Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Aldous Huxley beschrieb in den 30er-Jahren in seinem Roman „Brave New World“ bereits die pränatale biologische Einwirkung auf die Menschen: Fantasie eines Autors, unerreichbare Fiktion. Wir wussten und fürchteten, dass der Fortschritt uns irgendwann in die Lage versetzen würde, den humangenetischen Code noch vor der Geburt zu lesen, zu analysieren und zu verändern.
Die nichtinvasive Pränataldiagnostik, um die es heute geht, verändert kein einziges Chromosom und führt uns doch zu der Frage: Was ist für uns Leben? Es ist vor allem nicht disponibel. Was es lebenswert macht, sind gerade die Vielfalt, die Überraschung, das nicht Perfekte. Diese Überzeugung, meine Damen und Herren, ist keine Glaubensfrage; in diesem Haus ist sie Verpflichtung. Sie steht im Artikel 1 unseres Grundgesetzes. Es ist die unantastbare Würde des Menschen.
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Doch wie so oft: Ethische Fragestellungen sind nicht schwarz-weiß; sie sind komplex. Da ist zunächst die Tatsache, dass die Untersuchungen, über die wir heute sprechen, bereits angewendet werden. Kein Gesetz einer globalisierten, digitalisierten Welt kann sie wieder vom Markt nehmen.
Da ist zum Zweiten die Erkenntnis, dass die bereits seit Jahrzehnten solidarisch finanzierten Alternativen wie die Amniozentese mit Risiken für das Leben des ungeborenen Kindes einhergehen. Bei nur 200 Fällen gibt es mindestens ein totes Kind, das gesund hätte aufwachsen können. Bei einem Diagnostikverfahren! Dieses Risiko wollten wir, die Politik, senken. Das BMBF förderte erfolgreich die Entwicklung der Bluttests, über die wir heute sprechen.
Wir sehen, dass unsere neuen Fähigkeiten der pränatalen Diagnostik und die fiktive Brave New World eben nicht zwei Seiten derselben Medaille sind. Wenn wir heute andere Grenzen bei dieser nichtinvasiven Diagnostik ziehen als bei riskanter Diagnostik, so wäre das weder rational noch ethisch und medizinisch erst recht nicht zu erklären.
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Und doch müssen wir uns mit dem Thema befassen. Wir müssen die Gelegenheit nutzen, für das Leben in all seiner Vielfalt zu werben. Wir müssen stärker als bisher zeigen, was für ein wunderbares Geschenk Kinder mit Downsyndrom für unsere Welt sind. Viele Medien haben die Debatte in den vergangenen Wochen zum Anlass für Geschichten genommen. Hierfür möchte ich ihnen danken.
Danken möchte ich auch der FDP-Fraktion, und zwar dafür, dass sie einen unterirdisch illustrierten Tweet zum Thema gelöscht und sich dafür entschuldigt hat. Besser wäre es allerdings gewesen, wir hätten ihn gar nicht erst gesehen.
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Die Debatte zeigt einen zentralen Vorteil auf, den eine Kostenübernahme mit sich bringen kann. Auf eine Einbindung der Bluttests in psychosoziale Beratung können wir im Rahmen der Kostenübernahme bestehen, bei der Nutzung von Angeboten außerhalb unseres Gesundheitssystems nicht. Wir als Gesellschaft müssen Fehlentwicklungen verhindern. Für die Atmosphäre, die das garantiert, haben wir zu sorgen. Mit der Frage der Kostenübernahme stehen wir also am Ende lediglich vor der Entscheidung, ob wir die werdenden Eltern mit ihrem gekauften Ergebnis alleinlassen oder verantwortungsvoll einbinden. Ich bin für die Einbindung.
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Danke sehr. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Gehrke, AfD.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Anlass zu dieser Debatte war offenbar die vom Gemeinsamen Bundesausschuss zu entscheidende Frage, ob ein neues, aber schon seit 2012 bekanntes und bewährtes molekulargenetisches Testverfahren auf Trisomie 21, besser bekannt als „Downsyndrom“, als Kassenleistung anerkannt werden soll.
Dazu muss man wissen, dass dieses neue Verfahren ein risikobehaftetes, aber bereits seit 1975 zugelassenes und von der GKV auch bezahltes Verfahren, die sogenannte Fruchtwasseranalyse, als Routineverfahren ersetzen soll. Diese ist schon seit über 40 Jahren Bestandteil der Mutterschafts-Richtlinien und seitdem problemlos bei Risikoschwangerschaften als Kassenleistung anerkannt. Also: Den Untergang des Abendlandes zu befürchten, nur weil ein neues, risikoarmes Verfahren ein altes, risikobehaftetes mit zusätzlich besserer diagnostischer Aussagekraft und dann noch kostengünstiger ersetzen soll, geht schon mal an der gegebenen Realität vorbei.
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Deswegen ist zunächst festzustellen:
Erstens. Es geht im Gegensatz zu allen wilden Diskussionen nicht um die Einführung eines neuen Testverfahrens.
Zweitens. Es geht auch nicht darum, ein Screening-Programm oder eine Rasterfahndung zu schaffen. Denn Voraussetzung ist nach wie vor die medizinische Feststellung einer Risikoschwangerschaft.
Drittens. Schon gar nicht geht es um Genmanipulation. Genetische Bluttests wollen veränderte oder krankhafte Gene erkennen. Genmanipulationen wollen Gene verändern. Und genau das ist durch diese Tests nicht möglich und wird es auch nie sein. Alle Diskussionen um Designerbabys, blonde Haare und blaue Augen erübrigen sich hier, zumindest unter dem Titel dieser Debatte.
Die heutige Diskussion eröffnet zwei Richtungen, erstens die Erörterung der Frage, ob dieser neue, risikoärmere Test genauso von der gesetzlichen Krankenkasse bezahlt werden soll wie die Fruchtwasseranalyse, und zweitens die grundsätzliche ethische Frage, was passiert, wenn eine Frau durch diesen Test – ob alt oder neu – erfährt, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Kind mit Trisomie 21 bekommen wird. Dazu sagten die Grünen bereits in der Debatte zur Abtreibung 1995 – ich zitiere Kerstin Müller –:
Frauen müssen endlich selbst entscheiden können, ob sie Kinder haben wollen oder nicht – ohne Zwangsberatung und ohne strafrechtliche Sanktion.
Das ist letztendlich der Weg, den § 218 Strafgesetzbuch ohne Wenn und Aber aufzugeben, und diesen Weg werden wir von der AfD mit Sicherheit nicht mitgehen.
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Solange der Gesetzgeber keine Klarheit zur Beibehaltung des § 218 gibt, ist es scheinheilig, über etwaige ethische Konsequenzen eines bei Risikoschwangerschaften anzuwendenden Tests zu diskutieren.
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Pro Jahr werden bis zu 30 000 bis 40 000 Fruchtwasseruntersuchungen – hören Sie gerne zu! – zulasten der GKV vorgenommen. Das Risiko einer dadurch ausgelösten Fehlgeburt wird auf zwischen 0,5 und 1 Prozent taxiert. Das heißt, dass durch diese Untersuchung pro Jahr circa 150 bis 400 Mütter ihr Kind verlieren, und zwar unabhängig davon, ob eine Trisomie 21 festgestellt wird oder nicht. Wer hier im Plenum, meine Damen und Herren, will es verantworten, diesen neuen, risikolosen Test bei Risikoschwangerschaften nicht als Regelleistung anerkennen zu lassen, zumal bei Risikoschwangerschaften nicht nur das Kind, sondern auch die Mutter per se bereits höher gefährdet ist als Normalgebärende? Dieser Test, meine Damen und Herren, muss Regelleistung werden.
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Interessant ist aber auch, dass nach vorliegenden Berichten jedes Jahr etwa 100 000 Untersuchungen als Selbstzahlerleistungen durchgeführt werden, das heißt, ohne dass vorher eine Risikoschwangerschaft festgestellt wurde. Dies zeigt das hohe Informationsbedürfnis der werdenden Eltern über das ungeborene Kind. Wer das Geld hat, macht bereits seit Jahren diesen neuen Test. Der Humangenetiker Zerres, der schon länger auf diesem Gebiet forscht, glaubt nicht, dass es dadurch zu einer höheren Zahl von Abtreibungen gekommen ist.
Schwierig ist allein die Entscheidungsfindung der Mutter, wie sie mit dem Wissen umgehen soll, wenn ihr von den Grünen und der SPD seit 1995 zugerufen wird: Du allein entscheidest! Du kannst sorglos, am besten noch bis zum neunten Monat, abtreiben!
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Wenn du nicht willst, musst du kein Kind bekommen!
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Dadurch, und nur dadurch, meine Damen und Herren, wird Druck auf diejenigen Mütter aufgebaut, die auch auf die Rechte ihres ungeborenen Kindes achten und nicht nur auf ihre eigenen Rechte.
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Nicht die Frage der Zulassung eines risikolosen Tests als Kassenleistung bringt Schwierigkeiten; die politische Wertschätzung ungeborenen Kindern gegenüber bringt Schwierigkeiten.
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Da brauchen wir, Herr Kollege Lauterbach, auch kein neues Gremium aus Wissenschaftlern und Ethikern; wir brauchen Politiker, die sich zu den Geistern bekennen, die sie gerufen haben.
Wir leben heute in einem Land, das nicht nur toleriert, sondern politisch sogar propagiert, dass sich Frauen gegen ein Kind entscheiden.
Herr Kollege Dr. Gehrke, –
Ich komme zum Schluss.
– Sie sind am Ende Ihrer Redezeit. Bitte beenden Sie Ihre Rede.
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Wir sind gegen die Tests – –
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Danke sehr. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist auch vereinbart worden – das habe ich versäumt zu sagen –, dass zwei Redebeiträge zusammengelegt werden können.
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– Mir ist gesagt worden, es sei vereinbart worden. Ich bin jetzt auch so verfahren. Ich füge aber hinzu, Herr Kollege Baumann: Das heißt natürlich: Sie hatten jetzt Ihre Redebeiträge für zwei Runden.
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Sie kommen erst in der übernächsten Runde wieder dran.
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Das ist logisch.
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– Gut.
Damit ist der nächste Redner Dr. Karl Lauterbach.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst einmal ganz herzlich dafür bedanken, dass wir diese Debatte heute haben, die wir respektvoll, auch mit Respekt vor der Position der anderen, führen werden.
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Davon wird uns auch der Beitrag, den wir gerade gehört haben, nicht abhalten. Es ist für mich sehr wichtig, das in den Vordergrund zu stellen. Ich respektiere auch die Positionen aller, die eine andere Position verteidigen als ich.
Ich bin für den Test und will das kurz medizinisch und dann ethisch begründen.
Medizinisch ist die Lage folgende: Wir haben derzeit ein Routineverfahren. Wir machen einen Screening-Test. Dann schauen wir uns die Hautfalten des Kindes an. Wir machen einen Bluttest, der mit Genen nichts zu tun hat. Auch der Zustand der Schwangerschaft wird betrachtet. Das machen wir bei fast allen Frauen. Wir sehen dann, ob das Risiko einer Trisomie vorliegt. Das Problem, auch für die Frau, ist bei diesem Test, der routinemäßig gemacht wird, dass er in sehr vielen Fällen falsch positiv ist; das heißt, man hat den Verdacht auf Downsyndrom, der dann aber nicht zutrifft.
Dann kommt die Amniozentese. Die Amniozentese zeigt aber bei 19 von 20 Verdachtsfällen, dass kein Downsyndrom vorliegt. Somit hat man 19-mal eine Amniozentese gemacht und findet nur einen wirklichen Fall. Dazu kommt das Risiko von 1 : 100 bis 1 : 200, dass das Kind durch den Eingriff selbst stirbt, obwohl es nie gefährdet war. Das ist das Problem bei dem jetzigen Verfahren.
Der neue Test sucht nach DNA-Schnipseln des Kindes im Blute der Mutter. Da kann man sehr genau sagen: Wenn dieser Test negativ ist, also wenn sich nichts zeigt, dann liegt diese Krankheit bzw. diese Behinderung – es ist keine Krankheit – auch so gut wie nie vor. Ich kann somit die Behinderung ausschließen. Wenn der Test, den man bei einer Frau gemacht hat, positiv ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass diese Behinderung tatsächlich vorliegt. Der Test ist medizinisch gesprochen also schlicht und ergreifend viel besser. Daher nehmen alle, die den Test angeboten bekommen haben, wenn das richtig erklärt worden ist, den Test.
Jetzt ist aber die ethische Frage, wenn das medizinisch so eindeutig ist: Kann ich den besseren Test Frauen vorenthalten und ihnen die gefährliche Anmiozentese zumuten, wenn sie das Geld nicht haben? Darauf ist meine klare Antwort als Ethiker: Das können wir nicht. Das können auch wir Ärzte nicht.
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Wir können diesen Frauen nicht sagen, aus welchen Gründen auch immer: Den besseren Test, den wir bei uns machen würden, bei unseren Frauen, bei unseren Lebenspartnerinnen, den können wir Ihnen nicht anbieten, weil Sie das Geld nicht haben. – Das ist aus meiner Sicht falsch.
Wir werden sehr viele dieser Tests bekommen. Wir werden Tests auf fast jede erdenkliche genetische Erkrankung bekommen. Diese sind in Vorbereitung. Deswegen brauchen wir ein Gremium; das müssen Ethiker, Wissenschaftler, Soziologen, Psychologen sein. Dieser Test ist eindeutig; zu anderen Tests habe ich eine andere Meinung. Dazu brauchen wir ein neues Verfahren und ein neues Gremium.
Vielen Dank.
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Christine Aschenberg-Dugnus, FDP, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße unsere Debatte heute hier im Deutschen Bundestag ausdrücklich, weil wir eine breite gesellschaftliche Diskussion darüber brauchen, wie wir mit vorgeburtlicher Diagnostik umgehen wollen. Dieses Thema wird uns auch noch weiter begleiten; denn bei jeder neuen wissenschaftlichen Möglichkeit müssen wir uns wieder die Frage stellen, ob und welche Grenzen wir uns setzen wollen.
Anstoß für die heutige Debatte ist die Frage, ob eine nichtinvasive Pränataldiagnostik bei einer entsprechenden Indikation von der Krankenkasse erstattet wird. Ich setze mich dafür ein, dass der Bluttest Kassenleistung werden muss,
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Aber, meine Damen und Herren, nicht als flächendeckendes Angebot der gesetzlichen Krankenversicherung; denn ich möchte keine Massenuntersuchung, kein Screening auf Trisomie 21.
Eine Fruchtwasseruntersuchung wird derzeit von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt – bei entsprechender Indikation. Das Risiko einer Fehlgeburt ist dabei allerdings groß. Ich kann das selbst beurteilen. Vor 30 Jahren galt ich als Risikoschwangere und stand vor der Frage: Mache ich diesen Test oder nicht?
Für mich besteht in der jetzigen Situation ein Widerspruch: Wie kann es sein, dass die Krankenkasse einen gefährlichen Eingriff bezahlt und den risikofreien Bluttest nicht? Das würde bedeuten, dass der risikolose Bluttest nur den Frauen zur Verfügung steht, die ihn sich leisten können, die also das Geld dafür haben. Ich finde, die finanzielle Situation darf bei so einer Frage absolut nicht entscheidend sein.
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Jede Frau muss diskriminierungsfrei entscheiden können, ob sie einen Test auf Trisomie 21, 18 oder 13 vornimmt, und vor allen Dingen, wie sie dann mit dem Ergebnis umgeht. Die Entscheidung einer Schwangeren, einen Test vornehmen zu lassen oder nicht, kann immer nur eine individuelle Entscheidung sein, bei der die Politik lediglich den Rahmen setzt, aber nicht die Entscheidung selbst vorgibt. Es gibt bei dieser Frage auch kein Richtig oder Falsch. Es existiert in gleichem Maße ein Recht auf Wissen wie ein Recht auf Nichtwissen.
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Dazu benötigt die Schwangere aber Beratung, die sie dabei unterstützt, eine verantwortungsvolle und bewusste Entscheidung zu treffen – ohne sozialen Druck, in welche Richtung auch immer, und das ist das Entscheidende dabei. Daher muss vor einem Bluttest und natürlich auch nach Vorliegen des Ergebnisses immer eine ärztliche Beratung stattfinden. Meine Damen und Herren, die Beratung muss auch beinhalten, dass ein Leben mit einem Downsyndromkind sehr erfüllend ist. Das können Ihnen viele Eltern bestätigen.
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Es geht auch darum, wie wir als Gesellschaft mit Krankheit und Behinderung umgehen.
Frau Kollegin, auch Ihre drei Minuten Redezeit sind vorüber. Kommen Sie bitte zum Ende.
Vielen Dank. – Das können wir nicht gesetzlich normieren, sondern müssen es leben, und dafür ist diese Debatte gut und richtig.
Vielen Dank.
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Cornelia Möhring, Die Linke, ist die nächste Rednerin.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte wirft tatsächlich einige Fragen auf, die nicht einfach mit Ja oder Nein zu beantworten sind. Für mich waren in der Annäherung dafür zwei Grundsätze wichtig. Der erste: Menschliches Leben darf keine unterschiedliche Wertigkeit haben.
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Der zweite: Das Selbstbestimmungsrecht der Frauen über ihren Körper gilt zu jeder Zeit und ohne Einschränkungen.
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Frauen dürfen aus keinem Grund gezwungen werden, eine Schwangerschaft fortzusetzen, wenn sie das nicht wollen. Ich denke, wir müssen aufpassen, dass wir diese Gegensätze nicht gegeneinander ausspielen. Denn eine inklusive Gesellschaft braucht Selbstbestimmung.
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Die Frage nach der Kassenleistung finde ich hingegen relativ einfach zu beantworten. Ich betone, dass es dabei nicht um eine Regelleistung oder das Gießkannenprinzip geht. Deshalb: Eine Untersuchung ohne Risiko für Fötus und Schwangere ist deutlich besser als eine mit Risiko.
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Also sollte sie auch für alle bezahlt werden; sonst bleiben Frauen und Paare mit geringem Einkommen benachteiligt.
Es geht aber nun mal um mehr als um eine Kassenleistung. pro familia berichtet eindrucksvoll aus der Beratungspraxis, wie schwer die Entscheidung für die werdenden Eltern ist. In einer Stellungnahme zum Bluttest heißt es – Zitat –: Sie
hadern mit einer Entscheidung, die eigentlich nicht zu treffen ist. Sich gegen das eigene Wunschkind oder für ein Leben mit einem Kind mit Behinderung zu entscheiden, ist ein kaum auflösbarer Konflikt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es ist auch deshalb ein kaum auflösbarer Konflikt, weil unsere Gesellschaft eben noch nicht so inklusiv ist, wie sie sein sollte, weil umfassende Teilhabe nicht gesichert ist und die notwendige Unterstützung für Eltern und auch für Alleinerziehende nicht gewährleistet ist. Ich finde es deshalb nachvollziehbar, dass es die Angst gibt, in wirtschaftliche Not zu geraten, sozial isoliert zu sein oder vielleicht die Unterstützung für ein eventuell pflegebedürftiges Kind nicht zeitlebens absichern zu können. Eine Behinderung ist in Deutschland nun mal immer noch ein Armutsrisiko, und das müssen wir abstellen.
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Eine Gesellschaft hat nicht zu entscheiden, ob eine Frau ein Kind bekommt oder nicht. Eine Gesellschaft hat auch erst recht nicht festzulegen, welches Kind das sein darf. Aber eine Gesellschaft hat die Bedingungen zu schaffen, um allen Menschen und künftigen Kindern ein gutes Leben in ihrer ganzen Vielfalt zu ermöglichen, Bedingungen, unter denen Frauen und Paare eine selbstbestimmte Entscheidung treffen können – im Kontext von Pränataldiagnostik und dennoch orientiert an Vielfalt und Menschlichkeit und nicht an Produktivität und Leistungsfähigkeit,
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auch nicht an vorgegebene Normen, wie ein Mensch in unserer Gesellschaft zu sein hat. Genau darüber möchte ich mit Ihnen diskutieren.
Vielen Dank.
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Corinna Rüffer, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein ganz warmes Willkommen gerade heute an die Gäste auf den Tribünen!
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Wir stehen am Anfang einer Entwicklung, die wir gerade noch steuern können. Ein Tropfen Blut soll in diesem Fall Auskunft darüber geben, ob ein zukünftiges Kind mit dem sogenannten Downsyndrom geboren werden würde. Wir wissen: Ganz viele andere Tests stehen vor der Zulassung. Das heißt, wir reden nicht nur über Trisomie 21.
Reden wir heute über eine soziale Frage, wie manche behaupten? Ich finde, nein. Das Gesundheitssystem ist dafür da, Menschen zu heilen. Dieser Test kann nicht dazu dienen, zu heilen, weil das Downsyndrom eben keine Krankheit ist. Man kann es nicht heilen, und man sollte es auch nicht.
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Wozu dient der Test dann? Er dient in aller Regel – machen wir uns nichts vor! – der Selektion. Die allermeisten Föten werden abgetrieben, wenn vermutet wird, dass das zukünftige Kind mit Trisomie 21 auf die Welt kommen würde. Es ist sehr schade, dass heute niemand mit Trisomie 21 von hier aus den eigenen Standpunkt vertreten kann.
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Leider befinden wir uns erneut in einem Diskurs, der weitgehend über die Köpfe der Betroffenen hinweg geführt wird. In diesem Diskurs gibt es einen Aspekt, den ich für besonders relevant halte: den der Selbstbestimmung. Was sind ihre Bedingungen und Voraussetzungen? Ist Selbstbestimmung unabhängig von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Erwartungen denkbar? Warum entscheiden sich so viele Frauen nach einem – in Anführungszeichen – positiven Testergebnis für eine Abtreibung, obwohl sie zuvor grundsätzlich Ja zum Kind gesagt haben? Um mit Natalie Dedreux zu sprechen – sie hat eine erfolgreiche Petition auf den Weg gebracht und mit einer klugen Frage die Kanzlerin ziemlich in die Bredouille gebracht –: Warum habt ihr Angst vor uns?
Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, viele Menschen kennengelernt, die mir ihre sehr persönlichen Sichtweisen geschildert haben. Es sind Lebensgeschichten, die oftmals belegen, dass Selbstbestimmung keine einfache oder eindimensionale Sache ist, dass sich Perspektiven verändern. Ich rede von Menschen, die mich gebeten haben, sie heute zu erwähnen, die Sie wissen lassen möchten, dass sie unendlich dankbar dafür sind, dass sie nicht gewusst haben, dass sie nicht wissen mussten, die sich sicher sind, dass sie sich aus Sorge vor Überforderung gegen ihr Kind entschieden hätten.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir leben in einer Gesellschaft, die leider immer noch außerordentlich ungeübt ist im Umgang mit Behinderungen. Dafür ist sie geübt in der Erwartung nach Leistungsfähigkeit und Gesundheit. Diese Erwartung lastet schwer auf den Schultern von schwangeren Frauen. Sie lastet schwer auf den Schultern von Menschen mit Behinderungen. Lassen Sie uns diese Debatte zum Anlass nehmen, Natalie Dedreux, Oskar Schenck, Arthur Hackenthal und all den anderen zuzurufen –
Frau Kollegin Rüffer, auch Ihre drei Minuten sind vorüber.
– ich komme zum Ende –: Wir haben keine Angst vor Ihnen.
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Bitte beenden Sie jetzt Ihre Rede. Das Mikrofon ist schon abgeschaltet. – Frau Rüffer, das Mikrofon ist abgeschaltet. Man hört Sie gar nicht mehr. – Das tut mir leid.
Wilfried Oellers, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Leben ist zu schützen. Das ist der oberste Grundsatz unserer Verfassung. Das gilt auch und gerade für das ungeborene Leben. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir Menschen verschieden sind. Die Unterschiede können mal größer und mal kleiner sein. Aber wir sind nun mal verschieden, und das müssen wir akzeptieren.
In Deutschland haben wir viele Unterstützungsleistungen geschaffen, mit denen wir gerade dieser Vielfältigkeit entgegenkommen und die dafür sorgen, dass jeder sein Leben so gestalten kann, wie er es möchte. Mal ist es komplizierter, mal ist es weniger kompliziert. Daher muss niemand Sorge haben, mit eventuellen Beeinträchtigungen nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Wir sind dabei, dies weiter zu verbessern. Daher braucht sich auch niemand zu rechtfertigen, insbesondere dann nicht, wenn ein Kind mit einer Beeinträchtigung zur Welt gekommen ist. Das Leben ist nun mal vielfältig, und gerade diese Vielfältigkeit bereichert unsere Gesellschaft um ein Vielfaches. Das muss der Grundsatz der hier anstehenden Diskussion sein, wenn wir darüber debattieren, ob der pränatale Bluttest eine kassenärztliche Leistung sein soll oder nicht.
Wenn wir uns dieser Debatte annehmen, müssen wir allerdings auch folgende Fragen stellen dürfen: Wenn wir infrage stellen, ob der Pränataltest eine kassenärztliche Leistung sein soll, so müssen wir auch die Frage beantworten, warum die Fruchtwasseruntersuchung, die die gleichen Erkenntnisse bringt, eine kassenärztliche Leistung ist. Wir müssen auch die Frage beantworten, warum der Pränataltest für privat Krankenversicherte im Leistungskatalog steht und für Kassenpatienten nicht. Man muss sich auch die Frage stellen dürfen, ob man den medizinischen Fortschritt grundsätzlich aufhalten will oder ob weitergeforscht werden darf. Schließlich ist der Pränataltest um ein Vielfaches ungefährlicher als die Fruchtwasseruntersuchung.
Vergessen darf man bei dieser Debatte aber auch nicht das ureigenste Interesse von Eltern, zu wissen, wie es dem Kind geht. Und diesen Erkenntniswunsch haben auch Eltern eines ungeborenen Kindes. Wenn man diese Erkenntnis haben möchte, so muss man sich allerdings auch vor Erhalt dieser Erkenntnis im Klaren darüber sein, wie man mit einer solchen Erkenntnis umgeht. Dies scheint mir heute noch nicht ausreichend der Fall zu sein, sodass unabhängig von dieser Debatte, die wir hier führen, mehr Aufklärung und Information an die Eltern erfolgen muss, bevor auch die bereits heute möglichen Tests durchgeführt werden.
In diesem Spannungsfeld befindet sich die Debatte, die heute ihren Auftakt findet. Ich habe daher nur eine große Bitte: Bereits die Debatte muss so geführt werden, dass sich Eltern mit einem Kind mit einer Beeinträchtigung in keinster Weise dafür rechtfertigen müssen, dass sie wissentlich oder unwissentlich ein Kind mit einer Beeinträchtigung zur Welt gebracht haben; denn jedes Kind ist ein Geschenk für unsere Welt und für unsere Gesellschaft.
Herzlichen Dank.
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Dagmar Schmidt, SPD, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Drei Minuten für ein Thema mit weitreichenden Folgen für viele Menschen – mit und ohne Downsyndrom –, ihre Familien, Schwangere, werdende Eltern, ihre Angehörigen, ihre Freundinnen und Freunde, also so gut wie fast alle. Manche versuchen das Thema heute auf eine Frage der sozialen Gerechtigkeit zu reduzieren: Es gehe doch einzig und allein darum, eine IGeL-Leistung zu einer Kassenleistung zu machen. – Ich möchte diese Frage nicht abtun, aber ich möchte sie mal einordnen.
Ich möchte eine Bürgerversicherung und ein Ende der Zweiklassenmedizin. Es gibt viele Leistungen – von Zahnersatz bis Brille –, bei denen wir Verbesserungen brauchen. Initiatoren des Antrags beim sogenannten Gemeinsamen Bundesausschuss waren aber nicht die Patientenvertretung und die Verbraucherverbände; es waren die Herstellerunternehmen, die sich laut des Berichts des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Bundestag, des sogenannten TAB-Berichts, auf einem großen, lukrativen und stark umkämpften Markt bewegen.
Mit dem Thema „vorgeburtliche Untersuchungen“ sind aber viel mehr Fragen verbunden, die alle mit in den Blick für eine konkrete Entscheidung heute kommen, aber eben auch für eine Entscheidung für die Zukunft relevant sind, wo wir das gesamte Genom des Menschen werden auslesen, alle in ihm angelegten Informationen vorgeburtlich werden entschlüsseln können. Ich möchte, dass wir über einen Rahmen für vorgeburtliche Diagnostik reden, der werdenden Müttern, werdenden Eltern eine echte Entscheidungsfreiheit garantiert, und dass wir über die Grenzen reden, die wir dem vorgeburtlichen Wissen setzen wollen.
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Zum Rahmen sind mir zwei Stichworte besonders wichtig.
Das erste Stichwort ist das Recht auf Nichtwissen. In der gesamten Begleitung von Schwangeren muss es genauso selbstverständlich sein, Dinge nicht wissen zu wollen,
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wie umfassend über Tests und ihre Folgen informiert zu werden. Wir haben viele Erfahrungen, in denen Ärzte alles, was möglich ist, mit den Worten empfehlen: „Dann haben Sie Sicherheit“, und auf die Folgeentscheidungen bei positivem Ergebnis eben nicht vorbereiten.
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Zu dem Rahmen gehören also eine gute Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte und eine gute Beratung, die sich vor allem mit den psychosozialen Fragen beschäftigt – vor und nach einem Test.
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Und es gehört zum Recht auf Nichtwissen der Wunsch nach einer Schwangerschaft, in der man sich nicht ständig mit Risiken, Wahrscheinlichkeiten, ihren möglichen Folgen, daraus resultierenden weiteren Tests usw. beschäftigen muss, sondern sich einfach voller Hoffnung auf sein Kind freut.
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Zu dem Rahmen gehört auch, weil es so wichtig für die Entscheidung für oder gegen ein Kind mit genetischen Besonderheiten ist, ob wir eine – und das ist mein zweites Stichwort – Willkommenskultur für alle Kinder leben,
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ob wir eine inklusive Gesellschaft sein wollen, zu der alle Kinder und ihre Familien dazugehören, gemeinsam leben, lernen und arbeiten, ob wir Familien mit Menschen mit besonderen Herausforderungen auch besonders und vor allem einfach und unbürokratisch unterstützen und ihnen das Leben so leicht wie möglich machen.
Lassen Sie mich noch kurz einen Satz zu den Grenzen sagen.
Nein, Frau Kollegin Schmidt, es tut mir leid. Ich muss die Regeln für alle gleich anwenden. Die drei Minuten sind vorüber. Ich danke Ihnen.
Dann danke ich Ihnen fürs Zuhören.
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Nächster Redner ist der Kollege Jens Beeck, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Recht auf Leben als Freiheitsrecht schützt bei uns die biologisch-physische Existenz jedes Menschen vom Zeitpunkt ihres Entstehens an bis zum Eintritt des Todes unabhängig von den Lebensumständen des Einzelnen, seiner körperlichen und seelischen Befindlichkeit. Jedes menschliche Leben ist als solches gleich wertvoll.
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Diese Konkretisierung des Artikels 2 Absatz 2 Satz 1 unseres Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht gilt für uns alle als Maßstab, als Verpflichtung – auch in dieser Frage.
Die invasiven Tests werden seit Jahrzehnten angewendet, obwohl das Risiko einer dadurch eingeleiteten Frühgeburt besteht. Diesen invasiven Test durch den Bluttest ohne dieses Risiko ersetzen zu können, darf keine Frage des Geldes sein. Das wäre sozialstaatlich nicht hinnehmbar.
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Uns ist zugleich bewusst, dass vorgeburtliche Tests jeglicher Art von vielen Menschen sehr skeptisch betrachtet oder sogar abgelehnt werden. Die Befürchtung, immer mehr Tests zu immer weiteren Fragen könnten künftig als Massenphänomen gesellschaftlich und rechtlich akzeptiert werden, führt zu einer Vielzahl warnender Stimmen, die uns alle erreichen und denen wir heute versichern, dass wir sie hören.
Viele setzen sich bereits mit Testmöglichkeiten oder sogar Testergebnissen auseinander. Wir in der Politik und als Gesellschaft insgesamt dürfen diese Menschen nicht alleinlassen, und zwar zu keinem Zeitpunkt – nicht vor und nicht nach der Geburt.
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Selbstbestimmung kann nur ausgeübt werden ohne Druck, ohne Zwang, ohne Einflussnahme in den psychosozialen und ärztlichen Beratungen.
Die heutige Debatte mit ihren dreiminütigen Beiträgen kann nur der Auftakt sein für intensive Beratungen und Entscheidungen zu einer Vielzahl schwieriger und schwerwiegender ethischer und rechtlicher Fragen. Ich habe sie noch nicht alle für mich entschieden. Sicher scheint nur zu sein, dass keine Lösung geeignet ist, alle ethischen Dilemmata vollständig aufzulösen.
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Soll der Bluttest auf sogenannte Risikoschwangerschaften beschränkt sein? Soll die Beratung der psychosozialen Beratungsstellen und der Ärzteschaft auch Kassenleistung werden? Soll eine umfassende Beratung effektiv gefördert werden ohne Pflicht zur Beratung? Ich tendiere jeweils zu Ja.
Wie wird zudem das Recht auf Nichtwissen sichergestellt? Bestimmt nicht durch den Hinweis „Es sei ja niemand zum Test verpflichtet“, sondern dadurch, dass wir unsere Gesellschaft endlich inklusiver, barrierefreier, teilhabeorientierter gestalten – ja, auch baulich –,
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aber vor allem durch den Konsens, dass die Formel des Bundesverfassungsgerichts unser Handeln und Denken leitet. Nur in einem ganzheitlichen Ansatz werden wir die schwerwiegenden Aspekte gemeinsam angemessen behandeln können. Inklusion als Haltung und Wert wird unsere Richtschnur sein müssen, der Respekt vor der Meinung der anderen zentral sein für die Würde in der kommenden Debatte.
Wie schnell man unbeabsichtigt und ohne Arg Missverständnisse erregen kann, haben gerade wir Freien Demokraten vor wenigen Tagen selbst gezeigt. Dafür entschuldige ich mich erneut. Ich hoffe, dass die Debatte einen weiteren guten Verlauf in Würde nimmt.
Vielen Dank.
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Dr. Petra Sitte, Die Linke, hat als Nächste das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorgeburtliche Untersuchungen gehören für Schwangere zum selbstverständlichen Teil medizinischer Vorsorge. Bislang wurden die meisten Tests, wie man schon gehört hat, kassenfinanziert angeboten. Dazu gehört auch die genetische Präimplantationsdiagnostik. Mit ihr erkennt man vor dem Einsetzen der Embryonen in die Gebärmutter genetische Veränderungen. Drohen schwere Krankheiten, werden die Embryonen gar nicht erst eingesetzt. Das heißt auch: Es kommt gar nicht erst zur Schwangerschaft.
Es gehört auch zu diesen Tests die Fruchtwasserpunktion in späterer Schwangerschaft nach Auffälligkeiten aus Ultraschalluntersuchungen und weiteren diagnostischen Prüfungen. Wird, sofern am Embryo tatsächlich erhebliche Beeinträchtigungen festgestellt werden, zugleich eine Gefährdung der körperlichen und seelischen Gesundheit der Schwangeren diagnostiziert, darf auch nach der zwölften Woche die Schwangerschaft unterbrochen werden.
Nunmehr gibt es als dritte Methode einen Bluttest. Auch dieser kann Trisomien zeigen, und zwar viel früher. Bislang wurde dieser ausschließlich privat bezahlt. Das Besondere an diesem Bluttest: Innerhalb der Zwölfwochenfrist des § 218 Strafgesetzbuch können Mütter und Väter weitgehend frei entscheiden, ob sie ein solches Kind bekommen wollen oder nicht. Dies führt zu der berechtigten Befürchtung, dass beispielsweise Kinder mit Downsyndrom immer seltener geboren werden.
Zugelassen wurde dieser Test bereits 2012, sodass er jetzt nicht bzw. kaum zu verbieten ist, ohne in eine ganz grundsätzliche Debatte über die Schwangerschaftsvorsorge zu kommen. Aber der Zugang soll erschwert werden, indem die Kassenfinanzierung verhindert wird. Das widerspricht der Praxis bei den anderen Tests. Und es würde an der aktuellen Situation auch gar nichts ändern. Da Trisomien mit dem Alter der Mutter zunehmen, wird der Bluttest nachgefragt bleiben. Aber für manche Schwangere – das haben Kollegen ja schon gesagt – sind die Kosten des Tests kaum aufzubringen. Dann bliebe er wiederum jenen vorbehalten, die ihn sich leisten können. Ich bin damit nicht einverstanden.
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Im Kern diskutieren wir doch eigentlich auch gar nicht die Kassenfinanzierung. Vielmehr diskutieren wir darüber, warum Schwangere den Bluttest wirklich nutzen. Viele wollen doch zunächst nur die Gesundheit des Kindes bestätigt sehen. Und dann ist plötzlich doch alles anders, und es ist alles schwer vorstellbar. Zweifel kommen auf: Kann ein Leben mit einem behinderten Kind erfüllt sein und glücklich gestaltet werden? Trägt die Partnerschaft? Und viele scheitern ja auch daran.
In dieser Gesellschaft das Heranwachsen von Kindern mit Behinderungen zu meistern, ist von vielen als lebenslanges Ringen mit Behörden und Kassen usw. usf. erlebt worden, ganz zu schweigen von den Vorurteilen, die den Eltern begegnen.
Frau Kollegin Sitte!
Darüber, meine Damen und Herren, haben wir hier zu reden, über diese Art, gemeinsam Vielfalt zu leben.
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Ja, aber Sie nicht mehr, weil die drei Minuten vorüber sind.
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Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Island wird der PraenaTest flächendeckend eingesetzt. In Island kommen kaum noch Kinder mit Trisomie 21 zur Welt. Eine Abtreibung bei dem sogenannten Downsyndrom ist dort der Normalfall. Diesen Normalfall darf es in Deutschland niemals geben.
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Wir müssen zweierlei garantieren: die Selbstbestimmung der Frau und eine inklusive Gesellschaft.
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Jede Schwangere kann darüber entscheiden, ob sie ein Kind bekommen oder eine Schwangerschaft abbrechen will. Jede Frau hat das Recht, über ihren eigenen Körper zu entscheiden. Dazu gehört auch das Recht auf Nichtwissen, darauf, guter Hoffnung zu sein. Viele Schwangere können sich aber vor Angeboten zur Pränataldiagnostik kaum noch retten – ob gewollt, ob medizinisch sinnvoll.
Was wäre denn medizinisch sinnvoll? Downsyndrom ist keine Krankheit. Aus dem Bluttest folgt keine medizinisch notwendige Konsequenz. Menschen mit Trisomie 21 führen kein besseres oder schlechteres Leben als Menschen ohne das dritte Chromosom.
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Die Familien sind genauso glücklich oder unglücklich wie andere Familien,
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und das, obwohl sie viel zu häufig Diskriminierungen ausgesetzt sind. Die immer noch überall spürbare Behindertenfeindlichkeit, die gilt es endlich zu überwinden!
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Der Facebook-Beitrag der FDP zu dieser Debatte, der jetzt ja gelöscht ist, zeigt, wie schnell Äußerungen behindertenfeindlich sind, ohne dass uns das bewusst ist. Es geht um unheimlich viel Sorgfalt in dieser Debatte.
Zurück zur Frage: Was ist medizinisch sinnvoll? Medizinisch sinnvoll ist der Bluttest, wenn er bei Frauen mit einer sogenannten Risikoschwangerschaft eine invasive Diagnostik, eine Amniozentese verhindern kann. Für diese Schwangeren den PraenaTest, wenn gewünscht, statt der Fruchtwasseruntersuchung zu bezahlen, das finde ich sinnvoll. Eine generelle Übernahme der Kosten des Tests durch die Krankenkassen lehne ich ab.
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In jedem Fall muss der Test mit einem umfassenden Beratungsangebot verbunden sein, auch über das Leben mit Downsyndrom.
Und wir dürfen nicht nachlassen, die UN-Behindertenrechtskonvention endlich in unserem Land umzusetzen,
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damit der PraenaTest hier nicht die gleichen Folgen hat wie in Island.
Vielen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es macht dem Präsidenten keine rechte Freude, bei dieser Debatte jeweils die Rede zu beenden. Aber die Vereinbarung ist nun einmal so, wie wir sie getroffen haben. Ich gebe immer eine halbe Minute vor Ablauf der drei Minuten den Rednerinnen und Rednern ein Zeichen, dass die Zeit jetzt zu Ende geht. Deswegen bitte ich Sie, nach drei Minuten auch zum Ende zu kommen und uns gemeinsam die Situation zu ersparen, dass ich Ihnen das Wort entziehen muss.
Mit dieser Bemerkung erteile ich als nächstem Redner dem Kollegen Rudolf Henke, CDU/CSU, das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 3 Prozent aller Kinder kommen mit einer Behinderung zur Welt. Nur bei 1 Prozent ist diese Behinderung genetisch bedingt. In 2 Prozent der Fälle tritt die Behinderung während der Schwangerschaft oder während der Geburt ein.
Nun haben wir eine Situation, in der wir im Jahr fast 100 000 Schwangerschaftsabbrüche erleben, ohne dass wir irgendetwas über die genetische Veranlagung des Kindes wissen. Wir haben eine sinkende, aber immer noch fünfstellige Zahl von Amniozentesen mit genetischer Diagnose zum Downsyndrom, die alle von der Krankenkasse bezahlt werden. Wir haben eine wachsende, in die Hunderttausende gehende Zahl von durchgeführten NIPT-Tests; all diese müssen privat finanziert werden, weil die Kasse sie trotz des geringeren Risikos nicht bezahlt. Und wir haben in 400 Fällen pro Jahr eine Präimplantationsdiagnostik – in vitro, also im Reagenzglas –, bei der wir eine Kommission urteilen lassen, ob überhaupt eine Untersuchung zulässig ist, und das nur in den allerschrecklichsten Fällen, zu denen das Downsyndrom nicht zählt.
Deswegen glaube ich, ehrlich gesagt, dass die Frage der Kassenfinanzierung nicht die Frage ist, die im Mittelpunkt der Debatte stehen muss.
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Im Mittelpunkt der Debatte steht vielmehr – ob mit oder ohne Kassenfinanzierung – die Frage, welchen Grundsätzen wir nach der Erkenntnis aus einem Test oder vor der Entscheidung über einen Test folgen. Jedes menschliche Leben ist lebenswert. Ethisch hat jeder Mensch einen natürlichen Anspruch, gewollt und willkommen zu sein.
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Die vom Grundgesetz als unantastbar gewährleistete Würde kann und darf auch durch Krankheit, Behinderung oder den Bedarf an Pflege und Fürsorge nicht verloren gehen. Deshalb können und dürfen Würde und Lebensrecht auch nicht von genetischen Eigenschaften eines Menschen abhängen. Die Fortschritte in der genetischen Diagnose zwingen uns als Gesellschaft also dazu, die Frage zu beantworten, wie wir mit den dadurch erzeugten Erkenntnissen umgehen wollen. Dazu, glaube ich, brauchen wir ein anderes Konzept der Beratung als das, welches wir heute finden.
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Nach dem Gendiagnostikgesetz ist es so, dass vor und nach dem Test beraten werden muss. Aber die Ärzte tun das unter dem Druck von Urteilen, wonach sie für die Zwischenfinanzierungskosten für einen behindertengerechten Neubau aufkommen müssen, wenn sie falsch beraten haben. Das müssen wir ändern – für das Lebensrecht aller.
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Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Volker Münz, AfD, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Im Kern geht es in dieser Debatte um zwei elementare Fragen, die uns nicht nur in der Medizinethik, sondern auch bei Fragen des technischen Fortschritts begegnen: Erstens. Ist eigentlich das Streben nach mehr Erkenntnis und ein Mehr an Informationen immer gut und dem Menschen dienlich? Zweitens. Darf der Mensch alles, was er kann?
Der Mensch strebt in vielen Dingen nach Sicherheit, ganz besonders in existenziellen Fragen wie der Gesundheit. Die Schwangerschaft der angehenden Mutter und die Geburt eines Kindes sind ein Grund zur Freude – für die Mutter, den Vater, die Familie und für die ganze Gesellschaft, meine Damen und Herren.
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Die Geburt eines Kindes ist ein Wunder, das uns immer wieder staunen lässt und für das man nicht genug dankbar sein kann. Doch leider wird diese Freude oft beeinträchtigt durch Verunsicherung und Angst, zum Beispiel durch die Fragen: Kann ich mir, können wir uns ein Kind finanziell überhaupt leisten? Was wird mit meiner Ausbildung, meinem Beruf, meiner Karriere? Und was ist, wenn das Kind krank oder behindert ist? – All dies verunsichert Mütter und Väter, insbesondere wenn sie alleingelassen werden. Kinder werden dann von Müttern, Eltern und der Gesellschaft leider oft als Belastung angesehen.
Kinder werden manchmal als Armutsrisiko und – wie vor kurzem – als Belastung für das Klima bezeichnet. Wie krank muss eine Gesellschaft sein, um ernsthaft über Kinder als Klimakiller zu debattieren?
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Statt ein Klima der Verunsicherung zu erzeugen, sollten Staat und Gesellschaft Eltern ermutigen, Kinder zu bekommen. Dies ist nicht nur eine Frage des Geldes und der staatlichen Förderung. Wir brauchen eine Willkommenskultur für Kinder, für alle Kinder, meine Damen und Herren!
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Ganz besonders groß ist die Verunsicherung und die Angst, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen. Das ist verständlich. Ich weiß noch, wie es mir und meiner Frau vor der Geburt unserer Kinder ergangen ist. Jetzt gibt es einen Test, der verspricht, die Unsicherheit hinsichtlich der eventuellen Geburt eines Kindes mit Downsyndrom zu nehmen. Der Test ist scheinbar ohne Nebenwirkungen, im Gegensatz zur Fruchtwasseruntersuchung. Doch auch dieser Test hat Nebenwirkungen, meine Damen und Herren. Bei einer generellen Anerkennung des Bluttests als Kassenleistung würde die Untersuchung zu einer Regelleistung innerhalb der Vorsorgeuntersuchung werden. Die Erwartungshaltung der Mütter und Väter, aber auch der Gesellschaft, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, wird größer werden.
Hier besteht die große Gefahr, dass sich in der Bevölkerung die Einstellung zu Behinderten und zum Lebensrecht behinderter Menschen negativ verändert. Insbesondere Kinder mit Downsyndrom werden mit großer Wahrscheinlichkeit von der Gesellschaft zunehmend als vermeidbares Problem wahrgenommen. Es besteht die große Gefahr, dass die Entscheidung für oder gegen das ungeborene behinderte Kind nicht mehr rein persönlicher Natur ist, ein persönlicher Gewissenskonflikt der Eltern, sondern zunehmend unter gesellschaftlichem Druck erfolgt. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser Druck objektiv gegeben ist. Viele Eltern werden diesen Druck subjektiv empfinden.
Der Test darf daher keine Routineuntersuchung werden. Mit dem Bluttest wird eine ganze Gruppe behinderter Menschen, nämlich Kinder mit Trisomie 21, noch vor der Geburt erfasst. Und den meisten von ihnen wird das Recht auf Leben verwehrt. Das dürfen wir nicht zulassen, meine Damen und Herren!
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Das wäre mit der allen Menschen zukommenden Würde nicht vereinbar.
Nach Aussagen des Berufsverbandes der Pränatalmediziner werden in naher Zukunft die genetischen Tests noch sehr viel differenziertere Ergebnisse hervorbringen. Hiermit wird die Büchse der Pandora geöffnet. Der Bluttest kann ein Schritt sein zu einer immer umfangreicheren Erfassung des Menschen noch vor der Geburt. Hier wird es um Merkmale gehen wie Behinderungen, Krankheiten, Geschlecht oder Intelligenz. Hierzu sage ich: Wehret den Anfängen, meine Damen und Herren!
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Aus diesem Grunde darf der Bluttest keine von der Krankenkasse bezahlte generelle Regelleistung werden. Er sollte nur in den Fällen von der Kasse bezahlt werden, in denen auch jetzt schon der Fruchtwassertest bezahlt wird, nämlich bei sogenannten Risikoschwangerschaften. Und außerdem sollte eine umfassende Beratung vor Durchführung des Tests vorgenommen werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Sabine Dittmar, SPD, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Seit 1985 ist die Fruchtwasseruntersuchung – auch auf Trisomien – bei Risikoschwangerschaften eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Diese invasive Untersuchung ist immer mit Risiken für Mutter und ungeborenes Kind verbunden: Fehlgeburtsrate bis zu 1 Prozent.
Jetzt berät der Gemeinsame Bundesausschuss, ob er für die seit über 30 Jahren erlaubte invasive Diagnostik einen Bluttest, der in der Aussagekraft sicher ist und vor allem für Mutter und Ungeborenes kein Risiko birgt, als Kassenleistung zulassen soll. Ich finde das richtig,
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und es ist mir wichtig, noch einmal klarzustellen: Es geht nicht um eine Kostenübernahme für alle Schwangeren im Sinne einer Reihenuntersuchung. Im Gegenteil: Der Gemeinsame Bundesausschuss schlägt in seinem Beschluss entwurf eine wesentlich differenziertere individuelle Risikoabschätzung vor, als dies bisher der Fall ist.
Und schon heute müssen laut Gendiagnostikgesetz Ärztinnen und Ärzte vor einer Pränataldiagnostik über deren Wesen, Bedeutung und Tragweite aufklären. Gegenstand der Aufklärung ist ausdrücklich auch das Recht auf Nichtwissen.
({1})
Ist das Testergebnis positiv, wird die Frau medizinisch, psychisch und sozial beraten, und Unterstützungsangebote werden aufgezeigt. Das passiert heute schon, ist aber – unbestritten – in der Praxis verbesserungswürdig.
Für mich ist aber ganz klar: Ich möchte, dass Frauen, die bisher allein auf einen riskanten invasiven Test wie die Fruchtwasseruntersuchung angewiesen sind, Zugang zu der risikoärmeren Blutuntersuchung haben, und zwar unabhängig von ihrem finanziellen Leistungsvermögen. Das ist für mich eine Frage der Gerechtigkeit.
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Natürlich haben schwangere Frauen ein Recht auf Nichtwissen; aber sie haben auch ein Recht auf Wissen.
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Es Frauen zuzumuten, grundsätzlich oder aus Einkommensgründen auf medizinisches Wissen verzichten zu müssen – das ist aus meiner Sicht unethisch. Es ist die höchstpersönliche Entscheidung der Frau, ob sie sich für Pränataldiagnostik entscheidet oder dagegen.
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Und es ist die höchstpersönliche Entscheidung der Frau, wie sie nach der Beratung mit einem positiven Testergebnis umgeht, ob sie sich in ihrer konkreten Lebenssituation auf ein Leben mit einem behinderten Kind einstellen kann oder sich dagegen entscheidet. Und keine Frau wird diese Entscheidung leichtfertig treffen.
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Hier zeigen im Übrigen internationale Daten, dass die Abbruchraten nach einer nichtinvasiven Pränataldiagnostik rückläufig sind.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Pascal Kober, FDP, hat als nächster Redner das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auf einen Aspekt dieser Debatte eingehen, den wir nicht vergessen sollten, und zwar dass es ein Anstoß von außen war, der diese Debatte veranlasst hat, der einzelne Kollegen veranlasst hat, hier über dieses Thema zu debattieren. Wir sollten uns dringend Gedanken darüber machen, wie wir in Zukunft den medizinischen und biologischen Fortschritt hier im Deutschen Bundestag institutionalisiert und regelmäßig debattieren.
