Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Schönen guten Morgen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste! Die Rolle Europas ist geprägt durch die Wertegemeinschaft, die Europa bildet. Diese Wertegemeinschaft erfährt derzeit eine Veränderung durch das Ausscheiden des Vereinigten Königreichs, durch den Brexit. Der Brexit, wenn er kommt, wird diese Gemeinschaft verändern. Denn das Mutterland der parlamentarischen Demokratie scheidet aus, einer der Grundpfeiler unseres wertegebundenen Zusammenwirkens.
Aber auch der Vorgang selbst hat die Europäische Union schon verändert. Alle Welt sieht, was passiert, wenn man den Populisten auf den Leim geht, wenn man denen auf den Leim geht, die überhaupt keine Hemmungen haben, alles kurz und klein zu schlagen, was besteht, aber nicht die geringste Ahnung davon haben, wie der Schaden behoben werden soll. Dann passiert so etwas wie der Brexit.
Der Brexit hat noch etwas anderes gezeigt. Er hat gezeigt, was passiert, wenn die Menschen vor Ort keine Verbindung sehen zwischen Europa und ihrem eigenen Leben – jedenfalls keine positive.
Mein Vater – das wissen Sie wahrscheinlich – stammt aus Großbritannien Er stammt aus Lincolnshire. Das ist eine Grafschaft in Mittelengland und zu unserem großen Leidwesen die Grafschaft mit dem höchsten Anteil an Brexit-Befürwortern. Etwa 65 Prozent haben dort für den Brexit gestimmt. In einzelnen Kommunen – in Boston zum Beispiel – waren es sogar 75 Prozent. Wenn man die Menschen dort fragt: „Warum ist das so?“, dann bekommt man eine ziemlich klare Antwort. Es ist ein landwirtschaftlich geprägter Teil Großbritanniens, und dort sind, wie in allen landwirtschaftlich geprägten Teilen Europas, viele Erntehelfer eingesetzt. Diese stammen eben zum überwiegenden Teil aus Osteuropa.
Ich selber stamme aus einer Weinbauregion. Wie alle anderen, die aus landwirtschaftlich geprägten Wahlkreisen kommen, wissen wir, dass wir da nicht ohne die osteuropäischen Erntehelferinnen und Erntehelfer auskommen. Das wissen die Briten vom Kopf her auch. Aber vom Gefühl her passiert eben das, was in so vielen Teilen der Welt passiert, nämlich dass die Leute einem dort sagen: Europa ist dafür da, Fairness zu gewährleisten, wenn es darum geht, Wettbewerb zwischen den Unternehmen herzustellen, und wenn es darum geht, Banken zu retten, die systemrelevant sind. Aber was ist mit mir? Was ist mit uns?
Es ist meine feste Überzeugung, dass wir Europa in diese Richtung weiterentwickeln müssen,
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dass wir ein Europa brauchen, in dem die Menschen vor Ort ganz konkret merken, dass Europa nicht nur Unternehmen und Banken Schutz gibt, sondern ihnen selbst. Das ist ganz konkret, und das betrifft dann eben nicht nur die Menschen in Lincolnshire, sondern genauso die Menschen aus Polen, Ungarn und anderen Ländern, die dort die Erntehelfer stellen. Es bedeutet beispielsweise einen europaweiten Mindestlohn, von dem man dann auch zu Hause seine Familie ernähren kann. Es bedeutet faire Mitbestimmung in allen Mitgliedstaaten, damit nicht Unternehmen aus einem Mitgliedstaat in einen anderen verlegt werden, nur damit man gute Mitbestimmung unterlaufen kann.
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Natürlich bedeutet es auch, dass alle, die von der guten Infrastruktur in Europa profitieren, auch ihren fairen Anteil am Gemeinwohl zahlen. Das heißt, dass Google, Amazon und Facebook genauso ihre Steuern hier zahlen wie die Buchhändlerin an der Ecke.
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Ich bin der festen Überzeugung: Wenn es beispielsweise die Entsenderichtlinie, die ich als geschäftsführende Arbeitsministerin noch mit verabschieden konnte, die Andrea Nahles entscheidend mitverhandelt hat, die Hubertus Heil jetzt umsetzt, schon gegeben hätte, wenn wir diese Mindestlöhne damals schon gehabt hätten, wenn wir gute Mitbestimmung gehabt hätten, dann hätte es, glaube ich, den Brexit auch so nicht gegeben, dann hätten die Menschen aus der Region meines Vaters nicht überwiegend für „Leave“ gestimmt.
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Es ist so wichtig, dass wir Europa zusammenhalten, weil wir dieses Europa brauchen, um den Frieden zu sichern. Auch da spielt der Brexit eine Rolle. Wenn wir von Frieden reden und von Krieg, dann denken wir immer an den Zweiten Weltkrieg; der betrifft Menschen, die über 70 sind. Im Vereinigten Königreich haben Menschen, die Ende 20 sind, bewaffnete Konflikte erlebt – existenzielle bewaffnete Konflikte –, nämlich an der irisch-nordirischen Grenze. Ich war dort; ich habe mit den Menschen dort gesprochen. Sie haben echte Angst. Dort sind schon wieder Autobomben hochgegangen, Schießereien haben stattgefunden. Wir müssen uns das einmal vor Augen führen: Erst seit 1998 herrscht dort Frieden. 1998! Und auch der ist nur zustande gekommen, weil die Europäische Union das unterstützt hat.
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Die Welt braucht dieses starke Europa, das zusammenhält und das auch Frieden stiftet. Wir sehen das jetzt auch in den Vereinten Nationen: Heiko Maas hat zusammen mit dem französischen Kollegen den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Das ist das allererste Mal, dass sich zwei Länder diesen Vorsitz teilen – ehemalige Erbfeinde. Das hätte sich vor 100 Jahren doch noch niemand vorstellen können. Und wir – Deutschland und Frankreich – haben gleich am Anfang unseres Vorsitzes das Thema „Nukleare Abrüstung“ auf die Agenda gesetzt.
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Wissen Sie, wann das Thema das letzte Mal in den Vereinten Nationen behandelt worden ist? 2012. Seit 2012 ist nicht mehr darüber diskutiert worden, wie wir auf der Welt zu mehr nuklearer Abrüstung kommen.
Deswegen ist es gut, wenn wir in Europa eng zusammenarbeiten. Wir bauen die Brücken. Wir kommen zusammen als Europäer für den Frieden. Dass ich hier stehen kann als Tochter eines Briten und einer Deutschen, dass wir in Frieden und Freiheit leben, all das ist die Kraft Europas. Das wissen die Menschen in Lincolnshire genauso gut wie die an der Mosel oder im Rest von Deutschland. Sie alle wollen Europa. Wir müssen ihnen nur zuhören, sie auf Augenhöhe behandeln, ihnen Schutz und soziale Sicherheit bieten, und so bleibt Europa Friedensmacht hier und in der Welt.
Danke schön.
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Nächster Redner ist der Vorsitzende der AfD-Fraktion, Dr. Alexander Gauland.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Aphoristiker Nicolás Gómez Dávila hat geschrieben, die Idee des freien Individuums sei ein christlicher Abdruck auf griechischem Lehm. Ich möchte heute in Erinnerung rufen, dass diese Idee eine genuin europäische ist.
Wenn wir vom Recht auf ein freies, selbstbestimmtes Leben sprechen, dann wissen wir alle, dass ein solches Recht in weiten Teilen der Welt nicht existiert und auch die meiste Zeit in der Menschheitsgeschichte nicht existiert hat. Ein freies, selbstbestimmtes Leben, das ist der Ausdruck von Individualität. Diese Idee wurde geboren im antiken Griechenland. Sie verband sich mit der christlichen Verkündigung. Die Idee des freien Individuums blühte in der italienischen Renaissance, und die Denker der Aufklärung verschafften ihr das geistige Fundament.
Die Individualisierung des Menschen, seine Befreiung zum selbstbestimmten Leben war ein gesamteuropäisches Projekt, und es wurde ab dem 18. Jahrhundert zum europäischen Exportschlager. Europa, meine Damen und Herren, bedeutet seit jeher Vielfalt. Was dieser Kontinent an kultureller, sprachlicher, geistiger, technischer, lebensartlicher Vielfalt zu bieten hat, ist weltweit einzigartig. Eben weil Europa ein Kontinent der Vielfalt und der Konkurrenz war, blühte der europäische Geist.
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Eben weil keine Zentralmacht es unter seine lähmende Herrschaft zwang, brachte Europa diese prägenden Ideen hervor.
Immer dann, meine Damen und Herren, wenn ein Hegemon versuchte, Europa zu zentralisieren, entwickelten sich Gegenkräfte. Die europäische Geschichte ist eine der Wechselwirkungen von Hegemonie und Gleichgewicht. Das musste Karl V. lernen, das mussten Ludwig XIV. und Napoleon lernen, und das musste Deutschland im 20. Jahrhundert lernen. Und auch die Eurokratie wird das lernen müssen, meine Damen und Herren, wenn der Brexit nicht den Beginn, sondern das Ende einer fatalen Entwicklung markieren soll.
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Die Beschwörung der Vielfalt gehört auch zur Rhetorik der Eurokraten. Tatsächlich aber wollen sie nicht Vielfalt, sondern Homogenität, sie wollen Vereinheitlichung und Gleichmacherei. Vom Plattensee bis zu den Kanaren sollen die Menschen denselben Regeln gehorchen. Unsere Eurokraten suchen für Europa nach einer Zukunftsvision. Allmählich beginnt man zu ahnen, wie sie aussehen soll: die Vereinigten Staaten von Europa als deindustrialisiertes, von Windrädern übersätes Siedlungsgebiet, in dem die nationalen Identitäten abgeschafft sind, das Einwanderern aus aller Welt offensteht, denen die europäischen Werte gleichgültig sind
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und die sich nicht in die europäischen Gesellschaften integrieren müssen, weil sie bestens in der jeweiligen Parallelgesellschaft integriert und aufgehoben sind,
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ein Erdteil, meine Damen und Herren, wo nur noch Elektroautos verkehren, wo Bargeld verboten, der Fleischverzehr limitiert ist und das korrekte Sozialverhalten der Bewohner auf unterschiedlichste Weise überwacht wird.
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Die Freiheit des Individuums und das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben sind heute bedroht. Technokraten übernehmen die Macht über unser Denken und Fühlen. Sie wollen die Menschen zu bindungslosen, beliebig verschiebbaren Figuren auf dem globalen Schachspielbrett entmündigen.
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Sie behaupten, es sei gestrig und unmodern, an seinen Sitten, Traditionen und Gebräuchen festzuhalten,
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zumindest sofern man ein weißer Europäer ist.
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Zugleich singen sie ihre frommen Lieder von Teilhabe und Diversity. Der Staat will seinen Untertanen die Sorgen des Denkens abnehmen und die Mühen der Entscheidungen.
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Das größte Sakrileg begeht heute derjenige, der Volksabstimmungen fordert. Der Umgang mit dem Brexit belehrt uns darüber jeden Tag aufs Neue, Frau Barley.
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Die Antwort der heutigen EU auf die drängenden Fragen ist immer dieselbe: Vereinheitlichung, Homogenisierung, Normierung. Am Anfang hat die EU die Krümmung der Gurken normiert, und am Ende normiert sie die Gedanken.
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Der augenfälligste Angriff auf die europäische Vielfalt ist der Zentralismus der EU. Ich will hier als Pars pro Toto den Schriftsteller Robert Menasse zitieren, der forderte – ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten –,
... die Demokratie erst einmal zu vergessen, ihre Institutionen abzuschaffen, soweit sie nationale Institutionen sind, und dieses Modell einer Demokratie, das uns so heilig und wertvoll erscheint, weil es uns vertraut ist, dem Untergang zu weihen. Wir müssen stoßen, was ohnehin fallen wird, wenn das europäische Projekt gelingt. Wir müssen dieses letzte Tabu der aufgeklärten Gesellschaften brechen, dass unsere Demokratie ein heiliges Gut ist.
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– Ein Zitat, meine Damen und Herren, von einem Schriftsteller.
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Wenn ich das aussprechen würde, und zwar nicht als Zitat, würden Sie nach dem Verfassungsschutz rufen.
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Was Menasse hier vorträgt, ist der Ruf nach den Vereinigten Staaten von Europa.
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Diesen Traum träumen viele Angehörige der politischen Klasse, der Wirtschaftseliten und eben auch linke Intellektuelle. Menasse hat die Sache eben nur konsequent formuliert: Wer die Vereinigten Staaten von Europa will, muss die Nationalstaaten und die nationalen Parlamente abschaffen. Wer die Vereinigten Staaten von Europa will, muss die europäischen Souveräne entmachten.
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Menasse hat ein Geheimnis verraten, für das die meisten Menschen noch nicht reif sind, weshalb dieser Prozess allmählich und gewissermaßen hinter ihrem Rücken abläuft, bis man sie eines Tages vor vollendete Tatsachen stellt.
Meine Damen und Herren, in seiner Rede in Warschau – sehr berühmt geworden – im Juli 2017 hat Donald Trump über die einzigartige westliche Tradition aus Individualität, Freiheit und Recht gesagt: Was wir besitzen, was wir ererbt haben von unseren Vorfahren, hat in diesem Ausmaß nirgendwo anders existiert. Und wenn wir daran scheitern, es zu bewahren, wird es nie wieder existieren. – Keiner kann behaupten, er wisse nicht, was auf dem Spiel steht. Und Ihre Politik führt leider genau dahin.
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Ich bedanke mich.
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Michael Grosse-Brömer, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Gauland, vielen Dank für Ihre Zitatesammlung. Das ist immer wieder interessant. Worauf ich aber warte und was ich von Ihnen erwarte, ist, dass Sie konkret sagen, wie Ihre Vorstellungen zu Europa sind. Immer irgendwelche Römer oder Griechen zu zitieren, das bringt uns irgendwie nicht so richtig weiter.
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Aber egal, vielleicht haben Sie auch gar keine Antworten.
Antworten hatte Frau Barley am Anfang ihrer Rede. Ich bin ganz dankbar, dass sie darauf hingewiesen hat: Die Idee einer Wertegemeinschaft, die Warnung vor Populisten, denen man nicht auf den Leim gehen soll, das haben wir gemeinsam. Ob Sie dieser gemeinsamen Anstrengung und den europäischen Werten einen Gefallen tun, wenn Sie in Putins Haussender und Propaganda-TV in die Kamera lächeln, wage ich zu bezweifeln. Sie sollten vielleicht einmal darüber nachdenken, ob das so klug gewesen ist.
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Aber uns verbindet im Zweifel der Wunsch, Europa positiv weiterzuentwickeln.
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Die Geschichte Europas hat eines bewiesen, wie ich glaube, nämlich dass Diktaturen, dass Kommunismus und dass Nationalismus viel Unglück über diesen Kontinent gebracht haben. Unsere Lehre als CDU/CSU daraus ist klar: Wir lehnen nationalistische Alleingänge für Europa ebenso ab wie sozialistische Fantasien. Die Nationalisten sprechen immer davon, dass alles besser werde, wenn man nur alleine handelte. Am Brexit sehen wir gerade, wie erfolgreich das ist. Viele unserer Interessen gerade im Wettstreit mit China, mit den USA, mit anderen Ländern, auch mit Russland, können – davon bin ich überzeugt – eigentlich nur von der EU effizient und sinnvoll wahrgenommen werden. Das kann man zum Beispiel daran sehen – das will ich in Richtung der AfD sagen, wo man glaubt, nur zurück nach Deutschland, nur zurück zur D-Mark, und dann werde alles gut –: Allein die Stadt Schanghai hat so viele Einwohner wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen. Viel Spaß, wenn Sie denken, Deutschland rettet die Welt! Ich bin da sehr skeptisch.
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Ich habe mit Interesse gelesen, dass sich die AfD mit Herrn Salvini verbündet. Dieser Herr aus Italien hält die Regeln des EU-Stabilitätspaktes für dämlich und meint, jetzt sei die Zeit, dass die Italiener wieder an erster Stelle stehen müssen.
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Hören Sie doch auf, hier Anträge zur Stabilität der europäischen Währung zu stellen, wie Sie das gestern gemacht haben! Wenn Sie mit diesen Parteifreunden in Italien gemeinsame Sache machen, dann beschädigen Sie die Stabilität in Europa und nichts anderes.
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Die sozialistischen Umverteiler sind auch nicht besser. Wer sich am Ende nicht mehr anstrengen muss, im eigenen Haus Ordnung zu schaffen, der hat auch keinen Anreiz, Europa insgesamt besser zu machen. Die Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedstaaten ist nach unserer Auffassung die Grundvoraussetzung für ein solide handelndes Europa. Wir wollen in Europa eine Union der sozialen Marktwirtschaft; denn auch in Europa gilt: Was verteilt wird, muss vorher erwirtschaftet werden. Es ist so einfach, aber es wird von den Sozialisten immer wieder vergessen.
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Letztlich bleibt Europa auf Dauer nur so stabil und in der Lage, soziale Sicherheit zu garantieren.
Unser Wohlstand basiert nicht zuletzt auf fairem und freiem Welthandel. All diejenigen, die damals gegen TTIP demonstriert haben, wären besser zu Hause geblieben. Gerade wenn man heute den amerikanischen Präsidenten hört – Freihandel ist die Grundlage für Wohlstand. Wir als CDU sagen: Wir helfen unserem Mittelstand! Freier Handel nutzt allen Seiten! Wir brauchen mehr und nicht weniger Freihandel in der Welt!
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Letztlich geht es bei Europa natürlich auch um die Frage der Sicherheit, um die äußere und die innere Sicherheit. Wir müssen, wenn es um die äußere Sicherheit geht, natürlich die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik vertiefen und weiterentwickeln. Für die innere Sicherheit Europas brauchen wir einen wirksamen Schutz unserer Außengrenzen und eine starke Vernetzung unserer Sicherheitsbehörden. Frontex muss operative Grenzpolizei werden. Wir brauchen eine gemeinsame Basis für Ermittlungsdaten und eine bessere Verknüpfung und Vernetzung unserer Sicherheitsbehörden. Nur so lässt sich organisierte Kriminalität in Europa effizient bekämpfen. Deswegen in Richtung FDP und Grüne: Sagen Sie Ihren Leuten im Europäischen Parlament doch einmal, sie sollen aufhören, diesen notwendigen Datenaustausch zur Sicherheit in Europa zu blockieren. Wer das auf Dauer tut, der beschädigt die europäische Sicherheitsstruktur.
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Zum Abschluss, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die EU hat viele richtige Antworten auf die Fragen unserer Zeit, aber sicher nicht alle. Wir als Union wollen ein Europa, das sich auf seine Kernaufgaben besinnt. Wir wollen kein Verbots- und kein Umverteilungseuropa, sondern ein Europa der Eigenverantwortung und des Zusammenhalts. Schließlich wollen wir ein starkes und selbstbewusstes Europa der Patrioten und nicht der Nationalisten. Ich glaube, das ist die Chance, Europa positiv weiterzuentwickeln – nicht indem man andere hasst,
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sondern indem man das liebt, was man in seinem Land selbst und für Europa machen kann. Das sind eben Patrioten und keine Nationalisten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Nicola Beer, FDP.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Woche war wieder einmal bezeichnend für Europa. Zunächst fand am Dienstag der EU-China-Gipfel statt, dessen Bedeutung nicht oft genug betont werden kann. Unser Verhältnis zu China ist eine der wichtigsten Fragen für die Europäische Union: Werden wir als EU weiterhin Innovationsmotor, dynamischer Wirtschaftsstandort sein? Werden wir auch in Zukunft noch Standards setzen und mit entscheiden? Wie gehen wir mit schwierigen Partnern um, die unter Menschenrechten, Rechtsstaat, Demokratie nicht dasselbe verstehen wie wir? Werden wir als Europäer es schaffen, hier mit einer starken, einer gemeinsamen Stimme zu sprechen?
In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag bewegte erneut ein hektischer Sondergipfel die Gemüter: wieder Brexit, wieder Selbstbeschäftigung der Europäer statt Debatte über die Zukunftsfragen. Dabei gibt es viele drängende Fragen, die weiter ohne Antwort sind. Wir haben noch immer kein europäisches Asylsystem und keine gemeinsame Migrationspolitik. Wir haben noch immer keinen funktionierenden Grenzschutz in Europa, und noch immer ertrinken Menschen im Mittelmeer. Wir haben noch immer keinen reformierten Europäischen Währungsfonds, keine Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik, keinen gestärkten Rechtsstaatsmechanismus.
Der Brexit hat uns in den letzten Monaten in Atem gehalten; aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die strukturellen Ursachen für den Stillstand liegen tiefer.
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Europa ist auch deswegen gelähmt, weil die Regierung des größten und einflussreichsten Mitgliedstaates, weil die Große Koalition hier in Berlin, jeden Versuch, den Kontinent mit innovativen Ideen voranzutreiben, im Keim erstickt.
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Sie verweigert sich systematisch einer Debatte über die Zukunft der EU.
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Wenn die Menschen dann einmal zu einem europäischen Thema, wie den Uploadfiltern, auf die Straße gehen, dann bezeichnet die CDU sie als „gekauft“, als „Bots“, und die SPD versucht, mit ihrer Spitzenkandidatin Katarina Barley das Kunststück, in Brüssel dafür und in Berlin dagegen zu sein. Liebe Freunde, Menschen ernst zu nehmen, geht anders.
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Liebe Frau Kollegin Barley, diese Scheinheiligkeit fördert Politikverdrossenheit und treibt den Populisten Wähler in die Arme.
Populismus und Desinformation haben auch bei der Brexit-Abstimmung eine Rolle gespielt. Deswegen betone ich immer wieder, dass wir die Entscheidung der Briten natürlich respektieren, dass unsere Tür aber offen bleibt, wenn sie es sich anders überlegen.
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Ein zweites Referendum liegt nahe. Eine Frage mit der Tragweite, wie der Brexit sie hat, mit wenigen Stimmen Unterschied zu entscheiden – wobei die Nordiren mit großer Mehrheit und die Schotten sogar mit Zweidrittelmehrheit für den Verbleib gestimmt haben –, das zerreißt Wahlvolk und Politik, wie wir gerade in Großbritannien sehen. Besser wäre es, wie in der Schweiz nicht nur die Mehrheit der Stimmen, sondern auch die Mehrheit der Kantone zu haben.
Gegen den Populismus betone ich immer wieder, dass wir die Europäische Union so grundlegend reformieren müssen, dass keiner mehr gehen will. Ein Weiter-so, wie Sie es praktizieren, das hilft beim Bewahren der Union nicht.
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Die nun von Kanzlerin Merkel verhandelte erneute Verschiebung kann niemanden zufriedenstellen. Damit kaufen wir nur Zeit. Damit werden wir nur eine weitere Hängepartie für Bürgerinnen und Bürger, für die Wirtschaft haben, ohne dass der harte Brexit garantiert ausgeschlossen wäre.
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Ich finde es auf jeden Fall gut, dass Präsident Macron darauf gepocht hat, dass es nur eine kurze Verlängerung und dass es vor allem eine Überprüfung der Fortschritte gibt.
Umso dringlicher müssen jetzt Regierung und Opposition in Großbritannien eine Mehrheit für etwas schaffen. Für ein Abkommen, für eine Zollunion und auch für ein erneutes Referendum wäre jetzt genügend Zeit – diesmal ein Referendum, bei dem alle Beteiligten wissen, worüber sie entscheiden.
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Wir als EU-27 dürfen nicht zulassen, dass uns der Brexit-Virus infiziert. Die Europawahl muss sauber und unter Berücksichtigung aller Unionsbürger, auch der Briten in Deutschland, ablaufen, und die Bundesregierung ist aufgefordert, genau das sicherzustellen. Letztlich muss die Bundesregierung endlich ihre Vorbereitung für einen ungeordneten Brexit vorantreiben. Wir hätten heute das zweite verschobene Austrittsdatum gehabt. Es kann doch nicht sein, dass die Bundesregierung jetzt eingestehen muss, bis Ende des Jahres gerade einmal 70 von 900 neugeschaffenen Stellen aufgrund des Brexits beim Zoll besetzt zu haben. Das ist ein Wirtschaftsrisiko in unserem Land. Das ist inakzeptabel.
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Nutzen wir, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die verbliebene Zeit, um unser Verhältnis zu Großbritannien für die Zukunft zu klären, und vor allem nutzen wir die Zeit nach der Europawahl, um die Europäische Union grundlegend zu reformieren; denn nur so werden wir die Chancen Europas gemeinsam nutzen können.
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Nächster Redner ist der Kollege Bernd Riexinger, Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nicht der Brexit hat die Europäische Union in eine Krise gestürzt; er ist lediglich der aktuelle Ausdruck dieser Krise, besonders der tiefen sozialen Spaltung. Dafür sind hauptsächlich die Konservativen verantwortlich.
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Meinen britischen Freundinnen und Freunden rufe ich deshalb zu: Let᾽s make sure this year May ends in April! Sorgt dafür, dass im April das politische Ende von Frau May beginnt!
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Die Alternativen, nicht nur zu Frau May, sondern auch zur Politik der Bundesregierung, liegen auf der Hand. Wir brauchen eine Politik, die Europa sozial zusammenführt und nicht auseinandertreibt.
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Es ist an der Zeit, Lohndumping und Schmutzkonkurrenz um immer niedrigere Löhne und Arbeitsstandards zu beenden. Europaweit müssen Mindestlöhne gelten, mit denen die Beschäftigen und ihre Familien über die Runden kommen. Dass Deutschland als wirtschaftlich stärkstes Land bei den Mindestlöhnen im Vergleich zu den wichtigsten Industrieländern im unteren Mittelfeld steht, ist doch beschämend.
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Es verletzt das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen, wenn Großkonzerne wie Google, Starbucks oder Amazon weniger Steuern zahlen als Pflegekräfte, Verkäuferinnen oder Facharbeiter. Es braucht in ganz Europa Mindeststeuern für Konzerne, damit Schluss gemacht wird mit Steuerdumping.
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Frankreich geht mit einer Digitalsteuer voran. Wo bleibt eigentlich die Bundesregierung? Google, Apple und Co müssen höhere Steuern bezahlen, damit Pflegekräfte und Erzieherinnen besser bezahlt werden können.
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Statt der verhängnisvollen Sparpolitik und des Kürzens von Sozialleistungen braucht es ein ehrgeiziges europäisches Investitionsprogramm. Statt weiterhin tatenlos zuzuschauen, wie die öffentliche Infrastruktur verrottet, die Misere bei der Bahn größer, der Pflegenotstand Dauerzustand wird und ganze Regionen in Europa deindustrialisiert werden, muss in Bildung, Gesundheit, öffentliche Infrastruktur, in den sozialen Wohnungsbau und in Programme gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit investiert werden.
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Mit der kleingeistigen Philosophie der schwarzen Null können weder Deutschland noch die Europäische Union vorangebracht werden. Es ist gerade die deutsche Regierung, die eine Sozialunion verhindert. Die Menschen in Europa brauchen soziale Garantien, soziale Mindeststandards, die sie vor Armut, Erwerbslosigkeit, Unsicherheit und sozialer Ausgrenzung schützen. Es ist jedoch kein Wunder, dass bei einer Bundeskanzlerin, deren ganze Vision von Europa „mehr Wettbewerb“ ist, bei diesen elementaren Zukunftsfragen auf Durchzug geschaltet wird.
Beim Klimaschutz ist es fünf vor zwölf. Um den Planeten zu retten, müssen jetzt europaweit Regeln für saubere Energie durchgesetzt werden. Spätestens 2030 müssen alle Kohlekraftwerke vom Netz und muss die regenerative Energie ausgebaut sein;
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da sind übrigens die streikenden Schüler kompetenter als Herr Lindner. Wir wollen kostenfreien öffentlichen Nahverkehr fördern und die Bahn in ganz Europa ausbauen. Die Bahnpreise müssen sinken.
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Die Europäische Union steht vor einer Richtungsentscheidung. Weder das Weiter-so von Frau Merkel noch der Weg in einen autoritären Kapitalismus der Rechten und Rechtsradikalen bieten einen Ausweg, geschweige denn die Hoffnung auf ein besseres Europa. Wir wollen kein Europa, in dem Wettbewerb, Profit und Konzerninteressen mehr zählen als die Interessen der vielen, die jeden Tag arbeiten gehen, um über die Runden zu kommen.
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Wir kämpfen für ein Europa, in dem die Würde, das Leben und die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung an erster Stelle stehen.
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Europa geht nur solidarisch.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Anton Hofreiter.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wieder ein neues Ausstiegsdatum! Viele haben das Gefühl: Mein Gott, hat das nicht irgendwann einmal ein Ende.
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Aber so gut ich dieses genervte Gefühl verstehen kann, glaube ich doch, dass es wichtig ist, dass wir die Geduld nicht verlieren. Ein harter Brexit würde nämlich nicht nur bedeuten, dass es lange Schlangen von Lkws und Autos an der Grenze gibt. Ein harter Brexit würde – neben vielen anderen Problemen – unter anderem auch den Frieden auf der irischen Insel gefährden. Es ist aber hoch relevant, dass es uns gelingt, den Frieden auf der irischen Insel zu bewahren.
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Deshalb waren wir Grüne offen für eine Fristverlängerung hinsichtlich des Austritts.
Problematisch bei dem Kompromiss, der jetzt geschlossen worden ist, ist allerdings, dass wieder nicht klar ist, wofür die zusätzliche Zeit genutzt werden soll.
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Und extrem problematisch ist, dass die Verlängerung über die Europawahl hinausgeht. Deshalb glauben wir, dass dieser Kompromiss ein Kompromiss ist, der die gesamte Europäische Union in Schwierigkeiten bringen kann. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie Druck macht, damit endlich klar wird, wofür diese Zeit genutzt werden soll, und da gemeinsam mit Macron an einem Strang zieht.
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Die Europawahlen sind von enormer Bedeutung. Das wird vor ganz vielen Wahlen gesagt, aber diesmal stimmt es leider; denn die Europäische Union wird im Moment von außen und von innen angegriffen. Von außen wird sie angegriffen durch Putin und Trump. Da ist es sicher auch nicht hilfreich, dass ausgerechnet die Spitzenkandidatin der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Putins Propagandasender ein Interview gibt. So stärkt man die Europäische Union ganz sicher nicht.
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Aus dem Inneren wird die Europäische Union von Rechtsradikalen und Rechtspopulisten angegriffen, die häufig auch noch Verbündete von Putin sind. Die Europäische Union, die europäische Solidarität und damit die europäische Souveränität müssen wir gegen die Angriffe dieser Rechtsradikalen verteidigen. Das ist der Job aller demokratischen Parteien hier.
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Die Europäische Union ist die beste Antwort, die wir haben, auf die ganz großen Herausforderungen. Die Europäische Union ist die beste Antwort auf die Herausforderung der Klimakrise, auf den chinesischen Wirtschaftsnationalismus, auf den amerikanischen Wirtschaftsnationalismus. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, es ist doch naiv, zu glauben, dass sich ein US-amerikanischer Präsident wie Trump von einem TTIP-Vertrag beeindrucken ließe, selbst wenn der Vertrag sinnvoll wäre. Haben Sie denn noch nicht gemerkt, dass die Eigenschaft dieses Mannes ist, sich nicht an Verträge zu halten? Wir brauchen eine starke Europäische Union und eine starke Zusammenarbeit mit Frankreich und den anderen europäischen Ländern, um diesem Wirtschaftsnationalismus mit Kraft etwas entgegensetzen zu können.
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Wir bräuchten eigentlich eine Große Koalition, die richtig Kraft hat für einen Aufbruch für Europa. Aber genau daran fehlt es Ihnen. Wo ist denn Ihre substanzielle Antwort auf die Vorschläge des französischen Präsidenten? Blockiert von der Union! Wo ist denn die europäische Digitalsteuer, wo ist denn ein wirkungsvoller europäischer Haushalt? Blockiert vom sozialdemokratischen Finanzminister! Wo ist denn eine gestärkte ökologische Europäische Union, ein gestärkter Aufbruch in Richtung mehr Klimaschutz? Da sind Sie sich zum Schaden der Zukunft der Europäischen Union einmal einig: Blockiert von beiden Koalitionsfraktionen!
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Ihr eigener EU-Kommissar Oettinger hat vor kurzem geäußert:
Von neuem Aufbruch für Europa spüre ich derzeit in Berlin gar nichts, aber auch gar nichts.
Das sagt Ihr EU-Kommissar über die Politik Ihrer Großen Koalition. Das sollte Ihnen doch zu denken geben, wenn schon unsere Worte Ihnen nicht ausreichend zu denken geben.
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Ich habe oft gehört, dass man sich innerhalb der Europäischen Union an die Regeln halten muss, und das wieder in Bezug auf die Euro-Finanzkrise und die Bankenkrise. Ja, wir würden uns wünschen, dass man sich an die Regeln hält. Die Europäische Kommission hat circa 20 Klagen im Bereich des Umweltrechts gegen Deutschland eingereicht. Da geht es um saubere Luft, um sauberes Grundwasser, um intakte Natur. Es wird keine Spur besser, wenn Sie vonseiten der Bundesregierung da von Willkür sprechen. Es geht schlichtweg darum, sich an die rechtlichen Regelungen zu halten. So führt man Europa auch in die Krise, wenn sich ausgerechnet das mächtigste Land innerhalb der Europäischen Union wieder und wieder nicht an die Regeln hält. Deshalb: Setzen Sie endlich die europäischen Regeln zum Umwelt- und Naturschutz um.
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Besser ist auch nicht, was Sie beim Thema Uploadfilter machen. Beide Fraktionen sind national gegen Uploadfilter und in Europa komischerweise dafür. So zerstört man die Glaubwürdigkeit der Politik.
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Was wir brauchen, ist ein starker, kräftiger Aufbruch für die Europäische Union. Ich bin mir sicher, dass wir das hinkriegen; denn die Europäische Union ist das Beste, was wir geschaffen haben, um den Frieden zu erhalten, die großen Probleme zu lösen, den Klimaschutz umzusetzen und zu zeigen, dass die im Verhältnis zur Größe der Welt – und zur Größe der Probleme – kleinen europäischen Länder gut zusammenhalten, solidarisch sind und die Probleme angehen.
Vielen Dank.
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Christoph Matschie, SPD, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir die Rolle Europas in einer Welt des Umbruchs nicht nur tagespolitisch diskutieren wollen, ist es vielleicht ganz sinnvoll, einmal in die Vergangenheit zu schauen. Die europäische Zusammenarbeit ist ja nicht entstanden, weil alle gerade Zeit und nichts Besseres zu tun hatten. Die europäische Zusammenarbeit ist entstanden, weil der Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg vor gewaltigen Herausforderungen stand. Ein Kontinent in Trümmern mit tief verfeindeten Nationen, dieses Problem galt es zu bewältigen.
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Man muss sich doch einmal vor Augen führen: Nur sechs Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Montanunion auf den Weg gebracht. Das war der Beginn eines großen europäischen Versöhnungswerks, das bis heute fortwirkt.
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Es war auch die Attraktivität des freien Westens, die dazu beigetragen hat, dass 1989 durch den Mut der Ostdeutschen die Mauer zu Fall gebracht wurde, die den Kontinent geteilt hat. Auch in dieser Zeit war die Europäische Union das wichtigste Instrument, um die damit einhergehenden ökonomischen Probleme auf dem Kontinent zu bewältigen und Mittel- und Osteuropa in einen gemeinsamen wirtschaftlichen und politischen Prozess einzubinden.
Wer sich diese Geschichte vor Augen hält, der weiß: Europa verfügt über einen einmaligen Schatz an politischen Erfahrungen.
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Niemand ist so gut wie wir Europäer darin, Kompromisse zu finden, unterschiedliche Interessen zusammenzubringen und Lösungen daraus zu entwickeln. Lassen Sie uns diesen Erfahrungsschatz selbstbewusst einsetzen, wenn es darum geht, die nächsten Jahre zu gestalten!
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Was ist die europäische Rolle heute? Ich will sie durch zwei Aspekte beschreiben: Europa muss Schutzraum für die Interessen seiner Bürger sein, und Europa muss Gestaltungsmacht bei der Bewältigung der globalen Probleme sein.
Was meine ich mit „Schutzraum“? Wir erleben aktuell, dass sich die globalen Gewichte auf dem Globus ökonomisch verschieben, dass die Macht neu austariert wird, und wir erleben Handelskonflikte. Eines ist doch klar: Kein einzelner europäischer Staat kann sich gegenüber dem Druck der USA oder dem Druck Chinas ökonomisch behaupten. Wir brauchen hier einen starken Zusammenhalt in Europa. Gemeinsam sind wir der größte Binnenmarkt der Welt, und gemeinsam können wir dieses Gewicht zugunsten unserer Bürgerinnen und Bürger einsetzen.
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Wir brauchen aber auch eine starke Europäische Union, wenn es um die Gestaltung der Außenpolitik geht. Neue Machtzentren bilden sich in der Welt heraus, und neue Einflusssphären werden aufgebaut. Wir brauchen hier eine handlungsfähige gemeinsame Außenpolitik. Es darf nicht sein, dass einzelne Staaten mit ihrem Veto gemeinsame außenpolitische Positionen blockieren können.
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Wir müssen auch in der Außenpolitik Mehrheitsentscheidungen entwickeln. Diesen Weg müssen wir gemeinsam gehen; denn nur so kann Europa sein ganzes Gewicht einsetzen, um Frieden zu erhalten, Konflikten vorzubeugen und dafür zu sorgen, dass sich diese Welt in einem positiven Sinne weiterentwickeln kann.
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Gestaltungsmacht betrifft ebenso das Thema, für das viele Jugendliche gerade auf die Straße gehen: Klimaschutz. Eines ist klar: Klimaschutz wird am Ende nur funktionieren, wenn wir weltweit gemeinsam handeln. Auch da spielt die Europäische Union eine ganz wichtige Rolle. Das Pariser Klimaabkommen wäre ohne das diplomatische Geschick, ohne den massiven Einsatz der Europäer schlicht nicht zustande gekommen.
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Deshalb sage ich den jungen Leuten, die auf die Straße gehen – das ist mir wichtig –: Demonstrieren Sie weiter! Es ist richtig, Druck zu machen! Aber gehen Sie auch zur Europawahl, und wählen Sie Parteien, die dafür sorgen, dass Europa auch in Fragen des Klimaschutzes handlungsfähig bleibt!
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Zum Schluss, werte Kolleginnen und Kollegen: Europa ist auf Mut und Weitsicht gebaut worden und ist auf diese Art und Weise zur vielleicht größten politischen Erfolgsgeschichte der Menschheit geworden. Lassen Sie uns deshalb mit Mut und Weitsicht an diesem gemeinsamen Europa weiterbauen!
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende der AfD, Dr. Alice Weidel.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Kollegen! Ich muss mich vorab wirklich wundern über die Präsenz auf der Regierungsbank bei diesem so wichtigen Thema, wollen wir doch heute die Zukunft Europas diskutieren.
({0})
Europa steht vor großen Herausforderungen. In einer multipolaren Welt ist ein geeinter Kontinent von großer Bedeutung, in geopolitischer sowie wirtschaftlicher Hinsicht. Doch schauen wir uns an, wo Europa und die EU heute stehen. Welchen Platz nehmen wir eigentlich in der Welt ein? Da sprechen die Zahlen doch eine deutliche Sprache. Im Jahr 1970 lag der Anteil der heutigen EU-28 am realen Weltbruttoinlandsprodukt bei 35 Prozent. Bis zum letzten Jahr ist der Anteil auf 23 Prozent gesunken. Das entspricht einem Rückgang um 33 Prozent, einem Drittel.
({1})
– Ich verstehe gar nicht, warum Sie sich bei Zahlen schon so aufregen.
({2})
Gewöhnen Sie sich das Rumbrüllen bei Diskussionen hier im Parlament bitte einmal ab!
({3})
– Die Wähler werden an den Wahlurnen goutieren, wie Sie sich hier aufführen, sehr geehrte Damen und Herren.
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Der Anteil der EU am Weltbruttoinlandsprodukt ist um ein Drittel zurückgegangen. Und das ist Ihrer Politik geschuldet. Bitter für unseren einst so stolzen Kontinent, auf dem mit den Projekten EU und Euro einiges aus dem Ruder gelaufen ist!
({5})
So ist die Abwertung der nationalen Parlamente durch die Brüsseler Bürokratie nämlich keine Kinderkrankheit, die es zu kurieren gilt.
({6})
– Herr Hofreiter, regen Sie sich doch nicht so auf! Ich verstehe gar nicht, warum Sie hier immer fast vom Stuhl fallen. Das ist ja unglaublich!
({7})
Die Abwertung der nationalen Parlamente ist keine Kinderkrankheit, sondern eine beabsichtigte Grundsatzentscheidung. Doch wer die Nation und ihre Demokraten überwinden will, strebt eine andere Herrschaftsform an,
({8})
nämlich das Imperium, geführt von demokratisch nicht legitimierten Entscheidungsträgern.
({9})
Und in dieser unseligen Vorstellung von Europa, die wir nicht teilen, werden die Nationalstaaten immer mehr des Politischen entkleidet und auf den Rang von Provinzen zurückgestuft. Ein solcher Einheitsbundesstaat ist undemokratisch, weil er notwendigerweise mit Konsensproblemen konfrontiert ist, die nur in einer kleinräumigeren Weise, in kleineren Einheiten zu vollziehen ist.
Der Nationalstaat ist klein genug, um Identifikationsprozesse bei den Bürgern auszulösen, ohne die ein Gemeinwesen nicht bestehen kann, und er ist groß genug, um die Souveränität des Gemeinwesens nach innen und außen durchzusetzen. Der Nationalstaat ist deshalb unverzichtbar, sehr geehrte Damen und Herren.
({10})
Ohne ihn lassen sich nämlich Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und gesellschaftliche Solidarität nicht organisieren. Und zurück zur EU-Ebene: Die Nationalstaaten sind Herren der Verträge. Sie sind die einzige Quelle demokratischer Legitimität. Aber das wird nicht praktiziert.
({11})
Eine beliebte Methode, die nationalen Parlamente zu umgehen, ist, den Ausbau der Union durch Richtlinien und Verordnungen weiter voranzubringen. Mehr als 80 Prozent aller Gesetze kommen aus Brüssel, hat Bundespräsident Herzog einst festgestellt. Ein Beispiel: die EU-Verordnung, Ratsdokumentennummer 1421/17, zur Festlegung von Emissionsnormen für Personenkraftwagen. Die EU will neue Verbrauchstests für Pkws einführen. Dabei sind die Grenzwerte so niedrig gewählt, dass diese Verordnung einem Verbot des Verbrennungsmotors gleichkommt. Jeder siebte Arbeitsplatz hierzulande, sehr geehrte Damen und Herren, hängt direkt oder indirekt an der Automobilindustrie. Wir als AfD-Fraktion haben uns vor etwas mehr als einem Jahr dafür eingesetzt, dass sich Deutschland gegen diese zerstörerische Verordnung aus Brüssel mit einer Subsidiaritätsrüge wehrt, und Sie alle haben das abgelehnt.
({12})
Das ist die Abschaffung einer Schlüsselindustrie in Deutschland.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Wir als AfD wollen die Wettbewerbsfähigkeit, die Solidität, den Sozialstaat und unseren Wohlstand sichern.
({13})
Und ganz ehrlich: Bei Ihnen allen bin ich mir nicht so sicher, ob Sie das auch wollen.
Vielen herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Katja Leikert, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nachdem Frau Weidel einen der erfolgreichsten Wirtschaftsräume der Welt wieder in Grund und Boden geredet hat, muss man sich erst mal ein bisschen sammeln.
Wir tun in der Politik so, als müsse man über Europa immer Grundsatzdebatten führen oder historisierend pseudophilosophische Ausführungen machen, wie das Herr Gauland macht.
({0})
Man spricht von Europa als „Projekt“, als „Modell“ und gar in Sonntagsreden. In vielen aktuellen Konflikten und Debatten helfen aber kein erhobener Zeigefinger und kein moralischer Gestus bzw., um einmal Cem Özdemir zu zitieren:
({1})
Da helfen auch keine Yogamatten.
Die Welt ist tatsächlich im Umbruch. Nichts ist mehr selbstverständlich, weder Wohlstand noch Sicherheit und Frieden. In dieser Zeit wissen die Europäerinnen und Europäer ganz genau, was sie an der Europäischen Union haben. Mehr als 80 Prozent der Deutschen finden die Mitgliedschaft in der Europäischen Union gut.
({2})
– Hören Sie einfach mal ein bisschen zu, und nehmen Sie das zur Kenntnis. Sie klatschen lieber dem Brexit Beifall, und neuerdings – oder wahrscheinlich schon immer – unterstützen Sie auch Russland in seinen Aktionen, die Europäische Union zu destabilisieren. Ich halte es wirklich für eine Schande, dass sich Abgeordnete als willige Helfer Putins einspannen lassen.
({3})
Wir wollen nicht zum Spielball von irgendjemandem werden. Wir wollen nicht irgendwann in der Regionalliga antreten. Wir als CDU/CSU wollen ein sicheres, zukunftsfähiges und wehrhaftes Europa.
({4})
Wir wollen die Regeln des zukünftigen globalen Zusammenlebens aktiv mitgestalten. Das bedeutet: Wir müssen eine gemeinsame, selbstbewusste Antwort geben im Hinblick auf den Handelskonflikt mit den USA. Da braucht es kein plumpes Trump-Bashing, und, es tut mir leid, liebe Grüne, da brauchen wir auch keine Chlorhuhn-Stimmungsmache wie damals bei TTIP.
({5})
Hier muss der Grundsatz gelten: Wir bleiben transatlantisch, aber wir werden europäischer.
({6})
Deshalb wollen wir Europa international durch Handelsverträge stärken. Wir wollen unsere europäischen Grundwerte – das ist ganz wichtig in dieser globalisierten Welt – wie faire Arbeitsbedingungen und hohe ökologische Standards schützen und weltweit durchsetzen.
