssel zugewiesen bekommen haben. Das ist ein starkes Signal an uns alle, besonders in Zeiten, in denen in Teilen Europas ein menschenverachtender Wettkampf tobt, nämlich dahin gehend, wer die geringste Zahl an Flüchtlingen aufnehmen muss. ({3}) Diese Kommunen wollen Kapazitäten nutzen, so wie auch in meiner Heimatstadt Düsseldorf. Hier sind sehr viele Unterkünfte für Flüchtlinge – übrigens ausschließlich mit kommunalen Mitteln – gebaut worden, die heute aufgrund der nachlassenden Zahl nicht mehr komplett belegt sind. Für diese kommunalen Initiativen können wir nur dankbar sein. Das sollten wir auch. Denn die Kommunen sind der Grundpfeiler der Demokratie. Dort entscheidet sich, ob Fremdenfeindlichkeit und Vorurteile sich ausbreiten oder eben Hilfsbereitschaft herrscht. ({4}) Das ist vorbildlich für ein ganzes Land. Voraussetzung dafür ist allerdings auch, dass die Städte und Gemeinden entsprechend finanziell ausgestattet werden und über Jahre hinaus die finanziellen Mittel zuverlässig bekommen, die sie benötigen, um Flüchtlinge in das Berufsleben und in den Alltag zu integrieren. Ohne funktionierende Kommunen ist ein Staat nicht zu machen. ({5}) Der Bund muss daher seinen Verpflichtungen nachkommen. Wenn der Bund Aufgaben bestellt, hat er sie gefälligst zu finanzieren. Da reicht keine Anschubfinanzierung und „Dann schauen wir mal“, sondern er muss das Geld bereitstellen. ({6}) Wir Abgeordnete, vor allen Dingen der Finanzminister, sollten ihnen da keine Steine in den Weg legen. Es ist bewiesen, dass Integration Zeit braucht und die Kommunen entsprechende Mittel. ({7}) Bei den Anträgen, die uns heute vorliegen, haben wir deswegen ein Störgefühl. Ich sage Ihnen auch gerne, warum. Für den Einsatz derjenigen, die sich organisieren, um auf privaten Schiffen Flüchtlinge im Mittelmeer zu retten, haben die Freien Demokraten ausgesprochen großen Respekt. Bei der privaten Seenotrettung darf man allerdings ein Problem nicht ignorieren – und man sollte auch, ich bitte darum, nicht naiv sein –: Die Schlepper spekulieren darauf, dass solche Initiativen unterwegs sind, und packen im wahrsten Sinne des Wortes regelrecht Flüchtlinge in seeuntaugliche Boote und schicken sie aufs Meer, wenn ein solches Schiff auftaucht, ({8}) drängen sie zu lebensgefährlichen Überfahrten und riskieren deren Tod. Meine Damen und Herren, diese Schlepper minimieren dabei ihre eigenen Kosten und das Risiko, erwischt zu werden. Das ist Zynismus pur, und das ist unerträglich. ({9}) Wir in diesem Haus diskutieren über viele Themen, Fluchtursachenbekämpfung, Einwanderungsgesetz, auch über eine gesamteuropäisch organisierte Seenotrettung. Es ist schlichtweg wahr: Das Aussetzen der Seenotrettung derzeit im Mittelmeer ist ein europäisches Armutszeugnis. ({10}) Meine Damen und Herren, über ganz unterschiedliche Lösungen sprechen wir hier. Die Verantwortung für diese Frage trägt letztlich die Bundesrepublik, das heißt, rechtlich ist der Bund zuständig, nicht die Kommunen. Die Frage, welche und wie viele Schutzsuchende in den Städten sind, muss vom Bund geregelt werden. Ich bin allerdings der Meinung, dass der Innenminister die Kommunen unterstützen sollte, die Flüchtlinge aufnehmen. Die Länder können das auch tun; das wurde gerade gesagt. Eines darf nicht sein: dass das willkürlich geschieht, gewissermaßen auf Zuruf. Das können wir so nicht handhaben. Wir würden die Souveränität des Bundes auch nicht unterlaufen wollen. Deswegen können wir diesen Antrag in dieser Form nicht mittragen. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Strack-Zimmermann. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast eine Viertelmillion Menschen sind bei der „Unteilbar“-Demonstration für eine offene Gesellschaft auf die Straße gegangen. Tausende Menschen engagieren sich bei der „Seebrücke“, arbeiten in der solidarischen Flüchtlingshilfe oder unterstützen die zivile Seenotrettung. Sie alle wollen, dass Europa Verantwortung übernimmt, Verantwortung für Menschen, die vor dem Ertrinken bewahrt werden konnten und in Europa einen Asylantrag stellen wollen. Ja, Herr Kuffer, es mag sein, dass es vielleicht nicht die Mehrheit ist – ich persönlich weiß es nicht –; aber ich finde, dass der Ausdruck der Zivilgesellschaft gerade in den letzten Monaten Grund genug ist, dass wir uns mit den Vorschlägen hier im Parlament befassen. ({0}) Ich persönlich und auch meine Fraktion, wir finden, dieses Engagement ist notwendig. Es ist notwendig, weil es die europäischen Mitgliedstaaten in vier Jahren nicht geschafft haben, eine gemeinsame, staatlich finanzierte und organisierte Seenotrettung auf den Weg zu bringen, weil sie es bis heute nicht vermocht haben, legale, geordnete und sichere Wege für Menschen in Not zu schaffen. Die zivilen Seenotretterinnen und Seenotretter – das ist das Ergebnis des Ganzen – füllen die Lücke, die das aktive Nichthandeln der europäischen Mitgliedstaaten hinterlässt. Dafür sollten wir dankbar sein. ({1}) Hier möchte ich gern meiner Kollegin von der FDP, Frau Strack-Zimmermann, antworten: Es ist nicht falsch, was Sie sagen; was auf dem Mittelmeer passiert, hängt mit der Situation in Libyen zusammen. Wir wissen um die Not der Menschen. Wir wissen auch, dass viele Menschen auf die Boote gezwungen werden. Wir wissen auch, dass Geschäft damit gemacht wird. Wir wissen auch, dass die libysche Küstenwache, die nicht eine feststehende Institution ist, sondern ein Zusammenschluss von Milizen, ihren Anteil dazu beiträgt. Nur, was ist die Alternative? Diese Frage müssen wir uns bei dieser Debatte immer wieder stellen. Es sind Menschen auf dem Mittelmeer. Sie geraten in Seenot. Wir können nicht einfach wegschauen und sie sterben lassen. ({2}) Genau deswegen ist es uns wichtig, in diesem Zusammenhang darüber zu reden: Was können wir machen? Denn es hört nicht auf. Seit über einem Jahr geht es so, dass, sobald ein Schiff ein in Seenot geratenes Boot auffindet und die Menschen rettet, die unsäglichen Diskussionen bei uns beginnen: Wer nimmt sie auf, was passiert? Dann sind sie tage-, manchmal wochenlang auf offener See, und Europa verhandelt sich zu Tode. Das ist eine Situation, die wir lösen wollen. Sie haben viel dazu gesagt, warum das, was in unserem Antrag steht, nicht geht. Aber dieser Antrag ist ein Versuch, eine Lösung für genau diese Situation zu finden. ({3}) Das ist das Einzige, was wir hiermit erreichen möchten: dass wir darüber eine Debatte führen. Wir können sie gerne anders führen oder weiterführen. Wir sind offen für andere Vorschläge. Das ist ein Weg, und wir möchten diesen diskutiert wissen in allem nötigen Respekt gegenüber den Menschen, die sich hier engagieren. ({4}) Gegen die Praxis, wie sie jetzt gerade stattfindet, regt sich vermehrt zivilgesellschaftlicher Widerstand, und mit Blick auf die Lage in Libyen – jetzt auch mit den neuen gewaltvollen Eskalationen – ist das sehr nachvollziehbar. Immer mehr europäische Kommunen erklären sich zu sicheren Häfen und sogenannten Solidarity Cities. Neben den bis jetzt 54 Kommunen in Deutschland – es werden immer mehr – haben sich auch Städte in Europa zur humanitären Aufnahme von Geflüchteten bereit erklärt: Palermo, Valencia, Athen und Amsterdam zum Beispiel. Es ist die Zivilgesellschaft, aber auch die lokale Politik, die damit auch der Bundesregierung, deren Engagement bisher nicht zu einer Lösung geführt hat, einen Spiegel vorhält. Es ist die Zivilgesellschaft, aber auch die lokale Politik, die Angebote macht, um dieses unwürdige Geschacher um die Aufnahme von auf dem Mittelmeer geretteten Flüchtlingen endlich zu beenden. Das ist das, was die grüne Fraktion mit diesem Antrag zum Ausdruck bringen möchte und auch unterstützt. Wir bekommen Unterstützung aus dem Bundesrat, wo die europäische Solidarität und die Änderung des § 23 im Vordergrund stehen. Aber ich gebe Ihnen auch recht: Das ist natürlich nicht das Gesamtpaket der Lösung. Das ist auch klar, und das gehört zur Wahrheit dazu. Ein rein nationales Engagement ist zu kurz gegriffen. Es braucht auf europäischer Ebene ein klares Signal zur Unterstützung der Kommunen. Da reicht der bisherige Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds nicht aus. Deshalb haben wir auch das in unserem Antrag aufgegriffen. Städte und Kommunen müssen dazu befähigt werden, eigenständig Aufnahmeprogramme auf den Weg zu bringen. Nur so kann aus der Bereitschaft der Kommunen, die wir sehr schätzen, tatsächliches Handeln werden. Danke schön. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Amtsberg. Die Kollegen Alexander Throm und Hans-Jürgen ­Irmer, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Damit ist die Aussprache beendet. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/8648 und 19/9275 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in Deutschland bereits ein sehr gutes Fahrlehrerrecht, welches wir auch in der vergangenen Legislaturperiode noch einmal gemeinsam reformiert haben. Um dieses gute Recht noch ein Stück weit besser zu machen, haben wir den Gesetzentwurf heute vorgelegt und stellen wir ihn zur Abstimmung. Warum war das nach dieser Zeit notwendig? Es haben sich in der Praxis einige Anpassungsmodalitäten zu dem schon bestehenden sehr, sehr guten Fahrlehrerrecht ergeben, und die wollen wir heute aufgreifen. Lassen Sie mich kurz zurückblicken, weil das aktuelle Fahrlehrerrecht noch nicht ganz so lange in Kraft ist, damals aber doch wirklich erhebliche Eingriffe vorgenommen wurden, die auch richtig waren: Wir haben schon damals das Mindestalter auf 21 Jahre herabgesetzt und den Berufszugang insgesamt deutlich attraktiver gestaltet, und wir haben mittlerweile auch so wichtige Dinge wie gesundheitliche Eignungsanforderungen eigenständig im Fahrlehrerrecht geregelt. Auch Regelungen dazu, wie pädagogisch qualifiziert ein Fahrlehrer sein muss, sind mittlerweile im Gesetz verankert, und ich denke, das macht auch Sinn. Denn diejenigen, die unseren jungen Menschen das Fahren beibringen sollen und müssen, müssen natürlich selber wesentlich mehr können, als nur selbst gute Autofahrer zu sein. Sie müssen natürlich Pädagogen sein, und sie müssen jetzt beispielsweise auch Kenntnisse über nachhaltige Mobilität haben und wissen, wie Elektromobilität funktioniert, was Fahrassistenzsysteme sind und wie man damit umgeht. Auf das sind wir bereits eingegangen, und obwohl das alles eigentlich schon ziemlich genau geregelt war, sehen wir uns nun durchaus in der Lage und vor der Notwendigkeit, noch einige Dinge anzupassen und zu optimieren. Insbesondere geht es hier um das Mindestalter, ab dem man Fahrlehrer sein darf. In der gesetzlichen Regelung hatten wir es auf 21 Jahre festgelegt. Das passen wir jetzt an das an, was so erfolgreich als Pilotversuch gestartet ist, das begleitete Fahren ab 17, und wir normieren jetzt nicht mehr ein konkretes Mindestalter, sondern eine dreijährige Fahrerfahrung als Voraussetzung dafür, den Beruf zu erlernen. Wir haben mit der letzten Reform bereits sehr, sehr weitgehende Fortbildungspflichten normiert. Auch das, denke ich, war absolut notwendig. Um für Ausbildungsfahrlehrer diese Fortbildungspflichten verbindlich zu machen, führen wir jetzt eine amtliche Anerkennung für Ausbildungsfahrlehrer ein. Auch das ist, glaube ich, ein sehr wichtiger Punkt. ({0}) Und wie das so ist – auch bei eigentlich schon sehr guten Gesetzentwürfen –: Der Bundesrat hat einige Anmerkungen dazu gemacht – in vielen Teilen redaktioneller Natur, in vielen Teilen aber auch materieller Natur –, die durchaus richtig waren und die wir gerne aufgenommen haben. Deswegen möchte ich Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dieses erneut reformierte Fahrlehrerrecht unmittelbar ans Herz legen. Liebe FDP, wir haben heute eine Aufgabenteilung vorgenommen. Der Kollege Storjohann hätte gerne noch was zu Ihrem Antrag gesagt. In Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit haben wir uns dazu entschieden, diese Rede zu Protokoll zu geben. ({1}) Ich möchte sie Ihnen aber dringend ans Herz legen, damit es nicht heißt, ich hätte hier nichts dazu gesagt. Insofern werden wir, glaube ich, den Austausch auch hier im Plenum weiter fortsetzen. ({2}) In diesem Sinne vielen herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. Sie werden nicht erleben, dass die FDP hierauf reagiert, weil der Kollege Torsten Herbst seine Rede zu Protokoll gegeben hat.  – Als nächster Redner hat der Kollege Andreas Mrosek, AfD-Fraktion, das Wort. ({0})

Andreas Mrosek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004827, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Hohes Haus! Frau Ludwig ist schon sehr deutlich auf diese Beschlussemp­fehlung des Ausschusses eingegangen. Ich hatte im Ausschuss vorgetragen. So kann ich mich jetzt ganz beruhigt dem Antrag der FDP widmen und etwas dazu sagen. Der vorliegende Antrag der FDP-Fraktion soll das begleitete Fahren ab dem 16. Lebensjahr unter den damit neu zu regelnden Rahmenbedingungen, auf die ich dann noch separat eingehen werde, ermöglichen. ({0}) Es ist kein schlechter Antrag. Er erinnert mich an das Versuchsprojekt AM15, welches als Erfolg betrachtet werden kann. Die Unfallstatistiken in Sachsen-Anhalt zu diesem Erfolgsprojekt AM15 zeigen das auch; sie sind durchaus positiv zu bewerten. Wir von der AfD können uns auch ein begleitetes Fahren ab 16 vorstellen. In der Regel beginnen viele Menschen mit 16 ihre Berufsausbildung. Sie zeigen, dass sie in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen und dies auch erlernen zu können. Im Übrigen gilt das auch für das Versuchsprojekt AM15. Auch da müssen junge Menschen schon verantwortungsvoll im Straßenverkehr handeln. Dem Antrag der FDP widerspricht gegenwärtig jedoch die EU-Richtlinie 2006/126/EG, bei der es auch um die Führerscheinerteilung geht. Sie fordern im Antrag ja auch, dass man sich innerhalb der EU dafür starkmachen soll, das Ganze zu regeln. ({1}) – Darauf komme ich noch zu sprechen. ({2}) In Artikel 4 Absätze 4b und 4c ist das Mindestalter für den Erwerb der Führerscheinklassen B und BE in den EU-Mitgliedstaaten auf 18 Jahre festgelegt. Die Mitgliedstaaten können davon in geringem Maße abweichen; sie können das Mindestalter für die Klassen B und BE auf maximal 17 Jahre senken. Genau das ist mit Artikel 4 Absatz 6d dieser Verordnung EU-weit geregelt. Tja, Kollegen von der FDP, was nun? Sie haben schon die EU angesprochen. Es ist schon interessant, wie weit die EU in die Belange der europäischen Nationalstaaten eingreifen kann. Das sollten wir hier national – ohne die EU – regeln können. ({3}) Kommen wir aber mal zum Stand der Begleitbedingungen. Wer darf Begleitperson werden? Mindestalter 30 Jahre, fünf Jahre ununterbrochener Besitz der Führerscheinklasse B und maximal ein Punkt in Flensburg! ({4}) – Das ist gut so.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen jetzt bedauerlicherweise zum Schluss kommen.