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Wer von uns kann wissen, wie weit wir von der Schwelle entfernt sind, dass wir die Möglichkeit haben, auf Diagnosen mit therapeutischen Eingriffen reagieren zu können, und damit eine Verantwortung für alle künftigen, nach uns kommenden Generationen übernehmen werden. Da müssen wir uns die Frage stellen, ob das Institut eines Büros für Technikfolgen-Abschätzung, das wir hier im Deutschen Bundestag haben, ausreicht oder ob es einer neuen Institution bedarf, die uns regelmäßig im Deutschen Bundestag berichtet und uns in die Verantwortung ruft, auch regelmäßig über das neue biologisch und medizinisch Mögliche zu debattieren und es politisch und ethisch zu bewerten.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist, glaube ich, eine ganz große Herausforderung, vor der wir stehen. Denn noch nie hat eine politische Generation vor uns vor der großen Verantwortung gestanden, Entscheidungen zu treffen, die möglicherweise nachhaltig und für immer menschliches Leben tatsächlich verändern werden. Deshalb möchte ich, dass wir diese Debatte auch zum Anlass nehmen, uns darüber Gedanken zu machen, wie wir Berichte an den Deutschen Bundestag über das medizinisch und biologisch Mögliche in Zukunft einfordern und bekommen können, und vor allen Dingen, wie wir es uns selber dann auch abverlangen, die Dinge regelmäßig und institutionalisiert hier unter uns und mit der Öffentlichkeit zu diskutieren, politisch und ethisch zu bewerten. Das ist, glaube ich, eine große Herausforderung, die ich an diesem heutigen Tage auch benennen und von uns selber einfordern möchte.
Vielen Dank.
({2})
Kathrin Vogler, Die Linke, hat als nächste Rednerin das Wort.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Menschen mit und ohne Downsyndrom! Wenn wir heute über die Kassenzulassung des Bluttests auf Trisomie 21 sprechen, dann geht es nicht nur um ein einzelnes Medizinprodukt und um die Frage, ob es von den Krankenkassen bezahlt werden soll. Beim Umgang mit den Gen- und Reproduktionstechnologien haben wir doch seit 30 Jahren ein grundsätzliches Problem: Forschung und Zulassung preschen vor, schaffen Fakten, setzen neue Standards, während wir, also die Politik, wie ein Hase dem Igel hinterherlaufen. Wir sind als Gesetzgeber in der Verantwortung, zu klären, wo die ethischen Grenzen des wissenschaftlichen Fortschritts liegen.
Es geht dabei nicht allein um den Bluttest auf Trisomie 21, sondern um eine absehbare Entwicklung, auf die wir reagieren müssen. Auch der Vorsitzende des G-BA, Professor Hecken, schreibt an uns, es würden in absehbarer Zeit weitere Testverfahren zur Verfügung stehen, die fundamentale ethische Grundfragen unserer Werteordnung berühren.
Ein weiteres Beispiel. Ein Test mit dem Namen „Panorama“ ist bereits verfügbar. Panorama, das klingt schön, verheißt viel und gaukelt Gewissheit vor. Mit ihm wird nach gleich acht genetischen Normabweichungen gefahndet, darunter die Trisomien 13, 18 und 21, aber zum Beispiel auch das Klinefelter-Syndrom. Das ist mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 : 590 eine der häufigsten genetischen Normabweichungen bei Jungen. Die Zahl ist aber mit Vorsicht zu genießen; denn wegen der leichten oder fast fehlenden Merkmalsausprägung gibt es eine hohe Dunkelziffer. Symptome sind zum Beispiel eine verzögerte motorische Entwicklung oder – selten – Sprachentwicklung, eine mangelhafte oder fehlende Spermiogenese, Hochwuchs, Konzentrationsschwäche usw.
Ich frage Sie: Wozu soll es eigentlich gut sein, wenn Eltern schon während der Schwangerschaft Kenntnis von einer genetischen Veranlagung erhalten, die das Kind nur wenig oder überhaupt nicht beeinträchtigen wird?
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Und was hat das bitte mit dem Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen zu tun, die hier Diagnosen finanzieren sollen, denen keinerlei ursächliche Therapie folgen kann, weil es sie schlicht nicht gibt?
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Das sind Fragen, denen wir uns stellen müssen.
Und weil das Ganze ja hochprofitabel ist, werden etliche weitere Tests in den nächsten Jahren auf den Markt drängen, sofern wir nicht jetzt regulieren. Auch diese werden bei den werdenden Eltern aggressiv beworben mit dem Versprechen einer Sicherheit; denn für Medizinprodukte gibt es kein gesetzliches Werbeverbot.
Wir müssen jetzt grundsätzlich entscheiden, wie wir mit diesen drängenden Fragen umgehen. Ich halte eine Novelle des Gendiagnostikgesetzes und den Ausbau einer unabhängigen und ergebnisoffenen Beratung für den sinnvollsten Weg. Dafür sollten wir uns die nötige Zeit nehmen. Auch für die gesellschaftliche Debatte sollten wir uns Zeit nehmen. An dieser Debatte sollen alle teilnehmen können, die es betrifft – mit und ohne Downsyndrom.
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Katja Dörner, Bündnis 90/Die Grünen, hat jetzt als Nächste das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Gemeinsame Bundesausschuss hat uns eine konkrete Frage gestellt, und die kann ich für mich auch konkret beantworten: Wenn die Krankenversicherung invasive Methoden zur Feststellung von Trisomie 21 bezahlt, dann gibt es keinen Grund, nichtinvasive Methoden nicht zu bezahlen.
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Die Debatte, die wir führen müssen, geht aber weit über diese Frage hinaus. Ich bin mir sicher: Die allermeisten Kolleginnen und Kollegen hier wollen eine Gesellschaft, in der Kinder mit Behinderung selbstverständlich genauso willkommen sind wie Kinder ohne Behinderung. Ich möchte das.
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Und wenn wir das wollen, dann müssen wir uns fragen: Warum entscheiden sich Schwangere gegen ein Kind mit Behinderung? Warum trauen sich Eltern ein Leben mit einem behinderten Kind nicht zu, und was können wir tun, damit das anders wird?
Ich bekomme oft Schreiben von Eltern behinderter Kinder. Sie berichten mir von sehr viel Glück. Sie berichten mir aber auch von ihrem aufreibenden Alltag. Sie berichten vom ewigen Tauziehen mit der Krankenversicherung, dem Rehaträger, vom Zuständigkeitswirrwarr zwischen Jugendamt und Sozialamt und davon, dass die Grundschule ihr Kind nicht aufnimmt, obwohl es so gerne mit den Kindern aus dem Kindergarten in die Grundschule gehen würde und das ja auch selbstverständlich könnte.
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Für die Eltern selbst, vor allem für die Mütter, ist Berufstätigkeit, wenn überhaupt, nur eingeschränkt möglich. Altersarmut ist für viele vorprogrammiert. Das klingt krass, ist aber Fakt, und ich finde, das muss hier gesagt werden.
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Das Wichtigste ist: Das darf nicht so bleiben. Wir haben die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Wir sind verpflichtet, eine inklusive Gesellschaft zu schaffen. Nur wenn Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft nicht länger diskriminiert werden und ihre Rechte selbstverständlich voll wahrnehmen können, dann können sich werdende Eltern auch wirklich frei entscheiden.
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Darum muss es uns gehen: eine freie Entscheidung für oder auch gegen eine Schwangerschaft, aber nicht für oder gegen dieses Kind.
Ich bin davon überzeugt, dass es letztendlich nicht entscheidend sein wird, wer welche Tests für wen bezahlt. Es ist entscheidend, ob werdende Eltern sich darauf verlassen können, dass ihr behindertes Kind ein gutes Leben hat und dass sie auch selber ein gutes Leben haben. Dafür zu sorgen, das ist doch unsere Aufgabe. Ich würde mich sehr freuen, wenn es uns das gelingt und wenn wir aus dieser Debatte die Verpflichtung mitnehmen würden, genau das umzusetzen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Stephan Pilsinger, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema, das wir heute hier diskutieren, besitzt eine gesellschaftliche Sprengkraft. Darum ist es richtig, dass wir es heute hier in aller Öffentlichkeit diskutieren.
Ich wende mich als Arzt und als Parlamentarier gegen die Einführung des Bluttests für Schwangere als generelle Kassenleistung. Ich plädiere dafür, dass dieser Gentest nur bei Risikoschwangerschaften übernommen wird. Bisher wird bei vorliegenden Risikofaktoren eine invasive Fruchtwasseruntersuchung vorgenommen und bereits von der gesetzlichen Krankenkasse bezahlt. Allerdings ist eine solche Fruchtwasseruntersuchung nicht risikofrei. Diese Untersuchungen sind mit einem nicht unerheblichen Risiko von Früh- oder Fehlgeburten verbunden. Im Rahmen einer klar definierten Risikoschwangerschaft erstattet die gesetzliche Krankenkasse bereits jetzt die Kosten dieser Untersuchung.
Ein Risiko sind Fehler beim Test; denn der PraenaTest bietet keine absolute Gewissheit über Gesundheit oder Krankheit des Kindes. Aber genau diese Erwartung absoluter Sicherheit weckt der Test bei vielen schwangeren Frauen. Die Ergebnisse des Bluttests können falsch sein, und dann entscheidet sich eine junge Frau, deren Kind möglicherweise ein Downsyndrom hat, überflüssigerweise oder aus falscher Angst für eine mit einem Risiko verbundene nachträgliche Amniozentese oder für eine Abtreibung.
Bluttests jenseits von Risikogruppen, womöglich auch unter dem heute technisch möglichen Auslesen des kompletten Genoms, wären ein gewagter Schritt in eine gefährliche Richtung. Ich befürchte einen Schritt zu einer eugenischen Gesellschaft. Hier wird der Mensch auf eine genetische Veranlagung reduziert, bewertet und eventuell verworfen.
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Eine eugenische, diskriminierende Gesellschaft müssen wir verhindern. Es droht die Gefahr, dass nach und nach alle möglichen Risiko- und Erkrankungspotenziale oder genetischen Veranlagungen geprüft werden mit dem Ergebnis von Designerbabys. Ich schlage einen pränatalen Bluttest frühestens ab der zwölften Schwangerschaftswoche vor, um die Möglichkeit von Designerbabys auszuschließen. Das Geschlecht ist zum Beispiel mit dem Bluttest leicht zu bestimmen. Die Abtreibungsrate spielt, wie wir bei den Spätabtreibungen sehen, hier eine große Rolle. Ich befürchte, dass sich diese Rate durch eine generelle und so früh wie möglich durchgeführte Genomuntersuchung enorm erhöhen wird, weil sie als Kassenleistung ab der neunten Woche dann grundsätzlich gefordert und mitgenommen wird.
Solange die zur Debatte stehende Erstattungsfähigkeit des Gentests auch weiterhin an das Vorhandensein einer Risikoschwangerschaft geknüpft ist und in Abklärung derselben Erkrankung geschieht, sehe ich hier einen möglichen Mittelweg, der die generelle Selektion von Ungeborenen vermeiden könnte.
Vielen Dank.
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Dr. Matthias Bartke, SPD, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Erlebnis beginnen, das ich vor einigen Wochen hatte. Es war auf einer Autobahnraststätte. In einer Ecke dieser Raststätte spielten Eltern mit ihrem Kind und haben viel gelacht und hatten Spaß. Das Kind war vielleicht drei Jahre alt und hatte Downsyndrom. Es trug ein T-Shirt, auf dem stand: „Wie schön, dass es mich gibt!“
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Dieser Satz traf mich direkt ins Herz, auch weil es so zu diesem lebensbejahenden Kind passte. Und ich finde, er trifft das Problem: Wollen wir wirklich die Umstände erleichtern, dass es künftig solche Kinder nicht mehr gibt?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Befürworter der Pränataltests als Kassenleistung argumentieren in erster Linie sozialpolitisch. Ich glaube dagegen: Darauf darf man die Frage der Bluttests nicht reduzieren. Denn es ist natürlich so, dass sich Eltern nach einem positiven Trisomie‑21-Befund verstärkt mit der Möglichkeit der Abtreibung befassen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Wenn Eltern sich entscheiden, ein Kind mit Downsyndrom abzutreiben, so ist das ihre ureigene Sache und zu akzeptieren. Da darf sich der Staat nicht einmischen.
({1})
Wenn der Staat aber kostenlose Trisomie‑21-Tests zulässt, so hat dies eine deutlich andere Dimension: Der Test soll Eltern mit werdenden Kindern mit Downsyndrom in die Lage versetzen, sich möglichst frühzeitig mit der Frage der Abtreibung zu befassen. Und 90 Prozent der Frauen treiben ihre Kinder nach einem positiven Testergebnis ja auch tatsächlich ab. Und genau das ist die staatspolitische und ethische Dimension unserer Entscheidung: Soll der Staat mit seiner Finanzierungsentscheidung aktiv die Voraussetzungen für Abtreibungen von Kindern mit Downsyndrom erleichtern? Meine Überzeugung ist: Nein, das soll er auf gar keinen Fall.
({2})
Es darf niemals Aufgabe des Staates sein, aktiv dazu beizutragen, dass Leben verhindert wird.
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Daher bin ich der Auffassung: Die Einführung von kostenlosen Trisomie‑21-Tests ist eine falsche Wertentscheidung, eine Wertentscheidung gegen das Leben von Kindern mit Behinderung.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte, dass der Staat eine andere Wertentscheidung trifft: dass er sich positiv zum Leben von Kindern mit Downsyndrom bekennt,
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dass er Rahmenbedingungen schafft, dass diese Kinder in unserer Gesellschaft willkommen sind. Ich möchte, dass wir jedem Kind mit Downsyndrom am Ende mit vollem Herzen sagen können: Wie schön, dass es dich gibt!
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Katrin Helling-Plahr, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für 269 Euro habe ich mittels eines Bluttests untersuchen lassen, ob bei meinem ungeborenen Kind eine Trisomie 13, 18 oder 21 vorliegen wird. Warum habe ich mich persönlich für diesen Test entschieden? Ich erwarte mein zweites Kind. Ich habe eine Schilddrüsenerkrankung. Mit 13 Jahren erklärte mir mein Arzt: Sie wissen ja, dass Sie wahrscheinlich keine Kinder bekommen können; wenn Sie überhaupt schwanger werden, werden Sie sicher Fehlgeburten erleiden. – Auch wenn sich das als medizinisch so nicht zutreffend herausstellte, war ich dennoch davon überzeugt, jedenfalls nicht so unproblematisch ein oder gar mehrere und dann auch noch gesunde Kinder bekommen zu können.
Im Rahmen meiner ersten Schwangerschaft kam es ganz zu Beginn wiederholt zu Blutungen, was einen Arzt im Krankenhaus zu der Aussage veranlasste, dass es in den nächsten zwei Wochen sicher zu einem Abort kommen würde. Gegen Ende der Schwangerschaft stellte meine Frauenärztin dann zu viel Fruchtwasser fest. Das kann ernste Ursachen haben. Beginnend bei Chromosomenstörungen über Herzfehler, Fehlbildungen des Rückenmarks bis zu einem teilweisen oder vollständigen Fehlen des Großhirns. Ich hatte das Glück, einen vollkommen gesunden Jungen zur Welt bringen zu dürfen. Aber: Vielleicht können Sie nachvollziehen, dass ich in der Schwangerschaft immer wieder große Ängste hatte,
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mir viele Sorgen um mein Kind gemacht habe.
Meine Geschichte ist nicht außergewöhnlich. Die Gründe für meine Sorgen sind gegen Dutzende andere in anderen Konstellationen austauschbar. Wir haben uns entschieden, die pränataldiagnostischen Angebote, die auf dem Markt verfügbar sind und deren Inanspruchnahme nicht mit einem Risiko für mich oder mein Kind einhergeht, in Anspruch zu nehmen. Nicht weil ich im Falle des Vorliegens etwa eines Downsyndroms hätte abtreiben wollen, sondern weil Untersuchungsergebnisse den werdenden Eltern Sicherheit bieten. Weil sie ihnen vielfach Sorgen nehmen können oder ermöglichen, sich auf Kommendes einzustellen, vorauszuplanen,
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auch beispielsweise im Hinblick auf eine individuell optimale Versorgung bei der Geburt.
Die von den gesetzlichen Krankenkassen seit langem finanzierten invasiven Untersuchungen sind für Schwangere keine Alternative. Wenn man sich für eine Inanspruchnahme entscheidet, geht man ein erhöhtes Fehlgeburtsrisiko ein. Und ich finde, es ist unethisch, Risikoschwangere, die nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen, vor die Wahl zu stellen, entweder mit Unsicherheit leben zu müssen oder alternativ ein Fehlgeburtsrisiko für ihr Kind einzugehen,
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obwohl die Information so einfach und risikolos zu erlangen ist. Wir sollten deshalb vorgeburtliche Bluttests auf Trisomien bei Risikoschwangeren zwingend und umgehend zur Kassenleistung machen! Ob eine Schwangere solche Bluttests in Anspruch nehmen will, obliegt ihrer freien, selbstbestimmten Entscheidung.
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Sören Pellmann, Die Linke, hat als Nächster das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Während meines zweiten Staatsexamens hatte ich mit zwei jungen Mädchen zu tun: Kathrin, acht Jahre alt, und Anna, sieben Jahre. Beide hatten Downsyndrom. Kathrin hatte ein gutes Elternhaus, sie war in ihre Familie sehr gut integriert. Die Eltern hatten sich entschieden, sich so zu arrangieren und beruflich zu verändern, dass alles darstellbar war. Bei Anna, sieben Jahre, war es ein ganz anderes Bild: Die Eltern haben sich kurz nach der Geburt des Kindes getrennt, die Mutter war alleinerziehend, und in den Elterngesprächen kam dann immer zur Sprache: Hätte ich mich doch damals gegen das Kind entschieden!
Die Frage war – das hat mich tatsächlich damals sehr belastet –, warum. Ich habe dann gefragt: Warum hätten Sie sich denn lieber gegen das Kind entschieden? – Die Antwort war damals: Wissen Sie, es ist die fehlende Anerkennung in der Gesellschaft für das, was ich an Lebensleistung erbringe, es ist die fehlende Unterstützungsleistung im Hinblick auf Beratungsgespräche und Angebote der Integration in den Arbeitsmarkt. – Das hat mich nachdenklich gemacht und führte dann natürlich zu weiteren Überlegungen. Von daher bin ich sehr froh über die heutige Debatte.
Die Linke benennt relativ klar, was Ursachen dafür sind, dass sich vornehmlich Frauen in einer solchen Situation gegen ein Kind entscheiden, auch mit der Maßgabe, dass es gegebenenfalls eine Trisomie 21 hat. Ich sage ganz klar: Wir haben auch hier noch Hausaufgaben zu erledigen. Ich verweise auf die mangelnden Regelungen im Bundesteilhabegesetz,
({0})
auf nach wie vor fehlende Barrierefreiheit in ganz unterschiedlichen Bereichen, die immer noch nicht ausreichende Unterstützung durch Assistenzleistungen, Begleitung und Beratungsleistungen und die immer noch fehlende Inklusion im schulischen und vorschulischen Bereich.
Was können wir denn machen, damit es Eltern so geht wie den Eltern von Kathrin? Akzeptanz und Anerkennung des Andersseins müssen in den Vordergrund rücken, ebenso die bestmögliche Förderung und Unterstützung und die Beachtung der individuellen Situation der Familie.
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Zum Schluss. Ich habe mir ein Zitat von Pablo Pineda herausgesucht. Er ist der erste europäische Akademiker mit Downsyndrom. Er sagte:
Eltern mit Kindern, die „anders“ sind, verbessern sich auch als Eltern. Sie werden toleranter und solidarischer. Das ist doch eine Chance, die man nützen sollte. Die Auswahl des Kindes à la carte ist nicht gut. Denn schlussendlich wählen wir das Perfekte. Und wenn dann alle gleich sind, sind wir um vieles ärmer.
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Wenn wir erst in einer wirklich inklusiven Gesellschaft leben, ist es auch nicht mehr problematisch, wenn Kinder anders sind.
Vielen Dank.
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Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der Kollegin Helling-Plahr für die persönliche, offene Schilderung ihrer Schwangerschaft sehr dankbar. Denn sie richtet den Blick auf das Umfeld und auf die Situation, in der Frauen und Eltern Entscheidungen treffen müssen, und sie richtet den Blick auf den von Medizinern geprägten Diskurs, in dem das Thema der Menschen mit Behinderung oder, in dem konkreten Fall, mit Trisomie 21 unter dem Gesichtspunkt der Schadensbegrenzung betrachtet wird. Das Problem ist, dass unter dem Eindruck solcher Beschreibungen Entscheidungen getroffen werden müssen.
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Dieser Tage ist in der Zeitung das Zitat eines Inhabers einer Praxis für Pränataldiagnostik hier in Berlin zu lesen gewesen, der sagte:
Ein zusätzliches Chromosom bedeutet auf jeden Fall: nicht normal, nicht komplett gesund.
Ich bin froh, dass wir hier in diesem Hause die Debatte nicht mit diesen Worten führen. Aber es zeigt doch ganz klar – auch Herr Hecken vom Gemeinsamen Bundesausschuss spricht von einer Erkrankung –, dass speziell im Bereich der Medizin offensichtlich ganz andere Vorstellungen auf die Frauen, die sich entscheiden müssen, eindringen.
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Bei solchen Aussagen von Medizinern male ich mir in meiner Fantasie häufig den Planeten Trisomia aus, auf dem 99,9 Prozent der Bevölkerung Trisomie 21 haben und wo dieser Arzt, den ich zitiert habe, als nicht normal und als nicht komplett gesund gilt.
({2})
Obwohl er sich persönlich wahrscheinlich kerngesund fühlt, wird er von anderen von Geburt an bis zu seinem Tode als krank bezeichnet. – Wie verrückt ist das eigentlich?
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Was mich betroffen macht, ist die Arglosigkeit, mit der eine solche Wortwahl erfolgt. Er meinte das wahrscheinlich gar nicht böse oder abwertend, als er der Zeitung dieses Interview gegeben hat. Es herrscht eine vollkommene Arglosigkeit, wenn von „Schäden“, „Risikoschwangerschaften“ und dergleichen die Rede ist. Das spiegelt sich sogar in dem Namen eines Bluttests wider, der von der Firma Cenata angeboten wird. Diese Firma hat den Test „Harmony Test“ genannt, also Harmonietest, gerade so, als ob das Kind mit Trisomie 21 ganz eindeutig Disharmonie ist.
Also, selbst wenn wir alle hier die Auffassung teilen, dass es eine vernünftige Beratung von Schwangeren geben muss, läuft das ins Leere, solange der Diskurs gesellschaftlich und medizinisch so geprägt ist, wie ich das hier gerade beschrieben habe.
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Das ist ein Grundübel, ein Problem in dieser Debatte, das wir in der weiteren Beratung auf jeden Fall beachten sollten.
Danke.
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Nächster Redner ist der Kollege Thomas Rachel, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele von uns sind Mütter oder Väter. Viele von uns haben schon Schwangerschaft miterlebt oder erlebt. Viele von uns kennen daher das Gefühl großer Unsicherheiten und wissen, wie das heutige Thema unsere Herzen berührt.
Neue medizinische Verfahren bieten Chancen und Risiken. Beides gilt es, ethisch sorgsam abzuwägen, um am Ende zu verantwortlichen Entscheidungen zu kommen. Das gilt gerade für die neue, nichtinvasive pränatale Diagnosemethode, den Bluttest auf Trisomie 21. Beim Downsyndrom haben Kinder zwar Einschränkungen, können aber grundsätzlich ein glückliches Leben führen. Die selteneren Trisomieformen 18 und 13 führen aufgrund massiver Organfehlbildungen in der Regel bereits vor oder kurz nach der Geburt zum Tode und können durch den Bluttest ebenfalls festgestellt werden.
Bereits seit langem gehören pränatale Diagnoseverfahren zur allgemein akzeptierten medizinischen Begleitung von Schwangeren: Abtasten des Mutterleibs, Blutuntersuchungen, Ultraschall, Untersuchung des Fruchtwassers. Altbischof Wolfgang Huber hat deshalb schon früher zu Recht betont – ich zitiere –: Dass bisher vertraute pränatale Diagnoseverfahren ethisch erlaubt, die pränatale Chromosomendiagnostik dagegen untersagt werden soll, ist nicht zu begründen. Es ist auch nicht zu verkennen, dass in vielen Fällen – wir haben es gerade gehört – gerade die Bejahung und Annahme einer Schwangerschaft durch pränatale Diagnostik erleichtert und ermöglicht wird. – Zitat Ende.
Der neue, nichtinvasive Bluttest ist ein verbessertes Diagnoseverfahren mit sehr hoher Erkennungsrate. Das Risiko einer Fehlgeburt ist beim neuen Bluttest ausgeschlossen. Wenn invasive Fruchtwasseruntersuchungen seit Jahren akzeptiert werden, dann muss dies meines Erachtens umso mehr für eine nichtinvasive Methode gelten, bei der jegliche Gefährdung des Ungeborenen ausgeschlossen ist.
Gleichzeitig müssen wir verhindern, dass durch die neuen Verfahren Sichtweisen befördert werden, die den Wert des ungeborenen Lebens von vornherein infrage stellen und dabei nicht mit unserer Rechts- und Werteordnung und der Menschenwürde vereinbar sind.
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Ich denke, es ist unser aller Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich Menschen mit Einschränkungen in unserer Gesellschaft angenommen fühlen und sie die volle Teilhabe erleben. Der Gesetzgeber muss mit Augenmaß die verantwortliche Balance halten. Deshalb haben wir seitens des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland eingefordert, dass zusätzlich – zusätzlich! – eine umfassende, auch die ethischen Problemlagen aufnehmende Beratung über die Möglichkeiten und Konsequenzen der Pränataldiagnostik zeitgleich in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen werden soll.
Wir müssen uns bewusst machen: Diese Tests gibt es bereits im Internet und im Ausland massenhaft. Durch die Einbindung der gesetzlichen Krankenversicherung können wir demgegenüber den wichtigen Zusammenhang zwischen pränataler Diagnostik und verantwortlicher Beratung sicherstellen. Ja zum neuen Diagnoseverfahren in Fällen von Risikoschwangerschaften, eingebettet in ausführliche Beratung.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix von Storch, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor allen Dingen: Liebe Familien mit Kindern mit Downsyndrom hier auf der Tribüne! Die Behindertenverbände lehnen es ab, dass der Bluttest zur Identifikation des Downsyndroms bei ungeborenen Kindern Kassenleistung werden soll. Zehn Verbände, darunter die Evangelische Behindertenhilfe und die Diakonie, haben eine gemeinsame Erklärung dazu abgegeben. Sie stellen fest, dass der Umgang mit dem Test keine rein technische Frage ist, sondern die fundamentalen und ethischen Grundlagen unserer Werteordnung berührt – zu Recht. Deswegen ist es gut, dass wir heute hier darüber reden.
Kinder mit Downsyndrom werden heute noch geboren. Sie leben und lachen, und sie werden von ihren Eltern geliebt. Sie sind so unvollkommen, wie wir alle unvollkommen sind. Doch die Debatte über die pränatale Diagnostik schafft ein gesellschaftliches Klima, das die Berechtigung, sich für ein behindertes Kind zu entscheiden, mehr und mehr infrage stellt; das fürchte ich. Die Entwicklung geht auch deshalb in vielen Ländern Europas in die Richtung, dass Menschen mit Downsyndrom – nach Test – durch Abtreibung als Gruppe verschwinden.
Die Menschen mit Downsyndrom sind aber nur die Ersten, die von der Testmöglichkeit betroffen sind. Es wird die Zeit kommen – das ist vielfach angesprochen worden –, in der Genetiker pränatal ermitteln können, ob ein Kind eine Disposition für Krebs, für Herzerkrankungen oder für Kurzsichtigkeit mitbringt. Ich habe die Sorge, dass dann der soziale Druck auf die Mütter steigen wird, alles Mögliche zu testen, weil einfach, schnell und billig – die Kasse zahlt es ja –, und gegebenenfalls auch der soziale Druck steigt, abzutreiben. Bei Stephen Hawking wurde mit Anfang 20 ALS diagnostiziert. Vielleicht wäre er niemals geboren worden.
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Und wie viele von uns würden möglicherweise hier heute nicht sitzen, wenn unsere Eltern gewusst hätten, welche Risiken bei uns bestehen.
Wir stehen an einer Wasserscheide. Es gibt Kräfte, die wollen eine Welt mit optimierten Menschen, produktiv, leistungsfähig und vor allem gesund. Wer potenziell eingeschränkt ist, wird vor der Geburt möglicherweise aussortiert, oder – Stichwort Sterbehilfe – eben am Ende seines Lebens, wenn er nicht mehr funktioniert und Hilfe braucht. Dieses Klima wird sich ausbreiten; auf jeden Fall fürchte ich das. Ich meine, der Zweck der sozialen Ordnung besteht nicht in der Optimierung des Menschen. Ich meine, er besteht im Schutz und im Bewahren seiner ihm ganz eigenen, von Gott gegebenen Würde.
Vielen Dank.
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Hilde Mattheis, SPD, hat als Nächste das Wort.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir haben auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft noch viel zu tun; das gilt nicht nur für Kinder mit Downsyndrom, das gilt auch für den nach einem Motorradunfall Querschnittsgelähmten, und das gilt für viele andere in unserer Gesellschaft. Dafür müssen wir kämpfen.
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Aber worum geht es hier? Es geht darum, etwas zu tun, was die Situation von Frauen, von Familien, von Ehepaaren, von Lebenspartnerschaften erleichtert. Und es geht darum, in einer Schwangerschaft, die immer geprägt ist von der Frage, wie es ausgeht, wie es dem Kind geht, ob alles in Ordnung ist, möglichst früh Gewissheit zu haben. Der Humangenetiker Zerres führt Untersuchungen an, die zeigen, dass Frauen, Ehepaare, Lebensgemeinschaften, wenn sie früh wissen, wie es um das Kind steht, dieses Kind sehr gut annehmen können, egal ob es gesund oder womöglich mit einem Handicap auf die Welt kommt. Die entscheidende Frage ist: Kann ich in der Schwangerschaft frühestmöglich damit umgehen und es annehmen? Das ist, finde ich, eine der Fragen, die wir hier beantworten müssen.
Seit 30 Jahren gibt es Fruchtwasseruntersuchungen, Plazentauntersuchungen, die mit einem hohen Risiko verbunden sind – wir haben es gehört. Jetzt ist es möglich, dieses Risiko zu vermeiden; und wir können früher sagen, ob alles in Ordnung ist. Wenn die Frage mit Nein beantwortet wird, können Frauen mit dieser Frage selbstbestimmt umgehen. Frauen gehen mit dieser Frage nicht willkürlich um. Sie sind sehr verantwortungsbewusst. Ehepaare sind sehr verantwortungsbewusst. Man geht nicht leichtfertig mit dieser Frage um, sondern weiß, um was es geht. Kann ich mit diesem Kind mein Leben gestalten, egal ob es gesund oder nicht gesund ist? Es geht jetzt darum: Mache ich daraus eine Kassenleistung? Ich glaube, da stehen wir ganz stark in der Verantwortung.
100 000 dieser Untersuchungen werden als IGeL-Leistung durchgeführt. Man muss wissen: Eine IGeL-Leistung ist nicht preisgebunden, sondern wird mit dem 2,3‑fachen Gebührensatz abgerechnet. Dies bedeutet, dass viele sich diese Untersuchung nicht leisten können. Und ich glaube, wenn wir es ernst meinen mit der Selbstbestimmung, mit der Unterstützung für Schwangere und ihre Partner, dann sollten wir diesen Weg gehen und nicht die Debatte mit anderen gesellschaftlichen Komponenten verknüpfen. Auch ich bin der Meinung, ja, wir brauchen eine inklusive Gesellschaft, aber wir brauchen auch eine Gesellschaft, die das Recht der Frauen hochhält.
Vielen Dank.
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Annette Widmann-Mauz, CDU/CSU, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wissen kann nicht nur befreien, es kann auch sehr belasten. Nicht die Art der Diagnostik, sondern das Wissen, das dadurch erlangt wird, macht uns verantwortlich – verantwortlich für die Entscheidungen, die wir in diesem Wissen treffen.
Vorgeburtliche genetische Untersuchungen werden bereits heute zulasten der gesetzlichen Krankenkassen durchgeführt. Die Frage ist jetzt, ob eine für Mutter und Kind im Vergleich weit risikoärmere nichtinvasive Methode zur Anwendung kommt. Für mich drückt sich medizinethische Verantwortung auch darin aus, dass wir gesetzlich Versicherten diesen Fortschritt nicht vorenthalten und damit Schwangere auf riskantere Methoden verweisen, vielleicht auch, weil wir uns erhoffen, dass sie unter diesen Umständen weit weniger in Anspruch genommen werden.
Durch den risikoärmeren Test besteht aber die Gefahr, dass die Untersuchung zur Routine wird, Eltern weiter unter Rechtfertigungsdruck geraten und Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft immer stärker infrage gestellt werden. Unser Grundgesetz und die Behindertenrechtskonvention verpflichten uns, menschliches Leben in seiner Würde zu achten, mit oder ohne Behinderung,
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innerhalb oder außerhalb des Mutterleibs. Im Mutterleib gelingt das jedenfalls nicht ohne die Schwangere, sondern nur mit ihr.
Eine verantwortungsvolle, eine verantwortliche Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken des Tests ist nur möglich, wenn umfassend informiert und aufgeklärt wird, wenn unterstützend eine qualifizierte Beratung zur Verfügung steht, die auch dem Recht auf Nichtwissen angemessen Rechnung trägt.
Auch die Aufklärung und die psychosoziale Beratung nach einem positiven Prognosebefund müssen wir breiter anlegen, insbesondere auch in Zusammenarbeit und aus der Perspektive betroffener Eltern und Angehöriger. Allein die Tatsache, dass wir viel zu wenig Humangenetiker in der medizinischen Versorgung zugelassen haben, qualifizierte genetische Beratung aber vorhanden sein muss und im Übrigen auch angemessen honoriert werden muss, zeigt uns den aktuellen Handlungsbedarf.
Wenn wir den Einsatz dieses und anderer Bluttests nicht als Reihenuntersuchung allein aufgrund eines statistisch erhöhten Risikos für eine Trisomie zum Beispiel aufgrund fortgeschrittenen Alters wollen, dann müssen wir in den kommenden Wochen intensiv darüber diskutieren, unter welchen besonderen Voraussetzungen im Einzelfall und auch ab welchem Zeitpunkt der Schwangerschaft diese Methoden durchgeführt werden sollen.
Ich jedenfalls halte den Ausschluss der neuen Methode in der GKV für falsch, Beschränkungen allerdings für die Inanspruchnahme, wenn sie medizinisch sachgerecht und der ethischen Herausforderung angemessen sind, nicht nur für vertretbar, sondern für geboten.
Frau Kollegin, die drei Minuten sind vorbei. Bitte, Ihre Rede ist beendet, tut mir leid.
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Susann Rüthrich, SPD, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jede Schwangerschaft, jede Vorsorgeleistung, jeder Abbruch einer Schwangerschaft ist eine höchstpersönliche Entscheidung der Frau und der Familie. Aus Tausenden individuellen Entscheidungen erwächst allerdings Gesellschaft, und bei Lebensfragen, egal ob am Ende oder am Anfang des Lebens, kann es uns nicht egal sein, warum Menschen so und nicht anders entscheiden. Deshalb richtet sich die Frage an uns alle, warum so viele Frauen meinen, ihr Downsyndromkind nicht austragen zu können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich selbst habe in den letzten acht Jahren dreimal die Vorsorgeuntersuchungen durchlaufen. Es wird einem dauernd Blut abgenommen – wofür eigentlich, war mir schwer ersichtlich. Während ich mich aber damals darauf verlassen konnte, dass die Untersuchungen im Interesse eines besseren Lebens oder des Überlebens meines Kindes sind, stehen wir mit dem Bluttest mitten in einem Paradigmenwechsel; denn im Interesse des Kindes ist der Test nicht.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der medizinische Fortschritt ist ein Segen für sehr viele Menschen. Ich will das Rad der Zeit nicht anhalten. Welche Zukunft ich aber nicht möchte, ist eine, in der Kinder mit genetischen Varianten – so sie denn noch geboren werden – quasi zum privaten Problem der Eltern werden.
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Ich will nicht, dass die sich rechtfertigen müssen, dass sie hören: Sie hätten dieses Kind ja nicht bekommen müssen. Wir zahlen Ihnen ja schon den Test, jetzt sehen Sie selbst zu, wie Sie damit zurechtkommen.
Deshalb ist für mich die entscheidende Frage: Wie selbstbestimmt ist denn die Entscheidung für diesen Test wirklich? Wie selbstbestimmt ist auch die Entscheidung gegen diesen Test?
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Können die werdenden Eltern frei und ohne Druck sagen: „Nein, ich möchte diesen Test nicht machen, es kommt, wie es kommt“?
Was wir brauchen? Erstens. Individuelle Aufklärung und Beratung bereits vor dem Test: dahin gehend, dass es keine therapeutische Verantwortung gibt, die diesen Test im Sinne des Kindes erforderlich macht; dahin gehend, welche Entscheidungen und Folgemaßnahmen sich abhängig vom Ergebnis daran anschließen. Beratung und Begleitung müssen ergebnisoffen stattfinden, unmittelbar nachdem das Testergebnis vorliegt.
Es ist mir unerträglich, wenn sich Menschen aus Vorurteilen, aus Unkenntnis oder aus sozialen und finanziellen Sorgen heraus gegen ein Kind mit Downsyndrom entscheiden; denn dann ist es eben keine freie Entscheidung.
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Wir brauchen zweitens konkrete Indikationen, bei denen die Kosten für den Test übernommen werden, um nicht zu einem vorgeburtlichen Massenscreening aller werdenden Kinder zu kommen.
Drittens brauchen wir eine wirklich inklusive Gesellschaft, in der alle Verschiedenheiten willkommen sind.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Natalie Dedreux sagte vor drei Wochen in unserer Kinderkommission: Unser Leben ist cool. Wir leben gern. – Und ich möchte, dass das auch in Zukunft noch so ist.
Vielen Dank. – Ich habe noch 15 Sekunden auf der Uhr.
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Nächster Redner ist der Kollege Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden hier nicht über Themen, die in Zahlen fixiert werden und unter dem Summenstrich ein Ja oder Nein ergeben können. Wir reden hier über Menschen, über das Recht der Menschen, zu leben, gleich welcher genetischen Disposition sie sind, und über die Frage, wie man sich bei den Herausforderungen, die sich daraus ergeben, konkret mit staatlicher, mit öffentlicher, mit gesellschaftlicher Unterstützung und Zusammenarbeit verhält.
Da haben wir große Defizite, die man schon allein an der Diskussion darüber erkennt. Es kam schon in mehreren Beiträgen deutlich zum Ausdruck, wie schwer wir uns tun. Wer ist „wir“? „Wir“ sind diejenigen, die meinen, sie wären etwas Besseres als diejenigen, über die geurteilt wird.
Inklusion ist in der Tat die Grundlage, und zwar eine Inklusion, die gesellschaftlich nicht nur gefordert wird, sondern auch gelebt wird. Dies ist nicht nur bei den Behindertenverbänden so, sondern ich denke, es gibt hier im Hause und sonst wo sehr viele, die im eigenen Lebensumfeld die Erfahrung machen, mit wie viel Liebe und Engagement Menschen in ihrer jeweiligen Disposition einen Beitrag zu dieser Gesellschaft, aber auch zu ihrer eigenen Freude leisten.
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Das heißt für uns: Wir müssen abwägen. Natürlich gibt es soziale Fragen; das ist angedeutet worden. Ich kann nicht sagen: Ich mache den Test sehr teuer, dann können ihn sich gerade diejenigen leisten, die meinen, ihn sich leisten zu müssen. – Ich muss die anderen Fragen stellen: Wie kann ich den Fortschritt in der pränatalen Diagnostik, der sich natürlich hin zu einem nichtinvasiven Test entwickelt hat, in einen Bezug bringen zu einem verantwortungsvollen Umgang damit? Welche Entscheidungsgrundlagen brauchen die Mutter, die Eltern, welche Informationen, um sich für eine Option zum Leben zu entscheiden? – Das sollte in den Vordergrund gerückt werden.
Keiner kann die Stelle der Betreffenden einnehmen. Diese Entscheidung muss jeder für sich alleine treffen. Alleine? Nein, die Gesellschaft muss helfen; sie muss dabei sein, und sie muss vor allem akzeptieren, dass wir das eben nicht nüchtern – wie das in Großbritannien der Fall gewesen ist – angehen können. Dort wurden Zahlen genannt, und ein Film der BBC hat alles verändert, weil darin jemand mit Downsyndrom aufgetreten ist und gezeigt hat, was er kann.
Wir sollten sehr zurückhaltend bei dieser Frage sein. Ich kann mir nur vorstellen, dass wir im Bereich einer gewissen Begrenzung mit Begleitung und nicht mit einer einfachen Regelkassenleistung dazu beitragen, dass Menschen mit Chancen, die mit Trisomie geboren werden – –
Danke sehr. Jetzt ist auch Ihre Redezeit abgelaufen.
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Marja-Liisa Völlers, SPD, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bisher habe ich hier zu ganz anderen Themen als dem der heutigen Debatte zu den vorgeburtlichen genetischen Bluttests gesprochen. Die Leichtigkeit beispielsweise einer Bildungsdebatte fehlt. Das ist dem Thema geschuldet, und das ist richtig so.
Es ist mir wichtig, meine Sicht stellvertretend auch für ganz viele andere Frauen in die Diskussion mit einzubringen. Ich werde dieses Jahr 35 Jahre alt. Ich habe noch keine Kinder. Würde ich ein Kind bekommen, wäre die Schwangerschaft eine Risikoschwangerschaft, und somit wäre ich vom Alter her genau eine der Frauen, um die es hier heute geht.
Ich will eines noch mal ganz deutlich machen: Den Bluttest, über den wir sprechen, gibt es schon lange. Er ist seit 2012 in Deutschland zugelassen. Es geht heute nicht um die Entscheidung darüber, ob der PraenaTest grundsätzlich erlaubt sein sollte oder nicht. Es geht doch vielmehr darum, dass wir allen Frauen die Schwangerenbetreuung ermöglichen, die sie für sich in Anspruch nehmen wollen,
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und zwar unabhängig von deren finanzieller Leistungsfähigkeit.
Bislang haben Risikoschwangere nur Anspruch auf eine Fruchtwasseruntersuchung, auf den Bluttest aber nicht. Für diesen zahlen sie aktuell mehrere Hundert Euro aus der eigenen Tasche. Der Haken ist: Die Fruchtwasseruntersuchung birgt deutlich mehr Risiken als der Bluttest – für die Frau, aber auch für das Baby. Also weniger Risiko nur für Schwangere mit mehr Geld? – Das empfinde ich als ungerecht.
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Ich jedenfalls möchte nicht, dass wir den Frauen, die es sich finanziell nicht leisten können, sagen: Ihr müsst die Fruchtwasseruntersuchung machen; die zahlt die Kasse. Den Bluttest gibt es für euch nicht. – Das ist nicht zu rechtfertigen.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Einführung des Bluttests als gesetzliche Kassenleistung bedeutet doch nicht, dass alle Frauen diesen Test dann mit dem Ziel machen, bei einer entsprechenden Diagnose die Schwangerschaft abzubrechen. Diese Unterstellung halte ich für völlig falsch.
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Jede Schwangere muss selbst entscheiden können, ob überhaupt ein Test gemacht werden soll. Wenn ein Test gemacht werden soll, muss sie entscheiden, welcher Test gemacht werden soll und was nach der Diagnose passiert. Dafür braucht sie aber eine wirklich gute ergebnisoffene ärztliche Beratung. Das ist das A und O.
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Natürlich ist eine vorgeburtliche Diagnose für die meisten erst mal ein Schock; sie kann aber eben auch helfen, sich frühzeitig auf die Situation einzustellen, auf eine Situation, die in Teilen leider immer noch mit Hürden verbunden ist. Das zeigt die heutige Debatte doch ganz deutlich: Unsere Gesellschaft ist noch lange nicht überall so inklusiv, wie sie sein sollte, wie ich sie mir vorstelle. Ich würde mir wirklich wünschen, dass wir gemeinsam daran arbeiten, dass wir alles daransetzen, damit uns Teilhabe für alle noch besser gelingt.
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Das sollte meiner Ansicht nach das Ergebnis dieser Debatte sein.
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Das Ergebnis sollte nicht sein, dass wir Frauen mit weniger finanziellen Mitteln vom vorgeburtlichen genetischen Bluttest ausschließen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Michael Brand, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte in der heutigen Orientierungsdebatte vor allem ein paar Fragen aufwerfen. Die wichtigste Frage ist die Frage von Andreas, mit dem ich mich angefreundet habe. Andreas lebt wie ich in Fulda. Er ist heute 31 Jahre alt und hat den genetischen Defekt, den wir durch den Bluttest noch vor der Geburt feststellen können. Andreas hat das Downsyndrom. Er gehört also mit seiner Frage hierher, in diese Debatte – sozusagen mitten aus dem Leben mitten in den Bundestag.
Bei unserer ersten Begegnung hat er indirekt eine Frage gestellt, die klar zeigt, wie aufmerksam Menschen wie er unsere Debatten verfolgen. Andreas sagte zu mir: „Ich find es total doof, dass ich eigentlich nicht leben soll“. – Er war dabei ehrlich entrüstet und sehr traurig zugleich. Was soll ich Andreas aus dieser Debatte berichten? Soll ich ihm sagen: „Ja, das finden wir auch, aber das ist nicht unsere Entscheidung, ob Menschen wie du leben sollen oder auch nicht leben sollen“? Das ist der Kern der heutigen Debatte. Sollen Menschen wie Andreas leben? Und wie schützen wir sein Menschenrecht auf Leben?
Die heutige Debatte kann man nicht auf die Frage „Kassenleistung – ja oder nein?“ reduzieren – das geht sicher viel weiter.
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Die nächsten Zulassungsverfahren kommen schon. Wenn Erbguttest Routine wird, stellt sich die Frage: Was ist mit dem Rechtfertigungsdruck auf werdende Eltern, diese Angebote auch zu nutzen? Was ist eigentlich mit dem Recht auf Nichtwissen?
Wir müssen uns sehr großen, sehr unangenehmen Wahrheiten stellen. Wir haben einen medizinischen Fortschritt, der bei dem Testergebnis „Downsyndrom“ in über 90 Prozent der Fälle zum Tod führt. Das ist der eigentliche Kern dieser Debatte. In den nächsten Jahren werden wir noch viel dramatischere Debatten führen; denn der medizinische Fortschritt explodiert – jedes Jahr, jeden Monat. Die Frage lautet auch: Wie viel Optimierung verträgt der Mensch?
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Wir optimieren immer und alles: von Prozessen bis zu Personen. Wir streben nach dem, was wir als perfekt empfinden. Wer definiert eigentlich das „perfekte Optimum“? Wer mobilisiert die Ressourcen, zum Beispiel die Finanzierung? Wer setzt die Grenzen? Und wo werden sie gesetzt?
Das alles tun wir längst nicht mehr nur aus medizinischen Gründen. Es geht um die Optimierung des Menschen selbst. Der Bluttest ist nicht schuld daran. Er ist nur ein Instrument, eine Entscheidungshilfe. In der deutlichen Mehrheit der Fälle ist er aber eine Entscheidungsabnahme. Was das bei der kommenden Prognosesicherheit von bis zu 97 Prozent bei KI-gestützten Analysen im medizinischen Bereich bedeutet, kann ein Horror werden, muss es aber nicht.
Nicht nur heute in dieser Orientierungsdebatte müssen wir mit oder ohne Andreas, angesichts explodierender medizinischer Optionen, angefeuert von „künstlicher Intelligenz“ und „Deep Learning“ eine Frage beantworten, die wir nicht verdrängen können: Wie viel Selektion verträgt der Mensch?
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René Röspel, SPD, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Selten war ich bei einer Frage inhaltlich so zerrissen wie bei der Frage zur Entscheidung über Bluttests.
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Ja, einerseits werden wir den Frauen, die sich dafür entscheiden, einen solchen Test zu machen, eine invasive Untersuchung ersparen und die Möglichkeit geben können, den Fötus zu schützen und von dieser invasiven Untersuchung ausnehmen zu lassen. Das ist ein Vorteil.
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Andererseits treibt mich aber auch die Sorge um, dass der Test, wenn er eine Kassenregelleistung wird, eben auch eine Regeluntersuchung wird, die dazu führt, dass mehr Menschen mit Downsyndrom abgetrieben werden. Das bereitet mir großen Kummer.
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Worum geht es in dieser Debatte? Es geht darum, ob eben die Kosten dieses Tests, der schon lange verfügbar ist und privat bezahlt werden muss, von der Krankenkasse übernommen werden. Glauben wir tatsächlich allen Ernstes, dass die 200 Euro, die dieser Test kostet, eine stabile Hürde oder ein gutes Argument sind, um Frauen davon abzuhalten, den Test machen zu lassen, wenn sie es wollen und/oder können? Sollten wir unsere Kraft nicht viel lieber darauf verwenden, die Hürden abzubauen, die es in der Gesellschaft gibt?
Warum wird eigentlich eine Schwangerschaft, die normal verläuft, deswegen zur Risikoschwangerschaft, weil die Frau über 35 Jahre alt ist?
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Wir haben das bei dreien unserer Kinder erlebt. Es wurde gesagt: „Sie haben eine Risikoschwangerschaft, weil es eine Wahrscheinlichkeit von 1 Prozent gibt,“ – es geht um eine Wahrscheinlichkeit und nicht um ein Risiko, nicht um eine Gefahr – „dass man ein Kind mit Downsyndrom bekommt.“ Wir hatten keine Angst, weil wir uns informiert hatten; aber viele Menschen werden Angst bekommen, wenn man ihnen sagt: Das ist eine Risikoschwangerschaft. Jetzt passiert etwas Schlimmes.
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Vielleicht müssen wir doch viel mehr Kraft darauf verwenden, vernünftig zu beraten, das Bild von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft zu verändern
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und uns tatsächlich viel mehr für Inklusion einzusetzen.
Ich will an dieser Stelle sagen: Die Krokodilstränen der AfD, die Anfragen stellt, wie viel Menschen mit Behinderungen die Gesellschaft denn kosten, die sich über Inklusion lustig macht, täuschen. Sie dürfen nicht so reden, wie Sie hier geredet haben.
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Alle Menschen können „AfD und Inklusion“ googeln und dann Ihre Scheinheiligkeit im Umgang mit Menschen mit Behinderungen feststellen.
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Ich finde, von uns muss von dieser Stelle aus eine Botschaft ausgehen: Jeder Mensch mit Behinderungen ist einer von uns und willkommen.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Erwin Rüddel, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Schon heute übernehmen die Krankenkassen bei Risikoschwangerschaften die Kosten der Fruchtwasseruntersuchung, mit der sich genetische Erkrankungen erkennen lassen. Das ist rechtlich so vorgesehen – auch nach ethischen Debatten in diesem Haus. Der Preis für dieses invasive Verfahren ist allerdings das Risiko einer Fehlgeburt. Seriöse Stellen sprechen von jährlich bis zu 400.
Seit 2012 ist in Deutschland der nichtinvasive pränatale Test zugelassen. Mit diesem risikolosen Test lässt sich das Fehlgeburtsrisiko gegenüber dem Status quo deutlich reduzieren. Dieser Test ist aber eine Privatzahlerleistung. Damit der Test nicht weiterhin nur Frauen zur Verfügung steht, die ihn sich leisten können, ist es aus meiner Sicht unumgänglich, dass die Kosten für den NIPT bei Risikoschwangerschaften – ich betone: Risikoschwangerschaften – künftig von den Krankenkassen übernommen werden.
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Da die pränatale Diagnostik schon längst im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen vorhanden ist, ist die Übernahme der Kosten für den NIPT für mich keine ethische, sondern eine soziale Frage.
Auch wenn wir bei uns noch Defizite haben, wird in kaum einem anderen Land so viel an Unterstützung für Menschen mit Behinderungen geleistet wie bei uns. Eine frühzeitige Klarheit über den Gesundheitszustand des eigenen Kindes kann auch dazu beitragen, dass sich die Eltern auf ein behindertes Kind vorbereiten können. Deshalb gehört zu dem NIPT auf jeden Fall auch eine gute humangenetische Beratung und im Falle eines positiven Befundes die psychosoziale Beratung mit entsprechenden Unterstützungsangeboten.
Auch heute schon entscheiden sich Schwangere dafür, das Recht auf Nichtwissen in Anspruch zu nehmen. Wir sollten die konkrete Thematik, die wir heute diskutieren, nicht mit generellen Fragen der Diagnostik, die zukünftig auf uns zukommen, überfrachten. Der Fortschritt im Bereich der Diagnostik wird in der Zukunft noch viele Fragen aufwerfen. Diesen Herausforderungen und ethischen Debatten müssen wir uns hier im Haus und in der Gesellschaft stellen.