Und dann geht es natürlich auch um China. Wir brauchen mehr Selbstbewusstsein und eine klare Strategie in der Partnerschaft mit China. Deshalb bin ich Peter Altmaier dankbar, dass er die Debatte um eine strategische Industriepolitik in Gang gebracht hat. Ich weiß, damit gewinnt man nicht immer ganz viele Sympathien. Aber auch hier gilt: Da ist kein Klein-Klein angesagt; vielmehr müssen wir einmal in unser Wettbewerbsrecht hineinschauen und uns fragen, wo wir in ein paar Jahren stehen möchten.
Wenn wir Europa sicher und zukunftsfähiger machen möchten, gilt Folgendes – darauf möchte ich noch einmal hinweisen; Michael Grosse-Brömer hat es getan, aber man kann es hier nicht oft genug sagen –: Vor dem Verteilen kommt das Erwirtschaften. Darüber haben wir hier schon öfter diskutiert, und wir haben versucht, das zu vermitteln.
Für Herrn Riexinger nenne ich nur eine Zahl, die zeigt, was Europa so sozial macht: Seit Polen 2004 der EU beigetreten ist, hat sich dort das Pro-Kopf-Einkommen verdoppelt, und die Arbeitslosenzahl hat sich um die Hälfte reduziert. Das ist ein Riesenerfolg; auch das ist ein Teil des sozialen Europas.
({7})
Wir können über Mindestlöhne reden, und wir müssen auch über Mindestlöhne reden. Aber wir müssen genauso die Fragen im Blick behalten, wie die EU-Staaten wettbewerbsfähiger werden und wie Europa Marktführer in Schlüsseltechnologien wird und auch bleibt. Wir wollen europäische Champions; diesen Anspruch kann man auch ruhig einmal artikulieren. Nur wenn wir diese Fragen beantworten, kann Europa das Wohlstandsversprechen erfüllen, das die Europäische Union gegeben hat.
Natürlich brauchen wir auch eine schlagkräftige europäische Verteidigungspolitik. Es ist richtig, dass wir hier schon vorangegangen sind und einen Europäischen Verteidigungsfonds eingerichtet haben. Das Projekt einer europäischen Verteidigungspolitik ist so alt wie ich und wurde immer noch nicht richtig auf den Weg gebracht. Deswegen ist es richtig und gut, dass insbesondere Ursula von der Leyen hier vorangegangen ist.
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Zum Schluss – und das ist mir absolut wichtig –: Wir können noch so viele Handelsabkommen schließen und die Europäische Union wehrhaft nach außen aufstellen, das alles nützt nichts, wenn es im Inneren nicht stimmt. Und da müssen wir uns alle ehrlich machen; das ist auch ein Appell an uns. Das gilt zum Beispiel im Hinblick auf unsere Partner in Polen und Ungarn, wenn dort der Rechtsstaat in Gefahr gerät. Wie schwierig das für uns alle ist, haben wir als CDU/CSU gerade erst erlebt; aber wir haben klare Entscheidungen getroffen. Wenn wir nach Rumänien schauen, das Land der derzeitigen EU-Ratspräsidentschaft, und sehen, dass die Regierung systematisch den Rechtsstaat schleift, dann kann man durchaus die SPD und die Kolleginnen und Kollegen von der FDP dazu auffordern, auch hier klare Entscheidungen zu treffen. Ihr Spitzenkandidat, liebe Frau Barley, Frans Timmermans, macht sich hier momentan völlig unglaubwürdig.
({9})
Wenn man Werte hat, für die man einsteht und für die man sich einsetzt, dann muss man auch Haltung bewahren. So stehen wir als CDU/CSU konsequent für die Urheberrechtsreform, für den Schutz des geistigen Eigentums ein. Auch hier ist es wirklich erstaunlich, liebe Frau Barley, dass Sie sich in Brüssel dafür einsetzen und zu Hause nicht. Und liebe Frau Beer, das war nicht ganz richtig, was Sie am Anfang gesagt haben: 53 Prozent Ihrer Kolleginnen und Kollegen der Partnerpartei ALDE haben für die Urheberrechtsreform gestimmt.
({10})
Hier erzählen Sie immer etwas ganz anderes.
({11})
Ich komme zum Schluss. Lassen wir die Menschen mit Sonntagsreden und Grundsatzdebatten in Ruhe! Wir sagen, wofür wir stehen, und auch, was mit uns nicht geht.
({12})
Das ist Haltung, und diese Haltung beweisen wir auch in Europa.
Herzlichen Dank.
({13})
Alexander Graf Lambsdorff, FDP, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Besucherinnen und Besucher! Wir diskutieren heute Morgen die Rolle Europas in einer Welt des Umbruchs. Ich finde es deswegen nicht verkehrt, sich erst einmal zu fragen, worin dieser Umbruch eigentlich besteht. Ich glaube, es sind drei Elemente, die ihn kennzeichnen: erstens die Rückkehr der Großmachtrivalität zwischen großen Nationalstaaten, eine tektonische Verschiebung der globalen Machtverhältnisse, zweitens ein Systemwettbewerb zwischen autoritären Regimen auf der einen Seite und der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit auf der anderen Seite und, drittens, ein abnehmendes Gewicht dessen, was wir Multilateralismus nennen, mit anderen Worten: die Bindung der Macht an das Recht.
Die Bindung der Macht an das Recht ist das Kennzeichen dessen, was die Amerikaner „the liberal world order“, die liberale Weltordnung, nennen. Deshalb ist die Frage in dieser Situation des Umbruchs eigentlich nicht so sehr die nach der Rolle Europas. Ich finde, die Frage müsste lauten: Was sind die Ziele Europas in einer solchen Situation? Ich glaube, diese Ziele liegen auf der Hand. Wir wollen die Sicherheit unserer Gesellschaften gewährleisten. Wir wollen die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger erhalten, und wir wollen eine Weltordnung, die sich auf das Recht gründet.
({0})
Ich habe eben über diese Verschiebung geredet; Sie alle sehen es jeden Tag in den Nachrichten. Die USA verfolgen zurzeit einen anderen Kurs – das machen sie ungefähr einmal pro Jahrhundert; sie haben es unter Andrew Jackson und Ted Roosevelt gemacht und jetzt mit Trump und seinem Kurs „America First“ – und fallen als Garant des Multilateralismus aus. China hat politisch massiv an Gewicht gewonnen, baut Flugzeugträger, greift geopolitisch ein; die Seidenstraßen-Initiative ist uns bekannt. Russland – wirtschaftlich nach wie vor schwach – stößt politisch sehr geschickt in bestimmte Lücken, die ihm der Westen lässt, sei es in Syrien, in Libyen oder in Venezuela. Indien, die größte Demokratie der Welt, kommt bisher in dieser Rechnung nicht vor. Seit Jahren reden alle über die wachsende Rolle Indiens. Indien findet eigentlich nicht statt.
Meine Damen und Herren, in dieser sich ändernden Welt stellen sich Fragen: Wie garantieren wir unsere Sicherheit? Wie schaffen wir es als Europäer, dafür zu sorgen, dass wir sicher leben können? Bisher – das ist eine bittere Wahrheit – schaffen wir es gar nicht. Wir als Europäer schaffen es überhaupt nicht, eigenverantwortlich unsere Sicherheit zu gewährleisten, ohne das Bündnis mit den Vereinigten Staaten von Amerika.
Zum Ersten. Lieber Herr Gauland, Sie haben hier Donald Trump zitiert; ich versuche es mit Goethe:
Was du ererbt von deinen Vätern hast, Erwirb es, um es zu besitzen.
Die transatlantischen Beziehungen sind in schwerem Fahrwasser; daran besteht überhaupt kein Zweifel. Aber wir müssen daran arbeiten, dass sie stark bleiben. Wir müssen daran arbeiten, dass wir gemeinsam mit den Amerikanern die Sicherheit Europas garantieren können. Deswegen setzen wir als Freie Demokraten auch in schwierigen Zeiten auf starke transatlantische Beziehungen.
({1})
Zum Zweiten: Systemwettbewerb. Wir wollen eine Partnerschaft mit Russland und China. Europa ist ein Kontinent des Handels. Deutschland ist Exportweltmeister; darauf sind wir stolz. Wir wollen Partnerschaft. Aber wir kommen nicht umhin, festzustellen, dass in China die Kommunistische Partei eine Alleinherrschaft ausübt, ein Social-Credit-System eingeführt hat, mit dem jeder Bürger jeden Tag bewertet wird, und wer dem Regime nicht genehm ist, darf noch nicht einmal mehr mit der Eisenbahn fahren. Es gibt Umerziehungslager. Es gibt 1 Million Menschen, die in Shenyang eingesperrt worden sind. Wir haben in Russland, einem Nachbarland der Europäischen Union, gelenkte Demokratie, gefügige Justiz, Gefängnisse voller Demokraten. Das kann es nicht sein, meine Damen und Herren. Dieses Russland führt aktiv Maßnahmen durch, um sein autoritäres, illiberales, intolerantes Gesellschaftsmodell zu uns zu exportieren, und die AfD steht – das haben wir gesehen – jedenfalls in Teilen bereits unter totaler Kontrolle.
({2})
Liebe Frau Barley, muss man Russia Today kurz vor der Europawahl ein solches Interview geben, wie Sie das getan haben? Ich finde, das stärkt die Resilienz unserer Gesellschaften nicht gerade.
Der letzte Punkt, meine Damen und Herren: die Bindung von Macht an Recht. Die Vereinten Nationen zu stärken, gemeinsam Konflikte zu bearbeiten und Krieg zu vermeiden, sind zentrale Aufgaben, denen sich Deutschland und Europa gegenübersehen. Ich fand es gut und richtig, dass die Bundesregierung eine Allianz der Multilateralisten gründen wollte. Nur: Es hat noch kein einziges Treffen gegeben. Wo ist das denn? Wo ist denn die Stärkung der Vereinten Nationen? Wo ist denn die Stärkung unserer anderen multilateralen Bündnisse? Wo ist denn die Glaubwürdigkeit in der NATO, wenn ich Ihre Haushaltspolitik sehe, liebe Bundesregierung?
({3})
Wo ist die Antwort auf Macron, liebe Frau Bundeskanzlerin? Dröhnendes Schweigen aus dem Kanzleramt angesichts eines französischen Präsidenten, der aus Europa wirklich etwas machen will.
Wenn wir es mit dem Multilateralismus, mit dem Völkerrecht ernst meinen, dann müssen wir verantwortungsvolle Politik machen, damit wir Sicherheit als gute Verbündete, Freiheit als echte Demokraten und die Garantie des Rechts für dauerhaften Frieden erreichen können. Das sind die Ziele Europas in dieser Welt des Umbruchs. Dafür müssen wir gemeinsam arbeiten.
Herzlichen Dank.
({4})
Andrej Hunko, Die Linke, ist der nächste Redner.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Herr Lambsdorff, ich bin Ihnen dankbar für Ihre Rede, weil Sie wenigstens zum Thema geredet haben, zum Thema „Europa in einer Welt des Umbruchs“. Auch wenn wir nicht der gleichen Meinung sind: Ich teile die Analyse, dass es tatsächlich eine Welt des Umbruchs ist. Dieser Umbruch besteht darin, dass rechtsbasierte internationale Politik einer Erosion ausgesetzt ist, dass wir weniger rechtsbasierte Politik haben. Das muss sich ändern, und deswegen ist die heutige Debatte auch sehr gut.
({0})
Wenn wir über Europa reden, dann sollten wir definieren: Was meinen wir mit Europa? Hier meinen die meisten die Europäische Union. Reden wir darüber? Ich denke, die Europäische Union steht in der Tat an einem Scheideweg. Wird sie ein Bündnis sein, das selbst Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenrechte, Frieden und sozialen Ausgleich beinhaltet, oder geht sie den Weg der Doppelstandards, der Aufrüstung und auch der Militärinterventionen? Wird es statt eines „America first“ ein „Europe first“ geben, oder gibt es tatsächlich ein inhaltlich anderes Europa, das eben für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und auch Multilateralismus in den internationalen Beziehungen steht? Wir sind natürlich für Letzteres.
({1})
Wenn wir über regelbasierte internationale Politik sprechen – der Außenminister ist zwar nicht da; aber das ist ja auch im Auswärtigen Amt gegenwärtig ein häufig verwendeter Begriff –, dann müssen wir sagen: Welche Regeln meinen wir denn? Meinen wir das Völkerrecht? Ja, wir sind dafür, dass das Völkerrecht eingehalten wird. Es wird häufig unterlaufen, nicht nur von den vermeintlich bösen Staaten, sondern oft genug auch von europäischen Staaten und den USA. Wir sind dafür, dass das Völkerrecht eingehalten wird und dass die Europäische Union eine Bastion gegen die ist, die das Völkerrecht nicht einhalten.
({2})
Leider geht die Entwicklung ja in eine etwas andere Richtung. Im mittelfristigen Finanzrahmen ist eine Aufrüstung der Europäischen Union geplant. Es ist ein Europäischer Verteidigungsfonds mit 13,5 Milliarden Euro zur Stärkung der europäischen Rüstungspolitik vorgesehen. Es sind sogar 6,5 Milliarden Euro eingestellt, um Straßen und Brücken für Panzer befahrbar zu machen, um eine schnellere Verlegung von Panzern an die russische Grenze zu ermöglichen. Das ist nicht das Europa, das wir wollen.
({3})
Das spaltet Europa. Das führt zu einem neuen Kalten Krieg, und deswegen wollen wir nicht in diese Richtung gehen.
Das zweite wichtige europäische regelbasierte Instrument ist die Europäische Menschenrechtskonvention, die weltweit wirklich einzigartig ist. Sie umfasst in einem gesamteuropäischen System 47 Länder und räumt über 800 Millionen Menschen ein Individualklagerecht beim Straßburger Gericht ein. Leider hat die Europäische Union die Konvention bis heute nicht unterzeichnet. Damit erkennt sie dieses Gericht für sich selbst nicht an, und das, obwohl das im Lissabon-Vertrag steht. Deswegen fordern wir, dass die Europäische Union endlich dieser Menschenrechtskonvention beitritt. Damit würde eine Richtungsentscheidung getroffen.
({4})
Herr Präsident, ich stelle mir vor, Julian Assange wäre ein Whistleblower, ein Journalist, der russische Kriegsverbrechen aufgedeckt hätte, und würde jetzt festgenommen und nach Russland ausgeliefert.
({5})
Dann wären ja alle Medien voll davon. Dann würde Juncker bestimmt nicht sagen, was er gestern gesagt hat: Dafür sind wir nicht zuständig. – Ich denke, an diesem Beispiel des Schutzes eines Whistleblowers, der massive Kriegsverbrechen aufgedeckt hat, zeigt sich auch ein bisschen die Glaubwürdigkeit, wie ernst wir es mit der Meinungsfreiheit, mit dem Schutz von Journalisten meinen. Ich denke, Julian Assange sollte nicht ausgeliefert werden. Ich denke, die Europäische Union sollte sich dafür einsetzen, die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen. Das wäre ein ganz wichtiges Signal, auch für ein Europa, das diesen Schutz als wichtiges Instrument ansieht.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Hunko. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich, bevor ich zu meiner eigentlichen Rede komme, einen Satz zu Frau Weidel und ihrem Demokratieverständnis in Europa sagen. Keiner will hier die nationalen Parlamente schwächen,
({0})
aber Sie wollen das Europäische Parlament abschaffen. Das ist Ihr Verständnis von Europa und europäischer Demokratie, das wir absolut nicht teilen.
({1})
Häufig werden wir ja alle gefragt: Wofür brauchen wir denn überhaupt Europa? Ich antworte immer: Damit wir nicht allein sind in dieser verrückten Welt, damit wir unsere Zukunft überhaupt noch gestalten können. Die globalen Machtverhältnisse sind im Umbruch. China gewinnt mehr an Einfluss, Russland wird aggressiver, und auf Trump kann man sich als Demokrat nicht verlassen. Ich bin froh, dass wir nicht alleine sind, sondern dass wir wissen: Ob Franzosen, ob Holländer, die Europäische Union steht an unserer Seite, wir sind nicht alleine. Das gibt Sicherheit.
({2})
Wir müssen aber auch aufpassen. Das heißt nicht, dass das alles unsere Feinde sind, und wir sollten auch aus ihnen keine Feinde machen, indem wir sie so behandeln oder so über sie reden. Aber europäische Souveränität bedeutet, dass wir angemessen reagieren können müssen, egal ob diese Akteure uns nun positiv oder negativ gesonnen sind. Das heißt erstens: Europäische Souveränität werden wir nur erreichen, wenn wir den sozialen Zusammenhalt in Europa stärken.
({3})
Wenn Europa nur den Banken hilft, aber nicht den Kranken, ist das ein Einfallstor für alle, die Europa schaden wollen.
({4})
Wir müssen zweitens kritische Infrastruktur stärken und wieder in europäische Hand geben. Wenn wir zukunftsweisende Technologien verschlafen, werden wir zunehmend in die Arme von China und Co getrieben. Ich will, dass unsere digitale Zukunft in der EU bestimmt wird und nicht in Peking und auch nicht in Washington.
({5})
Natürlich kosten Sicherheit und Unabhängigkeit auch Geld. Aber wirklich teuer kommt es uns doch erst, wenn wir diese Sicherheit nicht mehr haben. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie bereit ist, mehr Geld für den europäischen Haushalt zur Verfügung zu stellen, damit diese europäischen Aufgaben auch endlich europäisch angegangen werden können.
({6})
Wir Deutschen fühlen uns so häufig gerne als die guten Europäer. Aber es ist leider nicht so einfach. Deutschland steht momentan so häufig auf der Bremse und stellt auch immer wieder seine eigenen Interessen vor die europäischen, Stichwort „Nord Stream 2“. Das ist es, was Europa gerade bremst und lähmt und auch kaputtmacht. Wir brauchen nicht mehr Sonntagsreden über Europa, wir brauchen kein weiteres Schönreden, sondern wir brauchen europäisches Handeln. Das ist so dringend notwendig, damit wir unsere Zukunft noch selber in der Hand haben.
Ich danke Ihnen.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Brantner. – Nächster Redner ist der Kollege Florian Hahn, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorgestern ist ein historischer Erfolg gelungen: Zum ersten Mal in der Geschichte ist es Forschern unter maßgeblicher Beteiligung des Max-Planck-Instituts in Bonn gelungen, Bilder von einem sogenannten schwarzen Loch aufzunehmen. Albert Einstein hat mit seiner Relativitätstheorie den wissenschaftlichen Überbau geliefert. Jetzt erst konnte der visuelle Beweis für die Existenz der schwarzen Löcher geliefert werden. Für mich ist das ein treffliches Beispiel dafür, dass wir gemeinsam Großartiges leisten können, wenn wir unsere Kräfte grenzüberschreitend bündeln, in dem konkreten Fall sogar in einer weltweiten konzertierten Aktion über Kontinente hinweg.
Für Europa heißt das für mich: Wenn wir gemeinsam große Erfolge erzielen wollen, müssen wir auch mutige Schritte gehen und bereit sein, groß zu denken. Wir müssen in Zukunftsfelder gemeinsam investieren. Die Zukunft Europas, unsere Zukunft, hängt maßgeblich von Forschung und Wissenschaft, Innovation und Investitionen ab. Dafür müssen wir die richtigen Weichen stellen und zusammen mit den Nationalstaaten für Innovation und Zukunftsfähigkeit arbeiten.
({0})
Wir brauchen in Europa wieder neue Impulse und mehr Mut für Veränderungen. Die zähen, langwierigen und zum Teil frustrierenden Brexit-Verhandlungen haben den Blick auf andere wichtige Aufgaben verstellt. Aber die EU-27 haben eine große Einigkeit gezeigt, und das habe ich vorher so nicht für möglich gehalten. Dieses Momentum gilt es zu nutzen. Darauf können wir aufbauen.
Nun muss es um die zukünftige Ausgestaltung Europas gehen. Von dem Gipfel am 9. Mai in Sibiu erwarten wir weitere Impulse. Die Agenda wird sich sicherlich auch in dem Programm für die neue Europäische Kommission wiederfinden, an deren Spitze dann ein neuer Kommissionspräsident stehen wird. Die Union, CDU und CSU, und die Europäische Volkspartei haben hierfür einen ausgezeichneten Kandidaten, einen besonnenen Brückenbauer, der Brüssel kann, ohne je seine enge Bindung zu seiner niederbayerischen Heimat aufgegeben zu haben, und der mit uns für ein Europa kämpft, das die Menschen stark machen möchte, und das ist Manfred Weber.
({1})
Für CDU und CSU ist klar: Damit wir die Europäische Union in eine gute Zukunft führen können, braucht es Mut, braucht es Kraft und Stärke. Wir kämpfen für ein starkes Europa, das die globalen Herausforderungen meistert. Vier Säulen sind für uns dabei zentral: eine Innovationsunion, eine Stabilitätsunion, eine Sicherheitsunion und eine Verteidigungsunion.
Wir wollen eine Innovationsunion, die Zukunftsjobs entstehen lässt und so Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand sichert. Die Vorstellung hingegen, man könne die Bürgerinnen und Bürger vor den Risiken der Globalisierung und der Digitalisierung schützen, indem man einfach soziale Rechte europaweit harmonisiert, halten wir für Augenwischerei.
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Wir wollen eine Stabilitätsunion, die den Mitgliedstaaten eine solide Haushaltsführung abverlangt und die unsere Währung, den Euro, stärkt, und keine Transferunion, in der Mitgliedstaaten auf Kosten der anderen ihre unverantwortliche Schuldenpolitik endlos fortsetzen können, zum Beispiel auf Basis einer europäischen Arbeitslosenversicherung. Erwirtschaften geht vor Verteilung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Wir wollen eine Sicherheitsunion, in der sich die nationalen Sicherheitsbehörden besser vernetzen und ihre Daten vereinfachter austauschen können, damit der Kampf gegen die grenzüberschreitende Kriminalität entsprechend intensiviert werden kann.
Und wir wollen eine Verteidigungsunion mit gemeinsamen Streitkräften bis 2030, damit unser Europa sein Schicksal verstärkt in die eigenen Hände nehmen kann.
Das ist das Angebot von CDU und CSU zur Europawahl Ende Mai, mit dem wir unser Europa mutig voranbringen wollen. Angesichts Globalisierung und Digitalisierung mutlos den Kopf in den Sand zu stecken, ist hingegen keine Lösung.
Die Grünen und die Linken setzen auf Umverteilung, Verbote, Zentralisierung, Vergemeinschaftung in Europa. Das schwächt und das gefährdet den Zusammenhalt der Europäischen Union. Da ist übrigens auch vieles dabei, was Herr Macron gefordert hat. Da macht es einen angesichts seiner Pläne für einen europäischen Mindestlohn, eine europäische Arbeitslosenversicherung und einen europäischen Sozialtransfer schon ein bisschen nachdenklich, wenn die FDP Hand in Hand mit Macron in den Wahlkampf zieht.
({4})
Erst recht keine Lösung ist es, sich nach Brüssel wählen zu lassen, um dort alles zu blockieren, rückabzuwickeln und am Ende abschaffen zu wollen. Die Rechtspopulisten und Nationalisten in Europa formieren sich langsam, um genau das zu tun. Auch die AfD ist da ganz vorne mit dabei. Sie gefährden damit Frieden, Freiheit und Wohlstand auf unserem Kontinent.
({5})
Alle proeuropäischen Kräfte sind nun gefordert, für den Zusammenhalt in Europa zu kämpfen.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Die Spaßmacher, Gaukler und Europafeinde dürfen nicht die Oberhand gewinnen. Lassen Sie uns dafür gemeinsam kämpfen!
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf schwierige Fragestellungen gibt es manchmal ganz klare Antworten. Zu unserem heutigen Thema kann man sagen: Wer auch morgen sicher leben will, muss heute für Europa kämpfen.
({0})
Aber weil die Wahrheit konkret ist, mache ich es an Beispielen deutlich.
Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich dem Kollegen Nick von der Unionsfraktion, dem Sozialdemokraten Schwabe genauso wie Andrej Hunko – ich sehe ihn hier – und Tabea Rößner, die es zusammen mit anderen in der deutschen Delegation geschafft haben, dass wir in dieser Woche in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Lösungen gefunden haben, damit diese so wichtige supranationale, multilaterale Organisation weiter existieren kann, weiter finanziert wird, und dass wir auf dem schmalen Grat der notwendigen Kritik an Russland – an der Politik von Putin – Millionen russischen Bürgerinnen und Bürgern die Chance gewahrt haben, den Menschenrechtsgerichtshof anzurufen. Ich bin sicher, die deutsche Bundesregierung wird auch diesen Weg gehen und sich dafür einsetzen, dass wir im Ministerkomitee die notwendige Einstimmigkeit von 47 Staaten erreichen; denn das ist praktizierte Gemeinschaft in diesem Europa.
({1})
Es geht bei der europäischen Einigung um das Gemeinsame, das uns verbindet. Es geht nicht um Europa unter Vorbehalt. Die Lehre des Brexits ist: Lasst uns hier jeden Tag jedem Unsinn, der über Zentralismus, Bürokratie und Regelungswut der EU usw. erzählt wird, offen widersprechen. Es gibt keinen Brüsseler Zentralismus. Es gibt in Brüssel nur Entscheidungen des Europäischen Parlaments und der 28 Regierungen, und zwar auf der Grundlage unzähliger Vertrags- und Verfassungsänderungen zur Erweiterung der Kompetenzen der EU, die hier im Deutschen Bundestag und im Rahmen zahlreicher Volksabstimmungen in den EU-Staaten beschlossen worden sind. Das ist die Handlungsgrundlage. Auf dieser Handlungsgrundlage machen wir gemeinsam konkrete Politik, manchmal eher sozialdemokratisch, manchmal eher christdemokratisch geprägt – wie auch immer –, und wir machen sie gemeinsam. Wir haben erlebt: Wer jeden Tag Lügen über dieses Brüssel verbreitet, wird im Brexit landen. Das werden wir hier miteinander verhindern.
({2})
In Europa steht die Europawahl an, bei der zwischen Parteien entschieden werden kann – Gott sei Dank. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie können ganz sicher sein, dass der sozialdemokratische Erste Vizepräsident der EU-Kommission darüber wachen wird und alles dafür unternehmen wird, dass die Rechtsstaatlichkeit in allen – auch den kritisierten – Ländern der Europäischen Union eingehalten wird. Er wacht über ein Verfahren gegen Ungarn und Polen gemäß Artikel 7 des EU-Vertrags, aber übt auch notwendige Kritik an der Regierung in Bukarest – dreimal war er in den letzten Monaten dort –, an der bekanntlich auch Sozialdemokraten beteiligt sind.
({3})
Das ist gut und richtig so. Er hat da sehr schnell reagiert.
Sie haben, als es sozusagen um die CDU Ungarns ging, den Parteivorsitzenden, Herrn Orban, neun Jahre lang hier in diesem Haus in den Debatten immer wieder verteidigt, haben gesagt: „Er ist ja mehrheitlich gewählt“, nach dem Motto: Mehrheit kann alles. – Sie haben Pilgerreisen nach Budapest mit vielen Parlaments- und Parteidelegationen gemacht. Sie haben Orban auf Parteitage eingeladen und ihm gehuldigt. Wir haben von den jetzt kritisierten rumänischen Sozialdemokraten weder jemanden eingeladen noch irgendjemandem gehuldigt.
({4})
Im Gegenteil: Ich sehe hier einige, die an der Delegationsreise nach Bukarest teilgenommen haben; die haben das ordentlich und offen kritisiert. Das werden wir auch weiter so machen.
({5})
Das ist genau der Unterschied.
Jetzt zu Russia Today: Ich kann Ihnen ja mal vorlesen, wer alles vor den Mikrofonen von Russia Today stand. Das ist das gesamte christdemokratische A bis Z, von Altmaier bis Ziemiak.
({6})
Und jetzt kommen Sie hier mit so einer billigen Geschichte, weil Ihnen bei unserer Spitzenkandidatin sonst nichts einfällt? Sie ist unbestritten eine gute europäische Frau. – Das ist in Ordnung so, wie du das machst, liebe Katarina. Glück auf für den 26. Mai!
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege Schäfer. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Jürgen Hardt, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Axel Schäfer, dass Sie ein Herz für Europa haben, ist völlig unbestritten. Sie sind einer der starken Europäer hier. Aber das, was Sie sich zum Schluss Ihrer Rede erlaubt haben, das bedarf einer kleinen Erläuterung: Wir haben die Stimmrechte und Mitwirkungsrechte der ungarischen Partei Fidesz in der EVP suspendiert.
({0})
Eine solche Entscheidung steht mit Blick auf die Sozialdemokraten in Rumänien noch aus.
({1})
Auch die ALDE hat es bisher nicht vermocht, einen solchen Schritt mit Blick auf die liberale Schwesterpartei in Rumänien zu gehen.
({2})
Insofern sollte jeder vor seiner eigenen Haustür kehren. Wir tun das.
({3})
Herr Kollege Hardt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäfer?
Ja.
Das ist meine erste Zwischenfrage in 21 Jahren im Parlament. – Kollege Hardt, lieber Jürgen, ist dir bekannt, dass in dieser Woche die Sozialdemokratische Partei Europas die Mitgliedsrechte der rumänischen Sozialdemokraten eingefroren hat? Wir haben schnell reagiert. Ihr habt neun Jahre gebraucht.
({0})
Wenn das dazu führt, dass wir uns auch in unseren Parteienfamilien stärker der Tatsache bewusst werden, dass wir unsere Werte nach innen wie nach außen verteidigen müssen, ist das ja gut. Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir mit Blick auf Fidesz einen schweren, aber erfolgreichen Weg gegangen sind. Wir haben es geschafft, eine große Geschlossenheit innerhalb der Europäischen Volkspartei bei diesem Thema herzustellen. Deswegen glaube ich, dass wir uns in dieser Frage als die bessere und stärkere Kraft erwiesen haben.
({0})
Ich möchte kurz auf einen anderen Punkt eingehen. Hier haben heute auch einige Spitzenkandidaten der Parteien gesprochen.
({1})
Der EVP-Spitzenkandidat und Spitzenkandidat von CDU und CSU für die Europawahl ist nicht hier. Er ist nämlich seit vielen Jahren sehr erfolgreicher Europaabgeordneter.
({2})
Wir finden es gut, dass nicht nur CDU und CSU, sondern die gesamte Europäische Volkspartei mit Manfred Weber einen Deutschen als Spitzenkandidaten für die Europawahl aufgestellt hat. Das ist ein kraftvolles Signal, auch in die Reihen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Ein Kommissionspräsident Manfred Weber würde dieser Europäischen Union guttun. Dafür werden wir gemeinsam am 26. Mai kämpfen.
({3})
Ich möchte noch ganz kurz etwas zum Thema Großbritannien sagen. Ich glaube, dass in den nächsten Jahrzehnten intensiv darüber gestritten wird, wer in diesen Tagen und Wochen was richtig und was falsch gemacht hat in unserem Verhältnis zu Großbritannien. Deswegen finde ich es gut, dass Deutschland, dass die übrigen 27 Mitgliedstaaten keinen Druck, insbesondere keinen Zeitdruck auf Großbritannien ausüben. Damit wird auch der Legendenbildung vorgebeugt, wir hätten unsererseits Großbritannien in dieser schwierigen Frage doch ein Stück weit in eine bestimmte Richtung geschubst. Ich würde mir wünschen, dass die Briten ihre Entscheidung noch einmal überdenken würden. Aber wir müssen davon ausgehen, dass sich der erklärte Wille zum Austritt durchsetzt. Ich plädiere dafür, darüber nachzudenken, ob wir für diesen Fall zwischen Deutschland und Großbritannien, zwischen unseren beiden Völkern nicht so etwas wie einen bilateralen Freundschaftsvertrag brauchen. Dass die Europäische Union mit Großbritannien gut zusammenarbeitet, ist selbstverständlich; aber ich glaube, wir brauchen so etwas auch bilateral. Das rege ich für die zweite Jahreshälfte an, damit wir enge Partner bleiben, auch im Falle eines Brexits.
Die Bedeutung der Europäischen Union für die Außen- und Sicherheitspolitik hat sich in den letzten Jahren massiv erwiesen. Man stelle sich nur einmal vor, wir würden in den komplizierten Handelsauseinandersetzungen mit Amerika mit unserem Anteil von 3 Prozent am Weltbruttosozialprodukt als Deutschland alleine dastehen, wir könnten uns nicht darauf verlassen, dass Brüssel, dass Frau Malmström, dass aber auch der französische Präsident, der spanische Premierminister und andere uns zur Seite stehen. Die Handelspolitik ist ein hervorragender Beleg dafür, wie stark die Europäische Union sein kann, wenn sie sich auf ihre Kraft besinnt und gemeinsam agiert. Das geht natürlich immer einher mit der Bereitschaft, Kompromisse zu schließen, und der Bereitschaft, auf die spezifischen Anliegen der anderen Partner in der EU einzugehen. Aber ich finde es aller Anstrengungen wert, diese Kraft, die wir zum Beispiel im Bereich der Handelspolitik zeigen, auch in anderen Fragen der Außenpolitik zu mobilisieren. Wir müssen im Bereich der Außenpolitik kompromissfähig und kompromissbereit sein, auch wenn Kompromisse an dem einen oder anderen Punkt nicht ohne Schmerzen zu haben sind. Sie sorgen aber dafür, dass wir mit einer Stimme sprechen können. Ich plädiere dafür, dass wir in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zum Mehrheitsprinzip übergehen, so wie das im Lissabonner Vertrag angelegt ist und von den Außenministern beschlossen werden könnte.
Ich glaube, dass die Europäische Union auch in internationalen Gremien eng zusammenarbeiten sollte. Ich sehe eine große Chance darin, dass Deutschland nicht als einziges Mitglied der Europäischen Union Mitglied des Sicherheitsrates ist, sondern auch andere EU-Mitgliedstaaten im Sicherheitsrat vertreten sind. Ich halte es für dringend notwendig, dass Deutschland und die anderen EU-Mitgliedstaaten im Sicherheitsrat gemeinsam abstimmen und zu gemeinsamen Positionen kommen. Solche gemeinsamen Positionen haben wir bitter nötig. Ich erwarte und wünsche mir von den EU-Mitgliedern im Sicherheitsrat einen Impuls mit Blick auf die Situation in Libyen – vielleicht doch einen Anlauf zu einer neuen Resolution – und insbesondere mit Blick auf die Beilegung des Bürgerkriegs im Jemen, wo gegenwärtig eine der größten humanitären Katastrophen herrscht.
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Ich glaube, dass da insbesondere Deutschland und die Europäische Union ganz konkret gefragt sind. Damit können wir beweisen, dass wir in diesem Bereich ebenso superstark und handlungsfähig sind wie in der Handelspolitik.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hardt. – Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Dr. Jens Zimmermann, SPD-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die Rolle Europas in einer Welt des Umbruchs“, das ist das Thema unserer heutigen Vereinbarten Debatte. Ja, es gibt viele Umbrüche. In den Bereichen Technologie und Digitalisierung spüren das die Bürger in Europa ganz konkret. Es ist schon gesagt worden: Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt. – Das gilt heute immer noch; aber wenn wir in Europa den Bürgerinnen und Bürgern Orientierung, Schutz und Unterstützung in diesem digitalen Wandel bieten, dann ist das ein Vorteil, den die Bürgerinnen und Bürger in Europa ganz konkret spüren können, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Dieser Wandel, dieser Umbruch hat natürlich sehr viel mit der Welt um uns herum zu tun, zum Beispiel mit der Rolle der USA. Wir wissen, dass im Silicon Valley ganz viel passiert. Es ist nicht so, dass das alles in Washington passiert; das würde bedeuten, dass das allein Sache der Regierung ist. Nein, wir haben viele große amerikanische Konzerne, die diesen Umbruch mit verursachen. Schauen wir nach China: Dort gibt es einen staatlich gelenkten Wandel mit einer langfristigen technologischen Strategie. Wir haben in den letzten Wochen eine Diskussion über chinesische Hardware in Deutschland geführt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen natürlich auch zu unserem Nachbarn Russland schauen, der versucht, Einfluss auf demokratische Strukturen zu nehmen. Dazu nutzt Russland strategisch natürlich auch die Medien, auch die sogenannten russischen Staatsmedien. Im Ausschuss Digitale Agenda haben wir in dieser Woche eine sehr aufschlussreiche Anhörung zu diesem Thema durchgeführt. Dass hier heute darüber diskutiert wird, ist eigentlich ein Erfolg davon. Ich verstehe allerdings nicht so genau, warum sich hier quasi alle Fraktionen in Glashäuser gesetzt haben. Auch der amtierende Vizepräsident hat Russia Today schon Interviews gegeben. Die Grünen in Bayern scheinen sehr gute Beziehungen dahin zu haben; auch Claudia Roth und Frau Schulze haben Russia Today Interviews gegeben. Über die gesamte erste Reihe der Union hat Axel Schäfer eben schon gesprochen.
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Es widerspricht ja keiner, wenn es darum geht, dass man manchmal vielleicht auch diesen Medien Interviews gibt.
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Die Frage ist, wie man damit umgeht und welche Haltung man dahinter hat. Aber ich bitte doch die Kolleginnen und Kollegen hier im Haus, das auch mal zur Kenntnis zu nehmen.
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Außerdem ist es natürlich interessant, wenn wir über die Rolle Europas bei diesem technologischen Wandel reden. Da haben wir zweifelsohne aktuell ein sehr gutes Beispiel dafür, wie wir auf der europäischen Ebene ringen, zum Beispiel um das Thema Urheberrechte. Ich will noch mal festhalten: Das geht durch alle Parteienfamilien hindurch.
Der geschätzte Kollege Hofreiter hat auf das Thema Uploadfilter hingewiesen. Sie sind doch mit Ihrer Fraktion im Europäischen Parlament das beste Beispiel dafür, wie hart man in der Sache ringen kann. Sie haben die ehemalige Piratin Julia Reda in Ihre Fraktion aufgenommen, und Sie haben dort Ihre Kollegin Helga Trüpel. Das sind doch die beiden Pole dieser Debatte in der eigenen Fraktion im Europäischen Parlament.
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Daher ist es nicht redlich, sich jetzt hierhinzustellen und zu sagen, sie seien die Einzigen, die an dieser Stelle eine klare Meinung hätten. Das ist doch nicht so.
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Es zeigt sich aber bei der Größe der Themen, die vor uns stehen, dass die große Chance ist, das gemeinsam in Europa anzugehen. Dieser Tage, gestern und heute, findet eine ziemlich einmalige Konferenz statt, die Königswinter Konferenz, wo Deutsche und Briten zusammen hier in Berlin auch über die Zukunft Europas diskutieren.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Bei all den Themen, die wir da diskutiert haben, ist eine Sache sehr deutlich geworden: Bei all diesen Problemen liegt die Zukunft in der Gemeinschaft und nicht im Alleingang.
Herzlichen Dank.
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Als nächster Redner erhält der Kollege Hansjörg Durz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit rund einer Dekade steuert Europa durch schwere See: Finanzkrise, Staatsschuldenkrise, Euro-Krise – sie waren die Ouvertüre in einem Stück des Umbruchs, einem Stück, in dem viele Europäer überwiegend Molltöne anschlagen.
Heute stellen wir aufgrund zahlreicher weiterer Krisen rund um Europa immer wieder fest: Die Welt scheint nicht nach unserer Musik spielen zu wollen. Wir befinden uns in einem rasanten historischen Wandel, der auf vielen Ebenen gleichzeitig stattfindet. Die Verbreitung westlicher Werte unseres Lebensmodells und der damit einhergehenden globalen ordnungspolitischen Vorstellungen ist kein unumkehrbarer Prozess.
Außenpolitisch ist Europa heute von einem Ring aus Krisenherden umzingelt. Im Osten versucht eine ehemalige Großmacht den Schritt aus dem verstaubten Geschichtsbuch rauf auf die angeblich so schillernde Bühne der Weltpolitik mit einem Krieg auf europäischem Boden. Im Fernen Osten hat ein Land bereits gezeigt, wie der Weg vom Entwicklungsland zur Weltmacht gelingen kann – nicht im Einklang mit westlichen Wertekonzepten. Im Süden hingegen zerfallen Staaten vor den Toren Europas. Und wer sich einst noch hoffnungsvoll gen Westen wandte, dem dürfte spätestens seit der Wahl Trumps zum amerikanischen Präsidenten klar sein, dass von dort aus wenig Unterstützung für Europa in dieser Zeit des Umbruchs zu erwarten ist.
Die digitale Revolution hat einen entscheidenden Anteil daran, dass sich Machtverhältnisse auf der Welt verschieben und dass andere Wertekonzepte zu implementieren versucht wird. Das gilt auch für das Innere Europas. Denn die nationalistischen Strömungen in vielen Mitgliedsländern der Europäischen Union mögen Teil von Unzufriedenheit sein; ich interpretiere sie jedoch auch als Ausdruck von Unsicherheit. In Zeiten des Umbruchs folgt so mancher gern einfachen Antworten.
Zaudern und zögern, das ist es, was wir Europäer angesichts dieser Lage genug getan haben. Wir wollen aber kein Spielball in diesen weltpolitischen Umwälzungen sein. Wir wollen die Dinge ordnen – immer unsere Wertvorstellungen, unsere Grundwerte im Blick; denn wer auf rauer See bestehen will, der braucht einen klaren Wertekompass.
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Eine der grundlegenden Errungenschaften dieses Kontinents ist es, dass nicht das Recht des Stärkeren gilt; denn die Stärke des Rechtsstaats macht uns aus. Diese Regeln der Gesellschaft gibt sich in Europa niemand anderes als das Volk selbst. In der Vergangenheit ist dies nicht immer eine Selbstverständlichkeit gewesen. Gerade den Entwicklungen im Zuge der Digitalisierung konnten wir Europäer lange nicht unseren Stempel aufdrücken; denn wer sich die Ordnung der digitalen Welt anschaut, der entdeckt mit China und den USA zwei Akteure, die nach ganz anderen, eigenen Prinzipien handeln. Demnach hat die Welt die Wahl zwischen einem Internet, das in amerikanischer Wildwestmanier allein nach unternehmerischen Interessen gestaltet wird, und einem digitalen Raum à la China, der durch Überwachung der Bürger allein dem Interesse des Staates dient. Entweder Dalton-Brüder oder George Orwell – nein, wir brauchen einen europäischen Weg.
Wir in Europa sollten dafür sorgen, dass auch im Netz vom Volk legitimierte Parlamente sagen, wo es langgeht. Erste Schritte dahin sind gemacht. Mit der Datenschutz-Grundverordnung haben wir klargemacht, dass wir auch bei der Regulierung des Internets den Menschen in den Mittelpunkt stellen; denn Volkssouveränität heißt seitdem nicht nur, dass jeder bei uns an Wahlen teilnehmen darf, sondern auch, dass jeder wählen darf, was mit seinen Daten passiert.
Auch mit der Urheberrechtsreform werden das Individuum und seine Ideen gestärkt. Vom Unternehmertum bis zur Kunst – Europa wäre nichts ohne die Kreativität seiner Bürger. Sie ist zusammen mit einem freiheitlichen Menschenbild die Grundlage unseres Wohlstands. Dass dies auch in Zukunft der Fall sein wird, liegt ganz zentral in den Händen der Europäischen Union.
Auch bei der Gestaltung europäischer Öffentlichkeit hat sich gezeigt, dass die Selbstregulierung von Konzernen nicht gelingt; denn in zahlreichen politischen Debatten im Netz sind Fake Accounts als Agenda-Setter tätig. Auch liegt die Entscheidung darüber, welches Argument in der Debatte wann wem und wie vielen präsentiert wird, oftmals in der Hand von konzerneigenen Algorithmen. Wie diese Debattenbeiträge gewichten, bleibt jedoch schleierhaft.
Eine Welt, in der die Bürger über die Gestaltung ihres öffentlichen Raumes entscheiden, sieht anders aus. Wenn politische Debatten durch Konzerne und ihre undurchsichtigen Algorithmen bestimmt werden, dann mangelt es an Transparenz – Transparenz, die notwendig ist, damit Bürger ihre Freiheit wahrnehmen können, in diesem Fall die Freiheit, zu wählen.
Es geht aber auch um die Freiheit des Geistes: Nichts anderes als der daraus resultierende Erfindungsreichtum ist der Grundpfeiler unserer Innovationskraft.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss bitte.
Diese Innovationskraft auch im Digitalen zu sichern, ist unsere Aufgabe für die Zukunft. Alle Regeln für die digitale Welt müssen jedoch auf zwei europäischen Grundpfeilern basieren:
Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Schluss.
Transparenz und Souveränität.
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Als nächster Redner hat das Wort der fraktionslose Abgeordnete Mario Mieruch.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Noch vor wenigen Jahren hatten führende Politiker – und nicht nur die – einen Traum: Die EU würde sich mit dem Euro schnell vereinen, alle Länder würden demokratisch, und die Welt würde – zuletzt über gemeinsame Handelsbeziehungen vernetzt – in Frieden leben. – Zugegeben, ein sehr schöner Traum.
Der Umbruch, mit dem wir heute zurechtkommen müssen, sieht aber leider etwas anders aus. China und Russland sind keine westlichen Demokratien geworden, sondern haben ihre eigenen Staatsmodelle entwickelt, und die USA verlegen bereits seit Obama ihren Schwerpunkt in den Pazifik, um auf die wachsenden asiatischen Märkte zu reagieren.
Die EU erhebt ganz gerne selbstgefällig den Zeigefinger und weiß, wie andere sich zu verhalten haben, und auch wir in Deutschland sind dort gern mit großem Vorsprung dabei. Dabei sind gerade wir aktuell dabei, der größte Bremsklotz für die europäische Zukunft, statt der Motor zu werden.
Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zeigt sich angesichts der heutigen Herausforderungen recht konzeptlos. Denn was fällt dem Außenminister zur Schlüsselrolle der NATO ein? Nicht etwa der 2-Prozent-Etat, sondern Energiewende und Klimawandel! Man spricht von einer europäischen Armee; dabei sind wir ohne US-Unterstützung schutzlos. Nicht die USA, wir sind der Bittsteller, weil wir Militär- und Sicherheitsdienste einfach viel zu lange vernachlässigt haben.