Andreas Mrosek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004827, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Der größte Blödsinn dabei ist aber die Ein-Punkt-Regelung, und das kritisieren Sie in Ihrem Antrag ja auch zu Recht. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Mrosek, Sie haben jetzt noch einen Satz. ({0})

Andreas Mrosek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004827, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ein Fahrlehrer darf mit mehreren Punkten in Flensburg seinen Beruf weiter ausüben; eine Begleitperson darf nicht mehr als einen Punkt haben. ({0}) Damit kann der Fahrlehrer – – ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen. Sie dürfen sich jetzt auf Ihren Platz begeben. Die Kolleginnen und Kollegen Elvan Korkmaz, SPD-Fraktion, Torsten Herbst, FDP-Fraktion, Thomas Lutze, Die Linke, Daniela Wagner, Bündnis 90/Die Grünen, und Gero Storjohann, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Damit ist die Aussprache geschlossen. Tagesordnungspunkt 18 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Fahrlehrergesetzes. Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/9863, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/8751 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist dieser Gesetzentwurf in der Ausschussfassung in zweiter Beratung mit den Stimmen der CDU/CSU-, der SPD-, der FDP- und der AfD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. ({0}) – Ich komme jetzt dazu; genau. – Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Dann stelle ich fest, dass mit der gleichen Stimmenmehrheit – weil wir keine Enthaltungen haben – der Gesetzentwurf in dritter Lesung angenommen worden ist. ({1}) Tagesordnungspunkt 18 b. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/9921 an den Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Martin Burkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003744, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Abend, Herr Präsident! Wenn Sie aufs Tempo drücken, wollen wir das auch tun. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Häufigere Zugverbindungen, besserer Service, niedrigere Fahrpreise und immer mehr Europäerinnen und Europäer, die dazu veranlasst werden, den Zug zu nutzen: Das steckt hinter der europäischen Richtlinie 2016/2370, die im Rahmen des vierten Eisenbahnpakets verabschiedet wurde. In diesem Lichte ist also der vorliegende Gesetzentwurf zur Marktöffnung für inländische Schienenpersonenverkehrsdienste zu betrachten. Vor Verabschiedung der EU-Richtlinie im Rahmen des vierten Eisenbahnpaketes im Dezember 2016 war diese Marktöffnung nur in Großbritannien und Schweden bereits der Fall. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehen: Europa ist die Antwort. Die Bundesregierung hat sich mit dem Gesetzentwurf eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Regelung in der Richtlinie „wo immer möglich“ vorgenommen. Ich würde sagen: wo immer nötig. Denn die Bestimmungen der zugrunde liegenden EU-Richtlinie sind zu einem großen Teil schon in den Vorschriften unseres nationalen Regulierungsrechts enthalten, vor allem im Eisenbahnregulierungsgesetz. Das ERegG wurde bereits im Hinblick auf die Richtlinie erarbeitet und ist gut zwei Monate vor deren Verabschiedung in Kraft getreten. Es regelt den Zugang zur regulierten Infrastruktur und die Nutzungsentgelte und enthält Regelungen zur Unternehmensorganisation. Es ist schon zweieinhalb Jahre her, aber ich möchte noch mal betonen, dass hinsichtlich der ewigen Debatte, liebe Grünen, um die Trennung von Netz und Betrieb bei den damaligen Verhandlungen über das vierte Eisenbahnpaket in Brüssel eine sehr gute Lösung gefunden wurde. ({0}) Hier von Berlin aus noch mal mein Dank an unsere Kolleginnen und Kollegen von der S&D-Fraktion im Europäischen Parlament. Namentlich darf ich heute einmal Ismail Ertug erwähnen, der die Verhandlungen begleitet hat. Vielen Dank, lieber Ismail! ({1}) Ich sage auch deutlich: Wir stehen zum konzerninternen einheitlichen Arbeitsmarkt. Wir stehen zum integrierten Konzern. – Da sage ich auch unserem Koalitionspartner vielen Dank, der das auch immer wieder deutlich macht. ({2}) Ein Wermutstropfen bleibt: Die sozialdemokratische Fraktion im Europaparlament hatte bis zuletzt versucht, einen verbesserten Schutz der Arbeitnehmerrechte in die Verordnung zur Marktöffnung einzufügen, nämlich die verpflichtende Personalübernahme bei Betreiberwechsel. Dies betrifft viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – im Übrigen nicht nur bei der Schiene, sondern vor allem auch beim Bus, wie wir wissen. Bis auf wenige Ausnahmen für die Direktvergabe müssen seitdem Schienenverkehrsdienstleistungen verpflichtend ausgeschrieben werden. Aufgrund der Initiative der SPD-Bundestagsfraktion konnte dem hier in Deutschland mit der GWB-Novelle jedoch Gott sei Dank – auch dank der Union – rechtzeitig ein Riegel vorgeschoben werden. In vielen anderen Ländern gibt es das nicht. Von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hängt aber die Leistungsfähigkeit des europäischen Schienenverkehrs ab. Wir werden deshalb weiter für die Rechte der Beschäftigten im Verkehrsbereich eintreten, meine sehr verehrten Damen und Herren. Den Kern des Gesetzentwurfs bilden die Entflechtungsvorgaben und damit einhergehend Änderungen im ERegG. Dabei geht es unter anderem um die finanzielle Transparenz und die Bedingungen für eine Dividendenausschüttung. Was die Einnahmenverwendung angeht, so soll es weiterhin möglich sein, dass ein Betreiber der Schienenwege eines vertikal integrierten Konzerns – wie der DB AG – seine Gewinne erst an die Konzernmutter weiterleitet und diese die Gewinne sodann als Dividende wiederum an den staatlichen Eigentümer zahlt. Es geht also letztlich darum, den mit der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung II etablierten und bewährten Finanzierungskreislauf Schiene abzusichern. Wen das im Detail interessiert, der kann sich einmal an Herrn Staatssekretär Ferlemann wenden, der das exzellent erklären kann. ({3}) Bei den geltenden Zugangsregelungen sind keine großen Änderungen vorgesehen. Denn die Marktöffnung für inländische Schienenpersonenverkehre wurde in Deutschland bereits im Großen und Ganzen erreicht; auf unseren Schienen fährt ja die ganze Welt. Ich würde die Franzosen bitten, dies endlich ebenfalls umzusetzen und ihren Markt zu öffnen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen den Gesetzentwurf im Lichte der EU-Richtlinie und des vierten Eisenbahnpakets betrachten. Durch die europaweite Marktöffnung kann das Entstehen neuer Geschäftsmodelle gefördert und das Angebot für Bahnreisende vielseitiger, kundenorientierter und günstiger gestaltet werden. Deswegen bleibt es dabei: Europa ist die Antwort. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Burkert. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Wolfgang Wiehle, AfD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die AfD unterstützt eine Regulierung im Eisenbahnverkehr, die die Bereitstellung des Schienennetzes vom Bahnbetrieb sauber trennt und den verschiedenen Betreibern einen fairen Zugang zum Schienennetz sichert. Jetzt sollen wir ein Gesetz zu diesem Thema abnicken, das eine EU-Richtlinie – wir haben es schon gehört – faktisch eins zu eins umsetzen soll. ({0}) Stellt sich eigentlich – vielleicht in einer ruhigen Abendstunde – mal jemand in der Bundesregierung die Frage, ob das Durchwinken Brüsseler Vorgaben durch die deutschen Musterschüler wirklich immer klug ist? ({1}) Viele Strukturprobleme der Deutschen Bahn löst dieser Gesetzentwurf gerade nicht, und andererseits kaut er Vorgaben wieder, die für Deutschland völlig irrelevant sind. Die Infrastrukturabteilungen der Bahn – allen voran die DB Netz – dienen der Daseinsvorsorge und damit zweifellos einer öffentlichen Aufgabe. ({2}) Der Bahnbetrieb – Fern-, Regional- und Güterverkehr – muss sich dem Wettbewerb stellen. Beides organisatorisch zu entflechten und damit für mehr Transparenz zu sorgen, ist gut und richtig. Aber wir dürfen bei der Transparenz nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Nach wie vor werden Abgeordnete dieses Bundestages in den Bahn-Aufsichtsrat entsandt, und sie unterliegen dann nach dem Aktienrecht umfangreichen Geheimhaltungsregeln. Nach wie vor gibt es kaum durchschaubare Finanzströme bei der Netzinstandhaltung im Rahmen der sogenannten Leistungs- und Finanzierungsvereinbarungen. Nach wie vor nimmt die Deutsche Bahn als Gesamtkonzern immer mehr Schulden auf, agiert aber gleichzeitig mit fragwürdigen Unternehmensbeteiligungen in aller Welt. Das alles ist das Gegenteil von Transparenz. Hier greift Ihre Politik viel zu kurz. ({3}) Gleichzeitig soll die Bundesnetzagentur nach dem Gesetzentwurf künftig etwas regulieren, was es in Deutschland gar nicht gibt, nämlich Hochgeschwindigkeitszüge, die Strecken über 200 Kilometer fahren, ohne zwischendurch zu halten. ({4}) Das mag es auf den TGV-Strecken in Frankreich geben. Wir fahren in Deutschland eine andere Strategie. Unsere ICEs bedienen auch mittelgroße Städte und nicht nur die Metropolen, und das will hoffentlich auch niemand ändern. ({5}) Warum übernimmt die Bundesregierung dann aber in ihrem Gesetzentwurf diese Brüsseler Vorgabe eins zu eins? Meine Damen und Herren, Sie sehen: Die Eins-zu-eins-Umsetzung verfehlt das Thema Transparenz in entscheidenden Punkten und ist in diesem Falle einfach Unsinn. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Der Kollege Michael Donth, CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Torsten Herbst, FDP-Fraktion und die Kollegin Sabine Leidig, Die Linke, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Als nächster Redner hat der Kollege Matthias Gastel, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Jetzt, um kurz vor Mitternacht, könnten wir passenderweise auch über Nachtzüge debattieren. Es geht aber um die EU-Richtlinie 2016/2370. Für was könnten die Ziffern 2, 3, 7 und 0 stehen? Die Ziffer 2 könnte für das Ziel stehen, die Anzahl der Fahrgäste bei der Bahn bis 2030 zu verdoppeln. Dafür sind Spielregeln erforderlich, die mithilfe von EU-Richtlinien ausgestaltet werden können. Die Ziffer 2 könnte aber auch für die zwei Topbahnereignisse dieser Woche stehen: Das Netzwerk Europäischer Eisenbahnen hat seine Schienengüterverkehrsstudie vorgelegt und deutlich gemacht, mit welchen Maßnahmen sich der Verkehrsanteil der Schiene im Güterbereich bis zum Jahr 2035 verdoppeln lässt. Notwendig ist demnach der gezielte Ausbau des Schienennetzes im Rahmen der Umsetzung des Bundesverkehrswegeplans und durch zusätzliche eher kleinere Maßnahmen wie Streckenelektrifizierungen und Blockverdichtungen. Das zweite Topbahnereignis war die Vorstellung der Ergebnisse des Zukunftsbündnisses Schiene mit Forderungen wie dem Ausbau der Großknoten und Engpasskorridore sowie der Elektrifizierung und Digitalisierung. Zurück zur EU-Richtlinie 2016/2370. Die Ziffer 3 könnte dafür stehen, dass die Haushaltsmittel für den Aus- und Neubau der Schienenwege auf 3 Milliarden Euro erhöht werden müssten. Nur dann lassen sich die notwendigen Maßnahmen zur Netzerweiterung auch tatsächlich finanzieren. Die Ziffer 7 hingegen könnte für den Erwägungsgrund 7 der EU-Verordnung stehen. Darin geht es um die Anforderungen zur Gewährleistung der Unabhängigkeit des Infrastrukturbetreibers. Unsere grüne grundsätzliche Position ist klar: pro fairem Wettbewerb, pro freiem Netzzugang, pro Trennung von Verkehrs- und Infrastruktursparten bei der Deutschen Bahn. Die Koalition aus Union und SPD hält aber am integrierten Konzern fest. Ein solcher setzt eine weiterhin komplizierte bürokratische Regulierung voraus. Ein weiterer Punkt, der in nationales Recht umgesetzt werden soll, betrifft die Eisenbahnverkehrsunternehmen. Sie sollen Notfallpläne aufstellen. Die Unternehmen müssen sich abstimmen, um bei größeren Störungen den Fahrgästen beim Weiterkommen helfen zu können. Das unterstützen wir natürlich. ({0}) Ich komme zur letzten Ziffer der Zahl 2370: Die 0 könnte für das stehen, was wir uns in der Bahnpolitik nicht leisten können, nämlich eine Nullrunde ({1}) im nächsten Haushalt, ({2}) damit nicht am Ende der Bundesverkehrswegeplan 2030 zum Bundesverkehrswegeplan 2050 wird. Deswegen ist es wichtig, es nicht bei dem, was Sie wollen – die Eins-zu-eins-Umsetzung –, zu belassen, sondern wir als Grüne wollen ein „1 : 0“ für die Bahn im Wettbewerb mit dem Auto, mit dem Lkw und mit dem Flugzeug, und wir sind auch bereit, dafür das entsprechende Geld bereitzustellen. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Gastel. – Der Kollege Florian Oßner, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.  – Damit sind wir am Ende der Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/9738 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist erkennbar nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Sprecher für zivile Krisenprävention beschäftige ich mich nun schon seit Beginn der Legislatur intensiv mit den Krisenregionen unserer Welt. So war ich beispielsweise mit dem Unterausschuss „Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln“ in Kamerun. Im Norden des Landes treibt Boko Haram ihr Unwesen. Menschen müssen aus ihren Dörfern fliehen, die Kinder können nicht in die Schule gehen. Zeitgleich baut sich im Südwesten Kameruns ein blutiger Konflikt auf, in dem bewaffnete Milizen Schulen niederbrennen, Schülerinnen und Schüler entführen, Ausgangssperren verhängen und somit den schulischen Alltag komplett lahmlegen. Im Jemen und in Syrien werden immer wieder Schulen bombardiert, obwohl das ein Kriegsverbrechen und somit streng verboten ist. Entführungen von Schülerinnen und Schülern gab es schon in den 70ern. Dies ist einer dieser Dauerbrenner, um die sich die Weltgemeinschaft endlich – ich betone ausdrücklich: endlich – kümmern muss. ({0}) Kinder sind noch unbelastet von den Konflikten der Erwachsenen. Bildung würde deren Selbstbewusstsein stärken, gäbe den Kindern ein besseres Verständnis von Demokratie und würde somit entscheidend zur Lösung von Konflikten sowie zu mehr Toleranz beitragen. Dafür müssen die Kinder allerdings in einem stabilen Umfeld aufwachsen. Das gibt ihnen Sicherheit und Vertrauen. Der tägliche Gang zur Schule ist hier ein enorm hilfreicher Teil. Um keinen Zweifel offenzulassen: All dies trifft sowohl auf Jungen wie auf Mädchen zu. Allerdings wissen wir auch: Im Kriegs- und Krisenfall sind es besonders die Mädchen, die benachteiligt sind. Mädchen sind weltweit zweieinhalbmal häufiger vom Schulunterricht ausgeschlossen als Jungen. Wo der Zugang zu Bildung knapp und teuer wird, werden in vielen Ländern als Erstes die Mädchen davon ausgeschlossen. Gehen Mädchen dagegen zur Schule, heiraten sie im Schnitt dreimal seltener im minderjährigen Alter. Als Teenager werden sie seltener schwanger, und sie sind besser vor Menschenhandel, Prostitution und Kinderarbeit geschützt. Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF hat ermittelt, dass mehr Bildungsgerechtigkeit zwischen Mädchen und Jungen die Wahrscheinlichkeit von gewaltsamen Konflikten um 37 Prozent verringert. Doch für eine sichere Zukunft braucht es mehr als den Schulbesuch. Ein Kind braucht genug zu essen und zu trinken, einen sicheren Schulweg, medizinische Versorgung und hygienische Sanitäranlagen. Die traumatischen Erfahrungen, insbesondere verursacht durch sexualisierte Gewalt, die vor allem Mädchen in Krisengebieten erleiden, müssen professionell aufgefangen werden. Anspruch und Wirklichkeit, was die Stärkung der Rechte von Mädchen insbesondere in Krisenregionen angeht, klaffen leider noch weit auseinander, und wir in Deutschland sind noch weit weg von dem, was beispielsweise Schweden, Kanada oder die Niederländer tun. Im Entwicklungsausschuss haben wir gehört, dass es zwar Mittel für den Dachverband International Planned Parenthood Federation und den Bevölkerungsfonds UNFPA gibt, aber erstens sind sie zu gering, und zweitens sind diese Mittel von Kürzungen bedroht. Das dürfen wir nicht zulassen, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Hinzu kommt: Derzeit werden weniger als 3 Prozent der humanitären Hilfe für Bildung ausgegeben. Das bedeutet, weltweit fehlen rund 8,5 Milliarden Euro. Herr Staatsminister, mit der von Ihrem Haus angestoßenen Resolution 2467 des UN-Sicherheitsrates haben Sie kürzlich die Aufmerksamkeit auf das große Problem der sexuellen Gewalt in bewaffneten Konflikten gelenkt. Das ist gut und richtig. Folgerichtig wäre es, wenn wir jetzt ganz besonders bei der Bildung und Gesundheit von Mädchen nachliefern würden. ({2}) Bald beschließen wir hier im Bundestag den Haushalt, und ich appelliere an die Bundesregierung: Planen Sie ausreichend Geld dafür ein! Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächster hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Stefinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004414, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist zentral für ein selbstbestimmtes Leben, Bildung ist zentral für den Wohlstand einer Nation, und Bildung ist zentral für die Zukunftsperspektiven. Das gilt hier bei uns und natürlich auch auf der ganzen Welt. Bildung ist ein Menschenrecht und eines der 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030, und genau deshalb ist Bildung ein zentraler Bereich unserer Entwicklungspolitik. ({0}) Wir haben 2015 eine Bildungsstrategie verabschiedet und uns dabei an den Bildungszielen der Agenda 2030 orientiert. Das heißt, unser Ansatz ist „Lebenslanges Lernen“. Alle Bildungsbereiche werden gefördert – beginnend bei der frühkindlichen Bildung bis hin zur Erwachsenenbildung. Unsere Kernanliegen sind ein chancengerechter Zugang zur Bildung und qualitative Angebote. Unser Engagement in der Welt ist hier enorm wichtig. Gerade in Krisen- und Konfliktregionen ist nämlich zu befürchten, dass eine Generation heranwächst, der die elementaren Bildungsgrundlagen, wie Lesen, Schreiben, Rechnen, fehlen. Viele Aufnahmeländer schließen Kinder und Jugendliche von ihren nationalen Bildungssystemen aus. 35 Millionen der weltweit Geflüchteten sind minderjährig. Hinzu kommen noch mal rund 75 Millionen Kinder und Jugendliche, die aufgrund von Krisen und Katastrophen keine Chance haben, eine Schule zu besuchen. Bei Mädchen ist die Wahrscheinlichkeit, keine Schule besuchen zu können, zweieinhalbmal höher als bei Buben. Angesichts dieser Zahlen müssen wir uns natürlich fragen: Welche Chancen und Perspektiven für ihre Zukunft haben diese Kinder und Jugendlichen ohne Bildung? Sind damit Armut, Arbeitslosigkeit, mangelndes Wissen über Hygiene und Gesundheit, ungewollte Schwangerschaften oder gar eine Radikalisierung vorgezeichnet? Deswegen ist es in unserem Interesse und muss es in unserem Interesse sein, genau das zu verhindern. Wir möchten keine verlorene Generation. ({1}) Gerade aus diesen und vielen anderen Gründen haben wir als CDU/CSU-Fraktion mit unserem Koalitionspartner SPD, hat die Bundesregierung und – vor allem – hat unser Entwicklungsminister Gerd Müller die Mittel für die Bildungsmaßnahmen in der Entwicklungszusammenarbeit in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt – von 409 Millionen Euro im Jahr 2013 auf 970 Millionen Euro im Jahr 2018. Ich finde, man kann, darf und muss auch einmal positiv herausstellen, was hier geleistet wird. Ich möchte gar nicht auf alle einzelnen Punkte eingehen – auch mit Blick auf die Uhr nicht. Nur so viel: Für den globalen Fonds im Bereich der Bildungspartnerschaften haben wir den Beitrag binnen zwei Jahren auf nun 37 Millionen Euro vervierfacht. Wir unterstützen mit 31 Millionen Euro den Bildungsfonds für Maßnahmen in Not- und Krisenregionen und sind damit viertgrößter Geber. Auch das Thema Gleichberechtigung ist für uns und unsere ganzen Initiativen ein wichtiges Thema. Es gibt die Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen“. Auch hier sind Kinder und Jugendliche die Hauptzielgruppen – insbesondere bei der beruflichen und schulischen Qualifikation. Die Zusagen vom G-7-Gipfel im Umfang von 75 Millionen US-Dollar möchte ich auch nur ganz kurz erwähnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, viele Ihrer Forderungen sind bereits in der Umsetzung. Auch wir wollen vermeiden, dass eine verlorene Generation heranwächst, auch wir wollen vermeiden, dass mangels Perspektiven Radikalisierung entsteht, und auch wir wollen Mädchen und Frauen schützen und ihnen dieselben Chancen wie Jungen und Männern geben. Es geschieht also eine ganze Menge. Wir verweisen Ihren Antrag in den Ausschuss und beraten ihn gerne. Die Themen, die Sie ansprechen, sind aber bereits in der Umsetzung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch über eine persönliche Erfahrung berichten. Bei einer Reise in den Irak, in das zerstörte Mosul, habe ich in hoffnungsfrohe Kinderaugen blicken können, in die hoffnungsfrohen Augen von Kindern, die in ihre wieder aufgebaute Schule gehen durften, in die Schule, die wir wieder aufgebaut haben. Dieses Bild lässt mich nicht los, und dieses Bild prägt. Ich bin stolz darauf, dass wir diesen und vielen anderen Kindern mit deutschem Steuergeld helfen. Das ist gut so. Es ist vor allem gut angelegtes Geld – in die Zukunft dieser Kinder. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Stefinger. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dietmar Friedhoff, AfD-Fraktion. ({0})

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen – alle, die wachgeblieben sind! Es ist ein wichtiges Thema, und es ist schon spät, aber, ich denke, noch früh genug, um ernsthaft darüber zu sprechen. Herr von Holtz, das, was Sie sagen, war sachlich richtig, aber ich möchte diesen Antrag einmal ganz anders beleuchten, und zwar sollte jeder Antrag Ziele verfolgen, die machbar und umsetzbar sind, Ziele, die man für sich selbst und eben nicht für andere setzt. Ziele sollten smart und clever sein. „Smart“ bedeutet, dass man Ziele so ausformulieren muss, dass sie erfolgreich erreicht werden können: „S“ wie „sinnvoll, „M“ wie „messbar“, „A“ wie „attraktiv“, „R“ wie „realistisch“ und „T“ wie „terminiert“. Schauen wir uns Ihren Antrag jetzt mal genau unter diesem Aspekt und ausschließlich unter dem Aspekt der Bildung an. Die AfD-Fraktion sagt: Jawohl, dieses Ziel ist sinnvoll und attraktiv; denn gerade in Afrika sind zum Beispiel die Frauen der Schlüssel zum Erfolg. Jetzt kommt aber das „M“ wie „machbar“. Wie messe ich das Erreichen des Zieles, das Sie vorgeben? An dem Fordern und Ausgeben von Geldern? Einfach nur an dem Tun? Oder eben auch an der Qualität und an den Inhalten der Bildung? Woran genau wollen Sie Ihren Antrag also messen lassen? Herr von Holtz, ist Ihr Ziel realistisch? Schauen wir uns die Fakten an: In der G-7-Erklärung von Charlevoix steht unter anderem: Wir werden unsere Partner darin unterstützen, dass Mädchen und Frauen gleichberechtigten Zugang zu mindestens zwölf Jahren Bildung bekommen. – „Zwölf Jahre Zugang zu Bildung“ ist übrigens keine Qualitätsbeschreibung. In Deutschland haben immer mehr Abiturienten massive Probleme in den Bereichen Rechnen und Schreiben. Die Universitäten danken. Kleine Randnotiz – Sie haben es gerade erwähnt –: 2016 sprach man von circa 65 Millionen Menschen ohne Zugang zu Bildung durch Vertreibung. Es kommen aber noch circa 200 Millionen Menschen dazu, die generell keinen Zugang zu Bildung haben, und im Jahr 2050 werden wir bei unserem Bevölkerungswachstum vermutlich von circa 1,5 Milliarden Menschen – alleine in Afrika werden ungefähr 700 Millionen Binnenvertriebene betroffen sein – ohne Zugang zu Bildung sprechen. Ist Ihr Ziel also realistisch? Ist es machbar? Sagen wir mal: Nein. Hat einer eine Vorstellung, was es bedeutet, diese enorme Zahl an Menschen zu unterrichten und in Schulen zu schicken? In den über 70 Jahren, seitdem es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gibt, haben wir das bei weitem nicht geschafft. Deswegen sollten Ziele auch klar terminiert sein. Also: Bis wann genau soll das erreicht sein? Das fehlt; es ist nebulös. Zitiert werden in Ihrem Antrag auch die UN-Menschenrechte: Jeder Mensch hat die gleiche Würde und das gleiche Recht. – In Artikel 26 ist das Recht auf Bildung aufgeführt. Darin steht: „Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung.“ Die Bildung ist „unentgeltlich“ – mindestens die Grundschulausbildung. Fach- und Berufsschulunterricht muss allen gleichermaßen zur Verfügung stehen. In Artikel 29 der UN-Kinderrechtskonvention steht bezüglich der Bildungsziele unter anderem etwas von der „Gleichberechtigung der Geschlechter“, der „Achtung … vor seiner kulturellen Identität, seiner Sprache“, der „freien Gesellschaft“, der „Charta der Vereinten Nationen“ und vieles mehr. Viele Länder, die Krisengebiete sind, sind islamisch geprägt. Diese Länder haben nun eigene Menschenrechte definiert, unter anderem in der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam, dem islamischen Gegenstück zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Daneben gibt es die Arabische Charta der Menschenrechte. Nun bekommen wir langsam eine Herausforderung, Herr von Holtz. Die Kairoer Erklärung und die Arabische Charta sprechen hauptsächlich von der Beseitigung des Analphabetentums als bindende Verpflichtung. Die Kairoer Erklärung geht so weit, dass das Ziel der Bildung eben auch die Auseinandersetzung mit dem Islam ist, und Artikel 24 und 25 unterstellen diese Erklärung ausdrücklich der Scharia. Die Frauen haben die gleiche Würde, aber eben nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet: Unsere Ziele sind nicht im Einklang mit diesen Zielen. ({0}) Was ist denn nun unsere Aufgabe? Ist es unsere Aufgabe, unsere Ziele in Ländern durchzusetzen, die eigene Zieldefinitionen haben? Ziele definiert man doch für sich und nicht für andere. Und wer ist für die Umsetzung in den Ländern verantwortlich? Das sind die Länder, die diese Dokumente unterschreiben. Damit verpflichtet sich doch jede Nation, diese Artikel in seinem Land umzusetzen, also in erster Linie jedes Land für sich. Wir sollten aufhören, künstliche Systeme zu erschaffen und diese künstlichen Systeme künstlich zu beatmen. Wir müssen einfach realistische Ziele setzen. Ein super Ziel im humanistischen Sinne wäre es doch, dass es am 31. Dezember 2050 um 23.59 Uhr auf der Welt keinen Analphabeten mehr gibt. Alle Menschen können dann lesen und schreiben. Das sofort umzusetzen, sollte das Ziel aller Regierungen aller Länder sein.