Die ethische Frage in der aktuellen Debatte lautet aber: Können wir es rechtfertigen, dass finanziell schlechter gestellte Schwangere ein höheres Risiko für eine Fehlgeburt haben als andere Frauen? Ich sage klar: Nein.
Vielen Dank.
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Dr. Maria Flachsbarth, CDU/CSU, ist die nächste Rednerin.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob ein nichtinvasiver pränataler Test, also NIPT, zur Feststellung genetischer Abweichungen eines Embryos Regelleistung der gesetzlichen Krankenkasse werden soll oder nicht, ist weit mehr als eine technische, gesundheitsökonomische Frage des Gemeinsamen Bundesausschusses. Es geht vielmehr um die grundlegende Frage, wie unsere Gesellschaft mit Menschen mit Behinderungen umgehen will.
Es ist darum absolut notwendig und auch längst überfällig, eine breite öffentliche Diskussion über die ethische Dimension und über die Chancen und Risiken solcher Bluttests zu führen, zumal NIPTs als freiwilliges Angebot für Selbstzahlende längst Realität sind. Selbstverständlich ist in der Debatte zu berücksichtigen, dass bei einem nichtinvasiven Bluttest kaum Risiken für Schwangere und für den Fötus bestehen, anders als bei einer Fruchtwasseruntersuchung, die das Risiko einer Fehlgeburt mit sich bringt.
Es ist aber eben auch bekannt, dass der Hinweis auf eine Trisomie 21, die zum Downsyndrom führt, nach einem NIPT in den meisten Fällen die Entscheidung zum Abbruch der Schwangerschaft zur Folge hat. Es besteht deshalb natürlich die ganz reale Gefahr, dass NIPTs als Kassenleistung ohne jede Einschränkung zu einem Screening auf genetische Auffälligkeiten führen könnten. Solche Angebote tragen deshalb nicht nur zur Verunsicherung oder gar zu Ängsten bei, sondern sie verstärken eben auch den Druck auf schwangere Frauen und werdende Eltern und führen mehr und mehr zu einer gesellschaftlichen Erwartung, nur vermeintlich gesunde und nicht behinderte Kinder zur Welt zu bringen.
Ist das die Gesellschaft, in der wir leben wollen? Wie passt eine solche Haltung zu einem Land, das bereits 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat? Sollte nicht gerade dieses Haus auf Grundlage des Grundgesetzes klar dafür eintreten, dass Menschen mit Behinderungen in dieser Gesellschaft willkommen sind?
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Es kann deshalb aus meiner Sicht nur darum gehen, NIPTs eingeschränkt, also nur bei klarer medizinischer Indikation, und auch erst nach der 12. Schwangerschaftswoche vorzusehen. Nur nach Ende der in § 218 Strafgesetzbuch festgelegten Frist haben betroffene Frauen und Paare nämlich ausreichend Zeit, eine psychosoziale Beratung zu nutzen, sich gut informiert mit Trisomie 21 auseinanderzusetzen und zu einer sorgfältigen, abgewogenen Entscheidung zu gelangen. Ein positiver NIPT-Befund muss darüber hinaus durch weitere Diagnostik abgeklärt werden.
Im Übrigen sieht ja bereits § 15 des Gendiagnostikgesetzes vor, dass vor und nach jeder pränatalen Untersuchung eine umfassende Aufklärung und Beratung erfolgen muss. Es kommt darauf an, die werdenden Eltern in der schmerzhaften Phase der Entscheidung nach einer NIPT-Diagnose sensibel und sachkundig zu begleiten.
Kollegin.
Schwangere Frauen und ihre Partner brauchen qualitätsgesicherte, unabhängige und leicht verständliche Informationen und müssen mit dem behinderten Kind dann auch weiter begleitet werden.
Vielen Dank.
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Danke sehr. – Uwe Schummer, CDU/CSU, hat als Nächster das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist offenkundig: Die Fragen, die wir miteinander debattieren, sind nicht medizinischer und auch nicht finanzieller Art. Im Grunde geht es um die Frage, in welcher Welt wir miteinander leben wollen. Was gilt für uns als Norm, und wie viele Abweichungen von der Norm sind wir innerhalb der Gesellschaft bereit zu ertragen und zu akzeptieren?
Wir stellen derzeit fest: 90 Prozent der Kinder, bei denen die vorgeburtliche Diagnose darauf hinweist, dass sie eine Behinderung haben könnten, werden vor der Geburt getötet. Wir müssen miteinander überlegen, wie wir die Automatik „Diagnose führt zur Abtreibung“ durchbrechen können.
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Die Ursache ist nicht der Test, sondern natürlich der Umgang der Gesellschaft mit dem Wissen und mit den Menschen, die ein Handicap haben oder anders sind als wir. Der Auftrag, den wir miteinander politisch haben, lautet, eine Antwort auf diese Frage zu finden: Wie können wir das menschliche Leben in all seiner Vielfalt akzeptieren, und wie können wir ihm in all seiner Vielfalt zum Durchbruch verhelfen, und zwar mit einem großen Ja und nicht mit einem Nein, also gegen das Leben?
Der Test, so wird mir von Beratungsinstituten wie Donum Vitae berichtet, erzeugt einen hohen Entscheidungsdruck. Es werden von den Betroffenen, die sich erkundigen und diesen Test vornehmen wollen, Fragen gestellt: Wird die Beziehung das aushalten, was wir miteinander als Herausforderung annehmen wollen? Ist sie fest genug? Wie steht der Partner dazu? – Bei manchen ist es auch der Traum von einem Design-Baby oder einem perfekten Kind, der auf einmal zerplatzt.
Frühzeitige Beratung schafft Erleichterung, vor allem, wenn die Eltern spüren, dass es positive Beispiele gibt. Nichts ist überzeugender als das positive Beispiel von Eltern mit Kindern, die ein Downsyndrom haben und zeigen, wie viel Lebensfreude sie verbreiten können.
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Die Sprache in unserer Gesellschaft ist schon verräterisch: Das Kind leidet am Downsyndrom. – Es leidet nicht. Die Kinder, die ich durch die Elterninitiative Kindertraum kenne, sind voller Lust am Leben.
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Sie haben eine ansteckende Freude. Unternehmen, in denen Menschen mit Downsyndrom in ausgelagerten Arbeitsplätzen und Inklusionsbetrieben arbeiten, berichten mir, dass sich auch das Klima im Unternehmen verändert, weil die Menschen dort gelassener werden und miteinander spüren, dass sie in aller Vielfalt zusammenleben. Das zu vermitteln, ist unsere Herausforderung.
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Peter Weiß, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es nur um die Frage ginge: „Kassenleistung – ja oder nein“, wäre es einfach. Es geht aber angesichts dessen, was an vorgeburtlichen Tests noch auf uns zukommen wird, auch um die Frage: Was macht das alles mit uns, mit unserer Gesellschaft? Ich finde, da muss man, wenn man verantwortungsvoll diskutiert, einfach die Gefahren klar und deutlich benennen.
Es darf nie geschehen, dass Eltern mit einem Kind mit Behinderung kritisch angeschaut werden oder sich gar dafür entschuldigen müssen, dass sie sich für ein Kind mit Behinderung entschieden haben.
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Nein, das Gegenteil muss der Fall sein: Ein Kind mit Behinderung ist in einer inklusiven Gesellschaft willkommen. Es ist eine Bereicherung für uns.
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Dann ist auch gesagt worden: Niemand darf in einer Schwangerschaft unter Druck gesetzt werden – richtig! –, auch nicht unter gesellschaftlichen Druck gesetzt werden. Klar: Eltern wünschen sich ein gesundes Kind. Wir wünschen allen Eltern ein gesundes Kind. Aber wenn ein Kind mit Behinderung auf die Welt kommt, dann erleben wir doch auch, welche neue Form von Achtsamkeit, ja, von Freude, von Lebendigkeit, von ganz besonderer Fürsorge sich bei Eltern wie Geschwistern einer solchen Familie entwickelt. Klar: Da sind die Sorgen, da sind die besonderen Belastungen.
Aber es ist so, wie es der Kollege Michael Brand über seinen Freund erzählt hat: Menschen mit Trisonomie 21, Downsyndrom, Menschen mit Behinderung bringen eine ganz besondere Freude und Vielfalt in unser Leben, auch in das Leben der Familien. Das sollten wir doch zuallererst einmal positiv herausstellen und nicht zuerst von den Sorgen sprechen.
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Deshalb ist vielleicht der wichtigste Punkt, dafür zu sorgen, dass vor einem Test, auf den man auch verzichten darf, und erst recht nach einem Test eine umfassende ärztliche und psychosoziale Beratung stattfindet, die es möglich macht, dass sich in unserer Gesellschaft vor allen Dingen eines festsetzt: Jedes Leben, auch das Leben mit Behinderung, ist ein lebenswertes Leben. Darauf kommt es an.
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Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. – Die letzte Rednerin: die Kollegin Emmi Zeulner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich vorab noch einmal kurz festhalten, um was es konkret bei der von Professor Josef Hecken angestoßenen Debatte geht: Es geht um die Übernahme der Kosten eines Tests, der zur Bestimmung des Risikos autosomaler Trisomien 13, 18 und 21 bei Risikoschwangerschaften dient.
Dieser Test wird derzeit bereits circa 100 000-mal jährlich als IGeL-Leistung durchgeführt. Deswegen möchte ich aufgrund der Kürze der Zeit ganz bewusst keine Stellvertreterdebatte darüber führen, ob der Test überhaupt zulässig sein sollte. Faktisch ist er da. Es geht jetzt darum: Wie gehen wir damit verantwortungsvoll um?
Eines eint uns doch alle: Wir alle wollen zum Wohle der Mutter und des Kindes entscheiden. Ich bin der Ansicht: Wenn wir in dem geeinten Willen ehrlich und konsequent sind, dann müssen wir die Gesundheit von Mutter und Kind an oberste Stelle stellen. Wenn uns die Medizin die Möglichkeit eines nichtinvasiven Bluttests gibt, der im Gegensatz zu den invasiven Methoden keine Gefahr für beide darstellt, so stehe ich diesem erst einmal offen gegenüber.
Wenn wir die Kosten für die invasiven Eingriffe, wie zum Beispiel auch die Chorionzottenbiopsie, bereits vor der zwölften Schwangerschaftswoche für Risikoschwangerschaften übernehmen, dann ist es nur folgerichtig, dass wir diese für den nichtinvasiven Test, der kein Risiko einer Fehlgeburt beinhaltet, ebenfalls übernehmen. Auch bei der späteren invasiven Alternative, der Amniozentese, liegt das eingriffsbedingte Risiko einer Fehlgeburt bei bis zu 1 Prozent, was etwa 400 Kindern jährlich entspricht. Der NIPT reduziert also die Zahl der invasiven Untersuchungen, und damit sinkt hoffentlich die Zahl der Fehlgeburten deutlich.
Eine vollständige Übernahme der Kosten für alle ohne Notwendigkeit lehne ich aber ab. Denn ja, dann würde der Test in den Praxen schnell zur Routine und als Gesamtpaket angeboten werden, ob er sinnvoll ist oder nicht, einmal mit einer besseren und einmal mit einer schlechteren Beratung. Das kann und will ich nicht vertreten.
Ein Punkt bleibt für mich, unabhängig von der Kostenübernahme, der ganz entscheidende: Die Diagnose „Trisomie 21“ ist kein vorgezeichneter Weg des Leidens. Es gibt wunderbare, glückliche Momente, die mit der Familie gelebt werden können. Die Verzweiflung der werdenden Eltern basiert leider zu oft auf Verunsicherung und Unwissenheit, auch auf Vorurteilen, die wir als Gesellschaft noch nicht ausräumen konnten. Doch genau da sollten wir ansetzen und die Beratung, die wir Schwangeren bzw. werdenden Eltern an die Hand geben, deren Kind mit der – wie ein Elternpaar es liebevoll nannte – „Sonderausstattung“, also dem zusätzlichen Gen, auf die Welt kommt, verbessern. Wir brauchen eine bessere Aufklärung. Das muss auch den psychosozialen Bereich zwingend umfassen. Denn nur aufgeklärte Menschen können am Ende eine Entscheidung treffen, die sie bewusst mittragen können.
Ja, das Leben dieses Kindes bedarf einer besonderen Aufmerksamkeit, und die Familie braucht von Beginn an ein Netz, das sie auffängt und unterstützt.
Frau Kollegin.
Wir haben in diesem Bereich noch viel zu tun. Deswegen: Sorgen wir als Gesellschaft dafür, dass jedes Leben lebenswert bleibt.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Zeulner. – Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Target2 ist eine Kreditvergabe der Bundesbank – ohne Fälligkeitsdatum, ohne Tilgungspflicht, ohne Obergrenze, ohne Verzinsung. Es sind unbesicherte, nicht beitreibbare und damit buchhalterisch wertlose Forderungen in Höhe von fast drei Bundesjahreshaushalten. Das Target-System ist faktisch das größte Einzelvehikel der Euro-Rettung.
Die Bundesbank leugnet jedoch weiterhin den Risikocharakter dieser Position. Die Euro-Zone wird faktisch als unveränderbar, ja, als unsterblich angesehen, obwohl es überall im Gebälk knirscht. Gestern hat Italien seine Defizitprognose stark erhöht. Die UBS und das „Handelsblatt“ haben eben diese Woche einen Italo-Exit diskutiert.
Grenzüberschreitende Zahlungen wurden jahrzehntelang und noch bis 2007 gänzlich ohne Target-Salden vom privaten Interbankenmarkt ausgeführt. Es gab auch vor Target2 eine florierende Handelswelt. Und ja: Wir hatten das hier schon früher ausgeführt. Warum also eine weitere Target-Debatte? Es gibt dafür gleich vier gute Gründe.
Erstens. Es zeigt sich aktuell, dass die Erwartung der Bundesbank von 2018 leider falsch war, dass mit dem Ende der Anleihekäufe der EZB auch der Target-Saldo nicht mehr weiter aufwachsen würde. Dem ist nicht so. Es gab einen einmaligen technisch bedingten Saldenrückgang im Januar dieses Jahres. Der aktuelle Märzsaldo liegt nun wieder um 70 Milliarden Euro höher als im Februar: mit 941 Milliarden Euro nun fast wieder auf Allzeithoch.
Übrigens hoffte schon die Bundesregierung vor sieben Jahren auf Besserung bei Target2. Staatssekretär Koschyk sagte hier 2012:
Die Bundesregierung geht davon aus, dass sich die … Target-Salden … mittelfristig wieder zurückbilden.
Seitdem sind sie um Hunderte Milliarden Euro angewachsen. Die Billion ist jetzt in Sichtweite. Die langjährigen Ursachen der Target-Salden, Handelsungleichgewichte als Folge des Euro-Wechselkurskorsetts und Kapitalflucht aus den Euro-Südländern, sind unverändert wirksam. Es hat sich nichts geändert.
Zweiter Grund. Die im Herbst 2018 angekündigte Statutenänderung des ESZB zur Neuregelung seiner Zahlungssysteme ist noch nicht vollzogen. Es besteht also weiterhin eine gute Chance für dieses Haus und für die Bundesregierung zur Beteiligung bei der Neuregelung, die wir jetzt endlich ergreifen sollten.
Dritter Grund. Es hat sich ein kleiner Fortschritt ergeben: Es wurde immerhin eine Anhörung – schauen wir mal – zu dem Thema in den Ausschüssen angekündigt. Unser heute vorliegender Antrag ist dazu ein Beitrag.
Der vierte Grund. Auch in der wissenschaftlichen Debatte ebenso wie beim Bundesrechnungshof und beim Rechnungsprüfungsausschuss wurden nun in jüngster Zeit Stimmen hörbar, die im Target-System ein Risiko auch beim Fortbestand des Euro sehen – eine Sichtweise, die wir schon seit Jahren teilen und einnehmen. Die Target-Forderungen sind in jedem Fall, das heißt nicht erst bei einem Zusammenbruch des Euro-Systems insgesamt, riskant.
So besteht etwa bei einem Italo-Exit ein hohes Risiko, wenn die Aktiva der Banca d’Italia und der italienischen Geschäftsbanken aufgrund von ansteigenden Zinsen notleidend würden, während genau dann auch die 490 Milliarden Euro italienischer Target-Verbindlichkeiten zinstragend würden. Italien müsste gerade dann in einer ohnehin kritischen Lage auch noch sehr hohe Target-Zinsen bezahlen. Ein solcher Ausfall würde zunächst bei der EZB und dann anteilig bei der Bundesbank zu einem hohen Milliardenschaden führen. Schon materiell ist im Falle eines Euro-Austritts vollkommen klar, dass die Target-Forderungen der Bundesbank durch Italien und Spanien als größte indirekte Schuldnerstaaten niemals mehr werthaltig zurückgezahlt werden können. Volkswirtschaftlich stehen diese Forderungen voll im Risiko.
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Übrigens war die Bundesregierung bereits 2012 ehrlicher bei der Risikoeinschätzung. Staatssekretär Kampeter sagte damals:
Risiken aufgrund der TARGET2-Salden können sich nur bei Austritt eines Landes aus der Währungsunion manifestieren.
Heute wird dieses Verlustrisiko aber geleugnet mit dem Verweis auf die EZB als Gegenpartei der Bundesbank, die ja nie illiquide werden könnte. Das ist das Narrativ. Das ist bei 941 Milliarden Euro unverantwortlich; denn auch für eine EZB gilt: Schon eine Teilabschreibung der Target-Forderungen würde sofort das Eigenkapital der EZB aufzehren. Damit wäre auch die Bundesbank als Gesellschafterin der EZB betroffen. Trotzdem bildet die Bundesbank leider keine Rückstellungen für Ausfälle. Sie könnte dann auf Jahre hinaus keinen Gewinn in den Bundeshaushalt abführen, was den Bundeshaushalt entsprechend belasten würde. Unter Umständen müsste die Bundesbank sogar mit Steuergeld in bis zu dreistelliger Milliardenhöhe rekapitalisiert werden. Der deutsche Steuerzahler würde die Zeche für die Rettung der Euro-Südstaaten bezahlen.
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Manche sagen jetzt: Die USA haben doch auch ein Target-System. – Das ist korrekt. Aber die EZB hat 1999 eine schlechte Kopie des sogenannten Fedwire-Systems geschaffen. Den praktisch unbegrenzten Risikotransfer, der im europäischen Target-System eingebaut ist, gibt es bei Fedwire nicht. Die Regionalbanken des Fed-Systems müssen jährlich ihre Defizite mit realen Vermögenswerten hinterlegen, formell sogar mit Gold. Und so kommt es im US-Target-System niemals zu solch absurden Verwerfungen wie im EZB-Target-System.
Target2 macht fast die Hälfte des deutschen Nettoauslandsvermögens von etwa 2 Billionen Euro aus. Das sind materialisierte Ersparnisse der Deutschen im Ausland. Diese sind zu fast 50 Prozent unverzinst und ausfallgefährdet.
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Auch Goldkäufe wären deshalb ein guter Weg: Für 941 Milliarden Euro bekommen Sie etwa 25 000 Tonnen Gold oder fast achtmal das offizielle Staatsgold der Bundesbank.
Kürzlich hat die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich entschieden, im Rahmen der neuen Basel‑III-Richtlinie künftig auch Gold als Kapital für Banken zu akzeptieren. Das ist neu und eine Chance für die Banken, Eigenkapital bzw. Volksvermögen aufzubauen und zugleich den unsäglich hohen Target-Saldo abzubauen. Gold ist eben doch kein barbarisches Relikt, wie es manchmal in keynesianischen Kreisen heißt.
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Leider sagt die Bundesbank noch immer: Target-Salden sind keine Forderungen, sondern irrelevante Verrechnungspositionen. – Doch, es sind Kreditforderungen; sonst könnte man sie nicht als solche auf der Aktivseite der Bilanz verbuchen. Die Frage ist übrigens sogar offiziell geklärt: EZB-Chef Draghi hat von Italien verlangt, im Falle eines Austritts seine Target-Verbindlichkeiten zurückzuzahlen. Das ist ganz klar ein Anzeichen für einen Kredit. Natürlich könnte und würde Italien das nicht tun: bei einem Italo-Exit als letzte EU-Morgengabe noch seine 490 Milliarden Euro zu begleichen. Natürlich ist das absurd. Deshalb: Target als risikofreie Verrechnungsgröße abzutun, wie es die Bundesbank tut, kommt einer Ablehnung ordentlicher Bilanzbuchführung gleich und damit einer Leugnung der hinter den Salden stehenden ökonomischen Zusammenhänge.
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Hier ist ein Verrechnungssystem zu einer für Deutschland unbeherrschbaren, bald billionenschweren Kreditquelle für Ausländer mutiert.
Beteiligen Sie sich also im Ausschuss bitte konstruktiv an der Suche nach einer gangbaren Lösung für den deutschen Steuerzahler. Die AfD schlägt mit dem Goldkauf und mit der Wiederbesicherung solcher Forderungen und damit implizit auch einer Wiederverzinsung einige Optionen vor.
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Es gäbe daneben auch andere, zum Beispiel einen Mittelmeer-Fonds, gespeist aus deutschen Krediten, oder ein großes Investitionsprogramm zur Sanierung deutscher Schulen und Straßen, das aber operativ durch Firmen aus Euro-Südländern durchgeführt werden müsste. Das wäre zwar keynesianisch schuldentreibend, würde aber den sonst wertlosen Target-Saldo der Bundesbank einer guten Verwendung zuführen. Das wäre doch vielleicht sogar etwas für die linken Fraktionen dieses Hauses. Also sprechen wir bitte im Ausschuss und vielleicht auch in der Anhörung darüber.
Danke schön.
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Für die Fraktion der CDU/CSU hat das Wort der Kollege Dr. André Berghegger.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Diskussion über das Thema Target-Forderungen wird schwerpunktmäßig in Deutschland geführt. Es ist alles andere als trivial; das haben wir ja gerade auch schon von Herrn Boehringer gehört. Wir sollten die Situation ernst nehmen und am Ende auch vernünftig einordnen.
Worum geht es? Target-Salden bzw. Target2-Salden entstehen im Target-System. Das Target-System ist ein System für Zahlungen in Echtzeit im Euro-Raum. Diesem System liegen Zahlungen aus Warenverkäufen, aus dem Kauf von Wertpapieren, aus der Gewährung oder Tilgung von Darlehen, aus der Geldanlage bei Banken und vielem mehr zugrunde. Dadurch entstehen positive und negative Salden auf Verrechnungskonten der nationalen Notenbanken bei der EZB. Das ist deshalb so, weil wir ein zweistufiges System von EZB und nationalen Notenbanken eingerichtet haben. Daran will auch keiner rütteln.
Wie haben sich die Salden entwickelt? Bis zur Finanzkrise recht moderat. Dann ist der Interbankenmarkt zusammengebrochen. Der Grund hierfür war eine Vertrauenskrise, und der krisenbedingte Mechanismus zur Geldverschiebung unter anderem in den sicheren Hafen Deutschland ist in Gang gesetzt worden. Die Salden sanken erst wieder, als Draghi für die EZB verkündet hat, alles zu tun, um den Euro zu retten. Die Wirtschaft sprang aber noch nicht an. 2015 fingen die Notenbanken daher an, massiv Staatsanleihen zu kaufen, um Zinsen zu senken, die Kreditvergabe wieder in Gang zu bringen und die Wirtschaft anzukurbeln, und das insbesondere – das ist wichtig – über den Finanzplatz Frankfurt. Im letzten Jahr – wir haben es von Herrn Boehringer gehört – entwickelten sich die Target-Salden in Deutschland moderat. Die EZB reduzierte das Ankaufsvolumen, die Programme wurden nicht mehr ausgeweitet, es erfolgten keine Zusatzkäufe mehr, nur noch fällige Papiere werden umgetauscht.
Das Ganze zeigt die Volatilität dieses Systems. Allein im letzten Jahr, von Mitte des letzten Jahres – da war der Höchststand – bis Februar dieses Jahres, sind die Target-Salden in Deutschland um rund 100 Milliarden Euro gesunken und im März wieder um rund 70 Milliarden Euro gestiegen. Das zeigt: Wir brauchen eine langfristige Betrachtung, keine kurzfristigen Reaktionen. Ich nehme gerne das Bild vom letzten Mal auf, nach dem die Target-Systematik wie ein Fieberthermometer ist – ich freue mich, dass der eine oder andere dieses Bild ebenfalls übernommen hat –: Es zeigt an, dass im System etwas nicht stimmt; aber das System ist nicht das Problem.
Wir brauchen also eine nachhaltige Lösung. Wie könnte die aussehen? Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit, insbesondere in den südlichen Ländern, wieder steigern. Das Vertrauen in die Staaten und in die Banken muss angehoben werden. Wie könnte das geschehen? Die EZB muss nach Beendigung dieser Ankaufprogramme die Rückführung der Geldmenge ins Visier nehmen. Die Staatsverschuldung muss sinken, notleidende Kredite bei den Banken müssen abgebaut werden. All das sind Themen, die bei vielen Euro-Gruppen-Sitzungen und bei den Räten eine Rolle spielen, wo man sicherlich nach nachhaltigen Lösungen sucht. Dann fließt wieder Geld aus Deutschland ab, insbesondere in die südlichen Länder wie Italien, Spanien und Portugal, und die Salden gehen automatisch wieder zurück. – So weit zur Einleitung.
Jetzt zu Ihrem Antrag, Herr Boehringer. Der Antrag verfolgt ein ähnliches Ziel wie beim letzten Mal; wir haben uns schon häufiger darüber unterhalten. Die Begründung ist etwas anders; aber es wundert Sie nicht, dass wir den Antrag im Ergebnis ablehnen werden.
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Mich wundert etwas, dass die Begründung in Ihrem Antrag anders ist als die Begründung auf der Pressekonferenz und in der Pressemitteilung von Anfang der Woche. Aber vielleicht liegt das daran, dass Sie den Antrag erst nach dieser Konferenz schreiben konnten – man weiß es nicht.
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Das ist aber auch unerheblich. Ich werde auf beide Argumente eingehen.
Erstens. Sie sagen, dass Deutschland schrittweise auf der Rückführung der Target-Salden bestehen müsste. Die Target-Salden sind aber keine Zahlungen, sondern Folge von Zahlungen im Wirtschaftsverkehr. Die Salden entstehen bei unabhängigen Notenbanken und damit auch bei der Deutschen Bundesbank. Und auf die Deutsche Bundesbank können und werden wir keinen Einfluss ausüben.
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Zweitens sagen Sie, die Target-Salden wirken wie ein Überziehungskredit an verschuldete Südstaaten.
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Herr Baumann, das haben Sie in der Pressekonferenz auch gesagt. Ich wiederhole das Argument gerne: Die Target-Salden sind keine Kredite. Es fließt gerade kein Geld von Deutschland in die anderen Staaten, sondern umgekehrt wird ein Schuh daraus: Deutsche Waren werden zum Teil verkauft, und Geld fließt vom Ausland nach Deutschland. Das ist nun alles andere, aber kein Kredit.
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Drittens. Deutschland muss sich Sicherheiten überschreiben lassen, haben Sie gesagt. Aber Sie wissen doch auch, Herr Boehringer, dass Gold- und Devisenreserven der nationalen Notenbanken bei weitem nicht ausreichen würden, solche Sicherheiten darzustellen.
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Geld hat schon lange keinen Gegenwert mehr in Gold oder anderen Sicherheiten. Spätestens seit Ende der 70er-Jahre des letzten Jahrtausends ist dieses System international abgeschafft. Geld erhält seinen Wert allein dadurch, dass man darauf vertraut.
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– Herr Baumann, hören Sie doch zu. Ich habe sogar bei Ihrer Pressekonferenz zugehört.
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Geld erhält seinen Wert allein durch das Vertrauen und durch Anerkennung des Staates und seiner Steuerbehörden. Zerreden Sie dieses Vertrauen nicht!
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Wertpapiere müssten außerdem ausreichend bei den nationalen Notenbanken vorliegen. Und wenn die dort abgezogen würden, würden sie doch logischerweise den Zahlungsverkehr, die Arbeit der Banken und damit das Wirtschaftswachstum beinträchtigen. Wollen Sie das wirklich? Wir nicht.
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Ich komme zum vierten Punkt, den Sie anführen. Sie sagen, fast 1 Billion Euro des Volksvermögens – man achte auf die Wortwahl – stehe im Risiko. Das, finde ich, ist – mit Verlaub – der Knaller. Das ist unseriös, Panikmache und schlichtweg falsch.
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Geld ist scheu wie ein Reh; das gilt auch und gerade für den Bankenbereich. Wir glauben an den Bestand der Wirtschafts- und Währungsunion, und an Spekulationen werden wir uns nicht beteiligen.
Herr Boehringer hat es vorhin ausgeführt: Wenn ein Land aus dem Euro ausscheidet – das ist hypothetisch und dreimal unterstrichen –, dann gibt es keine einhellige wissenschaftliche Meinung dazu, wie mit den Target-Salden bilanziell umzugehen ist.
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Die Forderung der EZB gegenüber den nationalen Notenbanken würde bestehen bleiben. Falls ein Ausgleich vorgenommen werden soll, hat die EZB eigene Reserven, auf die sie zurückgreifen kann. Weiterhin: Falls die eigenen Reserven nicht reichen würden, würden die verbleibenden Verluste auf die Mitglieder des Euro-Raums nach Kapitalanteilen der EZB verteilt werden. Seit dem 1. Januar dieses Jahres sind das 26,4 Prozent für Deutschland. Wendet man das auf Italien, den größten Target-Schuldner in diesem System, an – Sie haben es vorhin erwähnt –, kämen wir in Deutschland auf einen Betrag von 130 Milliarden Euro – hypothetisch. Das ist weit weg von der Billion, die Sie suggerieren. Daran sehen wir, wie Sie mit Zahlen umgehen: leichtfertig und unseriös.
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Entweder wissen Sie es nicht besser, oder Sie wollen es nicht besser wissen. Ich weiß nicht, was schwieriger ist. Wir werden Ihren Antrag ablehnen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Berghegger. – Der nächste Redner ist Frank Schäffler, FDP Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hohe Target-Salden sind Ausdruck der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Euro-Zone.
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Sie sind – das hat mein Vorredner gesagt – eine Art Fieberthermometer. Sie sind der Ausdruck des Auseinanderdriftens der Euro-Zone. Aber die Target-Salden sind auch mehr als ein Fieberthermometer. Sie sind ein erhebliches Haushaltsrisiko für den Bundeshaushalt und die Steuerzahler in Deutschland. Scheidet ein Land aus, müssen die Target-Forderungen gegenüber dem ausscheidenden Land wertberichtigt werden. Sie sind dann wahrscheinlich uneinbringlich.
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Da kann Mario Draghi noch so sehr der Regierung in seinem Heimatland Italien drohen, dass sie für die Target-Verbindlichkeiten einstehen müssen; eine Rechtsgrundlage dafür gibt es nicht. Daher droht der Deutschen Bundesbank im Falle eines Austritts Italiens tatsächlich ein Wertberichtigungsbedarf in Milliardenhöhe, der dann auf den möglichen Bundesbankgewinn durchschlägt und sogar einen Nachschuss aus dem Bundeshaushalt erforderlich machen könnte. Es braucht hier verbindliche Regeln, sollte ein Land einmal ausscheiden. Wir als Liberale schlagen vor, dass beim Ausscheiden eines Mitgliedstaates dessen Target-Verbindlichkeiten automatisch in Anleihen dieses Landes auf Euro-Basis umgewandelt werden.
({2})
Die Frage ist nur. Wie löst man das generelle Problem der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Euro-Zone?
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Schauen Sie sich Italien an. Italien ist deshalb von Bedeutung, weil es die drittgrößte Wirtschaftsmacht in Europa, in der Euro-Zone ist. Zwar ist Italien Nettozahler in den EU-Haushalt. Aber die Euro-Mitgliedschaft hat sich für Italien bisher nicht wirklich ausgezahlt. Die italienische Wirtschaft produziert auf dem Niveau der 1990er-Jahre. Der Schuldenstand hat ein historisches Höchstmaß von 134 Prozent erreicht. Das ist der höchste Stand seit 1924. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Jugendarbeitslosigkeit noch höher. Es sind bald 30 verlorene Jahre für Italien. Jetzt ist das Wirtschaftswachstum auf 0,2 Prozent korrigiert worden. Die Probleme bleiben nicht nur, sondern sie werden größer. Daher stellt sich schon die Frage, ob mit den bisherigen Maßnahmen die Euro-Zone und die gemeinsame Währung erhalten werden können.
Ich will hier für meine Fraktion sagen: Wir wollen den Euro erhalten. Wir wollen ihn nicht abwickeln.
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Wir glauben auch nicht, dass es richtig wäre, zurück zur D-Mark zu gehen. Unabhängig von dem schlimmen Signal, das eine solche Entscheidung in Richtung Europa aussenden würde, hätte es unabsehbare ökonomische Kollateralschäden zur Folge. Aber dennoch darf man die Augen nicht vor dem Problem verschließen: Die wachsenden Target-Salden sind ein Problem, weil sie die Länder mit hohen Target-Forderungen erpressbar machen.
({5})
Allein die italienischen Target-Verbindlichkeiten gegenüber der Bundesbank betragen fast 500 Milliarden Euro, die Target-Forderungen der Bundesbank gegenüber anderen Notenbanken sogar 941 Milliarden Euro. Die Mär der EZB, dass der Anstieg im Wesentlichen mit dem Ankaufprogramm zu tun habe, ist spätestens seit der Veröffentlichung der Zahlen Ende März obsolet.
({6})
Denn trotz Auslaufens weiterer Ankäufe im Dezember steigen die Target-Forderungen in Deutschland weiter an.
Jetzt ist die Frage: Was kann man tun in so einer Situation? Der erste Weg ist der Weg, den Teile der Regierung und die Linken wollen. Sie wollen die EU und die Euro-Zone zur Transferunion weiterentwickeln. Mit europäischen Einlagensicherungen, mit einer europäischen Arbeitslosenversicherung und mit neuen Förderprogrammen wollen sie öffentliche und private Investitionen anregen. Doch ist das der Weg, der bisher funktioniert hat? Nein. Er ist eigentlich gescheitert. Die Schuldenstände in Europa geben das ja wieder.
({7})
Letztlich geht es Ihnen immer darum, dass am Ende mehr umverteilt werden soll. Das ist nicht nur falsch, sondern auch unbezahlbar.
Der zweite Weg ist der Weg, den die AfD beschreiten will. Sie wollen den Euro abwickeln und sagen nicht, welche Folgen das für die Bürger in Deutschland tatsächlich hätte.
({8})
Die sprunghafte Aufwertung einer neuen D-Mark würde Millionen von Arbeitsplätzen unmittelbar gefährden und Tausende von Unternehmen unmittelbar in die Insolvenz in Deutschland führen.
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Das halte ich für verantwortungslos und auch für ein wirkliches Problem.
({10})
Ich glaube, das Entscheidende, um den Euro zu erhalten, ist, dass wir auf Eigenverantwortung setzen. Dazu gehören Regeln für die Ausstiegsmöglichkeit aus dem Euro, damit man dennoch weiterhin auch in der EU Mitglied sein kann. Dafür gibt es derzeit kein Regelwerk. Wir sehen ja gerade, wie schwierig das beim Brexit ist. Ländern, die dauerhaft nicht im Euro bleiben wollen oder können, muss ein geordneter Weg bereitet werden.
({11})
Das darf nicht zum Chaos führen.
({12})
Wir brauchen auch marktwirtschaftliche Regeln, die die Banken zwingen, das Risiko von Staatsanleihen zu bepreisen.
({13})
Die Nullgewichtung von Staatsanleihen ist der ordnungspolitische Sündenfall, der unmittelbar dann auch die Target-Verbindlichkeiten in den Krisenländern ansteigen lässt und den Staaten-Banken-Nexus weiter nährt.
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Eine Risikogewichtung von Staatsanleihen würde die Banken in der Kreditvergabe beschränken, die oder deren Staaten unsolide wirtschaften. Es würde zu marktwirtschaftlichen Anpassungen führen, die die Target-Verbindlichkeiten reduzieren würden.
Wir brauchen eine Geldpolitik der EZB, die Marktmechanismen nicht weiter zerstört. Wir leben immer noch in einem geldpolitischen Ausnahmezustand, der immer mehr Schaden anrichtet. Immer mehr Zombie-Banken werden dadurch geschaffen, die einem neuen systemischen Risiko den Boden bereiten. Das Entscheidende für die Target-Salden ist eigentlich, dass die Vollzuteilung der EZB dazu führt, dass der Interbankenmarkt faktisch nicht weiter in Gang kommt. Und solange der Interbankenmarkt nicht wieder in Gang kommt, so lange werden auch die Probleme mit den Target-Salden weiter auf uns zukommen.
Eines will ich zum Schluss in Richtung Sozialdemokratie sagen: Sie haben aus der Krise nichts gelernt.
({15})
Ihr Weg, die Deutsche Bank und die Commerzbank in die Fusion zu führen, ist eine Versündigung und erinnert an das, was vor zehn Jahren mit Commerzbank und Dresdner Bank passiert ist.
({16})
Sie sollten alles dafür tun, dass wir in Deutschland nicht immer größere Banken kriegen, die letztendlich für den Steuerzahler zum Haftungsrisiko werden. Deshalb: Beenden Sie diesen Weg, damit wir am Ende nicht wieder als Steuerzahler zur Kasse gebeten werden!
Vielen Dank.
({17})
Die Kollegin Sonja Amalie Steffen ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste auf der Tribüne! Ja, Herr Schäffler, Sie haben zwischendurch gar nicht so schlecht geredet, aber mit einer Unwahrheit aufgehört.
({0})
Es ist einfach nicht zutreffend, dass die Sozialdemokratie die Fusion von Commerzbank und Deutscher Bank betreibt.
Ich will aber zum Thema reden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Dienstagabend um 22.15 Uhr erreichte uns der Antrag der AfD-Fraktion mit dem Titel „Target-Forderungen unabhängig vom Fortbestand des Euros besichern“ – ein provokanter Titel –, zu einer sehr unkollegialen Zeit und nicht einmal zwei Tage bis zur heutigen Debatte. Das scheint eine von vielen Retourkutschen zu sein, vielleicht für die nichtgewählte Bundestagsvizepräsidentin aus Ihren Reihen. Wie haben Sie es unmittelbar nach der gescheiterten Wahl selber formuliert? Jetzt zitiere ich ausnahmsweise einmal die AfD; Sie haben gesagt: Falls unsere Kandidatin nicht durchkommt, wollen wir die Arbeit des Bundestages systematisch behindern.
({1})
Damit wollen wir das Ansehen des Bundestages nachhaltig beschädigen und das Vertrauen in unsere Demokratie erschüttern. – Das ist ein wörtliches Zitat von Ihnen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie bitte die Frau Kollegin Steffen ausreden. Wenn Sie etwas zu sagen haben, können Sie eine Kurzintervention anmelden.
({0})
Liebe Frau Kollegin.
Da muss man sich doch zu Recht fragen, und das fragt auch die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ in ihrer aktuellen Ausgabe, die weiß Gott nicht den Ruf hat, eine, wie Sie immer so schön sagen, rot-links versiffte Zeitung zu sein:
Wie wichtig ist der Partei
– also Ihnen von der AfD –
das Vertrauen in die Demokratie, wenn sie es bewusst beschädigt … ?
({0})
Nun, mit dem späten Antrag war es nicht getan. Nein, als der Antrag endlich auf meinem Schreibtisch lag, musste ich feststellen, dass er in wesentlichen Teilen, und zwar in der kompletten Forderung an die Bundesregierung, exakt dem Antrag entspricht, den Sie vor sechs Monaten ins Parlament eingebracht haben.
({1})
Ich will Ihnen das kurz zeigen: Die Stellen, die ich hier markiert habe, sind die Forderungen von Ihnen, und die sind gleich. Die beiden Anträge gleichen sich exakt.
({2})
Wir haben den Antrag damals abgelehnt, und zwar völlig zu Recht, und jetzt müssen wir uns wieder mit diesem Thema beschäftigen. Ich kann Ihnen nur sagen: Ihr Antrag wird durch Wiederholungen nicht besser. Weil das Prinzip der Wiederholung in der Pädagogik anerkannt ist – manchmal hilft es ja, wenn man etwas wieder und wieder sagt –, hätte ich meine Rede vom 28. September 2018 heute noch einmal halten können.
({3})
Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass Wiederholungen in Ihre Richtung dazu führen, dass Sie Ihre Meinung ändern.
({4})
Deshalb will ich mich an diesem Kasperltheater in einer Endlosschleife zum Thema Target2 gar nicht weiter beteiligen und die verbleibende Zeit dazu nutzen, den Euro zu loben.
({5})
Das ist es ja, was Sie wollen: Sie wollen nur eines, nämlich den Euro und Europa an den Pranger stellen.
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Dabei ist der Euro ein Erfolgsmodell. 20 Jahre Euro sind ein Grund zum Feiern. Der Euro ist ein Integrations- und Friedensprojekt. Die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer kann sich ein Leben ohne den Euro gar nicht mehr vorstellen. Oben auf der Tribüne sitzen jede Menge Schülerinnen und Schüler, die die Zeiten mit D‑Mark, Drachme, Lira und den sonstigen Währungen, die wir hatten, gar nicht mehr kennen.
({7})
Wir haben ein Integrationsprojekt verwirklicht.
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Der Euro ist aber auch ein wirtschaftliches Erfolgsprojekt. Er hat zu mehr Handel, mehr Investitionen und mehr Stabilität geführt. Dazu hat übrigens auch das Target2-System stark beigetragen.
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– Ich habe schon zu dem Antrag geredet, in meiner Rede vom 28. September 2018. Lesen Sie nach, was ich dazu gesagt habe.
Gerade Deutschland profitiert mit seinen globalen Interessen von einem starken Euro. Und Deutschland übernimmt durch den Euro nicht zu viele Risiken, auch nicht durch das Target2-System. Eine Währungsunion ist eben keine reine Transferunion, wie Sie, Herr Schäffler, es vorhin gesagt haben. Das wollen wir auch gar nicht.
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Wir wollen eine Versicherungsunion: Alle Länder stehen füreinander ein, und mögliche Verluste werden geteilt; das ist die Idee, Solidarität. Aber davon haben Sie ganz rechts in diesem Haus überhaupt keine Ahnung.
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Das Target-System funktioniert gut und ist extrem wichtig für den Binnenmarkt: mehr Handel, vereinfachte Zahlungstransfers, mehr Investitionen. Der Euro trägt auch keine Schuld für falsche Kreditentscheidungen in Europa und für die Finanzkrise; das sind vielmehr die jeweils handelnden Akteure. Und deshalb: Was wir noch brauchen zur Vollendung des Projektes Euro und Europa ist nicht weniger, sondern mehr Euro, ist nicht weniger, sondern mehr Binnenmarkt, vor allem aber eine funktionierende Bankenhaftung und eine Bankenunion.
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Wir von der SPD-Fraktion und unser Finanzminister Scholz wollen alles dafür tun, damit das Projekt „Euro und Europa“ weiter vorangebracht werden kann.
An Sie von der AfD-Fraktion geht mein Appell – vielleicht hilft es etwas –: Hören Sie auf, uns mit unnötigen und vor allem alten Anträgen aus der Mottenkiste wertvolle Zeit zu stehlen!
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Wir werden Ihren Antrag dahin zurückbefördern, wo er hingehört, nämlich in die Mottenkiste! Ich werde mich persönlich im GO-Ausschuss dafür einsetzen, wenn wir über eine Parlamentsreform reden, dass wir zukünftig nicht immer wieder über die gleichen Anträge diskutieren müssen.
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Wir haben uns in unserer Zeit mit wertvolleren Dingen zu beschäftigen.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Steffen. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Bernd Baumann von der AfD-Fraktion. Herr Kollege.
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Es ist ja so, dass wir hier im Bundestag kontroverse Themen diskutieren. Deswegen sind wir alle hier, und dafür sind die Debatten da. Es kann auch hitzig werden, es kann auch rhetorisch werden, es kann auch ein Austausch stattfinden. Aber was wir doch bitte nicht machen sollten, ist, dass wir uns verleumderisch begegnen und behaupten, wir hätten gesagt, wir wollten den Parlamentsbetrieb systematisch behindern.
({0})
Wir haben genau das Gegenteil gesagt, nämlich: Wir werden das nicht machen.
Was wir machen, ist: Wir setzen Wahlen auf für das Vizepräsidentenamt, das uns zusteht. Sie lehnen Kandidat auf Kandidat ab. Wir stellen daraufhin wieder einen neuen Kandidaten zur Wahl. Das kostet den Bundestag, in dem eigentlich Debatten stattfinden sollten, wertvolle Zeit. Sie behindern den Parlamentsbetrieb,
({1})
indem Sie verhindern, dass wir, die wir von 6 Millionen Wählern hier reingewählt wurden, einen Vizepräsidenten bekommen.
({2})
Sie behindern!
Worauf es mir in erster Linie ankommt: Hören Sie mit den Verleumdungen auf! Sagen Sie, wer von uns gesagt haben soll, dass wir den Parlamentsbetrieb systematisch behindern wollen! Frau Steffen, Sie haben gelogen! Sagen Sie, welche Quellen Sie haben, oder schweigen Sie still!
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Frau Kollegin, wollen Sie darauf antworten? – Bitte schön.
Ich lasse mir von Ihnen mit Sicherheit nicht den Mund verbieten, Herr Kollege.
({0})
Dass Ihre Kandidaten nicht gewählt werden, ist Demokratie. Damit müssen Sie sich abfinden. So geht es zu im Parlament.
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Nun zu dem Zitat. Mein Zitat war wörtlich der aktuellen Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ entnommen. Schauen Sie hinein!
Jetzt noch ein wörtliches Zitat von Ihnen. Herr Gauland hat gesagt – ich zitiere wörtlich –:
Wenn man Krieg haben will in diesem Bundestag, dann kann man auch Krieg kriegen.
Das gehört sich wirklich nicht.
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Herr Kollege Baumann, wenn Sie bitte wieder Platz nehmen. – Das Wort hat als nächste Rednerin die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch von der Fraktion Die Linke.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Antragstellerin will ein Gespenst durch Europa schicken, ein Gespenst mit dem Namen Target2. Doch das eigentliche Problem ist ein anderes: Europa ist eine Steueroase für Vermögende und für viele ein Armenhaus. Dafür trägt diese Bundesregierung eine horrende Verantwortung. Dieser Verantwortung muss sie sich stellen.
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Im Jahre 2018 war Deutschland wieder Exportweltmeister, und darauf sind viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land stolz. Im Warenhandel übertrafen unsere Exporte um gut 228 Milliarden Euro die Importe. Das klingt gut, aber es gibt ein Problem: Die Käufer unserer Produkte werden ihre eigenen Produkte bei uns nicht los. Dazu sagt die Bundesregierung lapidar: Da habt ihr Pech gehabt, dann müsst ihr eben besser produzieren. – Um unsere Produkte trotzdem weiterhin kaufen zu können, nehmen sie natürlich Kredite auf. Ohne diese Kredite könnten sie nichts mehr kaufen, und unsere Exporte würden dramatisch einbrechen. Diesen Zusammenhang muss doch jeder verstehen, selbst die Bundesregierung. Zumindest meine Fraktion hat ihn verstanden.
({1})
Doch die Bundesregierung tut alles, damit sich andere Länder weiter verschulden und wirtschaftlich auf keinen grünen Zweig kommen. Das Ungleichgewicht wird größer und nicht kleiner. Das ist der falsche Weg.
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Die Frage ist doch: Wie können wir weiterhin unsere Produkte verkaufen, ohne andere Länder tiefer in die Krise zu treiben? Die Linke hat dafür drei Vorschläge.
Erstens. Wir müssen stärker in Deutschland investieren. Wer mit offenen Augen durch unser Land geht, sieht, dass die Infrastruktur systematisch verfällt. Unzählige Brücken sind vom Einsturz gefährdet. Es fehlen Schulen, Kindergärten und Wohnungen. Was macht der SPD-Finanzminister? Er will ab 2020 die Investitionen bei 39,6 Milliarden Euro einfrieren. In Anbetracht sinkender Wachstumsprognosen wird das wie eine Wachstumsbremse wirken. Das ist wirklich verantwortungslos.
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Der nächste absurde Vorschlag kommt von der CDU: Sie will die Steuern für Vermögende senken. Dabei ist doch sonnenklar, dass die, die schon sehr viel Geld haben und schon jetzt nicht wissen, wie sie es ausgeben sollen, sich mit dem Geld nicht noch einen fünften Porsche kaufen werden, um ein naheliegendes Beispiel zu nehmen. Nein, Steuersenkungen für Vermögende stärken nicht die Binnennachfrage, ganz im Gegenteil.
({4})
Zweitens. Löhne und Renten müssen angehoben werden. Die Bundesregierung kann die nächste Finanzkrise nur verhindern, wenn sie dafür sorgt, dass Menschen mit sehr wenig Einkommen mehr Geld in die Tasche bekommen. Wir als Linke sagen: Jeder muss von seiner Arbeit leben können, und zwar gut.
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Höhere Löhne werden ausgegeben und stärken so direkt die Binnennachfrage. Unsere Forderung lautet also: höhere Mindestlöhne. Wir fordern 12 Euro Mindestlohn pro Stunde.
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Der Mindestlohn in Deutschland liegt unter der Niedriglohnschwelle von 10,80 Euro. Fast 8 Millionen Menschen in unserem Land arbeiten im Niedriglohnsektor. Wenn wir den Niedrigstlohnsektor gemeinsam energisch bekämpfen, leisten wir einen direkten Beitrag zur Stärkung der Binnennachfrage und zur Stärkung des Gleichgewichtes. Das sollte doch ein vernünftiges Ziel sein.
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Drittens. Wir wollen die Spaltung Europas beenden. Im Antrag wird die Spaltung in Nord- und Südeuropa als Problem beschrieben. Doch das lenkt vom eigentlichen Problem ab: Wir haben in Europa eine ungeheure Vermögenskonzentration in den Händen einer Handvoll Oligarchen. Allein in Deutschland besitzen 45 Personen mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Das ist doch nicht normal. Das gehört geändert.
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Es ist also höchste Zeit, Vermögen endlich gerecht zu besteuern. Wir müssen den Steuerbetrug in Europa bekämpfen, und zwar konsequent. Allein durch die Steuerhinterziehung gehen der Europäischen Union jährlich 850 Milliarden Euro verloren. Stellen Sie sich doch einmal vor, was man damit alles anfangen könnte. Es ist doch absurd, dass der Apple-Konzern im Jahr 2014 auf 1 Million Euro Gewinn nur 50 Euro Steuern zahlen musste. So kann das nicht weitergehen.
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So etwas kann nur geschehen, wenn an der Spitze der EU-Kommission mit Herrn Juncker jemand steht, der jahrelang hinter dem Rücken der Europäerinnen und Europäer schmutzige Steuerdeals mit Großkonzernen abgeschlossen hat. Wer es nicht weiß: Herr Juncker ist ein Parteifreund von Frau Merkel. Auch darüber sollte man nachdenken.
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Die Bundesregierung ist, wie gesagt, nicht besser als Herr Juncker. Sie haben die Einführung einer Internetsteuer für Google, Apple und Amazon verhindert. Sie versprechen uns seit zehn Jahren eine Finanztransaktionsteuer, die es bis heute nicht gibt. Sie haben sich als Vermögensverwalter für die wenigen qualifiziert. Als Vertreter der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land haben Sie sich gründlich disqualifiziert, meine Damen und Herren von der Bundesregierung.
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CDU/CSU und SPD haben Europa mit einer brutalen Kürzungspolitik gespalten und entsolidarisiert. Wir stehen vor einem europäischen Trümmerhaufen. Europa geht nur friedlich und sozial oder gar nicht. Bei der Europawahl am 26. Mai sollte jeder bei der Stimmabgabe darüber nachdenken, die linken Kräfte in Europa zu stärken und die rechten zu schwächen.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden hier heute auf Antrag der AfD über das inzwischen mit weitem Abstand nur noch zweitliebste Thema der AfD nach „Ausländer sind an allem schuld“. Wir reden über den Euro bzw. über die AfD-Illusion „Wie zerstöre ich den Euro, aber für Deutschland bleibt alles wie bisher, nur schöner, weil Deutschland dann die D-Mark wieder hat?“.