Wir setzen Sanktionen gegen Russland durch und fördern andererseits die Nord-Stream-2-Pipeline. Wir halten Italien das Zusammengehen mit China vor, wollen in Thüringen aber ein deutsch-chinesisches Batterieprojekt auf die Wiese stellen, und wir verteidigen den Iran-Deal gegen Israel und die USA. Das alles ist ziemlich orientierungslos, ohne jede Langzeitperspektive. Wir verprellen Freunde, Verbündete und Partner innerhalb und außerhalb Europas. Aber Moral ist billig, weil sie stets das Geld der anderen kostet.
Wenn wir also wollen, dass dieses Europa besteht, dann muss sich Deutschland wieder auf das Wesentliche besinnen: Sicherheit und Freiheit. Sicherheit ist aber nur möglich, wenn wir unseren Kontinent verteidigen können. Alle reden davon, dass Deutschland Verantwortung übernehmen muss. Ja, das sollten wir tun – natürlich auch für uns selbst. Wer mit einem milliardenschweren Klimaschutzplan die Welt retten kann, der kriegt auch seine Bundeswehr saniert. Nur Mut!
Freiheit bedeutet, dass wir nicht nur unsere Art, zu leben, bewahren, sondern dass wir auch zu unserem Wirtschaftsmodell stehen. Und wenn Wirtschaftsminister Altmaier denkt, wir müssten aus Angst vor den Chinesen Selbstmord begehen, indem wir unsere Wirtschaft über Verstaatlichung retten, dann fragt sich, was es später noch zu verteidigen gibt. Ohne die Grundsätze unserer sozialen Marktwirtschaft sind wir nicht mehr wettbewerbsfähig und verlieren den einzigen Vorteil, den wir bisher hatten: den Vorsprung durch Innovation.
Wenn Europa auch die Skeptiker überzeugen will, dann muss es seine Demokratiedefizite anpacken, seine fett gewordene Selbstverwaltung abbauen und aufhören, die Menschen dauernd zu bevormunden. In ganz Europa muss maximales Netto vom Brutto übrig bleiben. Und Europa muss anfangen, selbstkritisch Fehlentwicklungen zu korrigieren. Es geht nicht darum, wer am meisten von der EU profitiert, sondern darum, dass einfach alle in der EU die gleichen Chancen haben. Wie man das hinkriegt? Einfach machen!
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als letzter Redner in der Debatte hat das Wort der Kollege Mark Hauptmann, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen! Das heutige Europa, wie wir es kennen, ist ein beispielloses Friedens- und Wohlstandsprojekt, und von dem profitieren wir alle. Die historische Basis dafür allerdings war die wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1957 gegründet und mit dem Maastricht-Vertrag zur Schaffung der Europäischen Union 1993 vollendet. Der historische Geist von damals, nämlich die Annäherung und Partnerschaft durch wirtschaftliche Verflechtung, gilt bis heute, jedoch nicht nur nach innen, innerhalb Europas, sondern mehr denn je auch nach außen in einem globalen Wettbewerb.
Wir als Union glauben daher, dass wir die Chancen der offenen Märkte, die Chancen von freiem Güter- und Kapitalverkehr, von wechselseitigen Investitionen sowie von internationalen Beteiligungen an Unternehmen auch weiter nutzen sollten. Deutschland profitiert wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung und von der Einbettung in die internationalen Wertschöpfungsketten.
Jedoch sehen wir vor allem, dass viele Gefahren am Horizont lauern: Protektionismus, globalisierungskritische Haltungen – auch hier im Parlament –, Chinas staatsgelenkte Wirtschaftspolitik und auch die neue Ausrichtung der USA mit America First. Deswegen brauchen wir Europa heute mehr denn je als Streiterin für freien und fairen Welthandel nach den maßgeblichen Regeln der WTO. Wir wollen diese freiheitliche Wirtschaftsordnung verteidigen, weiter leben und weiter gestalten.
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Deshalb, meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen, ist es wichtig, dass wir in Europa mit einer Stimme sprechen, dass wir diese Projekte gemeinschaftlich angehen. Die Botschaft muss klar sein: Europa ist Sicherheit und Wohlstand.
Ich glaube, dass wir Schwerpunkte brauchen, die wir gerade auch im Rahmen dieser Europawahl jetzt adressieren müssen: eine gemeinsame Handelspolitik und die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit, PESCO, bei der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Wir brauchen verbindliche europäische Rüstungsexportstandards statt „German-free“ als neuen Qualitätsmaßstab in der Sicherheitspolitik in Europa.
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Wir müssen unser Augenmerk auf den Außengrenzschutz richten, und wir müssen den EU-Bürgern das Gefühl geben, dass die EU eine gewinnbringende Gemeinschaft ist, die Sicherheit in einer Welt des Umbruchs bietet. Wir brauchen die Stärkung von Sicherheit und Verteidigung als Grundstein der Europäischen Verteidigungsunion, einen verbesserten Datenaustausch zur Terrorbekämpfung, die Aufstockung von Frontex auf 10 000 Beamte und europäische Transitzentren für Migranten zur Überprüfung und gegebenenfalls auch zur Rückführung.
Wir glauben als Union zutiefst daran – unser Spitzenkandidat Manfred Weber verkörpert das mehr als jeder andere Kandidat in diesem Rahmen –:
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Europa ist mehr als die Summe der einzelnen Nationalstaaten. Europa ist die Idee der Verständigung und der Partnerschaft gegenüber gemeinsamen Herausforderungen, zum Beispiel bei der Frage: Wie gehen wir mit Russland gerade im Hinblick auf die Annexion der Krim und die militärischen Aktivitäten in die Donbass-Region um? Auch hier gilt: Nur mit einer gemeinsamen Haltung sind wir international stark und verlässlich und werden auch von Russland als ein starker Partner wahrgenommen. Deshalb brauchen wir beides: die Verurteilung der völkerrechtswidrigen Handlungen, aber auch die Bereitschaft zum Dialog als Einladung, um Russland in die internationale Gemeinschaft zurückzuholen.
Doch hier gibt es einen eklatanten Bruch, den wir in den letzten Wochen erlebt haben. Er kommt von der AfD. Wir erleben nämlich, dass die AfD das, was Europa stark macht, infrage stellt: Frieden und Wohlstand, die Europa uns gebracht hat. Was wir jedoch in Europa brauchen, ist ein europäischer Zusammenhalt und keine Nationalstaaterei. Was wir in Europa brauchen, ist Stabilität und keine russischen Marionetten in unseren Parlamenten, die Europa in Form einer Matroschka-Zwergen-Kampagne von innen heraus mit Propaganda bekämpfen.
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Was wir als Union gerade in diesem Wahlkampf für die Europawahl im Mai klarmachen werden, ist: Wir stehen in der Mitte – für Wohlstand, für Frieden, für Stabilität, für eine Werte-, Handels-, Innovations- und Sicherheitsunion, gegen nationale Populisten von rechts und sozialistische Populisten von links. Das ist der Anspruch der Union bei dieser Europawahl.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hauptmann. – Damit beende ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei unserem Antrag zum Innovationsprinzip geht es um die Art und Weise, wie wir in Deutschland Gesetze machen. Das Erstellen von Gesetzentwürfen ist detailliert geregelt; das wissen Sie. Es ist zwingend eine Gesetzesfolgenabschätzung durchzuführen. Gesetzesfolgen wiederum sind definiert als Auswirkungen, beabsichtigte oder unbeabsichtigte Nebenwirkungen eines Gesetzes. Nach den hierzu entworfenen Regeln sind aber nur Risiken und Gefahren, die sich aus einem Gesetzesvorhaben ergeben könnten, zu evaluieren und auszuschalten.
Chancen? Chancen, die sich durch ein Vorhaben ergeben, aber auch solche Chancen, die durch eine gesetzgeberische oder behördliche Initiative quasi als Kollateralschaden verhindert werden, werden nicht untersucht, und ich glaube, das müssen wir dringend ändern.
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Alles andere wäre eine Kastration unseres Denkens.
Nach einer Studie von acatech und der Körber-Stiftung meint knapp die Hälfte der Befragten, dass die Technik die Lebensqualität der nachfolgenden Generationen verbessere. Gut die Hälfte hielt sich selbst für an Technik interessiert, und 55 Prozent äußerten gar Begeisterung für Technik. Diese Technikbegeisterung, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat „made in Germany“ zu einem Gütesiegel werden lassen, hat uns allen Wohlstand und Lebensqualität gebracht. Wir sollten sie daher nutzen, um in der innovativen Welt von morgen weiter Gewinner des Fortschritts sein zu können.
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Fast 90 Prozent der von acatech und Körber-Stiftung Befragten sagten, dass der technische Wandel nicht mehr zu stoppen sei. Ja wenn dem so ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann lassen Sie ihn uns doch gestalten, und zwar so gestalten, dass er dem Menschen dient! Der Ansatz, möglichst umfassend zu verbieten, was nicht gewollt ist, reicht nicht aus, um Innovationsfreude und -fähigkeit zu fördern;
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er reicht insbesondere nicht aus, um in der Welt von morgen bestehen zu können.
Wissenschaft und Industrie, sie haben immer wieder zahllose Alternativen entwickelt, die dann immer wieder vom grünen Bann getroffen wurden. Denken Sie nur an die derzeitige Debatte um das Elektroauto und die Skepsis mancher Mitglieder dieses Hauses gegenüber individueller Mobilität!
Wir Freien Demokraten wollen deshalb innovationsstimulierende Rahmenbedingungen schaffen,
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und zwar neben dem Vorsorgeprinzip. Wohlgemerkt, Frau Kollegin – Sie regen sich jetzt schon wieder so auf –: Es soll nicht anstatt, sondern daneben gelten; denn wir wollen uns weder in der Sicherheit noch im freien Denken beschränken lassen.
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Klar ist doch: Technik muss Grenzen achten, und zwar Grenzen, die die Gesellschaft vorgibt. Sie hat den Menschen zu dienen und nicht umgekehrt. Technik muss mit gesellschaftlichen Werten, wie Umweltschutz und Gerechtigkeit, im Einklang stehen.
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Technikbegeisterung auf der einen Seite und gesunde Vorsicht und Wachsamkeit auf der anderen Seite, genau das ist es, was wir in der Gesetzesfolgenabschätzung abbilden müssen; denn nur die Berücksichtigung beider Aspekte wird den Anforderungen an unsere Innovationsfähigkeit gerecht.
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Genau deshalb gehört neben das Vorsorgeprinzip auch das Innovationsprinzip. Das Vorsorgeprinzip muss sicherstellen, dass wir die Risiken für Mensch und Umwelt erkennen und dass diese sodann ausgeschlossen oder reduziert werden, je nach Sachverhalt. Verbote und Krisenszenarien alleine aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, reichen bei Weitem nicht aus, um Innovationsfreude und Innovationsfähigkeit bestmöglich zu fördern – geschweige denn zur Förderung der Innovationen selbst.
Unterstützen wir doch unsere Ingenieure, unsere Techniker, unsere Tüftler! Vertrauen wir denen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind! Lassen Sie uns in Gesetzesvorhaben einfach abbilden, dass wir technikbegeistert sind, dass wir die Technik von morgen nutzen wollen,
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um den Menschen morgen und übermorgen ein noch besseres Leben zu ermöglichen!
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Frau Kollegin Beer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ebner, Bündnis 90/Die Grünen?
Gerne.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben jetzt gerade erläutert, Sie wollen das Innovationsprinzip neben das Vorsorgeprinzip stellen, und beziehen sich in Ihrem Antrag darauf, dass dieses Innovationsprinzip auf europäischer Ebene bereits verankert sei.
Ich möchte Sie jetzt fragen: Wie können Sie das denn belegen? Bislang gibt es keinen einzigen Punkt, an dem dieses Innovationsprinzip tatsächlich verankert ist. Es gibt auf der europäischen Ebene einen Streit darüber, ob man das in einem Forschungsprogramm bei den Erwägungsgründen erwähnen möchte oder nicht, wohingegen das Vorsorgeprinzip tatsächlich primärrechtlich und sekundärrechtlich – sozusagen mit Verfassungsrang – verankert ist. Deshalb möchte ich Sie fragen, woher Sie diese Aussage nehmen, dass das bereits verankert ist.
Sie haben schon vor Jahren mit einem „Bedenken second“-Prinzip Wahlkampf gemacht. Habe ich Sie richtig verstanden, dass das jetzt „Innovation first. Bedenken second“ bedeutet? Sind Sie der Auffassung, dass der Schutz des Menschen – insbesondere auch der Kinder – und der Umwelt die Regulierung von neuen Technologien nicht rechtfertigt?
Sehr geehrter Herr Kollege, auf die Frage der europäischen Ebene wäre ich in meiner Rede noch eingegangen. – Wir haben auf der europäischen Ebene bereits die Toolbox 21 entwickelt, die von der Kommission auch angewendet wird. Deswegen ist das, was Medien jetzt zum Teil berichtet haben, falsch, dass nämlich in dem Horizon-Europe-Programm zum ersten Mal auch das Innovationsprinzip gleichberechtigt neben dem Vorsorgeprinzip stehen soll. Es ist letztendlich dadurch, dass wir im Sekundär- und Primärrecht ein entsprechendes Vorsorgeprinzip verankert haben, nicht ausgeschlossen, dass diese beiden Prinzipien gemeinsam angewandt werden.
Das bedeutet eben nicht, dass wir nicht auf die Risiken eingehen, sondern das bedeutet lediglich, dass wir beide Seiten in die Abwägung einbeziehen.
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Wir berücksichtigen also auch die Chancen. Wenn wir sie nicht mit einbeziehen würden, würden wir sie zum Teil vergeben. Damit wird den Menschen nicht gedient.
Die Technik muss den Menschen dienen, und wir müssen schauen, wie wir Risiken auch durch Technik in den Griff bekommen. Im Rahmen der Abwägung müssen wir genau die Möglichkeiten heraussuchen, die für uns als Gesellschaft, für den Planeten und für unsere Umwelt am Ende am meisten bringen. Genau auf diese Innovationen möchte ich hinaus. Die möchte ich eben nicht mehr durch die Einseitigkeit des Vorsorgeprinzips behindert sehen.
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Deswegen noch einmal, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen: Ohne Innovationen sind wir nicht in der Lage, unser Gemeinwesen in der Verfassung zu halten, die wir momentan haben – geschweige denn, es im Sinne der Bürgerinnen und Bürger weiter auszubauen und auszugestalten. Mit dem Innovationsprinzip – das halte ich für wichtig – bekommen wir an dieser Stelle nämlich auch einen Mentalitätswechsel. Indem der Fokus nicht nur auf die Risiken gelegt wird, sondern auch die Chancen gewürdigt werden, signalisieren der Staat und das Parlament: Innovationen sind uns wichtig, und sie lohnen sich. – Das ist eben ein Denken ohne Scheuklappen – und zwar bitte auf allen Ebenen. Wenn die Gesetze die Evaluierung von Chancen vornehmen, wenn der Blick auch auf die Chancen geweitet wird, die es nicht zu verspielen gilt, dann bekommen wir ein anderes gesellschaftliches Klima, und zwar eines für Innovationsfreude und Innovationsbereitschaft.
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Wenn die Behörden dann auch so agieren, dass sie bei der Auslegung von Rechtsquellen und bei behördlichen Entscheidungen gegenüber dem Bürger nicht einschränkend agieren, sondern innovativen Ideen positiv begegnen, dann haben wir eine entsprechende Veränderung – und das im Übrigen nicht nur bei technischen Vorhaben, sondern bei jedwedem Verwaltungshandeln. Überall müssen diese Chancen mitgedacht werden, und es muss vor allem mitgedacht werden, welche Möglichkeiten für unsere Gesellschaft wir ansonsten verhindern.
Lassen sie mich ein Beispiel dafür anführen, warum das Innovationsprinzip neben das Vorsorgeprinzip gehört: Das sehen wir ganz aktuell in der Klima- und Verkehrspolitik, und zwar bei der viel zu starken Konzentration auf die batteriebetriebene E-Mobilität. Wäre das Innovationsprinzip hier bereits verankert, dann würden wir fragen, welche Chancen wir uns durch diese einseitige Fokussierung gerade entgehen lassen, zum Beispiel die Entwicklung vielleicht noch besserer Techniken. Biokraftstoffe, Biomethan, synthetisches Methan, mit erneuerbaren Energien aus Wasser und CO 2 erzeugtes Kerosin könnten mit ihrer Emissionsfreiheit
({3})
einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung der vorgegebenen Ziele erreichen.
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Mit dem Innovationsprinzip neben dem Vorsorgeprinzip müssen wir bereits im Entwurfsstadium eines Gesetzes sicherstellen, dass andere Optionen – hier, in diesem Fall: neben den Batterieautos – nicht verloren gehen.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, auf die einzelnen Beispiele Ihres Antrages möchte ich gar nicht eingehen. Das wäre kleines Karo, weil wir das Vorsorgeprinzip an dieser Stelle eben nicht abschaffen, sondern lediglich ergänzen wollen, um den Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Ich wäre froh, wenn wir das im Ausschuss auch ergebnisoffen diskutieren könnten.
Frau Kollegin.
Sie sind als Grüne ja eigentlich mal als modern und progressiv angetreten –
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150 Jahre nach den Liberalen.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss bitte.
Vielleicht können Sie einfach mal zeigen, dass auch neues Denken bei Ihnen möglich ist.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Beer. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Silke Launert, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! „Innovationen sind ein Bündnis mit der Zukunft“: Der Chemiker Professor Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger hat mit diesen Worten zutreffend beschrieben, welch herausragende Bedeutung Innovationen zukommt. Innovationsfähigkeit und Entwicklungsfreude sind wichtig, und zwar im privaten Leben, im Berufsleben, aber natürlich auch in der Gesellschaft als Ganzes.
Um Innovationen geht es auch in dem Antrag, den Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, vorgelegt haben. Gleich zu Beginn schreiben Sie dort:
Die Zukunft des Standorts Deutschland hängt maßgeblich von unserer Innovationsfähigkeit ab. Dafür bedarf es einer modernen und innovativen Gesetzgebung.
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Und ja, damit haben Sie absolut recht.
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Innovationen sind nicht nur eine notwendige, sondern auch eine unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass Deutschland seine Spitzenposition in der Welt hält. Sie sind Voraussetzung dafür, dass es Deutschland wirtschaftlich gut geht, uns zwar nicht nur jetzt, sondern auch in der Zukunft.
Innovationen müssen gefördert werden; ich glaube, auch da sind wir uns alle einig. Innovationsförderung betreibt man nicht nur durch Gewährung finanzieller Mittel, sondern insbesondere auch dadurch, dass man als Gesetzgeber die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen schafft. Eine gute Gesetzgebung kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass die Innovationskraft gestärkt wird.
Die FDP möchte nun, wie sich dem vorliegenden Antrag entnehmen lässt, dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung dazu auffordert, den § 44 Absatz 1 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien zu reformieren. Schauen wir uns die Vorschrift doch einmal im Wortlaut an:
Unter Gesetzesfolgen sind die wesentlichen Auswirkungen des Gesetzes zu verstehen. Sie umfassen die beabsichtigten Wirkungen und die unbeabsichtigten Nebenwirkungen. Die Darstellung der voraussichtlichen Gesetzesfolgen muss im Benehmen mit den jeweils fachlich zuständigen Bundesministerien erfolgen und hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen erkennen lassen, worauf die Berechnungen oder die Annahmen beruhen. Es ist darzustellen, ob die Wirkungen des Vorhabens einer nachhaltigen Entwicklung entsprechen, insbesondere welche langfristigen Wirkungen das Vorhaben hat.
Laut der Aussage der FDP würden durch diese Vorschrift lediglich auf die Risiken eines Gesetzes geschaut, die Chancen, die ein Gesetzesvorhaben in sich birgt, aber vernachlässigt.
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Der Blick der Legislative, der Exekutive und der Normadressaten, so heißt es, werde verengt.
Wenn wir uns den genauen Wortlaut anschauen – das ist eigentlich bei jeder Auslegung einer Norm immer das Allererste –, dann müssen wir feststellen: Da steht nichts von Chancen. Da steht nichts von Risiken. Da steht nichts von Problemen. Da stehen wertneutral die Begriffe „Auswirkungen“, „Nebenwirkungen“, „Entwicklung“, „Wirkungen“. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, haben das ja auch erkannt. In dem einen Punkt Ihres Antrags steht das so.
Vermutlich ist es Ihnen bereits aufgefallen, sehr geehrte Damen und Herren: Wir beschäftigen uns gerade mit Begrifflichkeiten. Wir diskutieren, was der Begriff „Nebenwirkung“ inhaltlich umfasst, was der Begriff „Auswirkungen“ umfasst: Vor- und Nachteile oder nur Nachteile. Dabei lassen wir das Wesentliche außer Acht: den Inhalt eines Gesetzes. Er ist doch das Entscheidende. Der Inhalt eines Gesetzes entscheidet darüber, ob wir es gut finden oder nicht. Der Inhalt eines Gesetzes entscheidet, ob wir die Innovationskraft in unserem Land fördern oder nicht.
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Wir debattieren hier gerade über die Begründung, die mit einem Gesetzentwurf einhergeht. Natürlich ist auch diese von Bedeutung. Erfahrene Leute, etwa Richter, schauen in die Gesetzesbegründung. Wenn der Wortlaut nicht eindeutig ist, ist unter anderem das Heranziehen der Gesetzesbegründung wichtig bei der Auslegung einer Norm. Dreh- und Angelpunkt ist daneben natürlich der Zweck. Das ist auch hier das Entscheidende: der Zweck, das Ziel, das mit einem Gesetz verfolgt wird.
Gerne verweise ich nochmals auf Ihre eigenen Worte, verehrte Kollegen der FDP:
Die Zukunft des Standorts Deutschland hängt maßgeblich von unserer Innovationsfähigkeit ab. Dafür bedarf es einer modernen und innovativen Gesetzgebung.
Sie selbst greifen diesen Punkt in Ihrem Antrag auf.
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Da frage ich mich, warum ausgerechnet Sie sich dann im Klein-Klein verlieren, warum ausgerechnet Sie zu mehr Bürokratie auffordern und Nebenschauplätze aufmachen.
Ich lese sehr viele Gesetzesbegründungen, nicht nur seit meiner Doktorarbeit, sondern auch hier ständig. Sie wissen doch alle, was da zu den Kosten steht. Jeder, der ein bisschen mehr Ahnung von diesem Thema hat, weiß, dass nur ein Bruchteil der Kosten in der Gesetzesbegründung steht. Wir wissen doch alle, dass dann, wenn es um Gendergerechtigkeit geht, oft nur ein Bruchteil von dem, was die ganze Dimension des Gesetzes letztlich ausmacht, in der Gesetzesbegründung steht. Das sind oft nur zwei oder drei Sätze. – Für mich ist das, was Sie vorhaben, mit mehr Bürokratie verbunden.
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Zu glauben, dass dadurch, dass jetzt zwei oder drei Sätze mehr in der Gesetzesbegründung stehen – kein normaler Mensch schaut sich doch die Gesetzesbegründung an –, die Innovationsfähigkeit in unserer Gesellschaft gestärkt wird: Nein. Durch entsprechende Gesetze, durch entsprechende Rahmenbedingungen, durch Menschen, denen wir es ermöglichen, etwas zu unternehmen, durch das Verfolgen solcher Ziele stärken wir die Innovationsfähigkeit, nicht durch einen weiteren Satz oder zwei weitere Sätze in der Gesetzesbegründung.
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Ich glaube, Sie wollen das Thema Innovation mit aller Macht nach vorne bringen, damit dieses Thema mit Ihnen im Wahlkampf verbunden wird. Da gibt es ganz viele Themen, die wir gemeinsam angehen können.
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Ob es hilft, dass wir uns damit beschäftigen, ein paar Sätze mehr in die Gesetzesbegründung aufzunehmen? Das glaube ich nicht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich darf vielleicht geschäftsleitend darauf hinweisen, dass die Mitglieder des Deutschen Bundestages normale Menschen sind, die in aller Regel Gesetzesbegründungen lesen.
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Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Martin Reichardt, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Es gibt viele Dinge, für die Deutschland in der Welt steht: Pünktlichkeit, Fleiß, Erfindergeist. Es gibt aber auch andere Begriffe, für die Deutschland steht und die längst zum geflügelten Wort geworden sind. Das sind „German Angst“ und das berühmte deutsche Wesen, an dem die Welt genesen soll.
Der hier vorliegende Antrag der Grünen ist beseelt von Angstmacherei und dem besagten deutschen Ökowesen, an dem die Welt genesen soll.
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Er ist beseelt von Bevormundung und Unfreiheit. Der Antrag will die von den Grünen überall geschürten Ängste vor Klimawandel,
({1})
angeblich menschengemacht,
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allgegenwärtigen Vergiftungsgefahren und Ähnlichem direkt in die Bewertung von Gesetzen und Maßnahmen einspeisen; Ängste übrigens, die sich bislang immer als haltlos erwiesen haben, wie uns das Waldsterben und das Ozonloch zeigen – alles Szenarien, die laut Grünen schon vor Jahren und Jahrzehnten das Ende der Menschheit ankündigten.
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Eine neutrale Chancen- und Risikobewertung, wie sie zum Beispiel die FDP fordert, wird dadurch konterkariert.
Dieser Antrag ist ein Ideologiepapier. Er ist Teil des Angriffs der Grünen auf eine Vielzahl bewährter Technologien und deren Weiterentwicklung. Aktuell sind das Kohlekraftwerke und Dieselmotoren.
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Den Grünen reicht es aber nicht aus, mit ökologischen Segnungen nur Deutschland zu beglücken. Nein, sie formulieren ihren Weltgeltungsanspruch. Ich zitiere den ersten Satz des Antrags:
Das Vorsorgeprinzip ist ein Innovationsmotor für genau die wirtschaftliche Entwicklung, die wir brauchen, um die Weltgemeinschaft auf einen zukunftsfähigen, nachhaltigen Pfad zu bringen …
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Das deutsche Wesen: Es kommt heute nicht mehr in Uniform und mit Pickelhaube daher, sondern offensichtlich erscheint es der Welt als deutsches Ökowesen in Form linker Gutmenschen mit schlecht sitzender Frisur und Regenbogenfahne am Strickpullover, meine Damen und Herren.
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Es sind ökologische Heilslehren mit Unantastbarkeitsaura und diktatorischem Sendungsanspruch, die Sie hier einspeisen wollen.
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Sie sind von einem Überlegenheitsgefühl geprägt und getragen, das selbst Kaiser Wilhelm hätte erblassen lassen.
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Grüne Heilsbringer, die von ökologischer Planwirtschaft und Enteignungen träumen, die zum Guten der ganzen Welt die Menschheit umerziehen wollen: Hinter dem ewigen Mantra von angeblicher Freiheit und Toleranz, das Sie immer vor sich hertragen, blickt die hässliche Fratze des Meinungstotalitarismus hervor.
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Mit Bedacht haben die Grünen ihren Antrag neben den freiheitlichen Antrag der FDP „Innovation und Chancen nutzen“ gestellt. Die Grünen unternehmen den Versuch, ihren eigenen Antrag dem der FDP ähneln zu lassen.
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Der Antrag der Grünen aber beeinflusst durch Setzung ideologischer Kriterien das Ergebnis der Gesetzesprüfung von vornherein, um so eine objektive Prüfung bereits im Vorfeld zu erschweren.
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Der Antrag der FDP kommt ohne solche Setzungen aus. Ihm ist daher der ehrliche Wille zu einer unabhängigen Abwägung von Chancen und Risiken zu unterstellen. Darum freue ich mich auch auf dessen Diskussion im Ausschuss.
Es wäre wünschenswert, meine Damen und Herren, dass alle bürgerlichen Fraktionen in diesem Hause wieder zum antitotalitären Konsens zurückfinden
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und die Grünen als das benennen, was sie sind: eine totalitäre Partei, die unter dem Deckmantel von Ökologie und geheuchelter Menschlichkeit unser Gemeinwesen Stück für Stück zerstört.
({13}): Seien Sie mal ganz vorsichtig!)
Vielen Dank.
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Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Saskia Esken, SPD-Fraktion.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Jetzt kommen wir alle mal ein bisschen runter und trinken einen Tee.
Kollegen, die schon länger hier im Haus sind, sagen, dieses Innovationsprinzip sei ein Running Gag. Aber wir tun mal so, als wäre es ganz neu. Ich habe bei Ihrem Antrag zweimal Bauchgrimmen bekommen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Zum einen stellen Sie den Istzustand in Deutschland wesentlich schlechter dar, als er ist. Zum anderen schlagen Sie Maßnahmen vor, mit denen ich nicht einverstanden bin.
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Zum ersten Punkt. Deutschland ist keine Innovationswüste. Im Gegenteil: Die Welt beneidet uns um unsere Innovationsfähigkeit, und das, obwohl und gerade weil die Innovationen durchdacht und nachhaltig sind. Man könnte auch sagen: Wir denken erst, und dann handeln wir.
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Das hat in Deutschland eine kulturelle Tradition, eine Tradition, die durch das sogenannte Vorsorgeprinzip bei Gesetzgebungen und behördlichen Entscheidungen verfestigt wird. Sie stellen die These dagegen, Vorsorge und Innovation seien quasi ein Widerspruch. Dabei ist Innovation doch dazu da, Chancen zu ergreifen. Sie glauben, Vorsorge sei das Gegenteil von Innovation. Das ist aber nicht richtig. Vielmehr soll Vorsorge Risiken erkennen und zugleich verringern bzw. vermeiden.
Wir haben dieses Vorsorgeprinzip aus Fehlern entwickelt, wie sie beispielsweise durch den Einsatz von Asbest und FCKW gemacht wurden. Weil man nicht alle Risiken vorhersehen kann, lautet die Maxime: Handle stets so, dass du noch korrigierend eingreifen kannst, wenn etwas schiefläuft.
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Auch in der Gesetzgebung muss deshalb stets eine Abwägung zwischen Nutzenversprechen und Besorgnisgründen stattfinden. Das zu bewerkstelligen, ist eine methodische Herausforderung, da geht es nicht um Prinzipien.
Auch die Herkunft und die Intention des sogenannten Innovationsprinzips stimmen mich eher kritisch. Die Industrielobbygruppe European Risk Forum vereint Akteure aus den Bereichen Chemie über fossile Brennstoffe bis hin zum Tabak – nicht unbedingt Horte der Innovation, möchte man sagen.
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Das Hauptanliegen der Innovationsoffensive war insofern auch nicht die Förderung von Innovationen, sondern das Zurückdrängen von Regulierungen und Nachhaltigkeitszielen in unseren Gesetzgebungsverfahren. Und ja, Kollege Vorredner, die SDGs sind international anerkannt.
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Ein so verstandenes Innovationsprinzip ist in meinen Augen sogar innovationsfeindlich
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– ja, so ist es –, weil es eben dazu führt, dass alte und gegebenenfalls schädigende Produkte länger auf dem Markt bleiben.
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– Ja, na klar, mehr als 150 Jahre alt. Soll die FDP auch mal werden; dann staune ich.
Als Gesetzgeber stehen wir auf der einen Seite vor der Herausforderung, agiler zu arbeiten und schnell auf neue Herausforderungen zu reagieren. Auf der anderen Seite müssen und wollen wir in hohem Maße transparent arbeiten – Stichwort „Open Government“ – und dabei angesichts der Vernetztheit der Themen eine wachsende Anzahl von Stakeholdern einbinden. Methoden und Werkzeuge der digitalen Arbeitskultur sollten da hilfreich sein. Auch würde es helfen, Gesetzgebungsverfahren nicht zu überladen. Es ist fast schon zur Mode geworden, in einen Gesetzentwurf alle Ideen zu packen, die man schon immer mal realisieren wollte. Oft genug sind solche dabei, bei denen man die Kritik der Öffentlichkeit scheut. Beispiele dafür gab es in der jüngsten Vergangenheit genug, sei es der Justizfeger, der den Bundestrojaner enthielt, sei es das neue IT-Sicherheitsgesetz, das neben der wichtigen Zielsetzung, KRITIS weiterzuentwickeln, leider auch ziemlich viele verfassungsrechtlich problematische Vorhaben enthält. Solche Überladungen verlängern den Beratungszeitraum, und es besteht immer die Gefahr, dass durch einzelne Bestimmungen das gesamte Paket in Mitleidenschaft gezogen oder sogar gefährdet wird.
Ich fasse zusammen. Wir wollen das Vorsorgeprinzip als Qualitätsgarant erhalten, wir wollen die Gesetzgebung öffnen und modernisieren, damit sie agiler und transparent wird, und wir wollen Gesetzgebungsverfahren nicht missbrauchen.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Esken. – Als nächster Redner erhält das Wort für die Fraktion Die Linke der Kollege Niema Movassat.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns liegt ein Antrag der FDP vor, welcher die Einführung des Innovationsprinzips in der Gesetzgebung fordert. „Innovation“ klingt natürlich immer super hip, das will jeder, und so gibt es dem Antrag natürlich eine schöne Fassade. Hinter dieser schönen modernen Fassade bröckelt es aber gewaltig;
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denn dieser Antrag ist ein in parlamentarische Form gegossener Wunschzettel von großen Wirtschaftsunternehmen. Zahlreiche Konzerne und Arbeitgeberverbände wie der Chemieriese BASF, der Glyphosatkonzern Bayer-Monsanto und der Bundesverband der Deutschen Industrie fordern seit Jahren, das Innovationsprinzip einzuführen. Durch das Innovationsprinzip sollen wichtige gesetzliche Umwelt- und Gesundheitsstandards geschwächt werden. Der Begriff „Innovation“ dient hier also in erster Linie als Deckmantel für einen schlechteren Umwelt- und Gesundheitsschutz.
({1})
Wir haben in Deutschland zum Glück das Vorsorgeprinzip in der Gesetzgebung. Es dient dazu, mögliche Gefahren neuer Gesetze wie auch neuer Produkte verpflichtend zu beachten, bevor sie in Kraft treten oder auf den Markt kommen. Das Vorsorgeprinzip soll also für ein vorausschauendes Handeln sorgen. Damit sollen Risiken für Verbraucher, Gesundheit und Umwelt bestmöglich vermieden werden. Der Europäische Gerichtshof sagt, dass das Vorsorgeprinzip zu den tragenden Grundsätzen des europäischen Umweltschutzes gehört. Es handelt sich um einen Rechtsgrundsatz, der zudem auch für das Lebensmittelrecht und für den Gesundheitsschutz gilt.
Die FDP will das alles aufweichen. Sie meinen, dass Risiken, die angeblich beherrschbar sind, nicht dazu führen sollen, dass Chancen verpasst werden. Ich will das mal an einem Beispiel festmachen: Wenn Bayer-Monsanto ein neues Chemieprodukt entwickeln würde, das höhere Erträge für die Landwirtschaft verspricht, dann sagt die FDP faktisch: Pumpt es erst mal in den Boden, lasst uns diese tolle Chance nutzen! Wir schauen später, ob es gefährlich ist. Und überhaupt sind die meisten Krankheiten ja irgendwie auch heilbar, also sind die Risiken doch beherrschbar. – Das ist die Logik. Darauf läuft Ihr Antrag hinaus. Dazu sagen wir: Nein!
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Sie machen die Menschen und die Umwelt so zu Versuchskaninchen.
Dass Ihr Antrag eine Idee großer Wirtschaftsunternehmen ist, verschweigen Sie geflissentlich in Ihrem Antrag. Es fehlen jegliche Belege, wer eigentlich die Idee zu dem Thema hatte. Wenn man etwas recherchiert, findet man beispielsweise die Äußerung des ehemaligen Präsidenten des Verbandes der Chemischen Industrie, Herrn Dekkers. Er sagte – ich zitiere –:
Wir brauchen ein Innovationsprinzip … … In Europa stehen reflexartig immer zuerst die Risiken im Vordergrund der Bewertung, weniger der Nutzen von neuen Produkten.
Da haben Sie offensichtlich abgeschrieben.
Sie, liebe FDP, beweisen mal wieder, dass Sie im Bundestag in erster Linie die Lobbyinteressen großer Wirtschaftsunternehmen vertreten. Nach dem Motto „Wirtschaft first, Bedenken second“ gießt die FDP die Wünsche ihrer Spender in einen Antrag. Wir als Linke werden diesen FDP-Lobbyantrag natürlich ablehnen.
Danke schön.
({3})
So ist es, Herr Kollege Movassat. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Bettina Hoffmann, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Welt braucht frische Ideen, neue Konzepte, bahnbrechende Innovationen, und das in allen Lebensbereichen. Wir stehen vor riesigen Herausforderungen: Klimakrise, Artensterben, Vermüllung der Meere mit Plastik. Und es ist völlig unstrittig: Um diese Herausforderungen zu bewältigen, brauchen wir innovative Ideen und auch Techniken.
({0})
Was wir aber nicht brauchen, ist ein sogenanntes Innovationsprinzip. Wer die Geschichte dieses Begriffes und die dahinterstehende Haltung – Sie haben ja eben selber von einem Mentalitätswandel gesprochen – kennt, weiß: Das Innovationsprinzip ist nichts anderes als ein Trojanisches Pferd, das den Schutz von Umwelt, Gesundheit und Verbraucherrechten aushebeln soll.
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Um das zu verstehen, muss man sich nur mal anschauen, wer den Begriff erfunden hat: Es war die Chemie-, die Kohle- und die Tabakindustrie. Deren Strategie lautet nämlich, Innovationen in einen künstlichen Widerspruch zum Vorsorgeprinzip zu stellen, dieses damit zu schwächen und irgendwann vielleicht zu ersetzen. Liebe FDP, Sie wollen damit Ihre Klientel bedienen, und das ist der falsche Weg.
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Das Vorsorgeprinzip ist das Fundament unserer Umwelt- und Gesundheitspolitik und schützt die Verbraucherinnen und Verbraucher. Diese Errungenschaft dürfen wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, auch wenn die Verlockungen für manch eine oder manch einen vielleicht recht groß sind.
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Wenn wir einmal genau hinschauen, dann stellen wir nämlich fest, dass wir eigentlich mehr Vorsorge brauchen, weil jeder von uns 200 bis 300 Chemikalien im Körper hat, die da gar nicht hingehören;
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mehr Vorsorge, weil Weichmacher in Plastik die Entwicklung von Kindern verzögern und Unfruchtbarkeit auslösen können; mehr Vorsorge, weil Pestizide und Hormongifte im Wasser zu Diabetes, Krebs und Fettleibigkeit beitragen können.
Eines ist mir noch ganz wichtig: Das Vorsorgeprinzip schränkt innovative Grundlagenforschung in keiner Weise ein. Das ist ein Gerücht.
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Es setzt nämlich erst dann an, wenn Innovationen in Anwendung kommen, und es bildet einen verlässlichen Rahmen für Unternehmen. Wenn ihre Produkte die Zulassung durchlaufen haben, schützt es sie sogar teilweise vor Haftung.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Graf Lambsdorff?
Nein. – Es setzt hohe Ansprüche und treibt als Motor die Entwicklung voran. Das Gegenmodell davon sehen wir in Amerika. Da geht es nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ – mit dem Ergebnis immenser Umwelt- und Gesundheitsschäden und Ersatzzahlungen. Wollen Sie das?
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Letztlich ist das Vorsorgeprinzip eine entscheidende Voraussetzung für dauerhaft nachhaltige Entwicklung. Wir fordern: Sorgen Sie dafür, dass das Vorsorgeprinzip an sich und sein Verfassungsrang auf EU-Ebene und bei uns in allen Gesetzen nicht infrage gestellt, sondern verstärkt wird.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Astrid Mannes, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP hat einen Antrag vorgelegt und meint, die Bundesregierung zur Verankerung des Innovationsprinzips bei der Gesetzgebung auffordern zu müssen.
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Der Charakter eines Gesetzes müsse innovationsfreudig sein. Die FDP hat Sorge, die Regierung agiere nicht innovationsfreudig genug. Gleichzeitig beraten wir den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, die genau das Gegenteil fordern, nämlich dass das Vorsorgeprinzip stärkere Berücksichtigung finden und mögliche Gefahren stärker in den Fokus rücken müssten. Den einen ist die Regierung also zu sehr auf Innovationen ausgerichtet und nimmt dabei angeblich die möglichen Gefahren und die Nachhaltigkeit zu wenig in den Blick, und den anderen ist sie nicht innovationsfreudig genug und wägt Neuerungen zu stark gegen mögliche Gefahren ab.
Da habe ich doch den Eindruck, die Bundesregierung hat einen sehr guten Mittelweg zwischen verantwortungsbewusster Risiko- und Gefahrenbegutachtung auf der einen und Innovationsfreude auf der anderen Seite gefunden. Offenbar befindet sich die Bundesregierung auf einem ausgewogenen Weg von Maß und Mitte.
({1})
Ich will Ihnen gleich ausführen, dass die Regierung durchaus beiden Anträgen gerecht wird. Die Regierung stellt das Vorsorgeprinzip und seinen Verfassungsrang auf EU-Ebene nicht infrage.
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Zugleich bringt sie Deutschland im Bereich der Forschung und Innovation mit großen Schritten voran und sieht die Chancen und nicht nur die Risiken.
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Ich will mich hier für die Union jetzt vorrangig auf den Antrag der FDP konzentrieren. Die FDP unterstellt in ihrem Antrag, dass die Regierung den Blick bei den Entwicklungen und Innovationen zu sehr auf die Risikobewertung und die Gefahrenanalyse richte. Es klingt in dem Antrag so, als gerieten die Chancen, die in den Innovationen liegen, dabei ins Hintertreffen und hätten keine Möglichkeit, sich durchzusetzen.
Sie wissen, dass die Bundesregierung einen großen Schwerpunkt auf Forschung und Entwicklung gelegt hat,
({4})
was wir auch am Aufwuchs dieses Etats sehen. Ich nenne nur stichpunktartig die Hightech-Strategie der Bundesregierung, die umfassende Technologieoffenheit in der Forschungsförderung,
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die Verstärkung der Gesundheitsforschung vor allem im Krebsforschungsbereich, die Gründung einer Agentur für Sprunginnovationen,
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die Förderung des Wissenstransfers in die Wirtschaft und die steuerliche Forschungsförderung, die sich noch in den letzten Zügen der Ressortabstimmung befindet und die wir hier in Kürze als Parlamentarier beraten werden. Wir sind bestens aufgestellt und müssen den internationalen Vergleich nicht scheuen.
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Wir spielen vorne mit, und dies ist uns weiter Ansporn.
Trotz dieser generell sehr forschungs- und innovationsfreundlichen Politik unserer Regierung ist und bleibt es wichtig und richtig, bei Gesetzesinitiativen und bei dem Transfer von Forschungsergebnissen immer auch die Folgen oder die möglichen Folgen mit in den Blick zu nehmen. § 44 GGO regelt explizit, was unter den Gesetzesfolgen zu verstehen ist, nämlich konkret die beabsichtigten Wirkungen und die unbeabsichtigten Nebenwirkungen. Es geht also um ein Abwägen von Positivem und Negativem. Keine Bundesregierung und auch kein Bundestag würde übrigens ein Gesetz auch nur auf den Weg bringen, wenn sie bzw. er nicht davon ausgehen würde, mit einem Gesetz etwas Positives, also eine Verbesserung, zu bewirken. Zumindest halten wir in der Union das so.
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Das Positive ist also dem Gesetzesvorhaben systemimmanent, zumindest von der Zielsetzung her. Daher ist es auch selbstredend, dass in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien auf die Abprüfung möglicher negativer Folgen abgestellt wird. Wir müssen schließlich zu einem ausgewogenen Abwägungsprozess zwischen Positivem und Negativem kommen. Die FDP sieht das leider zu einseitig und zu negativ.
Ich halte es auch für richtig und wichtig, dass bei Gesetzesvorhaben die in § 44 GGO konkret benannten Punkte abgeprüft werden. Es ist richtig, dass wir bei allen Gesetzesinitiativen die finanziellen Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte in den Blick nehmen. Und es ist richtig, dass wir beachten, dass die Gesetze keine negativen Auswirkungen auf die Umwelt oder auf Menschen mit Behinderungen haben, und dass wir prüfen, wie sich die geplanten Neuregelungen auf die Belange unseres Mittelstandes auswirken, um nur ein paar Bereiche herauszugreifen.
Es ist wichtig, dass wir ganzheitlich auf die Gesetze blicken. Letztendlich wollen Sie von der FDP aber dann selbst dieses Vorsorgeprinzip nicht durch das Innovationsprinzip ersetzt wissen.
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Auch Sie wollen das Vorsorgeprinzip beibehalten und um das Innovationsprinzip ergänzen.
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Damit laufen Sie offene Türen ein. Denn Sie fordern das, was letztendlich de facto die Bundesregierung praktiziert.
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Forschung und Innovation und überhaupt alle Gesetzesinitiativen darf man von einer Risiko- und Gefahrenbewertung nicht abkoppeln. Wir müssen in der Tat nachhaltig denken und über den Moment hinaus. Aber die Regierung sorgt dafür, dass eine Abwägung nicht einseitig vorgenommen wird, und sie ist stets darauf bedacht, Deutschland als Forschungsstandort auszubauen.
Die Bundesregierung hat sich auf den Weg verständigt, dass alle Ressorts bei der Abschätzung und Bewertung von Gesetzesfolgen und den Folgen ihres sonstigen Regierungshandelns verstärkt darauf achten, dass die Innovationsfähigkeit Deutschlands nicht beeinträchtigt wird. Das funktioniert auch ohne eine gesetzliche oder institutionelle Implementierung des Innovationsprinzips sehr gut.
Wir freuen uns auf die weitere Beratung im Ausschuss.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Nicole Höchst, AfD-Fraktion.
({0})
Werter Herr Präsident! Werte Kollegen! Hochgeschätzte Bürger! Im heutigen Deutschland ist es keineswegs selbstverständlich, dass man sich bei gesetzgeberischen Entscheidungen vom Innovationsprinzip leiten lässt. Der Antrag „Innovation und Chancen nutzen“ stellt zu Recht fest: Seit beinahe 20 Jahren werden bei Gesetzgebungsverfahren einseitig Gefahren und Risiken in den Vordergrund gestellt.