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zum Schluss. – Letztendlich: Auch in Deutschland brauchen wir wieder eine zukunftsfähige Bildung, sichere Schulen und Ziele, die wir nicht nur in die Welt rufen, sondern auch selber umsetzen. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Die Kollegin Ute Vogt, SPD-Fraktion, die Kollegin Helin Evrim Sommer, Die Linke, der Kollege Olaf in der Beek, FDP-Fraktion, der Kollege Dr. Georg Kippels, CDU/CSU-Fraktion, und die Kollegin Gabriela Heinrich, SPD-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. ({0}) Damit ist die Aussprache geschlossen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/6439 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Guten Abend, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie – kurz: ARUG II – zieht die Bundesregierung weitere Konsequenzen aus der Finanzkrise. Statt kurzfristiger Gewinnoptimierung muss der nachhaltige und langfristige Unternehmenserfolg ins Zentrum rücken. Das gilt für das Management der Unternehmen, aber auch für die institutionellen Anleger. Hierzu stärken wir die Transparenz zwischen Unternehmen und Anlegern und fördern wir die langfristige Mitwirkung der Aktionäre börsennotierter Gesellschaften durch Maßnahmen in vier Bereichen: Erstens. Die Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat wird transparenter, und die Hauptversammlung wird stärker einbezogen. Zweitens. Die Kommunikation zwischen der Gesellschaft und ihren Anlegern wird verbessert, um echte Aktionärsmitwirkung zu erleichtern. Drittens. Die Ziele und Entscheidungsprozesse institutioneller Anleger, von Vermögensverwaltern und von Stimmrechtsberatern werden transparenter gestaltet und sollen sich stärker an den langfristigen Interessen der von ihnen repräsentierten Pensionäre und Versicherungsnehmer ausrichten. Viertens. Wesentliche Geschäfte der Gesellschaft mit nahestehenden Personen – sogenannte Related Party Transactions –, die ein erhöhtes Risiko des Missbrauchs aufweisen, werden ungeachtet des schon bestehenden hohen Schutzniveaus unseres Aktienrechts weiteren Kontrollmechanismen unterworfen. Lassen Sie mich wenige Punkte besonders hervorheben: Dass sich der europäische Gesetzgeber mit den Geschäften mit nahestehenden Personen – mit den Related Party Transactions – befasst, ist zu begrüßen. Freilich enthält das deutsche Recht schon vernünftige, ausdifferenzierte Regelungen zur sachgerechten Behandlung dieser Fälle – allen voran unser Konzernrecht. Durch eine behutsame Umsetzung des Richtlinieninhaltes ist es gelungen, diesen Standard im ARUG II zu erhalten und im Sinne der Richtlinie fortzuentwickeln. Der Entwurf wendet sich ferner den institutionellen Anlegern zu, die zwischen der Gesellschaft und den Endbegünstigten stehen. Institutionelle Anleger und Vermögensverwalter müssen in Zukunft ihre Strategien offenlegen. Institutionelle Anleger arbeiten im Interesse der Pensionäre und Versicherungsnehmer und nicht, um möglichst hohe Gebühren zu erzielen. Dies wird flankiert durch Maßnahmen zur Verbesserung des Informationsflusses zwischen der Gesellschaft und in- und ausländischen Anlegern gleichermaßen. Gerade auch Kleinanlegern wird dadurch die Wahrnehmung ihrer Rechte erleichtert. Im Bereich der Vorstandsvergütung gehen wir den durch vorangegangene Gesetzesinitiativen eingeschlagenen Weg weiter. Die Erstellung eines Vergütungssystems für den Vorstand wird zwingend. Es gibt den Rahmen für die konkrete Vergütung vor. Für die ausbezahlte Vergütung wird ein zwingender Vergütungsbericht eingeführt, der auch auf die Entwicklung der Vorstandsvergütung und der durchschnittlichen Belegschaftsvergütung in den letzten Jahren eingehen muss. Die Hauptversammlung muss also über das Vergütungssystem abstimmen. Wir schlagen ein beratendes Votum vor. ({0}) Dies führt zu einer Einbindung sowohl der Eigentümer als auch der Arbeitnehmer; denn mit dem beratenden Votum obliegt die Letztentscheidung über das Vergütungssystem weiterhin dem mitbestimmten Aufsichtsrat, in dem sowohl Eigentümer als auch Arbeitnehmer repräsentiert sind. Die Vergütungskompetenz des Aufsichtsrats, seine Verantwortung und notfalls auch seine Haftung sind also zentrale Elemente der Corporate Governance. Das wollen wir nicht verwässern. Wir wollen den Aufsichtsrat nicht aus dieser Verantwortung entlassen. Ich bitte Sie deshalb um Unterstützung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. – Als nächster Redner hat der Kollege Fabian Jacobi, AfD-Fraktion, das Wort. ({0})

Fabian Jacobi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004767, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie EU 2017/828 ändert das Aktiengesetz und weitere Gesetze. Was steht darinnen? Dort, wo zwischen der Aktiengesellschaft und dem Gesellschafter Mittler stehen wie zum Beispiel Banken, die Aktiendepots für ihre Kunden verwalten, soll zum einen die Gesellschaft einen Anspruch haben, zu erfahren, wer ihre eigentlichen Gesellschafter sind, zum anderen sollen diese Mittler dafür sorgen, dass Informationen von der Gesellschaft an den Gesellschafter und umgekehrt zuverlässig übermittelt werden. Weiterhin sollen Geschäfte der Gesellschaft mit nahestehenden Personen daraufhin geprüft werden, ob sie den nahestehenden Personen ungerechtfertigte Vorteile verschaffen; diese Geschäfte sollen der Genehmigung durch den Aufsichtsrat bedürfen und zudem veröffentlicht werden. Außerdem sollen sich die Gesellschafter einer börsennotierten Gesellschaft in der Hauptversammlung mit dem Vergütungssystem befassen, nach dem der Aufsichtsrat die Vergütung des Vorstands festlegt. Das ist alles inhaltlich meist wenig kritikwürdig, in weiten Teilen im Interesse einer verbesserten Ausübung der Gesellschafterrechte auch sinnvoll. Was uns als AfD-Fraktion übel aufstößt, ist natürlich der Umstand, dass einmal mehr der Deutsche Bundestag sich in der Situation wiederfindet, nicht eigentlich mehr Gesetzgeber zu sein, sondern vielmehr eine Art weisungsabhängige Provinzialverwaltung: Wir schreiben einmal mehr im Wesentlichen Texte ab, die uns die imperiale Zentrale in Brüssel hat zustellen lassen. ({0}) – Danke, danke. ({1}) Anders als alle anderen Fraktionen hier im Hause schätzen wir die Vielfalt der europäischen nationalen Rechtskulturen und sehen in einer zwanghaften Gleichmacherei keinen Wert an sich. Nebenbei führt diese Form der abhängigen Pseudogesetzgebung auch zu einem schon formalen Qualitätsverlust: Einstmalen galt es als anzustrebendes Ideal der Gesetzgebung, dass der Bürger die seine Angelegenheiten betreffende Rechtslage vollständig, verständlich und unmittelbar aus dem einschlägigen Gesetz entnehmen könne. Daran gemessen ist ein deutsches Gesetz, das in fast jedem zweiten Absatz auf irgendeine EU-Verordnung verweist, aus der dann Weiteres zu entnehmen sei, allerdings eine Karikatur. ({2}) Unsere grundsätzlichen Vorbehalte können im Rahmen der Arbeit an diesem Gesetzentwurf nicht behoben werden. Bei einem konkreten Punkt wäre das zumindest theoretisch möglich; da lässt die EU uns an einer Stelle großzügig die Wahl zwischen zwei Alternativen – und dann wählt der Entwurf die aus unserer Sicht falsche. Bei der Frage nämlich, ob die Gesellschafter über das vom Aufsichtsrat vorgeschlagene System der Vorstandsvergütung letztlich nur palavern oder aber tatsächlich entscheiden können, soll es wieder beim Palavern bleiben. Das sehen wir anders. Zumindest über die abstrakten Grundzüge der Vergütungspolitik – und nur um die geht es ja, wenn in dem Entwurf von dem Vergütungssystem die Rede ist – sollten die Gesellschafter als Eigentümer des Unternehmens auch entscheiden und nicht nur räsonieren können. ({3}) Jetzt überweisen wir den Entwurf erst mal an den Ausschuss, und dann sehen wir dort weiter. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer zu später Stunde auf den Rängen! Mit der heutigen Debatte starten wir in die Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie des Europäischen Parlaments. Diese Richtlinie ist noch Teil des Aktionsplans „Europäisches Gesellschaftsrecht und Corporate Governance“, gehört damit noch zu den Schlussfolgerungen, die die Europäische Union aus der Finanzkrise zieht. Die Grundannahme ist, dass es vor allem die Ausrichtung auf kurzfristige Gewinne war, die zu Problemen geführt hat, zu mangelnder Corporate Governance. Die Richtlinie ist da auch im Hinblick auf die Aktionäre nicht unkritisch, sie wirft auch ihnen vor, dass sie übermäßige Risikobereitschaft von Managern zu stark unterstützt haben, was mit zu dieser Finanzkrise geführt hat. Trotzdem sieht die Richtlinie einen wesentlichen Ansatzpunkt, um zu Verbesserungen zu kommen, darin, die Aktionäre mehr in die Verantwortung zu nehmen. Die Kommunikation soll besser werden, soll moderner werden, in beide Richtungen: von der Gesellschaft zu den Aktionären, aber auch von den Aktionären zur Gesellschaft, auch dann, wenn Intermediäre dazwischen sind. Es soll mehr Transparenz geben, etwa über die Geschäftsstrategie oder über wirkliche Interessenkonflikte bei Geschäften mit nahestehenden Personen oder Unternehmen. Ziel ist es, so eine langfristige und nachhaltige Mitwirkung der Aktionäre zu fördern. Mehr Einmischung, mehr Mitentscheidung der Aktionäre, das will nicht nur die Richtlinie, das ist wohl auch das neue Selbstverständnis der Aktionäre, die ihre Unternehmensleitungen zunehmend auch mit kritischen Fragen konfrontieren, die Entlastungen verweigern und, wie es im „Handelsblatt“ zutreffend stand, nicht mehr mit „Würstchen mit Kartoffelsalat“ zufriedenzustellen sind. Die Hauptversammlung von Bayer kürzlich oder, angekündigt, die Hauptversammlung der Deutschen Bank, die im Mai noch ansteht, belegen das offenbar. Dabei geht es den Aktionären zum einen um den wirtschaftlichen Erfolg, um die Dividende – das ist auch legitim –; aber es werden auch andere Fragen thematisiert wie etwa die ökologische Nachhaltigkeit, die langfristige Unternehmensstrategie. Und auch die Vorstände sind nicht mehr unangreifbar. Hier setzt die Richtlinie an. Ein sehr konkreter Punkt dabei ist die Frage des Say on Pay: Wer entscheidet in Zukunft über die Vergütung von Vorständen? Hier sollen die Aktionäre größeren Einfluss bekommen. Die Richtlinie gibt uns da Spielraum vom bloß beratenden Votum der Hauptversammlung bis hin zur entscheidenden Vorgabe durch die Hauptversammlung. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung wählt hier den Weg, der eigentlich den geringsten Grad an Mitwirkung gibt: Die Aktionäre sollen vom Aufsichtsrat nur einen Vergütungsrahmen vorgelegt bekommen. Sie können den dann diskutieren. Wenn sie ihn nicht verabschieden, bleibt das allerdings letztendlich ohne Konsequenzen; aus diesem Vergütungsrahmen folgen keine Rechte und Pflichten. Wenn der Aufsichtsrat meint, davon abweichen zu müssen, dann kann er das tun. Meine Sympathie geht dahin, hier doch zu mehr Verbindlichkeit zu kommen. Wir sollten darüber reden, ob wir da nicht doch auch Möglichkeiten sehen. ({0}) Denn die Aktionäre sind die Eigentümer. Sie bezahlen die Vergütung, sie haben ein ureigenes Interesse daran, dass der Gewinn der Gesellschaft hier nicht unangemessen geschmälert wird. Sie möchten natürlich auch ein Stück weit Einfluss nehmen auf die Politik des Vorstands. Gerade die nichtinstitutionellen Anleger bringen hier auch andere Sichtweisen ein, die Sicht der Kleinanleger, vielleicht auch die Sicht der Konsumenten; sie haben ein Gespür für soziale Fragen und ökologische Nachhaltigkeit. Genau das soll doch mehr in die Unternehmenspolitik einfließen. Diese Aktionäre sollen sich mehr engagieren und einmischen. Wollen wir dann wirklich stehen bleiben bei: „Gut, dass wir darüber gesprochen haben“? Meine Erwartung ist, dass die Vergütung tendenziell sinken wird, wenn die Aktionäre selber darüber entscheiden dürfen. Wir sollten insgesamt oder zumindest für diesen Fall schauen, ob wir etwas Besseres hinbekommen, ob wir die Aktionäre an dieser Stelle nicht verbindlich entscheiden lassen können. So könnten wir dafür sorgen, dass der Vorstand nur das bekommt, was sowohl der Aufsichtsrat mitsamt der Arbeitnehmerseite als auch die Hauptversammlung und die Anteilseigner dort für angemessen halten. Ich denke, das ist ein Vorschlag, über den wir einmal sprechen sollten. Ich freue mich darauf. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist in der Debatte bisher immer auf die Finanzkrise eingegangen worden; wir würden mit dieser Umsetzung Lehren aus der Finanzkrise ziehen. Ja, die Finanzkrise war ein harter Einschnitt. Aber wir stehen vor ganz anderen Problemen. Wenn Unternehmen in umweltschädliche Produkte investieren, in die Abholzung der Wälder, in die Kohleförderung, dann ist das für das Überleben der Menschheit eine Bedrohung. Es ist aber auch für die Unternehmen selbst, ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Anteilseigner ein erhebliches Risiko, größer, als es die Finanzkrise je war. ({0}) Die schwierige Situation, in der Bayer seit dem Erwerb von Monsanto ist, zeigt, dass solche Risiken durch deutsche Unternehmen immer noch unterschätzt werden. Im DAX gibt es zwar einige Unternehmen mit guten Nachhaltigkeitsbewertungen, aber auch sehr viele – im internationalen Vergleich sehr viele – Unternehmen, die dabei überhaupt nicht gut abschneiden. Wir alle hier in Deutschland müssen ein Interesse daran haben, dass sich deutsche Unternehmen stärker am langfristigen Erfolg ausrichten statt an kurzfristigen Renditeerwartungen. Die Nachfrage nach nachhaltigen Investitionsmöglichkeiten steigt international deutlich an. Fast jeder Finanzinvestor verlangt von Unternehmen mittlerweile konkrete Schritte in Richtung Nachhaltigkeit, in Richtung soziales und ökologisches Wirtschaften. Die Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie ist die Chance, in den Vergütungsgrundsätzen auf die Erfüllung sozialer und ökologischer Kriterien zu verpflichten und damit die notwendige Neuausrichtung gerade unserer deutschen Unternehmen zu beschleunigen. Aber der Gesetzentwurf der Bundesregierung schweigt dazu, zu diesem Thema steht darin nichts. ({1}) Mit der Umsetzung der Richtlinie bestünde außerdem die Gelegenheit, insgesamt für mehr Nachvollziehbarkeit in Sachen Vorstandsvergütung zu sorgen. Das ist das, worum sich die Debatte hier gedreht hat. Ich finde, Sie ignorieren auch diese Chance. Sie hoffen weiterhin auf die Wirksamkeit von Selbstverpflichtungen und Corporate-Governance-Kodizes. Wir Grüne weisen schon sehr lange darauf hin: Unternehmen und Vorstände können im Dickicht der freiwilligen Regelungen und der Kodizes und der Vielzahl der Regelwerke unterschiedlicher Stimmrechtsverwalter schon heute nur noch schwer erkennen, woran sie sich eigentlich halten sollen. Vor allem die geltenden Regelungen in Deutschland haben nicht dazu beigetragen, überhöhte Managerbezüge zu begrenzen und die Bezüge am langfristigen Erfolg des Unternehmens auszurichten. Liebe Bundesregierung, wann endlich ziehen Sie daraus eine Konsequenz? ({2}) Am Ende, finde ich, verhöhnen Sie mit diesem Entwurf die Aktionärinnen und Aktionäre. Die Debatte auf der Hauptversammlung hat keinerlei verbindliche Wirkung, es ist ein Gespräch und mehr nicht. Wenn Sie Aktionärsrechte ernst nehmen wollen, dann muss da etwas mehr kommen; da stimme ich der Kollegin von der CDU zu. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. Die Kollegen Dr. Marco Buschmann, FDP-Fraktion, Friedrich Straetmanns, Die Linke, und Dr. Johannes Fechner, SPD-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort zu einer ungestörten Rede. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Aktiengesellschaft ist eine kluge Rechtsform. Sie ermöglicht Kleinanlegern die Beteiligung an Unternehmen ohne persönliches Risiko, in kleiner Stückelung. Die Europäische Union hat sich aufgemacht, die Aktionärsrechte und damit gerade die Rechte der Kleinaktionäre zu stärken. Vor zehn Jahren, im Jahr 2009, bei der ersten Aktionärsrechterichtlinie, ging es darum, die Mitwirkungsrechte in der Hauptversammlung zu stärken und durch Fragerechte und Klagemöglichkeiten mehr direkten Einfluss auf die Geschicke der Gesellschaft zu ermöglichen. Jetzt, mit der zweiten Aktionärsrechterichtlinie, wird dieser Gedanke fortgeschrieben. Es geht um die Frage, wie wir transparenter machen können, wem denn die Aktiengesellschaft gehört, wer die Fonds und die Intermediäre sind, die Einfluss auf die Gesellschaft haben. Aber es geht auch um die Frage: Wer entscheidet über die Vorstandsvergütung? Das ist eine ganz wichtige Frage, weil wir nach wie vor ein gesellschaftliches Ärgernis haben: Die Vorstandsvergütungen sind gerade bei den großen DAX-Unternehmen zu hoch, sie sind viel stärker gestiegen als die Löhne der Arbeitnehmer. Das ist ein Ärgernis, und das ist nicht transparent genug. Wenn die Managementgehälter weiter in die Decke gehen, führt das zu abnehmender Akzeptanz in der Bevölkerung. Deswegen brauchen wir da auch eine Begrenzung. ({0}) Jetzt ist die Frage, wie wir eine solche Begrenzung erreichen können. Soll die Hauptversammlung dafür zuständig sein oder nicht? Ich glaube, diese Frage müssen wir im parlamentarischen Verfahren noch einmal genau debattieren. Wir trauen den Aktionären durchaus zu, über die Vergütung ganz konkret zu entscheiden. Der Aufsichtsrat kann aber aus seiner Verantwortung nicht entlassen werden. Vielleicht brauchen wir auch ein kluges Zusammenspiel von Aufsichtsrat und Hauptversammlung. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass gerade die großen Aktiengesellschaften alle mitbestimmt sind und wir damit auch die Arbeitnehmervertreter nicht aus der Pflicht lassen dürfen. Ich kann mir auch vorstellen, dass die Hauptversammlung eine Obergrenze einzieht und man dann drunter bleibt. Jedenfalls glaube ich, dass wir durch eine stärkere Verantwortung auch der Kleinaktionäre auf der Hauptversammlung letztendlich erreichen, dass die Vorstandsvergütung sinkt und damit die Akzeptanz der großen Aktiengesellschaften wieder steigt. Lassen Sie uns darüber reden. In diesem Sinne wünsche ich mir gute Beratungen. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Mit diesen Worten schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/9739 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist erkennbar nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Schluss und Höhepunkt unserer heutigen Debatte sprechen wir nicht über einen bloßen Antrag, nicht einmal über ein einfaches Gesetz, nein, wir sprechen über einen Staatsvertrag. Die Bundesregierung legt Ihnen mit diesem Gesetzentwurf einen zwischen Bund und Ländern vereinbarten Staatsvertrag, den Ersten IT-Änderungsstaatsvertrag vor, also ein Thema, das den Bund und die 16 Bundesländer stark betrifft. Deswegen ist auch die Bundesratsbank – – nein, doch nicht so gut besetzt. Ich glaube, man wird es dann seitens der Länder sicherlich gerne nachlesen. Dieser Staatsvertrag schreibt den bekannten IT-Staatsvertrag Bund und Länder aus dem Jahr 2010 fort. Mit diesem Staatsvertrag wurde damals der IT-Planungsrat als oberstes Steuerungsgremium überhaupt erst eingeführt. Der IT-Planungsrat hat seither diverse IT-Projekte im Bereich der Verwaltung angestoßen, aber natürlich längst nicht alle seine Ziele erreicht. Wir sind bei der Digitalisierung in Deutschland noch nicht da, wo wir sein wollen. Deswegen gibt es zwei wichtige Punkte, die in diesem IT-Änderungsstaatsvertrag ergänzt und erneuert werden: Erstens soll der IT-Planungsrat einen eigenen Unterbau erhalten – wir sagen im Haus: einen Arbeitsmuskel in Gestalt einer Bund-Länder-Anstalt –, aber verglichen mit vielen anderen Einrichtungen durchaus sehr überschaubar: 44 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen das werden. Das Ganze heißt dann Föderale IT-Kooperation oder, wie das vielleicht zum Arbeitsmuskel passt, FITKO. Die FITKO hat sozusagen schon einen Vorläufer: Es gibt bereits einen Aufbaustab, den das Land Hessen dankenswerterweise seit 2017 finanziert. Dieser Aufbaustab FITKO wird dann übergehen in den eigentlichen, neuen Unterbau. Zweitens haben sich Bund und Länder darauf geeinigt, dass der IT-Planungsrat bis 2022 auch ein zusätzliches Budget in Höhe von 180 Millionen Euro erhält. Wenn man die Jahreszahl 2022 hört und ein bisschen bewandert ist in IT-Fragen, weiß man: Das ist das Jahr, bis zu dem wir, wie das Onlinezugangsgesetz sagt, 575 staatliche Leistungen digitalisiert haben wollen. Genau dafür soll das Geld auch verwandt werden. Die Abstimmung zum Ersten IT-Änderungsstaatsvertrag – wie könnte es bei diesen Themen anders sein? – war durchaus langwierig. Nun haben sich der Bund und die 16 Länder einen erheblichen Zeitdruck gesetzt: Wenn der Vertrag nicht bis zum 30. September dieses Jahres ratifiziert ist, werden alle Änderungen hinfällig, wir müssten von vorne anfangen; also durchaus ambitioniert. Ein echter Zeitdruck würde uns vielleicht bei manch anderem Projekt auch mal ganz guttun. ({0}) – Ja. Bei der Digitalisierung der Verwaltung hat Deutschland Nachholbedarf. Die Einrichtung der FITKO ist in der föderalen Struktur Deutschlands daher ein wichtiger, effizienter Weg, gemeinsame Vorgaben in enger Abstimmung von Bund und Ländern zu schaffen und diese dann durch den IT-Planungsrat auch zu verabschieden. Der genannte Zeitplan ist – ich habe es gesagt – ambitioniert. Zugleich wollen wir als Bund natürlich bei diesem ambitionierten Plan nicht als Letzter die Ziellinie durchqueren, sondern möglichst früh dabei sein. Wir wollen entschlossen vorangehen. Der daraus resultierenden Eilbedürftigkeit können wir nur Rechnung tragen, wenn wir alle einen guten Willen dabei haben und Sie mithelfen, dass wir dieses Ziel auch zeitgerecht erreichen. Zuletzt, bei dieser letzten Debatte am heutigen Sitzungstage, darf ich noch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danken, die uns auch zu dieser Stunde noch so hervorragend unterstützen: Herzlichen Dank. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Geschickt, Herr Kollege Professor Dr. Krings; herzlichen Dank für Ihre Ausführungen. – Als nächster Redner hat der Kollege Uwe Schulz, AfD-Fraktion, das Wort. ({0})

Uwe Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004888, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Jahre 2010 wurde der IT-Planungsrat eingesetzt. Das war ein wichtiger Schritt zur Koordination der IT-Serviceleistungen für Bund und Länder, um die digitale Verwaltung voranzubringen. Leider wurden die gesetzten Ziele nicht erreicht. Nun schreiben wir das Jahr 2019, und es stellt sich die Frage, warum erst jetzt, nach neun Jahren, ein Entwurf zur Änderung des IT-Staatsvertrages vorgelegt wird. Während in Deutschland offenbar kein Druck besteht, dem Bürger vernünftige Onlineportale zu öffnen, haben uns andere Staaten längst abgehängt. Unser Nachbar Österreich dient hier als Beispiel: Dort wurde über eine webbasierte Bürgerplattform ein qualitativ hochwertiges digitales Amt geschaffen. Der Bürger erfährt in Österreich Wertschätzung durch die Politik als Kunde, und er bedankt sich prompt: Die Nutzungszahlen für das Bürgerportal sind hervorragend. Das ist ein Musterbeispiel für Bürgerfreundlichkeit und effizientes Handeln. ({0}) Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf beweist, dass die bestehenden IT-Kooperationen von Bund, Ländern und Kommunen nicht funktionieren und sich sogar gegenseitig behindern. Abhilfe schaffen soll daher eine Anstalt des öffentlichen Rechts für Föderale IT-Kooperation. Aufgabe dieser FITKO ist, den IT-Planungsrat vollumfänglich zu unterstützen. Wir wissen, die Mehrzahl der Bürger kommuniziert vorwiegend mit Kommunen und Landesbehörden. Aus unserer Sicht ist es dringend geboten, gerade diese Verwaltungsebenen stärker im IT-Planungsrat abzubilden. Hätte es im Herbst 2015 schon einen innerbehördlichen Informationsaustausch gegeben, wäre denen, die schon länger hier leben, einiges erspart geblieben, meine Damen und Herren. ({1}) Auch wenn wir den inflationären Aufbau von Anstalten ablehnen, so unterstützen wir als AfD wegen der Wichtigkeit der Sache die Einsetzung der FITKO im geplanten Sinne. Wir als größte Oppositionspartei werden den Job machen, den andere in diesem Parlament jahrelang versäumt haben, ({2}) wir werden Pensum und Ergebnis dieses neuen Apparates sehr genau beobachten. Und noch zur FDP. Ihr Kurzantrag zur Unterstreichung der Bedeutung der Digitalisierung liest sich gut. Die Einrichtung eines Digitalministeriums ist bekannterweise auch eine Forderung der AfD-Fraktion. Ob man für die Leitung eines solchen Ministeriums dann eine Führungskraft braucht, die öffentlich im schrillen Latexoutfit auftritt, oder ob man das Ganze nicht besser seriös abbildet, meine Damen und Herren, wird bis dahin das kleinere Problem sein. Mit diesen Gedanken wünsche ich Ihnen eine gute Nacht. ({3})