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Wir tun dies, wie es sich für die AfD gehört, indem wir über das insbesondere bei begeisterten Verschwörungstheoretikern so beliebte Stichwort „Target2“ sprechen. Das haben wir letztes Jahr im September schon getan, und wir tun dies auch heute wieder. Einige meiner Kollegen, insbesondere Herr Berghegger, haben bereits sehr gut erläutert, was ein Target2-Saldo ist – eine rein technische Größe im Clearingsystem der Europäischen Zentralbank zwischen den nationalen Notenbanken – und was er nicht ist, was aber die AfD immer behauptet, nämlich ein Kredit, den der Staat Deutschland vergeben hat und für den er haftet. Das ist es eben nicht.
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Ich erspare Ihnen einen weiteren Versuch, das vertieft zu erläutern; denn es wird – das haben wir schon einmal festgestellt – keinen einzigen Target2-Gläubigen bekehren. So ist das eben mit Verschwörungstheorien: Sie sind mit Fakten nicht wirklich zu entkräften. Sie funktionieren ja gerade mit einer Mischung aus Fakten auf der einen Seite und frei erfundenen Behauptungen auf der anderen Seite und verbinden das mit stereotypen Feindbildern, denen gerne übelste Machenschaften unterstellt werden.
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Wenn es dann auch noch um ganz, ganz viel Geld geht, wie hier bei Target2, also um 800 Milliarden Euro, 1 Billion Euro – wer bietet mehr? –, dann hat das alles, was eine gute Verschwörungstheorie braucht, Spannung inklusive.
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Dabei ist die Wahrheit hinter dieser Debatte ganz schlicht: Sie wollen den Euro abschaffen. Sie wissen, dass das horrende Kosten und schwere wirtschaftliche Verwerfungen für Deutschland bedeuten würde;
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der Brexit ist ein laues Lüftchen dagegen. Und Sie wollen das jetzt mit Ihrer Forderung – der Pflicht zur Besicherung von Target2-Salden – für Ihre Wähler programmatisch erträglicher machen, inklusive des Schürens von Angst gegen das bestehende System. Dazu sage ich vor allem den Wählerinnen und Wählern: Machen Sie sich selbst ein Bild. Ich möchte Ihnen dazu ein paar Punkte mitgeben.
Erstens ist es wichtig, zu wissen und zu akzeptieren: Eine Zentralbank hat andere Möglichkeiten bezüglich des Geldes als jeder andere; denn die Zentralbank ist das Geldmonopol. Sie kann in ihrer eigenen Währung nicht pleitegehen, und sie kann Geld in riesigen Mengen ausgeben oder wieder aus dem Markt herausnehmen. Die AfD und andere wollen diese Macht begrenzen, indem sie zum Beispiel den Goldstandard wieder einführen.
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Das würde eine drastische Reduzierung der derzeitigen Geldmenge bedeuten und einen sofortigen Zusammenbruch. Aber das ist nicht die aktuelle Lage.
Derzeit ist es so, dass die Europäische Zentralbank autonom entscheidet und auch die Macht hat, über die Menge des Geldes zu entscheiden. Sie ist nur der Preis- und Systemstabilität des Euro-Raumes verpflichtet. Dass sie das kann, hat sie in den letzten Jahren unter anderem durch die viel diskutierten sogenannten Quantitative-Easing-Programme bewiesen. An denen ist nicht alles toll, aber ich finde es richtig, dass die Europäische Zentralbank diese Möglichkeiten hat; denn so kann sie, wenn sonst nichts mehr geht – wir standen wirklich vor dem Abgrund –, wenn eine riesige Pleitewelle droht, als sogenannter Lender of Last Resort, also als letztmöglicher Kreditgeber, die Wirtschaft, die Bevölkerung und die Staaten vor einer Insolvenz schützen. Weil das so ist, ist es irrelevant, ob de facto von zwei Filialen der Europäischen Zentralbank, nennen wir sie Bundesbank und Banca d’Italia, die Verrechnungskonten divergieren. Hätten die beiden von Anfang an ein gemeinsames Konto bekommen – das wäre genauso möglich –, gäbe es den Begriff Target2 gar nicht.
Zweitens möchte ich noch einmal deutlich machen, wie enorm wichtig und leistungsfähig das System ist, das wir haben. 2017 wurden beispielsweise Zahlungen im Gesamtwert von über 430 000 Milliarden Euro über dieses System abgewickelt. Das waren 89 Millionen Transaktionen. Jede Woche lief ein Geldvolumen in Höhe des Jahresumsatzes der gesamten Volkswirtschaft des Euro-Raums durch dieses Zahlungssystem. Das heißt, das Target2-System hat, weil es die ganze Zeit einfach funktioniert hat, aus meiner Sicht, die ich mit vielen Experten teile, einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung und eben nicht zur Destabilisierung in der Europäischen Union beigetragen;
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denn für einen funktionierenden Binnenmarkt ist es einfach essenziell, dass das Zahlungssystem funktioniert.
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Drittens teile ich die Gewissheit vieler Experten, dass die Forderung der AfD, diese Verrechnungskontendifferenzen mit Wertpapieren abzusichern, eine reine Scheinlösung ist;
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denn in dem von Ihnen gewünschten Fall des Euro-Austritts wären diese Sicherheiten keine mehr, da der Wert ins Bodenlose fallen würde. Aber eigentlich ist es noch schlimmer: Sie machen damit das derzeitige System behäbiger und weniger funktionsfähig. Das unterstützt dann zwar Ihre Krisentheorie, ist aber das Gegenteil von dem, was wir brauchen.
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Die Kosten eines Euro-Austritts liegen für Deutschland im Übrigen um ein Vielfaches höher als die Höhe von Target2-Salden, ganz zu schweigen von den hohen politischen Kosten für Frieden, sozialen Zusammenhalt und gemeinsamen Klimaschutz in Europa. Deshalb arbeite ich, deshalb arbeiten wir Grünen dafür, dass wir die bestehenden Ungleichgewichte in der Euro-Zone abbauen – in Deutschland, indem wir nicht nur den Export, sondern auch die Binnenwirtschaft stärker in den Blick nehmen durch Investitionen in die kommunale Infrastruktur und in moderne Mobilität, in Pflege, Bildung und Klimaschutz, und in Europa, indem wir mehr gemeinsam europäisch in die Zukunft investieren, uns für mehr Steuergerechtigkeit einsetzen und für eine Vervollständigung der Bankenunion.
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Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Christian Haase.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bereits im September haben wir hier über Target2-Salden diskutiert. Auch damals haben meine Kolleginnen und Kollegen erst einmal erklären müssen, worum es bei Target-Salden überhaupt geht. Auch heute ist das wieder passiert. Die technische Umsetzung des Zahlungsverkehrs in einer internationalen Währungsunion mit nationalen Zentralbanken verständlich zu erklären, ist nun einmal etwas schwierig. Das schafft natürlich Raum fü r Interpretationen.
Für die eisernen Euro-Kritiker auf der rechten Seite des Hauses ist Target ein nahezu mystischer Begriff geworden. All ihre Schreckensfantasien lassen sich in das Target-System hineininterpretieren. Sie sehen es als goldene Kreditkarte für Südeuropa,
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als heimliches Entschuldungsprogramm auf Kosten der deutschen Steuerzahler oder als Pulverfass auch ohne Euro-Austritte. Dabei berufen sich die Antragsteller teilweise durchaus auf namhafte Ökonomen. Der ehemalige Chef des ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, vertritt seit langem die Ansicht, dass Deutschland durch das Target-System Risiken drohen. Die Mehrheitsmeinung der Wirtschaftswissenschaft ist das aber nicht.
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Die Mitglieder des Sachverständigenrates, die sogenannten Wirtschaftsweisen, halten die Target-Salden für unproblematisch. Und auch die Deutsche Bank sagt: Nur bei einem Euro-Austritt eines Landes könnte für Deutschland ein Risiko auftreten.
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Meine Damen und Herren, ich mö chte hier nicht lang und breit erklären, wie Target funktioniert; das hat mein Kollege bereits getan. Ich möchte mich dem AfD-Antrag vom Ende her nähern. Was fordert die AfD eigentlich, und welche Folgen hätte das für uns?
Die AfD gibt vor, die Risiken der Deutschen Bundesbank reduzieren zu wollen. Dafür sollen Target-Forderungen, die die Bundesbank bei der Europäischen Zentralbank hat, besichert werden. Die Zentralbanken mit Target-Verbindlichkeiten, allen voran die Banca d’Italia und die Banco de España, sollen der EZB – ich zitiere – „werthaltige marktfähige Sicherheiten“ übertragen. Werthaltige marktfähige Sicherheiten, das sind fü r die AfD vor allem die nationalen Goldreserven. Diese Goldbesessenheit der AfD ist wirklich kurios. Erst sollte die Bundesbank ihr Gold aus dem Ausland heimholen, dann startete die AfD ihren kleinen Goldhandel, um bei der Parteienfinanzierung besser abzuschneiden. Das glänzende Edelmetall scheint auf Sie eine besondere Faszination auszuüben. An dieser Stelle möchte ich aber daran erinnern, dass der Goldstandard des Bretton-Woods-Systems seit fast 50 Jahren nicht mehr gilt. Der Euro ist stabil, weil es Vertrauen in die Währung gibt, und nicht, weil in den Tresoren der Zentralbanken Goldreserven im Gegenwert unserer Münzen und Banknoten schlummern. Sie können nicht zur Zentralbank marschieren und sich den Gegenwert Ihres Geldes in Gold auszahlen lassen. So schwer es Ihnen auch fällt, meine Kollegen von der AfD: Der Goldstandard existiert nicht mehr!
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Leider würden die nationalen Goldreserven wohl auch nicht ausreichen, um die nominellen Target-Verbindlichkeiten zu decken. Italien etwa hat zwar die drittgröß ten Goldreserven der Welt, aber auch diese Goldreserven umfassen maximal 100 Milliarden Euro. Das italienische Target-Defizit ist fast fünfmal so hoch.
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Und da sind die Sicherheitsabschläge, die Sie fordern, noch gar nicht berücksichtigt. Italienische Staatsanleihen wollen Sie wohl auch nicht; denn wenn das Land aus dem Euro ausscheidet, sind diese nichts mehr wert.
Was bleibt dann noch? In der Debatte um griechische Staatsschulden ist der Verkauf von griechischen Inseln vorgeschlagen worden. Welche hätten Sie dann gerne? Capri? Elba? Reicht das? Vielleicht noch Sardinien? – Lampedusa ist wohl eher nichts für Sie.
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Nehmen wir einmal an, meine Damen und Herren, wir stimmen für Ihren Antrag – rein hypothetisch – und Italien, Spanien und die anderen Länder mit Target-Verbindlichkeiten sollen der EZB die im Antrag geforderten Sicherheiten übertragen. Das Ergebnis wäre nicht die Reduzierung der Bundesbankrisiken, sondern ein drastischer Anstieg. Sie schreiben es selbst in Ihrem Antrag: Grund f ür die hohen Target-Unterschiede sind das mangelnde Vertrauen in die Finanzmärkte in Südeuropa und die Kapitalflucht nach Deutschland. – Wenn man nun mehr Sicherheiten fordert und damit das Target-System als hochriskant darstellt, was es nach Meinung der Experten tatsächlich nicht ist,
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was ist dann die Reaktion der Finanzmärkte? Das zarte Pflänzchen des Vertrauens würde sofort zertreten werden. Das Risiko, dass dann ein Schuldnerland aus dem Euro ausscheiden muss, würde tatsächlich real werden. Das, was Sie machen, ist Selbstmord aus Angst vor dem Tod.
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Allerdings kann man dem nur folgen, wenn man wirklich meint, Ihnen würde es um die Absicherung von Bundesbankrisiken gehen.
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Ich glaube Ihnen das gar nicht.
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Ich denke, Ihr Ziel ist ein ganz anderes. Ihr Ziel ist die Zerstörung einer unabh ängigen Geldpolitik, die Destabilisierung des Euro-Raums und schließlich das Ende des europäischen Projektes.
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Das werden wir hier mit aller Entschlossenheit bekämpfen. Sie betreiben kurz vor der Europawahl Panikmache mit astronomischen Zahlen, die die Bürger verunsichern sollen.
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Das werden wir nicht mitmachen!
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Klar ist: Auch wir wollen natürlich geringere Target-Salden; denn die hohen Differenzen sind ein Zeichen von Ungleichgewichten innerhalb der Euro-Zone. An dieser Stelle ist unser Auftrag, die Wirtschafts- und Währungsunion zu verbessern, statt die Unabh ängigkeit der Europäischen Zentralbank infrage zu stellen. Wir sollten lieber intensiv an der Umsetzung der europäischen Idee arbeiten. Wenn die südeuropäischen Staaten solide Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben, werden die Target-Salden auch wieder zurückgehen.
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Dass Italien das im Augenblick nicht macht, ist offensichtlich. Aber das ist Ihr Parteifreund Salvini.
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Vielleicht sollten Sie lieber da anrufen, wenn Sie zur Reduzierung der Target-Salden beitragen wollen.
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Meine Damen und Herren, anstatt weitere rhetorische Debatten über Target2 zu führen, sollten wir uns darauf konzentrieren, unser Europa stärker zu machen. Wer ein starkes Europa will, wer starke Mitgliedstaaten will, wer starke Kommunen will, der sollte am 26. Mai demokratisch wählen.
Danke schön.
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Der Kollege Lothar Binding hat das Wort für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Vizepräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich will noch eine Sache zur Vizepräsidentenwahl sagen. Herr Friedrich zum Beispiel hat mindestens zwei Eigenschaften: Er ist von einer Fraktion vorgeschlagen worden, und er hat in diesem Hause eine Mehrheit. – Wer diese beiden Eigenschaften nicht hat, ist auch kein Vizepräsident.
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Ich muss ehrlich sagen: Ich habe bei Ihnen das Gefühl, Sie wollen mir vorschreiben, wen ich hier wählen soll. Aber das würde den demokratischen Grundprinzipien jedenfalls dieses Hauses nicht entsprechen.
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Wie verträgt sich eigentlich Ihr unterschwelliger Zwang, den Sie ausüben wollen, indem Sie sagen: „Jetzt wählt uns doch, wir brauchen eine Mehrheit“,
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mit Ihrem Verständnis, aufgrund von demokratischen Wahlen überhaupt hier sitzen zu dürfen? Demokratie muss sich hier fortsetzen. Daran kommen Sie nicht vorbei.
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Die Karten der großen Trauer und der Exklusivität werden hier gespielt; aber das ist hier schon mal passiert. Vor vielen Jahren ist schon mal jemand, der vorgeschlagen wurde, nicht gewählt worden; er hatte keine Mehrheit und war folglich kein Vizepräsident. So einfach ist das.
Der Kollege Berghegger hat super erklärt, wie die Target-Salden funktionieren. Dazu muss man wirklich nichts mehr sagen.
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Gleichwohl ist es Ihnen erlaubt, alle sechs Monate den gleichen Antrag zu stellen. Deshalb ist es auch uns erlaubt, alle sechs Monate das Gleiche zu erzählen. Sehr effizient ist das nicht. Aber für den, der es mag, mag es das Höchste sein.
Sonja Steffen hat das Nämliche zu Ihrem Antrag gesagt. Herr Schäffler hat einen anderen Weg gewählt; er hat nämlich einen Fall konstruiert. Das ist eine ganz schöne Angelegenheit: Man konstruiert einen Fall. Und wenn dieser Fall eintreten würde, dann – Sie haben „wären“ gesagt – wären die Forderungen uneinbringlich. Das stimmt. Wenn der Fall, den Sie konstruieren, eintreten würde, wäre es so. Aber der Fall tritt ja nicht ein.
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Insofern ist Ihre ganze Überlegung irgendwie daneben und macht auch keinen Sinn.
Sie wollten noch ein Wort, das gut passt, unterbringen, nämlich „Transferunion“.
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Jetzt ist es aber so, dass gerade die Target-Salden der Merkposten sind, um diese Transferunion gewissermaßen im guten Sinne zu begleiten.
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Wollten wir eine Transferunion ohne Beachtung haben, würden wir doch überhaupt nicht reden. An dieser Stelle sind aber die Target-Salden der Merkposten. Übrigens: 450 Billionen Euro werden in Europa im Jahr bewegt. Was hat dies für die Wirtschaftskraft zur Folge? Was bedeutet das für Europa? Und: Wie gut geht es Deutschland dabei?
Das Schlimme bei den Anträgen der AfD ist, dass Sie uns die Konsequenz Ihrer Anträge gar nicht verraten; Sie haben immer nur irgendwelche Ideen. Herr Haase hat schön erklärt, welche Konsequenzen Ihr Antrag hätte. Stellen Sie sich mal vor, was am Goldmarkt los wäre. Oder haben Sie etwa irgendwo, vielleicht in der Schweiz, ein paar Goldreserven?
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Das würde begründen, warum Sie diesen Weg gehen; denn bezogen auf die Goldkurse hätte es natürlich eine gewisse Bedeutung. Wenn man das logisch erklärt, würden es alle hier verstehen.
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Wenn das aber nicht der Fall ist, dann weiß jeder, dass das zu Verwerfungen führt, die europagefährdend sind.
Und Europa steht gut da, steht sogar sehr gut da.
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– Ja, da kommt bei Ihnen Lachen auf, bei mir Trauer. – Es würde noch besser dastehen, wenn nicht in manchen Ländern nationalistische Tendenzen existieren würden. Denn diese nationalistischen Tendenzen sind geeignet, Europa und seinen Zusammenhalt zu gefährden. Deshalb gilt es, dagegen anzugehen und die Einheit Europas zu pflegen.
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Dann hätten wir alle Vorteile wie bisher; das ist klar. Die Mitgliedstaaten haben einen großen Binnenmarkt. Die einzelnen Regionen, denen es schlecht geht, bekommen Strukturhilfen.
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Wir haben mehr Handel. Wir haben einen großen Stabilitätsanker in der Welt.
Natürlich: Das mag nicht allen gut gefallen. Martin Schulz hat hier einmal sehr schön vorgetragen und gesagt: Wir waren einmal Einzelstaaten. Dann hatten wir die gute Idee G 7; dann hatten wir die gute Idee G 20, und plötzlich gibt es die schlechte Idee G 2. In G 2 kommt Europa gar nicht mehr vor. Deshalb ist es wichtig, dass Europa sich in dieser bipolaren Welt, die sich im Moment entwickelt, einen ordentlichen Stand erarbeitet. Das heißt Zusammenhalt, auch ökonomischen Zusammenhalt; das heißt auch, sich selber und den Mitgliedstaaten helfen. Daraus wird eine gute Zukunft, und aus allem anderen wird eine schlechte Zukunft, die den Wohlstand aller Menschen gefährdet.
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Dass wir auch Fehler gemacht haben, das ist klar. Jeder weiß, dass der Exportüberschuss einer der Ursachen dieser hohen Target-Salden ist. Daher ist es gut, wenn bei uns die Binnennachfrage ansteigt und wenn die Löhne steigen. Jetzt wollen nicht alle Leute steigende Löhne; aber wir in der SPD-Fraktion wollen, dass die Löhne steigen, weil das unserem Land, den Arbeitnehmern, Europa – unserem Exportüberschuss tut das nicht gut – und Deutschland guttut. Insofern ist das eine sehr gute Sache.
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Wer im Grunde den Austritt aus der Euro-Zone will und den Euro abschaffen will – dies aber nicht verrät –, der hat natürlich ganz andere Ideen. Selbst die Erfüllung dieser Hoffnung würde mit Ihrem Antrag gar nicht erreicht werden, weil klar ist, dass Sie implizit mit dem, was Sie wollen, die innere Wirtschaftsstabilität zerstören würden.
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Sie würden einen Bedarf im Markt schaffen, der überhaupt nicht befriedigt würde, und das insbesondere an einer Stelle, an der er nicht gebraucht würde. Sie würden gewissermaßen Vermögen vernichten und nicht sicher machen.
Es ist klar, wir brauchen Regeln dafür, wenn ein Land austritt. Das wäre der einzige Fall, bei dem es wirklich Probleme gäbe.
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Also: Welche Aufgaben gibt es jetzt? Worum müssen wir uns kümmern? Wir müssen uns darum kümmern, dass dieser Fall nicht eintritt. Das ist Solidarität.
Ich will Ihnen sagen, worin das Ende Ihrer Politik besteht. Das Ende Ihrer Politik ist Kleinstaaterei: Deutschland für sich, Frankreich für sich, Bremen für sich, das Saarland für sich. Sie merken, was ich gerade mache. Das würde ein paar Leuten gefallen, zumindest zwei Leuten, nämlich Trump – das ist der eine; um den will ich mich jetzt nicht so genau kümmern –, aber auch Putin – um den kümmern Sie sich ja schon.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Alexander Radwan, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde schon mehrmals angesprochen, dass es nicht zum ersten Mal der Fall ist, dass wir uns mit diesem Thema auseinandersetzen. Ich bin jetzt gar nicht so böse, dass es eine gewisse Redundanz gibt; denn dann kann man alles im Lichte der Entwicklungen anschauen.
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„… unabhängig vom Fortbestand des Euro“: Letztendlich gehen Sie also schon davon aus, dass Sie zukünftig erreichen können, dass der Euro abgewickelt wird; darauf ist Ihr Antrag auch ausgerichtet.
Meine Vorredner haben bereits das Target-System an sich, die Verrechnungsmodalitäten und in welchem Fall sich das Risiko entsprechend realisieren würde, dargestellt. In dem Antrag kommt kein einziges Wort dazu vor, wie man alles daransetzen und Instrumente entwickeln kann, sodass die Euro-Systematik wieder besser funktioniert. Das zeigt schon, dass man sich mit der Lösung des Problems gar nicht auseinandersetzen möchte.
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Letztendlich geht es darum – das ist schon lange eine Position der Unionsfraktion –, dass das Ankaufprogramm der EZB, das zu dem Zeitpunkt, als es gestartet wurde, sinnvoll und richtig war, zurückgeführt wird. Das ist eine Position, die die Unionsfraktion schon sehr lange hat. Darum setzen wir uns massiv dafür ein, dass das davon ausgehende Ungleichgewicht zurückgeführt wird.
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– Zu Ihnen komme ich schon noch.
Wir müssen die Solvenz, die Widerstandskraft der Banken stärken. Die Lösung des Problems – das zeigen Sie, Herr Boehringer, erneut – interessiert Sie ja gar nicht. Die Begrenzung der Staatsanleihen in den Banken und letztendlich auch eine Begrenzung der Staatsanleihen in den jeweiligen Heimatbanken muss zurückgeführt werden. Das ist eine Position der Bundesregierung auf europäischer Ebene.
Um die Risikogewichtung der Staatsanleihen von null zurückzuführen und risikoadäquat zu gewichten, haben Sie, Herr Schäffler, in Herrn Macron einen neuen Buddy. Ich würde mir wünschen, dass Sie mit Ihrer Fraktion auf europäischer Ebene dabei mitmachen würden; das würde helfen.
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Zu Herrn Salvini: Geben Sie Ihrem neuen rechten Koalitionspartner auf europäischer Ebene die Richtung vor. Sie zitieren die BIZ, die dafür zuständig ist. Unterstützen Sie also den Ansatz, für eine risikoadäquate Gewichtung der Staatsanleihen zu sorgen; da hätten Sie etwas zu regeln. Aber leider Gottes kommen Sie mit Ihren Kollegen auf europäischer Ebene über das eine Thema nicht hinaus.
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– Doch, darum geht es: Wie können wir das Problem lösen? Aber das interessiert Sie nicht.
Eine Rückführung der NPLs ist nicht so wichtig – das hat ein Redner Ihrer Fraktion vor einigen Wochen gesagt. Es ging bis hin zu der abenteuerlichen Aussage, die Finanzaufsicht auf europäischer Ebene zu nationalisieren. Sie haben hier zum Ausdruck gebracht, dass Ihr Vertrauen in die Finanzaufsicht in Griechenland und in Italien größer als Ihr Vertrauen in die Europäische Zentralbank ist. Meine Damen und Herren, Sie sind wirklich eine Gefahr für die Finanzmärkte in Europa.
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Die italienische Regierung hat gesagt, sie werde die Vorgaben der Kommission einhalten, dabei erhöht sie die Neuverschuldung von 2,04 Prozent der Wirtschaftsleistung wieder auf 2,4. Ich habe bei der gemeinsamen Pressekonferenz diese Woche nicht vernommen, dass Sie das kritisieren. Das müssten Sie kritisieren, weil das zur entsprechenden Problematik mit dem Euro führt.
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Meine Damen und Herren hier auf der Tribüne, Sie erleben heute wieder ein Spektakel der AfD; das muss man in aller Deutlichkeit sagen. Denn die hochkomplexen Risiken der Target-Salden realisieren sich dann, wenn der Euro abgewickelt wird, wenn Staaten aus dem Euro austreten. Sie haben von dieser Fraktion heute kein Wort dazu gehört, wie man dieses Thema in den Griff bekommt.
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Sie bekommen aber in den letzten Tagen mit, dass die AfD an einer Koalition auf europäischer Ebene arbeitet, um den Euro abzuwickeln. Sie registriert aber gleichzeitig, dass es dann ökonomische Probleme geben würde, die den Haushalt betreffen. Diese Lösung wollen Sie schnell woanders hinschieben, nach dem Motto: Ihr müsst vorher die Sicherheiten einfordern, die andere entsprechend geben müssen.
Haben Sie mit Herrn Salvini über die Risiken gesprochen? Welche Risiken sind in Italien bereits gegeben? Sie wollen den Euro auflösen; Sie sind das Risiko, weil Sie den Euro abwickeln wollen.
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Besten Dank, meine Damen und Herren.
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Das war der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/9232 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Allerdings ist die Federführung strittig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen jetzt über das weitere Verfahren abstimmen. Es wäre schön, wenn Sie sich wieder hinsetzen.
Die Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen wünschen Federführung beim Haushaltsausschuss. Die AfD-Fraktion wünscht die Federführung beim Finanzausschuss. Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der AfD, also Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Vorschlag? – Das ist die AfD. Wer stimmt dagegen? – Alle übrigen Fraktionen des Hauses. Enthaltungen? – Keine. Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Wir stimmen jetzt ab über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, Federführung beim Haushaltsausschuss. Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen mit Ausnahme der AfD. Wer stimmt dagegen? – Das ist die AfD. Enthaltungen? – Keine. Damit ist diese Überweisung angenommen.
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin vor sechs Wochen in Mali gewesen, unter anderem im Norden des Landes, in Gao. Ich habe junge Menschen getroffen, die schon 2013 im Widerstand gegen den islamistischen Terror gekämpft haben, die sich für Frieden eingesetzt haben und die ihre Freiheit wiederhaben wollen. Dieses Gespräch mit diesen jungen Leuten hat mir eines noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt: Es gibt Plätze auf der Welt, an denen Sicherheit die Voraussetzung für Freiheit ist.
Wenn wir heute über die Verlängerung des MINUSMA-Mandates sprechen, dann geht es nicht nur um Sicherheit in Mali, sondern es geht auch um den Kampf und um den Schutz von Freiheit, nicht nur in Mali, sondern in der ganzen Region und auch weit darüber hinaus. Der Sahelraum bleibt bedauerlicherweise nach wie vor – das ist auch in den Medien permanent zu verfolgen – von Radikalisierung, Terrorismus und nicht zu unterschätzender organisierter Kriminalität bedroht. Die Staatlichkeit ist fragil; die Konflikte in dieser Region – auch das erleben wir seit einigen Jahren – verstärken sich gegenseitig. Und wir, Deutschland und Europa, spüren die Auswirkungen dieser Konflikte unmittelbar vor unserer Haustür. Wir wissen, dass wir die Sahelregion nur dann stabilisieren können, wenn es uns gelingt, auch Mali zu stabilisieren. Deshalb: Sicherheit ist eine Kernvoraussetzung für Stabilisierung und Entwicklung. Ohne Sicherheit vor Ort wird es keine Versöhnung, keine Bildung, keine Gesundheit und auch keine Freiheit geben.
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Aber, meine Damen und Herren, auch das sagen wir ganz offen: Wir dürfen uns nicht vormachen, dass es militärische Lösungen gibt. Das Militär kann die nötige Stabilität und Sicherheit schaffen, damit sich der Friedensprozess vor Ort überhaupt erst entfalten kann. Damit das gelingt – das ist ganz wichtig, und das haben auch alle unsere Soldatinnen und Soldaten vor Ort gesagt –, müssen wir den sogenannten vernetzten Ansatz verfolgen, also in enger Zusammenarbeit mit Mali und unseren internationalen Partnern agieren. Dazu gehört neben MINUSMA auch die Ausbildungsmission EUTM Mali, über die wir heute Nachmittag sprechen werden. Wir entsenden Polizistinnen und Polizisten und unterstützen EUCAP Sahel Mali. Das heißt, wir setzen erhebliche Mittel für Entwicklungszusammenarbeit, Stabilisierung und humanitäre Hilfe ein. All das gehört zusammen. Die humanitäre Hilfe kommt dort nicht an, wenn nicht ein Mindestmaß an Sicherheit gewährleistet wird – und das tun unsere Soldatinnen und Soldaten.
Wichtig bleibt auch die Zusammenarbeit in der Sahelregion insgesamt; denn viele Herausforderungen sind, wie auch an vielen anderen Stellen in der Welt, jedoch ganz besonders in dieser Region, grenzüberschreitend. Wir arbeiten mit den G‑5-Staaten, also Mauretanien, Burkina Faso, Tschad, Mali und Niger, sehr eng zusammen, die Einsatzfähigkeit ihrer gemeinsamen Einsatzgruppe zu erhöhen. MINUSMA spielt auch bei der Unterstützung dieser G 5 eine ganz wichtige Rolle. Auch bei den Vereinten Nationen beweisen wir, dass wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, so wie das vielfach von uns erwartet wird. Wir werden uns im Sicherheitsrat dafür einsetzen, der Mission auch über den Juni hinaus weiterhin ein gutes und erfüllbares Mandat zu sichern.
Meine Damen und Herren, solange der malische Staat in vielen Landesteilen überhaupt nicht in der Lage ist, selber für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu sorgen, muss die internationale Gemeinschaft diesen Prozess unterstützen. Wir dürfen dabei allerdings nicht zu einem Ersatz für den malischen Staat werden. Die malische Regierung muss sich daher konsequent für den Friedensprozess, für Sicherheit und Entwicklungschancen in allen Landesteilen einsetzen. Ich habe kürzlich in New York im Sicherheitsrat gegenüber Premierminister Maïga sehr deutlich gemacht, dass wir auch Erwartungen an die Verantwortlichen in Mali selbst haben.
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Seit den Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr, die im Übrigen auch dank der Präsenz von MINUSMA friedlich verlaufen sind, treibt die Regierung die Umsetzung des Friedensabkommens erkennbar voran; auch das muss man anerkennen. Die Demobilisierung, Entwaffnung und auch die Reintegration ehemaliger Kämpfer – das ist ein ganz schwieriges Thema vor Ort – sowie die Dezentralisierung des Landes gehen Stück für Stück voran. Auch die Arbeit an einer Verfassungsreform hat begonnen. Das alles wird und muss konsequent weitergeführt werden. Und ganz sicherlich wird ein ganz wichtiger Schritt sein, die bevorstehenden Parlamentswahlen ordnungsgemäß durchzuführen.
Das ist nach unserer Auffassung aber beileibe noch nicht alles. Für einen wirklich nachhaltigen Frieden in Mali wird vor allem Folgendes notwendig sein: die Menschenrechte zu achten – dort gibt es durchaus Aufholbedarf –, Frauen am Friedensprozess maßgeblich zu beteiligen, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Regionen in Mali zusammenzuführen – eine wirklich außerordentlich schwierige Aufgabe –, in vielen Teilen des Landes überhaupt erst staatlichen Strukturen aufzubauen und natürlich auch wirtschaftliche Perspektiven zu schaffen, vor allen Dingen für junge Menschen. Alles in allem ist das eine Mammutaufgabe. MINUSMA ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass diese Aufgabe angepackt werden kann.
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Meine Damen und Herren, stellen wir uns vor – auch das muss erlaubt sein –, wie Mali aussehen würde, wenn es MINUSMA nicht gäbe. Es gäbe wahrscheinlich islamistische Herrschaftsräume, Bürgerkrieg und Hunderttausende Flüchtlinge. Als ich vor sechs Wochen dort gewesen bin, habe ich ein anderes Mali gesehen. Wir haben viele Menschen getroffen, die uns gesagt haben, dass sie sich dank unseres Einsatzes dort sicherer fühlen, dass sie trotz der anhaltenden und nicht herunterzuspielenden Terrorgefahr an den Frieden in ihrem Land – sie haben sich noch nicht an ihn gewöhnt, weil er an vielen Stellen noch sehr fragil ist – glauben und dass sie durch unsere Unterstützung für Mali und den Einsatz der Bundeswehr bei MINUSMA auch ein Stück Freiheit empfinden.
Diesen Menschen wollen wir eine Perspektive geben. Wir wollen sie nicht alleine lassen. Es sind unsere Soldatinnen und Soldaten, die das auch mit ermöglichen,
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die sich nicht von den schwierigen Umständen, die es dort gibt – Mali ist eine der gefährlichsten internationalen Missionen –, entmutigen lassen und die mit vielen Nationen der internationalen Gemeinschaft einen zwar bereits beschlossenen Frieden, aber schwierigen Friedensprozess absichern. Wenn man sie vor Ort trifft, dann sagen sie: Das Blau der Vereinten Nationen steht uns gut. – Ich danke allen, die dort vor Ort ihren Dienst verrichten, ganz, ganz herzlich. Es ist eine schwierige, schwere und auch eine gefährliche Aufgabe, die sie dort erfüllen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können heute mit der Mandatsverlängerung ein klares Zeichen setzen, nämlich dass der Bundestag hinter unseren Soldatinnen und Soldaten steht, die dort so wichtige Arbeit leisten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Minister. – Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Lothar Maier von der AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es vorwegzunehmen: Wir werden nicht zum ersten, sondern zum wiederholten Male die Fortsetzung dieses deutschen militärischen Einsatzes ablehnen. Ich sage aber auch gleich dazu: Diese Entscheidung haben wir uns nicht leicht gemacht. Sie ist das Ergebnis einer Abwägung zwischen positiven Elementen, die es hier durchaus auch gibt, und negativen oder kontraproduktiven Elementen, die man hier feststellen muss.
Man muss den Ausgangspunkt betrachten, nämlich das Jahr 2013, als Mali in der Gefahr stand, von islamistischen Kräften quasi im Handstreich übernommen zu werden. Damals war es Frankreich, das mit der Opération Serval die Situation gerettet hat, und es war nur zu verständlich, dass die Europäische Union mit EUTM Mali und die Vereinten Nationen mit dem MINUSMA-Mandat eingegriffen haben. Man dachte, in relativ kurzer Zeit die Situation im Lande stabilisieren zu können. Das hat sich als Irrtum erwiesen. Man kann von einer gewissen Solidaritätspflicht Deutschlands gegenüber Frankreich sprechen. Frankreich war und ist der maßgebliche Stabilitätsfaktor in der gesamten Sahelregion.
Es geht aber auch – das ist in der letzten Debatte zu diesem Mandat ja immer wieder angeklungen – um wirtschaftliche Interessen Frankreichs. Mali ist ein Land, das beträchtliche Rohstoffreserven besitzt, und es ist der Hauptlieferant des maßgeblichen Produktes, mit dem die französische Energieerzeugung arbeitet, nämlich Uran. Der malische Uranbergbau ist hier bestimmend. Das Pikante ist, dass in diesem Haus die Kräfte, die alles daransetzen, die deutsche Atomkraft und die Energieerzeugung aus Kohle kaputtzumachen bzw. zu beseitigen, dafür sind, dass der Uranbergbau in Mali und die Uranlieferungen aus Mali für Frankreich sichergestellt werden.
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Aber vielleicht sagen Sie sich da auch: Wenn in Deutschland nichts mehr funktioniert, dann funktionieren wenigstens noch die französischen Atomkraftwerke.
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Ein gewisses Interesse an dem Einsatz in Mali kann man daran erkennen, dass die Vorbereitung zu einer glänzenden Zusammenarbeit zwischen den beteiligten französischen und den deutschen militärischen Kräften geführt haben. Es gibt eine gemeinsame Ausbildung, die mit hoher Intensität durchgeführt worden ist und die dazu geführt hat, dass die beteiligten französischen und deutschen Einheiten perfekt aufeinander eingespielt sind. Hier wird man allerdings gleich einschränkend sagen müssen: Die deutschen Kräfte sind in Mali nicht an Kampfeinsätzen beteiligt, sondern sie beschränken sich, wie meistens in solchen Einsätzen, auf Ausbildungs-, Aufklärungs- und Sanitätsfunktionen.
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Sie sind also nicht in die Bekämpfung der terroristischen Kräfte in diesem Land einbezogen.
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Die kritischen Elemente. Der Einsatz, der jetzt schon fast fünf Jahre dauert, war im Wesentlichen erfolglos.
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Die Sicherheitslage in Mali hat sich nicht verbessert, sondern sie hat sich kontinuierlich verschlechtert. Bei einer Konferenz in Paris vor wenigen Monaten stimmten alle Beteiligten darin überein, dass die Situation nicht besser geworden ist, sondern sich fast mit jedem Tag verschlechtert. Das hängt auch mit der Politik der malischen Regierung zusammen, die sich um den Norden ihres Landes kaum je gekümmert hat und die jetzt noch weniger Anlass dafür sieht nach dem Motto „Die europäischen und die ausländischen Kräfte werden schon für Sicherheit sorgen“.
Die Einsatzziele dieser Mission sind zu allgemein formuliert. Sie sind nicht überprüfbar. Ein Ende der Mission ist nicht abzusehen, und die Truppenstärke, die dort besteht, insbesondere die deutsche, ist viel zu gering, als dass man davon Großes erwarten kann. 400 Dienstposten, 400 Soldaten: Wenn Sie dieses Gebiet mit 1,2 Millionen Quadratkilometern und 17 Millionen Einwohnern wirklich sichern wollten, bräuchten Sie statt 400 Soldaten 40 000 oder noch mehr.
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Das ist natürlich eine Illusion, und deswegen lehnen wir diesen Einsatz in Mali ab.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat als Nächstes der Kollege Markus Koob.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte die Freude, als einer von drei Bundestagsabgeordneten an der Reise, die Außenminister Maas hier schon angesprochen hat, teilnehmen zu können. In der Öffentlichkeit ist überwiegend über kaputte Flugzeuge bei dieser Reise berichtet worden. Damit tut man, finde ich, all den Menschen, die dort unten ihren Dienst leisten, sei es in militärischen, sei es in zivilen Organisationen, unrecht; denn es lohnt sich an dieser Stelle durchaus, genauer hinzuschauen und sich nicht mit irgendwelchen Scheindebatten zu begnügen.
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Wir dürfen dieses MINUSMA-Mandat, über das wir heute reden, nicht isoliert betrachten; auch das ist in den Worten des Außenministers richtigerweise zum Ausdruck gekommen. Wir haben zum einen dieses MINUSMA-Mandat im Norden, in Gao, das dafür da ist, dass dort die Entwicklung gesichert werden kann. Wir haben außerdem noch die Ausbildungsmission EUTM Mali, über die wir heute Nachmittag noch reden, und wir haben natürlich auch das zivile Engagement unserer NGOs, aber auch anderer NGOs. Wir hatten die Gelegenheit, dort unten mit Vertreterinnen und Vertretern der GIZ und auch von KfW zu sprechen. Es ist völlig klar, dass dieser Einsatz eben auch tatsächlich vernetzt ist. Ohne die Sicherheit, die die Soldatinnen und Soldaten dort garantieren, gibt es kein ziviles Engagement, und ohne das zivile Engagement gibt es auch keine Perspektive, dass wir jemals auf das militärische Engagement verzichten können.
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Insofern brauchen wir an dieser Stelle beides. Dieser Einsatz im Norden Malis im Rahmen von MINUSMA ist in vielerlei Hinsicht ein sehr schwieriger Einsatz. Das fängt beim Klima an und geht bei der Sicherheitslage weiter. Ich muss sagen: Es war mein erster Besuch in einem Bundeswehrcamp im Ausland. Wenn man das erste Mal an einem Ehrenhain steht, an dem man den Tod deutscher Soldaten betrauern muss, spürt man richtigerweise die gesamte Verantwortung, die wir Bundestagsabgeordnete bei diesen Entscheidungen tragen. Unser Ansatz muss es sein, dass wir dafür Sorge tragen, dass die Soldatinnen und Soldaten gesund wieder nach Hause kommen können.
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Wir haben diese Verantwortung dort auch ganz hautnah erlebt. Vier Tage vor unseren Besuch bei der EU-Ausbildungsmission ist nämlich ein Anschlag auf dieses Lager verübt worden, bei dem es auch Tote gegeben hat. Bei den deutschen Bundeswehrsoldaten ist Gott sei Dank niemand zu Schaden gekommen. Aber das zeigt eben auch: Diese Mission im Herzen Malis, in der Nähe von Bamako, der Hauptstadt, ist nicht ohne, ist eine sehr gefährliche Mission. Vor diesem Hintergrund müssen wir, glaube ich, als Deutscher Bundestag unseren Soldatinnen und Soldaten hier den Rücken stärken.
Eines ist für mich wirklich sehr beeindruckend gewesen: Ich habe mit den Soldatinnen und Soldaten, aber auch den Bundespolizisten vor Ort einmal über die Frage nach der Sinnhaftigkeit dieses Einsatzes geredet, und ich muss sagen, dass ich persönlich noch nie von dem Sinn eines Einsatzes so überzeugt war wie bei diesem. Jede Soldatin, jeder Soldat, jeder Bundespolizist, mit dem oder der man sich dort unten unterhalten hat, hat gesagt: Wir tun hier eine gute, notwendige und sinnvolle Arbeit. – Deshalb sollten wir als Deutscher Bundestag, wie gesagt, unseren Soldatinnen und Soldaten und Polizisten auch entsprechend den Rücken stärken.
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Wir haben auch erlebt, dass die Sicherheitslage in diesem Land leider tatsächlich immer schwieriger wird, insbesondere auch im Zentrum. Es gibt zunehmend Anschläge in der Nähe von Bamako. Erst vor zwei Wochen gab es wieder einen verheerenden Anschlag mit über 150 Toten. Die Frage wird sein: Wie können wir im gesamten Land oder zumindest im besiedelten Teil Malis möglichst hohe Sicherheitsstandards herstellen? Das wird nicht einfach; aber MINUSMA leistet an dieser Stelle – völlig klar – einen Beitrag dazu. Die Union wird deshalb der Verlängerung des Mandats zustimmen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch zwei persönliche Bemerkungen machen:
Die eine betrifft meinen ersten Besuch bei Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten in diesem Camp in Gao, über den ich eben schon berichtet habe. Ich möchte hier ganz herzlich für den Einsatz danken, der dort geleistet wird. Es ist eine fantastische Arbeit, die dort gemacht wird. Die internationale Zusammenarbeit mit den anderen Soldatinnen und Soldaten funktioniert hervorragend. Die deutschen Soldatinnen und Soldaten werden über die Maßen für ihre Arbeit geschätzt. Ich glaube, das sollten wir als Deutscher Bundestag auch entsprechend honorieren und zum Ausdruck bringen. Ich bedanke mich an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich für die Gastfreundschaft, die wir an diesem Tag in diesem Camp erleben durften.
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Ich komme zu meiner zweiten Bitte; das ist mir ein Herzensanliegen. Es war nicht nur mein erster Besuch in einem Bundeswehrlager im Ausland, sondern auch der erste Besuch in Afrika. Es ist eigentlich unmöglich, diesen Kontinent nicht zu mögen, wenn man die Menschen in Afrika einmal persönlich erlebt hat. Deshalb möchte ich an uns im Hohen Haus appellieren, dass wir, wenn wir über Afrika reden, nicht immer nur über die Probleme reden – über das, was nicht funktioniert –, über Krieg, Sicherheitslage, Krisen, Gesundheitsprobleme, sondern als Bundestag versuchen, die Entwicklungen in Afrika, die unbestritten positiv sind und eine Perspektive für den Kontinent eröffnen, zu benennen und einen Beitrag dazu leisten, sie zu verstetigen.
In diesem Sinne werden wir diesem Mandat zustimmen, das einen Teil dazu beiträgt, dass das Land Mali eine positive Entwicklungsperspektive haben wird.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner: der Kollege Bijan Djir-Sarai, FDP-Fraktion.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Die Gewalt in Mali nimmt kein Ende. Wir haben es gerade gehört: Erst Ende März kam es zu einem Massaker mit über 150 Toten. Die Terroranschläge reißen nicht ab. Die humanitäre Situation ist fatal. Was wir „Stabilisierungsmission“ nennen, ist in Wahrheit ein sehr gefährlicher und komplexer Einsatz. Das belegt die Tatsache, dass es sich bei diesem Mandat der Vereinten Nationen um eines mit den höchsten Verlusten handelt. In diesem gefährlichen Umfeld riskieren die Einsatzkräfte tagtäglich ihr Leben. Sie versuchen, einen Beitrag zu leisten, damit diese Region ansatzweise an Stabilität gewinnt.
Bei der Entscheidung über diesen Einsatz sollte nicht vergessen werden, dass dieser Einsatz 2013 verhindert hat, dass islamistische Terroristen die Macht in Mali ergreifen konnten. Außerdem konnte 2015 zusätzlich ein Friedensabkommen vereinbart werden. Ich möchte mir nicht ausmalen, vor welchen Fragen wir heute stehen würden, wenn der Einsatz nicht zustande gekommen wäre, meine Damen und Herren.
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Natürlich ist die Lage vor Ort nicht zufriedenstellend. Natürlich ist es inakzeptabel, dass Terroristen gezielt Anschläge auf Einsatzkräfte durchführen. Aber: In Mali gibt es heute so etwas wie ein Friedensabkommen. Die Fortschritte, die bei der Umsetzung des Friedensabkommens gemacht werden, mögen klein sein, sogar sehr klein sein; aber sie existieren. Deswegen lohnt es sich aus unserer Sicht, dieses Mandat zu verlängern, meine Damen und Herren.
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Es ist auch richtig, dass nun die Unterstützung bei der Wiederherstellung der staatlichen Autorität in Zentral-Mali in den Mandatstext aufgenommen wurde. Denn dieser Konflikt hat vielseitige Dimensionen, die sich bei weitem nicht nur auf den Norden Malis beschränken.
In Hinblick auf die Wiederherstellung der staatlichen Autorität müssen auch die mehrfach verschobenen und nun für Juni geplanten Parlamentswahlen durchgeführt werden. Darauf muss die Bundesregierung gemeinsam mit den internationalen Partnern drängen. Auch sollten endlich Fortschritte bei dem Prozess der Dezentralisierung und der Reform des Sicherheitssektors gemacht werden, wie im Friedensabkommen übrigens vereinbart. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen des Ganzen.
Dass die Bundesregierung bemüht ist, in Mali einen vernetzten Ansatz zu verfolgen, ist grundsätzlich richtig. Ich denke aber, gerade im Bereich der humanitären Hilfe ist noch Luft nach oben. In weniger kritischen Regionen wird wesentlich mehr geleistet.
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Meine Damen und Herren, gerade wir Europäer sollten genauer hinsehen, was über Mali hinaus in Afrika passiert. Radikaler Islamismus trifft dort häufig auf einen Boden der Zustimmung. Diese Entwicklung ist real, findet vor unserer Haustür, auf der anderen Seite des Mittelmeers, statt und muss thematisiert werden.
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Denn dieses Problem beschränkt sich nicht nur auf Mali. Nein, es betrifft den gesamten Kontinent. Al-Qaida, Boko Haram, al-Schabab und auch der IS sind nur ein Teil der Gruppen, die sich in Afrika breitmachen und mittlerweile starke Allianzen bilden. Das dürfen wir nicht zulassen.
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Kein Einsatz, keine Operation kann erfolgreich sein, wenn den Menschen vor Ort keine Zukunftsperspektiven geboten werden. Deswegen brauchen wir eine kohärente Afrika-Strategie, die sowohl innerhalb der Bundesregierung als auch innerhalb der Europäischen Union abgestimmt und umgesetzt wird. Dabei müssen die Bedarfe von Menschen in Afrika und nicht nur die Interessen einzelner EU-Länder im Vordergrund stehen. Nur so werden wir es schaffen, echte Perspektiven und Chancen für Afrika zu schaffen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren.
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Die nächste Rednerin: die Kollegin Kathrin Vogler, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung beantragt heute, die Beteiligung der Bundeswehr an der Militärmission MINUSMA in Mali mit bis zu 1 100 Soldatinnen und Soldaten zu verlängern. Dafür sollen innerhalb von zwölf Monaten rund 314 Millionen Euro ausgegeben werden – fast sechsmal so viel, wie der Zivile Friedensdienst für all seine Projekte weltweit zur Verfügung hat. Aber: Von Stabilität ist Mali im Jahr sechs dieses Kampfeinsatzes weiter entfernt als zuvor, trotz des Friedensabkommens von 2015. Allein in den letzten Monaten sind 600 Menschen bei Anschlägen gestorben.
Auch für die Bundeswehr ist Mali ein gefährliches Terrain, nicht nur wegen der Aufständischen und Islamisten. Erst im Februar wurden deutsche Soldaten in Gao von bewaffneten Verbündeten der malischen Armee angegriffen. Und als Ende März 130 Menschen bei einem blutigen Massaker getötet wurden, darunter schwangere Frauen, Kinder, alte Menschen, stellte sich heraus, dass die Angreifer einer Miliz angehörten, die an der Seite der Zentralregierung kämpft – Verbündete jener Regierung, die die Bundeswehr unterstützen soll. Diese Toten und Verletzten sind Opfer einer Politik, die sich auf Kriegslogik stützt. Deswegen trägt die Bundesregierung hier eine Mitverantwortung.
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In Mali sehen wir das fatale Erbe einer desaströsen Interventionspolitik des Westens. Als die NATO 2011 in Libyen die Herrschaft von Muammar al-Gaddafi gewaltsam stürzte, trieb sie bewaffnete Tuareg-Milizen zurück nach Mali und legte damit den Grundstein für die Gewalt und die Konflikte.
({1})
Guido Westerwelle hat damals als Außenminister richtig entschieden, als er sich gegen eine deutsche Beteiligung an dieser verhängnisvollen Militäraktion gestemmt hat,
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auch wenn ihm das scharfe Kritik einbrachte, vor allem aus Frankreich, aber leider auch von der deutschen Sozialdemokratie.
Die Versuche, jetzt in Mali und den Nachbarstaaten die brutalen Folgen einer völlig falschen Kriegspolitik mit ebensolchen Mitteln zu begrenzen, können nur scheitern. Und was macht die Bundesregierung? Sie nimmt dieses Scheitern gar nicht zur Kenntnis. Nicht nur, dass sie in der Mandatsbegründung beschönigend von „Herausforderungen“ in einem „komplexen Umfeld“ fabuliert – es steht auch amtlicher Unsinn drin. Ich zitiere mal:
Als Teil der Umsetzung des Friedensabkommens von Algier hat die Regierung im November 2018 mit der Integration ehemaliger Kämpfer in die Reihen der malischen Armee begonnen („DDR-Prozess“: Entwaffnung, Demobilisierung, Reintegration).
Herr Maas, Entwaffnung und Demobilisierung bedeuten doch nicht, die Milizen in andere bewaffnete Einheiten zu überführen, sondern Menschen, die in ihrem Leben nichts anderes als Kämpfen gelernt haben, endlich eine zivile Perspektive zu schaffen.
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Der Versuch, die vielen Kämpfer über die Aufnahme in die Lohnlisten von Armee und Polizei quasi ruhigzustellen, ist ein riesiges Risiko für den Frieden und schafft die Grundlage für neue Gewaltkonflikte. Sie wissen das, und Sie ignorieren es. Das finde ich unerhört.