({0})
Das sieht die AfD auch so.
Chancen für Deutschland werden grundsätzlich den bekannten utopistischen Kampfbegriffen und Konzepten in Form von Arbeitshilfen und Handreichungen untergeordnet. Kinder werden von Staats wegen bereits so sozialisiert. Ich nenne nur zwei Beispiele: geschlechterdifferenzierte Folgenabschätzung, also Gender-Mainstreaming, und die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Insgesamt, meine sehr verehrten Damen und Herren, gibt es neun Konkretisierungen und noch circa 30 weitere Leitfäden, Arbeitshilfen etc., die von den Ministerien bei der Verfassung von Regelungen zu beachten sind.
Über das Für und Wider sowie über die Sinnhaftigkeit und/oder die Umsetzung dieser Konzepte ist in der Gesellschaft schon länger, aber auch hier im Bundestag seit September 2017 ein Kulturkampf entbrannt.
({1})
Viele Bürger in Deutschland begehren gegen die vorherrschende alternativlose Deutungshoheit über Statistiken, über Begrifflichkeiten, über Konzepte und deren Umsetzung auf. Die den Entscheidungsfindungen in der Gesetzesfolgenabschätzung zugrunde liegenden Konzepte stehen aber nach wie vor unter der links-grün-sozialistischen Einheitsherrschaft
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und bremsen seit beinahe 20 Jahren Entwicklungen in allen Bereichen. Ich sage nur: Deutschland, digitales Schwellenland.
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Regierende totalitäre Deutungshoheit liegt wie Mehltau über deutschem Denken und Entscheiden. Sie hegt durch ihre stark emotionalisierende moralische Normierungskraft auch das Innovationspotenzial von Neuregelungen und Gesetzen trefflich ein. Alleine dass sich die Grünen an diesem Antrag so sehr stören, wie man ihrem angekoppelten Antrag „Vorsorgeprinzip als Innovationsmotor“ entnehmen kann,
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ist ein hervorragendes Indiz dafür, dass die Intention des FDP-Antrags und die AfD-Analyse der gesamtgesellschaftlichen Gemengelage richtig sein müssen.
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Das etablierte, ideologisch völlig überfrachtete Vorsorgeprinzip, liebe grüne Sozialisten, sieht die AfD nicht als Innovationsmotor, sondern als soliden Innovationsbremsklotz. Beherrschbare Risiken dürfen niemals dazu führen, dass Chancen für Deutschland verpasst werden. Oder andersherum gesagt: Chancen müssen stärker in den Mittelpunkt rücken. Unser Land ist auf Innovationen wie kaum ein anderes angewiesen. Wir brauchen dringend einen mutigen Innovationsparadigmenwechsel, weg von der reinen Risikominimierung hin zur Erschließung von Chancen. Die AfD wird sich bei der Ausgestaltung des Antrags sehr konstruktiv im Ausschuss beteiligen.
Meine Damen und Herren, das utopische Narrenschiff „Sozialistika“ ist weltweit leck und sinkt. Es wird allerhöchste Zeit, mit der MS „Deutschland“ in freie Gewässer auszulaufen
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und intelligent, europäisch, wissenschaftlich, wirtschaftlich, unideologisch, aber vor allem verantwortungsvoll, mutig, liberal und konservativ
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die Segel Richtung „chancenreiche Zukunft für alle“ zu setzen. Wir von der AfD sind dazu bereit.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat der Kollege René Röspel, SPD-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In ihrem Antrag schreibt die FDP, dass beim Verfassen von Gesetzen derzeit der „Blick auf die Vermeidung von Risiken“ überwiege.
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Erstens finde ich das eine steile These, weil es ganz viele andere Gesetze gibt, und zweitens frage ich mich, was eigentlich schlimm dabei ist, darauf zu schauen, wo Risiken entstehen können, und Risiken vermeiden zu wollen.
({1})
Ich finde das normal. Es ist, wie ich finde, sogar Aufgabe des Gesetzgebers, Risiken zu vermeiden.
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Ich bin tatsächlich immer wieder erstaunt, welches Bild von Deutschland Sie – Sie von der AfD sowieso, aber auch Sie von der FDP – verbreiten. Ich erlebe Deutschland als ein Land mit grundgesetzlich geschützter Freiheit. Überall da, wo es Freiheit gibt und Menschen zusammenleben, muss es aber auch Regeln und Gesetze geben. Diese diskutieren wir hier. Wir erleben in unserem Land, dass die Forschung, die frei ist, seit 20 Jahren wie nie zuvor gefördert wird.
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Aber ich muss feststellen, dass die FDP jetzt kommt und darüber einen Kübel ausschüttet mit dem üblichen Vorwurf der Technologiefeindlichkeit. Ich erlebe aber, wenn ich täglich unterwegs bin, so etwas nicht in Deutschland – noch nicht einmal im Kindergarten. Ich weiß nicht, woher Sie Ihr Bild nehmen. Und dann sagt die FDP: Wir wollen das Innovationsprinzip einführen. – Das heißt, wenn Gesetze gemacht werden, muss geprüft werden – gleichberechtigt mit dem Vorsorgeprinzip –, was an diesem Gesetz möglicherweise innovationshemmend oder -verhindernd sein wird.
Wenn man sich mit denjenigen befasst, die Innovationen entwickeln, die Forschung betreiben, dann wird man feststellen: Sie werden sich nun wirklich nicht darüber freuen. Für Forschende ist es ohnehin schon eine Herausforderung, abzusehen, ob sie das Vorsorgeprinzip einhalten. Das können sie aber noch relativ leicht; denn die Leitlinien besagen, dass man keine Chemikalie entwickeln oder verwenden darf, von der man schon jetzt weiß, dass sie Menschen schädigen wird. Aber das Innovationsprinzip als Forscher anzuwenden und abzusehen, dass man etwas nur machen kann, wenn man weiß, dass es keine Innovation verhindert, das halte ich für fast unmöglich. Das ist illusorisch. Das zeigt mir, dass Sie da von der Realität weit entfernt sind.
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Sie haben keine Beispiele genannt. Vielleicht ist es sinnvoll, das anhand einiger Beispiele – beliebig viele sind möglich – zu entwickeln. Nehmen wir Asbest und Atomtechnologie. Als Asbest und Atomtechnologie in Deutschland eingeführt wurden, war die Begeisterung groß. Beide hätten die Prüfung nach dem Innovationsprinzip locker überstanden. Von Asbest hat man gesagt: Das ist sehr innovativ, es ist feuerbeständig. Und von Atomenergie hat man gesagt: Das ist die Lösung aller Energieprobleme. – Hätte es eine Prüfung nach dem Vorsorgeprinzip gegeben, wären vielleicht schon mehr Gedanken entstanden, und man hätte das eine oder andere an Krankheit und Unglück verhindern können.
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Also insofern ist das Vorsorgeprinzip, wie ich glaube, schon nicht schlecht.
Jetzt mache ich den Praxistest für die Regierungszeit der FDP. Sie haben von 2009 bis 2013 regiert.
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Das Einzige außer Mövenpick, was mir aus Ihrer Regierungszeit an gesetzgeberischen und politischen Maßnahmen in Erinnerung ist, ist die Verlängerung der Atomlaufzeiten 2010. Wenn Sie damals das Vorsorgeprinzip in Ihre Überlegungen miteinbezogen hätten, hätten die Alarmglocken schrill geklingelt, und Sie hätten die Finger davon gelassen, weil Sie dann festgestellt hätten, dass es nicht nachhaltig ist, Atomenergie weiter zu nutzen.
({7})
Ein Jahr später gab es das Unglück in Fukushima, und der Wandel in den Köpfen und in der Erkenntnis war da.
Hätte es das Innovationsprinzip gegeben, hätten die Glocken vorher noch schriller geklingelt, weil durch die Verlängerung der Atomlaufzeiten 2010 – das ist schon lange her, ist aber ein gutes Beispiel – erstens Innovationen gehemmt wurden, weil eine alte Technologie zulasten neuer Technologien verlängert worden ist, und weil zweitens Investitionen vernichtet wurden. Im kommunalen Bereich gab es damals nämlich ganz viele moderne Kraftwerke, die nicht mehr weitergefahren werden konnten.
({8})
Ich halte das Vorsorgeprinzip für sehr wichtig. Das Innovationsprinzip halte ich an dieser Stelle aber für falsch,
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weil das zusätzliche Bürokratie bedeutet, die Forscher mehr belasten wird, als dass ihnen geholfen wird.
Jetzt mache ich einen Praxistest für die Fraktion der FDP im derzeitigen Bundestag. Wir haben vor einer Woche einen Antrag von Ihnen zum Pakt für Forschung und Innovation diskutiert. In diesem sehen Sie im Prinzip das Gleiche vor: Sie wollen die Vergabe von Mitteln an Forscher an die Erfüllung bestimmter Bedingungen knüpfen. Da soll ein Wissenschaftler wissen, welche langfristigen Folgen seine Forschung haben wird, wie hoch die Zahl der Publikationen sein wird! All das wird nicht dazu führen, dass das Leben der Forscher besser wird und dass es mehr Innovationen geben wird, sondern sie werden blockiert.
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Ich will Ihnen von der FDP einen Rat geben: Sie müssen einmal darüber nachdenken, auf welchen Kurs Sie tatsächlich sind. Sie sind dabei, Ihre wissenschafts- und forschungspolitische Reputation in diesem Land zu verlieren.
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Abschließend kann ich nur sagen: Wir finden den Antrag der Grünen gut und werden darüber nachdenken, wie wir damit im parlamentarischen Verfahren weiter umgehen.
Schöne Ostern!
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Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Ralph Lenkert, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Aus der Feder der Chemie-, Kohle- und Tabakindustrie stammt die Idee zu innovativen Gesetzen, damit man mehr Möglichkeiten und Chancen auf höhere Gewinne hat. Innovative Gesetze klingen modern, schwächen die Risikoanalyse und sind deshalb natürlich gut für die Industrie, die FDP und anscheinend auch für die AfD.
Ich kann es Ihnen nicht ersparen, diese innovative Gesetzgebung anhand der 11. Atomgesetznovelle von 2010 zu erläutern. Damals beschlossen Union und FDP die Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke. Im Vortext steht:
Eine befristete Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke leistet einen Beitrag, um für einen Übergangszeitraum die Energieziele Klimaschutz, Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit zu verwirklichen.
Alternativen für die FDP gab es damals keine. Der Nutzen für die Atomkonzerne: pro AKW und Tag 1 Million Euro Gewinn. Das macht bei 17 AKW über 5 Milliarden Euro zusätzliche Profite im Jahr.
Nach Fukushima wurden uns die Risiken eines Atomunfalles bewusster, und es wurde nachgeprüft. Ein solcher Unfall hätte in Deutschland zu Kosten zwischen 500 Milliarden Euro und 5 Billionen Euro geführt. Keine Versicherung deckt dies ab. Würde man Atomkraftwerke versichern, müsste die Kilowattstunde Atomstrom zwischen 55 Cent und 2 Euro kosten.
({0})
Deshalb wird das Vorsorgeprinzip bei Atomkraftwerken eben nicht angewendet. Deshalb haften Atomkonzerne für Schäden nach einem Atomunfall mit maximal 2 Milliarden Euro. Im Klartext: Die Möglichkeit, Gewinne zu machen, liegt bei der Industrie. Die Risiken liegen bei uns Steuerzahlern. Wir Steuerzahler tragen im Falle eines Unfalls das Risiko für Gesundheit und Leben, die Kosten für die Schäden bei der Infrastruktur. Eigentum, wenn es im Falle eines Unfalls beschädigt oder zerstört wird, wird nicht ersetzt. In jeder Versicherung steht im Kleingedruckten – das können Sie nachlesen –: Haftung für Schäden nach Atomunfällen ausgeschlossen.
({1})
Zusammengefasst: FDP und AfD wollen mit dem Innovationsprinzip Gesetze aufweichen, damit die Profite für Konzerne größer werden. Die Risiken bleiben bei der Bevölkerung hängen. Das ist die Realität!
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– Da können Sie schreien, wie Sie wollen. – Es bestätigt sich: Sie haben keine Ahnung. Sie haben nicht gerechnet. Sie wissen nicht, wie Atomkraftwerke wirken. Fukushima soll sicher sein, hat man uns vorher gesagt, und es ist kaputtgegangen.
Ihre wissenschaftlichen Innovationskenntnisse sind so unzureichend, dass Sie nicht einmal den Statistikern der Atomenergie glauben. Die sagen: Ein Atomkraftwerk ist auf 10 000 Betriebsjahre sicher. – Stimmt! Bei über 400 Reaktoren müsste es dann alle 25 Jahre einen GAU geben. Das sagen Ihre Statistiker. Wenn Sie denen glauben würden, dann würden Sie das Vorsorgeprinzip ernst nehmen und würden dafür sorgen, dass diese Risikotechnologie abgeschafft wird.
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Der grüne Antrag zum Vorsorgeprinzip wird von uns Linken unterstützt.
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Er bringt zwar keine Haftung für die Wirtschaft, aber er zwingt die Wirtschaft, Gefahren zu minimieren. Wichtig ist, die Gesundheit, das Klima und die Umwelt zu schützen.
Herr Kollege, kommen Sie jetzt zum Schluss, bitte.
Gesetze und Verträge müssen darauf ausgerichtet sein. Dies ist wichtiger als Profite, Binnenmarkt und Wettbewerbsrecht. Die Linke steht für den Schutz der Bevölkerung, Sie stehen für die Profite. Das werden wir nicht mitmachen.
Vielen Dank.
({0})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Anna Christmann, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen dringend die nötigen Innovationen, um die großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen.
({0})
Auch heute gehen wieder Tausende junge Menschen auf die Straße, um für eine konsequente Klimapolitik dieser Regierung zu demonstrieren. Die Klimakrise hat dramatische Auswirkungen angenommen.
({1})
– Dass Sie viele Dinge nicht mitbekommen, ist ja nichts Neues.
Ein Grund aber für das Ausmaß dieser Klimakrise ist, dass die nötigen ökologischen Innovationen, die oft schon längst in den Laboren stehen, nicht ausreichend in die Umsetzung gebracht worden sind. Im Gegenteil: Diese Regierung – ob nun die jetzige Große Koalition oder früher Schwarz-Gelb – fördert bis heute Technologien, die uns schaden. Sie subventioniert Kohlestrom und Kerosin, statt konsequent in saubere Technologien zu investieren.
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Übrigens steigt der Ansatz in der Forschungspolitik gerade nicht. Also ist auch dort im Moment nicht viel von Innovationstätigkeit der Bundesregierung zu spüren.
Allerdings ist es auch bei Ihrem Antrag so, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, dass das mit zukunftsorientierter Innovationspolitik sehr wenig zu tun hat. Sie tragen die Worte „Innovation“ und „Digitalisierung“ mittlerweile in einer Art Dauerschleife vor sich her, machen aber am Ende nur dünne oder sogar schädliche Vorschläge. Sie wollen ja mit dem Antrag erreichen, dass das Wort „Chancen“ häufiger in der Geschäftsordnung der Bundesministerien vorkommt. Nun, ich meine, die Geschäftsordnung ist kein Wahlprogramm der FDP, sondern es geht darum, dass man dort Regeln für die Erarbeitung von Gesetzen festlegt. Sie versuchen, mit Ihrem Antrag einen Gegensatz aufzubauen, der so gar nicht existiert. Sie starten hier einen Feldzug gegen das Vorsorgeprinzip,
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das in der Vergangenheit sogar einige Innovationen hervorgebracht hat. Wo wären wir denn heute bei den erneuerbaren Energien, wenn man nicht aus Gründen der Vorsorge angefangen hätte, die Energieversorgung umzustellen?
({4})
Das Vorsorgeprinzip ist eben ein Zukunftsprinzip, das nachhaltige Innovationen befördert und auch Vertrauen in neue Technologien schafft.
({5})
Damit haben wir es jetzt bei ganz vielen, auch bei digitalen Themen zu tun. Daher ist es eminent wichtig, diesen Aspekt zu berücksichtigen.
Was wir brauchen, sind viel mehr Anstrengungen im Bereich soziale und ökologische Innovationen. Wir haben da längst Vorschläge gemacht.
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Wir haben Experimentierräume in der Mobilitätsforschung vorgeschlagen, die eine nachhaltige Verkehrswende beschleunigen würden. Wir fördern auch heute noch neue Forschungsformate, die zusammen mit der Zivilgesellschaft die großen Herausforderungen angehen. Wo ist denn das Klimainnovationsprogramm dieser Bundesregierung?
Eine Erklärung habe ich dafür, warum es bei der Bundesregierung nicht so gut vorangeht: Agiles Arbeiten ist nicht so ihre Stärke. Das haben wir diese Woche als Reaktion auf eine Anfrage gehört. Insofern plädieren wir dafür, viel mehr Anstrengungen im Bereich sozialer und ökologischer Innovationen zu unternehmen. Da ist der heutige FDP-Antrag sicher keine Hilfe, sondern eher ein Schaden.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Michael von Abercron, Schleswig-Holstein.
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Hochverehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In Ihrem Antrag sprechen die Bündnisgrünen von dem Vorsorgeprinzip als Innovationsmotor. Das finde ich gut; denn das ist ein sehr konservativer Gedanke, und mit dem kann man sich sehr wohl anfreunden.
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Allerdings greift das in vielen Teilen etwas kurz; denn Vorsorge ist immer mit dem Wissen von heute oder gestern belastet und kann nicht so richtig die Zukunft abschätzen – nicht genau jedenfalls. Ein Spruch aus der Zahnpastawerbung lautete einst: „Vorsorgen ist besser als bohren.“ Dieser Spruch ist oberflächlich und plakativ. Genauso ist es leider mit dem Antrag der Grünen. Er ist mit heißer Nadel gestrickt; aber möglicherweise haben sie keine heiße Nadeln mehr, jedenfalls nicht mehr im Parlament. Diese Nadeln sind möglicherweise ebenfalls dem Vorsorgeprinzip zum Opfer gefallen.
Ich mag mir kaum vorstellen, welche Panik bei Ihnen, in den Reihen der Grünen, um sich greifen würde, wenn die FDP mithilfe des Innovationsprinzips etwas erlauben möchte, was Sie nicht rechtzeitig haben verbieten können.
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In Ihrem Antrag bespielen Sie gleich zu Anfang das gesamte Orchester der grünen Lieblingsthemen: Klimawandel, Klimaerhitzung, Fridays-for-Future-Bewegung, Atommüll, Chemikalien, Plastikmüll im Meer usw.
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Was meinen Sie eigentlich in Bezug auf das Vorsorgeprinzip, und wie wenden Sie das zum Beispiel auf solche Fragen an, die sich im Augenblick stellen, Stichwort „Wohnraumenteignung“ oder „umherstreifende Wölfe“?
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Wo ist da das Vorsorgeprinzip? Wie befolgen Sie das?
Bleiben wir bei einem Beispiel aus der Medizin. Vorsorge ist eine wunderbare Sache, und ich glaube auch, dass Vorsorge für jeden wichtig ist. Nur, alleine reicht das natürlich auch nicht; denn wenn ich nicht irgendwann zum Arzt gehe, werde ich möglicherweise trotzdem krank. Das macht doch deutlich: Wenn man nur Vorsorge betreibt, dann führt das eigentlich zu Siechtum und Stillstand.
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Das wollen wir doch nicht im Ernst als Maßstab für unsere gesellschaftliche Entwicklung nehmen.
Die Grünen sprechen beim Vorsorgeprinzip sogar von einem Innovationsmotor für Nachhaltigkeit – das kann man so sagen –; aber es fehlt etwas Entscheidendes – es ist bei der Vorrednerin angeklungen –: dass Innovationen und Technik eingesetzt werden müssen, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Das ist das zentrale Argument, um so was überhaupt nach vorne zu bringen.
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Wird die Innovationsfähigkeit nämlich ausgeschaltet, dann bedeutet das Blockade und Stillstand. Diese Haltung ist schlicht rückwärtsgewandt.
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Das gefährdet den Fortschritt und den Wohlstand. Außerdem ist es natürlich immer ein Irrglaube, dass irgendwelche Fehler ausgeschlossen werden können, wenn man nur auf das Prinzip der Vorsorge setzt. Das wird nicht funktionieren.
Leider ist es bei Ihnen, den Grünen, immer so, dass Sie unter Vorsorge in Wahrheit zu häufig nichts anderes als Beschränkung und Verbot verstehen. Da wird immer wieder Ihr grünes Leitbild deutlich: Verbieten geht vor Verstehen.
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Jede neue technische Errungenschaft durchläuft einen Entwicklungsprozess, der in der Regel zu einer besseren Technologie führt. Es gibt natürlich Beispiele, von denen man sagen kann: Das ist ein risikobehaftetes Instrument. – Es sind vorhin Beispiele genannt worden. Ein Kollege hat auf Asbest verwiesen. Es gibt auch andere Beispiele wie den Röntgenapparat. Vor nicht ganz 200 Jahren ist dieser Apparat entwickelt worden. Wenn er heute unter den scharfen Kriterien der Vorsorge zugelassen werden müsste, hätten wir große Probleme. Ich befürchte, er wäre nicht zum Wohle der Gesellschaft zum Computertomografen weiterentwickelt worden.
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Das bedeutet doch, dass das Vorsorgeprinzip zwar mögliche Risiken erkennen lässt, dass es aber erhebliche Schwächen darin hat, langfristig Innovationen zu erkennen. Insoweit ist der Gedanke der FDP, ein Innovationsprinzip dagegenzustellen, durchaus berechtigt.
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Das Problem ist nur: Wie führt man solche Dinge zusammen, die am Ende zu Schwierigkeiten führen?
Insgesamt bleiben da für mich einige Fragen offen. Was ist, wenn sich Vorsorge- und Innovationsprinzip widersprechen? Wollen wir wirklich immer weitere bürokratische Hürden aufbauen und solche Prüfungen und Gesetzesfolgenabschätzungen – das ist vorhin schon mal angesprochen worden – durchführen? Sollen Bürokraten, die mit solchen Gesetzen betraut sind, für uns die Zukunftsfragen lösen und entscheiden, welche Techniken wir einsetzen und was wir in Wissenschaft und Technik überhaupt zulassen dürfen? Lassen sich Risiken und Chancen der Wissenschaft von morgen mit dem Wissen von heute oder gestern überhaupt sicher bewerten? Ich habe da meine Zweifel.
Deswegen sagen wir als CDU/CSU-Fraktion: Wir setzen auf die Freiheit der Wissenschaft, den technischen Fortschritt und auf die Innovationskraft unserer Wirtschaft, um die Zukunftsfragen zu lösen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. von Abercron. – Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Wiebke Esdar, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Auf Antrag der FDP diskutieren wir heute das sogenannte Innovationsprinzip, das Sie bei Gesetzgebungen und Behördenentscheidungen neben das Vorsorgeprinzip stellen möchten – ohne in Ihrem Antrag ganz ehrlich zu sagen, dass Sie damit, weil es in der Praxis zu Widersprüchen kommen wird, das Vorsorgeprinzip beim staatlichen Handeln abschwächen. Da kann ich schon mal direkt sagen: Das lehnen wir ab.
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Sie sind 2017 mit dem Slogan „Bedenken second“ in den Bundestagswahlkampf gestartet. Ich muss sagen: Sie bleiben Ihrer Linie heute treu, indem Sie die in meinen Augen berechtigten Bedenken der Bürgerinnen und Bürger – zum Beispiel gegenüber genverändertem Saatgut oder TTIP- und CETA-ähnlichen Freihandelsabkommen – bei dem Blick mit glänzenden Augen auf noch etwas mehr Profit wieder an die zweite Stelle rücken wollen.
Ich bin ganz froh, dass Sie an einer Stelle Ihre persönlichen Bedenken an die erste Stelle gestellt haben, nämlich bei der Frage der Übernahme von Regierungsverantwortung. Darum gestalten wir heute die Innovationspolitik.
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Ich glaube, dass das gut für unser Land ist. Da sind wir gut unterwegs.
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Wir haben die Agentur für Sprunginnovationen gegründet. Die Hightechstrategie loben Sie selbst in Ihrem Antrag. Bei der steuerlichen Forschungsförderung sind wir mitten in der Debatte.
Zu Ihrem Antrag. Sie wollen das geltende Vorsorgeprinzip aufweichen. Was bedeutet eigentlich das Vorsorgeprinzip? Es folgt dem Grundsatz: Handle stets so, dass du noch korrigierend eingreifen kannst, wenn etwas schiefläuft. – Ich halte das für richtig; das sollte die Maxime sein. Es ist auch unsere Verantwortung, dass es eine Notbremse gibt, die funktioniert und die Sicherheit liefert. Die Bürgerinnen und Bürger im Land erwarten von uns nämlich, dass bei evidenten Gründen zur Besorgnis der Gesetzgeber einschreitet und die Verwaltung danach handelt.
Sie stellen daneben, wie Sie es formulieren, das Innovationsprinzip. Woher – das müssen wir mal ehrlich sagen – kommt es denn eigentlich? Aus der Erdgas-, der Erdöl-, der Tabakindustrie, aus der chemischen Industrie,
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weil Großkonzernen damals den europäischen Institutionen vorgeschlagen haben, das zur Maßgabe ihrer Politik zu machen. Dabei waren auch Henkel, BASF, die Bayer AG.
Wenn wir uns mal das Beispiel der Bayer AG angucken, die dieses Innovationsprinzip als Teil ihrer Unternehmenskultur lebt,
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dann haben wir an der Stelle in den letzten Jahren erkennen müssen, dass dieses Unternehmen durch die Übernahme von Monsanto das unverantwortliche Risiko Glyphosat geerbt hat. In der Folge gibt es nun Schadensersatzklagen in Milliardenhöhe,
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weil Monsanto jetzt nämlich dafür geradestehen muss, dass Glyphosat krebserregend ist. In den USA wurde das erst nachträglich so eingestuft, weil dort das Vorsorgeprinzip so, wie wir es in Deutschland haben und leben, nicht gilt. Der Aktienkurs der Bayer AG ist im letzten Jahr um 30 Prozent gesunken.
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Es ist ein sehr klares Beispiel dafür, dass es dann, wenn aufgrund des Innovationsprinzips fahrlässig Risiken eingegangen werden und die gründliche Vorsorge ignoriert oder zurückgestellt wird,
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unseren Bürgerinnen und Bürgern schadet und am Ende auch dem Wirtschafts- und Innovationsstandort Deutschland schadet.
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Darum sage ich: Das beste Innovationsprinzip bleibt das Vorsorgeprinzip, das wir haben. Die Beispiele dazu haben Saskia Esken und René Röspel eben schon sehr deutlich ausgeführt.
Indem wir genau hinschauen, indem wir abwägen, was für den Menschen, für die Umwelt, für die Wirtschaft am besten ist, können wir nachhaltige Innovationen ermöglichen, die dann im Dienste der Gesellschaft stehen.
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Meine Damen und Herren, das ist und das sollte Maxime staatlichen Handelns bleiben.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Damit schließe ich die Debatte.
Tagesordnungspunkt 22. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/9224 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat, die Fraktion der FDP wünscht Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der FDP, Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und zweier fraktionsloser Abgeordneter mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion der AfD abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Überweisungsvorschlag mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion der FDP und zweier fraktionsloser Abgeordneter bei Enthaltung der AfD angenommen.
Zusatzpunkt 10. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/9270 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Während wir heute hier diesen Bericht für das Jahr 2018 diskutieren, tun gleichzeitig deutsche Soldatinnen und Soldaten Dienst in unseren mandatierten Auslandseinsätzen in Afghanistan, im Libanon und vor dessen Küste, auf Zypern, in Jordanien, im Zentral-Irak und in Irakisch-Kurdistan, in Katar, in Bahrain, im Kosovo, in Dschibuti, im Sudan und im Südsudan, im zentralen Mittelmeer, in Mali und in Niger. Das sind fast immer Missionen unserer kollektiven Sicherheitssysteme, denen wir angehören: NATO, UNO, EU. Darüber hinaus entsendet Deutschland Soldaten in nicht mandatspflichtige Missionen in der Westsahara, in Kamerun, Tunesien, der Ägäis, in Estland und in Litauen, demnächst auch im Jemen.
Zusammen sind das alles in allem 4 000 Männer und Frauen. Tausende weitere Bundeswehrsoldaten sind dauerhaft im Ausland stationiert in Verbänden, Ausbildungseinrichtungen und Hauptquartieren: in den USA, in Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Großbritannien, Italien, der Türkei, Portugal, Polen. Zum NATO-Herbstmanöver nach Norwegen wurden im vergangenen Jahr 8 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten verlegt.
Sie alle stehen für das Bild, das man in unseren Bündnissen und weltweit von der Bundeswehr hat. Und dieses Bild ist ein positives.
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Die Bundeswehr steht für Professionalität, Bescheidenheit, Zuverlässigkeit, kulturelle Sensibilität und Kameradschaftlichkeit. Viele arbeiten sehr gern mit unseren Bundeswehrsoldaten zusammen. Ihr Dienst tut dem Ansehen und dem Gewicht Deutschlands in Europa und in der Welt gut. Dafür verdienen sie die Anerkennung dieses Parlaments: Vielen Dank Ihnen da draußen und Ihnen zu Hause!
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Ich bin auch dem Bundestag dankbar, dass er sich in besonderer Weise für die Belange seiner Parlamentsarmee einsetzt – sei es durch umfassende soziale Absicherung wie etwa mit dem Einsatzversorgungsverbesserungsgesetz, sei es durch zusätzliche Aufstockung der Beschaffungsmittel im Verteidigungsetat. Solch zusätzliches politisches Engagement ist tatsächlich dringend nötig; denn Überlastung darf kein Dauerzustand werden. Aber tatsächlich heißt „Überlast“ der treue Nebenmann vieler unserer Soldatinnen und Soldaten heute.
Ich stelle im Jahresbericht 2018 fest: Erstens. Die Zahl der Bewerbungen für den militärischen Dienst ist rückläufig. Zweitens. Die Zahl der Neueinstellungen ist stark rückläufig – minus 15 Prozent in 2018. Drittens. Die Zahl der unbesetzten Dienstposten oberhalb der Mannschaftsebene bleibt konstant hoch – über 20 000 Funktionsstellen. Gleichzeitig wird beim Bestandspersonal massiv weiterverpflichtet. Die Verpflichtungszeiten der Zeitsoldaten steigen steil an. Das macht aus vielen SaZ halbe Berufssoldaten. Darauf passt das alte System mit Nachversicherung in der Rentenkasse zum Beispiel aber immer weniger. Wir sollten aufpassen, dass jetzt nicht, ohne bösen Willen, eine Zweiklassenberufsarmee entsteht. Und übrigens löst auch die beabsichtigte Erhöhung des Pensionierungsalters der aktiven Berufssoldaten nur scheinbar die quantitativen Personalprobleme. Denn erstens wird die Bundeswehr auf diese Weise immer älter, und zweitens kommt die massive Pensionierungswelle dann eben später. Aber sie kommt. Und spätestens dann geht es nicht mehr ohne massive Neueinstellungen.
Werden wir also in einigen Jahren wieder über eine Auswahlwehrpflicht diskutieren? Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich bin dafür, jetzt erst einmal alles für den Erfolg der Freiwilligenarmee zu tun. Noch sind die Möglichkeiten nicht ausgeschöpft, die Nachwuchsgewinnung läuft noch nicht rund, wie ich überall höre. Das kann und muss besser werden.
Bei der Abfassung dieses Jahresberichts – es ist mein vierter – habe ich mir überlegt, ob ich noch einmal die gleiche alarmierende Botschaft sende: Das bekannte Personalfehl ist zu groß, die Materiallücken sind riesig, es ist von allem zu wenig da, und mit den Trendwenden geht es nicht schnell genug. Das gilt alles immer noch für 2018. Die Statistik über die Klarstände der Hauptwaffensysteme hat das in diesen Wochen noch einmal eindrucksvoll bestätigt – mit allen negativen Folgen, übrigens auch für die Ausbildung.
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– So ist es. – Aber mein Jahresbericht nicht. Und der sagt nun doch etwas mehr, nämlich: Viele der Blockaden im System, die dafür sorgen, dass immer Mangel herrscht und dass nichts schnell geht, sind selbstgemacht. Man kann sie beiseiteräumen, man kann die Spielregeln ändern.
Die Truppe wartet auf eine neue Kultur der ganzheitlichen Verantwortung. Kommandeure, Chefs und Spieße müssen für das Ganze Verantwortung übernehmen dürfen. Sie wollen das, sie können das. Aber sie dürfen es nicht: nicht in Personalfragen, nicht in Ausrüstungsfragen, nicht in Infrastrukturfragen.
Alles ist in eigenen speziellen Organisationsbereichen weggeschlossen, „zentralisiert“: Förderung, Beförderung und Auswahl von Personal zum Beispiel – das macht für alle ein zentrales Bundesamt. Fernmeldeanbindung? Verpflegung? Unterbringung? Sanität? Nachschub? Dafür gibt es jeweils einen eigenen Organisationsbereich mit eigenen Vorgesetzten und eigenen Formblättern. Es ist das Prinzip „Toolbox“ aus früheren Bundeswehrreformen, aus der Zeit des Schrumpfens.
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Dem gegenüber steht heute die Forderung nach einsatzfähigen organischen Verbänden, die schon im Grundbetrieb so aufgestellt sind, wie sie im Ernstfall kämpfen müssten. Die Kampfform im Grundbetrieb aber – so wird es mir bei vielen Truppenbesuchen mitgegeben – ist heutzutage der Kampf mit der Überorganisation, der Kampf mit dem „Bürokratiemonster“.
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Um es etwas vornehmer auf den Punkt zu bringen: Die hochgerüstete Verantwortungsdiffusion, die überall vorherrscht, widerspricht militärischer Rationalität, blockiert das Prinzip des Führens mit Auftrag und untergräbt die Innere Führung.
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Nun sind Entscheidungen nötig. Strukturen müssen zurechtgerückt werden. Das wird nicht jedem gefallen, aber ein strukturelles Weiter-so würde den Erfolg der Trendwenden massiv gefährden.
Ich habe in diesem Jahresbericht erneut vorgeschlagen, jedem Kommandeur einen Etat für Kleinigkeiten an die Hand zu geben. Bisher darf zum Beispiel der Kommodore eines Taktischen Luftwaffengeschwaders mit 3 Milliarden Euro teuren Flugzeugen, einem immobilen Anlagevermögen von 1 Milliarde Euro und 1 500 Geschwaderangehörigen im Jahr einen Fonds von 250 Euro selbst verantworten – für Kaffee und Kekse.
Ich schlage vor, ihm 50 000 Euro im Jahr anzuvertrauen – für kleine Sofortreparaturen, für Anschaffungen aus dem Baumarkt und einfach für das, was er oder sie für nötig hält, ohne damit zehn weitere Erwachsene in fünf anderen Behörden behelligen zu müssen.
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Ich weiß, dass in der Regierung inzwischen an einer solchen Lösung gearbeitet wird. Aber Ergebnis: offen. Jetzt mal im Ernst: Jeder hinhaltende bürokratische Widerstand dagegen ist vollständig inakzeptabel.
Der Jahresbericht 2018 enthält wieder eine Auswahl von Vorgängen, die das menschliche Miteinander in der Bundeswehr beeinträchtigten: unangemessenes Führungsverhalten, Fälle von Mobbing, Sexismus, Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Jeder konkrete Fall verdient es, ernst genommen zu werden.
Tatsächlich ist die Bundeswehr die einzige öffentliche Institution in Deutschland, die so genau registriert, welche Normenverstöße es in ihren Reihen gibt, und die solche Verstöße sanktioniert und versucht, daraus zu lernen.
Erziehung und Persönlichkeitsbildung gehören elementar zu den Aufgaben der Vorgesetzten. Es gibt das Recht der Wehrbeschwerde, die Disziplinarordnung und die Truppendienstgerichtsbarkeit, Vertrauensleute und Gleichstellungsbeauftragte, den Militärischen Abschirmdienst und ein inzwischen ziemlich sensibles Meldewesen zur sozialen und inneren Lage in unseren Streitkräften.
Und es gibt seit nunmehr 60 Jahren den Wehrbeauftragten mit seinen Möglichkeiten. Es ist meine Pflicht, genau hinzuschauen, auch wenn es mal lästig fällt. Einige dieser Themen haben schon den Verteidigungsausschuss beschäftigt. Das ist gut so.
Danken will ich abschließend allen, die mir mit ihren Eingaben und Hinweisen Arbeit gemacht haben. Dank auch dem Verteidigungsausschuss, dem Verteidigungsministerium, unseren Ansprechpartnern in der Truppe und schließlich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Amt des Wehrbeauftragten, die für Nachhaltigkeit sorgen, auch wenn manches Thema längst schon wieder von der politischen Tagesordnung verschwunden ist. Wir alle tun diese Arbeit im Interesse unseres Landes zum Wohl unserer Soldatinnen und Soldaten.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank. – Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich im Namen des Hauses dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Vorlage des Jahresberichts 2018 und überhaupt für ihre Arbeit danken.
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Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Peter Tauber.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Wehrbeauftragter, Sie haben es eben in einem Halbsatz gesagt, und deswegen will ich es hier noch einmal etwas deutlicher formulieren: Es ist nicht einfach nur der nächste Jahresbericht, den Sie vorlegen, sondern Ihre Institution, die Sie, lieber Herr Bartels, derzeit repräsentieren, begeht den 60. Jahrestag. Sie ist damit nicht nur für unser Parlament, sondern für unsere Streitkräfte eine wirklich wichtige – ich darf sagen: unverzichtbare – Institution in diesen Jahrzehnten geworden. Deswegen Ihnen und auch allen, die für Sie und mit Ihnen sowie mit Ihren Vorgängern für unsere parlamentarische Armee gestritten haben, ein herzliches Dankeschön.
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Wenn man auf diese 60 Jahre schaut, wird man feststellen können, dass die Fragen, mit denen Sie und Ihre Vorgänger sich beschäftigt haben, sich verändert haben. Immer wieder standen andere Aspekte im Fokus. Aber eines hat sich nicht verändert: Sie waren stets Fürsprecher für unsere Soldatinnen und Soldaten und auch Ratgeber für das Ministerium und für das Parlament.
Und auch der aktuelle Bericht tut genau dies: Er legt den Finger in die Wunde. Er mahnt uns, anspruchsvoll zu bleiben bei der Umsetzung der Trendwenden, zu fragen: Geht das nicht noch schneller? Müssen wir ambitionierter sein? Damit betonen Sie das, was auch die Ministerin formuliert hat: Es gibt eben derzeit Licht und Schatten. Wir kommen voran, aber nicht so schnell, wie wir uns das selber wünschen. Und wir müssen uns jeden Tag fragen, was wir besser machen können.
Reicht es, dass jede Woche ein Panzer, jeden Monat ein Luftfahrzeug, jedes Jahr ein Schiff kommt, bei den großen Lücken, die unsere Streitkräfte beim Material und der Ausstattung immer noch verzeichnen? Ich glaube, es ist eine gemeinsame Aufgabe für das Ministerium und das Parlament, sich zu fragen, was wir besser machen können.
Traditionell steht beim Wehrbeauftragten aber nicht das Material, sondern stehen die Menschen in der Bundeswehr im Fokus, unsere Soldatinnen und Soldaten, aber sicher auch die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und deswegen ist es gut, dass Sie immer wieder mit uns über das Thema Nachwuchsgewinnung reden. Das Parlament hat jetzt mit dem Gesetz zur nachhaltigen Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, dem sogenannten Artikelgesetz, mit dem wir eine höhere soziale Sicherheit für Soldatinnen und Soldaten im Alter anstreben, mehr Anreize für Reservisten setzen wollen, mehr Geld für die freiwillig Wehrdienst Leistenden bereitstellen und bessere Karrierechancen für Unteroffiziere öffnen, einen entsprechenden Weg eingeschlagen. Deswegen hoffen wir auf die Zustimmung dieses Hauses.
Sie haben immer wieder die Bürokratie in der Bundeswehr beklagt. Und auch da werden wir uns fragen müssen: Welche Vorschrift ist noch notwendig? Viele Vorschriften sind in der letzten Zeit abgeschafft worden. Nur: Weniger Vorschriften bedeuten natürlich in der Tat mehr Verantwortung.
Sie haben den Wunsch nach einem Etat für die Kommandeure angesprochen; der wird kommen. Ich glaube, dem Gedanken der Inneren Führung und auch der Auftragstaktik folgend ist es richtig, dass wir jedem auf seiner Entscheidungsebene Verantwortung zutrauen, aber auch zumuten; denn Verantwortung ist etwas Anstrengendes. Ich würde mir wünschen, dass wir unseren Umgang mit jemandem, der einen Fehler macht, egal ob im zivilen oder militärischen Strang unserer Streitkräfte, kritisch prüfen. Haben wir da die richtige Kultur, sodass jemand auch nach dieser Verantwortung greift, sie annimmt, sie fordert? Da bin ich nicht so sicher. Das eine bedingt aus meiner Sicht das andere, das hat auch etwas mit Vertrauen und am Ende mit Innerer Führung zu tun.
Ein Beispiel für das Thema Bürokratieabbau: Wir haben über das Bewerbungsverfahren und die Einstellung in die Streitkräfte immer wieder diskutiert. Der Personalbogen ist inzwischen von 10 auf 4 Seiten reduziert worden, die Bewerbungsunterlagen von 13 auf 7 Seiten. Und wahrscheinlich werden wir uns das bei Gelegenheit wieder anschauen müssen: Vielleicht finden wir noch eine weitere halbe Seite, die wir herausstreichen können. Das nur als Beispiel für das, was wir künftig auf den Weg bringen wollen.
Es gäbe noch viel zu sagen zu Ihrem Einsatz gegen Extremismus in unseren Streitkräften. Ich bin froh und dankbar, dass wir uns einig sind, dass 99 Prozent unserer Soldatinnen und Soldaten treu und ihrem Eid gemäß dienen. Ich bin froh und dankbar, dass Sie Ansprechpartner sind, nicht nur für die Männer und Frauen in den Streitkräften, sondern auch für das Ministerium und das Parlament, für die gesamte Regierung, auch für den Finanzminister, wenn es um die Frage geht, ob wir genügend finanzielle Mittel bereitgestellt bekommen, um unseren Auftrag zu erfüllen.
Am Ende – und das ist mein letzter Satz – verkörpern Sie, wie ich persönlich finde, einen wesentlichen Gedanken der Inneren Führung. Baudissin hat es so formuliert: Der Soldat muss in den Streitkräften das erleben, was er tapfer verteidigen soll. – Sie sind ein Baustein der freiheitlichen Demokratie, der offenen Gesellschaft, der Werte und der Art, wie wir leben, die unsere Soldatinnen und Soldaten jeden Tag bereit sind zu verteidigen. Und deswegen danke ich Ihnen sehr für Ihre Arbeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Elsner von Gronow für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen hier über den Bericht des Wehrbeauftragten 2018. Gleichzeitig begehen wir auch das Jubiläum zum 60‑jährigen Bestehen seines Amtes. Leider kann auch zu diesem runden Geburtstag kein erfreulicher Bericht vorgelegt werden. Ich erspare Ihnen eine neuerliche Benennung aller Bereiche, um die es schlecht steht. Betrachtet man aber die Zahlen im Bericht, wird ganz deutlich, dass die personelle und materielle Lage der Bundeswehr schlecht ist. Betrachtet man die aktuelle Eckwerteplanung, sieht man, dass das auch für die finanzielle Lage und den entsprechenden Ausblick gilt. Man muss also zu dem Schluss kommen, dass von den großartigen Ankündigungen zur Verbesserung der Ausstattung der Bundeswehr nicht viel übrig bleibt. Im Gegenteil: Alle drei sogenannten Trendwenden sind gescheitert.
Schon lange war der desolate Zustand der Bundeswehr bekannt; aber durch das freundliche Desinteresse vieler Deutscher, die Aussetzung der Wehrpflicht und eine Kanzlerin, die nicht in militärischen Dimensionen denkt,
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bedurfte es erst der Krim-Krise, um den Utopisten, die nach dem Ende des Kalten Krieges eine immerwährende Epoche des Friedens erwarteten, in der man keine Streitkräfte mehr bräuchte, die Augen zu öffnen. Die NATO erlebte eine Revitalisierung, und so wurde schon 2014 übereingekommen, auch mit Deutschland, dass es notwendig sei, 2 Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben, um seinen Anteil am Verteidigungsbündnis leisten zu können. Das wurde später bekräftigt und zuletzt von US-Präsident Trump noch einmal deutlich eingefordert, indem er sagte, dass es endlich an der Zeit sei, dass wir selbst wieder Verantwortung für unsere Sicherheit übernehmen und uns nicht mehr bequem auf die Militärmacht der USA als Garanten unserer Sicherheit in Deutschland und in Europa verlassen dürften. Das hat bei den Verständigeren in unserem Land zur Einsicht geführt, dass eine Instandsetzung unserer Bundeswehr im vitalen Interesse unseres Landes liegt. Dass es der Rest auch noch versteht, daran müssen wir dringend arbeiten.
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Die Symptome politisch erzeugter sozialer Missstände in unserem Lande mit vielen Milliarden kaschieren zu wollen, statt grundlegende Reformen anzugehen, und darüber die Ausgaben für unsere äußere Sicherheit nicht mehr leistbar zu machen, ist ein fataler Fehler. Denn was nützt am Ende alle soziale Versorgung ohne Freiheit? Das können nur Sozis wollen. Und unsere Freiheit, Souveränität und Selbstbestimmung kann aber nur eine wehrwillige und wehrfähige Gesellschaft mit ihren Streitkräften garantieren.
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Denn, meine Damen und Herren, jedes Land hat Streitkräfte, fremde oder eigene.
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Alle anderen Annahmen sind leider utopisch und weltfremd. Wer also für die Freiheit ist, wird, ob als Politiker, Bürger oder Steuerzahler, mithelfen, die Bundeswehr endlich wieder in den Stand zu versetzen, ihre Aufgabe vollumfänglich erfüllen zu können, Schild und Schutz unserer Heimat zu sein.
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Mir tun immer diejenigen leid, die den Zustand der Bundeswehr nicht zu verantworten haben, aber lächelnd tolle Entwicklungen verkünden müssen. Leid tun mir auch die Soldaten, die die Folgen der miserablen Ausrüstung ausbaden müssen. Kürzlich sagte ein amerikanischer Offizier über das Großmanöver „Trident Juncture“ zu mir: Die Deutschen mussten liefern, und sie haben geliefert, hervorragend geliefert. – Wenn ich so etwas höre, bin ich stolz auf die Leistung unserer Soldaten, die mit hohem persönlichen Einsatz andauernd versuchen müssen, die Missstände bei der Materiallage zu kompensieren. Dass aber für solch ein Manöver oder für solche Einsätze und einsatzgleiche Verpflichtungen Material aus allen Teilen der Bundeswehr zusammengeklaubt werden muss, ist ein Armutszeugnis und darf nicht der Anspruch an die Ausstattung unserer Streitkräfte sein.
Das in absehbarer Zeit zu ändern, wird viel Geld kosten, selbstverständlich; aber es ist notwendig. Die Welt wird immer unsicherer. Zahlreiche Konflikte bestehen schon oder zeichnen sich am Horizont ab. Und was ist die Reaktion der Bundesregierung? Sie reduziert die prozentualen Ausgaben für unsere Verteidigungsfähigkeit. Ist das zu fassen? Es ist doch nicht zu viel verlangt, von 1 Euro, den die Bundesregierung ausgibt, 2 Cent für unsere Sicherheit auszugeben.
Die Finanzplanung spricht aber eine andere Sprache: Statt der angepeilten 2 Prozent des BIP gibt die Regierung 1,5 Prozent zum Ziel aus. Und selbst das Erreichen dieser 1,5 Prozent ist in der aktuellen Planung nicht abzusehen. Im Gegenteil: Der Ansatz wird geringer. Bereinigt man ihn dann noch um verschiedene Faktoren wie tarifliche Lohnerhöhungen, Inflation, Kostensteigerung und andere, sieht die Bilanz noch verheerender aus. Maßgebliche und dringend notwendige Maßnahmen und Beschaffungen der Bundeswehr werden so nicht finanziert. Aber unsere Außen- und Sicherheitspolitiker stellen sich überall hin und propagieren: Wir stehen zu unseren Zusagen. Wir halten uns an unsere Vereinbarungen. – Das ist keine ehrliche Politik. So sind wir als Bündnis- und Kooperationspartner zunehmend unglaubwürdig geworden. Deutschland wird trotz vieler Forderungen aus dem Ausland seiner wichtigen Rolle in Europa und der Welt nicht gerecht.
Ich kürze ab: Wir sehen hier ein weiteres Versagen des Staates bei seiner vornehmsten Aufgabe: dem Schutz seiner Bürger. Das, meine Damen und Herren, ist ein Trauerspiel. Leider fehlt bei allen Parteien außer der AfD der glaubhafte politische Wille, das zeitnah und nachhaltig zu ändern. Wer also Sicherheit, Souveränität und Freiheit für Deutschland will, wählt AfD.
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat nun Dr. Karl-Heinz Brunner das Wort.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Es gibt Ereignisse im Laufe eines Jahres und eines Lebens, die schön sind. Und es gibt Ereignisse, die sind weniger schön. Zu den schönen Ereignissen zählen wir Geburtstage, Sommerurlaub am Mittelmeer, in den Bergen oder Ähnliches, zu den weniger schönen den Geburtstag der nervigen Schwiegermutter – um nur einige Beispiele zu nennen.
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Herr Wehrbeauftragter, mein lieber Herr Bartels, ich will eines klarstellen: Ich will Sie weder zur Schwiegermutter haben, noch halte ich Sie für nervig. Aber die Vorstellung Ihres Berichts ist für uns Abgeordnete ein Termin, bei dem wir nicht genau wissen, was auf uns zukommt. Wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages, zumal die Mitglieder des Verteidigungsausschusses, haben das ganze Jahr über, wie Sie auch, die Fühler ausgestreckt: bei Truppenbesuchen, bei Gesprächen mit den Soldatinnen und Soldaten, mit Reservistinnen und Reservisten, bei Auslandsreisen, bei Inlandsreisen. Wir versuchen, zu ergründen, wo bei der Truppe der Schuh drückt und was wir tun können.
Wir wollen aber auch wissen, was gut läuft. Denn diese Eindrücke sind für uns, für unsere Arbeit enorm wichtig. Verglichen mit dem, was Sie, Herr Wehrbeauftragter, an Meldungen aus der Truppe erhalten, ist das, was wir Abgeordnete tun können, auch wenn wir 709 sind, doch eher bescheiden. 2 600 Eingaben haben Sie in 2018 erhalten und bearbeitet; die Eigeninitiativen kommen noch dazu. Die Masse an Eingaben formt den Bericht des Wehrbeauftragten Jahr für Jahr zu einem facettenreichen Bild, das die aktuelle Lage der Truppe, die aktuelle Lage über die Truppe, die Sicht in die Truppe veranschaulicht. Das ist für unsere Arbeit im Parlament von großem Wert und ist auch für die interessierten Bürgerinnen und Bürger, nicht nur hier auf den Tribünen, sondern auch in unserem Land, eine wichtige Informationsquelle. Das ist quasi ein Seismograf für das Parlament und die Bürgerinnen und Bürger.
Auf der anderen Seite ist das offene Ohr des Wehrbeauftragten für die Soldatinnen und Soldaten von großer Bedeutung. In Gesprächen höre ich immer wieder, wie wichtig es für die Soldatinnen und Soldaten ist, zu wissen, dass neben den Meldungen über den regulären Dienstweg auch eine wahrhaftig unabhängige Stelle ihre Anliegen aufnimmt, in jährlichen Berichten wiedergibt und Lösungen anbietet. Deshalb erkläre ich jungen Menschen, wenn sie zu Besuchen in den Deutschen Bundestag kommen, dass unser Grundgesetz, das wir haben, wohl das Beste ist, was uns jemals in unserer Geschichte gelungen ist. Und ich füge hinzu: Die Schaffung des Amtes des Wehrbeauftragten – gestatten Sie mir, Herr Wehrbeauftragter, das zu sagen – ist das Zweitbeste; denn die Kategorie „das Beste“ ist bereits für das Grundgesetz vergeben.
Auf diese Institution des Grundgesetzes können wir stolz sein. In kaum einem anderen Land dieser Erde gibt es eine vergleichbare, verfassungsrechtlich abgesicherte und ausschließlich den Streitkräften gewidmete Instanz. In diesem Jahr – es wurde bereits vom Wehrbeauftragten und vom Parlamentarischen Staatssekretär Tauber angesprochen – begehen wir das 60-jährige Bestehen der Institution des Wehrbeauftragten, und – ich sage dies als Sozialdemokrat mit Stolz – es war Ernst Paul, sozialdemokratischer Abgeordneter, der die Idee aus dem schwedischen Exil zu uns gebracht hat und das schwedische Modell des dortigen Militärombudsmanns bei uns verfassungsrechtlich verankern ließ.
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Der Artikel 45b wurde schließlich 1959 nach intensiven Debatten ins Grundgesetz aufgenommen und steht heute wie selbstverständlich für das Selbstbild der Bundeswehr als Parlamentsarmee. Sie agiert auf Beschluss des Bundestages, und wir, die Mitglieder dieses Parlaments, tragen die Verantwortung für die Soldatinnen und Soldaten, sei es hier in Deutschland, in Mali, in Afghanistan, im Baltikum oder wo auch immer in dieser Welt.
Gestatten Sie mir, meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Zwischenbemerkung. Verantwortung für die Truppe bedeutet auch respektvoller und würdevoller Umgang mit den Angehörigen der Bundeswehr. Insofern ist es natürlich sinnvoll – dies sage ich an dieser Stelle ausdrücklich –, dass Jugendoffiziere der Bundeswehr mit den Schülerinnen und Schülern dieses Landes über die Sicherheitspolitik und den Auftrag der Bundeswehr diskutieren.
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Aber dass es sich um zwei Paar Schuhe handelt, nämlich die Information über die Bundeswehr einerseits und die Werbung für den Dienst an der Waffe andererseits, ist offensichtlich in diesem Land und manchmal auch in diesem Haus noch nicht jedem ganz klar. Halten wir uns an die gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben und leisten gute Arbeit!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, auch wir diskutieren hier und heute über die Bundeswehr und die Frage, ob und wie sie ihrem Auftrag gerecht wird. Leider, so muss man sagen, zeigt der Bericht des Wehrbeauftragten wieder einmal mehr Schatten als Licht. Vieles davon ist in den letzten Tagen und Wochen bereits in der Presse diskutiert worden. Deshalb möchte ich im Wesentlichen drei Punkte ansprechen.
Erstens: den Rechtsextremismus. Seit 2016 hat sich die Zahl meldepflichtiger Ereignisse um 100 auf 170 erhöht. Das heißt zwar nicht, dass sich das Problem in zwei Jahren verdoppelt hat. Es mag auch an mehr Sensibilität und Bewusstsein in der Truppe und in der Gesellschaft liegen, derartige Vorkommnisse dem Wehrbeauftragten zu melden. Wie dem aber auch immer sei: Rechtsextreme Bewegungen sind absolut indiskutabel. Wir, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, erkennen sehr wohl an, dass der Wehrbeauftragte dies erkannt hat und dass das Ministerium sich des Problems bewusst ist und reagiert. Gleichwohl liegt noch einiges an Wegstrecke vor uns; denn nicht nur Verurteilung, Dienstentlassung und Waffenentzug oder dauerhafte Versetzung können im Mittelpunkt stehen. Es muss auch einbezogen werden, dass der Gedanke, dass die Bundesrepublik überwunden werden soll und andere die Macht übernehmen wollen, in der Bundeswehr nichts verloren hat.
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Das Zweite, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist ein Thema, das mich als wehrpolitischer Sprecher meiner Fraktion berührt. Noch immer werden homosexuelle oder transsexuelle Soldatinnen und Soldaten in der Truppe von Einzelnen diskriminiert, glücklicherweise nicht mehr so schlimm wie vor 20 Jahren. Und glücklicherweise hat das Bundesministerium der Verteidigung sich nunmehr, auch nach den Interventionen des Gleichstellungsbeauftragten und des Wehrbeauftragten, auf den Weg gemacht und eine entsprechende Anweisung erstellt, die es ermöglicht, dass auch dieser Personenkreis ungestört seinen Dienst in der Bundeswehr ausüben kann. Ich glaube, dies ist der richtige Weg. Diesen Weg und diesen Leitfaden gilt es weiter zu verfolgen.
Drittens. Der letzte Punkt, den ich anfügen möchte, ist die Seelsorge. Ich freue mich, dass es nunmehr gelungen ist, auf Anregung einen Militärrabbiner in die Bundeswehr zu integrieren; denn mit den Militärrabbinern und dem durch die Militärrabbiner durchgeführten lebenskundlichen Unterricht können wir genau dem entgegenwirken, dem wir entgegenwirken wollen: Antisemitismus, Antiislamismus, Intoleranz und Rechtsextremismus.
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Den Bereich des Personals und die Strukturveränderungen, die notwendig sind, hat der Wehrbeauftragte zu Recht angesprochen. Ich appelliere an die Ministerin, die heute durch Staatssekretär Tauber vertreten wird: Nutzen Sie die Masse an Informationen, um den Alltag der Soldatinnen und Soldaten zu verbessern. Nutzen Sie diese Informationen, um Strukturen und Abläufe zu verbessern.
Kollege Brunner, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen gerne bereit. Wir werden das unterstützen, was der Truppe hilft.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat die Kollegin Dr. Marie-Agnes Strack- Zimmermann für die FDP-Fraktion.
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61 Jahre und eine nette Schwiegermutter.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 60 Jahre Wehrbeauftragter. An dieser Stelle möchte ich sagen: Sie, Herr Bartels, und Ihr Team machen einen tollen Job. Ich danke Ihnen dafür, auch im Namen einer coolen Truppe, die die Bundeswehr ist. Der Wehrbeauftragte übt die parlamentarische Kontrolle im Bereich der Bundeswehr aus. Er wacht darüber, dass die Grundrechte der Soldaten eingehalten werden. Das war nicht immer selbstverständlich. Vor 60 Jahren, als diese Aufgabe eingeführt wurde, war sie umkämpft. Die Bundeswehr war eine junge Armee. Es gab noch Offiziere, die in der Wehrmacht sozialisiert waren. Umso wichtiger ist es, dass es heute diese Institution gibt; denn Bundeswehr – das muss man immer wieder sagen – ist Teil dieser Gesellschaft, ist Spiegelbild dieser Gesellschaft mit allem, was Sie gerade sagten, Herr Bartels: mit Sorgen, Problemen, Nöten.
Die gute Nachricht ist ja, dass dies transparent dargestellt wird, dass im besten Fall darauf eingegangen werden soll. Jetzt komme ich natürlich auf den Bericht des Wehrbeauftragten, den zu lesen jedes Jahr interessant ist. Er ist spannend geschrieben. Nur reibt man sich ein wenig die Augen, wenn man das liest und als Reaktion darauf immer hört: Es wird alles besser. – Bei dem ganzen Gedöns, was alles nicht kommt, hat man das Gefühl, dass es gut war, dass wir darüber gesprochen haben. Aber die Bundesregierung, lieber Herr Tauber, reagiert schleppend, wenn es darum geht, Dinge zu regulieren. Herr Bartels sprach gerade von Verantwortung. Ja, auch die Bundesregierung hat Verantwortung. Wir können im Untersuchungsausschuss zu den Beraterverträgen gerade sehen, wie viele, wenn es um Verantwortung geht, gar nicht schnell genug hinter den nächsten Busch springen können und das auch noch juristisch super erklären. Wirklich famos!
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Meine Damen und Herren, gerade weil die Wehrpflicht ausgesetzt wurde, was wir als Freie Demokraten mitgetragen haben, gerade weil wir eine professionelle Armee wollten, muss der Anspruch natürlich bleiben, Profis auch professionell auszurüsten.
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Alles andere wäre wirklich fatal. Die Aussetzung der Wehrpflicht hat auch dazu geführt hat, dass in vielen Familien die Selbstverständlichkeit, dass Sohn oder Tochter zur Bundeswehr gehen, nicht mehr gegeben ist. Umso wichtiger ist es, das den Menschen immer wieder klarzumachen.
Lassen Sie mich dazu noch zwei Dinge sagen: Es ist empörend und auch nicht nachzuvollziehen, dass die Sozialdemokratie in Berlin Jugendoffizieren die Möglichkeit verwehrt, an Schulen zu gehen.
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Das ist unvorstellbar absurd. Ich glaube, Sie haben zu viel Westernfilme gesehen. Das ist nicht dazu da, um Leute zur Bundeswehr zu bringen. Das ist dazu da, jungen Menschen klarzumachen, welchen Wert eine Armee in einer Gesellschaft hat. Sie machen die Türe zu.
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Ich weiß, dass einige bei Ihnen das peinlich finden; aber es ist Ihre Partei.
Der Gruselfaktor kann ja gar nicht sinken, wenn man an das Interview denkt, dass gestern Abend die Justizministerin der Bundesrepublik Deutschland – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – Russia Today, abgekürzt RT, gegeben hat. Vielleicht hat sie es mit der kleinen Tochter von RTL verwechselt – ich weiß es nicht.
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Es geht mir nicht darum, dass sie ihre Nähe zu Russland betont hat. Geschenkt! Das machen unsere linken und rechten Freunde ja von morgens bis abends.
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Viel schlimmer ist, dass sie bei Russia Today der Bundeswehr mit gestrecktem Bein in den Rücken gefallen ist, indem sie nämlich gesagt hat: Es gibt nicht mehr Geld, wir wollen nicht aufrüsten.
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Liebe Sozialdemokratie, ich weiß, es kann einem in der Partei schlecht gehen; aber Sie sollten an dieser Stelle unbedingt Rückgrat bewahren.
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Es ist unsäglich, was Sie hier abziehen.
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Das Wort hat die Kollegin Christine Buchholz für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Bartels! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wehrbeauftragten! Meine Damen und Herren! Ich möchte in der Debatte zum Jahresbericht des Wehrbeauftragten drei Themen fokussieren: erstens die Schikane in der Ausbildung bei der Bundeswehr, zweitens rechtsextreme Umtriebe, drittens das offenbar sehr emotionale Thema „Bundeswehr an Schulen“.
Im Juli 2017 brachen bei einem Gewaltmarsch in sengender Hitze in Munster sechs Soldaten zusammen. Vier mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden, einer starb. Jonas K. wäre am letzten Sonntag 23 Jahre alt geworden. Ich kann nicht verstehen, dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung eingestellt hat. Das kann nicht angehen.
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Es kann nicht sein, dass eine Gesellschaft mit Opfern einer unmenschlichen Ausbildungspraxis so umgeht.
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Es kann auch nicht sein – das lese ich im Bericht des Wehrbeauftragten –, dass im vergangenen Jahr wieder drei Fälle überzogener Härte in der Ausbildung aufgetreten sind. Damit muss Schluss sein.
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Es gab im Berichtsjahr – es ist auch von Herrn Bartels berichtet worden – einen sehr hohen Stand meldepflichtiger Ereignisse im Zusammenhang mit Rechtsextremismus. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen:
Ein Hauptgefreiter spielte im Beisein von Kameraden rechtsextremistische Musik ab. Darüber hinaus war auf seinem Facebook-Profil ein Wehrmachtspanzer mit folgender Kommentierung zu sehen: „Das Gefühl, wenn Du mit Deinem Tigerpanzer über 20 Nafris gefahren bist, ist unbezahlbar. Manche Dinge kann man selbst machen, für alles andere gibt es die SS.“
Meine Damen und Herren, das ist absolut inakzeptabel.
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In dem Bericht werden weitere Fälle aufgeführt. Das zeigt, es war kein Einzelfall. Das Problem, das ich sehe, ist, dass es in dem Bericht so erscheint, als gäbe es nur eine Kette von Einzelfällen. Beispielsweise wird die Gruppe um den ehemaligen KSK-Soldaten „Hannibal“ nicht erwähnt, auch nicht der Problemkomplex Uniter, obwohl diese Phänomene letztes Jahr, also im Berichtsjahr, aufgetaucht sind. Wenn die Dimension von Rechtsextremismus in der Bundeswehr nicht erkannt wird und auch die Vernetzung nicht beschrieben und gesehen wird, dann kann man den Rechtsextremismus nicht erfolgreich bekämpfen, weder in der Bundeswehr noch im Parlament noch in der Gesellschaft.
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Hier wurde schon über den Beschluss der Berliner SPD zum Thema „Bundeswehr in der Schule“ diskutiert. Wir finden, er ist gut, geht allerdings nicht weit genug.
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Ich möchte ihn zitieren:
Es wird militärischen Organisationen untersagt, an Berliner Schulen für den Dienst und die Arbeit im militärischen Bereich zu werben.
Ich verstehe nicht, warum hier die ganze Zeit über Jugendoffiziere gesprochen wird. Die Berliner SPD hat ja auch klargestellt: Es geht um Karriereberater. – Wir sind der Meinung, dass weder Karriereberater noch Jugendoffiziere in den Schulen etwas zu suchen haben,
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weil es ja Instanzen gibt, die für politische und auch sicherheitspolitische Bildung an den Schulen zuständig sind, und zwar die Lehrerinnen und Lehrer. Es ist ihre originäre Aufgabe, nicht die von Bundeswehrsoldaten.
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Ich glaube, es geht bei der Debatte um Jugendoffiziere und Karriereberater um etwas ganz anderes: Zum einen will man eine Normalisierung des Militärischen im Alltag erreichen. Zum anderen hat die Bundeswehr ein Rekrutierungsproblem. Insofern geht es letztendlich doch um Werbung und Rekrutierung. Wir glauben nicht, dass Militärpropaganda zu diesem Zweck an den Schulen etwas zu suchen hat. Wir sind der Meinung, dass die Bundeswehr an den Schulen nichts zu suchen hat.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Tobias Lindner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank, geschätzte Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich bietet die Debatte zum Jahresbericht immer eine Gelegenheit, dankzusagen, erst recht, wenn das Amt des Wehrbeauftragten – eine Institution sui generis, wie man in Verfassungsrechtskommentaren nachlesen kann – 60 Jahre alt wird. Ich will im Namen unserer Fraktion nicht nur Ihnen, Herr Bartels, ganz persönlich und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Ihres Amtes, die die Eingaben bearbeitet und in Teilen dann auch dem Parlament zugeleitet haben, danken. Ich will heute an dieser Stelle auch allen Soldatinnen und Soldaten und Zivilbeschäftigten der Bundeswehr danken, die sich im vergangenen Jahr teilweise ein Herz haben fassen müssen, um eine Eingabe beim Wehrbeauftragten zu machen. Ich will ihnen zurufen: Diese Eingaben sind alles andere als sinnlos. Nein, die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, meine Damen und Herren, und deswegen sind sie elementar für unsere Arbeit hier im Deutschen Bundestag.
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Wenn wir uns den Jahresbericht 2018 anschauen, dann muss man festhalten – das ist schon erwähnt worden –: Die Themen sind ähnliche wie in den Vorjahren. Das deutet natürlich darauf hin, dass die vielen angekündigten Trendwenden – da ist man immer froh, dass dieses Pult hier Haltegriffe hat, weil man schon fast ins Drehen kommt, wenn man hört, was die Ministerin alles als Trendwende ankündigt – nur einen sehr geringen Niederschlag in der Realität finden. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Wenn im Jahresbericht beim Thema Bekleidung als Fortschritt bei der Truppe aufgeführt ist, dass Soldatinnen und Soldaten künftig sechs statt fünf Kurzarmunterhemden haben, dann frage ich mich, was der Anspruch des Ministeriums an eine zeitgemäße Ausstattung unserer Soldatinnen und Soldaten ist.
Es kommt immer wieder der Ruf nach mehr Geld, nach 1,5 Prozent oder 2,0 Prozent. Herr Elsner von Gronow, Sie haben vorhin hier an diesem Pult gesagt, es sei doch nicht zu viel verlangt, „von 1 Euro, den die Bundesregierung ausgibt, 2 Cent“ für das Militär auszugeben. Das wären dann nur 7,1 Milliarden Euro – wir haben es mal nachgerechnet. Sie haben vermutlich die Wirtschaftsleistung gemeint. – Das zeigt doch, meine Damen und Herren, dass diese ganzen Debatten um irgendwelche Prozentzahlen ziemlich abstrakt, beileibe ziemlich absurd sind.
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Es muss doch in Wahrheit darum gehen, was bei den Soldatinnen und Soldaten ankommt, damit sie den Auftrag, den wir ihnen geben, adäquat erfüllen können.
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Ich will einen weiteren Punkt nennen. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Tauber, Sie haben hier an diesem Pult über Fehlerkultur gesprochen. Wir haben in dieser Woche leider wieder ein Beispiel dafür erleben müssen, wie eine Fehlerkultur eigentlich nicht aussehen sollte. Wir haben in dieser Woche in den Gremien, im Verteidigungs- und im Haushaltsausschuss, erörtert, wie es eigentlich zu dem ganzen Sanierungsdesaster um die „Gorch Fock“ kommen konnte. Da hatte sich ein Referatsleiter bei der Erstellung einer Entscheidungsvorlage für die Ministerin ein Herz gefasst. Er hat, als die Sanierungskosten steigen sollten, in die Vorlage reingeschrieben, dass sein Referat empfiehlt, die Instandhaltung abzubrechen und zu untersuchen, ob nicht vielleicht ein Neubau eines Segelschulschiffs die wirtschaftlichere und für die Truppe bessere Lösung wäre.
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Und was macht dann die Führung des Hauses, was macht der heutige Staatssekretär Zimmer? Er streicht diese Bemerkung des Referats einfach aus der Vorlage für die Ministerin heraus. Das, meine Damen und Herren, hat nichts mit einem offenen Diskurs im Verteidigungsministerium zu tun,
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und es hat erst recht nichts mit Fehlerkultur zu tun.
Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie, lieber Herr Bartels, nachdem Sie ja schon vom Kollegen Brunner mit einer nervigen Schwiegermutter verglichen worden sind, abschließend nur bitten: Nerven Sie uns weiter, nerven Sie uns auch mal mit Dingen, die wir vielleicht nicht alle teilen; denn nur, wer nervt, wird am Ende des Tages gehört. Manchmal ist es eben so, dass gewisse unbequeme Wahrheiten einem auf die Nerven gehen. In diesem Sinn: Herzlichen Dank für Ihre Arbeit.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Anita Schäfer das Wort.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzte Woche haben wir im Verteidigungsausschuss das 60-jährige Bestehen des Amtes des Wehrbeauftragten gewürdigt. Meine Fraktion und ich danken Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, und Ihren Mitarbeitern sehr herzlich für das engagierte Arbeiten in den ganzen Jahren.
Den meisten von uns ist der Wehrbeauftragte vor allem durch seinen jährlichen Bericht bekannt, dessen Ausgabe für das Jahr 2018 wir heute debattieren. Aus dem Bericht ist erkennbar, dass wir uns derzeit an einem kritischen Punkt befinden. Die für die Bundeswehr sehr wichtigen Trendwenden Material und Personal wurden durch die Bundesministerin von der Leyen angestoßen.
Die Trendwende Finanzen steht jedoch mittelfristig auf der Kippe. Vor einer Woche haben wir 70 Jahre NATO gefeiert, und auf internationaler Ebene kam es erneut zu kontroversen Diskussionen; denn die Bundesrepublik muss zu ihrer Verantwortung im Bündnis stehen, gemachte Zusagen einhalten und den Verteidigungshaushalt angemessen ausstatten. Der Wehrbeauftragte bemängelt in seinem Bericht zu Recht, dass beim Material noch immer große Lücken vorherrschen. Und genau da verkündete der Bundesfinanzminister ein Absenken des Verteidigungshaushaltes bis 2023,
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und das, obwohl wir alle es täglich in den Nachrichten sehen und hören: Die weltweite Sicherheitslage verschlechtert sich zusehends. CDU und CSU wollen, dass die Bundesrepublik und mit ihr die Bundeswehr in der Lage sind, mit diesen Veränderungen umzugehen. Das Verteidigungsministerium hat folglich in den letzten Jahren den Umfang der Beschaffungsvorhaben erheblich gesteigert.
Zur Trendwende Personal ist zu sagen, dass der Anteil von Frauen in der Bundeswehr weiter steigt, was wir sehr begrüßen.
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Damit aber insgesamt die Zahl der Bewerber steigt, muss die Bundeswehr als Arbeitgeber attraktiv bleiben. Dem dient etwa die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder zusätzliche Planungssicherheit für Pendler im Rahmen des Bundesumzugskostengesetzes. Im Gesetz zur nachhaltigen Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr werden wir in Kürze eine ganze Reihe von Verbesserungen für unsere Soldaten vornehmen. Der Bund wird mit den Kommunen neue Dienstwohnungen für Bundeswehrangehörige und ihre Familien bauen. Engagiert arbeitet die Bundesregierung an der Sanierung und Anpassung der Standards bei den Kasernen und Unterkünften. Ich stimme dem Wehrbeauftragten diesbezüglich aber zu, dass es gerade beim Thema Infrastrukturprojekte eines Innovationsschubes bedarf.
Weiteren Schub brauchen wir auch bei der Digitalisierung. Das bedeutet nicht nur WLAN in den Kasernen. Wir müssen grundsätzlich unsere Cyberfähigkeiten weiter ausbauen. Russland und China sind hier extrem aktiv. Das Kommando Cyber- und Informationsraum einzurichten, war da ein vollkommen richtiger Schritt. Wir brauchen aber nicht nur defensive Fähigkeiten, sondern auch offensive. Wir müssen Angreifern auf Augenhöhe begegnen.
Zum Schluss möchte ich daran erinnern, dass im Jahr 2018 viele Frauen und Männer in mandatierten Auslandseinsätzen und einsatzgleichen Verpflichtungen gedient haben. Sie waren im Kosovo, in Mali oder in Afghanistan oder beispielsweise auch bei der NATO-Übung „Trident Juncture“ in Norwegen im vergangenen Herbst. Die Bundeswehr leistet dort und daheim konstant großartige Arbeit. Dabei braucht sie aber auch unsere Unterstützung. Es bedarf nicht nur schöner Worte, sondern vor allem einer gesicherten und belastbaren Finanzierung – über 2019 und 2020 hinaus.
Danke.
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Das Wort hat der Abgeordnete Mario Mieruch.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Dr. Bartels! Sehr geehrte Damen und Herren! Leben am Ressourcenlimit, die Luftwaffe auf dem Tiefpunkt ihrer Geschichte, stockende Großprojekte, Vollausstattung erst 2031 – vielleicht. Allein die ersten zehn Seiten des Berichts des Wehrbeauftragten listen einen so maroden Zustand unserer Bundeswehr auf, dass man am liebsten aufhören möchte, zu lesen. Aber das ist nicht neu. Wir kennen die Defizite bei den großen Projekten hinlänglich, weil wir darüber seit Jahren diskutieren.
Nicht minder wichtig sind aber die vielen unzähligen kleinen Dinge, die für uns im Alltag völlig selbstverständlich sind, an denen es bei unserer Bundeswehr aber trotzdem mangelt. Das geht los mit leistungsstarken kleinen Rechnern, die benötigt werden. Erst diese Woche berichtete mir ein Berufssoldat, dass man an seinem Standort nicht einmal vernünftige Softwarelizenzen hat, mit denen man Entwicklungsarbeit betreiben kann, wie zum Beispiel für MATLAB. Nein, man muss auf Open-Source-Lösungen zurückgreifen oder sogar teilweise auf private Rechner, um überhaupt vernünftige Arbeit leisten zu können. Ein unhaltbarer Zustand!
Große Fragezeichen gibt es bei den Teilselbst- und bei den Selbsteinkleidern, bei verlässlichen Perspektiven für die Familienplanung und nicht zuletzt am Ende der Dienstzeit beim Übergang in den Ruhestand. Was gibt es für eine größere Bankrotterklärung für eine Armee, als wenn der Soldat nicht im Angesicht des Feindes, sondern angesichts der Probleme in der eigenen Armee Überzeugungen und Ideale verliert, sodass viele Kampfpiloten frühzeitig den Dienst quittieren. Jede 2-Prozent-Finanzdiskussion ist angesichts dieser Umstände völlig obsolet.
Zum Schluss gerne noch etwas Positives: Lieber Herr Dr. Bartels, Sie genießen ein sehr hohes Ansehen in der Truppe. Unsere Soldaten sind Ihnen und Ihrem Team für die schnelle und zielgerichtete Arbeit sehr dankbar. Der Bitte, diesen Dank an dieser Stelle einmal weiterzureichen, komme ich sehr gerne nach.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Michael Kuffer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Herr Wehrbeauftragter! Kolleginnen und Kollegen! Unsere Soldatinnen und Soldaten stehen nicht nur in der Mitte unserer Gesellschaft, sondern sie stehen in besonderem Maße auch für diese Gesellschaft und für diese Gesellschaft ein. Deshalb sage ich: Wir sind stolz auf sie. Sie leisten einen hervorragenden Dienst in einer Vielzahl von Einsätzen weltweit. Sie tragen international zur Friedenssicherung und zur Stabilisierung von Krisenregionen bei. Dafür verdienen die Soldatinnen und Soldaten unseren vollsten Respekt und unseren Dank.
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All das tun sie mit großer Motivation, bisweilen auch mit Herzblut, mit persönlichem Engagement. Sie stehen mit ihrer Gesundheit und, wenn es sein muss, mit ihrem Leben ein für unsere Sicherheit und unsere Freiheit. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Kaum eine andere Berufsgruppe verbindet mit ihrem beruflichen Engagement eine solch immense Opferbereitschaft. Das Wort von der Bereitschaft, alles zu geben, ist nirgendwo so buchstäblich gemeint wie bei unseren Soldatinnen und Soldaten.
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Gerade deshalb muss es selbstverständlich sein, dass wir als Deutscher Bundestag dafür Sorge tragen, dass diese Menschen in ihrem Dienst persönlich nach Kräften unterstützt werden und materiell bestmöglich ausgestattet sind. Diesen Handlungsbedarf haben wir in der Vergangenheit erkannt. Wir haben seitdem viel erreicht und die Trendwende in vielen Bereichen eingeleitet. Das ist gut; aber es genügt uns bei Weitem noch nicht. Deshalb müssen wir die Zielsetzung konsequent im Auge behalten und das bisher Erreichte weiter fortführen.
Die 2-Prozent-Zusage gegenüber der NATO gilt. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass wir unsere Bundeswehr zukunftsfähig, bedarfsgerecht und einsatzfähig für ihre Aufgaben ausstatten. Ich sage ganz deutlich: Wir stehen zu unseren Bündnisverpflichtungen. Ich muss in diesem Zusammenhang ganz offen sagen: Der vom Finanzminister hierzu vorgelegte Entwurf zum Haushalt 2020
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und zur mittelfristigen Finanzplanung genügt diesem Anspruch bei Weitem noch nicht. Als CSU sagen wir hier ganz klar, dass wir an dieser Stelle deutlich nacharbeiten müssen. Wir haben mit großem Einsatz einen positiven Trend erreicht. Diesen gilt es fortzusetzen. Einen Rückschritt akzeptieren wir nicht.
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Einer der wichtigsten Faktoren für eine moderne und zukunftsfähige Truppe wird – das ist schon angesprochen worden – ohne Zweifel die Nachwuchsgewinnung sein. Als CSU räumen wir diesem Thema hohe Priorität ein. Deshalb haben wir uns auch klar dafür ausgesprochen, die Bundeswehr an die Schulen zu holen; denn unsere Soldatinnen und Soldaten sind weit mehr als nur ein Teil unserer Sicherheitsarchitektur. Sie sind Staatsbürger in Uniform und eine tragende Säule unserer Gesellschaft. Deshalb – auch wenn es schon gesagt worden ist; ich kann es Ihnen nicht ersparen – kann man zu dem Vorstoß der Sozialdemokratie in Berlin, unsere Soldaten aus den Schulen auszusperren, auch nur den Kopf schütteln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Kopf hinhalten, das sollen sie. Aber sehen soll man sie nicht. Was für eine armselige Doppelmoral ist das denn?
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7200 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich weiß schon ziemlich genau, was in den Reden kommt, die nach mir folgen werden, nämlich dass wir Ihnen tierisch auf die Nerven gehen damit, dass wir schon wieder dieses Thema auf die Tagesordnung setzen,
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schon wieder kollektiver Rechtsschutz, schon wieder die Regulierung von Plattformen. Ich kenne das aus dem Ausschuss. Sie denken: Jetzt haben Sie die Musterfeststellungsklage, und jetzt geben Sie doch endlich mal Ruhe. – So funktioniert das aber nicht.
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Die Fragen, wie wir den Menschen besseren Zugang zur Justiz verschaffen, wie wir sie vor Betrug und Irreführung schützen, sind fundamental für das Vertrauen unserer Bürgerinnen und Bürger in diesen Staat.
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Hinter all diesen Fällen stehen Schicksale, und dahinter stehen auch Wut und viel Frust: wenn zum Beispiel Implantate schwere gesundheitliche Schäden auslösen, wenn Menschen deshalb nicht mehr arbeiten können, der Gang vor Gericht aber allein viel zu viel Geld und zu viel Kraft kostet; wenn Arbeitnehmer merken, dass in ihrem Betrieb bei Überstunden hier und da nicht richtig abgerechnet wird, sich aber kein Anwalt wegen der paar Pfennig vor Gericht begeben will; wenn Haushalte mit knappem Einkommen den Empfehlungen von Internetplattformen für den günstigsten Stromanbieter folgen, darauf vertrauen, um Geld zu sparen, dann aber dastehen und ihr Geld in den Wind schreiben können, weil dieser Anbieter insolvent ist.
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Vor einem Jahr hat die EU-Kommission im Rahmen des New Deal for Consumers Vorschläge für eine europäische Verbandsklage vorgestellt. Ein Jahr später gilt dieser Vorschlag als gescheitert, und die Bundesjustizministerin hat an diesem Scheitern ihren Anteil.
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Die wesentliche europapolitische Position zu fast allen Fragen in der Rechtspolitik ist die folgende, sie ist richtig knallig: Die Meinungsbildung dazu ist in der Bundesregierung noch nicht abgeschlossen. – Vorn stellt man sich tot, hinter den Kulissen wird bei jeder Initiative geschoben und gezerrt in der Koalition. Mit dieser Methode haben Sie nun auch die europäische Verbandsklage absaufen lassen. Dabei wäre sie gerade für uns hier in Deutschland eine Chance gewesen.
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Wir verlieren beim kollektiven Rechtsschutz tatsächlich immer mehr den Anschluss an andere Rechtsstandorte, an andere Mitgliedstaaten. Ich weiß, was jetzt kommt: Aber wir haben doch die Musterfeststellungsklage, für die wir sogar noch die wunderschöne Verpackung gebastelt haben: die Eine-für-alle-Klage. Diese Musterfeststellungsklage ist so großartig, dass sie unbedingt für ganz Europa zum Maßstab werden muss.
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– Das ist, mit Verlaub, ein überheblicher Unsinn, Herr Fechner.
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Die deutsche Musterfeststellungsklage ist ein Qualkonstrukt. Aus jeder einzelnen Vorschrift der ZPO dazu tropft die Furcht, dass unkontrollierbare Bürgerinnen und Bürger und Verbände das geltende Recht auch noch durchsetzen. Aber wo kämen wir da hin?
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Die Klagebefugnis ist immer enger definiert worden, gespickt mit Voraussetzungen für die Klagebefugnis eines Verbandes, die kein Verbraucher durchschauen kann. Den Geschädigten wurde tatsächlich die Entscheidung darüber genommen, wer sie vor Gericht vertreten soll. In Bereichen, wo es überhaupt keine hinreichend erfahrenen und finanzstarken Verbände gibt, wird es auch in Zukunft keine Musterfeststellungsklage geben, etwa bei Schäden durch fehlerhafte Medizinprodukte. Hier bleiben die Menschen allein. Der Rechtsstaat ist für die meisten nicht erreichbar.
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Gleichzeitig hängt die Zukunft des wichtigsten kollektiven Klageinstruments, das sich in der Praxis bereits gut bewährt hat, völlig in der Luft. Das Kapitalanleger-Musterverfahren hat Biss und Effizienz bewiesen in Deutschland,
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aber die Richterinnen und Richter an den OLGs wissen derzeit überhaupt nicht, ob sie ihre laufenden Verfahren noch werden abschließen können; denn das Gesetz tritt Ende 2020 außer Kraft.
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Aus dem Justizministerium höre ich dazu nur: Wir können noch nicht sagen, was wir mit diesem Gesetz machen, ob wir es beerdigen, ob wir es sterben lassen, ob wir die Prozesse zersprengen.
Die Bilanz nach einem Jahr Katarina Barley ist: Um den kollektiven Rechtsschutz steht es schlecht. In Brüssel haben Sie ihn blockiert, in Deutschland haben Sie ihm die Zähne gezogen.
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– Bei einem einzigen Verfahren, und Sie haben in der Zeit mit 150 gerechnet.
Auch bei der Regulierung von Vergleichsportalen hätte man sich von einer engagierten Verbraucherschutzministerin mehr erwartet. Sie haben doch das Beispiel der Insolvenz der Bayerischen Energieversorgungsgesellschaft vor Augen. Auf den Vergleichsportalen wurde noch für diesen Anbieter geworben, während die Verbraucherschützer schon längst gewarnt haben. Wir sind dem EU-Parlament dankbar, dass es zumindest hier nachgebessert hat, aber ausreichend ist diese Regulierung immer noch nicht, und das hat einen Grund: Deutschland hat im Rat für eine echte Regulierung nicht einen Finger gerührt.
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Ich hätte mir in diesem einen Jahr mit Katarina Barley als Justizministerin eines gewünscht. Ich hätte sie gern ein einziges Mal kämpfen sehen, egal für welches Thema. Bei irgendeinem Thema hätte ich gern gespürt, dass es ihr wichtig ist; aber da habe ich zu viel erwartet.
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Mein Schluss daraus ist: Keine noch so schöne Verpackung nützt etwas, wenn es an der Überzeugung fehlt. Also, Frau Ministerin – sie ist nicht da, wir haben sie im Ausschuss in dem ganzen Jahr auch nur zweimal gesehen –:
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Machen Sie es gut in Brüssel, oder machen Sie es zumindest besser als in Berlin.
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Das Wort hat der Abgeordnete Sebastian Steineke für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte anfangen mit einem Zitat von Theodor Fontane, der in diesem Jahr seinen 200-jährigen Geburtstag hätte: „Am Mute hängt der Erfolg“, hat er mal gesagt.
Genau in diesem Sinne haben wir im letzten Jahr die Musterfeststellungsklage auf den Weg gebracht und damit ein völlig neues Instrument der Rechtsdurchsetzung im kollektiven Bereich auf die Bahn gebracht. Nun sollten wir uns auch ein wenig Zeit nehmen, um dieses Instrument in der deutschen Rechtsordnung auch wirken zu lassen.
Heute behandeln wir aber in erster Linie einen Antrag, den die Grünen zum nationalen Verbandsklagerecht eingebracht haben. Sie fordern darin, das Ganze weiter auszubauen und dazu noch weitergehende Vorschriften zu erlassen. Darüber hinaus behandeln wir einen weiteren Antrag – darauf sind Sie kurz eingegangen –, der darauf abzielt, eine Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung nach Artikel 23 Absatz 3 Grundgesetz zum EU-Richtlinienpaket zum New Deal for Consumers, also der Modernisierung der Verbraucherschutzvorschriften, abzugeben.
Lassen Sie mich vielleicht noch ein paar Sätze zum Verfahren sagen. Das ist beispielgebend: Den Inhalt Ihres Antrags, den wir heute behandeln, kennen wir seit Mittwochnacht. Da erst ist er nämlich eingegangen. Das heißt, wir hatten nicht einmal zwei Tage Zeit, uns damit zu beschäftigen. Das ist insbesondere deswegen interessant, weil Sie ansonsten bei jedem Änderungsantrag der Koalition ganz besonders darauf gucken: Wie häufig ist er behandelt worden? Wann ist er eingereicht worden? Wie intensiv konnten wir uns damit beschäftigen?
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Das ist vielleicht nicht der richtige Stil, mit diesem Thema umzugehen; dazu ist das Thema zu wichtig.
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Dann könnte man sich natürlich auch fragen, warum Sie die Anträge – das gilt für beide Anträge – nicht früher eingebracht haben.
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Das Paket des New Deal for Consumers ist über ein Jahr bekannt. Das Verfahren lief lange genug, Sie hätten es zum Beispiel im Unterausschuss für Europarecht intensiv begleiten
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und mit den entsprechenden Hinweisen versehen können. Die Kollegin Keul wird sich noch an das Artikel‑23-Verfahren zur Small-Claims-Verordnung erinnern. Da haben wir gemeinsam so einen Antrag durchgebracht.
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– Der war gut, Kollege Fechner hat recht. Aber das hat uns sehr viel Zeit, nämlich mehrere Monate, gekostet. So etwas kann man nicht in zwei Wochen behandeln; das müssten eigentlich auch Sie wissen.
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Das ist, glaube ich, auch bei dem anderen Thema im Wesentlichen durch; denn auch Sie wissen – der Hinweis sei gestattet –, dass das Trilogverfahren in Brüssel abgeschlossen ist. Die Omnibus-Richtlinie ist entschieden. Wir und auch die Bundesregierung haben also faktisch keine Einflussmöglichkeiten mehr, es sei denn, das ganze Paket wird wieder aufgeschnürt. Ich weiß nicht, ob Sie das wollen. Ich glaube, nicht. Das wäre auch nicht im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher. Diesen Antrag heute in der Kürze der Zeit einzubringen, hat etwas mit Wahlkampf zu tun.
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– Frau Barley kann das entscheiden. Wir sind ja hier und diskutieren über Ihre Anträge.
Lassen Sie mich noch etwas zum Inhalt sagen. Die von Ihnen angesprochenen Forderungen zum Richtlinienentwurf zur Verbraucher-Verbandsklage – Sie beziehen sich ja insbesondere auf den Kommissionsentwurf mit Ihren Anliegen – gehen deutlich über das hinaus, was wir im letzten Jahr mit der Musterfeststellungsklage beschlossen haben. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein – das hat sie mehrfach gesagt –, dass zumindest die Grundlinien dieser Musterfeststellungsklage Einfluss auf die europäische Gesetzgebung haben.
Der Entwurf der Kommission ist nun faktisch ein kompletter Gegenentwurf zu dem, was wir hier in Deutschland haben. Das ist vollkommen richtig; das ist unbestritten. In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch mal ein paar Dinge zum Thema Verbandsklagerecht sagen, die in diesem Richtlinienvorschlag der Kommission stehen und an denen auch Sie vieles in den Diskussionen der letzten Jahre hier zu Recht kritisiert haben. Sie sagten nämlich: Das wäre ja Sammelklage pur nach amerikanischem Vorbild. – Genau das sieht der Entwurf der Europäischen Kommission aber vor: die Verbindung von Unterlassungsklage und Schadensersatzklage,
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das Opt-out-Modell, die Möglichkeit der privaten Drittfinanzierung durch Hedgefonds, das „Loser pays“-Prinzip, das Discovery-Verfahren, die Ausforschungsbeweise nach amerikanischem Vorbild. Das alles ist dort vorgesehen. Und das wollen Sie? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.
Ich glaube, wir sollten uns schon ehrlich machen und sagen: Das sind alles Punkte, die auch Sie – übrigens zu Recht – immer kritisiert haben. Sie können doch jetzt nicht allen Ernstes einfordern, dass wir sie auf europäischer Ebene umsetzen.