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Da ist es kein Wunder, dass inzwischen 60 Prozent der malischen Bevölkerung den Friedensprozess für gescheitert halten und der Widerstand gegen die fremden Soldaten im Land immer stärker wird. Schon im letzten Jahr kritisierte die International Crisis Group die Fokussierung der internationalen Kräfte auf den sogenannten Antiterrorkampf, und sie riet den Regierungen in der Region und den internationalen Partnern, die militärischen Einsätze zurückzufahren und die humanitäre Unterstützung und den Dialog auch mit den militanten Kräften stärker zu fördern. Genau eine solche Friedenslogik ist gefragt, um in Mali Sicherheit und Stabilität zu fördern. Dafür bekämen Sie, Herr Maas, auch die Unterstützung der Linken – für die Fortsetzung der Kriegslogik niemals.
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Die Kollegin Agnieszka Brugger ist die nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns erreichen aus Mali gemischte Nachrichten. Manche stimmen uns durchaus hoffnungsvoll, aber die meisten sind leider besorgniserregend. Als islamistische Gruppen 2012 ein Schreckensregime errichtet haben und dann vom Norden aus den Süden erobern wollten und sehr schnell in Richtung der Hauptstadt Bamako vorgedrungen sind, reagierte die internationale Gemeinschaft schnell auf den malischen Hilferuf. Da liegt der Ursprung dieser Friedensmission der Vereinten Nationen, über deren Mandat wir heute hier beraten. Der Friedensprozess ist noch sehr lange nicht am Ziel, vielmehr gerät er krass ins Stocken. Nach der anfänglichen Euphorie über die Erfolge, gerade über das Friedensabkommen vor vier Jahren, ist heute die Ernüchterung bei vielen zu Recht sehr groß.
Wir Grüne haben dem Mandat in den vergangenen Jahren mit großer Mehrheit zugestimmt. Aber ich muss in Richtung der Bundesregierung auch in aller Klarheit sagen: Unsere Zustimmung ist kein Automatismus. Wir erwarten von der Bundesregierung endlich Antworten auf die vielen zentralen, kritischen Fragen und nicht die Standardfloskeln, die wir heute hier von Ihnen gehört haben, Herr Außenminister Maas.
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Wir wollen sehen, dass Sie die Probleme erkennen und dass Sie auch Maßnahmen ergreifen. Ein solcher Einsatz kann nicht nur mit vergangenen Erfolgen begründet werden, sondern es braucht Fortschritte, und es braucht eine Erfolgsperspektive für die Zukunft.
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Die Fragezeichen werden nun einmal nicht kleiner, sondern größer: Terroristische Gruppierungen tragen die Gewalt zunehmend in den Süden des Landes; die Sicherheitslage verschlechtert sich; malische Sicherheitskräfte und die internationale Mission selbst sind immer wieder Ziel von Angriffen.
Über 190 MINUSMA-Angehörige haben in diesem Einsatz mittlerweile schon ihr Leben verloren. Die meisten von ihnen sind Blauhelme afrikanischer Staaten. Ich finde, so eine Debatte ist auch immer ein Anlass, dieser Opfer zu gedenken, natürlich auch der beiden Bundeswehrsoldaten, die bei dem furchtbaren Hubschrauberabsturz 2017 ums Leben gekommen sind.
Meine Damen und Herren, wie die zukünftige Entwicklung in Mali verlaufen wird – zurück ins Chaos oder hin zu Sicherheit und Frieden –, das hängt zentral von der Frage ab, ob dieser Friedensprozess wirklich mit Leben gefüllt wird. Aber alle Konfliktparteien, auch die malische Regierung, verschleppen diesen Prozess, um sich selbst kurzfristige Vorteile zu verschaffen. Sie gefährden damit eine friedliche Zukunft Malis. Das muss endlich aufhören.
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Klar ist auch: MINUSMA und die Vereinten Nationen sind die zentralen Akteure, manchmal auch die einzigen Akteure, die immer wieder die Konfliktparteien an den Tisch zurückrufen, die vermitteln und überwachen, wer die Vereinbarungen einhält und wer nicht. Das ist ein wichtiger Beitrag. Die Bundeswehr kann diesen Friedensprozess natürlich nicht einfordern, sie kann ihn maximal absichern und überprüfen. Aber wenn es darum geht, die Konfliktparteien in die Pflicht zu nehmen, ist dies eine zentrale Aufgabe der politischen Akteure, und zwar der Bundesregierung und der internationalen Gemeinschaft.
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Auch wenn die Fortschritte im Friedensprozess alles andere als zufriedenstellend sind, so gibt es eben doch auch Bewegung, oft angestoßen von MINUSMA: die Integration verschiedener Gruppen in die malischen Sicherheitskräfte oder den Pakt für den Frieden, mit dem endlich mehr Tempo bei der Umsetzung des Friedensabkommens versprochen worden ist. Es reicht aber nicht aus, wenn Ursula von der Leyen – wie in der letzten Plenardebatte zu diesem Thema – davon spricht, dass es noch Luft nach oben gibt bei der malischen Regierung, oder wenn Sie, Herr Maas, nach Mali reisen. Das ist zu wenig. Das gilt auch für das zivile Engagement: Friedensverhandlungen, Antikorruptionsinitiativen, Entwicklungszusammenarbeit oder auch zivile Perspektiven für die vielen jungen Menschen in Mali – da kann und sollte man dringend mehr tun.
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Meine Damen und Herren, die Bundesregierung darf ihre Augen nicht vor der problematischen Entwicklung in Mali verschließen, sondern sie muss mehr Druck auf alle Konfliktparteien ausüben, damit sie endlich ihre Versprechen der malischen Gesellschaft gegenüber, aber auch gegenüber der internationalen Gemeinschaft einhalten.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Thomas Erndl.
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Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten unserer Armee, die Sie diese Debatte verfolgen! An dieser Debatte wird wieder einmal sichtbar, welch große Verantwortung dieses Parlament, welch große Verantwortung jedes einzelne Mitglied dieses Hauses hat. Besonders sichtbar ist diese Verantwortung für die Abgeordneten, die in ihrem Wahlkreis einen Bundeswehrstandort haben, von dem aus Soldaten in Auslandseinsätze entsandt werden.
Meine Soldaten, meine Aufklärer in Freyung im Bayerischen Wald – ich darf „meine“ sagen, weil ich vor ganz, ganz langer Zeit selber mit den Soldaten des dortigen Standorts im Auslandseinsatz war – kamen im Frühjahr 2018 von einem MINUSMA-Einsatz zurück. Momentan läuft die Vorbereitung für die nächste MINUSMA-Beteiligung ab Herbst dieses Jahres, und die darauffolgende Entsendung im Jahr 2021 ist bereits absehbar. Fundamentaler Unterschied zwischen damals und heute ist: Die Kontingentdauer im Heer ist mittlerweile von vier auf sechs Monate verlängert worden. Ich denke, nur wenige in diesem Haus können ermessen, was das für die Soldatinnen und Soldaten und vor allem deren Familien bedeutet; die Sicherheitslage in Mali wurde in dieser Debatte bereits beschrieben. Die Entscheidung, das Mandat der Soldatinnen und Soldaten zu verlängern, kann ich aber in dem Vertrauen treffen, dass wir gut ausgebildete, gut vorbereitete und auch gut ausgerüstete Soldatinnen und Soldaten in die Einsätze schicken.
MINUSMA ist eine der wichtigsten, aber auch eine der schwierigsten Missionen der UN. Unsere Bundeswehr leistet hier herausragende Arbeit. Den Soldatinnen und Soldaten aller Dienstgradgruppen sage ich ein herzliches Dankeschön für diesen Einsatz.
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Wir schließen natürlich alle, die bei der Mission ihr Leben verloren haben, in unsere Gedanken ein.
Meine Damen und Herren, nach dem Besuch unseres Außenministers in Mali haben kürzlich auch Vertreter des UN-Sicherheitsrates Mali besucht. Zum gleichen Zeitpunkt haben mutmaßliche Kämpfer einer Jägermiliz der Dogon-Volksgruppe ein Massaker im Dorf Ogossagou, das zur Volksgruppe der Peul gehört, verübt. Mindestens 400 Hütten wurden angezündet und willkürlich 150 Menschen – Alte, Frauen, Kinder – getötet. Solche Berichte machen fassungslos. Solche ethnischen Konflikte lassen uns natürlich ratlos zurück mit der Frage, ob unser ganzes Engagement in Afrika jemals Früchte tragen wird. Noch vor wenigen Jahren galt Mali als Musterland, und plötzlich stand es – 2012 – vor dem Zerfall.
Deutschland unterstützt mit seinem Engagement in Mali die Stabilisierung des Landes und der gesamten Sahelzone. Das liegt auch in unserem Interesse; Außenminister Maas hat das vorhin hier dargestellt. Die Mehrheit der malischen Bevölkerung ist unter 25 Jahre alt. Schon allein das zeigt, dass wir nur die Möglichkeit haben, unter Gewährleistung sicherer Umgebung eine positive Entwicklung anzustoßen; und den Kopf nicht in den Sand stecken dürfen, wie manche Fraktionen in diesem Hause das machen. Wir machen das natürlich nicht alleine, sondern wir sind Teil eines umfassenden Räderwerks, es ist ein vernetzter Ansatz mit vielen internationalen Partnern. Ich glaube, das muss an dieser Stelle nicht im Detail ausgeführt werden. Es ist ja bekannt, dass hier viele Räder ineinandergreifen.
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Letztendlich haben wir mit MINUSMA in den vergangenen sechs Jahren den staatlichen Zerfall Malis gestoppt. Islamistischen Milizen ist es nicht gelungen, einen fundamentalistischen Gottesstaat zu errichten. Die Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr sind gut verlaufen. Es gilt nun, auch die Sicherheit der Parlamentswahlen in diesem Jahr zu gewährleisten.
Meine Damen und Herren, es ist wie so oft, wenn wir über Afrika debattieren: Der Weg ist sehr lang; aber wir geben die Hoffnung niemals auf, dass wir irgendwann mehr Debatten über Afrika als Kontinent der Chancen führen werden als über Stabilisierungseinsätze. Aber bis dahin werden wir selbstverständlich unsere internationale Verantwortung wahrnehmen und diese Mission verlängern.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Der letzte Redner zu diesem Punkt: Roderich Kiesewetter, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende dieser Debatte ist uns, glaube ich, sehr klar geworden, dass wir für Mali noch einen langen Atem brauchen und uns allen bewusst sein muss, dass eine einzelne Mission hier nicht ausreicht. Unser Außenminister wie auch die Kollegen Koob und Erndl haben klargestellt, wie dieser Einsatz strategisch einzuordnen ist und dass wir zusammen mit der Polizeimission und der Ausbildungsmission drei international beachtenswerte Engagements in dieser Region haben. Zudem hat die Bundesregierung in der G‑5-Sahel-Strategie und in der neuen Afrika-Strategie den Fokus auch auf Mali gerichtet.
Mir kommt es zum Abschluss der Debatte – das kann man in der ersten Lesung, glaube ich, machen – auf zwei sehr praktische Fragen an. Wenn wir mit Soldatinnen und Soldaten diskutieren, die seit 2013 immer wieder dort im Einsatz waren – manche waren ja schon drei- oder viermal da –, taucht eine Frage immer wieder auf. Der Punkt ist, dass sich die Bundeswehr immer wieder stark auch in der Raumverantwortung engagiert. In Bezug auf die malische Seite besteht aber so ein bisschen der Eindruck, als ob man sich einrichtet; die internationale Gemeinschaft wird es ja richten. Die Soldaten haben den Eindruck, dass sie immer wieder neu anfangen und versuchen, wie Sisyphos den Stein den Berg hinaufzurollen. Es gilt, auch aus diesem Parlament heraus unseren Soldaten den Rücken zu stärken und klarzumachen: Euer Einsatz ist nicht umsonst. – Wir müssen politisch dafür sorgen, dass noch mehr Sinn und Zweck vermittelt wird.
({0})
Wenn wir aber mit malischen Soldaten sprechen, so ist dies für mich etwas sorgenvoller, weil sehr oft die Nachricht kommt, dass die Ausbildung nicht mehr an die aktuellen Herausforderungen angepasst ist.
Wenn wir diese beiden Fragen betrachten, dann bedeutet das aus meiner Sicht, dass wir zwei Herausforderungen lösen sollten. Die eine Herausforderung betrifft die Raumverantwortung, das Thema Aussöhnung innerhalb Malis. Herr Außenminister, ich glaube, wir sollten – politisch und international mit Frankreich und anderen Partnern abgestimmt – der malischen Regierung klarmachen, dass wir eine Dauerverantwortung erwarten: Auch dann, wenn einmal Räume gesichert sind, sollen sich die malischen Streitkräfte nicht nur auf die Hauptstadt konzentrieren. Sie sollen zeigen, dass die Gesamtverantwortung des Landes nicht nur für die Hauptstadt gilt, sondern dass auch eine Präsenz der Regierung in den ländlichen Räumen nötig ist.
({1})
Der zweite Aspekt berührt die Ausbildung selbst, die Ausbildung mit Blick auf Sicherheitssektorreform und auch auf die Art und Weise, wie wir die verschiedenen Missionen verzahnen. Wir als Hightechland leisten dort infanteristische Ausbildung und Pionierausbildung. Der Bedarf geht aber aufgrund der Modernisierung des Terrorismus und der Internationalisierung des Terrorismus zunehmend in die Richtung des Bedarfs an Spezialkräften und Cyber-IT-Fachleuten. Ich denke, wir sollten überlegen, ob wir nicht in Folgeeinsätzen die Ausbildung der malischen Soldaten in diese Richtung und mit Blick auf Hochwertausbildung verbessern. Andere Ausbildungen können auch andere Länder leisten, die wir dann in Verantwortung bringen, aber wir als Hightechland sollten auch mit Blick auf unsere europäische Strategie viel stärker in diese Richtung argumentieren, um Mali in Bezug auf diese Herausforderungen ebenbürtig zu machen.
Wenn es uns damit gelingt, Verantwortung im Raum stärker und nachhaltiger an die Malinesen, an die Zentralregierung zu übergeben und auf der anderen Seite die Ausbildung noch mehr auf die jeweiligen Herausforderungen hin anzupassen, bin ich guter Dinge, dass wir auch unseren Soldaten dort einen Endstatus, ein Ziel vermitteln können, für das es sich lohnt, mit ganzer Kraft zu arbeiten.
Wir als Parlament sollten mit dazu beitragen, dass solche Einsätze wie der in Mali immer wieder evaluiert werden, damit wir zu Verbesserungen beitragen können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Kollege Kiesewetter. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8972 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundesregierung ist uneins beim Thema Zweiklassenmedizin, und eine Regierung, die uneins ist, ist handlungsunfähig. Bei einem Problem, das für die Bürgerinnen und Bürger so wichtig ist, ist das untragbar.
({0})
Gesundheitsminister Spahn hält die Zweiklassenmedizin für ein – ich zitiere – gefühltes Problem. Die Wahrheit ist aber: Wer bei einem Arzt oder einer Ärztin anruft, wird als Erstes gefragt, wie er versichert ist. Ärztinnen und Ärzte lassen sich bevorzugt in wirtschaftsstarken Gebieten mit vielen Privatversicherten nieder. Das ist einer der Gründe für den Ärztemangel auf dem Land.
({1})
Genau diese Ungleichheit will Die Linke mit ihrem Antrag beenden.
({2})
Herr Lauterbach von der SPD hat im Unterschied zu Minister Spahn vor kurzem an dieser Stelle behauptet, dass mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz die Zweiklassenversorgung bei Fachärzten abgebaut werde. Aber vom Wahlkampfversprechen der SPD, die Zweiklassenmedizin durch eine Bürgerversicherung grundsätzlich zu überwinden, ist nicht mehr viel zu hören.
({3})
Hand aufs linke Herz, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie wissen doch so gut wie wir: Mit ein paar Extrasprechstunden und ein paar Extravergütungen für Ärztinnen und Ärzte ist das Problem der Zweiklassenmedizin nicht behoben.
({4})
Die private Versicherungswirtschaft ist da wesentlich ehrlicher. Sie wirbt ganz offen mit Ersteklassemedizin. Ich zitiere: Werden Sie jetzt Patient erster Klasse, Chefarztbehandlungen, Krankentagegeld, keine Rezeptgebühren und optimale Behandlungsmethoden. – Dazu sagen wir: Nein, wir wollen die private Krankenversicherung als Vollversicherung abschaffen.
({5})
90 Prozent der Menschen sind in der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie beruht auf dem Prinzip der Solidarität. Das heißt, die Höhe der Beiträge richtet sich nach der Höhe der Einkommen, und die Leistungen richten sich nach dem individuellen Bedarf. Das finden wir gut.
({6})
In der privaten Krankenversicherung dagegen sind nur 10 Prozent der Bevölkerung. Sie hilft den Besser- und Spitzenverdienern, ihre Einkommen der Solidargemeinschaft zu entziehen. Das, meine Damen und Herren, ist unsozial und muss beendet werden.
({7})
Doch die Bundesregierung tut genau das Gegenteil. Sie hält die private Krankenversicherung künstlich am Leben. Ungefähr die Hälfte der Privatversicherten sind Beamtinnen und Beamte. Bei insgesamt sinkenden Mitgliederzahlen der privaten Krankenversicherungen stieg die Anzahl der privatversicherten Beamtinnen und Beamten von 2012 auf 2017 um 250 000 auf insgesamt 4,35 Millionen. Ohne die staatliche Beihilfe für Beamtinnen und Beamte wäre die private Krankenversicherung schon längst verschwunden. Diese staatliche Subventionierung der Versicherungskonzerne muss aufhören.
({8})
Zur Wahrheit gehört auch, dass die niedrigen Zinsen auf den Kapitalmärkten und die sinkende Zahl der Privatversicherten zu steigenden Beiträgen führen, was im Alter oft zur Kostenfalle wird. Ich bekomme ganz oft Briefe von Rentnerinnen und Rentnern, die ihre Beiträge für die private Krankenkasse nicht mehr bezahlen können. Sie fallen dann in die Basis- und Notlagentarife. Meine Damen und Herren, das ist sozialpolitisch verantwortungslos.
({9})
Auch volkswirtschaftlich ist die private Krankenversicherung völlig unsinnig. 2017 lagen die Ausgaben für ärztliche Leistungen in der privaten Krankenversicherung bei 6,3 Milliarden Euro, das entspricht 718 Euro pro Person. Die tatsächlichen Kosten liegen sogar noch um ein Viertel höher, weil die Beihilfe noch obendrauf kommt. Das macht dann also ungefähr 1 000 Euro pro Privatversicherten. In der gesetzlichen Krankenversicherung liegen die Ausgaben bei 38 Milliarden Euro, also bei 529 Euro pro Versicherten. Meine Damen und Herren, das bedeutet, dass die Behandlung in der privaten Krankenversicherung doppelt so teuer ist wie in der gesetzlichen Krankenversicherung. Davon profitieren nur die Versicherungskonzerne und die Ärzte. Wir sagen: Schluss damit!
({10})
Außerdem ist die private Krankenversicherung mit einer unglaublichen Bürokratie verbunden. Die gesetzliche Techniker Krankenkasse hat ungefähr so viele Versicherte wie alle Privatversicherungen zusammen. Sie kommt mit 13 900 Angestellten aus. Für die privaten Versicherungen dagegen arbeiten sage und schreibe 87 000 Beschäftigte, das sind sechsmal so viele. Noch dazu sind diese Versicherungsmakler oft prekär beschäftigt und von Erfolgsprämien abhängig. Sehr geehrte Damen und Herren von der CDU und von der FDP, hier haben Sie einmal die Chance, wirklich etwas gegen unsinnige Bürokratie zu tun.
({11})
Wir sagen: Die Privatversicherten müssen in die gesetzliche Krankenversicherung überführt werden, ohne Wenn und Aber.
({12})
Mit dieser Forderung ist Die Linke nicht allein. Nach einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2018 würden sogar 40 Prozent der Privatversicherten ein einheitliches Versicherungssystem bevorzugen.
Unser Antrag packt das Problem Zweiklassenmedizin bei der Wurzel; denn wir brauchen eine solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung, die allen Menschen zugutekommt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner ist der Kollege Erich Irlstorfer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich gleich mal auf den Kollegen Dr. Kessler eingehen. Ich kann Ihnen nur sagen: Ihr Wunsch, die Regierung wäre uneins und handlungsunfähig, wird sich nicht erfüllen; da muss ich Sie leider enttäuschen. Wir hören zu, wir debattieren, und dann entscheiden wir.
({0})
Ich möchte Ihnen gleich auch noch sagen: Das, was Sie hier gerade vorgebracht haben, passt genau zu Ihnen. Sie wollen keinen Wettbewerb, und deshalb gebärden Sie sich so. Sie propagieren unter dem Begriff der Solidarität Ihre Staatsmedizin, und das ist nicht unsere Ausrichtung.
({1})
Deshalb, Herr Dr. Kessler, werden wir diese Anträge, die hier zur Diskussion stehen und die in keiner Form etwas zur Verbesserung der Versorgungssituation für Versicherte in Deutschland beitragen, auch ablehnen. Ich erkläre Ihnen auch, warum.
Aus Verbrauchersicht wäre eine politische Diskussion – etwa zum Antrag der AfD, bei dem wir über die Mitnahme von Rückstellungen und dergleichen reden – vielleicht durchaus sinnvoll. Es geht aber nicht, dass man hier eine Diskussion anstößt und dabei etwas ohne konkretes, zielführendes Konzept in den Raum schmeißt.
({2})
Werte Kolleginnen und Kollegen, die Beschreibung einer Situation ist ja noch lange keine Verbesserung der Versorgung; denn hier fehlen Ihnen konkrete Pläne.
Ich möchte auch etwas Generelles zum Antrag der AfD sagen: Die private Krankenversicherung ist eine Risikoversicherung; sie ist kein individueller Sparvertrag. Die Altersrückstellung wird für das Morbiditätsrisiko des gesamten Kollektivs kalkuliert
({3})
und nicht für irgendwelche individuellen Risiken eines einzelnen Versicherten.
({4})
Es ist auch klar, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass eine Portabilität unabhängig von der Frage der technischen Durchführung auch erhebliche sozialpolitische Gefahren birgt; denn überwiegend Gesunde werden die Option zum Wechsel innerhalb des PKV-Systems – genauso wie in der gesetzlichen Krankenversicherung – nutzen. Dieser Wechsel schwächt natürlich das Versichertenkollektiv der Zurückbleibenden. Somit hat man weniger Planungssicherheit. Mit einem Wechsel guter Risiken steigt das Durchschnittsrisiko im zurückbleibenden Versichertenkollektiv. Beitragssteigerungen wären die direkte Folge, und das wollen wir nicht.
Es gibt bislang keine Berechnungsmethode, geschweige denn einen Modellversuch in dieser Richtung. Experten wie der Gesundheitsökonom Professor Wasem schlussfolgern deshalb, dass der Status quo hinsichtlich der Portabilität besser als alle bisher diskutierten Modelle abschneidet.
Nun zum Antrag der Linken: Der vorliegende Antrag der Linksfraktion ist in meinen Augen ein sich immer wiederholendes Dokument, das maximal durch ausgetauschte Wörter auffällt und ohne jegliche Beweise und Studien auskommt. Die Forderung nach einer sogenannten Bürger- oder Einheitsversicherung ist bewiesenermaßen keine Alternative für das deutsche Gesundheitssystem
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und würde zu deutlichen Qualitätsverlusten in der Patientenversorgung führen. Nicht nur, dass die Idee einer vereinheitlichten Versicherung den Wettbewerb ausbremst; der Antrag beinhaltet auch konkrete Falschaussagen, wie Sie vorhin wieder mal bewiesen haben.
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Ich verweise auf die Aussage in Ihrem Antrag, die private Krankenversicherung entziehe dem solidarischen System im Endeffekt Versicherte, und dergleichen. So behauptet die Fraktion Die Linke, dass Privatversicherte nicht in die Solidarität der GKV eingebunden seien. Über den Bundeszuschuss zum Gesundheitsfonds besteht aber bereits eine steuerliche Subventionierung der GKV, an der sich allein Privatversicherte zum Beispiel im Jahr 2016 mit circa 1,4 Milliarden Euro beteiligt haben,
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ohne ihrerseits direkt davon zu profitieren. Weiterhin beteiligen sie sich über den von Ihnen oftmals totgeschwiegenen geleisteten Mehrumsatz für Leistungserbringer in Höhe von jährlich circa 13 Milliarden Euro überproportional an den Kosten des gesamten Gesundheitssystems. Wo sind Ihre Antworten? Nichts. Luft, Luft und noch mal Luft, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Ihnen geht es nicht um eine Verbesserung; Ihnen geht es hier einfach darum, ein politisches Ziel durchzubringen. Ich könnte Ihnen hier natürlich auch Zahlen und alles, was dazugehört, liefern und zum Beispiel sagen, dass die niedergelassenen Ärzte im Falle einer Bürgerversicherung jedes Jahr mehr als 6 Milliarden Euro einbüßen würden. Das Gesundheitssystem insgesamt würde sogar mehr als 12 Milliarden Euro einbüßen. Damit würde jede Arztpraxis im Schnitt mehr als 50 000 Euro pro Jahr verlieren.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das ist Ihre Politik. Diese Politik wollen wir nicht; deshalb halten wir uns an Fakten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Jörg Schneider, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Die Linke möchte die private Krankenversicherung abschaffen.
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Eine der Begründungen ist: Bürokratieabbau.
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Jetzt kenne ich keinen, der privatversichert ist und sich schon mal über zu viel Bürokratie beschwert hätte.
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Wir haben aber in Deutschland über 100 gesetzliche Krankenversicherungen, und wenn Sie die zum Maß aller Dinge machen wollen, dann fangen wir da doch vielleicht mal an: Wir haben eine Kleine Anfrage zum Thema „Wirtschaftlichkeit der gesetzlichen Krankenversicherung“ gestellt. Wir laden Sie ein, die gemeinsam mit uns auszuwerten. Vielleicht schaffen wir ja das, was die Österreicher gerade machen, nämlich die Zahl der gesetzlichen Krankenversicherungen – dort von 18 auf 4 – zu reduzieren. Das wäre mal eine Entbürokratisierung, die den Namen auch wirklich verdient.
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Sie sagen durchaus richtig: Privatversicherte zahlen das bis zu Dreieinhalbfache dessen, was ein gesetzlich Versicherter bezahlt. – Dadurch sind aber viele Arztpraxen überhaupt erst wirtschaftlich tragbar. Wenn wir die private Krankenversicherung abschaffen würden, dann würde das bedeuten, dass eine Praxis bei ungefähr 10 Prozent Privatversicherten ungefähr 10 bis 15 Prozent Umsatz verlieren würde. Bei gleichbleibenden Fixkosten bedeutet das für den niedergelassenen Arzt einen Einkommensschwund von ungefähr 20 bis 30 Prozent. Auf das Thema gehen Sie überhaupt nicht ein.
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Etwa 2 000 Ärzte jährlich verlassen Deutschland jetzt schon. Was für einen Exodus würden Sie denn auslösen? Sie gefährden mit Ihrem unausgegorenen Antrag die medizinische Versorgung der Bundesrepublik Deutschland, meine Damen und Herren.
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Sie gehen doch überhaupt nicht auf die Wünsche der Menschen nach Bonusmöglichkeiten, vielleicht nach dem Eigenbehalt, nach dem Verzicht auf Leistungen ein. Das spielt in Ihrer sozialistischen Einheitswelt anscheinend überhaupt keine Rolle.
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Ein Beispiel wäre vielleicht Österreich: Da besteht eine gesetzliche Pflichtversicherung für alle, die dann um private Zusatzversicherungen ergänzt wird. Vielleicht ist das tatsächlich auch ein Modell für Deutschland. Nur: Dafür brauchen wir bitte schön private Krankenversicherungen. Diese wollen Sie jetzt aber komplett einstampfen. Das heißt, Sie berauben uns der Möglichkeit, unser Gesundheitssystem zukünftig intelligent weiterzuentwickeln. Und das wollen wir definitiv nicht.
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Lassen Sie mich gleich mit einer allgemeinen Betrachtung abschließen. Ja, Sie haben durchaus recht: Die privaten Krankenversicherungen bieten Gutverdienenden die Möglichkeit, Geld zu sparen. Nur: Wir haben doch heute schon mit die höchsten Belastungen bei Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen weltweit.
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Das Geld brauchen wir auch. Damit müssen wir nämlich unseren großzügigen Sozialstaat finanzieren. Das ist doch eine fatale Kombination. Wir locken Menschen mit Sozialleistungen in dieses Land, vor allen Dingen Menschen, die wenig leistungsfähig, wenig leistungswillig sind.
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Wir binden sie an unser Land. Und auf der anderen Seite schrecken wir mit hohen Steuern und Sozialbeiträgen Leistungsfähige, gut Ausgebildete, damit auch potenziell Besserverdienende ab
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und vertreiben sie unter Umständen sogar. Ich sprach eben schon von 2 000 Ärzten, die dieses Land jedes Jahr verlassen. Meine Damen und Herren, wir brauchen mit Sicherheit nicht das, was Sie immer wieder fordern: immer mehr Beiträge und immer höhere Abgabensätze. Wir brauchen eine Entlastung für unsere Bürger, und deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Herr Kollege Weinberg, ich gehe davon aus, dass Sie sich vorhin nur am Kopf gekratzt haben.
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– Gut.
Dann hat als nächste Rednerin das Wort die Kollegin Bas, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon spannend, dass wir diese Anträge hier immer wieder debattieren müssen.
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– Ja, ich würde es ja gerne machen; da kommen wir gleich zu.
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Der Punkt ist einfach, dass wir zwei Systeme nebeneinander haben, die die ganzen Probleme und Schwierigkeiten, über die wir hier immer diskutieren müssen, verursachen.
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Wir haben zwei Vollversicherungen, die auf völlig unterschiedlichen Finanzierungsbasen beruhen.
Wir versuchen immer wieder – hier sind wir handlungsfähig –, die Löcher zu stopfen, zum Beispiel indem wir das Terminservicestellengesetz verabschiedet haben, mit dem wir versuchen, dafür zu sorgen, dass gesetzlich Versicherte gleichberechtigt, also genauso wie Privatversicherte, Termine bekommen. Wir haben das Problem der Zeitsoldaten gelöst, indem wir gesagt haben: Wenn sie vorher gesetzlich versichert waren, dann dürfen sie das auch hinterher sein. – Das alles sind aber Stellschrauben, die notwendig sind, weil wir zwei Systeme haben, die nicht zusammenpassen.
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Deshalb ist der Ansatz richtig, mal darüber nachzudenken, ob es nicht Sinn macht, dass 100 Prozent der deutschen Bevölkerung in einem System versichert sind. Dann hätten wir diese ganzen Baustellen nicht. Ich glaube, das sollte man mal ohne viel Schaum vor dem Mund und Ideologie überdenken.
Ich nehme mal das Beispiel Pflege, das wir ja gerade diskutieren. Bei dem System, das wir jetzt haben, stellen wir immer wieder fest: Wir wollen eine bessere Bezahlung, wir wollen mehr Pflegekräfte, und wir wollen, dass das alle gemeinsam solidarisch finanzieren. Trotzdem haben wir hier zwei unterschiedliche Versicherungssysteme. Im Bereich der Pflege könnte man diese Systeme übrigens viel einfacher zusammenführen, weil da die Leistungen nicht sehr unterschiedlich sind.
Zu den unterschiedlichen Leistungen im gesetzlichen Bereich kommen wir sicherlich gleich noch; die Kollegin Dittmar wird das ansprechen und sagen, was es für Auswirkungen auf die Patienten hat, wenn man privatversichert ist. Es ist nämlich nicht immer alles Gold, was in der Arztpraxis glänzt, sondern da finden auch Dinge statt, die nicht unbedingt immer im Sinne des Patienten sind. Deshalb finde ich es richtig, dass wir auch mal über eine Alternative nachdenken – ob man sie jetzt „Bürgerversicherung“ oder anders nennt.
Es gibt Probleme, die Sie auch durch Wettbewerb nicht lösen können. Auch mal in Richtung AfD gesagt: Eines unserer Systeme ist umlagefinanziert. Gesunde zahlen also für Kranke mit, Besserverdienende zahlen für weniger gut Verdienende mit. Das ist ein Umlagesystem. Bei der privaten Versicherung ist das Finanzierungssystem aber völlig anders; das darf man nicht vergessen. Auch wenn wir da mehr Wettbewerb hätten – auch untereinander, wie in Ihrem Antrag gefordert; Sie wollen ja, dass die Altersrückstellungen mitgenommen werden können; das kann man heute übrigens schon; insofern ist Ihr Antrag überflüssig, weil man die Altersrückstellungen im Basistarif schon jetzt übertragen kann; es gibt also einen Wettbewerb untereinander –, würden wir das Problem der zu hohen Prämien nicht lösen. Der Wettbewerb hilft den Menschen nicht, wenn sie ihre Prämie nicht zahlen können. Es findet eine Kalkulation anhand des Lebensalters, des Gesundheitszustandes und der Ausgaben statt, die man als Mensch produziert. Die Prämie, die daraus errechnet wird, ist individuell. Das wird immer dazu führen – ob es einen guten Wettbewerb gibt oder nicht –, dass Menschen überfordert werden und ihre Prämie nicht zahlen können.
Ich wette, Sie alle haben entsprechende Briefe in Ihren Wahlkreisbüros und Menschen bei Ihnen in den Sprechstunden, die als Beamte irgendwann mal eingestiegen sind und ihre Prämien nicht mehr zahlen können – oder zum Beispiel geschiedene Frauen, die mit einem Beamten verheiratet waren und plötzlich die Prämie alleine tragen müssen, was sie nicht können. Diese Fälle werden wir mit mehr Wettbewerb oder dann, wenn wir die beiden Systeme behalten, nicht lösen können.
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Deshalb bleibe ich dabei – auch für die SPD-Fraktion –, dass wir überlegen müssen, ob es zukünftig nicht Sinn macht, ein gemeinsames System zu haben.
Jetzt zum Antrag der Linken. Sie wollen einen radikalen Schritt machen und sagen: Wir nennen einen Stichtag, an dem alle Verträge sofort aufgelöst werden, und dann sind alle sofort gesetzlich versichert. – Ich halte es für rechtlich schwierig, Verträge einfach für nichtig zu erklären. Es sind nun mal Verträge, die man mit den Versicherungsunternehmen abschließt.
Deshalb plädieren wir als SPD-Fraktion eher für das sanfte Sterben; so haben Sie das, glaube ich, in Ihrem Antrag genannt. Man sollte zu der Lösung kommen, dass ab einem bestimmten Tag alle, die sich neu versichern, in die gesetzliche Krankenversicherung kommen, damit wir das System langfristig zu einem System ausbauen.
Natürlich müssen wir mit der privaten Krankenversicherung auch eine Lösung bezüglich der Altersrückstellungen finden. Diese müssen mitwandern, weil es nicht sein kann, dass Krankheitsrisiken am Ende in die gesetzliche Krankenversicherung verlagert werden und gute Risiken, die gesunden, jungen Menschen, bei der privaten Krankenversicherung bleiben. Das geht auch nicht.
Dass die Länder schon umdenken, sollte auch uns zum Umdenken bewegen. Hamburg und auch andere Länder eröffnen ihren neuen Beamtinnen und Beamten den Weg in die gesetzliche Krankenversicherung; denn es ist nirgendwo vorgeschrieben, dass Beamtinnen und Beamte privatversichert sein müssen. Nein, der Staat kann auch einen Arbeitgeberbeitrag leisten. Diesem Beispiel sollten wir folgen. Wir sollten uns in der Tat dazu durchringen, solche Modelle auch mal gemeinsam durchzudenken und uns hier nicht immer wieder darüber zu zerfleischen, warum es diese beiden Systeme unbedingt braucht. Sie verursachen nämlich einfach zu viele Probleme.
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Deshalb: Ein Umdenken ist angesagt. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir eine gute Debatte dazu hinkriegen und am Ende für alle Menschen draußen ein einheitliches Versicherungssystem schaffen würden, das gut finanziert ist und vor allen Dingen auch qualitativ gute Leistungen bringt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Bas. – Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus, FDP-Fraktion.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, die wievielte Debatte über mehrere Legislaturperioden hinweg das jetzt ist, die ich hier erlebt habe
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zu dem ideologisch bedingten, immer gleichen Antrag „PKV abschaffen“. Jedes Jahr und jede Legislaturperiode die gleiche Leier!
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– Möchten Sie hören, was ich sage? Das wäre sehr nett.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ich muss Sie fragen: Ist Ihnen immer noch nicht aufgefallen, dass Deutschland mit seinem dualen System aus gesetzlicher Krankenversicherung und privater Krankenversicherung eines der besten Gesundheitssysteme weltweit hat? Das reden Sie hier jeden Tag immer wieder schlecht, und das kann nicht sein.
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Gerade der Wettbewerb zwischen diesen beiden Systemen um die qualitativ beste Versorgung garantiert unser hohes Niveau, das wir hier in Deutschland haben, und das ist auch gut so.
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Wir profitieren insoweit erheblich von dem Dualismus aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung.
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Daher – ich wiederhole es – verstehe ich Ihr Gerede über die Zweiklassenmedizin, ehrlich gesagt, nicht.
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Sie schreiben in Ihrem Antrag immer wieder von einer höheren Vergütung bei gleicher Leistung. Wir hatten einen Antrag zur Abschaffung der Budgetierung gestellt. Dem haben Sie aber nicht zugestimmt. Ansonsten würden jetzt die Leistungen, die für die GKV-Versicherten erbracht werden, auch zu 100 Prozent bezahlt werden. Das und nicht eine mögliche höhere Vergütung ist das Problem. Es geht darum, dass das, was geleistet wird, auch zu 100 Prozent bezahlt wird.
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Wir hatten einen Antrag vorgelegt, aber Sie haben sich da ja rückwärts rausgezogen.
Ja, wir benötigen – und das sagen wir auch ganz deutlich – sowohl in der GKV, also in der gesetzlichen Krankenversicherung, als auch in der PKV Änderungen, um unsere Systeme zukunftsfit zu machen. Daher müssen wir auch in beiden Systemen den Qualitätswettbewerb fördern; denn sie befruchten sich ja gegenseitig. Das ist vor allen Dingen der Motor für Forschung und Innovation, und die Patientinnen und Patienten hier in Deutschland profitieren davon. Das ist doch das, was wir alle wollen.
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Daher lehnen wir es ab – und das sage ich hier ganz deutlich –, die Privatversicherten zwangsweise in ein GKV-System zu verschieben. Der Zwang dazu ist genau das, was Sie hier fordern, und da machen wir nicht mit. Daran wird sich auch nichts ändern, egal wie viele Anträge Sie hier stellen werden.
Ihre Behauptung, Besserverdienenden werde es durch die PKV ermöglicht, sich dem Sozialversicherungssystem zu entziehen, stimmt einfach nicht. Der Einwand ist völlig absurd.
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Sind Sie ernsthaft der Auffassung, dass sich Gründer, geringverdienende Selbstständige, Polizeibeamte, Feuerwehrbeamte dem Sozialversicherungssystem entziehen wollen? Das ist doch wirklich absurd.
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Ich bin privatversichert,
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weil ich mein Leben lang selbstständig war und weil die private Krankenversicherung für mich als Selbstständige die beste Versicherungsform meiner Wahl ist. Diese freie Wahl möchte ich auch haben und mir von Ihnen nicht nehmen lassen.
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Ich möchte auf Ihren Vorwurf der Entziehung aus dem Sozialversicherungssystem zurückkommen; es wird ja auch oft von Vorteilshopping innerhalb der Systeme gesprochen. Der Gesetzgeber hat bewusst und aus guten Gründen eine Altersgrenze für den Austritt aus der PKV und den Wiedereintritt in die GKV geschaffen; denn sonst wäre es ja Privatversicherten möglich, sich im Alter zulasten der GKV beitragsmäßig zu optimieren. Das alles ist klar gesetzlich geregelt; also ist das auch gar kein Problem.
In der privaten Krankenversicherung sorgt jeder durch Altersrückstellungen für die steigenden Gesundheitskosten im Alter selbst vor. Das ist gut so, das ist generationengerecht, und das sorgt für Solidarität innerhalb der Versicherungsgruppe.
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Wir lehnen Ihren Antrag ab.
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Das war es in aller Kürze. Leider habe ich keine Zeit mehr, weil ich weiß, dass mein Präsident bei mir immer besonders streng ist. Deswegen kann ich auf weitere Punkte leider nicht mehr eingehen.
Vielen Dank.
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Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus, herzlichen Dank, aber ich bin nicht Ihr Präsident, sondern der amtierende Präsident des Deutschen Bundestages.
({0})
Zudem bin ich bei Ihnen nicht strenger als bei allen anderen auch. – Aber es war ein guter Abschluss.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Beiträge zu der Debatte kommen aus den Schützengräben, so wie wir sie kennen. Ich stelle mal hier die Frage in den Raum: Können wir es uns eigentlich erlauben, in diesen Schützengräben zu bleiben? Müssen wir nicht tatkräftig sein und vor allen Dingen auch sichere solide Finanzierungsvorschläge für die großen Herausforderungen machen, die auf uns zukommen?
Wir wissen alle, dass wir einiges zu stemmen haben, einfach durch den demografischen Wandel, durch die Alterung der Gesellschaft, aber auch durch den medizinischen Fortschritt. Da liegen die Herausforderungen. Dafür brauchen wir Antworten.
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Da reicht es nicht, darauf zu verweisen, dass die einen immer mit der Bürgerversicherung kommen und die anderen die PKV anpreisen.
Insgesamt müssen wir sagen: Dieses duale System produziert viele Verliererinnen und Verlierer. Das können wir uns nicht mehr leisten.
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Es produziert Verliererinnen und Verlierer bei den Beitragszahlern, weil die Einkommensstarken in der Tat nur in der PKV versichert sind.
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Das System produziert Nachteile dadurch, dass in der PKV sehr viele Menschen sind, die sich die hohen Beiträge gar nicht mehr leisten können, vor allen Dingen dann nicht, wenn sie älter werden.
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Es produziert Verlierer, weil in der PKV ältere Menschen und Menschen mit Erkrankungen stark benachteiligt werden; denn das Risiko muss eben abgesichert werden. Dadurch finden die Menschen keine tragfähige Antwort, insbesondere dann nicht, wenn sie alt werden und unter Erkrankungen leiden.
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Deshalb ist es so wichtig, dass wir Antworten finden, die tatsächlich allen Lebenslagen gerecht werden. Das ist die Herausforderung.
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Natürlich wissen wir: Solidarisch und gerecht finanziert können wir diese großen Herausforderungen besser stemmen als in diesem dualen System. Deshalb verlange ich von allen, sich darüber Gedanken zu machen: Wie schaffen wir das in Zukunft, in der nächsten Wahlperiode, wenn wir ein Plus von 5 Milliarden Euro aus den jetzt bereits beschlossenen Gesetzen zu finanzieren haben? Das möchte ich von Ihnen wissen. Darauf möchte ich Antworten haben.
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Da können wir ganz klar sagen: Die Bürgerversicherung wird zur Entlastung beitragen, weil sie alle einbeziehen wird,
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und zwar gerecht entlang der finanziellen Möglichkeiten, die jeder hat.
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Kommen Sie mir nicht damit, dass es darum ginge, privat und gesetzlich gegeneinander auszuspielen! Nein, es muss ja darum gehen, einen gemeinsamen Rahmen zu schaffen, in dem die private und die gesetzliche Krankenversicherung eine solche solidarische Absicherung finanziert. Das muss der Weg sein. Da erwarte ich von Ihnen, dass Sie sich damit wirklich auseinandersetzen und nicht alles mit den üblichen Argumenten abtun. Damit werden Sie weder den Linken gerecht – die haben sich ein Stückchen bewegt –,
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noch geben Sie selber Antworten darauf, wie denn dann dieses Nebeneinander von privat und gesetzlich funktionieren soll.
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Da warte ich noch immer auf Antworten.
Neben den Argumenten der Solidarität und der gerechten Finanzierung geht es auch immer um das Argument des Wettbewerbs. Das Argument höre ich derzeit vom Minister, insbesondere in der Facette, die AOKen bundesweit zu öffnen. Eigentlich muss es doch darum gehen – Stichwort „Wettbewerb“ –, allen Menschen in dieser Gesellschaft die Wahlfreiheit möglich zu machen.
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Die Beamten haben diese Wahlfreiheit nicht. Diejenigen, die sich privat versichert haben, haben diese Wahlfreiheit nicht, weil sie in der Regel ihre persönlichen Rückstellungen überhaupt nicht mitnehmen können und weil außerdem bei einem Wechsel ihr Beitrag risikobezogen wieder neu verhandelt wird. Das ist keine Antwort auf Wahlfreiheit, so wie Sie dieses Wort immer im Munde führen.
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Von daher erwarte ich auch an dieser Stelle Antworten vonseiten der Union, vonseiten der FDP.
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Ich habe da an dieser Stelle noch wenig gehört.
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Hier wird viel von einer Zweiklassenmedizin gesprochen. Aber es wird selten davon gesprochen, dass es nicht nur um die Wartezeit auf einen Termin geht, sondern auch um die abgesicherte Leistung. Wenn ich mir anschaue, dass die leistungsstärksten Tarife der PKV wesentliche und empfindliche Lebenslagen nicht absichern – nehmen wir den ganzen Bedarf von Rehaleistungen, den man gerade im Alter hat, den man bei einer psychischen Erkrankung hat –, dann kann ich Ihnen sagen: Die Zweiklassenmedizin gibt es auch andersherum, nämlich so, dass wir bei den Privaten große Versorgungsmängel und -defizite und Absicherungslücken haben.
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Das sind die Themen, die wir angehen und weiterentwickeln müssen. Da müssen wir ran. Von daher erwarte ich, dass wir uns, wenn wir die Anhörungen haben werden, tatsächlich mit den eigentlichen Problemen auseinandersetzen und nicht immer wieder nur die Antworten aus den Schützengräben heraus geben.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dietrich Monstadt das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Klein-Schmeink, wir befinden uns nicht in Schützengräben. Antworten können Sie auch erst dann von uns erwarten, wenn Sie mal Konzepte vorlegen, die wir bewerten und mit denen wir uns auseinandersetzen können.
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Solange da nichts kommt, können Sie von uns nicht erwarten, dass wir uns dazu dezidiert äußern.
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– Hören Sie doch erst mal zu! Vielleicht verstehen Sie dann, was wir meinen.
Die Zweiteilung haben wir immer wieder diskutiert. Der Vorwurf, dass es sich um eine Zweiklassenmedizin handelt, ist nach meiner Überzeugung alles andere als gerechtfertigt. Im Gegenteil: Das duale System hat sich in den letzten Jahren als überwiegend leistungsfähig erwiesen. In der Bürgerversicherung sehe ich, sehen wir als Union eher eine Verschlechterung der Situation. Wir stehen für ein freiheitliches Versicherungssystem. Wir wollen Vielfalt und Wahlmöglichkeit im Sinne der Versicherten sicherstellen.
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wahlmöglichkeit?
Grundsätzlich, meine Damen und Herren, profitieren die gesetzlichen und privaten Krankenkassen voneinander. Ich will das kurz begründen. In der ambulanten Versorgung gilt für die GKV der Erlaubnisvorbehalt. Das bedeutet, dass neue, innovative Leistungen vom Gemeinsamen Bundesausschuss erst ausdrücklich zugelassen werden müssen, bevor sie in die Regelversorgung aufgenommen werden.
({2})
Dass dieser Prozess manchmal Jahre dauert, habe ich beispielsweise bei Medizinprodukten immer wieder kritisch angemerkt.
In der PKV, meine Damen und Herren, gilt der Erlaubnisvorbehalt nicht. Innovative Behandlungsmethoden können über die jeweilige Gebührenordnung vergütet werden.
({3})
Ärztinnen und Ärzte können also neuartige, manchmal bessere Leistungen erbringen.
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Die gesetzlichen Krankenkassen sind dadurch gezwungen, sich mit dieser neuen Leistung ebenfalls auseinanderzusetzen und diese gegebenenfalls schneller in ihren Leistungskatalog aufzunehmen. Diese Innovationsmotorik, die durch den Wettbewerb der beiden Krankenkassensysteme hervorgerufen wird, gerade auch bei Sprunginnovationen, käme zum Erliegen. Diesen Wettbewerb in unserem Gesundheitssystem wollen wir deshalb genau so erhalten.
({5})
Meine Damen und Herren, die Zusammenlegung der zwei Versicherungssysteme zu einer Einheitsversicherung bedeutet auch nicht, dass eine Zweiklassenmedizin abgeschafft wird bzw. nicht entstehen kann. Die gegenteilige Entwicklung wird eintreten: Durch die Abschaffung entsteht ein System, das nur die Grundversorgung abdeckt. Es wird zu einem Anstieg der privaten Zusatzleistungen kommen.
Das sehen wir zum Beispiel in unserem Nachbarland Österreich. Circa ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger hat dort eine oder mehrere private Zusatzversicherungen für Einzelleistungen. Diese privaten Zusatzversicherungen sind aber nicht für jeden zugänglich, zum einen in finanzieller Hinsicht – nicht jeder kann eine oder mehrere Zusatzversicherungen finanzieren –; zum anderen führt die notwendige Gesundheitsprüfung zu einer Risikoselektion. Genau dadurch entsteht doch erst ein Zweiklassensystem. Das wollen wir von der Union nicht, meine Damen und Herren.
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Auch das vorgeschobene Argument, dass GKV-Versicherte erschwert Arzttermine bekommen, ist vom Tisch. Ja, der Gesundheitsminister Jens Spahn hat recht damit, dass mit dem TSVG Regelungen auf den Weg gebracht sind, die dieses Problem zukünftig lösen.
({7})
Dafür sind wir ihm sehr dankbar.
Meine Damen und Herren, die im Weiteren von den Antragstellern geforderte Umwandlung der bestehenden Beihilferegelung ist in der Umstellung weder vom Bund noch von den Ländern finanzierbar. Bundeseinheitlich ist sie ohnehin nur mit den Bundesländern zu regeln und allein deshalb nach meiner Einschätzung nicht umsetzbar. Dies gilt im Übrigen auch für den Vorschlag zu den Altersrückstellungen. Hier wird Artikel 14 des Grundgesetzes in seinem komplexen Regelungsrahmen durch die Antragssteller schlicht ignoriert.
Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute auch noch einen zweiten Antrag, und zwar zu den Altersrückstellungen in der PKV. Der Antrag der AfD beinhaltet die Forderung, dass Altersrückstellungen bei einem Wechsel der Krankenversicherung übertragen werden sollen. Auch diese Frage wurde in der Vergangenheit bereits diskutiert und, wie ich finde, auch gelöst. Schon im Jahre 2009 haben wir mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz die Umsetzung des Transfers für die jeweiligen Altersrückstellungen in der PKV im Umfang des Basistarifs ermöglicht.
Der wesentliche Grund für diese Beschränkung lag damals wie heute im Problem der konträren Risikoselektion. Wenn Versicherte mit niedrigem Risiko zu anderen privaten Versicherungen abwandern, gefährden sie bei Mitnahme ihrer kompletten Altersrückstellung die Versicherungslage, also die Beitragsstabilität der übrig geblieben Versicherten.
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Der zweite Grund – damit komme ich zum Ende, Herr Präsident – ist damals wie heute, dass unsere jeweiligen Koalitionspartner aus grundsätzlichen Erwägungen eine weitere Regelung nicht mitgetragen haben.
Daher, meine Damen und Herren, lehnen wir beide Anträge ab.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Monstadt. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Robby Schlund, AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Der Abschluss einer Krankenversicherung ist in Deutschland seit 2009 Pflicht. Das ist auch gut so. Dabei sind rechnerisch 11 Prozent der Menschen in unserem Land Mitglied der privaten Krankenversicherung, Herr Kessler. Das sind 9 Millionen Versicherte,
({0})
nicht mitgerechnet die vielen ausländischen Studenten und Wissenschaftler. 9 Millionen Versicherte! Das sind Angestellte, Selbstständige und Angehörige freier Berufe, und zwar – ich nenne mal ein paar –: Künstler, Ärzte, Rechtsanwälte, Notare, Steuerberater, Hebammen, Physiotherapeuten, Heilpraktiker, Journalisten, Dolmetscher und, und, und. Dazu kommen noch Polizisten, Lehrer und Angestellte in Behörden.
({1})
– Hören Sie doch mal auf, rumzulabern, und hören Sie einfach mal zu! Das wäre auch mal eine Möglichkeit.
({2})
9 Millionen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, die neben ihrer Basistarifzahlung und Risikozuschlägen außerdem eine Altersrückstellung bezahlen müssen. Diese muss durch einen zusätzlichen Sparbeitrag von 10 Prozent sowie Zinsrückstellung vom Versicherten geschultert werden. Ab 65 Jahren bleiben dadurch die Beiträge konstant, trotz logischerweise altersbedingt erhöhtem Leistungsumfang.
Herr Monstadt hat recht, das stimmt: Bis 2009 konnten die Altersrückstellungen nicht zu einer neuen Versicherung mitgenommen werden. Das behinderte den Wettbewerb. Seit 2009 allerdings können Neukunden nun einen bestimmten Teil der Altersrückstellungen im Umfang des Basistarifs mitnehmen. Bei Altkunden allerdings gilt das nicht. Diese können die Altersrückstellungen nämlich nicht mitnehmen. Das, meine Damen und Herren, ist eine soziale Ungerechtigkeit, die wir mit unserem Antrag zugunsten der Versicherten beseitigen wollen, meine Damen und Herren.
({3})
Eigentlich bin ich jetzt theoretisch fertig; aber ich muss, obwohl Herr Schneider das schon getan hat, noch ein bisschen was zu Ihrem Antrag sagen.
({4})
Es hat mich, ehrlich gesagt, fassungslos und traurig gemacht, dass Sie so einen Antrag stellen. Den haben Sie, wie wir gehört haben, schon hundertmal gestellt.
({5})
Sie sehen ja, dass es den Leuten draußen und natürlich auch den neugewählten Abgeordneten, die hier im Parlament sitzen, immer die Sprache verschlägt, was Sie da machen. Ich zitiere einen Teil Ihres Antrages: „Alterungsrückstellungen in den Bilanzen der PKV sind aufzulösen“ und „Ausgleichszahlungen an den Gesundheitsfonds zu leisten“.
({6})
Geht’s noch? Wir reden von einer Rücklage in Höhe von 250 Milliarden Euro. Sie prellen damit einen Großteil der Leistungsträger unserer Gesellschaft, und das können wir nicht mitmachen.
({7})
Das ist soziale Ungerechtigkeit, und das ist soziale Enteignung, meine Damen und Herren von den Linken und wie auch immer.
({8})
Wollen Sie unsere Lehrer, unsere Polizisten, unsere Ärzte, unsere Künstler in die sichere Altersarmut schicken?
({9})
Schämen Sie sich! Karl Marx würde sich im Grabe umdrehen, wenn er Ihren Antrag lesen würde.
({10})
Wozu, meine Damen und Herren, dienen denn Altersrückstellungen? Ich werde Ihnen die Frage beantworten – die Antwort ist nämlich ganz einfach –: Sie dienen zur Deckung späterer Kosten im Tarif.
({11})
Die gehören ganz allein den Versicherten und niemand anderem,
({12})
auch nicht einem ominösen Kollektiv.
({13})
Wir verlangen einen Gesetzentwurf von der Bundesregierung, durch den sichergestellt wird, dass alle Versicherten in der PKV, auch die Altkunden, beim Anbieterwechsel ihre Altersrückstellungen mitnehmen können. Außerdem fordern wir eine zeitgemäße Neustrukturierung von EBM und GOÄ.
Vielen Dank fürs Anhören meines emotionalen Vortrags.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schlund. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Sabine Dittmar, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ich lüfte hier kein Geheimnis: Die SPD setzt sich seit langem für die Einführung einer Bürgerversicherung ein.
({0})
Wir wollen eine gerechte gesundheitliche Versorgung und eine gerechte Finanzierung der Kosten. In einer Bürgerversicherung würden, wie der Name schon sagt, alle Bürgerinnen und Bürger einbezogen: Freiberufler, Selbstständige, Beamte und natürlich auch Abgeordnete würden nach der Höhe ihres Einkommens Beiträge an die Solidargemeinschaft zahlen.
Ich gehe davon aus, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es Ihnen so wie mir ergeht: Mich erreichen viele Briefe von privatversicherten Bürgerinnen und Bürgern, die im Alter ihre horrenden Beiträge nicht mehr bezahlen können oder massive Leistungskürzungen hinnehmen müssen. Die Kollegin Bas hat hier eine Menge Beispiele aufgezählt. Diese vielen Beschwerden der Privatversicherten zeigen mir deutlich: Die PKV ist ein Auslaufmodell.
({1})
Die Menschen erkennen auch die Schwachpunkte dieses Systems. Natürlich: Sie bekommen in der Arztpraxis oftmals bevorzugt und schneller einen Termin. Aber die Privatpatienten müssen oftmals auch eine Überdiagnostik und eine Übertherapie über sich ergehen lassen, die medizinisch in keinster Weise evidenzbasiert ist.
Lieber Herr Kollege Monstadt, ich weiß nicht, ob es ein echter Vorteil und wirklich von Nutzen ist, wenn sogenannte Innovationen ohne belegte Evidenz zum Einsatz kommen. Ich möchte nicht als Versuchskaninchen dienen.
({2})
Ich bin sehr dankbar, dass wir mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss ein Gremium haben, das sehr diffizil in die Methodenbewertung einsteigt, und ich hoffe, das bleibt auch so.
Es wird von einem Wettbewerb zwischen GKV und PKV gesprochen. Von diesem vermeintlichen Wettbewerb profitieren allerdings nur gutverdienende junge Versicherte. Geringverdiener, sogenannte kleine Selbstständige, Menschen mit Behinderung, schwerkranke und alte Menschen sind vom Wettbewerb ausgeschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, dass es Reformbedarf beim Krankenversicherungssystem gibt, darin sind wir uns also einig. Was den Reformweg angeht, unterscheiden wir uns allerdings grundlegend. Ihr Vorschlag, zu einem Stichtag X die Vollversicherung in der PKV abzuschaffen, lehnen wir ab. Sie wissen selbst, dass es dazu erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gibt. Aus unserer Sicht muss das System schrittweise und nicht in einem Hauruckverfahren umgebaut werden.
Unser Konzept sieht vor, Neuversicherte automatisch in die Bürgerversicherung aufzunehmen. Bisher privat Versicherte können wählen, ob sie wechseln wollen. Außerdem können sowohl gesetzliche Krankenkassen als auch private Krankenversicherungen den Bürgerversicherungstarif anbieten. Mit uns wird es also keine Einheitskasse geben, sondern die bisherigen Kassen und Versicherungsunternehmen werden bestehen bleiben.
Kolleginnen und Kollegen, ich verrate auch kein Geheimnis, wenn ich sage, dass wir mit unserem Koalitionspartner das Konzept einer Bürgerversicherung nicht umsetzen können.
({3})
Eine Koalition einzugehen, heißt eben auch, Kompromisse zu machen.
({4})
Ich bin aber überzeugt, dass wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten es trotzdem schaffen werden, uns schrittweise hin zur Bürgerversicherung zu bewegen.
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Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz haben wir geregelt, dass gesetzlich Versicherte nun schneller einen Arzttermin erhalten.
({6})
Die Terminservicestellen bauen wir aus, das Sprechstundenangebot erweitern wir. Ärzte und Ärztinnen erhalten für Patienten in der offenen Sprechstunde und für Neupatienten eine zusätzliche Vergütung, und auch die über die Terminservicestelle oder über den Hausarzt vermittelten Patienten werden mit Zuschlag vergütet.
Sie sehen: Es lohnt sich, in der GKV versichert zu sein, und es lohnt sich auch, GKV-Patienten zu behandeln. Auch in einer Koalition können wir deutliche Verbesserungen für unsere gesetzlich Versicherten erreichen; das haben wir damit unter Beweis gestellt.
Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass die SPD auf Landesebene in Sachen „mehr Gerechtigkeit zwischen den Systemen“ gut unterwegs ist. So zahlt Hamburg nun für gesetzlich versicherte Beamtinnen und Beamten einen hälftigen Zuschuss zu den Krankenversicherungsbeiträgen.
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Immerhin sind 15 Prozent der Beamtinnen und Beamten in der GKV versichert. Diese wurden bzw. werden bisher klar benachteiligt; denn sie müssen den Beitrag vollständig alleine tragen. Ein Bundesbeamter mit drei Kindern schrieb mir vor wenigen Wochen: Es geht hier um das Geld von denjenigen, die es am meisten nötig haben: Beamte der unteren Besoldungsgruppen, Beamte mit mehreren Kindern, Beamte mit chronischen Erkrankungen. – Auch für diese Gruppe muss die Krankenversicherung gerecht finanziert werden.
Ich möchte an dieser Stelle auch erwähnen, dass der Deutsche Beamtenbund, der den GKV-Zuschuss für Beamte ablehnt, sich fragen lassen muss, ob er wirklich die Interessen aller Mitglieder vertritt.
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Denn hier geht es nicht um eine Zwangsversicherung. Die Beamten können wählen, ob sie sich privat oder in der GKV versichern. Immerhin haben sich in Hamburg zwischenzeitlich über 1 000 neue Beamtinnen und Beamte für dieses Modell entschieden. Das spricht eine deutliche Sprache.
Ich freue mich sehr, dass nun auch weitere Bundesländer die Initiative für ihre Beamten ergreifen. Auch das linksregierte Thüringen ist nun endlich auf den Zug aufgesprungen.
Es wäre nur konsequent, auch auf Bundesebene für die Beamtinnen und Beamten aktiv zu werden.
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Leider haben wir unseren Koalitionspartner davon noch nicht überzeugen können. Aber ich sage Ihnen: Wir arbeiten daran. Es ist ein mühsamer, es ist ein kleinschrittiger Weg. Doch ich bin davon überzeugt: Die Bürgerversicherung wird kommen. Dafür werden wir weiterhin kämpfen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Nicole Westig, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein System für alle: Unter diesem Motto fordert Die Linke in schöner Regelmäßigkeit die Zusammenlegung von gesetzlicher und privater Kranken- und Pflegeversicherung. Es passt auch wunderbar in ein Weltbild, in dem alles Private Werk des Teufels ist. Und das sage ich ganz bewusst als Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse.
Aber die Einheitskrankenversicherung und auch die Einheitspflegeversicherung sind die falschen Antworten. Die größte Herausforderung für unsere sozialen Sicherungssysteme ist doch nicht der Rest an Wettbewerb, der zwischen den Systemen noch herrscht. Nein, das größte Problem ist doch das des demografischen Wandels und der mangelnden Generationengerechtigkeit.
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Denn immer weniger junge Beitragszahler müssen aufkommen für immer mehr Rentner, immer mehr Kranke und immer mehr Pflegebedürftige. Wir wissen seit langem, dass dieses System schon bald nicht mehr trägt. Wer jetzt noch ausschließlich auf das Umlageverfahren bei unseren sozialen Sicherungssystemen setzt, der macht sich zum Totengräber derselben.
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Unbekümmert vom demografischen Wandel und von der Generationenungerechtigkeit bläst Die Linke wieder einmal zum Sturm auf die Privaten. Dabei würden Ihre Vorstellungen zur Vereinheitlichung der Kranken- und Pflegeversicherung schon am Verfassungsrecht scheitern. Als Stichworte nenne ich nur: die Beitragsbemessungsgrenze oder den Zugriff auf die Kapitalvorsorge der Privaten.
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Auch geht Ihre Problemanalyse an der Faktenlage vorbei. Die privat Pflegeversicherten beispielsweise sind im Durchschnitt älter, der Anteil an Pflegebedürftigen in den beiden höchsten Pflegegraden ist größer, und die monatlichen Leistungsausgaben pro Pflegebedürftigem sind ebenfalls höher als in der gesetzlichen Pflegeversicherung.
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Aber das Hauptproblem ist: Sie wollen die private Versicherung abschaffen, obwohl die Privaten genau das haben, was zur Lösung der demografischen Herausforderung beiträgt. Sie setzen nämlich auf Kapitaldeckung und nicht ausschließlich auf das Umlageverfahren.
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Und das ist der richtige Weg. Wir brauchen mehr Kapitaldeckung für die Rente, für die Pflege und damit auch für die Krankenversicherung.
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Deswegen ist nicht die Abschaffung der privaten Versicherung das Gebot der Stunde, sondern deren Stärkung.
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Also: Lassen Sie uns notwendige Reformen in unseren Sicherungssystemen angehen: bei der Kranken- und der Pflegeversicherung mehr Kapitaldeckung und betriebliche Altersvorsorge – hin zu einem Drei-Säulen-Modell. Ihren Antrag lehnen wir ab.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Westig. – Als vorletzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollegin Erwin Rüddel, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag will die Fraktion Die Linke wieder einmal alle Privatversicherten in die gesetzliche Krankenversicherung überführen.
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Es ist das alte Lied: Wahlfreiheit der Patienten ist unerwünscht, und Wettbewerb ist des Teufels; denn das Heil liegt einzig und allein in der staatlichen Einheitsmedizin. Ich glaube, es war Bundesärztekammerpräsident Frank Ulrich Montgomery, der dieses Konzept als Turbolader auf dem Weg zur Zweiklassenmedizin bezeichnet hat.
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Meine Fraktion lehnt dieses Vorhaben ab.
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Wir wissen doch, dass die privaten Kassen Vorreiter bei der Umsetzung des medizinischen Fortschritts sind
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und damit Garant für Therapiefreiheit. Wir wissen doch, dass die Privatpatienten die Kassenpatienten in hohem Maße quersubventionieren
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und viele Praxen ohne diese Mittel gar nicht existieren könnten. Wir wissen doch, dass das Konzept der Linksfraktion ausgerechnet die Arbeitgeber zusätzlich belasten würde, die besonders viele hochqualifizierte Mitarbeiter beschäftigen. Und wir wissen, was medizinischer Sozialismus im Gesundheitswesen bewirkt, nämlich schlechte Leistungen für alle und bessere Leistungen nur für die, die aus eigener Tasche zahlen können.
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Man muss nur nach Großbritannien schauen, wo es ein Einheitssystem gibt.
Aber das ist noch nicht alles. Die sogenannte Bürgerversicherung treibt nicht nur die Arbeitskosten in die Höhe, sondern sie vernichtet auch Zehntausende Arbeitsplätze in der PKV, provoziert nebenbei Praxisschließungen,
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ist innovationsfeindlich und verfassungsrechtlich in hohem Maße fragwürdig.
Im Übrigen: Warum sollten Ärzte und Krankenhäuser ihre Patienten besser behandeln, nur weil die Kassen ihre Beitragsgelder nach einem neuen System einsammeln? Wenn es keine private Konkurrenz und damit keinen Wettbewerb mehr gibt, warum sollten Kassen sich dann besonders um Kunden kümmern, die nicht mehr abwandern können?
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Ich bleibe dabei: Eine staatliche Einheitskasse führt direkt in die von Ihren Vordenkern beklagte Zweiklassenmedizin. Denn nur wer Geld hat, wird immer einen Arzt finden für jede Therapie. Überdies wäre das Ganze ein Experiment mit zahllosen Unbekannten und würde Parlament und Gerichte ohne jede Not auf Jahre beschäftigen.
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Meine Damen und Herren, wir haben ein Gesundheitswesen, das im internationalen Vergleich vorbildlich ist. Wir wollen es erhalten und zukunftsfest machen,
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und wir werden alles daransetzen, um zu verhindern, dass es aus ideologischen Gründen ruiniert wird.
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Natürlich ist die Welt in den vergangenen Jahren nicht stehen geblieben. Das gilt auch für die PKV. Mittelfristig müssen wir auch dort schauen, wo sich aus veränderten Voraussetzungen Reform- und Regulierungsbedarf ergibt. Aber es gehört zu unseren Aufgaben, das duale System so weiterzuentwickeln, dass GKV und PKV sich einen möglichst umfassenden Wettbewerb um die beste Versorgung und um die günstigsten Versicherungstarife liefern können.
Meine Fraktion wendet sich mit allem Nachdruck gegen eine Fixierung auf das Modell der Einheitsversicherung. In Wahrheit haben wir nämlich angesichts der Alterung der Gesellschaft ganz andere Probleme zu lösen. Die Zukunft und die Attraktivität unserer ländlichen Regionen hängen entscheidend von einer guten und wohnortnahen medizinischen Versorgung ab. Die Länder müssen endlich ihren Krankenhäusern die dringend notwendigen Investitionskosten finanzieren.
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Nicht nur Schulen und Gewerbebetriebe, sondern auch die Krankenhäuser müssen mit Glasfaser erschlossen werden.
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Wir müssen Strukturen in der Versorgung ändern, und wir müssen die Synergieeffekte im System besser nutzen. Denn die medizinische und pflegerische Versorgung wird morgen anders sein als heute. Konsequente Digitalisierung und Vernetzung, Prozesssteuerung, technische Assistenz und Telemedizin werden das System grundlegend verändern. Daran müssen wir arbeiten, statt mutwillig unser bewährtes Gesundheitssystem aufs Spiel zu setzen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Tino Sorge, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei manchen Äußerungen der Linken gerät man ja öfter einmal ins Staunen, zwar nicht darüber, dass wir dieses Thema frei nach dem Motto „Ständig grüßt das Murmeltier“ hier im Plenum debattieren, oder darüber, dass das, was Sie uns hier um die Mittagszeit wieder präsentieren, im Grunde genommen nichts anderes als ein fades Gericht ist, das neu aufgewärmt und wieder vorgesetzt wird – und dann wundern Sie sich, dass das hier niemandem schmeckt. Aber wenn man Ihnen zuhört, dann hat man immer den Eindruck, dass in Deutschland das ganze System den Bach runtergehen würde, die Gesundheitsversorgung am Abgrund stünde. Insofern möchte ich auch den Kollegen Kessler daran erinnern, dass wir uns jetzt, 200 Jahre nach Karl Marx, nicht im Klassenkampf befinden. Das sollten Sie bei dieser Diskussion beherzigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Wochen hat man so ein bisschen den Eindruck bekommen, dass einige ihre Enteignungs-, Umverteilungs- und Verstaatlichungsfantasien in vollem Umfang ausleben wollen, gerade im linken Spektrum. Angesichts von Wohnungsnot wird dann über Enteignung von Wohnungsunternehmen debattiert, als ob man so die Probleme lösen könnte. Natürlich machen Sie auch nicht vor dem Gesundheitsbereich halt. Da sind Sie bei sich offensichtlich mal wieder voll im Trend; aber es wird Sie enttäuschen, hören zu müssen: So funktioniert weder Wohnungsbaupolitik, so funktioniert weder Sozialpolitik, noch funktioniert Gesundheitspolitik so.
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Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, dann liest man Begrifflichkeiten wie bei einer Schönwetterbelletristik, es wird von einem „System für alle“, von „Solidarität“, von „Bürgerversicherung“ gesprochen. Wenn man genau hinschaut, sieht man: Das sind hohle Phrasen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Klein-Schmeink?
Ja natürlich.
Herr Kollege Sorge, Sie sprechen gerade von Enteignung und Ähnlichem, aber letztendlich geht es ja darum, wie wir die drängenden Fragen nach sozialer Sicherung und das Einlösen unseres Sozialstaatsversprechens hinbekommen. Man kann Vorschläge der Opposition ablehnen, kritisch sehen, aber man müsste ja wenigstens einmal Antworten geben.
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Mich würde schon interessieren, wie Sie eine tragfähige, solide Finanzierung all der Aufgaben, die da vor uns liegen, und zwar im Bereich Pflege wie im Bereich Gesundheit, tatsächlich hinbekommen wollen. Da sehen wir doch noch deutliche Lücken. Ich sehe von Ihrer Seite keinerlei Vorschläge, wie Sie denn die Digitalisierung im Gesundheitswesen finanzieren wollen, wie Sie den Investitionsstau bei den Krankenhäusern auflösen wollen oder wie Sie beim Thema „bezahlbarer Wohnraum“ – Sie haben diesen Bereich gerade genannt – tatsächlich zu Lösungen kommen wollen, also zu Lösungen, durch die das Vertrauen in der Bevölkerung in die soziale Sicherheit und den Sozialstaat glaubhaft eingelöst wird.
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Liebe Maria Klein-Schmeink, es ist im Grunde genommen immer ein Reflex, wenn Sie behaupten, wir hätten keine Lösung. Aber wir haben doch gesagt, wir müssen dies thematisch weiterentwickeln. Das machen wir ja; das TSVG ist hier beispielsweise genannt worden. Aber es geht auch an die Adresse Ihrer Fraktion: Wenn Sie bei der Veränderung dieses Systems immer nur einseitig sagen, wir müssten alle in die gesetzliche Krankenversicherung zwingen,
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also eine Einheitskasse machen,
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aber nicht einmal ansatzweise darüber nachdenken, wie wir möglicherweise auch im Bereich der privaten Krankenversicherungen Verbesserungen hinbekommen, dann müssen Sie sich nicht wundern, wenn bei den Diskussionen jeder immer auf seiner Meinung beharrt und wir da nicht weiterkommen.
Insofern: Wir haben eine Menge Beispiele gebracht. Das Thema Dualismus ist angesprochen worden, also dass sich medizinischer Fortschritt dadurch entwickelt, dass Wettbewerb im System ist. Das erreichen wir damit. Sie machen es sich immer ein bisschen einfach.
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Das spricht man in der Diskussion viel zu selten an, und das hat auch im Antrag der Linken völlig gefehlt: Da wird ein Zerrbild gezeichnet, da wird so getan, als stünde das Gesundheitssystem in Deutschland am Abgrund.
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Gehen Sie doch einmal ins Ausland, und hören Sie dort nach: Im Ausland sagen die Menschen, das Gesundheitssystem Deutschlands sei eines der besten Gesundheitssysteme weltweit,
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und Sie suggerieren hier, es sei alles schlecht, und blockieren gleichzeitig Verbesserungen, die wir machen wollen.
Wenn man sich Ihren Antrag genauer durchliest, dann sieht man, dass Sie mit Begrifflichkeiten arbeiten, die nach meiner Auffassung schon ein bisschen grenzwertig sind. Sie sprechen dann davon, dass die private Krankenversicherung schädlich sei, sie die Ursache aller Probleme sei. Glauben Sie wirklich, dass 10 Prozent der Versicherten die Probleme, die wir teilweise in der gesetzlichen Krankenversicherung haben, lösen könnten? Nein, und das sehen wir als Union ebenso.
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Wenn man sich Ihren Antrag genauer anschaut, dann ist ganz konkret zu lesen, dass es für die 9 Millionen Menschen, die in der privaten Krankenversicherung sind, schädlich sei, in der privaten Krankenversicherung zu sein. So einfach ist es aber nicht. Was passiert denn in anderen Ländern, in denen beispielsweise Einheitskassen oder Einheitsversicherungen existieren? Die Zuzahlungen gehen in die Höhe, die Wartezeiten steigen immer weiter an, Innovationen werden ausgebremst, und nur ganz wenige partizipieren an diesen Innovationen. Das sind die Schattenseiten. Dies sollten Sie in der Diskussion den Bürgerinnen und Bürgern auch sagen. So etwas wollen wir als Union nicht. Deshalb sind wir für einen Dualismus.
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Wenn man sich dann anschaut, welche Vorschläge Sie anbieten, dann stellt man fest: Sie tun nur so, als hätten Sie ein System, das durchdacht sei. Erklären Sie uns doch bitte, wie Sie das machen wollen. Sie reden von einer Zwangsüberführung der Privatversicherten in die gesetzliche Krankenversicherung. Sie geben selbst zu, dass in diesem Bereich bis zu 68 000 Menschen tätig sind. Erklären Sie doch einmal, was mit diesen 68 000 Arbeitsplätzen ist,
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was mit diesen 68 000 Menschen und ihren Familien ist, was mit diesen 68 000 Existenzen ist. Ihr Vorschlag lautet, man könne diese alle umschulen. Herzlichen Glückwunsch, liebe Linke! Wenn das Ihr Verständnis von Solidarität, wenn das Ihr Verständnis von sozialem Umgang ist, dann kann ich Ihnen nur sagen: Das ist nicht solidarisch, das ist nicht sozial, das ist schlichtweg asozial.
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– Lieber Herr Weinberg, es ist nicht das erste Mal, dass wir darauf hinweisen, dass es in der politischen Debatte zwar einfach ist – gerade bei solch einem kontroversen Thema –, einfache Lösungen zu propagieren, aber dass das die Probleme nicht löst und letztendlich auch nicht dazu führt, dass wir zu Lösungen kommen.
Deshalb sage ich Ihnen ganz offen: Blenden Sie die Bürgerinnen und Bürger nicht immer mit vermeintlich einfachen Ideen! Bieten Sie Lösungen an! Wir zeigen Ihnen doch, was Regierungsarbeit ausmacht. Wir als Union wollen die Krankenversicherung Schritt für Schritt weiterentwickeln, während Sie das System in einem Hauruckverfahren verunstalten wollen. Das ist mit uns nicht zu machen. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. Von uns bekommen Sie dafür keine Zustimmung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Sorge. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/9229 und 19/9233 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 d und 27 f bis 27 j sowie Zusatzpunkte 2 a bis 2 g auf. Es handelt sich hierbei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon das zweite Mal, dass wir heute über Mali sprechen. Wir haben über MINUSMA gesprochen, und wir werden jetzt über das Mandat EUTM Mali sprechen. Das ist ein Ausdruck der Verantwortung, die wir in der internationalen Politik wahrnehmen. Im Zusammenhang mit Mali und der Bekämpfung des Terrorismus geht es viel um Verantwortung, auch um die, die von uns eingefordert wird, und es ist ein gutes Beispiel, dass wir diese auf unterschiedlichen Ebenen wahrnehmen.
Wir tun das in einem Land, das immer noch außerordentlich fragil ist; das hat die Debatte vorhin schon deutlich gemacht. Letztlich hat das schreckliche Massaker in der Nähe von Mopti, das über 160 Menschen das Leben gekostet hat, darunter viele Frauen und Kinder, gezeigt, wie schwierig die Lage in vielen Teilen des Landes vor Ort ist.
Das verdeutlicht aber natürlich auch, wie weit der Weg zu Frieden und Aussöhnung ist und dass wir uns in einer Situation befinden, in der das Land auf internationale Hilfe angewiesen ist und noch eine Zeit lang bleiben wird. Dennoch ist das Ziel unserer Bestrebungen, den Maliern zu ermöglichen, in Zukunft wieder in einem sicheren Land leben zu können und dabei diese Verantwortung selbst ausüben zu können. Das ist der Beitrag, den wir auch mit dieser Mission leisten wollen.
Damit das gelingt, müssen sich zivile und militärische Maßnahmen verzahnen. Das ist genau wie bei MINUSMA außerordentlich wichtig, und das ist auch unser Ansatz. Deshalb gibt es die Zusammenarbeit mit MINUSMA mit Maßnahmen zur Stabilisierung, zur Krisenprävention und zu unserem entwicklungspolitischen Engagement, das es dort gibt, und – nicht zu vergessen – mit der zivilen EU-Mission EUCAP Sahel Mali. Auch das ist ein Bestandteil dieses sogenannten und schon erwähnten vernetzten Ansatzes, den wir dort verfolgen. Mit der EU-Mission EUTM Mali, die ein wichtiger Teil dieses vernetzten Ansatzes ist, werden wir vor allen Dingen dazu beitragen, die Ausbildung und Beratung militärischer Streitkräfte im Land zu verbessern. Wir werden auch damit einen Beitrag zur Stabilisierung leisten.
Das heißt konkret: Die Mission hat ein Trainingszentrum in Koulikoro, nahe Bamako. Dort werden malische Soldatinnen und Soldaten auf verschiedenen Gebieten geschult; dazu gehört auch die Vermittlung von Wissen – auch das ist wichtig und findet in der Debatte viel zu selten Gehör – über humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte.
Die Mission setzt vermehrt auf das Prinzip der „Ausbildung der Ausbilder“. Das heißt, malische Kräfte werden ausgebildet, die dann ihrerseits das Training übernehmen können. EUTM berät darüber hinaus das malische Verteidigungsministerium zu Führung, Logistik und Personalwirtschaft. Auch das ist ein wichtiger Beitrag.
Letztlich ist das Ziel von EUTM, das malische Militär darin zu unterstützen, die Strukturen zu schaffen und die Fähigkeiten und Fertigkeiten auszubilden, die notwendig sind, damit sie irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft die Sicherheit des Landes selber in die Hand nehmen können. Einen perspektivisch sehr wichtigen Beitrag zur Sicherheit leistet – das ist auch schon ein Thema bei MINUSMA gewesen – die gemeinsame Einsatztruppe der G-5-Sahel-Staaten. Die Ausbildung und Beratung dieser gemeinsamen Einsatztruppe ist letztes Jahr auch ein Teil des Mandates von EUTM geworden, und das ist auch vernünftig.
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Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, klar ist aber: Es geht nur um Ausbildung und Beratung. EUTM begleitet weder die malischen Streitkräfte noch die gemeinsame G-5-Truppe in irgendeinen Einsatz.
Wenn eine solche Mandatsverlängerung ansteht, muss man auch fragen: Was ist denn überhaupt erreicht worden? Das ist einiges. Das ist bei MINUSMA heute Morgen schon diskutiert worden. Das ist auch den rund 180 deutschen Soldatinnen und Soldaten zu verdanken, die derzeit im Rahmen der Mission in Mali im Einsatz sind. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle bei ihnen ganz besonders für ihre wichtige, aber auch schwierige Arbeit vor Ort bedanken.
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Das Umfeld, in dem dort gearbeitet wird, ist kein einfaches. Das ist deutlich geworden, als wir vor einigen Wochen noch einmal vor Ort gewesen sind. Ich konnte mir nur eine Woche nach dem Anschlag, den es auf das EU-Trainingslager in Koulikoro gegeben hat, ein Bild von der Lage vor Ort machen, auch davon, wie gut die Mission mit diesem Zwischenfall umgeht, und zwar nicht nur unsere Soldatinnen und Soldaten, sondern auch diejenigen der anderen Staaten, die an der Mission beteiligt sind. Es ist wirklich außerordentlich beeindruckend gewesen, wie vorausschauend und verantwortungsvoll damit umgegangen worden ist und wie versucht wurde, die Zivilbevölkerung in Koulikoro einzubeziehen und mit den Unsicherheiten und Ängsten, die er ausgelöst hat, umzugehen; denn natürlich wird in der Zivilbevölkerung sehr schnell danach gefragt: Werden bei uns jetzt Anschläge verübt? Früher ist das doch nicht der Fall gewesen. Wächst jetzt die Gefahr nur aufgrund der Tatsache, dass ausländische Soldaten da sind? – Aber auch in der Bevölkerung dort wird das Engagement sehr anerkannt.
Deshalb ist für uns klar: Die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten hat Vorrang, hat Priorität. Es geht darum, diese Mission so auszugestalten, dass auch in dieser gefährlichen Situation möglichst wenig passiert und dass die Soldatinnen und Soldaten in der Mission dort und in den Camps, in denen sie sind, ausreichend Schutz haben. Das ist vor Ort auch der Fall.
Deutschland ist der zweitgrößte Truppensteller bei EUTM. Wir stellen derzeit auch den Missionskommandeur. Wir haben letztes Jahr die personelle Obergrenze auf 350 Personen angehoben, um die besondere Aufgabe der Missionsleitung adäquat erfüllen zu können. Diese Obergrenze soll auch für das kommende Jahr bestehen bleiben. Danach können wir Österreich, das die Missionsleitung von uns übernehmen wird, wie angekündigt, entsprechend unterstützen. Dazu finden bereits vorbereitende Gespräche statt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschlands Engagement im Rahmen von EUTM Mali ist, wie ich finde, ein konkretes Beispiel dafür, wie man Verantwortung übernehmen kann. Wir tun dies eingebunden in die Strukturen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union; auch das ist ein wichtiger Aspekt. Wir zeigen damit im Übrigen auch, wie wichtig uns insbesondere in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein gemeinsamer europäischer Ansatz ist.
Meine Damen und Herren, Sicherheit und Stabilität in Mali sind für uns alle von Bedeutung. Das Land hat eine Schlüsselposition in der Sahelregion. Terror, organisierte Kriminalität und Migrationsbewegungen machen an Grenzen nicht halt. Deshalb bitte ich Sie herzlich, die wirklich schwierige Arbeit unserer Soldatinnen und Soldaten vor Ort auch weiter zu unterstützen, indem es eine große Mehrheit für die Fortsetzung dieses Mandates gibt.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Lothar Maier für die Fraktion der CDU/CSU.
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– Für die AfD. Entschuldigung.
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Ich war schon einen Schritt weiter.
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Zumindest stimmt es nicht mehr. – Nach fünf Jahren Einsatz – wir haben heute Morgen schon darüber geredet –: kein Fortschritt. Ich finde, wenn man in fünf Jahren nicht nur das Ziel nicht erreicht hat, sondern von der Erreichung des Ziels noch weiter entfernt ist als am Anfang, dann muss man einen vernünftigen Schluss daraus ziehen
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und darf nicht den Weg gehen, den wir seit anderthalb Jahrzehnten in Afghanistan gehen. Dort stehen wir vor der gleichen Problematik. Es darf sich nicht wiederholen, was andere Länder in solchen Befriedungs- und Kolonialkriegen, wie wir sie in Vietnam, Angola, Mosambik oder in Algerien hatten, erlebt haben. Die lange Dauer hat diejenigen, die diese Kriege führten, weiter von ihrem Ziel entfernt und diesem eben nicht angenähert.
Das Ende dieses Einsatzes ist nicht erkennbar, es ist nicht kodifiziert. Es gibt keine vernünftigen Kriterien für die Zielerreichung. Es kommt noch dazu, dass auch die Mittel, die eingesetzt werden – nicht nur die Truppenstärke, sondern auch die materiellen Mittel –, offensichtlich unzureichend sind. Ich habe bei einer Konferenz in Paris den französischen Generalstabschef Lecointre sagen hören: Die Mission in Mali ist auf gutem Wege, aber die Ausrüstung ist unvollständig. – Er hat das dann zum Glück noch etwas präzisiert. Er sagte: Leider fehlen Hubschrauber und Transportflugzeuge. – Nur: In Mali können Sie einen Krieg ohne diese Mittel überhaupt nicht führen. Es gibt kaum Straßen, es gibt keine Wasserwege, es gibt keine Schienen. Ohne Hubschrauber und Flugzeuge ist dort ein vernünftiger Einsatz ausgeschlossen. Es kommt mir ein bisschen so vor, als wenn ein Admiral sagen würde: Wir haben da eine Seekriegsoperation am Laufen. Läuft gut.
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Leider haben wir keine Schiffe.
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Wir haben – das drückt die Bezeichnung der Mission, EUTM Training Mission, schon aus – die gleiche Situation: Die Kräfte, die wir dort im Einsatz haben, sind für Ausbildungszwecke, für Logistikmissionen, für Sanitätsmissionen zuständig, aber sie beteiligen sich nicht an den Kämpfen. Das überlässt man den Kräften, die aus den anderen G-5-Sahel-Staaten kommen. Es werden – das ist das Ziel der deutschen Kräfte – dort zwei malische Bataillone ausgebildet. Die EUTM bildet insgesamt noch viel mehr aus. Es gibt sehr hohe Zahlen, und man wundert sich: Warum ist das Ergebnis nicht sichtbarer, wenn tatsächlich so viele malische Kräfte ausgebildet worden sind?
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Es war von 10 000 Soldaten die Rede. Die Zahl 20 000 habe ich auch schon gehört. Sind das wirklich die Soldaten, die man braucht, um diese Befriedungsmission durchzuführen? Das Problem hatte man ja auch in Afghanistan. Auch dort waren die Ausbildungsergebnisse zu weit von dem entfernt, was man erwartet hat.
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Das Land Mali ist kein Nationalstaat. Das ist eine Gegebenheit. Es ist ein von Kolonialmächten zurechtgeschusterter Staat mit einer sehr heterogen zusammengesetzten Bevölkerung, mit Völkern, die sich zum Teil, auch historisch gesehen, sehr schlecht miteinander vertragen.
Der Norden von Mali ist von der malischen Regierung – ich hatte das schon angeführt – systematisch vernachlässigt worden. Das geht auch weiter. Die malische Regierung sagt sich: Da sind ja nun die Europäer mit ihren Missionen im Einsatz. Die haben das Geld dafür. Da brauchen wir gar nicht mehr viel zu tun, um die Region zu befrieden.
Das Land steht vor einer demografischen Katastrophe; das sagen die malischen Politiker selber. Die Bevölkerung hat sich innerhalb von vier Jahrzehnten vervierfacht. Bis zum Jahr 2050 soll sie angeblich 60 Millionen Einwohner umfassen – in einem Land, das viel weniger als die Hälfte dieser Zahl ernähren kann.
Die Grenzen sind offen und auch nicht kontrollierbar, und einer der wichtigsten Akteure in der Gegend, Algerien, hält sich vornehm zurück und beteiligt sich an keiner dieser Missionen.
Ich habe den Eindruck – das ist auch der Eindruck meiner Fraktion –: Es gibt kein wirkliches deutsches, nationales Interesse an der Fortsetzung dieses Kampfes. Ganz im Gegenteil: Wir sind dafür, diesen aussichtslos gewordenen Kampf zu beenden, die europäischen und die deutschen Kräfte zurückzuziehen und die Lehren aus der Geschichte zu ziehen.
Danke schön.
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Nächster Redner ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Peter Tauber.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Mission in Mali, über die wir heute diskutieren, wird derzeit von einem Deutschen geführt. Und wenn man mit Brigadegeneral Peter Mirow redet, dann bekommt man, wie man das bei einem deutschen Offizier gewohnt ist, ein sehr klares Lagebild vermittelt: Die Sicherheitslage in diesem Land ist in einigen Teilen nach wie vor schwierig. Der Friedensprozess stockt. Die ethnischen Konflikte werden instrumentalisiert, politisch, aber auch religiös. Der Ausbildungsstand der malischen Kräfte entspricht nicht dem, was wir uns wünschen – trotz der bereits erfolgten Ausbildung von gut 13 000 Mann. Es kommt zu Übergriffen. Und deswegen ist es auch so wichtig, dass neben der Vermittlung des militärischen Handwerkszeugs auch die Frage der Menschenrechte im Rahmen der militärischen Ausbildung immer wieder thematisiert wird.
Was ist das Ziel? Das Ziel ist die Befähigung der malischen Kräfte, selbst für die Sicherheit in ihrem Land zu sorgen, um so das Vertrauen der Menschen dort in den eigenen Staat zu gewährleisten und zu stärken.
Was ist Gegenstand der Ausbildung? Zwei Beispiele: Im Rahmen der Ertüchtigungsinitiative erhalten die malischen Kräfte derzeit geschützte Transportfahrzeuge. Die sind notwendig, um die großen Räume dort entsprechend zu sichern und zu überwachen. Aber mit den Fahrzeugen ist es natürlich nicht getan. Die Soldaten dort erhalten eine taktische Ausbildung, die sie in die Lage versetzt, dieses Gerät auch effektiv militärisch zu nutzen. Dieser Lehrgang läuft derzeit. Im Anschluss – von Ende April bis Mitte August – findet ein weiterer Lehrgang der Kompaniechefs statt. Auch dort wird deutlich: Es geht darum, die malischen Kräfte in die Lage zu versetzen, ihre Soldaten selbst zu führen.
Alle diese Maßnahmen sind schon aus sich heraus gerechtfertigt. Ich will den Blick aber noch einmal weiten: Wir haben heute schon über das Mandat MINUSMA gesprochen. Das ist Teil einer umfassenden Strategie Deutschlands und Europas, gemeinsam mit afrikanischen Nationen dafür zu sorgen, dass unser Nachbarkontinent bei allen Problemen, die er hat, auch die Perspektiven und Chancen erkennt. Und das ist in der Tat deutsches, nationales Interesse und europäisches Interesse.
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Ausdruck findet das auch in der Idee der G‑5-Sahel-Staaten, eine Kooperation, die es in Afrika so noch nicht gegeben hat. Wir können uns bei allen schwierigen Entwicklungen dort die Folgen für Europa, sollte diese Mission nicht zum Erfolg führen, jederzeit ausmalen. Deswegen noch einmal: Neben allen menschlichen Schicksalen und aller humanitären Not ist auch unser sicherheitspolitisches Interesse, dort für eine gute und stabile Entwicklung zu sorgen.
Was entscheidet der Deutsche Bundestag? Er verlängert das Mandat bis Ende Mai des Jahres 2020. Die Obergrenze für diesen Einsatz liegt bei 350 Soldatinnen und Soldaten. Die Kosten betragen circa 40 Millionen Euro.
Wir sagen auch klar: Obwohl es eine Ausbildungsmission ist, ist dieser Einsatz für unsere Soldatinnen und Soldaten nicht ohne Risiken. Der Angriff auf das Ausbildungszentrum in Koulikoro Ende Februar hat das noch einmal verdeutlicht. Wichtig ist, auch noch einmal zu betonen: Wir sind dort nicht alleine; wir sind dort gemeinsam mit 22 anderen europäischen Nationen. Und wer immer fragt, wo man die Armee der Europäer eigentlich sehen kann: Dort sieht man sie, in diesem Einsatz, bei dieser Mission, die die Europäer gemeinsam, Seite an Seite, führen.
Mir ist zum Schluss wichtig, ein Dankeschön zu sagen, ein Dankeschön den Männern und Frauen im Einsatz, den Familien, die unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz tragen, und den Abgeordneten, die nicht nur diesem Einsatz zustimmen, sondern auch hinter unseren Streitkräften stehen. Das haben die Männer und Frauen verdient. Ich wünsche ihnen nach dem Einsatz eine sichere Rückkehr in die Heimat.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, möchte ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten des Deutschen Bundestages bekannt geben: abgegebene Stimmzettel 635, ungültige Stimmzettel 1. Mit Ja haben gestimmt 210 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 393 Abgeordnete, es gab 31 Enthaltungen. Der Abgeordnete Gerold Otten hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen nicht erreicht. Er ist somit nicht zum Stellvertreter des Präsidenten gewählt.
Wir fahren in der Debatte fort. Ich rufe die nächste Rednerin auf: Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann für die Fraktion der FDP.
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Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! EUTM Mali ist das kleinere Mandat, aber es ist, wie gerade ausgeführt wurde, deswegen nicht weniger gefährlich, im Gegenteil.
Vor einigen Wochen waren wir mit einigen Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages vor Ort, und zwar unmittelbar nach dem Attentat in dem Camp Koulikoro. Man muss sich das einmal vorstellen: Es sind zwei Fahrzeuge vorgefahren, die in die Luft gesprengt werden sollten. Bei dem einem ist das tragischerweise geglückt, bei dem anderen nicht, sodass zum Glück nicht beide explodiert sind. Diese Methode kennen wir übrigens aus Afghanistan; in afrikanischen Gebieten ist diese Form von Terror bis dato noch nicht so oft aufgetreten. Es ist nur dem Instinkt der Soldaten und Soldatinnen vor Ort zu verdanken, dass es zu keiner Tragödie kam, und das ist insbesondere den Spaniern zu verdanken, die dieses Camp schützen und unglaublich gut reagiert haben müssen. Deswegen ist es Zeit, den deutschen Soldatinnen und Soldaten, aber eben auch den Kameradinnen und Kameraden der anderen Länder – in diesem Fall den Spaniern –, Danke zu sagen, dass sie dieses Camp so fantastisch geschützt haben.
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Wir waren dort und haben die Ausmaße dieses Angriffs gesehen. Das lässt einen ja nicht einfach ruhen. Es ist wirklich ein Wunder, dass es keine Toten und keine Verletzten gab.
Meine Damen und Herren, das war auch ein Angriff auf die malische Armee. Die malischen Armeeangehörigen leben dort mit ihren Familien; das Dorf dockt unmittelbar an diesem Camp an und ist ebenfalls auf diesem Gelände. Auch sie hätte es treffen können.
Wir wissen aus Gesprächen, dass die malischen Soldaten dankbar dafür sind, dass wir helfen und sie ausbilden; denn es ist natürlich deren Aufgabe, ihre eigene Bevölkerung auf Dauer zu schützen, und da reicht es seitens der malischen Armee nicht, die Milizen zu entwaffnen und die Bevölkerung sich selbst zu überlassen. Das Resultat haben wir mitbekommen: Es gab einen schrecklichen Anschlag – das wurde gesagt – mit 160 Toten, überwiegend Frauen und Kindern.
Meine Damen und Herren, wenn man sich mit Mali beschäftigt, sieht man: Dieses Land wächst unvorstellbar schnell. 1990 hatte es noch 8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, heute sind es 18,5 Millionen. Dabei geht es ums Überleben, um den Kampf um genügend Wasser. Neben ethnischen Kämpfen geht es schlicht um den Überlebenskampf. Wie soll das in einem Land, das so schnell wächst – jede Frau bekommt im Schnitt sieben Kinder –, überhaupt gelingen?
Aber auch in diesem Fall gilt der vernetzte Ansatz. Wir brauchen Diplomatie, um den Frieden zu unterstützen. Wir brauchen die Bundeswehr und die Soldatinnen und Soldaten, um dieses Land zu sichern. Und wir brauchen Entwicklungshilfe. Ich wünsche mir, wir wünschen uns als Freie Demokraten, dass in diesem Land noch wesentlich mehr in Bildung investiert wird. Es gibt unvorstellbar viele Analphabeten. Wenn man mit Blick auf eine Geburtenregelung an die Frauen herantreten will, kann das nur über Bildung geschehen.
Unsere Aufgabe hier im Deutschen Bundestag ist es, die deutsche Öffentlichkeit an dieser Stelle mitzunehmen, ihr zu erklären, was Soldatinnen und Soldaten aus Deutschland in Westafrika machen. Es ist unsere Aufgabe, klarzumachen, dass, wenn diese Gegend stabil bzw. stabiler ist, das auch für uns in Deutschland ein Segen ist. Deswegen werden wir als Freie Demokraten diesem Mandat zustimmen.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke Christine Buchholz.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor sechs Wochen war auch ich mit anderen Abgeordneten gemeinsam in Mali. Im Vergleich zu früheren Besuchen fiel mir auf Anhieb auf: Die Sicherheitslage dort hat sich dramatisch verschlechtert. Wir waren unter anderem in Koulikoro, dem zentralen Standort der von der Bundeswehr geführten Ausbildungsmission EUTM Mali. Koulikoro war 2014 noch absolut sicher. Doch kurz bevor wir in diesem Jahr eintrafen, verübten Attentäter mit zwei sprengstoffbeladenen Fahrzeugen einen komplexen Angriff auf die dort stationierten Truppen. Der Anschlag zeigt: Die Unsicherheit in Mali weitet sich aus, zunächst vom Norden ins Zentrum und nun vom Zentrum in den Süden des Landes. Ich glaube, man muss ganz klar sagen: Die Rechnung „Mehr Soldaten bedeuten mehr Sicherheit“ geht offenkundig nicht auf.
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Es sind auch die unterschiedlichen internationalen Militäreinsätze, die die Lage in Mali haben weiter eskalieren lassen. Deshalb sagt Die Linke: Es ist Zeit, die Bundeswehr aus Mali abzuziehen.
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Die verarmte Bevölkerung leidet dabei am meisten unter der Militarisierung des Konflikts. Am 23. März dieses Jahres wurden mindestens 134 Zivilisten der Ethnie der Peuls in drei Ortschaften auf bestialische Art und Weise von Bewaffneten einer anderen Ethnie umgebracht. Was sagt die Bundesregierung im vorliegenden Antrag zur Lage in dem betroffenen Gebiet? Sie behauptet, die malische Regierung unternehme im Zentrum des Landes – Zitat – „ernsthafte Bemühungen, ethnische Konflikte einzudämmen“. Ich sage: Die Bundesregierung lenkt von der Verantwortung der malischen Regierung und der malischen Streitkräfte ab, um die eigene Ausbildungsmission zu rechtfertigen, und das kann doch wohl nicht wahr sein.
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Die Linke in Mali und zahlreiche Menschenrechtsaktivisten haben immer wieder davor gewarnt, dass die malische Regierung den Eindruck erwecke, alle Peuls seien Terroristen. In dieser Atmosphäre eskalieren die ethnischen Spannungen. Auf den Schutz durch die malische Armee, die seit sechs Jahren auch von der Bundeswehr ausgebildet wird, können die Peuls dabei nicht rechnen; denn die malische Armee ist selbst in den Konflikt zwischen den Ethnien verstrickt.
Ich habe das übrigens hier im Plenum vor einem Jahr gesagt und darauf hingewiesen, dass die malische Armee Massaker an Peuls verübt. Die UNO hat das inzwischen bestätigt. Aus einem UN-Bericht geht hervor, dass die malische Armee bis zum Sommer letzten Jahres in mindestens 58 Fällen Menschenrechtsverletzungen begangen hat und mindestens 44 Personen außergerichtlich exekutiert hat. Seitdem ist die Gewalt weiter eskaliert, und die Zahl der Binnenflüchtlinge hat sich im letzten Jahr verdreifacht. Ich wiederhole: Die malische Armee ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Wer diese Armee weiter ausrüstet, berät und militärisch ausbildet, macht sich mitverantwortlich.
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Weder internationale Militärausbilder noch Kampftruppen bringen Frieden nach Mali. Die Lösung liegt im Land selbst. Dort gibt es sehr wohl Kräfte, die für Frieden, Gerechtigkeit und auch den Ausgleich zwischen den Ethnien kämpfen. Es gibt in Mali eine aktive Zivilgesellschaft. Es gibt die linke Partei SADI. Und es gibt Bürgerrechtsorganisationen wie Kisal, die auf die Stärkung bestehender traditioneller Mechanismen zur Konfliktregelung zwischen Viehzüchtern und Ackerbauern hinwirken. Es gibt auch Gewerkschaften; sie haben sich übrigens zu dem Zeitpunkt, als wir da waren, gerade in einem groß angelegten Streik der Lehrkräfte für mehr Gehalt befunden. Es sind diese Kräfte, die Mali gerechter und friedlicher machen, nicht die Bundeswehr.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Keul für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die malische Armee ist nach wie vor nicht in der Lage, das eigene Land zu verteidigen, und benötigt deshalb immer noch Ausbildung und Unterstützung.
Wir Grüne haben die Ausbildungsmission EUTM seit 2013 unterstützt. Europa hat nämlich aus einem doppelten Grund eine Verantwortung für Mali. 2011 war die malische Armee ein wehrloser Haufen ohne Ausrüstung und Fähigkeiten. Die Soldaten waren den aus Libyen zurückkehrenden Tuareg-Söldnern hilflos ausgeliefert. Diese waren mit den modernsten Waffen aus dem Arsenal Gaddafis ausgestattet, die Europäer ihnen geliefert hatten. Erst hat also die Rüstungsindustrie ein gutes Geschäft mit den Waffenlieferungen an Gaddafi gemacht. Dann hat die NATO das Land bombardiert, ohne sich im Geringsten um die Folgen dieses Krieges zu scheren. Im Januar 2012 wurden in der Nähe von Kidal 100 Soldaten der malischen Armee in ihrem Camp brutal ermordet. Welche der kriminellen oder islamistischen Gruppen dafür verantwortlich war, weiß man bis heute nicht. Die malischen Soldaten und ihre Angehörigen waren jedenfalls danach nicht mehr bereit, sich massakrieren zu lassen, zogen nach Bamako und putschten im März 2012.
Wie sieht es jetzt, nach sechs Jahren europäischer Ausbildungsmission, aus? In der Mandatsbegründung selbst heißt es:
Die Fortschritte im Bereich der Sicherheitskräfte sind … bislang begrenzt.
Was aus den in Koulikoro ausgebildeten Soldaten wird und wo sie im Einsatz sind, kann niemand nachverfolgen, weil es kein Personalmanagement gibt. Das ist aber nicht das Einzige, was fehlt. Das von der malischen Regierung zu stellende Material ist eine Katastrophe. Fahrzeuge sind nicht fahrtauglich, und Werkzeug für Reparaturarbeiten ist nicht vorhanden.