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Die Folge der von der Kommission vorgeschlagenen Variante wäre dann tatsächlich das, was wir hier ständig diskutieren und wir alle nicht wollen – das nehme ich Ihnen ab –: eine „Klageindustrie“. Ich glaube, da ist die Musterfeststellungsklage doch der deutlich bessere Weg.
Sie kritisieren in Ihrem Antrag auch – das ist ein altes Thema, das wissen wir –, dass wir die engen Anforderungen, die wir bei der Musterfeststellungsklage haben, auch auf europäischer Ebene anstreben. Diese aus unserer Sicht sehr richtige Auffassung der Bundesregierung hat auch einen klaren Hintergrund. Wenn nämlich die derzeitigen Vorschläge der Europäischen Kommission Wirklichkeit werden würden, dann könnten Sie in jedem Land der Europäischen Union mit den schmalsten Voraussetzungen, die dort herrschen, einen klagebefugten Verband gründen, und dieser könnte dann in der gesamten Europäischen Union das Verbandsklagewesen betreiben. Das kann doch auch nicht das Ziel der Übung sein; dann wird nämlich dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet, und das wollen wir nicht.
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Ich fasse das kurz zusammen und schenke Ihnen zwei Minuten des Freitagnachmittags:
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Ihre Wünsche zur Verbrauchersammelklage sowohl im nationalen als auch im europäischen Bereich lehnen wir ab. Wir haben das hier gut begründet. Wir begrüßen grundsätzlich, dass der New Deal for Consumers die Verbraucherrechte überarbeitet und auf den neuen, auch digitalen Stand bringt. Die Stellungnahme nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes ist schlichtweg überflüssig, weil der Trilog abgeschlossen ist. Deutschland hat sich dort aus guten Gründen enthalten. Die Themen „Dual Quality“ – oder nennen wir es lieber: Nutella-Klausel –, „Sanktionen“ oder „Überprüfungsklausel“ haben dazu geführt, dass die Bundesregierung nicht zugestimmt hat, und das war auch richtig. Deswegen werden wir Ihren Anträgen nicht zustimmen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Professor Dr. Lothar Maier für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kaum ist das Musterverfahrensgesetz in Kraft getreten, legt die EU-Kommission einen Richtlinienentwurf zur Verbandsklage vor, der zumindest in Teilen deutlich verbraucherfreundlicherer und vor allem praktikabler erscheint als die komplizierte Struktur der Musterverfahrensklage.
Natürlich kannte das Bundesministerium der Justiz die erwarteten Inhalte dieser Richtlinie. Ministerin Barley wollte diese Regelung aber nicht abwarten. Um zu verhindern, dass eine Frist abläuft, peitschte sie das Musterverfahrensgesetz als eine Lex Volkswagen im Eiltempo durch.
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Die bei einer Anhörung vorgetragenen zahlreichen Vorbehalte gegen Teile des Gesetzes wurden ignoriert. Es ging ihr darum, dem größten Automobilhersteller des Landes und einem der wichtigsten Arbeitgeber einen Schlag zu versetzen, und zwar in dem Moment, in dem er durch eine abenteuerliche Elektromobilitätspolitik ohnehin in großen Schwierigkeiten steckt. Eine wahrhaft seltsame Aufgabe für eine deutsche Ministerin.
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Da spielt es dann auch keine Rolle mehr, dass die Zahl der bisher eingereichten Klagen meilenweit hinter den Erwartungen zurückbleibt. Bezeichnend ist auch der Umstand, dass das Ministerium augenscheinlich nicht versuchte, die Inhalte des eigenen Gesetzentwurfs zu europäisieren – wohl wissend um die Chancenlosigkeit eines solchen Unterfangens.
Während die Musterfeststellungsklage die ihr angeschlossenen Verbraucher am Ende des Verfahrens erst einmal mit leeren Händen dastehen lässt und sie zu einem zweiten, nun individuellen Verfahren mit all den rechtlichen Unwägbarkeiten und dem hohen Zeitverlust durch doppelte Gerichtsverfahren zwingt, ermöglicht der EU-Entwurf, den in einer Sammelklage auftretenden Verbrauchern unmittelbar mit der Entscheidung den Zugang zu einer Entschädigung. Zu begrüßen ist hier auch der Rekurs auf die klassischen Rechtsinstrumente der Wandlung und Minderung und insbesondere die Feststellung der Rechtswidrigkeit von Praktiken. Gut ist sicher auch die im EU-Entwurf vorgesehene einheitliche Regelung des Verbots bestimmter Praktiken, nachdem dies bisher in Deutschland nur lückenhaft in bestimmten Gesetzen vorhanden ist, die sich auf einzelne Gebiete wie die Werbung oder das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen beziehen.
Natürlich weist auch der Richtlinienentwurf etliche Unzulänglichkeiten und praxisfremde Elemente auf wie zum Beispiel die gänzlich unrealistische Vorstellung, Unternehmen hätten jeden einzelnen vom Gegenstand einer Verbandsklage betroffenen Verbraucher hierüber zu informieren. Das ginge nur, wenn die Verbraucher beim Kauf jedes noch so belanglosen Produktes eine ladungsfähige Anschrift hinterließen. Er nährt auch den Verdacht, dass dadurch die für Europa nicht akzeptablen Opt-out-Praktiken durch die Hintertür eventuell doch noch eingeführt werden sollen.
Der Antrag der Grünen erkennt auf der einen Seite die bessere Alternative, die der Richtlinienentwurf gegenüber der Musterfeststellungsklage darstellt, entwertet ihn aber zugleich, indem er den Kreis der klagebefugten Institutionen auf spezielle, den Grünen ideologisch nahestehende Einrichtungen wie die Deutsche Umwelthilfe erweitern will. Hier muss an den bewährten klagebefugten und allgemein anerkannten Institutionen festgehalten werden, wie sie ja schon seit vielen Jahren im UWG und AWG, aber auch im nicht so lange bestehenden KapMuG festgelegt sind.
Aus dem prachtvollen Denkmal für die Ministerin Barley, das die Musterfeststellungsklage wohl darstellen sollte, könnte so schon bald ein verwitternder juristischer Grabstein werden. Aber eine 150-prozentige EU-ropäerin wie die Ministerin wird das sicherlich nicht stören.
Ich danke Ihnen.
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Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Sarah Ryglewski das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank, Frau Rottmann, dank Ihrer Rede wissen wir jetzt auch, warum wir uns hier mit zwei fast inhaltsgleichen Anträgen beschäftigen. Herzlich willkommen! Die Grünen sind im Europawahlkampf angekommen.
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Ich muss Ihnen sagen: Das tut der Qualität Ihrer politischen Arbeit nicht gut. Das Einzige, was mir an Ihrem Antrag gefällt, ist der Titel: „Kollektiven Rechtsschutz ausbauen und nicht ausbremsen“. Super; darin sind wir uns, glaube ich, fast alle einig. Genau das würde ich mir auch von Ihnen wünschen; denn das, was Sie hier jetzt schon seit Monaten machen, ist mehr als kontraproduktiv für den kollektiven Rechtsschutz in Deutschland.
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Wir haben mit der Musterfeststellungsklage ein wirksames Instrument eingeführt, mit dem die Verbraucherinnen und Verbraucher zügig und ohne Kostenrisiko ihr Recht einklagen können. Das ist ein Meilenstein für den Verbraucherschutz in Deutschland,
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den Sie nicht müde werden kaputtzureden –
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und das, obwohl mit der Klage des vzbv gegen VW mittlerweile die europaweit größte Sammelklage auf den Weg gebracht wurde. Sie können noch so sehr dagegenreden: Das ist einfach Fakt, und das ist ein Meilenstein für den Verbraucherschutz.
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Was machen die Grünen? Sie befassen sich nicht im Detail mit dem Instrument und werben auch nicht dafür, dass noch mehr Verbraucherinnen und Verbraucher auf diesem Weg zu ihrem Recht kommen. – Durch dieses Instrument wird es zu mehr Klagen kommen, und zwar auch in den Bereichen, für die wir das Gesetz originär gedacht haben. Ich betone es noch mal: Das ist hier keine Lex VW, vielmehr geht es uns gerade darum, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht daran gehindert werden, aufwendige – auch zeitaufwendige – Verfahren zu führen. Sie wissen vielleicht auch gar nicht, dass sie Rechtsansprüche haben. Wir sagen: Das können Verbände besser identifizieren, am Beispiel vzbv sieht man das ja ganz deutlich. Wenn an einer Stelle vermehrt Probleme auftreten, dann kann ein Verband das Instrument nutzen und sagen: Wir reichen eine Klage ein, öffnen das Klageregister, machen die Verbraucherinnen und Verbraucher darauf aufmerksam, dass sie hier Rechte haben, und ermöglichen es ihnen, ihre Rechtsansprüche durchzusetzen.
Genau dieses Instrument haben wir bei der Musterfeststellungsklage gewählt. Damit wollen Sie sich aber überhaupt nicht befassen.
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Wir haben die Musterfeststellungsklage als Verbandsklage ausgestaltet. Wenn man das tut, dann muss man die Klagebefugnis im Sinne des Verbraucherschutzes an bestimmte Kriterien knüpfen.
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Anders geht es nicht, und das ist im deutschen Recht auch nichts Ungewöhnliches.
Wir haben das Thema Unterlassungsklagegesetz, an dem sich die Kriterien orientieren, schon genannt. Wenn man den Grünen zuhört, dann kann man den Eindruck gewinnen, hier wären unüberwindliche Hürden aufgebaut worden, als wäre es für einen Verband quasi unmöglich, sich hier als qualifizierte Einrichtung eintragen zu lassen. Das ist mitnichten der Fall.
Laut der Argumentation der Grünen ist es beispielsweise unzumutbar, dass ein Verband, der eine Klage stellvertretend für eine Vielzahl von Menschen führt, eine gewisse Mitgliedszahl haben soll, nachgewiesene Verbraucherinteressen vertritt, über die entsprechende Kompetenz in diesem Bereich verfügt, die Klage nicht zum Zweck der Gewinnerzielung führt und in seinen finanziellen Mitteln nicht durch Zuwendungen von Unternehmen bestimmt wird.
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Das ist für mich, ehrlich gesagt, eine Selbstverständlichkeit.
Deswegen, denke ich, ist es auch nachvollziehbar, dass wir sagen: Diese Kriterien möchten wir auch auf europäischer Ebene angewandt sehen. Ich habe von Ihnen, ehrlich gesagt, noch kein vernünftiges Argument dagegen gehört.
Ich glaube nicht, dass irgendwer in diesem Raum ein Interesse daran hat, dass wir so was nicht an Kriterien knüpfen, mit der Folge, dass dann zum Beispiel die großen Automobilkonzerne in Deutschland einfach den verbraucherschützenden Verband Deutschland gründen könnten und damit klageberechtigt wären. Wollen wir so was? Nein.
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Eine Liste der registrierten qualifizierten Einrichtungen ist im Übrigen auch auf der Internetseite des BMJV für alle einsehbar. Wer das googelt, findet das sofort. Die Behauptung, für Verbraucherinnen und Verbraucher sei nicht nachvollziehbar, wer klagebefugt ist, wie Sie das in Ihrem Antrag ausführen, ist einfach falsch.
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Ihre Unterstellung, wir wollten gezielt – und dann auch noch in persona der Ministerin höchstpersönlich – unliebsame Verbände von der Klagebefugnis ausschließen oder gar eine Klage durch einen vermeintlich unbefugten Verband vereiteln, ist nichts anderes als eine Unterstellung.
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In Bezug auf die von Ihnen genannte Deutsche Umwelthilfe ist das besonders absurd. Wenn Sie „BMJV, klagebefugte Verbände“ googeln, dann stellen Sie fest: Die Deutsche Umwelthilfe erfüllt die Kriterien; sie ist klagebefugt.
Ich würde Ihnen deswegen einfach mal empfehlen, dass Sie die Dinge auch mal auseinandersortieren.
Wir haben hier über das Pro und Kontra des von Ihnen favorisierten Gruppenverfahrens diskutiert, und wir haben in verschiedenen Diskussionen – sowohl in diesem Hohen Hause als auch im Ausschuss – auch darüber gesprochen, dass wir uns anschauen werden, ob wir mit der Musterfeststellungsklage tatsächlich den Effekt erreichen, den wir erreichen wollen. Unsere Zielsetzung ist, dass wir schnell zu einer Feststellung von Rechten kommen und dass Rechtsklarheit herrscht, und wir setzen darauf, dass sich die Leistungsansprüche dann über Schiedsverfahren klären lassen. Wir haben aber auch immer gesagt: Wir behalten das im Auge und gucken uns an, was wir machen müssen, wenn das nicht erfolgt.
Es war notwendig, die Systematik der Musterfeststellungsklage so auszugestalten, wie wir das getan haben. Sich einfach hinzustellen und zu sagen: „Das nehmen wir weg; es ist eine Unzumutbarkeit, Kriterien an klagebefugte Verbände zu knüpfen“, macht deutlich, dass Sie einfach nicht bereit sind, sich auf die innere Logik dieses Konstruktes einzulassen und hier die Vorteile zu sehen. Das ist pure Ideologie, oder besser gesagt – mit Verweis auf das Datum –: Das ist Wahlkampf.
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Das Wort hat die Kollegin Katharina Willkomm für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der nahe Termin der Europawahl hat etwas Gutes, die problematische Urheberrechtsrichtlinie hat etwas Gutes, selbst der Brexit hat etwas Gutes,
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nämlich das viel größere Interesse der Bürgerinnen und Bürger, wenn wir uns im Bundestag mit Europathemen befassen.
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Die Menschen sehen zu, wenn wir das Vorgehen der Bundesregierung offenlegen; denn über die wirklich relevanten Punkte informiert diese Regierung das Parlament oft zu spät.
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Sie teilt im Nachgang mit, was ihre Ministerinnen und Minister in Brüssel mitentschieden haben. Deshalb ist es gut, dass der Antrag der Grünen diesen Punkt adressiert.
Der Antrag nimmt nicht die EU-Verbandsklage aufs Korn, sondern den PR-Erfolg von Justizministerin Barley, die Musterfeststellungsklage, auch als „Eine-für-alle-VW-Dieselkunden-Klage“ bekannt geworden.
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Warum spricht der Antrag kaum über die EU-Verbandsklage? Warum sind die Grünen so deutschlandfixiert? Weil die GroKo – von der Justizministerin bis zu den rechtspolitischen Sprechern – einer verwegenen Theorie anhängt! Sie lautet: Wir, die Bundesregierung, können den anderen EU-Mitgliedstaaten unsere halbgare Musterfeststellungsklage als Vorbild verkaufen.
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Das wiederum ist wie der Brexit, nämlich eigentlich nicht zu fassen.
Die Grünenkritik an der Musterfeststellungsklage ist berechtigt, auch wenn Ihr Argument Ihren Vorwurf nicht immer belegt. Ein Beispiel:
Sie sagen, die Voraussetzungen für die Klagebefugnis sind zu eng gefasst. Das stimmt. Ihr Beweisstück Nummer eins, die Abweisung der Musterfeststellungsklage gegen die Mercedes-Benz Bank, belegt aber nicht, dass die Voraussetzungen für die Klagebefugnis zu eng gefasst sind, es belegt nur, dass das OLG Stuttgart die Voraussetzungen des § 606 ZPO im Sinne des Gesetzgebers eng auslegt. Das Gericht hat darauf bestanden, dass die Klageführerin belegt, dass sie 350 Mitglieder hat. Die Klageführerin wollte oder konnte das nicht. Also wurde die Klage abgewiesen.
Zutreffend ist hingegen, dass die Große Koalition die Klagebefugnis von Bedingungen abhängig macht, die für den Verbraucher von außen nicht abschätzbar sind.
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Andererseits ist das bei auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffen oft so. Das kann auch sinnvoll sein, damit ein Gesetz auf unterschiedliche Lebenssachverhalte anwendbar bleibt.
Das Problem bei der Sache ist: Die einzelnen Verbraucherinnen und Verbraucher haben denkbar wenig Lust, mithilfe ihres individuellen, einmaligen Falls einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung des Prozessrechts zu leisten; denn die Betroffenen wollen im Ergebnis ihr Geld zurück, und dafür taugt der § 606 ZPO fast genauso wenig wie eine Musterfeststellung als Vollstreckungstitel.
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Im Rechtsausschuss hat die Regierung sinngemäß mitgeteilt: Selbst wenn so ein Verfahren wie das Stuttgarter ins Wasser fällt, stehen die mitklagenden Verbraucher trotzdem nicht schlechter als vorher da; denn sie haben mit der Eintragung ins Klageregister sichergestellt, dass ihre Ansprüche nicht verfristen. – Formal mag das so sein. Der Rechtsfrieden wird aber zuvor beschädigt. Wie lange die Bürger auf den Rechtsstaat vertrauen, berechnet sich nicht nach den Fristen im BGB.
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Dem Antrag der Grünen stimmen wir nicht zu, aber dem Appell der Grünen an die Regierung schließen wir uns an: Übertragen Sie die Schwächen der Musterfeststellungsklage nicht nach Europa!
Vielen Dank.
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Amira Mohamed Ali hat nun für die Fraktion Die Linke das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir sprechen heute über zwei EU-Richtlinienentwürfe, der eine zum Thema Verbandsklagerecht und der andere zum sogenannten New Deal for Consumers. Hier sind die Verhandlungen abgeschlossen. Der Richtlinie ist aber noch nicht zugestimmt worden. Deutschland hat sich bisher enthalten.
Ich möchte als Erstes zum New Deal for Consumers kommen und hier einige Punkte aufgreifen, die wir als Linke sehr erfreulich finden. Unternehmen, die gegen Verbraucherschutzvorschriften verstoßen, sollen mit einer Strafzahlung in Höhe von bis zu 4 Prozent des Unternehmensumsatzes belegt werden können. Eine gute Regelung!
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Denn so kann verhindert werden, dass große Unternehmen Rechtsverstöße in Kauf nehmen, weil sie potenzielle Strafen einfach aus der Portokasse zahlen können.
Die Bundesregierung hat in den Verhandlungen dafür gesorgt, dass diese Regelung aufgeweicht wurde. Sie gilt nun nur noch für besonders weitreichende Verstöße – eine Schwächung des Verbraucherschutzes zum Wohle der großen Konzerne. Wir halten das für inakzeptabel.
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Es geht in der Richtlinie außerdem um Transparenz. Das ist für uns ein Kern des Verbraucherschutzes; denn nur gut informierte Verbraucherinnen und Verbraucher können freie Konsumentscheidungen treffen. Es muss zum Beispiel leicht erkennbar sein, welche Qualität ein Nahrungsmittel hat. Das ist nicht immer der Fall. Das Stichwort „dual quality“ ist heute schon einmal gefallen.
Es gibt Produkte, die vom gleichen Hersteller EU-weit verkauft werden: gleicher Name, gleiche Verpackung, äußerlich kein erkennbarer Unterschied. Die Produkte haben aber unterschiedliche Zusammensetzungen, je nachdem, in welchem Land sie vermarktet werden: Mal ist mehr Zucker drin, mal sind die Basisprodukte von unterschiedlicher Qualität.
Die EU-Richtlinie verlangt nun, dass unterschiedliche Rezepturen auf der Verpackung gekennzeichnet werden. Die Lebensmittelindustrie möchte das nicht und begründet das damit, dass es doch wohl möglich sein müsse, regionalen Vorlieben zu entsprechen. Auch die Bundesregierung argumentiert so und hat aus diesem Grund, wie gesagt, der Richtlinie nicht zugestimmt.
Aber die Begründung ist fadenscheinig. Unterschiedliche Rezepturen sollen ja nicht verboten werden, sie müssen nur gekennzeichnet werden. Eine regionale Spezialisierung wäre ja eigentlich ein Verkaufsargument. Wer die Kennzeichnung nicht will, der will gleiche Qualität vortäuschen, wo keine ist. Dass die Bundesregierung sich gegen diese Kennzeichnung ausspricht, ist wieder eine Entscheidung gegen die Verbraucherinteressen zum Wohle der großen Konzerne. Das lehnen wir ab.
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Das Thema „Transparenz bei Onlinemarktplätzen“ wird in der Richtlinie auch behandelt. Es soll angezeigt werden, nach welchen Kriterien Rankings vergeben werden. Aufklärung über Widerrufs- und Gewährleistungsrechte ist eine gute Sache. Die Grünen kritisieren zu Recht, dass diese Regelungen so nicht für Vergleichsportale gelten. Sie koppeln die Zustimmung zur Richtlinie daran, dass diese Regelung auf die Portale erweitert wird. Da sind wir der Meinung: Das ist falsch. Die Richtlinie enthält sehr viele positive Aspekte und Veränderungen, die für die Verbraucherinnen und Verbraucher gut sind. Man sollte die Zustimmung nicht an diese Erweiterung koppeln, auch wenn es sicher noch besser geht; da stimmen wir zu.
Ich möchte jetzt auf einen letzten Aspekt der Richtlinie eingehen, bei dem es tatsächlich noch sehr viel besser geht – davon war heute noch gar nicht die Rede –: Das ist das Thema individualisierte Preise. Viele Menschen kennen das vielleicht gar nicht. Das bedeutet, dass auf der gleichen Verkaufsplattform das gleiche Produkt zu unterschiedlichen Preisen angeboten wird, je nachdem, wer gerade vorm Rechner sitzt. Ein Algorithmus analysiert den Konsumenten nach Einkommen, nach Wohnort, nach Beruf, nach Kaufverhalten, nach allem, was im Internet über diesen Verbraucher bekannt ist oder was Siri, Alexa und Co so alles mithören, und kalkuliert danach den Preis. Nach welchen Kriterien er zustande kommt, ist unklar. Wie die Preisspannen sind, ist unklar.
Die EU möchte nun, dass die Verkaufsplattform wenigstens angeben muss, dass sie individualisierte Preise hat. Aber das geht überhaupt nicht weit genug! Die Linke sagt: Das sollte es nicht geben. Stellen Sie sich einmal vor, Sie gehen in den Supermarkt, und je nachdem, wer gerade vor dem Verkaufsregal steht, erscheint ein anderer Preis. Das ist doch absurd.
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Hier brauchen wir eine gesetzliche Regelung gegen dieses Konsumentenranking.
Verbraucherrechte allein aber nützen nichts, sie müssen auch effektiv durchsetzbar sein. Jetzt komme ich zur Verbandsklage. Wir unterstützen den Vorschlag der Grünen an dieser Stelle. Die EU möchte nämlich – so war ja der Ansatz – ein einstufiges Verfahren. Das heißt, der Verband klagt stellvertretend für die geschädigten Menschen. Dann wird direkt ein Schadensersatz ausgeurteilt. Wenn also zum Beispiel ein Stromkonzern zu hohe Preise berechnet hat, dann wird von einem Verband oder der Verbraucherzentrale geklagt. Dann werden die Kunden aus einem Verfahren direkt entschädigt. Ein gutes Konzept! Wir unterstützen das.
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Bereits bei der Musterfeststellungsklage haben wir die Bundesregierung aufgefordert, genau das einzuführen: eine direkte Entschädigung aus einem Verfahren. Bekanntermaßen ist die Bundesregierung dieser Forderung nicht gefolgt. Daher werden jetzt zum Beispiel die Geschädigten des Diesel-Abgasskandals, die sich der Musterfeststellungsklage der Verbraucherzentrale und des ADAC angeschlossen haben, nach erfolgreichem Verfahren jeder für sich noch einmal individuell auf Schadensersatz klagen müssen.
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– Herr Kollege, Sie sagen gerade: Das stimmt nicht. – Das stimmt dann nicht, wenn es einen Vergleich mit dem Konzern gibt. Aber ein Klageinstrument kann doch nicht darauf abzielen, dass man sich hinterher vergleicht und dieses Instrument nicht wirklich ausnutzt. Entschuldigung, das ist ja absurd.
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Das ist kein gutes Konzept. Dennoch will die Bundesregierung ausgerechnet diese Musterfeststellungsklage als Blaupause für die EU durchsetzen.
Auch hier wollen Sie wieder den Verbraucherschutz zum Wohle der großen Konzerne schwächen. Aber das ist und bleibt für Die Linke inakzeptabel. Das ist typisch für Sie. Aber wir werden da nicht mitgehen.
Vielen Dank.
({7})
Professor Dr. Heribert Hirte hat nun für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Ein Antrag befasst sich mit Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes, also mit einer Anweisung an die Bundesregierung zu einem bestimmten Verhalten im Ministerrat. Das kam hier außer beim Kollegen Steineke, der gesagt hat: „Dafür ist es zu spät“ – das ist in der Tat so –, kaum zur Sprache.
In Wirklichkeit geht es, was nicht schlimm ist, um die Frage von Verbraucherschutz, um die Musterfeststellungsklage und die Sammelklage, also um ganz allgemeine Fragen, die wir im Bereich des Prozessrechts adressieren wollen. Deshalb möchte ich auf die Fragen, die Sie in Ihrer Begründung ausführlich angesprochen haben, ein wenig eingehen.
Ein angesprochenes Problem ist die Klagebefugnis, bei der Sie darauf verweisen, dass das OLG Stuttgart in einem der anhängigen Fälle die Klagebefugnis verneint habe. Ja, in der Tat, das ist ein Problem. Allerdings ist die Entscheidung noch nicht rechtskräftig. Wir werden abwarten müssen, was der Bundesgerichtshof dazu sagt, ob hier wirklich ein Problem besteht und ob das Problem möglicherweise durch Nachsteuern des Gesetzgebers zu regeln ist.
Aber wir haben auch schon gehört, es gebe Listen, es gebe eine alternative Liste nach dem UKlaG, die wir ganz bewusst nicht eins zu eins übertragen wollten. Wir wollen sie deshalb nicht eins zu eins übertragen, weil Verbände, die solche Klagen erheben, in einer gewissen Weise ein öffentliches Interesse wahrnehmen. Bei der Frage der Wahrnehmung öffentlicher Interessen müssen andere Kriterien angelegt werden. Oder jedenfalls meinen wir, dass andere Kriterien angelegt werden müssen, als das bislang der Fall ist. Es müssen nämlich besondere spezifische Anforderungen an die Mitgliedschaft, an die Finanzierung solcher Verbände und auch an die interne Corporate Governance gestellt werden. Deshalb haben wir das hier im Moment erst einmal offen gelassen.
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Ein zweiter Punkt, weil Sie das Problem einer möglicherweise drohenden Verjährung ansprechen. Ja, man könnte sich vorstellen – wir haben das auch diskutiert –, mit einem klarstellenden Eröffnungsbeschluss deutlich zu machen, ab wann die Zulässigkeit der Klage begründet ist, um die Punkte Verjährungsunterbrechung und Risiko, das meines Erachtens nicht besteht, einer größeren Klärung zuzuführen. Darüber wird man gegebenenfalls noch einmal reden müssen.
Ein weiterer Punkt ist – ich glaube, dass Sie da sehr im Allgemeinen bleiben –: Wenn Sie sich die Fälle ansehen, die im Augenblick anhängig sind – OLG Braunschweig, OLG Stuttgart –, dann werden Sie feststellen, dass die Hauptdiskussion die über die Befangenheit der Richter ist. Das treibt die Parteien auf allen Seiten zu Recht um. Das führt zu ellenlangen Schriftsätzen, zu Diskussionen über die Frage, ob die Personen, die da sitzen, wirklich unparteiisch entscheiden können.
Ich glaube, das ist ein veritables Problem. Es ist deshalb ein Problem, weil es in dem einen Falle um 400 000 und mehr Kläger geht und die Macht der Richter in diesen Fällen etwa der entspricht, die wir als Parlamentarier haben. Diese Tatsache auf der Seite der klagebefugten Verbände, aber auch auf der Seite der Justiz anzusprechen und zu adressieren, halte ich für einen wichtigen Punkt. In Ihrem Antrag steht davon nichts.
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Deshalb sehen wir sehr allgemein, dass die Eins-zu-eins-Übertragung der ZPO-Regeln, die ja auf den Zweiparteienprozess zugeschnitten sind, auf solche kollektiven Regeln noch am Anfang steht. Also, hier ist möglicherweise Handlungsbedarf.
Es zieht sich durch Ihre beiden Anträge, dass die Musterfeststellungsklage keine Leistungsklage sei, dass man zweimal klagen müsse. Mein Eindruck ist, dass Sie die praktischen Erfahrungen in der Justiz nicht haben; denn wenn Sie komplexe Sachverhalte haben – unser Kollege hat es eben gesagt –, dann ist die Auflösung der Komplexität der erste, der entscheidende, der wichtigste Schritt. Sie brauchen in einem Bauprozess als Erstes das Beweissicherungsverfahren. Wenn Sie das Beweissicherungsverfahren erfolgreich durchlaufen haben, werden die anderen Fragen am Ende erledigt. Das bedeutet, dass wir hier im Bereich der Tatsachenermittlung arbeiten müssen. Wir müssen möglicherweise über eine Reform des § 142 ZPO – Vorlage von Unterlagen – und solche Dinge nachdenken, damit der Sachverhalt, über den gestritten wird, anschließend richtig festgestellt ist. Das heißt, die weiteren Schritte, die Sie immer adressieren, sind nicht das wirkliche Problem.
Wenn Sie sich das Vorbild, das wir ja gar nicht übernehmen wollten, ansehen, nämlich die amerikanische Sammelklage, dann wissen Sie: Auch da gibt es am Ende der Sammelklage kein vollstreckbares Leistungsurteil. Da wird anschließend in einem weiteren Verfahren eine Summe letztlich unter gerichtlicher Aufsicht – das entspricht dem zweiten Verfahren, das wir hier vorgesehen haben – verteilt. Insofern besteht hier also kein Handlungsbedarf, jedenfalls nicht aus diesem Grunde.
Ein zweiter Punkt, den ich ansprechen möchte – Sie haben das in Ihrem Antrag am Rande erwähnt –, betrifft das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, das zum 1. November 2020 auslaufen soll. In der Tat ist es wichtig, zu klären, wie es hier weitergehen soll. Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie hierauf in der Regierungsbefragung keine zufriedenstellende Antwort bekommen haben. Ich selbst habe im Unterausschuss Europarecht die gleiche Frage gestellt und ebenfalls keine zufriedenstellende Antwort bekommen. 17 000 Klagen, die allein im Fall Telekom noch anhängig sind, können nicht einfach auslaufen; da bin ich mit dem baden-württembergischen Justizminister Wolf einig. Er hat in einem Schreiben, das mir vorliegt, mitgeteilt, das sei keine Lösung, das habe das OLG Stuttgart ihm so mitgeteilt. Ich kann mich dem nur anschließen. Deshalb hoffe ich, dass die Bundesregierung diesen Ansatz aus Baden-Württemberg übernimmt und dass wir gemeinsam möglicherweise über eine Zusammenführung der beiden Verfahren nachdenken und damit auch die weiteren Reformpunkte, die sich möglicherweise stellen, adressieren können.
Herzlichen Dank und auf weitere gute Arbeit bei diesem Projekt! Die Musterfeststellungsklage ist zumindest für den Augenblick ein richtiger Ansatz.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Stephan Brandner für die AfD-Fraktion.
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Meine Damen und Herren! Wir reden heute über einen Antrag der Grünen, über den wir gar nicht reden müssten, wenn man im vergangenen Jahr auf uns von der AfD gehört hätte; denn die Art und Weise, wie das Gesetz zur Musterfeststellungsklage hier vergangenes Jahr durchgepeitscht wurde, spottet jeder Beschreibung. Dem Entwurf der Bundesregierung zuzustimmen, war verantwortungslose Politik vom Feinsten. Und ihr, liebe Koalitionsfraktionen, habt da mitgemacht, offenbar auch wieder aus dem Kanzleramt gesteuert, wie ich gestern schon ausführte.
Zur Erinnerung – Herr Steineke, Sie haben sich gerade über zu kurze Fristen beschwert; Sie hätten nicht mal zwei Wochen Zeit gehabt –:
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Wir berieten das Gesetz im vergangenen Jahr zum ersten Mal am 7. Juni 2018. Die Anhörung der neun Sachverständigen erfolgte am 11. Juni, also vier Tage später. Am 14. Juni, also noch mal drei Tage später, erfolgte die Schlussberatung, und fertig war Ihr großkoalitionäres Murksgesetz.
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Dass dabei nichts Gutes herauskommen konnte, war jedem von Anfang an klar. Sie wissen es ja selber: Noch flotter ging nur die wegen akuten Geldmangels der im Aussterben begriffenen SPD
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im Hauruckverfahren durchgepeitschte Änderung des Parteiengesetzes – ein hemmungsloser Griff in die Steuerkasse.
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Das ging noch schneller. Aber dieses Murksgesetz hier war auch nicht viel besser.
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Sie haben im Gesetzgebungsverfahren zur Musterfeststellungsklage beeindruckend auch gezeigt, welchen Stellenwert Sie Sachverständigenanhörungen beimessen, nämlich gar keinen.
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Für Sie gilt: Augen zu und durch. Eine Anhörung ist für Sie offenbar nichts anderes als eine Scheinbeteiligung von Experten, die keinen Einfluss auf das aus Ihrer Sicht wohl unfehlbare Wissen der Regierungsfraktionen haben soll. Sämtliche Angehörten – Professoren, Vertreter von Verbraucherschutzverbänden und andere mit der Materie vertraute Experten – bis auf einen waren sich einig, dass dieser Gesetzentwurf, der im vergangenen Jahr vorgelegt wurde,
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entweder deutlich verbessert werden müsse oder aber gar nicht verabschiedet werden dürfe. Aber die zahlreichen Änderungs- und Verbesserungsvorschläge ließen Sie von der Großen Koalition einfach außen vor. Das war Koalitionsdilettantismus pur, meine Damen und Herren.
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Von Anfang an hatten Sie auch nichts anderes geplant. Das sieht man auch an der überstürzten Ansetzung der zweiten Beratung unmittelbar nach der Sachverständigenanhörung, als noch nicht einmal das Protokoll vorlag. Also nicht nur keine zwei Wochen, Herr Steineke; es waren gerade mal drei Tage.
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Das ist Ihr verschrobenes Demokratieverständnis, meine Damen und Herren von der Koalition. Unser Demokratieverständnis, das der AfD, ist das nicht.
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Das Ignorieren vernünftiger Vorschläge von sämtlichen Experten – bis auf einen –, nur um in Rekordzeit das Gedenkgesetz bzw. ein Denkmal, wie der Kollege Maier sagte, für eine nach Brüssel flüchtende Ministerin umzusetzen, war schlicht schlecht.
Herr Brandner, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung von Herrn Hoffmann?
Nein, das mache ich besser nicht; denn das kommt auf YouTube nicht so gut. Danke schön.
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Die YouTube-Zuschauer können das dann nicht nachvollziehen.
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Natürlich kommen jetzt all diejenigen, die es wie die AfD schon vor einem Jahr gesagt haben, aus dem Gebüsch und sagen Ihnen, dass es nichts taugt. Die Grünen haben damit angefangen, Frau Rottmann hat damit angefangen. Dieser Problembereich scheint ein bisschen zum Lebensinhalt von Frau Rottmann geworden zu sein. Sie fangen damit heute an, Frau Rottmann, zu Recht, wenn auch schlecht gemacht. Aber das ist immerhin ein Schritt in die richtige Richtung.
Man fragt sich natürlich: Warum ist dieses großkoalitionäre Murksgesetz hier so verabschiedet worden? Ich sage es Ihnen: Das geschah, um einer Bundesministerin, die auf der Flucht nach Brüssel ist – sie ist Spitzenkandidatin bei der Europawahl; mit dem Einzug ins Europäische Parlament könnte es für die SPD ja noch klappen; ich glaube, Sie liegen immer noch deutlich über 1 Prozent in den Umfragen –, ein Denkmal zu setzen.
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Aber was die Ministerin hier – offenbar ist sie schon in Europa; ich habe sie heute noch nicht gesehen – aufgetischt hat, war schlicht peinlich und untauglich.
Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Ich hoffe sehr, dass Frau Barley nach Europa entschwindet und sich dort von der Rechtspolitik und der Verbraucherschutzpolitik möglichst weit fernhält.
Vielen Dank.
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Dr. Johannes Fechner hat nun für die SPD-Fraktion das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Eigentlich wollte ich Herrn Brandner loben, dass er als Vorsitzender des Rechtsausschusses ausnahmsweise mal wieder an einer rechtspolitischen Debatte teilnimmt. Sie schwänzen die ja regelmäßig. Aber ehrlich gesagt: Sie haben so viel Unsinn erzählt, dass ich auch in Zukunft auf Ihre Präsenz verzichten kann.
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Wer recht hat, der muss auch recht bekommen. Das war unser Leitmotiv, als wir vor wenigen Monaten die Musterfeststellungsklage eingeführt haben; denn es kann nicht sein, dass Hunderttausende beim Dieselskandal betrogen wurden und sich dann nicht getraut haben, gegen große Konzerne vor Gericht zu gehen, und auf die Geltendmachung ihrer Ansprüche verzichtet haben. Das konnte nicht so bleiben. Deswegen haben wir mit der Einführung der Musterfeststellungsklage einen Meilenstein für den Verbraucherschutz geschaffen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Bei den damaligen Beratungen haben wir überlegt: Machen da 10 000 mit, machen da 12 000 mit? Unsere Erwartungen wurden übertroffen: 412 000 Verbraucherinnen und Verbraucher haben sich der Klage gegen VW angeschlossen, die wegen unseres Gesetzes zur Einführung einer Musterfeststellungsklage erst möglich wurde. 412 000 Personen fühlen sich nicht mehr im Stich gelassen und machen jetzt ihre Rechte geltend. Ich finde, das ist ein wirkliches starkes Zeichen für unseren Rechtsstaat, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ein besonderer Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesamtes für Justiz, die bei der Eintragung in die Klageregister wirklich Schwerstarbeit geleistet haben. Ein ganz herzliches Dankeschön nach Bonn von dieser Stelle!
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Mit großer Spannung sehen wir der Terminierung entgegen, die das Oberlandesgericht Braunschweig für den Herbst angekündigt hat. Der entscheidende Vorteil der Musterfeststellungsklage besteht darin, dass der Verbraucher ohne Kostenrisiko seine Rechte geltend machen kann. Wenn die Musterfeststellungsklage zu seinen Gunsten ausgeht, dann gehen wir davon aus, dass es Vergleichsangebote gibt.
({4})
Wo das nicht der Fall ist, wird eben noch einmal geklagt werden müssen.
Man kann durchaus diskutieren – da bin ich bei Ihrem Thema, Frau Rottmann –, ob bei einfach zu berechnenden Kleinstbeträgen eine Leistungsklage im Rahmen des kollektiven Rechtsschutzes sinnvoll ist, ob wir im New Deal for Consumers auch Elemente der Leistungsklage unterbringen müssen; das ist überhaupt keine Frage. Aber wir sind der Meinung: Speziell für die Konstellation beim Dieselskandal ist die Feststellungsklage das bessere Mittel.
Nun aber zu Ihrem Antrag. Ich finde es – hier muss ich deutlich werden – einfach kleinkariert und schlecht, wie Sie krampfhaft versuchen, dieses Erfolgsmodell, das vom vzbv, vom ADAC und von vielen Verbänden gelobt wird, kaputt- und kleinzureden.
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Sie besorgen damit das Geschäft der Gegner des Verbraucherschutzes und der Konzerne, die diesen Verbraucherschutz nicht haben wollen. Das kann doch nicht wahr sein!
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Wenn das Oberlandesgericht Stuttgart nun erstinstanzlich entschieden hat, dass die Klagebefugnis fehlte, dann ist doch nicht die Klageart daran schuld, sondern der klagende Verband hat den Fehler gemacht; das muss man so deutlich sagen. Das ist ein Standardvorgang in der Justiz: Wenn die Klagebefugnis fehlt, wird eine Klage abgelehnt.
Dann fordern Sie auch noch, dass die Bundesregierung auf EU-Ebene nicht an den Prinzipien der Musterfeststellungsklage festhält. Ich darf daran erinnern, dass die zuständige EU-Kommissarin, Frau Jourova, bei uns im Rechtsausschuss war und ich sie gefragt habe: Was halten Sie von der Musterfeststellungsklage? Ist das vereinbar mit Ihren Ideen für den New Deal for Consumers? – Sie hat ausdrücklich – das können Sie nachlesen – gesagt, dieses Modell entspreche ihren Vorstellungen.
({7})
– Das kann man nachlesen. – Es kann also überhaupt keine Rede davon sein, dass diese Musterfeststellungsklage nicht in das Konzept der EU-Kommission passt, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
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Schauen wir doch mal, was die Grünen, wenn es ernst wird, an kollektivem Rechtsschutz wollen. Sie reden und schreiben die Musterfeststellungsklage bei jeder Gelegenheit kaputt. Da kann man sich ja mal überlegen: Welches Instrument wollen Sie denn, wenn es ernst wird? Mit welcher Klage, mit welchem Rechtsschutz wollen Sie dem Verbraucher dienen? Schauen wir dazu ins Jamaika-Sondierungspapier. Was steht dort? Da heißt es – ich zitiere –:
Im Sinne einer Verbesserung der Rechtsdurchsetzung führen wir eine Musterfeststellungsklage ein.
({9})
Ja, was ist das denn? Die ganze Zeit reden Sie dagegen, aber wenn es ernst wird in den Verhandlungen, dann kommen Sie auf das Modell zurück, das wir umgesetzt haben. Das ist pure Heuchelei, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen.
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Richtig seltsam wird Ihr Antrag, wenn Sie der Bundesregierung den Vorschlag vorwerfen, dass die Klagebefugnis eines Verbandes Engagement für den Verbraucherschutz voraussetzt.
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Ja, was sonst soll denn ein solcher Verband machen? Er soll sich um den Verbraucherschutz kümmern. Das muss auch in der Klagebefugnis geregelt sein. Hätten Sie im Rahmen des Dieselskandals etwa die VW-Stiftung oder den Verband der Automobilindustrie klagen lassen wollen? Wohl kaum, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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An der Stelle darf ich auch noch mit dem Gerücht aufräumen, dass die SPD die Deutsche Umwelthilfe raushalten wollte. Auf gar keinen Fall! Ich sehe nach wie vor keinen Grund, warum nicht auch die Deutsche Umwelthilfe ein Verfahren anstrengen sollte. Das ist durchaus möglich mit den Regelungen, die wir beschlossen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Musterfeststellungsklage haben wir einen Meilenstein für den Verbraucherschutz geschaffen. Ich bin dem Bundesjustizministerium und insbesondere unserer äußerst engagierten Justizministerin sehr, sehr dankbar dafür, dass sie hier so gut gearbeitet und das Thema vorangetrieben hat. Bei den Verhandlungen über den Inhalt eines europäischen kollektiven Rechtsschutzes im Rahmen des New Deal for Consumers sollte unsere Musterfeststellungsklage deshalb als eine Möglichkeit des kollektiven Rechtsschutzes enthalten sein.
Ich komme zum Schluss. Wir lehnen den Antrag ab. Ihr Antrag ist unnötig und in der Sache kleinkariert. Hören Sie endlich auf, die Musterfeststellungsklage kleinzureden! Sie verunsichern die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Martens für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man merkt, es ist Wahlkampf. Da muss einiges klargestellt werden.
Hier wurde in Bezug auf die Sondierungsgespräche gesagt, das Thema Verbandsklage oder, besser gesagt, kollektiver Rechtsschutz sei eine Erfindung der Grünen gewesen. Das stimmt nicht. Es waren die Liberalen, die das Thema aufgebracht haben.
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Und noch etwas, Herr Dr. Fechner. Sie schmücken sich damit, dass Sie Lob vom ADAC bekommen haben, einer anerkannten Fachorganisation im juristischen Bereich.
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Allerdings wäre ich, wenn ich wüsste, wie manche Bewertungen beim ADAC zustande kommen, eher vorsichtig damit, ihn als Referenz anzuführen.
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Lassen wir aber mal den Wahlkampf und das Wahlkampfgetöse weg. Wenn sich der Nebel und der Pulverdampf lichten, dann stellen wir fest: Es gibt keine Fraktion in diesem Haus, die nicht die Notwendigkeit eines kollektiven Rechtsschutzes befürworten würde, und dies auch auf europäischer Ebene. Es ist schon mal gut, wenn man das als Konsens feststellen kann.
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Gerade bei Ereignissen mit vielen Geschädigten, bei denen oftmals nur ein kleiner Schaden vorliegt, oder mit einer Masse von Geschädigten, die von Großunternehmen geschädigt wurden, ergibt die Einführung eines kollektiven Rechtsschutzes Sinn. Und wenn wir vom Rechtsschutz sprechen, dann meinen wir einen effektiven, einfach zu erreichenden und möglichst risikoarmen Rechtsschutz, meine Damen und Herren.
Das aber wird mit dem Gesetz zur Einführung der Musterfeststellungsklage, das von der Regierung als Entwurf vorgelegt und von der Großen Koalition im Eilverfahren durchgebracht worden ist, leider nicht erreicht.
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Die Regelungen zur Beschränkung der Zulässigkeit und Klagebefugnis stürzen den Verbraucher in Risiken, die er selbst überhaupt nicht abschätzen und auch nicht abwenden kann; denn wenn zur Verjährungshemmung eine Klage eingereicht wird und das Gericht dann sagt: „Tut mir leid; das ist leider nicht zulässig“, dann war es das. Das kann der Verbraucher nicht erkennen. Es ist auch nicht seine Aufgabe, das zu erkennen. Da muss sich der Gesetzgeber den Vorwurf machen lassen: Davor hätten Sie den Verbraucher schützen können. – Deswegen müssen Sie sich auch nicht wundern, wenn wir sagen: Der Verbraucherschutz der Bundesregierung eignet sich nicht als Blaupause für Regelungen auf europäischer Ebene. Da müssen wir schon etwas besser nachdenken und uns etwas mehr Zeit lassen für die Diskussion.
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Ich hoffe, dass die Zeit nach den Europawahlen uns Gelegenheit gibt, vernünftig über die noch ausstehenden Regelungen, etwa im Verbraucherschutz, zu diskutieren. Wir, die Liberalen, wir Freien Demokraten, werden mit Sicherheit weiterhin unsere Beiträge dazu leisten, im Sinne der Verbraucher.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zwei Vorbemerkungen.