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In Brüssel liegt bereits eine Wunschliste für europäisches Ausbildungsmaterial für Mali vor. Ich muss sagen: Wenn wir schon diesen Aufwand betreiben, sollten wir nicht am falschen Ende sparen.
Der Aufwand für Logistik und Sicherung der Ausbilder steht leider ohnehin in keinem Verhältnis. Von aktuell 170 Bundeswehrangehörigen sind gerade einmal sieben mit der eigentlichen Ausbildung beschäftigt, allesamt ohne Französischkenntnisse. Ich hatte bei meinen Gesprächen durchaus den Eindruck, dass Sprachkurse als Einsatzvorbereitung gerne angenommen würden. Ich finde, ein solches Angebot sollte eine Selbstverständlichkeit sein.
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Was allerdings die Kosten-Nutzen-Rechnung endgültig zum Kippen bringen könnte, ist die Sicherheitslage. Der komplexe Angriff vom 24. Februar dieses Jahres auf die Offiziersschule in Koulikoro wird Sicherheitsvorkehrungen in völlig neuen Dimensionen erforderlich machen. Trotz aller Vorkehrungen ist nicht auszuschließen, dass die Militärpräsenz der Europäer in unmittelbarer Nähe zur Stadt selbst zu einem Sicherheitsrisiko für die Zivilbevölkerung wird. Das derzeit führende Islamistennetzwerk hat sich nicht nur zu dem Anschlag bekannt, sondern auch die „fremden Besatzer“ zum Anschlagsziel erklärt. Es war reiner Zufall, dass der Anschlag missglückte und die Angreifer nicht ins Camp eindringen konnten. Vor diesem Hintergrund gehört die Mission gründlich auf den Prüfstand gestellt.
Wenn wir für sieben Trainer insgesamt 170 Soldaten nach Mali schicken müssen, die dann auf unzureichendes Material stoßen und durch ihre Präsenz im Land ein Angriffsziel für die Islamisten bieten, muss die Frage erlaubt sein, ob das der richtige Weg ist.
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Ich habe da inzwischen erhebliche Zweifel. Es drängt sich doch die Frage auf, ob wir die malischen Offiziere nicht besser und effizienter in Europa ausbilden könnten. Das scheint mir nicht nur günstiger zu sein, was den Kostenaufwand anbetrifft, sondern auch im Hinblick auf die Sicherheitslage.
Eines soll jedenfalls nicht als Grund herhalten: die Symbolik einer EU-Präsenz um ihrer selbst willen. Wir dürfen unsere Soldatinnen und Soldaten nur in einen solchen Einsatz schicken, wenn es wirklich der Ausbildung der malischen Armee zugutekommt. Wenn es nur darum geht, zu beweisen, dass die EU in Afrika irgendwie dabei ist, wäre das nicht zu legitimieren.
Selbst wenn Sie diesmal noch die Unterstützung der Grünenfraktion für diese Mission bekommen sollten, muss sich im nächsten Jahr einiges ändern, sonst verliert diese Mission langfristig endgültig ihre Legitimität.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist Dr. Wolfgang Stefinger.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gar keine Frage, dass die Lage in Mali weiterhin prekär ist, und das trotz des bestehenden Friedensabkommens. Kämpfe und Anschläge sind an der Tagesordnung. Insbesondere in der Region Zentralmali sind Terror und organisierte Kriminalität sowie ethnische und soziale Konflikte an der Tagesordnung.
Ja, die Lage ist schwierig. Aber wir stehen vor der Aufgabe, zu entscheiden: Entweder überlassen wir das Land sich selbst, oder wir übernehmen Verantwortung und versuchen, die Regierung zu unterstützen, vor allem dabei, das Friedensabkommen umzusetzen. Das ist in unserem eigenen Interesse.
Es ist in unserem Interesse, das Land zu stabilisieren, und vor allem auch, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Warum ist das so? Mali ist Kernland in der Sahelzone. Das Land hat eine Schlüsselrolle, eine Schlüsselrolle für Stabilität und für die Entwicklung in der gesamten Region.
Instabilität befördert Konflikte. Instabilität befördert das Agieren von Gruppen im rechtsfreien Raum. Das alles hat Auswirkungen auf Deutschland und auf Europa. Armut, Verlust von staatlicher Autorität und Kontrolle befördern Kriminalität und Terror. Die Folge von Kriminalität und Terror, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind Fluchtbewegungen, Fluchtbewegungen innerhalb des Kontinents, aber auch darüber hinaus. Deswegen wollen wir die Lage stabilisieren und die Region unterstützen. Wir wollen die Lebensbedingungen der Menschen verbessern und damit auch die Fluchtursachen bekämpfen.
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Jetzt fragen Sie sich zu Recht: Wie geht das? Selbstverständlich mit Sicherheit, mit einem stabilen Umfeld. Da komme ich zur Entwicklungspolitik. Es geht uns auch um die Bekämpfung von Hunger und Armut. Es geht uns auch – die Kollegin hat es eben angesprochen – um Investitionen in Bildung.
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Es geht uns auch um die Gesundheitsversorgung. Aber das alles ist nur in einem stabilen und sicheren Umfeld möglich.
Wir sehen bereits heute, dass die Arbeit im Bereich Gesundheits- und Wasserversorgung vor Ort unproblematischer erfolgen kann als beispielsweise die Errichtung einer Kommunalverwaltung oder die Steuererhebung. Hier kommt es häufiger zu Bedrohungen durch islamistische Gruppen. Um all dies – Bekämpfung von Hunger, Investitionen in Bildung, Sicherstellung der Gesundheits- und Wasserversorgung, aber auch Aufbau eines funktionierenden Staatssystems – bewerkstelligen zu können, brauchen wir ein stabiles Umfeld, und hierfür ist EUTM Mali wichtig.
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EUTM Mali ist wichtig für den Friedensprozess, und es ist auch wichtig für die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir unterstützen die Bemühungen zur Versöhnung. Gestern sind die Regierungsverhandlungen zu Ende gegangen. Dort haben wir noch einmal deutlich gemacht, dass die malische Regierung natürlich auch ihren Beitrag dazu leisten muss – das ist selbstverständlich. Aber heute muss von uns auch das Signal ausgehen, dass wir dieses Land nicht alleinlassen, trotz der Herausforderungen, die selbstverständlich immens bleiben. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte ich Sie um Ihre Unterstützung. Es ist ein weiter Weg, aber ich bitte Sie: Lassen wir Mali nicht allein!
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Letzte Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU Gisela Manderla.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Massaker in dem Dorf in Zentralmali vor gut zwei Wochen hat der Weltgemeinschaft wieder einmal vor Augen geführt, wie fragil die Sicherheitslage in Mali und der gesamten Sahelzone leider immer noch ist. Staatliche und politische Instabilität, insbesondere aufgrund mangelnder Kontrolle durch die Zentralregierung, ist nach wie vor eines der Kernprobleme in Mali. Auch ist die malische Armee immer noch nicht stark genug, um die zahlreichen Herausforderungen – in erster Linie die Bekämpfung von Terroristengruppen, organisierter Kriminalität sowie Drogen- und Menschenschmuggel – bewältigen zu können.
Zwar war die Einrichtung einer gemeinsamen Einsatztruppe durch Burkina Faso, Mali, Mauretanien, Niger und Tschad vor zwei Jahren ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Eine Stabilisierung der Sahelregion kann hingegen nur erzielt werden, wenn Mali als Kernland die genannten Probleme gezielt und nachhaltig einer Lösung zuführen kann. Gelingt dies nicht, hätte dies nachteilige Effekte nicht nur für die Region, sondern für große Teile Afrikas. Für eine Beförderung der positiven Entwicklung ist zwingend erforderlich, dass das von den Konfliktparteien Mitte 2015 unterzeichnete Friedensabkommen umgesetzt wird. Damit dies gelingt, meine sehr verehrten Damen und Herren, bedarf es nicht nur zahlreicher Kompromisse zwischen allen Beteiligten, sondern insbesondere auch der Schaffung staatlicher Strukturen und eines effektiven Gewaltmonopols. Dies würde einen entscheidenden Beitrag zur Stärkung des Vertrauens der malischen Bevölkerung in die Zentralregierung leisten.
Um die bisherigen, durchaus positiven Ansätze zu verstetigen und nachhaltige Bedingungen für Frieden und Stabilität zu schaffen, ist Mali jedoch auch weiterhin auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Die Bundeswehr sorgt mit ihrem Engagement im Namen der Mission dafür, dass die malische Armee in Zukunft eigenständig Sicherheit im Land und an den Landesgrenzen gewährleisten kann. Dabei spielt Deutschland eine führende Rolle, nicht zuletzt aufgrund der Übernahme des Dienstpostens des Missionskommandeurs im November letzten Jahres.
Seit dem Start des Mandats 2013 konnte durch das Zusammenspiel aus Ausbildung und Beratung durchaus eine Stärkung der malischen Armee erreicht werden. Eines der Hauptziele besteht auch weiterhin darin, die Streitkräfte in die Lage zu versetzen, eigenständig militärische Einsätze zu planen und umzusetzen. Mittelfristig soll der Schwerpunkt von EUTM Mali im Bereich der Beratung liegen, während die militärische Grundlagenausbildung eigenständig von den malischen Streitkräften organisiert werden soll.
Meine Damen und Herren, wichtig ist, dass die Präsenz von Ausbildungspersonal im Rahmen der Mission auch weiterhin klaren Vorgaben folgt. Der Schutz der dort eingesetzten Soldatinnen und Soldaten hat für uns oberste Priorität.
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Als Vorsitzende der Katholischen Arbeitsgemeinschaft für Soldatenbetreuung wünsche ich mir sehr, dass wir es endlich schaffen, für unsere Soldaten und Soldatinnen eine Oase in Mali zu schaffen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Das war der letzte Redebeitrag in dieser Debatte. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8971 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode hier im Deutschen Bundestag eine intensive Debatte über die Beihilfe zum Suizid geführt und an deren Ende mit großer Mehrheit der Abgeordneten für ein Verbot der geschäftsmäßigen, also einer auf Wiederholung angelegten, Förderung der Selbsttötung gestimmt.
Nun hat das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 2. März 2017 entschieden, dass schwer und unheilbar Erkrankte in extremen Ausnahmesituationen einen Anspruch auf Medikamente zur schmerzlosen Selbsttötung haben könnten. Nach den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes sei es grundsätzlich nicht möglich, den Erwerb eines Betäubungsmittels zum Zweck der Selbsttötung zu erlauben. Hiervon sei aber unter Berufung auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Fällen einer extremen Notlage eine Ausnahme zu machen. Und dann benennt das Bundesverwaltungsgericht diese extremen Ausnahmen im Einzelnen, insbesondere wenn die schwere und unheilbare Erkrankung mit gravierenden körperlichen Leiden, insbesondere starken Schmerzen, verbunden ist, die bei dem Betreffenden zu einem unerträglichen Leidensdruck führen und nicht ausreichend gelindert werden können.
Aus dieser Situation hat die FDP jetzt den Vorschlag eines Bescheidungsverfahrens abgeleitet, bei dem man im Grunde genommen einen Antrag an ein Amt, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, stellen kann, und dann ergeht in diesem Bescheidungsverfahren ein amtlicher Bescheid darüber, ob einem ein tödliches Arzneimittel abgegeben werden kann oder nicht.
Nun muss man sehen, dass dieser Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ein Sachverhalt zugrunde liegt, der sich im Jahr 2002 ereignet hat. Die Betroffene verstarb im Februar 2005. Deshalb ist maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt, der dem Verpflichtungsbegehren zugrunde liegt, der Zeitpunkt, zu dem der Tod der Betroffenen eingetreten ist.
Das Bundesverwaltungsgericht selbst hat die in einem palliativ begleiteten Behandlungsabbruch bestehende Alternative gesehen und die Verpflichtung des BfArM danach ausgerichtet. Stehen diesem Weg nicht eventuelle Grenzen der Palliativmedizin oder sonstige Umstände entgegen, so schließt der Senat des Bundesverwaltungsgerichts die Erteilung einer Erlaubnis zum Erwerb eines tödlichen Betäubungsmittels aus. Geht man davon aus, dass jedenfalls heute Menschen in einer Situation wie der der damaligen Betroffenen dieser Weg in der Palliativmedizin offensteht, so hätte es damit sein Bewenden, so das Bundesverwaltungsgericht selbst.
Deswegen begrüße ich es ausdrücklich, und wir begrüßen es auch als Fraktion sehr, dass das Bundesministerium für Gesundheit sowohl unter Hermann Gröhe als Minister als auch unter Jens Spahn die Kompetenz des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte nicht darin sieht, Selbsttötungen durch einen Verwaltungsakt aktiv zu unterstützen. Wir finden das in dem konkreten Fall mehr als nachvollziehbar. Es zeugt auch von Respekt vor der Entscheidung, die der Deutsche Bundestag selbst getroffen hat.
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Es wäre ja hochgradig widersprüchlich, einerseits zu sagen: Wir unterbinden die auf Wiederholung gerichtete Abgabe von Arzneimitteln durch Ärztinnen und Ärzte, die sich mindestens auf eine persönliche Begleitung und Behandlung der Kranken einlassen, die die gesamte psychologische Situation, vielleicht auch die familiäre Situation ganz genau kennen und die auch die Möglichkeiten der Therapie beurteilen können. Da unterbinden wir das, und dann machen wir das für den Staat möglich, nämlich in einem Bescheidungsverfahren durch eine Behörde.
Wie soll dieses Bescheidungsverfahren denn ablaufen? Was hat das denn mit menschlicher Begegnung zu tun? Ich meine, dass man zu diesem Punkt sagen muss: Wir haben, bevor wir über die Suizidassistenz entschieden haben, auch entschieden, mit dem Hospiz- und Palliativgesetz jedermann die Alternative zur Verfügung zu stellen, auf Palliativmedizin zurückgreifen zu können. Und angesichts dieser Alternative müsste heute das Bundesverwaltungsgericht selbst in dem konkreten Fall zu dem Ergebnis kommen, dass dieser Anspruch, der für 2002 und 2005 vielleicht gebilligt worden sein mag, heute zu verweigern wäre.
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Deswegen schützt die Entscheidung des Bundesministers für Gesundheit das, was der Rechtsprechung, auch den Kriterien des Bundesverwaltungsgerichts und erst recht dem, was der Deutsche Bundestag in der Zwischenzeit beschlossen hat, entspricht. Deswegen bitte ich darum, den FDP-Antrag abzulehnen.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Detlev Spangenberg.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Rechtssicherheit für schwer und unheilbar Erkrankte in einer extremen Notlage schaffen“, so der Antrag der FDP. Wir sprechen hier über ein hochsensibles Gebiet. Unfassbares Leid, Lähmungen, Krebserkrankungen in unvorstellbaren Ausmaßen: eine nicht nachvollziehbare Situation für diejenigen, die nicht betroffen sind. Ich denke, man sollte durchaus darüber nachdenken, ob hier nicht allein die eigene, nicht von anderen zu beurteilende Wahrnehmung des Betroffenen zu dem eigenen Zustand gilt.
Dabei ist nicht darauf abzustellen, was die Medizin heute an lebensverlängernden Maßnahmen ermöglicht. Palliative Medizin ist nicht nur eine Alternative, sondern auch, parallel dazu zu sehen, die Suizidbeihilfe zu verlangen, so einige Meinungen auch in dieser Diskussion.
Ich will auf die Probleme eingehen, die es hier geben kann. Erstens: der Begriff der sogenannten aktiven Sterbehilfe. Wir haben die indirekte Sterbehilfe, die nach § 34 Strafgesetzbuch als Notstand erlaubt sein kann – allerdings muss da die Tatherrschaft beim Suizidenten selbst liegen –, oder die direkte Sterbehilfe als Tötung auf Verlangen, strafbar nach § 216 Strafgesetzbuch. Hier sagen auch einige Stimmen: Diese Situation ist rechtlich ungereimt. Die Haupttat – sich selber umzubringen – ist erlaubt; die Beihilfehandlung ist strafbar, obwohl die Willenserklärung eindeutig und unmissverständlich vorliegt. Auch das wird diskutiert.
Wir haben ein zweites Problem: die Musterberufsordnungen der Ärzte. In vielen Landesärztekammern ist es den Ärzten verboten, bei Suizid Beihilfe zu leisten. Das wiederum bringt viele Ärzte in Probleme und Gewissensnöte und wird ebenfalls diskutiert.
Nun haben wir, was wir eben schon teilweise hörten, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2017. Das Gericht bezieht sich auf die Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes, und zwar auf die Würde und das Persönlichkeitsrecht. Unter Persönlichkeitsrecht wird dabei das Recht eines schwer und unheilbar Kranken verstanden, selbst zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt er sein Leben beenden kann. Voraussetzung ist natürlich der freie Wille, über den er noch verfügt und den er dabei auch wirklich deutlich äußern kann.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hätte prüfen müssen, ob eine Ausnahmesituation vorlag oder nicht. Mit Hinweis auf § 5 Absatz 1 Nummer 6 Betäubungsmittelgesetz wurde das abgelehnt.
Nun hat das Bundesministerium für Gesundheit durch einen Nichtanwendungserlass dem Institut untersagt, dieses Urteil umzusetzen, über das wir eben schon gesprochen haben, und die Medikamente zur Verfügung zu stellen. Auch dies gilt als eine sehr umstrittene Entscheidung des Bundesministeriums für Gesundheit.
§ 217 Absatz 2 Strafgesetzbuch ist ebenfalls problematisch, weil hier der Begriff „geschäftsmäßig“ hereinkommt. Vielleicht hat man sich am Handelsrecht orientieren wollen, wo ja die Begriffe für ein Gewerbe dann definiert sind mit Gewinnerzielungsabsicht, Teilnahme am öffentlichen Verkehr usw. Die Problematik ist, dass schon ein zweimaliges Handeln, was eigentlich erlaubt wäre, dann bereits strafbar sein könnte.
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– So wird zumindest diskutiert.
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Der Hintergrund ist natürlich das Wichtigste. Die Betroffenen suchen aber einen Ausweg – und die Betroffenen dürfen hier nicht alleingelassen werden –, und was machen sie? Sie suchen ihn außerhalb Deutschlands; das ist das Problem. Zwischen 2008 und 2012 haben sich nach der Statistik 268 Menschen aus Deutschland in der Schweiz bei der Selbsttötung assistieren lassen – das kann auch nicht der Ausweg sein –, so auch die unheilbar Erkrankte, von der wir eben gehört haben, im Jahre 2005.
Meine Damen und Herren, die AfD wird sich bei diesem Antrag enthalten, mit der Begründung, dass beim Bundesverfassungsgericht viele Entscheidungen derzeit noch anstehen und wir der Meinung sind, um bei dieser schweren Entscheidung etwas klar zu formulieren, sollten wir die Begründung dort noch abwarten. Die AfD-Fraktion ist bereit, fraktionsübergreifend an einem Antrag/Gesetzentwurf mitzuwirken.
Recht vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Martina Stamm-Fibich.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Muss der Staat einem schwer und unheilbar kranken Menschen, der sterben möchte, ein tödliches Medikament zugänglich machen? Diese Frage berührt Verfassungsgrundsätze, und es geht um die Menschenwürde und das Recht auf Selbstbestimmung, das heißt auch das Recht, seinem Leben freiwillig ein Ende zu machen.
Die Frage ist nun, welche Rolle der Staat dabei spielen soll. Darf der Staat Suizid unterstützen und, wenn ja, unter welchen Umständen? Das Bundesverwaltungsgericht hat mit seinem Urteil vom März 2017 festgestellt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht das Recht eines schwer und unheilbar kranken Menschen umfasst, zu entscheiden: Wie und wann soll mein Leben enden? Laut Urteil muss das Betäubungsmittelgesetz deshalb so ausgelegt werden, dass der Medikamentenerwerb für den Suizid möglich ist. Voraussetzung ist aber das Vorliegen einer schweren und unheilbaren Erkrankung sowie einer extremen Notlage, es muss ein unerträglicher Leidensdruck vorliegen, der nicht ausreichend gelindert werden kann. Nur wenn es keine andere zumutbare Möglichkeit statt des Suizids gibt, muss das Arzneimittel für diesen Suizid zur Verfügung gestellt werden. Es geht also nach diesem Urteil nicht mehr um die Frage des Ob, sondern der Staat muss in Ausnahmefällen den kranken Menschen dieses Medikament zur Verfügung stellen.
Beim BfArM liegen hundert Anträge auf Erwerb eines tödlichen Medikaments zur Selbsttötung vor. Diese Anträge werden aktuell nicht bearbeitet. Zum einen ist es gut möglich, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich strafbar machen würden, zum anderen sind weder die anzulegenden Entscheidungskriterien noch das Entscheidungsverfahren geklärt. Genau darüber müssen wir uns aber in einer breiten, auch gesellschaftlichen und ethischen Debatte verständigen.
Da, wo Grundrechte von Fragen von Leben und Tod betroffen sind, darf es nicht allein auf die subjektive Beurteilung Einzelner ankommen. Was ist denn eine extreme Notlage? Wann besteht unerträglicher Leidensdruck? Und was ist eine zumutbare Alternative zur Verwirklichung der Selbsttötung? Das alles muss geklärt werden. Wir müssen im Auge behalten, dass es hier um Grenz- und Ausnahmefälle geht. Es wäre fatal, wenn wir Strukturen schaffen würden, die den Suizid für kranke und verletzliche Menschen zu einer normalen Option machen würden.
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Im schlimmsten Fall könnte daraus eine gesellschaftliche Haltung werden, dass die Selbsttötung erwartet wird. Und natürlich ist es so, dass auch Regeln für Ausnahmefälle die Normalität verändern.
Aus meiner Sicht sollten wir die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Beschwerden zu § 217 abwarten. Diese Entscheidung steht in der kommenden Woche an. Es kann sein, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir uns dann wieder um die andere Frage – der Sterbehilfe – kümmern müssen. Deshalb bin ich dafür, dass wir den Weg frei machen für eine intensive Diskussion hier im Parlament. Die Ergebnisse sollten in Gruppenanträge fließen, über die wir dann ohne Fraktionsdisziplin entscheiden können.
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Für einen Beschluss ist es aber noch zu früh. Deshalb lehnen wir den Antrag der FDP ab.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der FDP die Kollegin Katrin Helling-Plahr.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im März 2017 hatte das Bundesverwaltungsgericht über den Fall einer Dame zu befinden, die vom Hals abwärts gelähmt war, künstlich beatmet werden musste und unter ständigen Krampfanfällen litt. Sie hatte starke Schmerzen, Aussicht auf Besserung bestand nicht. Die Dame hatte aufgrund dieser von ihr als unerträglich und entwürdigend empfundenen Leidenssituation den Wunsch, ihr Leben zu beenden. Da sich das Verfahren in die Länge zog, hat sie ihren Sterbewunsch vor dem Urteilsspruch in der Schweiz realisiert.
Das Bundesverwaltungsgericht hat ein bemerkenswertes Urteil gefällt. Um aus den Leitsätzen zu zitieren:
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht … umfasst auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Menschen, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben enden soll, vorausgesetzt, er kann seinen Willen frei bilden und entsprechend handeln.
Das Bundesverwaltungsgericht befand, dass schwer und unheilbar Kranken in einer extremen Notlage der Erwerb eines tödlichen Medikaments ermöglicht werden müsse.
Die Reaktion der Bundesregierung auf das Urteil war und ist skandalös.
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Seit über zwei Jahren wird im Bundesgesundheitsministerium alles getan, um die Umsetzung des Urteils zu verzögern und zu verhindern, alles, damit die schwer erkrankten Betroffenen nicht zu ihrem Recht kommen, selbstbestimmt sterben zu dürfen. Nachdem das Urteil hausintern umfassend geprüft und ausgewertet wurde, ließ man es für 95 200 Euro noch einmal rechtsgutachterlich prüfen – natürlich nicht, ohne vorher zu wissen, was hinterher das Ergebnis des Gutachtens sein würde. Auch dieses Verhinderungsgutachten musste man dann natürlich nochmals auswerten. Nach über einem Jahr hat der Bundesgesundheitsminister dann verfügen lassen, dass das Urteil in anderen, gleich gelagerten Fällen nicht angewendet werden soll – erneut ein ungeheuerlicher Vorgang. Ein Minister als Teil der Exekutive stellt sich und seine ideologisch motivierte Meinung über das Urteil eines höchsten Gerichts.
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Wir leben doch hier in keinem Willkürstaat.
Denken wir an die Konsequenzen für die Betroffenen! Weit über hundert Personen haben ebenfalls einen Antrag auf Erwerb eines Medikaments zur Selbsttötung gestellt. Diese Anträge werden nun, der Weisung aus dem Gesundheitsministerium folgend, abgelehnt.
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Die Betroffenen können natürlich, wenn sie tatsächlich die Kraft haben und die Zeit aufbringen können, den Klageweg beschreiten – und werden dann Recht bekommen. Das mutet die Bundesregierung unter massiven Schmerzen leidenden unheilbar Kranken zu.
Unter denjenigen, die derzeit den Rechtsweg beschreiten, ist zum Beispiel ein an Multipler Sklerose Erkrankter, der vollkommen bewegungsunfähig ist und mit der Außenwelt über einen sprachgesteuerten Computer kommuniziert. Aussicht auf Heilung besteht nicht. Er erlebt – so hat es sein Rechtsanwalt in der Anhörung des Gesundheitsausschusses beschrieben – sein Leben als unerträglich und würdelos und hat Angst, dass er aufgrund der Erkrankung schließlich ersticken wird.
Ebenfalls klagt eine 65‑jährige Frau, die unter inzwischen acht bösartigen Tumoren des Weichteilgewebes leidet, nur noch palliativ behandelt wird, laut Aussage der behandelnden Ärzte schon längst hätte verstorben sein müssen und massive Schmerzen hat.
Wir sind der Auffassung, dass wir diese Menschen nicht weiter alleinlassen dürfen.
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Wenn im Bundesgesundheitsministerium Rechtsbeugung betrieben wird, ist es Aufgabe des Parlaments, einzuschreiten.
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Wir fordern mit unserem Antrag daher, unmissverständlich gesetzlich vorzuschreiben, dass schwer und unheilbar Erkrankten in einer extremen Notlage ermöglicht werden muss, ein Medikament zur Selbsttötung zu erwerben. Das gebietet der Respekt vor der selbstbestimmten Entscheidung Schwerkranker.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist Harald Weinberg für Die Linke.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht hier sicher um eine Gruppe von Menschen, die sich in einer extremen Notlage befinden, schwerst und unheilbar krank sind, gravierende körperliche Leiden, Schmerzen, Beeinträchtigungen wie Lähmungen und Ähnliches erleben – wir haben es gerade eindrücklich geschildert bekommen –, einen extremen Leidensdruck durchmachen, kaum Linderung erfahren, darunter psychisch leiden, depressiv werden und hochgradig bedürftig sind.
Es geht gleichzeitig aber auch um Menschen, die entscheidungsfähig sind und die frei und ernsthaft entscheiden können und wollen, dass sie aus dem Leben scheiden. Eine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches existiert nicht. Das ist sozusagen die Definition gewesen, wann eine existenzielle Not vorliegt. In dieser Situation, so das Bundesverwaltungsgericht, umfasst die Schutzpflicht des Staates nicht nur den Schutz des Lebens, sondern auch den Schutz der Menschenwürde und der Selbstbestimmung. Dabei gibt es keine generelle Regel, so ebenfalls das Bundesverwaltungsgericht, sondern es zählt der Einzelfall; jeder Einzelfall muss entsprechend geprüft werden.
Aber das Bundesverwaltungsgericht hat gefolgert, dass in einer solchen ausweglosen Situation Einzelner in einer extremen Notlage der Zugang zu einem tödlich wirkenden Betäubungsmittel nicht nur nicht verwehrt, sondern explizit ermöglicht werden muss, so das Urteil. Jens Spahn hat daraufhin als Bundesgesundheitsminister die nachgeordnete Behörde angewiesen, dieses Urteil nicht umzusetzen. Er hat dies mit Rückgriff auf einen aus dem Steuerrecht bekannten Nichtanwendungserlass getan, der auf diesen Sachverhalt allerdings nicht anwendbar ist.
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Die große Mehrheit der Experten ist sich darin einig, dass das nicht übertragbar ist. Sogar der eigene Gutachter, Professor Di Fabio, nimmt eine Zulässigkeit nur ausnahmsweise und vorübergehend an, bis der Gesetzgeber entscheidet; also wir als Gesetzgeber sind gefordert.
Seit März 2017 ist in dieser Angelegenheit aber nichts Derartiges geschehen: Weder ist eine Gesetzesinitiative zu sehen gewesen, noch hat es einen Schritt in Richtung Bundesverfassungsgericht gegeben. Es kann mit Professor Roßbruch sogar die Auffassung vertreten werden, dass dieser Nichtanwendungserlass regelrecht rechtswidrig sei, weil der Bundesgesundheitsminister damit das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte als nachgeordnete Behörde zu einem zweifachen Rechtsbruch aufgefordert hat, nämlich erstens eine bindende höchstrichterliche Entscheidung schlichtweg zu ignorieren und zweitens der Aufforderung des Bundesgesundheitsministers zu einer generellen Ablehnung aller gestellten Anträge nachzukommen, also nicht die Einzelfallprüfung vorzunehmen. Das hat das Amt auch in Form von Standardbriefen mit Standardformulierungen entsprechend getan. Damit wird den betroffenen schwerstkranken Menschen zugemutet, nun ihrerseits einen monate- oder jahrelangen Rechtsweg zu beschreiten, was sie teilweise alleine schon aus Zeitgründen nicht können. Das ist aus unserer Sicht überhaupt nicht in Ordnung.
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Noch etwas zum Thema Wertungswiderspruch zu § 217 Strafgesetzbuch. Hier handelt es sich um das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, das 2015 durch dieses Parlament neu gefasst und verschärft wurde – übrigens gegen meinen persönlichen Willen. Dazu liegen etliche Verfassungsbeschwerden vor, und es gibt in der kommenden Woche eine mündliche Verhandlung dazu.
Aber nach Ansicht nahezu aller Experten liegt hier kein Wertungswiderspruch vor, da diese Norm auf die vor dem Bundesverwaltungsgericht verhandelten Fälle nicht anwendbar ist. Das Gericht hat selber überzeugend dargelegt, dass die Erteilung einer Erlaubnis durch das BfArM nicht als geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung zu werten sei.
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Mitarbeiter, die da an der Entscheidung beteiligt sind, oder Kommissionen oder Ähnliches können sich auf dieses Urteil verlassen und haben somit Rechtssicherheit. Im Interesse der Betroffenen und ihres unerträglichen Leids ist eine Klärung und Auflösung der Diskrepanz zwischen höchstrichterlicher Rechtsprechung und behördlicher Praxis dringend geboten.
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Sie müssen jetzt den Schlusssatz sagen.
Das ist der Schlusssatz: Aus den genannten Gründen und im Interesse der und in Verantwortung gegenüber den Betroffenen werden wir dem Antrag zustimmen.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Kirsten Kappert-Gonther für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer soll darüber entscheiden, ob ein Leiden schwer genug ist, dass ein Suizid staatlich unterstützt wird? Ein Sachbearbeiter? Eine Gutachterin, nach Aktenlage? Ein Katalog des Gesundheitsministeriums? Ich finde, staatliche Behörden dürfen kein Werturteil darüber abgeben, welches Leben lebenswert ist und welches nicht.
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Aus meiner 25-jährigen Erfahrung als Ärztin, als Psychiaterin weiß ich, dass der Wunsch zum Suizid in den allermeisten Fällen vorübergehend ist. Er wird stark von den Lebensumständen beeinflusst: Schmerzen, Einsamkeit. Die Aufgabe des Staates, der Medizin und der Gesellschaft ist es, an diesen Umständen etwas zu verändern, und nicht, Suizid zu einer gleichwertigen Option neben anderen zu machen.
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Wir wissen von einigen unserer Nachbarländer, dass dort der Anwendungsbereich von Sterbehilfe immer weiter ausgedehnt wird. Dort wird schon heute bei Kindern, bei psychisch Kranken und bei Dementen aktive Sterbehilfe angewendet. Ich finde das falsch.
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Diese zutiefst ethischen Fragen können allesamt nicht mit dem Antrag der FDP beantwortet werden. Dazu wäre eine breite ethische Debatte, auch in diesem Haus, notwendig. Das Verwaltungsgericht Köln hat übrigens das Verfahren ausgesetzt, bis das Bundesverfassungsgericht über § 217 Strafgesetzbuch entschieden hat. Nächste Woche beginnt dazu die Verhandlung in Karlsruhe. Unabhängig davon, wie Einzelne inhaltlich zu diesem Antrag stehen: Es gebietet der Respekt vor dem höchsten Gericht, dieses Urteil abzuwarten. Ich empfehle Ablehnung des Antrags.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Michael Brand.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was folgt aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes? Das ist eine Grundfrage dieser Debatte. Der Staatsrechtler Professor Augsberg hat es in der Anhörung im Februar im Gesundheitsausschuss zur Frage der Herausgabe oder Nichtherausgabe todbringender Medikamente auf den Punkt gebracht. Augsberg problematisierte das Delegieren an staatliche Behörden, sprach von problematischen Kriterienkatalogen und thematisierte die Frage der Verfassungsmäßigkeit. Ich zitiere:
In jedem Falle bliebe es dabei, dass die staatliche Behörde oder auch der Gesetzgeber als staatliche Instanz festlegt, unter welchen Bedingungen und anhand welcher Kriterien eine solche Entscheidung von uns hinzunehmen ist. Das ist eine Qualifizierung menschlichen Lebens, wie sie mit unserem Verfassungssystem, das vor allem eine Reaktion auf historisch erfahrenes Unrecht ist, nicht zu vereinbaren ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um es mit meinen Worten zu sagen: Die Anforderungen des Urteils sind nicht umsetzbar. Der Staat kann nicht verpflichtet werden, sich an der Durchführung eines Suizids zu beteiligen, auch nicht in den sogenannten „extremen Ausnahmefällen“. Es wäre ein Bruch mit unserer Werteordnung und widerspräche auch allen Anstrengungen zum Lebensschutz und der Suizidprävention. Das Gericht in Leipzig ist bei einem sensiblen Thema unsensibel über das Ziel hinausgeschossen. Die breite und auch sehr abgewogene Debatte über Leben und Tod und die fraktionsübergreifende Bundestagsentscheidung 2015 mit dem grundliegenden Anliegen der Abgeordneten um Lebensschutz und Autonomie wurden praktisch zur Seite geschoben.
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Unbestimmte Rechtsbegriffe wie „unerträgliches Leiden“ oder „keine zumutbare Alternative“ werfen auch neue Probleme auf; sie würden Missbrauch Tür und Tor öffnen. Wie definiert man eigentlich „Ausnahmefälle“, und wer soll das tun? Was sind „schwer und unheilbar kranke Patienten“ und „unerträgliche Lebenssituationen“? Alle diese Begriffe sind in diesem Urteil nachzulesen.
Offensichtlich kann es bei Kriterien zu solch existenziellen Entscheidungen nicht ernsthaft der Einstellung eines Verwaltungsmitarbeiters überlassen sein, ob Medikamente herausgegeben werden oder nicht. Es liegt auf der Hand, dass die Richtungsentscheidung dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben muss. Aber wie sollte dies eigentlich geschehen, ohne dass in verfassungsrechtlich inakzeptabler Form der Wert individuellen Lebens bewertet würde? Zudem hat sich der Gesetzgeber gerade nach intensiver und breiter Debatte im und auch außerhalb des Parlaments mit Experten, und zwar durch fraktionsübergreifende Gruppen, mit breiter Mehrheit für die Neuregelung des § 217 StGB entschieden.
Es gibt eine weitere Fehleinschätzung: Das Betäubungsmittelgesetz hat die medizinische Versorgung zum Heilen oder Schmerzlindern zum Ziel, gerade eben nicht die Selbsttötung. Die Selbsttötung kann keinen therapeutischen Zweck haben, wie es das Gericht behauptet. Das ist ein Widerspruch in sich, der in der Konsequenz lebensgefährlich ist.
Es geht im Übrigen auch um den Schutz vor Druck auf andere. Mir stockt heute noch der Atem, wie ein kommerzieller sogenannter Sterbe hilfe verein auf dem Rücken von Sterbenden versucht seine Ziele durchzusetzen. Ich empfehle jedem hier die lesenswerte Recherche von Oliver Tolmein in der „FAZ“ vom 11. März 2017 mit dem Titel „Frau K. stimmte sofort zu“.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesgesundheitsminister liegt richtig damit, todbringende Medikamente zur Selbsttötung nicht herausgeben zu lassen; denn der Staat hat eine besondere Schutzpflicht.
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Nächste Woche hat das Bundesverfassungsgericht zur mündlichen Verhandlung zum § 217 Strafgesetzbuch geladen. Fraktionsübergreifend werden wir dort als Abgeordnete die breite Entscheidung des Bundestages mit guten Argumenten verteidigen. Dass die Leipziger Richter – wissend, dass sich unser höchstes Gericht mit der Grundfrage über Leben und Tod gründlich befasst – trotzdem vorweg ein zweifelhaftes Urteil im Einzelfall getroffen haben – übrigens gegen alle Vorinstanzen –, haben viele Beobachter auch als Respektlosigkeit gegenüber Karlsruhe empfunden. Ich muss sagen: Ich vertraue darauf, dass die Karlsruher Richter die grundlegende Debatte und die Entscheidung im Bundestag angemessen berücksichtigen. Auch erwarte ich einen Richtungszeig.
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Ich habe den Punkt verpasst, Herr Schinnenburg, Ihnen die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage zu geben. Aber ich gestatte Ihnen jetzt, eine Kurzintervention zu machen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich habe eine Frage an Sie, die ich eigentlich als Zwischenfrage stellen wollte. Ist Ihnen bewusst, dass Artikel 1 des Grundgesetzes als oberste Schutzpflicht des Staates nicht das Leben, sondern die Würde des Menschen ansieht, und meinen Sie nicht, dass die Würde der Menschen, die so sind, wie Frau Helling-Plahr beschrieben hat, gerade verlangt, dass man ihnen hilft und sie nicht mit ihrem Schmerz und ihrer Not alleine lässt?
Herr Brand, wollen Sie darauf antworten?
Also, das Thema dient, glaube ich, nicht zur Polarisierung; denn der Gesetzgeber, der mit einer besonderen Schutzpflicht ausgestattet ist, muss auch auf die achten, auf die solche Entscheidungen Druck ausüben können. Die Frage ist, wie der Gesetzgeber all diese Kriterien, die ich eben aus dem Urteil zitiert habe, umsetzen soll. Was ist der „besondere Ausnahmefall“? Daher gibt es, glaube ich, eine gute Begründung, zu sagen, dass dieser Bereich nicht vom Staat geregelt werden kann und dass wir als Staat nicht an einem Suizid beteiligt werden dürfen. Es ist ja gar nicht so – was Sie in Ihrer Frage ansprechen –, dass eine Pflicht zum Leben besteht; das sagt der Gesetzgeber nicht. Aber der Gesetzgeber und der Staat sagt: Wir wollen nicht als Dritte an einem Suizid beteiligt sein. – Das ist der entscheidende Unterschied.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Katja Keul.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im November 2015 hat der Bundestag beschlossen, die Sterbehilfe unter Strafe zu stellen. Ich habe damals gegen diese neue Strafvorschrift argumentiert. Auch die Gruppenanträge von Kollegin Künast und Kollegin Sitte sowie des inzwischen verstorbenen Kollegen Hintze haben für eine liberalere Haltung geworben. Wir wollten nicht, dass sich Ärzte abwenden müssen, wenn Patienten sie um ergebnisoffene Beratung bitten. Über die Verfassungsmäßigkeit der Strafbarkeit der Sterbehilfe verhandelt demnächst das Verfassungsgericht.
Um es noch einmal klar zu sagen: Niemand in diesem Hause hat in der Debatte für das geworben, was in Belgien und in den Niederlanden praktiziert wird: die aktive Sterbehilfe durch wen auch immer. Darum ging es 2015 nicht, und darum geht es auch heute nicht.
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Worum es nun geht, ist das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom März 2017. Da hatte das Gericht in höchster Instanz entschieden, dass schwer und unheilbar kranke Patienten das Recht hätten, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sie das Leben beenden wollen – vorausgesetzt, sie könnten ihren Willen frei bilden. Zur Begründung hat sich das Gericht ausdrücklich auf das Selbstbestimmungsrecht der Menschen berufen.
Es ist aus meiner Sicht ein ungeheuerlicher Vorgang, dass Gesundheitsminister Spahn die verurteilte Behörde, das Bundesinstitut für Arzneimittel, inzwischen angewiesen hat, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes zu ignorieren und die eingehenden Anträge auf ein tödliches Mittel ablehnend zu bescheiden.
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Solche Nichtanwendungserlasse sind schon an anderer Stelle immer umstritten gewesen. Aber an dieser Stelle muss ich ganz klar sagen: Für das Selbstbestimmungsrecht des Menschen und die Menschenwürde kann es keinen Nichtanwendungserlass geben. An dieser Stelle hat das Recht des Staates, den Suizid eines Menschen gegen seinen Willen zu verhindern, seine Grenzen. Deswegen empfehle ich heute die Zustimmung zur Umsetzung des Bundesverwaltungsgerichtsurteils vor dem Hintergrund des Selbstbestimmungsrechts der Menschen und zu dem vorliegenden Antrag.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Edgar Franke.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Anliegen, Rechtssicherheit für unheilbar Kranke in einer extremen Notlage zu schaffen, ist aus meiner Sicht ausdrücklich zu begrüßen. Schon mehrmals wurde das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom März 2017 genannt. Es ist eine höchstrichterliche Entscheidung, meine sehr verehrten Damen und Herren. Was war der Inhalt? In absoluten Ausnahmesituationen kann bei unheilbaren Erkrankungen – so das Gericht –, bei gravierenden körperlichen Leiden und Schmerzen, die palliativ nicht mehr wirksam behandelt werden können, unter Umständen ein Anspruch auf ein letales, das heißt zum Tode führendes Medikament bestehen, und nur dann. Der Anspruch besteht – so das Gericht – gegenüber dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.
Das Gesundheitsministerium – das haben wir auch schon gehört – hat durch seinen Staatssekretär das nachgeordnete Bundesinstitut ausdrücklich angewiesen, dieses Urteil nicht umzusetzen. Wenn aber ein Ministerium eine nachgeordnete Behörde anweist, ein höchstrichterliches Urteil zu übergehen, ist das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ein eindeutiger Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip.
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Ich sage hier auch: Das Gewaltenteilungsprinzip ist ein elementares Prinzip unserer Verfassung, das man nicht so einfach missachten darf. Denn aus guten Gründen, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist in unserem Grundgesetz verankert, dass sich die Exekutive, dass sich die Ministerien an Recht und Gesetz halten müssen. Das gilt übrigens auch unabhängig davon, ob man den Inhalt des Urteils für gut oder schlecht befindet; das muss man abstrakt sehen. Es hat nichts damit zu tun, welche Haltung man hat. Hier – auch das haben wir schon gehört – ist leider das Gegenteil geschehen.
Zum Inhalt des Antrags will ich sagen: Man kann unterschiedlicher Meinung sein. Es ist vielfach schon gesagt worden, dass wir im Rahmen der Sterbehilfedebatte auch fraktionsübergreifend unterschiedlich diskutiert haben. Aber ich muss ferner sagen, dass eine Medikamentenfreigabe in einer Extremsituation jedenfalls nicht bedeutet, aktive Sterbehilfe als Teil der Gesundheitsversorgung zu etablieren. Auch das muss man ganz klar sagen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, viele haben damals argumentiert: Ein Suizid war, ist und bleibt eine private Entscheidung. – Wie ein würdevolles Leben am Ende aussehen soll, ist auf jeden Fall etwas, das eine Person selbst bestimmt, auch selbst bestimmen kann. Das sage ich ganz persönlich als jemand, der sich in der Kirche engagiert. Das Persönlichkeitsrecht, das sich aus Artikel 1 und Artikel 2 des Grundgesetzes ergibt, ist vielleicht das wichtigste Grundrecht unserer Verfassung. Natürlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, müssen Ethik und Moral immer ein wichtiger Kompass unserer Gesellschaft sein; auch das Grundgesetz atmet diese Prinzipien.
Das ist ein Grund dafür gewesen, warum wir damals den § 217, jedenfalls mehrheitlich, nach langer, fraktionsübergreifender Debatte – Sie erinnern sich: fünf Stunden haben wir diskutiert – im Strafgesetzbuch verankert haben. Es ist natürlich auch unsere Pflicht – das sage ich als Gesundheitspolitiker –, Menschen in der Not beizustehen. Vor allen Dingen ist es unsere Pflicht, alles dafür zu tun, damit die Palliativmedizin noch besser wird, gerade um Suizide zu verhindern.
Wir haben bereits gehört, dass nächste Woche zumindest die mündliche Verhandlung beginnt und das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit von § 217 entscheiden muss. Es wird darum gehen, was man unter „geschäftsmäßiger Förderung der Selbsttötung“ genau zu verstehen hat – ob beispielsweise das Urteil vom Bundesverwaltungsgericht auch darunterfallen würde. Vielleicht wird das Gericht einen rechtlichen Hinweis geben, ob die Medikamentenfreigabe durch ein Bundesinstitut erlaubt ist.
Ich sage, meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Schluss, dass wir abwarten müssen, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Denn erst dann kann entschieden werden, ob eine erneute Debatte über den Umfang und die Grenzen der Sterbehilfe sinnvoll ist und wie diese Debatte ausgehen kann. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts setzt rechtliche Rahmenbedingungen, die für uns wesentlich sind. Insofern bitte ich die FDP-Fraktion, zu überlegen, ob der Antrag nicht noch zurückgestellt werden kann, bis wir die rechtlichen Grundlagen haben, um wirklich über Sterbehilfe, deren Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen und die Rahmenbedingungen entscheiden zu können.
Ich danke Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Erich Irlstorfer für die Fraktion der CDU/CSU.
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Verehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein extrem sensibles und weitreichendes Thema, das natürlich – das schätze ich auch – keine parteipolitischen Elemente oder gar eine gewisse Schärfe verdient, weil wir vermutlich alle die Dimension einer solchen Situation gar nicht richtig greifen können. In der letzten Wahlperiode hat das Parlament nach einer langen und intensiven Befassung das Verbot geschäftsmäßiger Suizidbeihilfe beschlossen. Dabei hat der Gesetzgeber mit dem strafrechtlichen Verbot auch eine Werteentscheidung getroffen: Suizidbeihilfe sollte explizit nicht zur Normalität werden. Die Mitwirkung an der Selbsttötung kann keine staatliche oder auch behördliche Aufgabe sein.
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Sollte beim Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung getroffen werden, die eine erneute Befassung des Parlaments mit der Suizidbeihilfe erforderlich macht, erschiene es zudem angezeigt, analog zur 17. und 18. Wahlperiode eine Meinungsfindung durch fraktionsübergreifende Gruppenanträge herbeizuführen und natürlich auf die Fraktionsbindung zu verzichten.
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Es ist mehr als moralisch, ethisch und gesellschaftlich zu diskutieren, ob der deutsche Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern auch in Notlagen die mit Medikamenten gefüllte Hand hinhalten soll, um so der leidenden Person den Abschied vermeintlich zu erleichtern. Die Diskussion ist wichtig und gesellschaftlich von enormer Bedeutung, gerade weil immer mehr Menschen in ein Alter kommen werden, in dem sie sich auch mit dem Tode auseinandersetzen müssen, gleichzeitig aber auch die Medizin und Forschung immer innovativer und fortschrittlicher werden, auch in Bezug auf das Thema „lebenserhaltende Maßnahmen“.
Wir – die Politik und die gesamte Gesellschaft – müssen uns die Frage stellen, inwiefern Menschen in ihrer abschließenden Lebensphase behandelt und versorgt werden müssen oder sollen. Die Position des hier schon oftmals erwähnten Bundesministers Spahn, Selbsttötung kann keine Therapie sein, hat meine Unterstützung, weil ich auf die Palliativ- und Hospizarbeit baue und sie ein unumgänglicher Bereich der medizinischen Versorgung ist, und dies in hoher Qualität.
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Palliativmedizin, meine sehr geehrten Damen und Herren, sowohl im stationären als auch im ambulanten Sinne, muss und wird durch den Staat deutlich gefördert. Es soll ein Zeichen an die Patientinnen und Patienten und auch an die jüngere Generation gesendet werden. Sie sollen sehen: Der Staat sorgt in jeder Lebensphase für die Bevölkerung, auch kurz vor dem Tod.
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Fraglich bleibt es, ob der Staat hier als verlängerter Arm der Sterbehilfe agieren soll, ohne den Menschen verantwortungsvoll andere Alternativen zu bieten. So ein emotionales und gesellschaftlich schwierig zu diskutierendes Thema kann nicht einfach durch die Vergabe und Zulassung von Medikamenten abgeschlossen werden. Der Antrag kann – zumindest für mich – nur abgelehnt werden, um eine kurzfristige und somit gefährliche Entscheidung zu vermeiden.
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Denn mich leitet in dieser ganzen Thematik immer noch der Satz von Kardinal Höffner, der 1987 sagte: Ein Mensch stirbt nicht an einer Krankheit, sondern wenn Gott ein Leben vollendet hat.
Herzlichen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.
Ich weise darauf hin, dass mir mehrere Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vorliegen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Rechtssicherheit für schwer und unheilbar Erkrankte in einer extremen Notlage schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/9298, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/4834 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind überwiegend die Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen. Gegenprobe! – Das sind die Fraktionen FDP, zum großen Teil Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke.
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Enthaltungen? – Das ist die Fraktion der AfD. Wir sind uns einig, dass das Erste die Mehrheit war. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen und der Antrag abgelehnt.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der Wahlen bekannt geben, die mir inzwischen vorliegen.
Ergebnis der Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums gemäß § 10a der Bundeshaushaltsordnung: abgegebene Stimmzettel 633, ungültige Stimmzettel 3. Mit Ja haben gestimmt 195, mit Nein haben gestimmt 404, Enthaltungen 31. Der Abgeordnete Marcus Bühl hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen nicht erreicht und ist deshalb nicht gewählt.
Ergebnis der Wahl von zwei Mitgliedern des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes: Es haben 629 Kolleginnen und Kollegen ihren Stimmzettel abgegeben. Auf den Kollegen Albrecht Glaser entfielen 151 Jastimmen, 442 Neinstimmen, 32 Enthaltungen und 4 ungültige Stimmen. Auf den Kollegen Volker Münz entfielen 205 Jastimmen, 385 Neinstimmen, 35 Enthaltungen und 4 ungültige Stimmen. Damit sind die beiden Abgeordneten nicht gewählt, weil sie die erforderliche Mehrheit nicht erreicht haben.
Ergebnis der Wahl eines Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: Es haben 638 Abgeordnete Stimmzettel abgegeben. Mit Ja haben gestimmt 203, mit Nein haben gestimmt 403, Enthaltungen 32. Der Abgeordnete Peter Boehringer hat damit die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen nicht erreicht und ist nicht in das Gremium gewählt worden.
Ergebnis der Wahl eines stellvertretenden Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: Es haben 638 Abgeordnete ihre Stimmzettel abgegeben; 2 Stimmzettel waren ungültig. 196 Abgeordnete haben mit Ja gestimmt, mit Nein haben gestimmt 409, Enthaltungen 31. Die Abgeordnete Dr. Birgit Malsack-Winkemann hat damit die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen nicht erreicht. Sie ist als stellvertretendes Mitglied des Sondergremiums nicht gewählt.
Vielen Dank. – Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, bleiben Sie doch! Das ist ein wichtiges Thema. – Seit mehr als zehn Jahren leisten deutsche Soldatinnen und Soldaten, Zivilistinnen und Zivilisten im Auslandseinsatz Atalanta einen ganz wichtigen Beitrag zu Sicherheit und Stabilität am Horn von Afrika. Zehn Jahre sind für einen Kriseneinsatz eine lange Zeit.
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Selbstverständlich stellen sich nicht wenige von uns die Frage: Brauchen wir diesen Einsatz überhaupt noch?