Die erste Vorbemerkung geht an Sie, Herr Brandner. Das war jetzt wieder ganz das Prinzip AfD: Sie stellen sich hier vorne hin, machen dicke Backen, zeigen gestisch die ganze Zeit mit dem Finger auf die anderen
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und erklären, was alles nicht gut läuft. Hat man aber eine Frage, lassen Sie sie nicht zu. Ich weiß, warum Sie sie nicht zulassen: weil Sie keine Antwort haben.
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Das betrifft im Übrigen ganz viele Bereiche, weil das bei Ihnen Prinzip ist. Ich glaube schon, dass Sie bei zukünftigen Reden hier auch einmal durch inhaltliche Tiefe auffallen sollten. Dann erübrigt sich bei mir der Drang nach einer Frage.
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Die zweite Vorbemerkung geht an die Grünen. Kollegin Rottmann, es war schon fast theatralisches Talent, wie Sie sich als grüne Partei in Szene gesetzt haben als Schutzheilige der Schwachen in diesem Bereich.
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Ich will das gar nicht ins Lächerliche ziehen. Es gibt unterschiedliche Bereiche, wo wir ein verschobenes Kräfteverhältnis haben und wo wir überlegen müssen: Wie können wir den Schwachen helfen? Aber ich fühle mich an der Stelle natürlich bemüßigt, auf unsere Diskussion in Bezug auf das europäische Urheberrecht hinzuweisen. Da gibt es auch Schwache. Das sind die User, das sind die Urheber. Und es gibt Starke. Das sind YouTube und Facebook. So, wie Sie in den letzten Wochen gerade in diesem Bereich aufgefallen sind, stärken Sie eigentlich nur die Starken, halten denen die Stange. Die Urheber und die User sind Ihnen offensichtlich egal. Da hätte ich einfach eine andere Konstante.
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Meine Damen, meine Herren, wir wollen kollektiven Rechtsschutz. Wir verbinden damit die Hoffnung, dass es zum effektiven Rechtsschutz gehört, die Gerichte zu entlasten und eben auch die Rechte des Einzelnen zu stärken. Was wir nicht wollen, ist die Förderung einer Klageindustrie, die Überflutung von Gerichten mit Verfahren und dass Klagen womöglich von Personen im Hintergrund, durch Geldgeber gesteuert werden können.
Sie bringen als Beispiel die Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart und verknüpfen damit die Schlussfolgerung: Die Musterfeststellungsklage, so wie Sie sie entwickelt und im Gesetz etabliert haben, taugt nicht. – Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich teile das nicht. Ihr erstes Argument ist, die Klagebefugnis sei ja wahnsinnig kompliziert, der Verbraucher wisse gar nicht, ob er klagebefugt ist. Wenn Sie einmal in andere Rechtsbereiche schauen, zum Beispiel ins Baurecht, in den Nachbarschutz, dann müssen Sie ehrlich zugeben, dass heute auch im öffentlichen Baurecht ein Nachbar nicht weiß, ob er klagebefugt ist. Da brauchen Sie die Verletzung einer drittschützenden, einer nachbarschützenden Norm, und das ist ohne Rechtsanwalt gar nicht darstellbar.
Als Zweites nehmen Sie § 610 Absatz 1 Satz 1 ZPO in den Fokus und kritisieren, dass keine weitere Musterfeststellungsklage mehr anhängig gemacht werden kann, wenn schon eine rechtshängig ist. Aber das Ziel, das dahintersteckt, müsste doch, wie ich glaube, in unserem gemeinsamen Interesse sein: Wir wollen bündeln. Wir wollen keine weiteren Klagen. Wir wollen, dass sich auch andere Verbraucher motiviert fühlen, sich auf diese Musterfeststellungsklage zu fokussieren; denn nur so erreichen wir am Schluss die Entlastung von Gerichten.
Ich muss sagen, dass ich die Entscheidung des OLG Stuttgart insgesamt teile. Wenn Sie sich einmal den Zeitraum anschauen, sehen Sie, dass Klägerinnen und Kläger, die sich der Klage angeschlossen haben, insofern nicht benachteiligt sind. Seit dem 1. November 2018 gibt es überhaupt die Möglichkeit der Musterfeststellungsklage. Die mündliche Verhandlung in diesem Verfahren war schon am 25. Januar 2019, das Urteil erfolgte am 20. März 2019. Selbst wenn man jetzt von einem Zeitverlust redet, muss man doch ehrlicherweise sagen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich an diesem Klageverfahren beteiligt haben, am Schluss über § 204 BGB geschützt sind, der die Verjährung in dem Moment hemmt, wo ein Anspruch rechtshängig gemacht wird.
Auch inhaltlich halte ich diese Entscheidung für richtig. Das OLG begründet die Ablehnung der Klagebefugnis damit, dass die Kläger nicht nachweisen konnten, dass sie die Klage nicht zum Zwecke der Gewinnerzielungsabsicht erheben. Da sind wir doch genau bei dem, was wir wollten: Keine Klageindustrie!
Im Übrigen – nur einmal am Rande –: Die Kläger hatten damals anonymisierte Listen vorgelegt. Trotz wiederholter Aufforderung haben sie sich geweigert, entsprechende Konkretisierungen vorzunehmen. Eine inhaltsgleiche Klage ist vom OLG Braunschweig damals überhaupt nicht angenommen worden. Deswegen hat die „FAZ“ am Schluss getitelt, dass der Ausgang dieser Entscheidung absehbar war.
Ich persönlich betrachte es schon kritisch – das ist vorhin beim Kollegen Steineke schon angeklungen –, dass Sie der EU-Richtlinie zur Verbrauchersammelklage hier ein Stück weit den Vorzug geben wollen. Das ist eigentlich mit all dem, was Sie früher gesagt haben, nicht vereinbar. Wenn Sie sich allein einmal anschauen, was das Discovery-Verfahren für den Bereich des Datenschutzes am Schluss bedeutet: Da gibt es Vorgänge, dass Unternehmen gerichtlich gezwungen worden sind, den E-Mail-Verkehr von Mitarbeitern, und zwar auch den privaten, offenzulegen. Das kann, glaube ich, nicht unser Ernst sein. Ich würde mir eigentlich wünschen, dass sich die Grünen weiter davon distanzieren. Deswegen werden Sie Verständnis dafür haben, dass wir Ihrem Antrag heute nicht folgen können.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/9267 mit dem Titel „Kollektiven Rechtsschutz ausbauen und nicht ausbremsen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion, der AfD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 24 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Mehr Verbraucherschutz in der EU durchsetzen – Kollektiven Rechtsschutz stärken und Transparenz bei Internetplattformen schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/9075, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/8563 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der AfD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Sehr geehrte Präsidentin! Damen und Herren Kollegen und Zuschauer! Mit den hier zur Rede stehenden Fonds sehen wir den unguten Endpunkt einer Gesamtentwicklung, einer Entwicklung, die wenig mit Hilfe und noch weniger mit Problemlösungen zu tun hat. Zu tun hat sie vielmehr mit dem in Brüssel quasi veruntreuten Geld europäischer Normalverdiener zugunsten irgendwelcher Eliten in anderen Weltteilen oder aber Lobbygruppen in EU-Europa bzw. Deutschland selbst. Es geht ums Weltsozialamt statt um Weltpolitik, und das versagt schon vor der eigenen Haustür.
Fangen wir mit dem quasi ersten außenpolitischen Sündenfall an, den schon die alte EWG der Sechs beging: die Finanzierung der französischen, niederländischen, belgischen und italienischen Kolonien ganz maßgeblich mit westdeutschem Geld. Der erste fünfjährige Entwicklungsfonds belief sich auf 2,3 Milliarden D-Mark. Unter Berücksichtigung der Inflation und der Euro-Umstellung wären das heutzutage etwa 12 Milliarden Euro. Es ging damals übrigens ausschließlich um Infrastrukturausbau, später dann mehr und mehr um Export/Import-Subventionen, Gefälligkeiten, gegenseitige Erpressung und/oder Übervorteilung sowie mehr und mehr um Schwammiges und jede Menge Fehldiagnosen, bis zum heutigen Tag. Der zweite EEF ab 1963 erreichte 15 Milliarden heutige Euro. Bei ersterem wurde jeweils ein Drittel des Betrags von Frankreich und Deutschland eingezahlt. Achtung, jetzt kommt der Trick: 50 Prozent des Geldes landeten bei französischen Firmen, nur 20 Prozent bei deutschen, und so ganz, ganz viel hat sich an diesem Grundprinzip bis heute nicht geändert.
Als die UNO 1960 begann, ihre Entwicklungsdekaden auszurufen, setzte der Westen allein in den ersten fünf Jahren 30 Milliarden D-Mark ein. Die Hilfsgelder vom Ostblock beliefen sich in der Zeit auf 10 Milliarden. Dieser Faktor drei, dreimal so viel, steigerte sich auf den Faktor zehn. Also zehnmal mehr gab der Westen als der Osten, bis zu dessen Zusammenbruch – wohlgemerkt: zusätzlich zu allen militärischen Engagements, Geheimdienstmachenschaften und inklusive ungeklärter Dauerprobleme um „dual use“ und „unintended consequences“. Genützt hat es wenig: Kolonial- oder Stellvertreterkriege des ach so friedlichen Europas und der beiden eigentlichen Weltmächte mit Sitz in Washington und Moskau fanden und finden statt und kosteten bis dato mehr als 18 Millionen Menschenleben
({0})
und damit mehr als der Erste Weltkrieg.
Weder die Empfänger der Westhilfen noch die der Osthilfen in der Dritten Welt sind mit Demokratisierung, Modernisierung und Wettbewerbswirtschaft sonderlich weit gekommen. Derweil geraten Demokratie und Marktwirtschaft selbst im Westen mehr und mehr unter die Räder, unter die Räder einer EU, die sich eher als eine Art EUdSSR und als Völkergefängnis geriert.
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Die Briten mühen sich derzeit verzweifelt um Hafterleichterungen.
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Sie ist, wie es scheint, noch ungeeigneter zu gesunder Weltmission als alle ihre Vorgänger. Wir blicken auf eine über 50-jährige Negativbilanz, auf verlorene Jahrzehnte, gerade nach 1990.
Es gilt dabei erfahrungsgemäß die folgende Formel: Die Länder, die die längste Zeit das meiste Geld bekommen haben, blieben und wurden noch am wenigsten entwickelt, die, die wenig bis gar nichts bekommen haben, aber sehr wohl, siehe vor allen Dingen China und Südasien als neue Groß- und Wirtschaftsmacht sowohl aus eigener Kraft wie auch dank geöffneter Westmärkte. China haben insbesondere EU-Europäer genauso wenig entgegenzusetzen wie dem mit Petrodollars überfütterten Nahen Osten. Genau der expandiert nun auch noch ideologisch, und er migriert dabei auch noch ganz praktisch.
Nicht mit Placebo- und Heftpflasterinstrumenten der Geld- und Zeitverschwendung ist dem beizukommen. Genau die betreiben der EEF und der EU-Haushalt mit all ihren Etikettenwechseln. Entschlossene Außenpolitik, Grenzschutz und glasklare Innenpolitik großer EU-Staaten lassen sich nicht ersetzen durch all die Selbstlähmungsketten supranationaler Entscheidungsprozesse, Entscheidungsprozesse, die in summa meist auf Selbstverantwortungsflucht, Nicht- oder Fehlentscheidungen hinauslaufen.
Wir brauchen einen Neuanfang, und der heißt Schlussmachen mit dem alten Zopf EEF und einem Außenpolitikersatz à la Nachbarschaftshilfe etc. pp., welche die Profiteure, Kosten und Verantwortung nur verschleiern. Sinnvolle Maßnahmen in Eigenregie sind besser als unsinnige Kollektivgremien und Gemeinschaftskassen, aus denen sich die, die am wenigsten beitragen, am meisten bedienen. Im EU-Binnenmarkt brauchen wir einen Globalisierungsfolgenfonds oder einen Individualbenachteiligungsausgleichfonds, EHAP, so wenig wie eine EU-Arbeitslosenversicherung oder ein Weltsozialamt zu deutschen Hauptlasten.
Danke.
({3})
Einen schönen Tag von mir Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen! –
Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Volkmar Klein.
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Frau Präsidentin, auch ich wünsche Ihnen einen sehr schönen Tag! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist hier schon eine gute Tradition, dass wir im Plenum und vor allen Dingen im Entwicklungsausschuss ständig darüber reden, wie wir die Effizienz unserer Entwicklungszusammenarbeit noch weiter steigern können. Das ist auch wichtig, weil wir natürlich wissen, dass alles noch zu verbessern ist. Deswegen tun wir das ja auch.
Aber so ein bisschen erscheint die heutige Debatte wie eine Neuauflage der Diskussion hier vor genau einer Woche. Vor einer Woche wollte die AfD beantragen und vorschlagen, die Entwicklungszusammenarbeit mit Schwellenländern zu streichen. Jetzt schlägt sie uns vor, den Europäischen Entwicklungsfonds zu streichen. Die Argumente und auch die Gegenargumente werden sich ja irgendwie ähneln.
Dabei fängt der Antrag sogar mit Richtigem an. Ich meine einfach die Feststellung der Historie: Der Europäische Entwicklungsfonds war bereits in den 1958 in Kraft getretenen Römischen Verträgen vorgesehen. Das Ganze geht bis hin zu dem jetzigen, dem 11. Europäischen Entwicklungsfonds. Zeitraum und Umfang dieses Fonds sind also korrekt dargestellt.
({0})
– Genau; dann ist Schluss.
Dann wird festgestellt: Das alles wird heute nicht mehr gebraucht. – Dann ist eben Schluss mit der korrekten Darstellung. Wenn dann obendrein noch in dem Antrag steht, dass die Europäische Union damit alles dominiere und die EZ der Einzelstaaten – ich zitiere – „in eine nachgeordnete und ergänzende Rolle“ dränge, dann ist das schon ziemlich grober Unfug. Zwei Hinweise:
Erstens: Stichwort „dominierend“. Von den deutschen Mitteln für Entwicklungszusammenarbeit werden noch nicht einmal 10 Prozent in den Europäischen Entwicklungsfonds gesteckt. Das ist nicht viel mehr, als wir an deutschen Finanzen in das Welternährungsprogramm stecken. Es macht auch Sinn, an vielen Stellen nicht als Einzelstaat, sondern gemeinsam mit Gleichgesinnten zu arbeiten – egal ob im Welternährungsprogramm oder gemeinsam mit den europäischen Partnern.
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Der Hinweis, das habe sich ja erledigt, das werde nicht weiter gebraucht, ist genauso weit entfernt von der Realität.
Ich will unterstreichen – insofern ähnelt das dem, was ich selber hier in der letzten Woche gesagt habe –: Wir wollen den Erfolg von Entwicklungszusammenarbeit, weil wir es auf der einen Seite für ein ethisches Gebot halten, sich auch um den Nächsten zu kümmern, dafür zu sorgen, dass auch Menschen in anderen Ländern die Chance haben, einen Job zu bekommen, persönliche Perspektiven zu haben und in ihrem Land voranzukommen. Das ist ein ethisches Gebot, und dem wollen wir gerecht werden.
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Es ist gleichzeitig unser ganz eigenes praktisches Interesse und – ich sage es noch deutlicher – es ist auch unser deutsches Interesse, dass die Menschen dort, in den Ländern, in denen sie leben, Jobs und Chancen und Perspektiven bekommen; sonst machen sie sich nämlich auf den Weg in andere Länder und suchen sich dort ihre Perspektiven. Wir wollen lieber dort helfen, wo diese Menschen leben.
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Deswegen erläutere ich das noch einmal: Erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit entspricht erstens unseren Werten, und sie entspricht zweitens unserem Interesse, unserem deutschen Interesse.
Wenn ich diesen Antrag lese, wird mir klar, dass damit so ein bisschen der böse Verdacht untermauert wird, dass es Ihnen ja um etwas ganz anderes geht. Denn wenn Erfolg bei Entwicklungszusammenarbeit da ist, dann gibt es weniger Migration, und das wollen Sie nicht, weil Sie dann kein Thema mehr haben.
({4})
Deswegen ist es sehr in unserem Interesse, und deswegen lehnen wir das alles ab.
Was zu tun ist, ist nachdenken, wie denn unsere Instrumente weiter verbessert werden können. Insofern ist es sehr hilfreich, dass wir auch noch über den Antrag der FDP reden können. Dazu hat gleich mein Kollege Georg Kippels noch eine ganze Menge zu sagen. Genau so muss das auch sein: Wir müssen Ideen einbringen und darum ringen, wie es besser werden kann. Aber es darf nicht dieses dumpfe Ablehnen von all dem geben, was Deutschland am Ende nutzt.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Volkmar Klein. – Nächster Redner in der Debatte: Olaf in der Beek für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die AfD will den Europäischen Entwicklungsfonds abschaffen. Die AfD will, dass jedes Jahr mehr als 5 Milliarden Euro für die Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere mit Afrika, gekürzt werden. Gleichzeitig will sie, wie in diversen Flyern und Programmen nachzulesen, den massenhaften Zuzug bildungsferner Menschen aus fremden Kulturen verhindern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine derartige Schizophrenie gehört eher zum Therapeuten als in den Deutschen Bundestag.
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Verhindern zu wollen, dass Menschen aus Angst vor Krieg, Gewalt, Hunger, Not und Elend zu uns fliehen, indem man auch noch die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit streicht, die genau das verhindern sollen, ist eine migrationspolitische Katastrophe.
Ich sage Ihnen auch, warum das so ist: Vier der fünf Hauptherkunftsländer von Menschen, die nach Deutschland flüchten, sind in Afrika und gehören zu der Gruppe der ärmsten Länder dieser Welt. Genau denen wollen Sie unsere Unterstützung streichen und damit den Migrationsdruck im Grunde wieder erhöhen. Warum wollen Sie genau das tun? Weil das zu Ihrem Programm gehört, weil Sie davon leben. Das, was Sie tun wollen, wollen wir entschieden nicht.
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Der Europäische Entwicklungsfonds ist ein zentrales Element für die Unterstützung der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten. Schon allein aufgrund des ungebrochenen Migrationsdrucks, weiter steigender Geburtenraten und der Zunahme von gewalttätigen Konflikten auf unserem Nachbarkontinent müssen wir größtes Interesse daran haben, Afrika und die ärmsten Länder der Welt mehr und nicht weniger zu unterstützen.
Aus diesem Grund haben wir bereits letztes Jahr einen Antrag eingebracht, um auch die Debatte in Deutschland zu den künftigen Beziehungen der EU mit den afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten voranzubringen. Wir brauchen für unsere Partnerländer eine maßgeschneiderte Entwicklungszusammenarbeit und auch ein Ende des Müller᾽schen Gießkannenprinzips.
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Entwicklungsländer sind eben nicht gleich Entwicklungsländer, und jedes Land Afrikas hat seine eigenen Chancen und Herausforderungen. Deshalb bin ich froh, dass sich die Europäische Kommission klipp und klar dafür ausspricht, dass es ein gemeinsames Rahmenabkommen für die drei Regionen geben soll. Uns muss schon klar sein, dass die Herausforderungen eines pazifischen Inselstaates andere sind als die eines afrikanischen Binnenstaates ohne Zugang zum Meer.
Afrika ist das beste Beispiel, um zu sehen, wie unterschiedlich die Herausforderungen sind. Während wir mit Tunesien gemeinsam für die Ansiedlung von Unternehmen und den Aufbau echter Wertschöpfungsketten sorgen können, fehlt es im Südsudan an überlebenswichtigen Nahrungsmitteln für die Bevölkerung.
Globale Herausforderungen können global gelöst werden, und weltweit mehr als 260 Millionen Menschen, die auf der Flucht sind, sind eine globale Herausforderung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass sich unser Nachbarkontinent Afrika endlich auch zum Chancenkontinent entwickelt.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit steckt noch immer in unkoordinierten und kleinteiligen Einzelmaßnahmen fest. Wir brauchen endlich eine umfassende Koordinierung der deutschen und der europäischen Entwicklungszusammenarbeit. Wir brauchen mehr Mittel für die Grundbildung, für sexuelle und reproduktive Gesundheit. Das hat uns auch erst in dieser Woche der neue Weltbevölkerungsbericht des UNFPA der Vereinten Nationen gezeigt. Wir brauchen mehr Risikokapital und bessere Rahmenbedingungen für Investitionen in den afrikanischen Binnenmarkt.
Die Quintessenz lautet: Wir brauchen vor allen Dingen eines: mehr Mut. Mehr Mut, die europäische Entwicklungszusammenarbeit endlich auch strategisch neu zu denken. Mehr Mut, um uns an einer europäischen Zukunftsstrategie für Afrika zu orientieren, die darauf abzielt, Armut und Migrationsbewegungen wirkungsvoll zu begegnen, und damit uns allen zugutekommt.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Olaf in der Beek. – Nächste Rednerin: Dagmar Ziegler für die SPD-Fraktion.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Werte Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal ein Antrag der AfD aus der Rubrik „Tarnen und Täuschen“. Meine beiden Vorredner haben es ja benannt: Die AfD-Fraktion will weder nationale noch internationale Entwicklungspolitik effektiver gestalten. Sie will sie schlichtweg abschaffen und ad acta legen.
Auch wurde bereits gesagt: Letzte Woche kam ein Antrag unter dem Motto „Kein Geld für Schwellenländer“. Heute geht es dem Europäischen Entwicklungsfonds an den Kragen. Er ist das wichtigste Instrument der europäischen Entwicklungszusammenarbeit mit den Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks. Durch ihn werden notwendige Projekte, die die wirtschaftliche, soziale und rechtsstaatliche Entwicklung von Partnerländern fördern und zur Verringerung der Armut weltweit beitragen, ermöglicht.
Seit der Schaffung des ersten EEFs haben sich jedoch sein Zweck und seine Zielrichtung stetig weiterentwickelt, verändert und der politischen Situation in den Ländern angepasst. Das kritisieren Sie. Aber die Herausforderungen von gestern sind eben nicht die Herausforderungen und die Aufgaben von heute und morgen. Die Aufgaben sind auch nicht weniger geworden: Klimawandel, Bevölkerungswachstum, die Schere zwischen Arm und Reich oder die vielen vernachlässigten Krankheiten. Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung funktioniert nur durch eine globale Gemeinschaftsleistung von bilateraler und multilateraler Entwicklungszusammenarbeit.
({0})
Im Antrag der AfD wird hingegen eine Konkurrenzsituation heraufbeschworen. Der EEF soll nicht neu aufgelegt werden, weil bundesdeutsche Programme durch „die Neuausrichtung bestehender EU-Projekte und Hilfsfonds in eine nachgeordnete erfüllende und ergänzende Rolle“ gedrängt würden. Und weiter heißt es:
So sind es mittlerweile die EU-Institutionen und nicht mehr die Mitgliedstaaten, die weltweit als maßgebende Akteure der Entwicklungspolitik … wahrgenommen werden.
Darauf muss man erst mal kommen.
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Dass es Ihnen darum ginge, nimmt Ihnen hier in diesem Hause und in der Öffentlichkeit wirklich niemand mehr ab.
({2})
Kolleginnen und Kollegen von der AfD, im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung geht es weder um Konkurrenz noch um einen Wettlauf, mit dem man sich rühmen kann. Es geht schlichtweg um Verantwortung. Es geht erstens darum, Menschen zu schützen und ihnen Chancen zu eröffnen, zweitens, unsere Partnerländer in ihrer Entwicklung zu unterstützen,
({3})
und drittens, die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen zu erreichen. Genau daran arbeiten wir eigenständig als Bundesrepublik Deutschland und gemeinschaftlich als Mitglied der EU sowie als Mitglied internationaler Organisationen.
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Sie wollen heute EZ-Programme der EU streichen, indem Sie das Ziel, die Armutsbekämpfung bzw. die Stärkung der Menschenrechte, als zu allumfassend, unkonkret und mithin als nicht förderungswürdig beschreiben. Das ist perfide.
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Leider ist Armut real. 736 Millionen Menschen leben weltweit in extremer Armut. 1,3 Milliarden Menschen sind insgesamt von Armut betroffen. Zwischen Gesundheit, Bildung und Armut – so haben wir es jedenfalls alle bis auf Sie verstanden – besteht ein direkter Zusammenhang.
Das müssen wir ändern – zusammen mit der EU, zusammen mit internationalen Organisationen. Dafür brauchen wir den Europäischen Entwicklungsfonds und die durch ihn angestoßenen Projekte – ganz gleich, ob er separat vom EU-Haushalt besteht oder in diesem aufgeht.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Dagmar Ziegler. – Nächste Rednerin: für Die Linke Eva Schreiber.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die vorliegenden Anträge der AfD, den Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen zu streichen und die ersatzlose Abschaffung des Europäischen Entwicklungsfonds zu fordern, weil es ja heute keine Kolonien mehr gibt, belegen wieder einmal, wie sehr Ihnen das Wohl des Globalen Südens tatsächlich am Herzen liegt, und das bei einem Thema, bei dem alle Länder dringend zusammenarbeiten müssen.
Aber auch die FDP macht es sich zu leicht, wenn sie die Frage der Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas mit einem simplen „selber schuld“ beantwortet.
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Mangelnde gute Regierungsführung und fehlende Eigentumsrechte, wie in Ihrem Antrag ausgeführt, sind Probleme, ja, aber sind eben nicht das Hauptproblem der afrikanischen Staaten; denn der Kolonialismus und die daraus folgende heutige Ausbeutung durch die Industriestaaten sind und bleiben die zentrale Ursache der bestehenden wirtschaftlichen Ungleichheit.
({1})
Die EU, Investoren und Konzerne setzen auch heute noch ihre Wirtschaftsinteressen gegenüber den afrikanischen Ländern skrupellos zum eigenen Vorteil durch. Ohne das zu berücksichtigen, kann man nicht zu einer Verbesserung der Lage beitragen, selbst mit besten Absichten.
Nun zu unseren Vorschlägen. Über den Europäischen Entwicklungsfonds betreibt die EU Migrationsabwehr im Rahmen des EU-Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika. Das halte ich ebenso für eine Zweckentfremdung der Mittel wie die Ertüchtigung und Unterstützung von afrikanischen Militärmissionen über die Afrikanische Friedensfazilität. Eigentlich verbietet Artikel 41 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union jegliche Bezahlung militärischer Instrumente aus dem EU-Budget. Deshalb finanziert die Kommission sie aus Töpfen außerhalb dieses Budgets, wie eben dem Europäischen Entwicklungsfonds. Das ist ein Taschenspielertrick! Das lehnen wir ab.
({2})
Die Eingliederung des Fonds in den regulären EU-Haushalt ist überfällig, weil nur dadurch das Europäische Parlament sein Recht auf Haushaltskontrolle ausüben kann.
Statt immer mehr Mittel in Militäraufbau und Aufrüstung umzuleiten, müssen wir uns dringend auf ursprüngliche Ziele und Werte der Entwicklungszusammenarbeit besinnen. Die EU muss sich endlich mehr auf die Armuts- und Hungerbekämpfung in den ärmsten Ländern konzentrieren. Hier sind die Mittel in den letzten Jahren leider rückläufig.
Wir halten es auch für falsch, auf eine immer engere Zusammenarbeit mit der Wirtschaft zu setzen. Solange es keine verpflichtenden ökologischen, sozialen und menschenrechtlichen Mindeststandards für internationale Unternehmen gibt, steht mehr Privatwirtschaft nicht automatisch für eine Verbesserung des Lebens der Menschen im Globalen Süden. Leider bremsen Kanzleramt und Wirtschaftsministerium die Ansätze des BMZ in dieser Frage aus. Mehr Abstimmung und Zusammenarbeit im Sinne der Nachhaltigkeitsziele und dem gemeinsamen Ziel „leave no one behind“ sind hier dringend geboten.
({3})
Statt über Reformpartnerschaften oder Freihandelsabkommen wie den EPAs oder Ähnlichem weitere Marktliberalisierungen, Deregulierungen und Privatisierungen durchzudrücken, müssen wir endlich Kleinbauern, lokale Kleinunternehmer und regionale Wertschöpfungsketten ins Zentrum unserer Förderung stellen. Auch gute öffentliche Gesundheits- und Bildungssysteme sind dringend nötig, wenn tatsächlich niemand zurückgelassen werden soll. Darin sind sich Bundesregierung, EU und Vereinte Nationen ja eigentlich offiziell einig. Menschen vor Profite – das gilt erst recht für die Entwicklungszusammenarbeit.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Eva Schreiber. – Nächster Redner in der Debatte: Uwe Kekeritz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Jürgen Trittin hat es letzte Woche so schön gesagt:
({0})
Er wundert sich über die vielen sachlichen Versuche der anderen Parteien, auf die Anträge einzugehen. – Es ist doch klar, was die Motivation hinter diesen Anträgen ist. Sie sind es eigentlich nicht wert, dass man auf sie sachlich eingeht. Herr Dr. Weyel, Sie können sich so stark anstrengen, wie Sie wollen: Ich werde mit Ihnen hier keine Diskussion über unser Bildungssystem in diesem Land starten.
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Ich beziehe mich auf den Cotonou-Antrag der FDP, der diesem Antrag beigestellt worden ist. Wir teilen sehr viele Kritikpunkte der FDP, die in diesem Antrag enthalten sind. Sie nennen die Vielzahl unkoordinierter Afrika-Initiativen und die endemische Inkohärenz der Ministerien. Wir begrüßen auch Ihre Forderung, die postkoloniale Struktur des Cotonou-Vertrages aufzulösen.
Aber es gibt auch Probleme: Sie konzentrieren sich in Ihrem Antrag sehr stark oder eigentlich nur auf Afrika. Ihr Motiv wird dort leider sehr deutlich. Sie beschreiben es offen, ehrlich und mehrmals: Sie möchten kritiklos die derzeitige EU-Migrationspolitik fortsetzen. Entwicklungspolitik wird für Sie zum Hebel der Migrationskontrolle und zum Schutz deutscher und europäischer Grenzen. Wir Grünen sagen dagegen: Entwicklungspolitik muss dem zivilen Bereich dienen, ökonomische und soziale Perspektiven schaffen und dabei die ökologischen Verhältnisse respektieren. Das hilft den Menschen und trägt zur Stabilisierung bei.
({2})
Wir stimmen auch mit der FDP überein, wenn sie sagt, private Investitionen sind sinnvoll und notwendig. Aber das Zentrale, was Ihnen dazu einfällt, ist die Förderung deutscher KMUs und eine weitgehende Risikoübernahme durch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, dass es auch in Afrika jede Menge KMUs gibt, die für Investitionen und wirtschaftliche Entwicklung viel leichter mobilisierbar sind, die dann auch im Sinne einer positiven Entwicklung effektiver wären?
Es gibt in Ihrem Antrag auch keinen Hinweis darauf, welche Funktionen Investitionen übernehmen müssen. Investitionen müssen immer sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Kriterien gerecht werden. Es muss immer sichergestellt sein, dass sie, wenn sie gefördert werden, auch dem Gemeinwohl dienen.
({3})
Sie glauben immer noch an Maggie Thatchers Trickle-down-Effekt. Da ist die Weltgemeinschaft schon wesentlich weiter, die mit der Agenda 2030 und der Pariser Erklärung genau das Gegenteil dokumentiert hat. Diese beiden Faktoren, die Agenda 2030 und die Pariser Erklärung, müssen zentraler Baustein eines Cotonou-Folgeabkommens sein.
({4})
Ich muss Ihnen sagen: Dazu steht nichts in Ihrem Antrag drin. Es fehlt also das Wesentliche.
Im Antrag der Linken, der auch dazugestellt worden ist, werden ebenfalls viele wichtige Punkte angesprochen, zum Beispiel Steuervermeidung und der falsche Fokus auf Fluchtabwehr, eine Finanztransaktionsteuer wird gefordert, und das Klimathema wird aufgegriffen. Da sind wir uns ja einig. Es ist auch richtig, dass die Aufarbeitung der kolonialen Verhältnisse endlich angegangen werden muss. Kapitalismuskritik, wie es bei Ihnen üblich ist, mag ja manchmal vielleicht noch gerechtfertigt sein. Aber wenn das alles dazu führt, den afrikanischen Staaten jegliche Eigenverantwortung abzusprechen, kommen wir nicht zusammen. Wir würden damit ein falsches Signal in den Kontinent senden. So sind die Partnerschaften überhaupt nicht denkbar. Wir müssen auf Augenhöhe miteinander diskutieren. Ein solches Signal zu senden, ist schlicht unverantwortlich gegenüber den Menschen, die in immer größerer Zahl in Afrika gegen ihre Herrscher und Ausbeuter protestieren; der Sudan ist hier nur ein Beispiel.
Jetzt blinkt das Licht, Frau Präsidentin; das will ich ernst nehmen. – Liebe FDP, liebe Linke, Sie merken, es wäre ziemlich einfach gewesen, gute Anträge zu schreiben.
Damit die Präsidentin nicht schimpft, wünsche ich ihr und Ihnen allen, meine werten Kolleginnen und Kollegen, schöne Osterfeiertage.
({5})
Das wünsche ich Ihnen auch. Vielen herzlichen Dank, Uwe Kekeritz. – Nächster Redner: Dr. Georg Kippels für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, heute Nachmittag haben wir es mit einem ganzen Strauß von entwicklungspolitischen Themen zu tun. Es fällt einem schwer, in einer Redezeit von vier Minuten diese auch nur annähernd anzusprechen.
Die entwicklungspolitische Debatte wird natürlich von der Diskussion zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den afrikanischen Staaten bzw. dem afrikanischen Kontinent beherrscht; das ist sowohl nachvollziehbar als auch dringend geboten.
Mit den Anträgen der Kollegen von FDP und Linken haben wir uns schon im Herbst letzten Jahres im AwZ beschäftigt und diesen Anträgen dort eine Absage erteilt. Ich muss einräumen: Es gibt bis zum heutigen Tage keinen Gesichtspunkt, der diese Entscheidung verändern würde.
Aber um den Kontext vielleicht etwas besser zu verstehen, muss die Ausgangslage noch einmal beschrieben werden. Das Cotonou-Abkommen wurde im Jahre 2000 abgeschlossen und wird im Jahre 2020 auslaufen. Das ist ein sehr langer Zeitraum, in dem sich sehr viel an den Rahmenbedingungen geändert hat. Und ja, man wird wohl einräumen müssen, dass das letzte Abkommen noch vom Geiste nachkolonialer Verpflichtungen der EU und seiner Mitgliedstaaten geprägt war.
Eine massive Kritik sei aber gestattet: Liebe Kollegen von den Linken, Sie schreiben in Ihrem Antrag – ich zitiere –:
Das Verhältnis beider Kontinente war und ist jedoch … von Rassismus, Herrenmenschentum, Sklaverei, Ausbeutung, Kolonialismus und Gewalt gegenüber Afrika und Menschen schwarzer Hautfarbe geprägt.
Das halte ich für eine ungeheuerliche Entgleisung; das schlägt den europäischen Partnern die Faust ins Gesicht.
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Derzeit verhandelt die EU, jetzt mit 27, vielleicht auch 28 Staaten, ein neues Abkommen. Das ist schon einer der entscheidenden Unterschiede; denn gegenüber den Verhandlungspartnern aus dem Jahre 2000 sind viele europäische Staaten hinzugekommen, die in dieser Hinsicht weder historische Erfahrungen haben noch unter denselben wirtschaftlichen Gesichtspunkten entscheiden.
Eines muss vor allen Dingen hervorgehoben werden: Seit 2000 haben wir die Millenniumsziele abgearbeitet und verhandeln nunmehr auf der Grundlage der SDGs, die für beide Seiten massiv gelten. Die afrikanischen Staaten wachsen erfreulicherweise zusammen, auch wenn dieser Prozess noch nicht zum Ende gekommen ist. Die Afrikanische Union erkennt mittlerweile auch den Wert eines eigenen Binnenmarktes, der seit 2018 mit einer afrikanischen Freihandelszone in Angriff genommen worden ist.
Unübersehbar ist aber auch: Die EU muss sich mit der Konkurrenz des ehemaligen Entwicklungslandes und nunmehr Schwellenlandes China auseinandersetzen, das im Jahre 2016 immerhin 23,9 Prozent der Direktinvestitionen in Afrika geleistet hat. Im Oktober 2018 kam dann auf einen Schlag ein Investitionsbetrag von 60 Milliarden Euro hinzu. An der Neuen Seidenstraße wird kraftvoll gearbeitet.
Wir brauchen die Partnerschaft zwischen Europa und dem afrikanischen Kontinent, und wir brauchen auch die Partnerschaft mit den pazifischen und den karibischen Staaten. Es ist aus unserer Sicht sehr wohl möglich, unter Aufrechterhaltung individueller bilateraler Bedingungen eine Dachvereinbarung zu treffen. Die Zeit bis 2020 ist recht kurz. Es kann sein, dass wir eine umfassende Vereinbarung bis dahin nicht erreichen können. Aber es wäre wichtig, eine vorbereitende Vereinbarung abzuschließen, in der die wesentlichen Regelungspunkte hervorgehoben werden. Entwicklungsinvestitionen unter Einbindung von Privatkapital, Dienstleistung und Migration: Das sollte sich in der Erwähnungsliste wiederfinden. Dann werden wir auch das Konstrukt der Finanzierung in der Europäischen Union geklärt wissen.
Aufgrund dieser Bedenken – grundlegend gegenüber dem Antrag der Linken und zumindest strukturell gegenüber dem der FDP – können wir diesen Anträgen nicht folgen und müssen sie leider ablehnen.
Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Dr. Kippels. – Nächster Redner: Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Letzte Woche Freitag haben wir hier auch einen Antrag der AfD beraten. Frau Weidel und Herr Gauland waren auch anwesend. Herr Frohnmaier hat dazu geredet und sich empört, als ich erklärt habe, warum es wegen des Klimaschutzes und für den Erhalt des Regenwaldes sinnvoll ist, auch mit Ländern wie Brasilien und Indonesien Entwicklungszusammenarbeit zu machen. Nachdem er gesagt hat, die Gelder würden dann der deutschen Rentnerin verloren gehen, habe ich ihm gesagt, was ein Streichen der Entwicklungszusammenarbeit für arme, hungernde Kinder in Togo und Ghana bedeuten würde, die ich kurz zuvor auf einer Dienstreise gesehen habe. Daraufhin hat er gesagt: Das ist ja unverschämt. Wie können Sie uns unterstellen, dass wir die Entwicklungszusammenarbeit mit Ghana und Togo streichen wollen? – Frau Weidel und Herr Gauland haben sich fürchterlich aufgeregt.
({0})
Ich sage, die Dreistigkeit zu haben, eine Woche später einen Antrag vorzulegen, der fordert, genau diesen Kindern, diesen Menschen in Subsahara-Afrika, den ärmsten Menschen der Welt, die Mittel zu streichen, ist unerhört. Das können Sie Ihrem Kollegen Frohnmaier auch ausrichten.
({1})
Er ist ja heute nicht da. Vielleicht ist er in Moskau. Richten Sie ihm das bitte aus.
Herr Raabe, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung aus der AfD-Fraktion?
Ja, die Kollegen sollen sich ja nicht benachteiligt fühlen.
Verehrter Dr. Raabe, müssten Sie nicht zugeben, dass die Nothilfe, die von der Welthungerorganisation, von der UNO, von diversen Unterorganisationen
({0})
und natürlich auch bilateral von Deutschland geleistet wird, eine ganz andere Geschichte ist als die vor 60 Jahren aufgelegte Entwicklungshilfe, sei es im Rahmen des EEF oder der Entwicklungsdekaden etc.? Keiner bestreitet die Notwendigkeit von und die Bereitschaft zu echter Nothilfe. Wir reden hier aber von einem Strukturwandel, der die Nothilfe zu einer Dauereinrichtung macht und die Probleme nicht beseitigt, sondern zementiert und zum Geschäftsmodell in aller Welt macht.
Ich bin sehr froh, dass Sie diese Frage stellen; denn ich gebe nie die Hoffnung auf, dass vielleicht das eine oder andere hängen bleibt, wenn man Ihnen die Dinge ein paarmal erklären kann.
Zu dem – das ist das Erste –, was sie zur Nothilfe gesagt haben: Zwischen Entwicklungszusammenarbeit und Nothilfe besteht ein Unterschied. Die Nothilfe kommt vom Auswärtigen Amt; das ist humanitäre Hilfe.
({0})
Sie sprechen von Strukturwandel. Uns geht es mit der Entwicklungszusammenarbeit darum, eben nicht nur nach einer Klima- oder Wetterkatastrophe Weizen in die entsprechenden Regionen zu liefern, sondern wir wollen langfristig Hilfe zur Selbsthilfe geben, damit Menschen durch gute Bildung, durch Jobs vorankommen. Sie brauchen gute Straßen, über die sie die Märkte erreichen können, damit sie Weiterverarbeitung machen können, vor Ort zum Beispiel aus Kakaobohnen Schokolade herstellen können. Das wollen wir mit der Entwicklungszusammenarbeit erreichen. Das ist natürlich auch Teil des EEF. Es geht eben nicht nur um Nothilfe.
({1})
– Nein, nein, ich bin noch nicht fertig mit meiner Antwort.
Aber bitte nicht mehr so lange. – Herr Weyel, dann stehen Sie noch mal auf.
Ich möchte noch weiter ausführen, weil ich schon hoffe, dass Sie es begreifen. – Entwicklungszusammenarbeit bedeutet eben etwas ganz anderes als Nothilfe, und dafür werden wir auch weiterhin Mittel brauchen.
Das Nächste, das Sie begreifen müssen – Sie haben die bilaterale Hilfe angesprochen –: Diese afrikanischen Länder haben auch nur eine Administration. Zurzeit geben sich viele Geber ständig die Klinke in die Hand:
({0})
Japaner, US-Amerikaner, Chinesen und auch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union – alle wollen Entwicklungszusammenarbeit machen.
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Deshalb ist es sinnvoll, dass wir europäisch zusammen mit diesen Ländern Entwicklungszusammenarbeit machen, damit der Bildungsminister von Ghana oder Togo nicht immer 50 Ansprechpartner hat. Eine effiziente Entwicklungszusammenarbeit zeichnet sich dadurch aus, dass man die Sachen bündelt.
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Wenn Sie in Ihren Antrag geschrieben hätten, dass Sie die Mittel für den EEF, die Sie streichen wollen, wenigstens wieder in die nationalen Haushalte zurückführen wollen, dann hätte man darüber noch reden können. Aber Sie schreiben, dass Sie die Mittel ersatzlos streichen wollen.
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Und Milliarden Euro für die Ärmsten der Armen ersatzlos zu streichen, ist zynisch und unverantwortlich. Und das machen wir hier nicht mit, meine sehr verehrten Damen und Herren!
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Es ist gut, dass es heute auch Anträge gibt, die sich nicht nur auf die klassische Entwicklungszusammenarbeit beziehen, sondern auch auf die Handelsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und Afrika.
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Denn so wichtig es ist, dass wir mit Entwicklungsprojekten Strukturen schaffen, angefangen mit Bildung, und Menschen in die Lage versetzen, dass sie zum Arzt gehen können etc., so wichtig ist es auch, dass wir für faire Handelsbedingungen sorgen.
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Im Augenblick sind die Handelsbeziehungen nicht fair. Wir haben ein System, das vor allem Agrarrohstoffe oder Mineralien aus dem Bergbau aus Afrika nach Europa und in die Industrieländer befördert. Durch die Weiterverarbeitung werden hier hohe Profite erzielt. Derjenige, der vor Ort Kaffee- oder Kakaobohnen anbaut, bekommt nur wenig. Und das müssen wir ändern.
Das ist übrigens auch ein großes Thema im Hinblick auf die Entwaldung. Wir haben diese Woche im Ausschuss ein Expertengespräch gehabt, in dem gesagt wurde, dass 70 bis 80 Prozent der jährlichen Entwaldung weltweit darauf zurückzuführen sind, dass Wälder für Agrarflächen abgeholzt werden und zum Beispiel Soja angebaut wird, das dann wiederum als billiges Tierfutter nach Deutschland und Europa kommt. Das sind eigentlich die Schrauben, an denen man drehen muss.
Ich hätte mir einen Antrag zum Landwirtschaftssubventionsfonds der Europäischen Union gewünscht, nicht zum Europäischen Entwicklungsfonds. Den müssen wir kürzen, da müssen wir ran,
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um eine faire Landwirtschaftspolitik in der Europäischen Union zu betreiben. Es darf nicht länger sein, dass subventionierte Lebensmittel, die wir hier herstellen, zu deren Erzeugung Regenwälder für den Anbau entsprechender Futtermittel abgeholzt werden, etwa Fleisch oder weiterverarbeitete Produkte, auch Milch, in Entwicklungsländer zurückfließen und, weil sie billig sind, dort die lokalen Märkte zerstören.
Deswegen glauben wir, dass das, was die Europäische Union jetzt mit den neuen Wirtschaftspartnerschaftsabkommen vorgeschlagen hat, nicht der richtige Weg ist. Vielmehr sollten wir schauen, dass wir im Rahmen einer neuen afrikanischen Freihandelszone, die sich im Aufbau befindet, mit dem gesamten Kontinent eine Vereinbarung abschließen. Ich habe in Ghana mit dem dortigen Wirtschafts- und Handelsminister vor zwei Wochen ein langes Gespräch geführt. Er sagte unter anderem, er fühle sich von der Europäischen Union erpresst; er fühle sich in dieses Freihandelsabkommen reingezwungen, und es bereite ihm große Sorge für den Mittelstand und die Wirtschaft.
Ich glaube, es wäre besser, die Präferenzsysteme weiter auszudifferenzieren.
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Das wäre auch WTO-konform. Dann können wir auch darauf achten, dass Menschenrechte und Arbeitnehmerrechte dort eingehalten werden. Denn es kann nicht sein, dass Kinderarbeit dort noch an der Tagesordnung ist. Wenn Produkte nach Deutschland geliefert werden, dann muss sichergestellt sein, dass Menschenrechte eingehalten werden, dass die Produkte ohne Kinderarbeit hergestellt wurden, dass eine faire Entlohnung der Menschen erfolgt. Da müssen wir auch mal schauen, ob wir nicht diese ganzen Kartelle aufbrechen können, die auch die Preise für Kaffee und Kakao weltweit so niedrig halten.
Herr Raabe, das machen wir jetzt nicht mehr.
Wir brauchen fairen statt freien Handel, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Und wir brauchen die Einhaltung der Redezeit.
Vielen Dank.
({0})
Danke, Sascha Raabe. – Letzter Redner in der Debatte: Uwe Feiler für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der AfD „Keine Verlängerung Europäischer Hilfsfonds“, zu dem ich sprechen möchte, zeigt noch einmal in aller Deutlichkeit, dass die AfD den Sinn der Europäischen Union nicht verstanden hat oder nicht verstehen will.
({0})
Für die AfD ist die Europäische Union wie ein Krebsgeschwür. Der Antrag liest sich wie ein Totenschein. Die Antragsteller schreiben von Pathologien, von Anomalien und wollen den Eindruck erwecken, die europäische Idee sei tot, sie sei ein Gesamtanachronismus. Sie, meine Damen und Herren, wollen die Europäische Union nicht entwickeln, Sie wollen sie abwickeln, zurück zur Nationalstaaterei. Das ist doch völlig absurd.
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Die Europäische Union, meine Damen und Herren von der AfD, war, ist und bleibt die Antwort auf die Probleme, die es gab, als sich die europäischen Länder bekriegt haben, anstatt gemeinsam und miteinander zu arbeiten. Die Europäische Union steht für Freiheit statt Grenzen, für Solidarität statt Ausgrenzung, für Wachstum statt Rezession, für Stabilität statt Unsicherheit und schließlich für Frieden statt Krieg. Die Europäische Union ist keine Krankheit, sie bedeutet Leben.
({2})
Und ja, meine Damen und Herren, zum Leben gehört auch, dass sich Menschen gegenseitig helfen, damit es möglichst allen besser geht. Die AfD schreibt in ihrem Antrag von einem subsidiaritätswidrigen europäischen Mehrwert, den die angebliche Fiskalausbeutung der EU mit sich bringt. Wissen Sie, meine Damen und Herren von der AfD, eigentlich, was das Subsidiaritätsprinzip bedeutet?
({3})
Scheinbar nicht. Man kann es ganz kurz und einfach fassen: Es bedeutet Hilfe zur Selbsthilfe. Und nichts anderes leisten die beiden von Ihnen kritisierten Fonds.
Der Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung hilft Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die infolge von Schließung eines großen Unternehmens oder der Verlagerung einer Produktionsstätte außerhalb der Europäischen Union ihren Arbeitsplatz verloren haben. Es werden Projekte mitfinanziert, die den Menschen helfen, einen neuen Job zu finden oder ihr eigenes Unternehmen zu gründen. Deutschland hat aus diesem Fonds alleine 55 Millionen Euro erhalten. 14 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, unter anderem der Adam Opel AG in Bochum und der Firma First Solar in Frankfurt/Oder, wurden durch diesen Fonds unterstützt. Die Evaluierung dieses Fonds hat gezeigt, dass die Wiedereingliederungsquote durch dessen Einsatz gestiegen ist.
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Damit ist dieser Fonds eine Erfolgsgeschichte.
Der Europäische Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen hilft den Betroffenen bei ihren ersten Schritten aus Armut und sozialer Ausgrenzung heraus, sodass sie künftig überhaupt eine Chance haben, auf dem Arbeitsmarkt tätig zu werden. Er unterstützt betroffene Kommunen bei den Herausforderungen, die die wachsende Zuwanderung von Unionsbürgerinnen und -bürgern mit sich bringt. Das ist, meine Damen und Herren, Hilfe zur Selbsthilfe. Es ist wichtig, dass innerhalb der Europäischen Union ganz besonders die Kommunen unterstützt werden, die von der Zuwanderung am stärksten betroffen sind. Auch das, meine Damen und Herren, ist Subsidiarität.
Chancengerechtigkeit und fairer Arbeitsmarktzugang im europäischen Binnenmarkt, diese Ziele lassen sich nun einmal deutlich besser auf europäischer Ebene verwirklichen, und deshalb, meine Damen und Herren, müssen die europäischen Hilfsfonds weitergeführt werden, weiter bestehen bleiben. Wir stehen dazu.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Uwe Feiler. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/9238 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist strittig, und deswegen müssen wir abstimmen. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die Fraktion der AfD wünscht Federführung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der AfD, also Federführung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Zugestimmt hat die AfD, dagegengestimmt haben FDP, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Die Linke.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, also Federführung beim Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Wer stimmt für diesen Vorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Keine Enthaltungen. Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen der Linken, der SPD, Bündnis 90/Die Grünen, der CDU/CSU und der FDP, dagegengestimmt hat die Fraktion der AfD.
Zusatzpunkt 12. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/9249 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Zusatzpunkt 13. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 19/6190. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/2528 mit dem Titel „Post-Cotonou-Verhandlungen als Chance nutzen – Für ein neues EU-Afrika-Abkommen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen der Linken, der SPD, Bündnis 90/Die Grünen, der CDU/CSU und der AfD, dagegengestimmt hat die Fraktion der FDP.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/2519 mit dem Titel „Eine Partnerschaft mit Afrika für Gerechtigkeit, Frieden und ein Leben in Würde“.
({0})
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen sehe ich keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen, der CDU/CSU, der FDP und der AfD, dagegengestimmt hat die Fraktion der Linken.
Danke. – Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Die Linke macht sich seit vielen Jahren dafür stark, dass die Bahn in der Fläche wieder ausgebaut wird. Wir brauchen viel mehr Regionalbahnen und Bahnhöfe, damit weniger Leute aufs Auto angewiesen sind, und wir brauchen viel mehr Gleisanschlüsse für Betriebe und Gewerbegebiete, damit weniger Lkws auf die Straße kommen.
({0})
Nun erweckt der Koalitionsvertrag ja die Hoffnung, dass endlich Schluss gemacht wird mit dem Schrumpfkurs der Bahn. Bis 2030 wollen Sie die Fahrgastzahlen verdoppeln. Sie wollen den Deutschland-Takt und haben einen Masterplan Schienengüterverkehr vorgelegt. Aber – und das ist das Problem – das steht bisher alles nur auf dem Papier. Wir wollen, dass viel mehr in der Praxis passiert. Das Schneckentempo, das Sie vorlegen, reicht nicht. Es gibt unheimlich viel aufzuholen.
({1})
Tatsächlich sind ja in Westdeutschland seit den 1960er-Jahren Tausende Kilometer Schienennetz abgebaut worden. Ganze Regionen wurden abgehängt. Mit der Bahnreform von 1994 haben Sie angeblich vorgehabt, diesen Trend zu stoppen. Aber in Wirklichkeit ist gerade in den vergangenen 25 Jahren der größte Abbau vorgenommen worden. Über 20 Prozent der Gleise wurden stillgelegt, 80 Prozent der Gleisanschlüsse sind weg. Das ist eine wirklich katastrophale Bilanz.
({2})
Natürlich ist es erfreulich – und da spreche ich den Kollegen Donth an, der im Verkehrsausschuss so großartige Erfolge präsentiert hat –,
({3})
dass in Einzelfällen Bahnstrecken wieder fit gemacht wurden. Wir sehen auch, dass das prima funktioniert. Aber ich bitte Sie: 7 000 Kilometer verloren und 200 Kilometer zurückgewonnen, das ist doch in Wirklichkeit kein Erfolg.
({4})
Deshalb schlagen wir vor, dass ein Sonderprogramm für die Reaktivierung der Eisenbahn aufgelegt wird. Mit diesem Sonderprogramm, das der Bund auflegen muss, sollen Kommunen und Länder ermuntert werden, aktiviert werden und in die Lage versetzt werden, Strecken, Bahnhöfe, Gleisanschlüsse und Elektrifizierung schnell und bürgernah wiederherzustellen,
({5})
und zwar auch dann, wenn es sich erst mal nicht rechnet. Das Verkehrsministerium könnte dazu eine interaktive Streckennetzkarte ins Internet stellen, damit die Bürgerinnen und Bürger sehen können, was es da mal gab an Bahnstrecken. Das regt die Fantasie ungeheuer an.
Ich kann es aus Hessen berichten. Wir haben da mal einen alternativen Verkehrsplan geschrieben und haben das auf Papier so gemacht. Es gibt jetzt zum Beispiel eine Bürgerinitiative im westlichen Mittelhessen. Darin haben sich ganz junge engagierte Leute zusammengeschlossen. Die wollen, dass die Dietzhölztalbahn wieder für den Personennahverkehr in Betrieb genommen wird, 16 Kilometer von Dillenburg nach Ewersbach. Die haben sich wirklich viel Gedanken darum gemacht, wie ein Mobilitätskonzept für die Region daran geknüpft werden kann, mit Haltestellen, mit Park-and-ride-Parkplätzen und mit Buslinien. Ich finde, dass solche Initiativen unbedingt Unterstützung brauchen, bevor ihnen die Puste ausgeht.
({6})
Es gibt solche Bürgerinitiativen im ganzen Land. Teilweise jahrelang sorgen sie dafür, dass Bahnstrecken nicht mit Gestrüpp zuwuchern oder mit Unrat zugedeckt werden. Ich finde das total super, und ich danke erst mal für dieses Engagement.
({7})
Die Deutsche Bahn – und auch die Bundesregierung – ist immer noch darauf ausgerichtet, dass sich eine Bahnstrecke betriebswirtschaftlich rentieren muss. Wir sagen: Das ist kurzsichtig und kommt uns am Ende alle teuer zu stehen.
({8})
Klimaschutz und Mobilität haben einen hohen gesellschaftlichen Wert.
({9})
Und finanzielle Mittel sind ja genug da: Man muss nur die zusätzlichen Milliardeneinnahmen aus der Lkw-Maut von der Autobahn auf die Eisenbahn umverteilen.
({10})
Bitte denken Sie an Ihre Redezeit.
Dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, hoffe ich auf Ihre Unterstützung. Wir wollen eine sozial und ökologisch gerechte Umverteilung auch beim Verkehr: für klimafreundliche Mobilität, Elektromobilität, die vor allem auf der Schiene stattfindet.
({0})
Vielen Dank, Sabine Leidig. – Nächster Redner: Michael Donth für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! „Abbau von Bahninfrastruktur stoppen“, „Bahnstrecken reaktivieren“ – die Titel der beiden Linkenanträge, um die wir uns heute Nachmittag kümmern, klingen ziemlich gut.
({0})
Insbesondere klingen sie gut, solange man sich nicht überlegen muss, wie man das alles bezahlen soll
({1})
und ob sich das rechnet, was man sich so wünscht.
({2})
Aber solche Fragen stellt sich Die Linke hier im Hause ja nie.
Ich habe trotzdem eine gute Nachricht – Frau Leidig hat ja selber schon darauf hingewiesen –: Der Abbau der Bahninfrastruktur ist schon seit drei Jahren passé. Das Schienennetz wächst seit 2016 wieder.
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Die Trendwende ist geschafft.
({4})
Der Bund hat mit dem Investitionshochlauf für die Verkehrsinfrastruktur schon in der vergangenen Legislatur damit begonnen, die Mittel für Investitionen in die Schieneninfrastruktur zu erhöhen. Aktuell investieren der Bund und die Bahn mehr Geld in die Schiene als jemals zuvor.
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Es sind zudem zahlreiche neue Bundesprogramme aufgelegt worden, um den Bahnverkehr in Deutschland zusätzlich voranzubringen. Dazu gehören auch Programme wie das Bahnhofsmodernisierungsprogramm aus der vergangenen Legislaturperiode.
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Darüber hinaus gibt es viele positive Beispiele für Kooperationen mit Kommunen, die Bahnhöfe von der Bahn übernommen haben und jetzt besser dastehen als zuvor.
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Ich möchte hier das schöne Beispiel aus Osterburken ansprechen. Solche Projekte könnten mit dem von Ihnen geforderten Stopp des Verkaufs von Bahnimmobilien und -grundstücken gar nicht mehr realisiert werden.
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Wir haben das im Ausschuss ja schon eingehend diskutiert und den Antrag mit Ihren überholten Forderungen abgelehnt.
({9})
Meine Damen und Herren von den Linken, Sie zeigen mit Ihren Anträgen nicht nur, dass Sie mit überholten Ideen von gestern arbeiten,
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sondern Sie zeigen auch Ihre Rückwärtsgewandtheit. Sie wollen nämlich Zeit, Geld und personelle Ressourcen dafür verschwenden, eine interaktive Karte zu erstellen – hochmodern –, auf der aber dann Strecken abgebildet werden, die es zur Mitte des letzten Jahrhunderts in der DDR und der damaligen Bundesrepublik einmal gegeben hat.
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Ist es nicht sinnvoller, die Ressourcen zu verwenden, um zu schauen, wo in Zukunft Streckenaktivierungen oder Neubauten ermöglicht werden können, die das Netz ergänzen und effizienter machen oder für Lückenschlüsse sorgen?
({12})
Sie schreiben in Ihrem Antrag ja selbst, dass in Deutschland aktuell Strecken reaktiviert werden. Ich verstehe also nicht, warum Sie auch in Ihrem zweiten Antrag etwas fordern, was es bereits gibt.
({13})
Dann geben Sie uns ein weiteres Rätsel auf. Sie fordern nämlich, dass unerwartete Steigerungen bei den Fahrgastzahlen in zukünftige Bewertungen mit einfließen. Aber wenn sie doch unerwartet sind, wie soll man sie dann vorhersagen?
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Wenn Sie mit Glaskugel und Kaffeesatz arbeiten – wir machen das nicht.
Interessant sind auch Ihre Vorstellungen zur Finanzierung. Es soll zusätzlich zu den Regionalisierungsmitteln ein Sonderfonds eingerichtet werden, aus dem die Länder „im Schienenpersonennahverkehr Verkehrsleistungen auf reaktivierten Strecken für … von zunächst bis zu fünf Jahren bestellen können“. Das war jetzt ein Zitat aus Ihrem Antrag.
({15})
Meine Damen und Herren, wie Sie wissen, sind doch nach unserer verfassungsgemäßen Ordnung, die vielleicht bei Ihnen eine nachgeordnete Rolle spielt,
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die Länder für die Finanzierung und die Organisation des Nahverkehrs zuständig. Trotzdem unterstützt der Bund mit den Regionalisierungsmitteln die Länder bei dieser Aufgabe. Diese Mittel haben wir in der vergangenen Legislaturperiode auf 8,6 Milliarden Euro pro Jahr erhöht,
({17})
dynamisiert mit 1,8 Prozent. Im kommenden Jahr sind es schon 8,8 Milliarden Euro. Zusätzlich werden wir die Mittel nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, mit dem der Bund ebenfalls zur Verbesserung der Nahverkehrsinfrastruktur beiträgt, bis 2021 auf 1 Milliarde Euro erhöhen.
({18})
Mit diesem Geld kann man dann auch die Dietzhölztalbahn unterstützen.
Jetzt zusätzliches Geld vom Bund für den Nahverkehr zu fordern, ist fast schon unverschämt.
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Ich finde, Sie sollten dort, wo Sie was zu melden haben – das haben Sie ja leider in zwei Ländern –, darauf Einfluss nehmen, dass dieses Geld für solche Projekte beispielhaft ausgegeben wird. Dann können wir uns wieder darüber unterhalten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Michael Donth. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Wolfgang Wiehle.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Durchaus sinnvolle Anliegen wie die Erhaltung und Reaktivierung alter Eisenbahnstrecken kann man durch einen untauglichen Ansatz nicht voranbringen. Das beweisen wieder einmal die beiden Anträge der Fraktion Die Linke, über die wir heute sprechen.
Grund und Boden alter Bahnstrecken durch eine Entwidmung für andere Zwecke freizugeben – das sollte in der Tat restriktiv gehandhabt werden. Darüber haben wir im Verkehrsausschuss bereits diskutiert. Man kann aber nicht so mechanistisch vorgehen, wie Ihr Antrag das vorsieht, und die Entwidmung mit Neubau hart koppeln, sozusagen Weiche um Weiche, Prellbock um Prellbock.
Die AfD-Fraktion hat versucht, diese Idee mit einem Änderungsantrag auf eine solidere Basis zu stellen. Leider sind die anderen Fraktionen dem nicht gefolgt. Und so bleibt uns heute nur, der Beschlussempfehlung aus dem Ausschuss zuzustimmen und damit den Antrag der Linken zum Thema Entwidmung abzulehnen.
Manche Bahnstrecke, die schon stillgelegt war, aber noch nicht entwidmet, wurde durch den hartnäckigen Einsatz von Initiativen, Bürgermeistern und Landräten wieder zu neuem Leben erweckt. In allen diesen Fällen ist es der große Einsatz vor Ort, der zum Erfolg führt. Mit einer plausiblen Idee kann man viele Unterstützer gewinnen, die auch Geldmittel für die vorbereitenden Schritte beibringen und einen Bahnbetrieb organisieren. Beim Personenverkehr schließt das in aller Regel eine Bestellung aus den – Kollege Donth hat sie schon erwähnt – Regionalisierungsmitteln der Länder mit ein.
Mit dem Antrag auf der Drucksache 19/9076 soll nun aber auf Bundesebene ein Dukatenesel für solche Vorhaben aufgestellt werden. Damit werden die Verantwortlichkeit vor Ort aufgehoben und das Subsidiaritätsprinzip verletzt. Deshalb hält die AfD diesen Ansatz für falsch.
({0})
Das würde nämlich dazu führen, dass auch für abseitige Vorschläge, die vor Ort kaum jemand haben will, Bundesdukaten in Gutachten oder sogar in die Bestellung von Zugleistungen fließen. Nein, die Verantwortung für die Reaktivierung von Bahnstrecken muss vor Ort bleiben. Dort kann man den Sinn am besten beurteilen und wird die richtigen Prioritäten für die Finanzierung setzen.
Einen sehr wichtigen Gedanken reißt der Antrag der Kollegen von der Linksfraktion zwar an, führt ihn dann aber leider nicht weiter aus. Ich meine die Betrachtung des Nutzens einer Bahnstrecke aus volkswirtschaftlicher Sicht. Für den Ausbau von Bahnstrecken kann es ja durchaus Bundesmittel geben, wenn der Nutzen die Kosten übersteigt. Bei der Berechnung des Nutzens gibt es Faktoren, die bislang unter den Tisch fallen, obwohl sie sehr bedeutend sind, insbesondere die Eignung einer Strecke als Ausweichstrecke.
Erinnern wir uns: Die Havarie an der Tunnelbaustelle in Rastatt im August 2017
({1})
hat dazu geführt, dass eine der wichtigsten Bahnstrecken Deutschlands für sieben Wochen vollständig unterbrochen war. Viele Züge fielen aus, und für den Güterverkehr war das eine Katastrophe. Der volkswirtschaftliche Schaden wird auf 2 Milliarden Euro geschätzt. Eine Ausweichstrecke, die das vermieden hätte, hätte den entsprechenden Nutzen gehabt. Nur taucht dieser Nutzen in keiner der heutigen Nutzen-Kosten-Rechnungen auf.
Natürlich weiß kein Mensch, wann und wo eine solche Katastrophe wie in Rastatt passiert. Aber für defekte Züge, kaputte Oberleitungen oder durch Hindernisse blockierte Gleise kann man sehr wohl Wahrscheinlichkeiten berechnen, und auch für die Dauer solcher Störungen. Mit ein paar weiteren Rechenschritten kann man dann auch den Wert einer Ausweichmöglichkeit berechnen. Für die eine oder andere alte Bahnstrecke könnte dieser Nutzen den Weg zur Reaktivierung eröffnen. Dieses Thema, meine Damen und Herren, sollten wir in der Ausschussberatung mit dem größten Nachdruck vertiefen.
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Die AfD-Fraktion stimmt der Überweisung des neuen Antrags in die Ausschüsse zu.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Wolfgang Wiehle. – Nächste Rednerin: Kirsten Lühmann für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Verehrte Zuhörende! Die Fraktion Die Linke fordert in ihren Anträgen den Stopp des Abbaus der Bahninfrastruktur und die Reaktivierung von Bahnstrecken. Ich habe mir mal angeguckt, was das bedeutet. Die Zahlen, die ich gesehen habe, sind etwas andere; dazu gleich mehr.
Wenn Strecken stillgelegt werden, heißt das nicht unbedingt, dass alle Gleise abgebaut werden. Viele von diesen Strecken werden als Nebenbahnen, also zum Rangieren, weiterbenutzt, oder sie werden verkauft und sind dann private Gleisanschlüsse, zum Beispiel für Firmen.
Die Güterverkehrsstellen, deren Schließung Sie ansprechen, werden auch nicht abgebaut. Das heißt nur, dass sie nicht mehr regelmäßig angefahren werden. Sie können jederzeit reaktiviert werden.
Sie haben in Ihrem Antrag noch einen wichtigen Punkt angesprochen. Das ist der Fahrkartenverkauf im Bahnhof. Ja, da werden viele Verkaufsstellen geschlossen oder privatisiert. Das hat allerdings auch mit den Ausschreibungsbedingungen von Landesnahverkehrsgesellschaften zu tun. Zugegeben, diese Privatisierungen funktionieren manchmal besser und manchmal leider nicht so gut.
Die Strecken, die stillgelegt werden, werden auch oft nicht komplett abgebaut, sondern es wird, wie bei der sogenannten Amerikalinie, von einer doppelgleisigen Bahnstrecke ein Gleis weggenommen, und eins bleibt liegen. Bei dieser Amerikalinie haben wir jetzt aber zum Beispiel beschlossen, dass wir Teile des abgebauten Gleises wieder hinbauen.
Also Zahlen hin, Zahlen her: Ich denke, wir können uns darauf einigen, es wurde einfach zu viel abgebaut.
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Noch einmal zu der Frage: Wer entscheidet eigentlich, dass eine Strecke stillgelegt wird? Das Eisenbahn-Bundesamt hat dazu ein sehr kompliziertes Verfahren: Als Erstes muss festgestellt werden, dass die Strecke nicht mehr gebraucht wird – in der Regel ist dort zwei Jahre lang kein Zug mehr gefahren –, und es darf auch niemanden geben – das ist ganz wichtig –, der diese Strecke irgendwann wieder bedienen will. Erst dann wird sie stillgelegt. Ich denke, das sind die begründeten Ausnahmen, von denen Sie in Ihrem Antrag sprechen. Es ist so, dass im Moment solche Ausnahmen gemacht werden. Ganz aktuell: In diesem Monat sind wieder Strecken stillgelegt worden, unter anderem in Bochum der ehemalige Anschluss an das Opel-Werk. Das waren circa 500 Meter. Das Gelände von Opel ist inzwischen veräußert. Die neuen Besitzenden haben kein Interesse an dem Anschluss. Also wird das Gleis stillgelegt.
Aber es gibt auch Stilllegungen, die im Interesse von Kommunen sind. In Niedersachsen gibt es eine Kommune, in der es eine Bundeswehrkaserne gab. Die hatte ein Gleis, um Bundeswehrmaterial zu verladen. Die Kaserne gibt es nicht mehr. Das Gleis ist über. Die Kommune würde da gerne einen Fahrradweg bauen. Ich glaube, wir sind uns einig: Es kann durchaus sinnvoll sein, so ein Gleis stillzulegen.
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Viele dieser stillgelegten Strecken sind aber Nahverkehrsstrecken. Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, dass die Länder inzwischen Programme haben, um diese Strecken zu reaktivieren, auch um Haltepunkte zu reaktivieren, damit dort wieder Verkehre stattfinden können. Der Bund unterstützt diese Ansinnen – das wurde auch schon gesagt – mit den weit über 8 Milliarden Euro, die wir jährlich an die Länder für den Nahverkehr geben; und das ist auch sehr gut so.
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Wir haben auch die zuletzt 2016 angepasste Gleisanschlussförderrichtlinie. Mit dieser Richtlinie können eigentlich unwirtschaftliche Gleisanschlüsse für Firmen wirtschaftlich werden, und wir können dadurch viele Güter, die sonst auf der Straße transportiert worden wären, auf die Schiene holen. Also, das ist ein weiteres Konzept der Bundesregierung, das durchaus Sinn ergibt.
Insgesamt werden wir in diesem Jahr die Rekordsumme von 10,7 Milliarden Euro für die Schieneninfrastruktur ausgeben. Das sind 1,3 Milliarden Euro mehr als noch im Jahr 2018. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, Ihre erste Forderung – deutliche Erhöhung der Finanzmittel für die Schiene – haben wir somit erfüllt.
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Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es beim Neubau von Schienenwegen, den Sie ja fordern, immer mehr Bürgerproteste gibt. Auch da haben wir gesagt: Wir wollen lieber Ausbau vor Neubau. – Aber auch beim Ausbau haben wir das Problem: Ausbau heißt mehr Züge, mehr Züge heißt mehr Lärm, und davon sind die Menschen an den Strecken natürlich zu Recht nicht gerade begeistert. Wir haben deshalb Dialogforen initiiert, in denen die Menschen mit der Bahn und der Politik Kompromisse erarbeiten. Noch in diesem Jahr werden wir in diesem Hause über mehrere Anträge debattieren, in denen es um zusätzliches Geld für übergesetzliche Maßnahmen geht, die sich aus den Beschlüssen dieser Dialogforen ergeben. Ich bin mir sicher, wenn es sinnvoll ist, werden wir dieses Geld auch zur Verfügung stellen.
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Eine ganz zentrale Kennziffer für die Frage „Funktioniert unsere Politik, oder nicht?“ ist die Verkehrsleistung. Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass wir Rekordzahlen im Bereich der bestehenden Infrastruktur verzeichnen können: Im Schienenpersonennahverkehr betrug die Zahl der Reisenden im Jahr 2018 knapp 2,7 Milliarden Personen. Das sind im Vergleich zu zehn Jahren zuvor fast 40 Prozent mehr. Eindeutig eine Erfolgsgeschichte, liebe Kollegen und Kolleginnen!
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Im Schienenpersonenfernverkehr haben wir 2018 insgesamt etwa 150 Millionen Fahrgäste befördert. Das sind gut 4 Prozent mehr als im Jahr davor. Also: Mit unserer Politik haben wir allem Anschein nach den richtigen Weg eingeschlagen. Sie trägt Früchte.
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir mit dem Schienennetz, so wie es jetzt ist, natürlich nicht zufrieden sind. Die Vorredner haben schon viele Programme angesprochen. Ich ergänze nur noch das Programm für 740-Meter-Züge, also für lange Güterzüge: Noch in diesem Jahr werden die ersten Strecken dafür ertüchtigt; die Planungen laufen. Wir haben ein Sonderprogramm, das es uns deutlich erleichtern wird, die Güterverkehre auf der Schiene vernünftig und wirtschaftlich abzuwickeln.
Wir haben noch ein ganz großes Problem – ich gebe zu, dass wir uns da noch sehr anstrengen müssen –: Es geht um das Thema Digitalisierung der Schiene. Wenn wir das vernünftig anpacken und finanziell unterlegen können, dann können wir in dem bestehenden Netz eine Kapazitätsreserve von 20 Prozent heben. 20 Prozent, liebe Kolleginnen und Kollegen, die wir dringend für eine Mobilitätswende und für den Klimaschutz brauchen. Gemeinsam müssen wir hier zusammenstehen, damit wir das hinbekommen.
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Zusammengefasst: Die Forderungen aus dem Antrag nach einer Trendwende haben wir erfüllt. Es gibt mehr Geld für den Schienenverkehr. Wir reaktivieren Strecken.
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Das spiegelt auch der Koalitionsvertrag wider, in dem eindeutig steht – ich zitiere –:
Für uns steht als Eigentümer der Deutschen Bahn AG nicht die Maximierung des Gewinns, sondern eine sinnvolle Maximierung des Verkehrs auf der Schiene im Vordergrund.
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Daran richten wir unsere Bahnpolitik aus.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kirsten Lühmann. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Torsten Herbst.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verbotsforderungen haben im politischen Berlin derzeit Hochkonjunktur. Die Grünen wollen Flugreisen verbieten und Autos mit Verbrennungsmotor. Die Linken wollen privaten Wohnungsbesitz verbieten.
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Jetzt haben Sie sich wieder ein neues Verbot ausgedacht. Sie wollen verbieten, dass Bahnstrecken und Bahnimmobilien entwidmet oder verkauft werden. Damit sind Sie aber auf dem Holzweg, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Zwischen allen Fraktionen ist wohl unstrittig, dass eine bessere Bahn auch eine bessere Infrastruktur braucht. Nur stellt sich die Frage: Erreichen wir dieses Ziel mit Ihren beiden Anträgen?
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Und da sage ich, nein; denn im sozialistischen Traumland, liebe Frau Leidig, da regnet Geld in unendlicher Menge vom Himmel.
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In der Realität der Eisenbahnpolitik sieht das anders aus. Deshalb sollten wir das Geld dort investieren, wo es auch einen großen Nutzen bringt, meine Damen und Herren.
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Deshalb ist es auch nicht entscheidend, wie lang ein Netz ist, sondern dass die Gleise an der richtigen Stelle liegen. Ja, wir brauchen mehr Überholstrecken im Eisenbahnbereich. Ja, wir müssen Knotenpunkte ausbauen, wir brauchen für den Güterverkehr mehr Anschlussgleise und Verladestellen. Aber was wir nicht brauchen, ist, jede ungenutzte Nebenstrecke auf Teufel komm raus und so teuer wie möglich zu erhalten, meine Damen und Herren.
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Im Übrigen nützt das auch den Reisenden nichts, wenn eine Strecke nicht mehr groß genutzt wird, wenn in einem Zug gerade einmal eine Handvoll Reisende sitzt. Es sind Tonnen von Stahl, die da bewegt werden. Das ist dann weder ökonomisch noch ökologisch sinnvoll, Herr Gastel, auch wenn Sie das anders sehen.
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Manchmal ist es aus Sicht der Fahrgäste das bessere Angebot, wenn fünf- bis sechsmal am Tag ein Busangebot besteht, als wenn zweimal am Tag ein Zug kommt. Es geht nämlich um Mobilität und nicht um Ideologie, liebe Grüne.
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Was heißt denn ein komplettes Verbot für Entwidmungen und für Stilllegungen von Strecken? Was heißt das für die Kommunen? Es bringt weniger Entwicklungsmöglichkeiten – das wurde schon angesprochen – mit sich. Dass zum Beispiel ehemalige Bahnstrecken für touristische Nutzung aufbereitet werden – Stichwort „Fahrradwege“ – und private Investoren vielleicht ehemalige Bahnhofsgebäude zu Wohnraum ausbauen, ist dann nicht mehr möglich, wenn wir Ihrem Antrag folgen, liebe Linke.
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Ein Verbot jeglicher Veränderung bedeutet, dass eben nicht mehr bedarfsgerecht ausgebaut werden kann. Und die Mittel, die wir haben, meine Damen und Herren, brauchen wir viel dringender für Investitionen, zum Beispiel in eine schnellere Digitalisierung des Eisenbahnnetzes, damit wir Kapazitäten an der richtigen Stelle erhöhen.
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– Ich habe beide Anträge im Detail gelesen.
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Deshalb kann ich die entsprechende Kritik aufnehmen.
Die OECD hat vor kurzem gesagt: Bei der Steuerlast ist Deutschland Weltspitze, doch die Infrastruktur verfällt. Da ist was dran, meine Damen und Herren, weil wir uns zum Teil verzetteln und nicht dort investieren, wo wir es für eine schnelle, bessere, zuverlässigere und innovative Bahn brauchen, eine Bahn, die wieder zu einem Aushängeschild des Hochtechnologiestandorts Deutschland wird. Das wollen wir, und das ist das Gegenteil von dem, was Sie wollen, liebe Linke.
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Vielen Dank, Torsten Herbst. – Nächster Redner in der Debatte: Matthias Gastel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bahn in Deutschland ist das Opfer politischer Missachtung und politischer Fehlentscheidungen. Die meisten Sünden in Sachen Bahn liegen in der Vergangenheit, aber leider eben längst nicht alle. Auf jeden Fall holen uns diese Sünden heute immer mehr ein.
Über Jahrzehnte wurde abgebaut: die Infrastruktur im Bereich der Überholgleise, der Abstellgleise, der Weichen und der Verladestellen für den Schienengüterverkehr. Das heißt, die Unternehmen haben – wenn überhaupt noch – einen immer schwierigeren Zugang zur Schiene.
Auf vielen früheren Bahnanlagen finden sich heute Straßen, Lebensmitteldiscounter oder Baumärkte. Die Folge ist: Wir haben zwar so viel Bahnverkehr wie noch nie, aber auf geschrumpften Gleisen mit allen Problemen: Kapazitätsengpässe, Überlastungen, Verschleiß der Infrastruktur und Verspätungen.
Ich war kürzlich auf einem Kongress zum Schienengüterverkehr. Da haben Logistiker erklärt, dass ihnen immer häufiger Kunden ausdrücklich untersagen, die Güter per Bahn zu transportieren, weil sie sich nicht sicher sein können, dass die Fracht pünktlich ankommt, und weil sie nicht nachvollziehen können, wo sich ihre Fracht derzeit befindet. Das ist die Situation, und das sind die Folgen einer völlig verfehlten Bahnpolitik von Jahrzehnten.
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Daher muss, wer Bahn ausbauen möchte, erst einmal den Abbau von Bahninfrastruktur stoppen. Die Gegenwart unter Schwarz und Rot sieht aus wie folgt: Sie brüsten sich zwar damit, die LuFV-Mittel zu erhöhen, also die Mittel für die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung zum Erhalt der Substanz, aber dieses Plus von 1 Milliarde Euro ist viel zu niedrig. Vor allem, wenn man die Preissteigerungen im Baugewerbe kennt, dann weiß man, dass die Infrastruktur weiterhin zerfallen wird, statt dass sie besser wird.
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Sie können mit dem Mehr an 1 Milliarde Euro noch nicht einmal das sogenannte kapazitätsschonende Bauen finanzieren. Das heißt, man hat Probleme mit mehr Baustellen, weil die Kapazität dann schwindet und man nicht die Möglichkeit hat, Baustellen so zu organisieren, dass die Kapazität wenigstens noch teilweise erhalten wird. Deswegen ist das eindeutig zu wenig.
Aber auch über die LuFV-Mittel hinaus – im Grunde ist es ja richtig, dass da mehr reingesteckt wird – machen Sie das Notwendige nicht. Wo ist denn zum Beispiel die Finanzierung des Deutschland-Taktes? Wo ist die Finanzierung der Digitalisierung der Schiene? Und wo ist das, was notwendig ist, um einen fairen Wettbewerb zwischen Bahn, Lkw, Auto und Flugzeug herzustellen? Fehlanzeige bei Schwarz und Rot!
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Viele Fehler wurden in der Vergangenheit gemacht, manche noch bis heute. Entscheidend ist, dass jetzt endlich die Konsequenzen gezogen werden. Die anstehenden Haushaltsberatungen könnten doch eine wunderbare Chance dafür sein, beispielsweise ein Gleisanschlussförderprogramm für einen starken Schienenverkehr im Güterbereich aufzulegen, Streckenreaktivierungsprogramme aufzulegen, Elektrifizierung von Dieselstrecken vorzunehmen, Digitalisierung voranzutreiben.
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Wenn Sie fragen, wie man das finanziert: Die Lkw-Mauteinnahmen sprudeln, aber Sie investieren diese Einnahmen ausschließlich in einen noch längeren und breiteren roten Teppich für immer mehr Lkw auf den Autobahnen; und genau das ist der Fehler.
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Eine starke Bahn ist nötig für eine nachhaltige Mobilität der Menschen. Eine starke Bahn ist nötig, damit weniger Lkw auf den Autobahnen unterwegs sind und durch die Ortschaften brettern, und eine starke Bahn ist nötig, um die Klimaziele zu erreichen. Sie haben in den Haushalt 300 Millionen Euro für Strafzahlungen für verfehlte Klimaziele eingestellt. Wie schön wäre es, wenn wir dieses Geld nicht als Strafe zahlen müssten, sondern es übrig hätten, um es in die Schiene zu investieren! Das wäre eine gute Investition. Machen Sie das doch mal endlich.
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Vielen Dank, Matthias Gastel. – Nächster Redner: Florian Oßner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Linke und Grüne, lieber Herr Gastel, bitte tun Sie mir einen Gefallen: Hören Sie auf, die ewige Mär zu verbreiten, der Bund investiere nur einseitig in die Straße und vernachlässige die Schiene.
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Durch ständiges Wiederholen der Unwahrheit wird Falsches einfach nicht wahr.
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Ganz im Gegenteil – ich werde es Ihnen erklären –: Schon in der vergangenen Legislaturperiode hat das Bundesverkehrsministerium die Investitionen im Bereich der Schiene deutlich erhöht.
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Der Bundesverkehrswegeplan sieht bis 2030 ein Schieneninvestitionsvolumen von über 113 Milliarden Euro vor. Das sind übrigens 42 Prozent des Gesamtvolumens für unsere Verkehrswege – ein absolut historischer Spitzenwert.
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Auch in 2018 erreichten die Investitionen in das Schienennetz ein Rekordniveau. Bundesminister Andreas Scheuer hat mehrfach deutlich gemacht, dass er diese Politik konsequent fortführen und weiterentwickeln möchte. Etliche Projekte wurden durch ihn aus dem Potenziellen in den Vordringlichen Bedarf hochgestuft und damit beschleunigt.
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Dafür gilt es ein herzliches Dankeschön an den Bundesminister auszusprechen.
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Die Mittel für den regionalen Verkehr, die sogenannten GVFG-Mittel – meine Vorredner haben es schon angesprochen –, werden bis 2021 verdreifacht. Das sind die Fakten, und aus meiner Sicht sprechen diese auch für sich. Hinzu kommen noch über 50 Millionen Euro für nachhaltige Antriebe im Schienenverkehr wie die Förderung von Batterie-, Brennstoffzellen- sowie Hybridfahrzeugen. Mit dem Innovationsprogramm Logistik 2030 wollen wir zudem den Schienengüterverkehr durch digitale Anwendungen und mit ETCS fördern sowie ein 740-Meter-Zugnetz und autonome Loks an den Start bringen.
Sie sehen also: Wir bewegen die Schiene, allerdings betreiben wir anders als Sie keine ideologische Verkehrsdebatte,
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sondern wir unterstützen alle Verkehrsträger und spielen diese nicht gegeneinander aus und arbeiten mit einem ganzheitlichen Blick verkehrsträgerübergreifend.
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Ich komme konkret auf Ihre Anträge zurück: Sie fordern – ich zitiere –: „Die Bahn wieder ins ganze Land bringen – Bahnstrecken reaktivieren“ und „Abbau von Bahninfrastruktur stoppen“. Würde das verfilmt werden, wäre der Titel wohl: „Zurück in die hochdefizitäre Staatsbahn“. Allerdings möchte ich nicht der Produzent dieses Filmes sein,
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vor allem keiner, der dieses Projekt auch noch zu finanzieren hat.
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Ebenso wie Enteignungen keine neuen Wohnungen in Berlin schaffen,
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schaffen Streckenreaktivierungen an wenig genutzten Routen auch nicht automatisch mehr Nachfrage. Das sind wirklich die Rezepte von gestern.
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Verstehen Sie mich nicht falsch:
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Ich bin grundsätzlich dafür, Strecken offenzuhalten, wenn dies wirtschaftlich sinnvoll ist, so zum Beispiel in meiner Heimat bei der Güterstrecke Schierling–Langquaid.
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Aber anders als Sie sehe ich die Notwendigkeit, dass Investitionen vor allem dort erfolgen sollen, wo eine ausreichende und nachhaltige Nachfrage besteht oder sogar Engpässe vorhanden sind.
Bei den großen Neu- und Ausbaustrecken konzentrieren wir uns derzeit bewusst auf Kernnetzkorridore. Wir unterstützen dabei auch die Europäische Kommission – hoffentlich bald unter der Führung von Manfred Weber –
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bei der Entwicklung und dem Aufbau des transnationalen TEN-Netzes.
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Mit dem Stilllegen unwirtschaftlicher Strecken wird Spielraum dafür geschaffen, dass die vorhandenen Mittel auch dort eingesetzt werden, wo sie ökonomisch und ökologisch sinnvoll sind, so bei uns zwischen Landshut und Plattling, wo die Strecke teilweise zweigleisig ausgebaut wird.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Anders als Die Linke setzen wir uns deshalb für eine flächendeckende Erschließung ein, wir setzen auf einen Mix der Verkehrsträger, zum Beispiel auch unter Berücksichtigung von Buszubringerverkehr.
Damit wird klar: Aus den genannten Gründen sind die vorliegenden Anträge abzulehnen.
Vielen Dank fürs Zuhören.
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Vielen Dank, Florian Oßner. – Der letzte Redner in dieser lebendigen Debatte ist Felix Schreiner für die CDU/CSU-Fraktion. Jetzt müssen Sie es toppen!
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da gibt es gar nichts mehr hinzuzufügen.
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Dann danke ich Ihnen.
Aber so einfach mache ich es Ihnen dann doch nicht, auch wenn Herr Krischer schon aufspringt und in den wohlverdienten Osterurlaub möchte.
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Wenn man die Anträge der Linken liest und den Rednerinnen und Rednern der Opposition zuhört, stellt man sich die Frage, ob Sie Verkehrspolitik in Deutschland wirklich verstanden haben, meine Damen und Herren.
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Sie tun hier so, als würde überhaupt nichts passieren. Hätten Sie mal in den Haushalt geschaut, würden Sie sehen, was alles passiert.
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Das hätte diese Anträge vielleicht sogar überflüssig gemacht.
Die Schiene wird für den Güterverkehr attraktiver gemacht. Übrigens wurden auch die Trassenpreise gesenkt. Auch dazu lese oder höre ich von Ihnen kein Wort. 175 Millionen Euro stehen dafür zur Verfügung. Wir haben es eben gehört: 8 Milliarden Euro Regionalisierungsmittel,
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1 Milliarde Euro GVFG-Mittel für Investitionen kommen.
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Das kommt bei den Ländern an; damit bringt man Geld auf die Schiene.
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Wir hatten dieser Tage Besuch aus der Schweiz. Die Schweiz ist immer das Musterbeispiel für Schienenverkehr. Herr Gastel war auch dabei. Wir haben über den großen Vertrag von Lugano diskutiert, mit dem wir uns verpflichtet haben, die Voraussetzungen für leistungsfähige Zulaufstrecken auch im Zuge der NEAT und der Alpentransversale zu schaffen. Daran arbeiten wir. Natürlich sind wir da im Verzug – keine Frage.
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Ich will aber am Beispiel der Rheintalbahn auch etwas zur Wahrheit beitragen. Wir können über Gleisreaktivierungen reden. Wir können darüber reden, mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene zu bringen. Das ist alles richtig. Wir wollen den Ausbau der Schieneninfrastruktur.
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Wenn wir aber ehrlich sind: Dort, wo wir das machen, wo es natürlich zu einer Mehrbelastung für die Bürgerinnen und Bürger kommt, haben wir eine andere Diskussion.
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Ich glaube, gerade die Rheintalbahn ist ein Musterbeispiel dafür, wie der Bund, Land, Bürger und Gesellschaft dafür gesorgt haben, dass man Projekte dann eben auch gemeinsam mit entsprechenden Mitteln vorantreiben kann. Dieser Bundestag hat 1 Milliarde Euro für mehr Lärmschutz an der Rheintalbahn beschlossen.
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Auch das war eine gute Maßnahme.
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Aber das braucht auch Zeit, meine Damen und Herren von der Opposition.
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– Wissen Sie was: Ich kenne Ihren Spitzenkandidaten gar nicht.
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Ich würde mich freuen, wenn Manfred Weber es wirklich wird. Das ist doch eine tolle Botschaft heute.
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Auch die Reaktivierung und die Elektrifizierung sind Schwerpunkte. Da gibt es ganz konkrete Ziele. Bis 2025 sollen 70 Prozent des Schienennetzes elektrifiziert sein.
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2 000 Kilometer neue Strecken sollen elektrifiziert werden. Das kostet übrigens 10 Milliarden Euro. Ich sage Ihnen auch: Ich komme aus einer Region, wo die Elektrifizierung der Hochrheinstrecke ansteht. 300 Millionen Euro sind für ein relativ kleines Schienenprojekt notwendig. Das gehen wir gemeinsam an: Bund und Land.
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– Herr Gastel, die Landesregierung von Baden-Württemberg mit einem grünen Verkehrsminister steht auch dafür. Er redet im Landtag auch anders als Sie hier, meine Damen und Herren von den Grünen.
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Wir werden diese Maßnahme gemeinsam umsetzen.
Hören Sie auf, den Menschen draußen zu erklären, dass auf der Schiene überhaupt nichts passiert. Sie erzählen den Leuten einfach nicht die Wahrheit, meine Damen und Herren.
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Dies ist die letzte Rede vor Ostern. Ich höre zwar nicht mit der Osterbotschaft auf, ich sage aber ganz ehrlich:
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Ich wünsche Ihnen ein schönes Osterfest und hoffe, dass wir bei der nächsten Bahndebatte dann vielleicht ein bisschen mehr über Qualität reden als über die Dinge, die Sie in Ihren Anträgen geschrieben haben.
Danke schön.
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Vielen Dank, Felix Schreiner. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/9076 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir haben auch noch eine Abstimmung; Herr Gastel, das betrifft Sie womöglich auch. – Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Abbau von Bahninfrastruktur stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8804, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/7907 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen sehe ich keine. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, FDP und AfD. Dagegen waren die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich wünsche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, den verbliebenen Kolleginnen und Kollegen auf der Regierungsbank, Ihnen, unseren Besucherinnen und Besuchern, aber vor allem auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses, die hier wirklich ackern und dafür da sind, dass wir unsere Debatten führen können,
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ruhige, erholsame, friedliche, schöne und schokoladige Feiertage, ein friedliches Osterfest mit Ihren Liebsten.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 8. Mai 2019, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
(Schluss: 15.27 Uhr)