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Das gilt vor allem angesichts eher hoffnungsvoller Nachrichten vom Horn von Afrika seit dem Friedensvertrag zwischen Äthiopien und Eritrea, der sehr positiv auf die gesamte Region ausstrahlt. Ja, es stimmt: Das Thema der Sicherheit auf den Meeren ist zuletzt etwas aus den Schlagzeilen geraten. Es gibt Entwicklungen, die uns, aber vor allem auch den Menschen in der Region Mut machen. Doch gerade der bisherige Erfolg dieser Operation ist der Grund, warum ich Sie heute abermals um eine Verlängerung des deutschen Beitrags bitte.
Erinnern wir uns zurück an den Sommer 2008. Damals waren mehr als 30 Schiffe am Golf von Aden gekapert worden. Mit rücksichtsloser Brutalität wurden zahlreiche Schiffe angegriffen. Viele Menschen wurden entführt – was für eine menschliche Tragödie! Dank der Operation Atalanta hören und lesen wir heute nur noch wenig von Piraten, die Schiffe kapern und Seeleute als Gefangene nehmen. Dank Atalanta konnten in den vergangenen zehn Jahren mehr als 1,8 Millionen Tonnen Nahrungsmittel sicher von Schiffen des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen zu notleidenden Menschen in der Region geliefert werden. Dank Atalanta können mittlerweile viele Fischer wieder ihrer Arbeit nachgehen. Das ermutigt Menschen, in ihre Heimat zurückzukehren, weil sie wieder eine wirtschaftliche Perspektive haben.
Diese Erfolgsgeschichte ist allerdings nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern sie ist das Ergebnis von zehn Einsatzjahren. Und es gibt noch eine Menge zu tun; denn die kriminellen Netzwerke, die einst den Nährboden vor allem für Piraten darstellten, sind nach wie vor aktiv. Sie verfolgen jetzt vorrangig andere kriminelle Machenschaften wie den Waffenschmuggel, den Handel mit Drogen und das Schleusen von Menschen über den Seeweg. Leider kommt es seit dem Frühjahr 2017 auch vereinzelt wieder zu Piraterie: Am 16. Oktober vergangenen Jahres wurde ein Frachter im Indischen Ozean von Piraten angegriffen. Ein privates Sicherheitsteam an Bord des Frachters konnte den Angriff glücklicherweise abwehren. Ein Aufklärungsflugzeug von Atalanta verfolgte das bei dem Überfall benutzte Boot. Anschließend stellten Kräfte der Operation Atalanta das Boot auf dem Meer sicher, zerstörten es, ohne dass jemand zu Schaden kam.
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All das war möglich und wurde koordiniert durch das in die Operation integrierte Maritime Lagezentrum.
Europäische Teamarbeit macht die Schlagkraft der Operation aus. An der Operation beteiligen sich 19 Mitgliedstaaten der Europäischen Union und mit Serbien und Montenegro zwei Beitrittskandidaten. Das zeigt: Gemeinsam können wir viel mehr erreichen als jeder für sich allein.
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Was tun wir gemeinsam mit anderen? Es geht natürlich nicht nur um diese militärische Komponente. Von ziviler Krisenprävention über Stabilisierung und Konfliktnachsorge bis hin zu langfristiger Entwicklungszusammenarbeit ist Deutschland aktiv, und mit unserer Unterstützung kann dringend benötigte humanitäre Hilfe für Menschen in und aus Somalia geleistet werden. Dafür haben wir in diesem Jahr bislang 65 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur der von mir beschriebene Vorfall macht deutlich: Die Region und insbesondere Somalia sind nach wie vor sehr fragil. Das Seegebiet am Horn von Afrika bleibt immer noch sehr gefährlich für die Handelsschiffe, die Europa mit der Arabischen Halbinsel und Asien verbinden. Dabei gilt: Die Bedrohungen für die Schifffahrt am Horn von Afrika wandeln sich. Neue Konflikte destabilisieren die Region. Daher muss sich auch Atalanta in den nächsten Jahren weiterentwickeln.
Wir haben bereits in den vergangenen Jahren unsere Beteiligung verändert und angepasst: So ist unser Aufklärungsflugzeug samt Besatzung jeweils saisonal vor Ort, nämlich dann, wenn die See ruhig ist und die maritimen Aktivitäten von kleineren Schiffen im Seegebiet am Horn von Afrika zunehmen. Die Obergrenze des Mandats hatten wir schon 2016, als sich Deutschland zum vorerst letzten Mal mit Schiffen beteiligte, abgesenkt. Jetzt werden wir dies erneut tun. In Zukunft wird die Obergrenze von 600 auf 400 Soldatinnen und Soldaten sinken. Damit bleibt Deutschland aber nach wie vor einer der Haupttruppensteller.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bedrohungen verändern sich, aber sie bleiben. Das Horn von Afrika ist eine Brücke zwischen Europa, der Arabischen Halbinsel und Asien. Seine Stabilität und Sicherheit sind von globaler Bedeutung. Die Präsenz internationaler Akteure in dieser Region steigt kontinuierlich. Die Werte und Interessen Deutschlands und der Europäischen Union dürfen dabei nicht ins Hintertreffen geraten. Mit der Operation Atalanta haben wir ein Instrument in der Hand, das auf vielen Ebenen dazu beitragen kann, dass dies nicht geschieht – jetzt nicht und auch in Zukunft nicht.
Ich bitte Sie daher, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Namen der Bundesregierung um Ihre Zustimmung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an Operation Atalanta.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der AfD der Kollege Armin-Paulus Hampel.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste im Deutschen Bundestag und diejenigen, die vielleicht zu Hause zuschauen! Um es vorwegzunehmen, Herr Staatsminister: Wir werden der Verlängerung des Einsatzes zustimmen. Allerdings muss man den Einsatz und unsere Operationsweise und vor allen Dingen die Ziele – das wird deutlich, wenn man einen Blick in die Geschichte wirft – genauer überdenken und verbessern. Warum sage ich das? Sie hatten recht: 2008 waren es über 30 Schiffe, die aufgebracht worden sind. Allerdings ging die Piraterie schon drei Jahre vorher, in 2005, los. Wir haben erst einmal drei Jahre gebraucht, um überhaupt zu reagieren; aber dann waren wir in der Tat am Horn von Afrika mit vielen anderen präsent. Bis 2018 hat sich dies auf, ich glaube, sieben Schiffe reduziert.
Um einmal die Fakten zu nennen: Seit 2005 hat die organisierte Piraterie in Somalia und anderswo knapp 500 Millionen Euro, eine halbe Milliarde Euro, eingenommen. Wenn Sie meinen, das sei den Piraten selber in die Tasche geflossen, dann irren Sie sich ebenfalls: Gerade einmal 0,1 Prozent, so habe ich gelesen, sind bei den Piraten selbst gelandet. Viel schlimmer: Das Geld floss in die Tasche von Drogenhändlern, Menschenhändlern und islamistischen Gruppierungen, die dahinterstecken. Das wissen wir.
Dann sagen Sie Dank an die Bundeswehr – ja selbstverständlich! –, an die Deutsche Marine, die vor Ort – 2016 noch mit der Fregatte „Bayern“, jetzt mit Fernaufklärern – präsent war. Das ist alles wunderbar; aber wir müssen auch einmal die Fakten nennen: Immer wenn es ernst wurde, waren wir nicht dabei. Das haben dann andere für uns erledigt. – Man muss in der Tat den deutschen Soldaten danken, die dort auf den Handelsschiffen ihren Dienst gemacht haben. Das waren nämlich in der Regel ehemalige deutsche Bundeswehrsoldaten, die in hervorragender Weise die Handelsschiffe geschützt haben und zu einer robusten Verteidigung fähig und willens waren, meine Damen und Herren!
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Auch wenn die Zahlen jetzt rückläufig sind, müssen wir schon die nächsten Problemzonen in den Fokus nehmen, die sich parallel zum Horn von Afrika genau auf der anderen Seite des Kontinents entwickeln, nämlich vor der nigerianischen Küste. Ich bin der Meinung, man sollte nicht wieder drei Jahre warten, sondern vielleicht schneller auf diese Entwicklung reagieren und zusammen mit NATO-Streitkräften oder europäischen Kräften schauen, dass man der Piraterie, die sich in Nigeria gerade fröhlich entwickelt, schon möglichst früh die rote Karte zeigt, und das durch einen robusten Einsatz vor der nigerianischen Küste. Der Einsatz vor Somalia hätte auch robust sein müssen. Nur, wir Deutschen waren, wie gesagt, an der Robustheit nicht immer oder selten oder eher gar nicht beteiligt.
Ich war sehr erfreut, dass heute aus den Reihen der Union und, ich glaube, auch aus Ihrem Haus das nationale deutsche Interesse beschrieben worden ist. Darauf müssen wir den Fokus richten. Warum waren und sind wir am Horn von Afrika präsent? Weil wir dort endlich mal nationale deutsche Interessen durchsetzen wollen! Deutsche Schiffe sollen und müssen dort sicher vorbeifahren können, ohne von Piraten aufgebracht zu werden.
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Das ist genau auf der Linie meiner Fraktion, die genau das einfordert: dass wir auch in der Verteidigung und bei der Abwehr von Gefahren wieder unsere nationalen Interessen definieren und durchsetzen müssen. Und wenn das gemeinsam mit anderen europäischen Partnern funktioniert, wie Sie das gerade erwähnt haben, Herr Staatsminister, dann sage ich: Wunderbar, dann freuen wir uns darüber, dass andere ebenfalls mitmachen.
Noch mal: Die Aufforderung lautet, Herr Staatsminister: Blicken Sie ans Horn von Somalia. Schauen Sie, dass wir die Lage dort weiter entspannen. Das geschieht – das darf man nicht vergessen – übrigens nach wie vor mit starker Unterstützung der amerikanischen Streitkräfte, die mit ihrer Task Force 151 – oder wie die heißt – immer dann sehr aktiv sind, wenn es robust wird. Dann greifen nämlich die Amerikaner ein und nicht die Europäer. Vielleicht können wir uns ja an den amerikanischen Aktivitäten beteiligen, um den anderen Partnern wenigstens mal zu zeigen, dass wir willens, lustvoll und in der Lage sind, robust unsere Interessen durchzusetzen.
Mein Aufruf lautet: Somalia ja, aber fokussieren Sie jetzt die Problemzone, die sich entwickelt, frühzeitig, damit wir an der Küste von Nigeria, an der Westküste Afrikas nicht wieder deutsche Handelsschiffe in Gefahr sehen. Dort können wir eine sinnvolle und vor allen Dingen proaktive Verteidigung deutscher Interessen durchsetzen.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
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Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Peter Tauber.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Seit fast elf Jahren leisten unsere Soldatinnen und Soldaten jetzt einen maßgeblichen Beitrag zu Frieden und Stabilität in der Region rund um das Horn von Afrika in einer von der Europäischen Union geführten Operation, der Operation Atalanta. Mit diesem Einsatz tragen wir zu sicheren Seeverbindungen am Horn von Afrika bei. Es ist gelungen, die Piraterie deutlich zurückzudrängen, und wir gewähren damit auch den Schiffen des Welternährungsprogramms und von AMISOM – das ist die Mission der Afrikanischen Union in Somalia – Schutz. Auf diese Weise sichern wir nicht nur die überlebenswichtige humanitäre Versorgung der somalischen Bevölkerung, sondern ermöglichen auch den Weitertransport in andere Länder wie beispielsweise den Sudan, der uns in diesen Stunden ja auch wieder beschäftigt mit dem, was dort geschieht.
Lassen Sie es mich in Zahlen ausdrücken: Über 1 100 Schiffe des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen und fast 700 Schiffe von AMISOM wurden seit Beginn der Operation ohne Zwischenfälle durch die Operation Atalanta überwacht. Das ist eine Sicherungsquote von 100 Prozent. Zudem wurden 234 Fahrten des Welternährungsprogramms durch ein militärisches Sicherungsteam der Operation Atalanta abgesichert und geschützt. Und damit konnten seit dem Jahr 2009 etwa 1,8 Millionen Tonnen Lebensmittel nach Somalia eskortiert werden. Knapp 6 Millionen Menschen in Somalia sind weiterhin von humanitärer Hilfe abhängig. Die Güter der Hilfsprogramme kommen aber eben nur an, wenn die Seewege frei und sicher sind. Für diesen verlässlichen Einsatz und für das Engagement gebühren unseren Soldatinnen und Soldaten, wie ich persönlich finde, unsere Anerkennung und unser tiefer Dank, sowohl denen, deren Einsatz bereits beendet ist, als auch den 78 Angehörigen unserer Streitkräfte, die momentan vor Ort ihren fordernden Dienst verrichten.
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Wahr ist allerdings auch: Noch ist die Lage am Horn von Afrika instabil. Es kommt weiterhin zu vereinzelten Piratenangriffen, zuletzt auf Handelsschiffe wie im Juli und im Oktober des vergangenen Jahres. Diese Angriffe konnten auch durch Anwendung der gemeinsam mit Atalanta entwickelten Verfahren für die Handelsschifffahrt und durch das jeweils an Bord befindliche Sicherungsteam abgewehrt werden.
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Als Exportnation – und das kommt dazu; das ist sozusagen die zweite Seite neben der internationalen Verantwortung, die wir als Deutsche übernehmen wollen – sind wir in Zeiten der Globalisierung auf freie und sichere Seewege weltweit angewiesen. Das gilt insbesondere auch für den Golf von Aden, der eine Haupthandelsroute zwischen Europa, der Arabischen Halbinsel und Asien ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser militärischer Einsatz im Rahmen der Operation Atalanta ist eine Rückversicherung zur See. Sie ergänzt unsere umfassenden Stabilisierungsbemühungen an Land sowie im angrenzenden Küstenmeer. Der Beitrag der Bundeswehr zu Atalanta umfasst dabei maßgeblich die Seefernaufklärung, die logistische und sanitätsdienstliche Unterstützung und die Unterstützung des Führungspersonals im Hauptquartier.
Darüber hinaus wollen wir innerhalb der Europäischen Union die Zeit bis Ende 2020 nutzen, um eine Entscheidung zum zukünftigen maritimen Engagement in der Region treffen zu können. Dabei wird wichtig sein, das bereits Erreichte zu konsolidieren, regionale Akteure vor Ort verstärkt einzubinden und eine solide Entscheidung über die zukünftige maritime Präsenz der Europäischen Union zu treffen. Die Anpassung des Fähigkeits- und Kräftebedarfs der Europäischen Union, auch dank einer Intensivierung der Zusammenarbeit mit Drittstaaten wie zum Beispiel der Republik Korea, bietet Deutschland im Rahmen dieses Antrags die Möglichkeit – das ist bereits erwähnt worden –, die Personalobergrenze von 600 auf 400 Soldatinnen und Soldaten zu reduzieren. Die erfolgreiche Mandatserfüllung ist dabei unverändert garantiert, und die Anpassung ermöglicht auch weiterhin die notwendige Flexibilität.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der Fortsetzung unserer Beteiligung an der Operation Atalanta um ein weiteres Jahr können wir einen wichtigen, gefragten Beitrag leisten und die Zukunft von Atalanta konstruktiv begleiten. Ich bitte um Ihre Unterstützung für die Fortführung dieses Mandats und sage unseren Soldatinnen und Soldaten: Vielen Dank für Ihren Dienst und allzeit Soldatenglück!
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Für die FDP-Fraktion hat nun Olaf in der Beek das Wort.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie es mich gleich zu Beginn kurz machen: Die Fraktion der Freien Demokraten wird der Verlängerung der deutschen Beteiligung an der Operation Atalanta zustimmen. Und natürlich danken auch wir unseren Soldatinnen und Soldaten für ihren Einsatz, der weit von Deutschland entfernt stattfindet.
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Warum stimmen wir dem Einsatz zu? Der Grund hierfür ist einfach: Die Mission ist erfolgreich, aber auch noch immer notwendig. Während es zwischen 2008 und 2012 517 Angriffe durch Piraten gegeben hat, ist die Zahl der Angriffe beispielsweise 2017 auf knapp 10 gesunken. Trotz dieser positiven Entwicklung werden seit dem Frühjahr 2018 wieder mehr Angriffe verzeichnet. Das zeigt uns Freien Demokraten, wie wichtig der Einsatz ist, gerade um die dringend benötigten Lebensmittellieferungen des Welternährungsprogramms abzusichern.
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Auch wenn die Vorzeichen am Horn von Afrika sich zuletzt mehr als positiv entwickelt haben, dürfen wir in unserem Engagement vor Ort nicht nachlassen. Im Gegenteil: Der Friedensschluss zwischen Äthiopien und Eritrea im vergangenen Jahr ist eine Chance, die natürlich auch Auswirkungen auf die gesamte Region am Horn von Afrika hat. Diese Chance müssen wir nutzen, indem wir Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik zusammen- und vernetzt denken.
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Denn machen wir uns nichts vor: Das Horn von Afrika ist geostrategisch eine bedeutsame Region. Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, China, Russland und die USA verfolgen ihre eigenen Interessen, die sicherlich nicht immer nur zum Wohl der Region sind. Das zeigen ganz aktuell der Jemen-Krieg oder die saudische Seeblockade. Das hat natürlich Einfluss auf die Sicherheitslage am Horn von Afrika.
Menschenschmuggel und Schleusertum in der Region haben nach Angaben der Bundesregierung zugenommen. Der Kampf gegen beides ist allerdings nicht Bestandteil der Operation Atalanta. Das macht die Lage nicht einfacher, sondern eher komplexer. Gerade aus diesem Grund dürfen wir unser Engagement in Somalia nicht schleifen lassen. Für ein friedliches Horn von Afrika reicht eben der Friedensschluss zwischen Äthiopien und Eritrea allein nicht aus. Für ein friedliches Horn von Afrika braucht es auch eine Stabilisierung des Failed State Somalia. Das gelingt nicht allein militärisch, durch eine Sicherung von Seewegen. Hierzu braucht es eben auch humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Die wiederum kommen in der fragilen Sicherheitslage Somalias nicht ohne militärische Absicherung aus.
Die Vernetzung von Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik muss gelebt werden. Gerade der Rückzug Deutschlands aus der Ausbildungs- und Trainingsmission EUTM Somalia zeigt in diesem Bereich bereits die entscheidende Schwachstelle: Ohne die Truppen der Operation Atalanta kann die Lage vor Ort nicht stabil gehalten werden. Somalia ist dazu nicht in der Lage, weder politisch noch militärisch.
Zwar ist die von der Bundesregierung vorgeschlagene Reduktion der Truppe von 600 auf maximal 400 Soldatinnen und Soldaten im Rahmen des momentanen Mandats sinnvoll. Vor dem Hintergrund einer möglichen Abzugsperspektive müssen wir aber die Zeit jetzt nutzen und sehr genau evaluieren, was denn tatsächlich passieren würde, wenn die EU-Mission ausliefe. Denn am Ende darf das nicht bedeuten, dass die Überfälle von Piraten und die Instabilität wieder zunehmen. Und es darf auch nicht dazu führen, dass diese geostrategisch so wichtige Region zum Spielball der verschiedenen Akteure wird, die dort bereits heute aktiv sind.
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All diese Aspekte, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir im Auge behalten, wenn es um die zukünftige Bewertung und Ausgestaltung des Mandats oder gar um dessen Ende geht.
Herzlichen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat nun Tobias Pflüger das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Operation Atalanta, über die wir heute entscheiden, ist nach Ansicht der Bundesregierung ein Erfolg, weil die Piraterie am Horn von Afrika stark zurückgegangen sei. Nur warum ging denn die Piraterie dort zurück? Der ehemalige verteidigungspolitische Sprecher der SPD, Rainer Arnold, meinte 2016 dazu, zum Kampf gegen die Piraterie brauche man das Mandat Atalanta nicht mehr; die Piraterie wäre zurückgegangen, seit die privaten Reeder Sicherheitsfirmen an Bord hätten.
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Ich habe den Eindruck, Sie als Bundesregierung ändern ständig die Begründung. Am Ende kommt immer raus: Die Einsätze müssen weitergehen. – Dazu sagen wir Nein.
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Was auf jeden Fall nicht geschehen ist, ist, die Ursachen der Piraterie zu bekämpfen. Somalia ist immer noch ein gescheiterter Staat. Die kriminellen Netzwerke bestehen fort. Im aktuellen Pirateriebericht der Bundespolizei See heißt es:
Neben den anhaltenden innersomalischen Konflikten … stellen die illegale Fischerei vor der somalischen Küste sowie die Vergabe von Fischereilizenzen auch weiterhin ein Problem dar.
Nichts ist gut in Somalia. An Land herrscht Bürgerkrieg. Auf See nimmt die illegale Fischerei, auch von EU-Trawlern, den lokalen Fischern die Lebensgrundlage.
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Das Problem Piraterie könne – Zitat – „durch die militärische Präsenz auf See nur weitestgehend unterdrückt, nicht aber gelöst werden“, so die Stiftung Wissenschaft und Politik in einer neuen Studie.
Aber um die Hilfe für Somalia geht es Ihnen bei Atalanta doch gar nicht. Der Kollege Nikolas Löbel hat es am 26. April letzten Jahres an dieser Stelle klipp und klar formuliert: „Wir haben auch deutsche und europäische Wirtschaftsinteressen im Blick.“ – Herr Tauber hat es gerade eben so ähnlich formuliert, nämlich Atalanta sei richtig, auch aus geostrategischen Gründen. –
Das ist ein weiterer Grund, warum wir gegen diesen Einsatz stimmen werden.
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So geht der Einsatz für Wirtschaftsinteressen mittlerweile ins elfte Jahr. Er dauert schon fast so lange wie der Einsatz in Afghanistan. Mit dem Krieg im Jemen ist sogar eine neue Eskalation hinzugekommen. Die Frau Ministerin schreibt in ihrer Vorlage: Der fortwährende Konflikt in Jemen wirkt zusätzlich destabilisierend in der Region und begünstigt die Zunahme von organisierter Kriminalität in Form von Schmuggel und der Unterstützung irregulärer Migration im Seegebiet am Horn von Afrika. – Was hier mit irregulärer Migration beschrieben ist, sind Menschen, die versuchen, vor dem Krieg im Jemen zu fliehen. – Wenn es so ist wie hier beschrieben, warum erfüllen Sie dann nicht endlich den eigenen Koalitionsvertrag und liefern keine Waffen mehr an Länder, die am Jemen-Krieg beteiligt sind?
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Jetzt schickt man quasi zum Ausgleich fünf Soldatinnen und Soldaten und noch mal so viele Polizistinnen und Polizisten in den Jemen, um eine lokale Waffenruhe zu überwachen. Das ist doch absurd. Stoppen Sie die Waffenlieferungen! Das ist ein ganz wesentlicher Punkt.
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Auf hoher See soll Atalanta jetzt richten, was Sie an Land verbockt haben.
Es gibt eine neue Begründung. Inzwischen lautet sie, dass Atalanta im Rahmen der PESCO, der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit der Europäischen Union, unbedingt fortgesetzt werden muss. Man hat am Anfang, 2008, damit begonnen, das Mandat mit der Bekämpfung der Piraterie zu begründen. Jetzt kommt PESCO dazu. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist doch Unsinn.
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Natürlich können Sie mit Nein und damit gegen diesen Einsatz stimmen. Sie haben auch EUTM Somalia beendet. Lesenswert ist Ihre eigene Begründung dafür: „kein Mehrwert, Defizite in den somalischen politischen und institutionellen Strukturen“.
Wir sagen: Dieser Einsatz ist in seiner eigenen Logik nicht sinnvoll.
Kollege Pflüger, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Wir werden gegen diesen Einsatz stimmen.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Agnieszka Brugger das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man kann nicht über die Mission Atalanta sprechen, ohne auch die Situation in Somalia zu beleuchten – das haben ja auch viele Rednerinnen und Redner in der Debatte getan –; denn die Lage ist für viele Menschen dort, die nach wie vor unter den Folgen einer katastrophalen Dürre leiden, unerträglich. Der Bürgerkrieg im Land hält weiter an. Wir lesen schreckliche Berichte über sexualisierte Gewalt, auch über Journalistinnen und Journalisten, die eingeschüchtert werden. Es ist also insgesamt eine verheerende Menschenrechtslage. Erst vor wenigen Wochen erschütterten innerhalb von wenigen Tagen zwei schwere Anschläge mit Dutzenden Toten die Hauptstadt Mogadischu, und die Terrormiliz al-Schabab hat mittlerweile die Kontrolle über Regionen im Süden und im Zentrum Somalias zurückgewonnen. Die Bundesregierung sollte über ihr ziviles und entwicklungspolitisches Engagement im Rahmen ihrer Möglichkeiten dazu beitragen, dieses Leid zu lindern und eine bessere Zukunft für die Menschen in Somalia mitzugestalten.
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Der Auslöser der Militäroperation Atalanta – das haben wir auch schon in dieser Debatte gehört – waren die Angriffe auf Handelsschiffe, aber vor allem auch auf Transporte mit humanitären Gütern vor der Küste Somalias. Auf den ersten Blick – das muss man ein paar Jahre später sagen – war diese Mission auch erfolgreich. Die Anzahl der Angriffe ist massiv zurückgegangen. Damit hat Atalanta einen wichtigen Beitrag für die Menschen am Horn von Afrika und im Jemen geleistet; denn diese Menschen waren und sind dringend auf Nahrungsmittellieferungen angewiesen, und diesen Beitrag sollte man auch nicht kleinreden.
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Trotzdem bekämpft man mit dieser Mission am Ende eben doch nur Symptome. Der Nährboden für Kriminalität und für Gewalt, das sind die instabile Sicherheitslage, die grassierende Armut und fehlende Perspektiven für die Menschen im Land, beispielsweise weil die Küstengewässer durch internationale Raubfischerei leergefischt worden sind. Daher ist es von großer Bedeutung, dass die Europäische Union und auch die Weltgemeinschaft dazu beitragen, dass die Menschen vor Ort wirtschaftliche Perspektiven haben, und dieses Ziel nicht auch noch mit ihrer eigenen Handelspolitik untergraben.
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Meine Damen und Herren, im Mandat für die Mission Atalanta gibt es eine unnötige Passage mit gefährlichem Eskalationspotenzial. Wir haben schon 2012 deutlich gemacht, dass wir es für hochriskant halten, wenn man im Rahmen dieser Operation nicht nur auf See, sondern auch an Land – es geht um das Einsatzgebiet der somalischen Küste bis 2 Kilometer ins Landesinnere hinein – wirken würde. Das bleibt riskant, und es ist auch im Kampf gegen die Piraterie keine kluge Strategie.
Jetzt sagen immer die Kollegen von der Koalition im Ausschuss: Es kommt ja nicht dazu, dass diese Option gezogen wird. – Aber gerade diese Tatsache zeigt doch, dass mittlerweile selbst die Bundesregierung verstanden hat, dass das keine kluge Erweiterung des Mandates war und dass es hochproblematisch wäre, diesen Einsatz aufs Land auszuweiten.
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Da stellt sich doch die Frage, warum Sie dann eigentlich nicht endlich – auch im Sinne der Mandatsklarheit und -wahrheit – diese Passage aus dem Mandat nehmen und sich nicht auf europäischer Ebene dafür einsetzen, dass der Operationsplan endlich geändert wird. Denn so könnten auch wir Grüne diesem Mandat wieder zustimmen.
Meine Damen und Herren, weil wir heute auch noch über zwei weitere Mandate gesprochen haben, nämlich über die zwei Einsätze in Mali, möchte ich abschließend noch eine Bemerkung machen, die sich auf alle drei Debatten bezieht: Ich habe es noch in guter Erinnerung, dass sich die Bundesregierung vor ein paar Jahren im Vorfeld der Abstimmung über Mandate sehr bemüht hat, weil das keine Tagesordnungspunkte wie alle anderen sind, eine breite Mehrheit im Parlament herzustellen. Wir haben viele kritische Punkte in Bezug auf die Mandate in Mali angesprochen, aber auch konkret zum Atalanta-Mandat. Ich habe das Gefühl, das interessiert Sie überhaupt nicht, und es ist Ihnen egal, ob die Opposition diese Mandate mitträgt.
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Ich finde es sehr schade, dass Sie einen solchen Kurswechsel vollzogen haben. Ich würde mir wünschen, dass Sie aus Respekt gegenüber dem Parlament, aber auch aus Respekt gegenüber der Parlamentsarmee Bundeswehr zu dem Kurs der Vergangenheit zurückkehren und sich wieder darum bemühen, möglichst viele Fraktionen von den Mandaten zu überzeugen, damit sie von einer breiten Mehrheit des Parlaments getragen werden können.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Reinhard Brandl das Wort.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor gut drei Wochen war ich in Vorbereitung der heutigen Debatte gemeinsam mit dem Wehrbeauftragen und dem Staatssekretär Silberhorn in Dschibuti und habe dort das Einsatzkontingent Atalanta mit besucht. Ich will kurz davon berichten.
Dschibuti ist ein sehr besonderer Ort. Dschibuti ist von strategischer Bedeutung für den Welthandel. Ungefähr 90 Prozent des Handelsvolumens zwischen Europa, Asien und Afrika schippern dort an der Küste vorbei. Wir sind Exportweltmeister, wir sind eine Exportnation, und wir haben deshalb ein hohes Interesse an sicheren Handelswegen. Der Einsatz Atalanta geht zurück auf zahlreiche Piraterievorfälle, die wir vor einigen Jahren hatten. Es ist gelungen, diese Piraterie weitestgehend zurückzudrängen. Nichtsdestotrotz ist die Gefahr immer noch latent vorhanden; die Zahl der Piraterievorfälle kann wieder steigen. Deswegen macht es Sinn, dass wir weiterhin, wenn auch im Moment mit einer kleinen Anzahl an Personen, dort vor Ort sind. Wir haben im Moment einen Seefernaufklärer, also ein Flugzeug, in Dschibuti stationiert, das bei Verdachtsfällen aufsteigt und Informationen an Schiffe liefert, die unter Umständen einschreiten. Es macht Sinn, auch mit Blick auf unsere Sicherheit, auf die Sicherheit der Seewege, dass wir dort bleiben.
Meine Damen und Herren, in Dschibuti kann man aber auch vieles über internationale Politik und globale Sicherheitspolitik lernen:
Zum einen kann man ganz praktisch lernen, wie gut die Zusammenarbeit zwischen den Armeen der Europäischen Union und der Amerikaner funktioniert. Ich gebe Ihnen ein Beispiel – daran denkt man oft gar nicht –: Die Franzosen betreiben dort unten ein sogenanntes Role‑2-Hospital, also ein kleines Krankenhaus. Sie haben dort auch ein größeres Kontingent stationiert. Deutschland sendet alle paar Monate ein Team aus Chirurgen und Krankenschwestern, das das französische Sanitätsteam dort unterstützt. An dieser Stelle entlasten wir die Franzosen. An einer anderen Stelle helfen uns die Franzosen, zum Beispiel in Mali, indem sie in Gao die medizinische Versorgung auch für unsere Soldaten im Einsatz bereitstellen. Die Zusammenarbeit funktioniert.
Man kann dort aber noch etwas anderes lernen: Wenn man auf dem Flugplatz steht und in Richtung Hafen schaut, entdeckt man eine riesige Baustelle. Dort bauen die Chinesen im Moment
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ein Camp für geschätzt 5 000 bis 10 000 Soldaten – manche sprechen sogar von bis zum 15 000 Soldaten –, die dort dauerhaft stationiert sein sollen.
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Das zeigt, welchen Herausforderungen wir gegenüberstehen, gerade mit Blick auf Afrika. 10 000 Soldaten, das ist das, was wir mit der Bundeswehr insgesamt überhaupt dauerhaft durchhaltefähig in den Einsatz bringen können.
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Das ist unsere Obergrenze, unser Level of Ambition. Und das setzen die Chinesen alleine in Dschibuti ein, um Handelswege zu sichern, aber auch, um von dort aus einen Zugang zu Afrika zu haben.
Wenn wir in Afrika, wenn wir in der Region präsent sein wollen, wenn wir dort Einfluss haben wollen, dann schaffen wir das nur, wenn wir gemeinsam mit unseren europäischen Verbündeten auftreten – Frankreich und Italien sind dort sehr aktiv –, und gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika.
Atalanta ist ein guter Einsatz. Er hat geholfen, die Piraterie zurückzudrängen. Das ist ein strategischer Einsatz; wir sind am Horn von Afrika vertreten. Er belastet uns im Moment nicht so stark, weil wir im Moment kein Schiff im Einsatz haben, sondern nur einen Seefernaufklärer. Wir sollten den Einsatz auf jeden Fall fortsetzen. Ich bitte Sie bei der in den nächsten Wochen anstehenden Abstimmung um Zustimmung für dieses Mandat.
Herzlichen Dank.
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Ebenfalls für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Ingo Gädechens das Wort.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin Pau! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner bei der ersten Lesung zur Fortsetzung des Mandats Atalanta hat man die Gelegenheit, auf die Vorredner einzugehen.
Kollege Hampel, Sie haben für die AfD-Fraktion hier ein Zerrbild dieses Einsatzes geliefert,
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indem Sie behauptet haben, dass immer dann, wenn es brenzlig wurde, die Deutsche Marine nicht zugegen war. Das ganze Gegenteil war der Fall. Sie tun den Soldatinnen und Soldaten, die dort einen hervorragenden Dienst geleistet haben, insbesondere in der brenzligen Zeit, unrecht. Das sollten wir nicht tun.
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Zur ganzen Wahrheit gehört nämlich auch, dass die Deutsche Marine in Zusammenarbeit mit der Bundespolizei See Best-Practice-Systeme entwickelt hat, die der Verband Deutscher Reeder sehr gerne angenommen hat. Er hat die Schiffe dementsprechend ausgerüstet, um Piraterieangriffe abzuwehren. Auch das ist deutsches Engagement, das hoch geschätzt wird.
Wenn Sie hier so martialisch sprechen: „Wir waren immer nicht da, um deutsche Schiffe zu schützen“, dann frage ich Sie mal: Wie viele Schiffe mit deutscher Flagge am Heck haben Sie denn vor der Küste Somalias gesehen?
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Wir haben deutsche Güter dort geschützt und für freie See- und Handelswege gesorgt. Ich denke, das ist der Erfolg. Deshalb wurde auch von den Vertretern der Regierung, von Staatsminister Roth und von dem Parlamentarischen Staatssekretär Tauber, dieses Mandat als Erfolg gewertet, und es ist ein Erfolg, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Kollege Gädechens, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Hampel?
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Ja, gestatte ich.
Vielen Dank, Herr Kollege, für die Chance, Sie zu fragen. Ich lerne ja immer gerne dazu.
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Wenn Sie mir bitte den Einsatz der Marine in Somalia zur See nennen, wo deutsche Soldaten robust in die Operation eingegriffen haben, nicht begleitend, nicht mit Fernaufklärer, auch nicht mit Hubschraubern, sondern wo wir in direkter Konfrontation mit den Piraten gewesen sind! Nennen Sie mir ein, zwei, drei Einsätze. Dann weiß ich Bescheid.
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Als die Deutsche Marine mit ihren Vessel Protection Teams Angriffe quasi abgewehrt hat, waren Sie noch nicht im Deutschen Bundestag.
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Ich war mehrfach im Einsatzgebiet, auf den Schiffen. Ich war in Dschibuti. Die Deutsche Marine hat von ihren Schiffen aus Angriffe abgewehrt. Wir haben lokalisiert. Nun sage ich Ihnen mal ganz ehrlich, von der Praxis her: Das Seegebiet vor Somalia ist größer als der europäische Festlandsockel. Sie müssen in der Hochzeit 30 Schiffe auf Sektoren verteilen. Wenn ein anderes Schiff da war, um Piratenangriffe abzuwehren, dann war das gut und richtig. Wenn in dem Moment gerade kein deutsches Schiff da war,
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dann war das gut. Trotzdem hat das Mandat insgesamt dazu geführt, dass die Piraterie bzw. die Piratenangriffe gen null tendieren, und das ist der Erfolg.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bleibe dabei, dass das ein Erfolg ist. Ich sehe aber auch die Probleme, die nach wie vor in Somalia und auf dem Kontinent Afrika insgesamt vorhanden sind. Wir haben jedenfalls das Geschäftsmodell der Piraterie – hier sind ja schon Zahlen genannt worden – kaputtgemacht.
Das EU-Mandat der Operation soll bis Dezember 2020 verlängert werden. Das ist sinnvoll. Wir sehen alle gemeinsam die Fragilität der staatlichen Strukturen in Somalia und die noch schwach ausgeprägte Rechtsstaatlichkeit. Hier ist immer Raum für kriminelle Netzwerke; sie haben gerade in Somalia weiterhin ihre Rückzugsräume. Die Region bleibt politisch leider instabil und anfällig für externe destabilisierende Einflüsse.
Die aktuellen Bombenanschläge und heimtückischen Terrorattacken mit zahlreichen Verletzten und Toten in Mogadischu, welche die islamische al-Schabab-Miliz auf Ministerien, Hotels und Restaurants im vergangenen Monat verübt hat, verdeutlichen die nach wie vor sehr angespannte Sicherheitslage. Es ist daher richtig und wichtig, dass Europa und damit auch Deutschland weiterhin Präsenz in dieser Region zeigt und die humanitäre Versorgung von notleidenden Menschen mit Nahrungsmitteln durch das Welternährungsprogramm schützt.
Der Einsatz der internationalen Koalition zum Schutz dieses wichtigen Seeweges hat, wie gesagt, die Kriminalität dort eingedämmt. Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Nicht nur das, was unter anderem unser Seefernaufklärer von Staaten wie Dschibuti aus leistet, ist gut für die Region, sondern insgesamt die deutsche Präsenz, weil wir viel von unserer Form zu leben, von unserem Demokratieverständnis, von unserer Art des Miteinanders, von unseren Werten dorthin übertragen können. Jedenfalls wird unser Engagement dort mit den Bündnispartnern zusammen mit großer Dankbarkeit anerkannt. Deshalb bitte ich sehr herzlich, dass wir dieses Mandat entsprechend verlängern.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8970 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuschauer auf den Tribünen! Uns liegt der Bericht der Bundesregierung aus den Jahren 2014 bis 2017 zum Bereich der humanitären Hilfe Deutschlands vor, und dieser Bericht bietet Gelegenheit, über das System der humanitären Hilfe zu diskutieren, die Herausforderungen zu beschreiben und damit auch Ideen und Wege für eine Verbesserung und für ein größeres Engagement in der Zukunft aufzuzeigen.
Der Bericht zeigt deutlich die schwierigen Jahre 2014 bis 2017 – schwierig deshalb, weil der Bedarf an humanitärer Hilfe in diesem Zeitraum um 40 Prozent gestiegen ist – 40 Prozent! –, aber die internationale Finanzierungsmöglichkeit mit diesem Bedarf nicht Schritt gehalten hat. Das ist eines der großen Probleme. Im Jahr 2017 gab es eine Deckungslücke von 11,9 Milliarden Euro, und es konnten nur die Bedarfe von 50 Prozent, denen geholfen werden sollte, gedeckt werden.
Die zweite große Schwierigkeit, vor der die humanitäre Hilfe steht, ist die veränderte Art von Krisen, die sich in ihrer Komplexität und ihrer Dauer wesentlich unterscheiden von kürzeren Krisen vergangener Jahre.
Der dritte entscheidende Punkt ist die Frage: Wie wird mit humanitären Helfern umgegangen? Wie kann es gelingen, die Helfer im humanitären System zu schützen und dafür zu sorgen, dass gemäß den humanitären Prinzipien Hilfe auch wirklich jeden Einzelnen, der ihrer bedarf, erreicht?
Vor diesen großen Herausforderungen stand und steht die humanitäre Hilfe in den letzten Jahren. Es wurde versucht – und ich glaube, hier sind richtige Ansätze auf dem humanitären Weltgipfel in Istanbul gefunden worden –, hier Fragen anzugehen: erstens die Frage der dauerhaften Finanzierung auch von Nothilfefonds und Nothilfeeinrichtungen der Vereinten Nationen, zweitens aber auch die Frage der Abstimmung zwischen den beteiligten Akteuren, seien sie von der humanitären Hilfe, der Not- und Übergangshilfe oder der Entwicklungszusammenarbeit; das konnte verbessert und verstetigt werden.
Wichtig ist für uns selbst in unserem eigenen Land, dass wir hier sehr wohl unsere Hausaufgaben gemacht haben. Der Bericht, glaube ich, spricht hier eine deutliche Sprache. Wir haben die finanziellen Mittel für humanitäre Hilfe in diesem Zeitraum vervierfacht. Bei der Zahl bleibt einem immer ein bisschen die Freude im Hals stecken; denn das heißt ja auch, wie geschildert, dass der Bedarf entsprechend gestiegen ist und dass die Not der Menschen entsprechend gewachsen ist. Wir haben unser Engagement verstetigt und vervierfacht. Wir haben aber auch begonnen, uns konzeptionell anders einzubringen, gerade mit unseren Partnern in den verschiedensten Gremien, sei es auf UN-Ebene, sei es aber auch mit den Organisationen des Roten Halbmonds und des Roten Kreuzes oder auch den vielen deutschen Nichtregierungsorganisationen.
Ein Punkt ist mir besonders wichtig, den wir in den letzten Jahren in den Mittelpunkt gestellt bzw. herausgehoben haben. Dabei geht es darum, dass wir humanitäre Hilfe insbesondere auch in Ländern, die nicht permanent im Fokus der medialen Aufmerksamkeit sind, verstärkt haben und hier wirklich unseren Einsatz nach unseren Möglichkeiten sowohl mit menschlichen Kapazitäten wie auch mit finanziellen Mitteln gestärkt haben. 20 Prozent der Mittel der deutschen humanitären Hilfe gehen in diese Gebiete, in Krisenregionen, und das ist richtig, und das ist gut so, und das muss verstetigt und ausgebaut werden.
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Das Auswärtige Amt hat in der letzten Woche die neue Strategie für humanitäre Hilfe vorgelegt. Und es stellt sich ja auch die Frage: Wie geht es weiter? Wie entwickeln wir Antworten auf die Herausforderungen, vor denen wir stehen? Ich habe über die Bedarfe und über die Deckungslücken gesprochen. Die Frage der stetigen Finanzierung ist ein entscheidender Punkt. Der Schutz von Helferinnen und Helfern und das Einhalten des Völkerrechts ist der zweite entscheidende Punkt. Ich finde es sehr richtig, dass Deutschland gemeinsam mit Frankreich im Sicherheitsrat hier erste Initiativen zum Schutz der humanitären Prinzipien und des humanitären Völkerrechts ergriffen hat.
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Kollegin Kofler, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie jetzt auf Kosten Ihrer Kollegin sprechen.
Ich komme zu meinem letzten Satz. – Es gibt viel zu tun, wir brauchen neue Denkmuster, wir brauchen neue Ideen. Wir müssen vorausschauende humanitäre Hilfe in den Mittelpunkt stellen, um Krisen vielleicht gar nicht erst entstehen zu lassen. In diesem Sinne hoffe ich auf gutes weiteres Miteinander auch mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausschuss, weil es darum geht, die Not von Menschen zu lindern.
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Ein kleiner geschäftsleitender Hinweis: Ich bin fest entschlossen, das, was der Präsident heute Morgen begonnen hat und was meine Vizepräsidentinnen- und Vizepräsidentenkollegen fortgesetzt haben, auch für die weiteren Verhandlungen hier durchzusetzen. Verabredete Redezeiten werden eingehalten oder, falls nicht, angerechnet auf die nachfolgenden Redner der Fraktionen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Jürgen Braun aus der AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Humanitäre Hilfe ist notwendig, und humanitäre Hilfe soll in den Ländern selbst wirken – dort, wo sie gebraucht wird. Der Bericht der Bundesregierung zur humanitären Hilfe offenbart viele Schwächen. Nur eine davon: Es fehlt ein überzeugendes Konzept. Dieser Bericht ist ein Sammelsurium. Weltweit wachsen die humanitären Krisen. Die Bundesregierung versucht aber, ihre Konzeptionslosigkeit mit viel Geld zu verschleiern.
Die enorme Steigerung der Ausgaben für die humanitäre Hilfe offenbart auch eine weitere Schwäche: In den Jahren 2014 und 2015 ist wichtige humanitäre Hilfe aus Deutschland und der EU ausgeblieben. In Syrien und in den Nachbarstaaten wäre sie dringend nötig gewesen. Damals wären es vergleichsweise nur kleinere Millionenbeträge gewesen, nicht viele Milliarden, wie seitdem Jahr für Jahr in Deutschland verschwendet.
({0})
Die Flüchtlingslager waren 2014 überfüllt. Die Not war immens; in Syrien tobte der Krieg. Dann kam die Wanderungsbewegung – gestoppt erst durch Politiker wie Viktor Orban.
({1})
Sein Grenzzaun ist heute die Lebensversicherung für Mitteleuropa.
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Ab dem Sommer 2015 hat das Versagen in der humanitären Hilfe die Bundesregierung eingeholt.
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Heute sind es viele Milliarden, die jedes Jahr ausgegeben werden müssen. Ich sage es noch einmal: Humanitäre Hilfe muss in den Ländern selbst wirken. Wir können die Probleme Afrikas und der arabischen Welt nicht hier in Deutschland lösen.
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Der Bericht der Bundesregierung ist damit vor allem eines: ein Dokument des schlechten Gewissens. Die Bundesregierung hat mit einer Vervierfachung der Mittel für humanitäre Hilfe ihr schlechtes Gewissen beruhigt.
({5})
Vor wenigen Wochen gab es eine öffentliche Anhörung im Ausschuss zu genau diesem Bericht, über den wir hier sprechen. Die AfD-Fraktion hatte Alfred de Zayas eingeladen, einen weltweit geachteten und überaus erfahrenen Experten. Er hat mehrere Jahrzehnte lang wichtige Missionen der UNO geleitet.
({6})
Und wie nannte dieser international höchst geachtete amerikanische Diplomat den Bericht der Bundesregierung? Eine Selbstbeweihräucherung nannte er ihn.
Wichtige Themen fehlen in diesem Bericht wie die Ursache für die katastrophale humanitäre Krise im Südsudan. Ist es wirklich das Klima, wie der Bericht mehrfach suggeriert? Oder liegt es vielmehr daran, dass die Christen im Südsudan vom Nordsudan verfolgt wurden? Im Süden sind die Christen die größte religiöse Gruppe, weit vor den Moslems. Der Südsudan hat sich vom Nordsudan in einem religiösen Konflikt abgespalten. Bei der Bundesregierung fehlt diese Erklärung der Ursachen. Das heute gestürzte Regime al-Baschir gehörte mit Sicherheit zu den Ursachen.
Und dann der Jemen: Was ist die Ursache für die humanitäre Krise im Jemen? Warum nennt der Bericht nicht die wahren Gründe? Auch im Jemen sind es kriegerische Stammeskonflikte, und sie sind religiös geprägt.
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Schauen wir in den Gazastreifen: Seit Jahrzehnten werden dort auch deutsche Steuergelder hineingepumpt, doch fast nichts landet bei den Ärmsten. Die Hamas instrumentalisiert das Leid. Israel-Feindlichkeit und Judenhass werden mit deutschen Steuermillionen gefördert.
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Viele Mitarbeiter des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge, kurz UNRWA, sind außerdem Hamas-Angehörige, das Neutralitätsgebot der humanitären Hilfe wird missachtet. Eine Schande!
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Und dann immer wieder das endlose infantile Gelaber vom Klimawandel: Der Klimawandel: das große grün-linke Ablenkungsmanöver unserer Zeit.
({10})
Allzu oft wird das Klima als Krisengrund genannt, damit man die Wahrheit nicht aussprechen muss.
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Religiöse Verfolgung ist oft das Problem. Es sind menschengemachte Krisen. Es sind Stammeskonflikte.
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Es sind Kriege um Rohstoffe. Menschengemachte Krisen weltweit. Zahlreiche islamische Staaten und terroristische Gruppen treten kriegerisch auf, vor allem in Vorderasien und in Afrika. Doch die verantwortlichen Länder sind nicht im Bericht genannt. Es fehlt der Iran, es fehlt Katar, es fehlt Saudi-Arabien.
Die Bundesregierung muss endlich ehrlich über die Ursachen der weltweiten Not informieren. Dann können wir über diesen Bericht ernsthaft diskutieren.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Michael Brand das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesem Frühjahr haben zwei wirkliche Infernos ihren traurigen Jahrestag. Im Frühjahr 2015 startete Saudi-Arabien seine Luftangriffe im Jemen – und die Welt schaut weiter weg. Vier Jahre zuvor, im Jahr 2011, begann der barbarische Syrienkrieg mit Massenmörder Assad.
Über 6 Millionen Syrer sind bislang aus ihrer Heimat geflohen, und fast 6 Millionen Menschen wurden innerhalb ihres Landes vertrieben. Und heute? Immer mehr Frauen, Männer und Kinder kehren inzwischen zurück – in zerbombte Städte ohne jegliche Infrastruktur. Die Staatengemeinschaft und zahlreiche Hilfsorganisationen, auch aus Deutschland, unterstützen Rückkehrer mit Unterkünften, mit Medikamenten, Nahrungsmitteln, Kleidung, Ausbildungsmöglichkeiten. Auch Flüchtlinge in den Nachbarstaaten erhalten Hilfe – und das alles mit einem fokussierten Blick auf die Zukunft. Traumatherapeuten helfen bei der Verarbeitung von Kriegserlebnissen. Andere Projekte ermöglichen es Kindern, in die Schule zu gehen. Dass es keine verlorene Generation gibt, für dieses Ziel müssen politische und humanitäre Akteure wie auch die Zivilgesellschaft alles geben! Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte die heutige Debatte nutzen, um allen humanitären Helfern, den NGOs und natürlich auch den staatlichen Akteuren, die sich für dieses wichtige Gemeinschaftswerk einsetzen, ein herzliches Dankeschön zu sagen.
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Im Jemen ist die Lage katastrophal. Die Vereinten Nationen sprechen von der größten humanitären Katastrophe weltweit. Hier muss man befürchten, dass viel mehr verloren geht – denn Tag für Tag verhungern Mädchen und Jungen. Nahrung gäbe es eigentlich genug, doch die Preise sind für viele absolut unerschwinglich geworden. Menschen sind auf Hilfe zum Überleben angewiesen.
Und auch vor unserer Haustür ist Einsatz erforderlich: Die dramatische Lage im Osten der Ukraine wird zu schnell übersehen. Die Bundesregierung stellte vor wenigen Tagen zusätzliche Mittel für das Jahr 2019 in Höhe von 1,8 Millionen Euro zur Verfügung, um die humanitären Maßnahmen des Internationalen Roten Kreuzes vor Ort zu unterstützen. Die Menschen in Donezk, Luhansk und anderswo dürfen nicht vergessen werden!
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Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit sind Grundsätze der humanitären Hilfe weltweit. Der einzige Zweck der humanitären Hilfe ist es, Leiden zu mindern. Herr Kollege Braun, es geht nicht darum, sich mit humanitärer Hilfe zu schmücken. Ich glaube, das ist der völlig falsche Ansatz, so auf diesen Bereich zu schauen,
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und es entlarvt auch, mit welchem Zynismus Sie auf das Thema „humanitäre Hilfe“
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und auf die Frage des Leides von anderen Menschen eingehen. Sie sollten das „C“ in Ihren Reden wirklich streichen.
Nie gab es mehr Menschen, die Hilfe zum Überleben brauchten. Waren es vor zehn Jahren über 30 Millionen Menschen, so sind es heute mehr als 132 Millionen Menschen. Über 68 Millionen Menschen – die Hälfte davon Kinder – sind auf der Flucht – so viele wie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.
Ich finde, man kann diese Berichte vom Auswärtigen Amt auch mal zeigen
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– es verfolgen ja auch einige die Debatte an den Fernsehschirmen, im Internet und hier im Plenarsaal –;
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denn man findet, wie ich glaube, darin viel Information und Spannendes über die Entwicklung, über regionale Schwerpunkte, über thematische Schwerpunkte. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Auswärtigen Amt hier in Deutschland, aber auch in den Außenstellen, der Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe, Kollegin Kofler, und auch Ihnen, Herr Staatsminister Roth, ein herzliches Dankeschön sagen.
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Deutschland reagiert angesichts wachsender humanitärer Bedarfe und übernimmt konkret Verantwortung. Die Zahlen sind genannt worden. Die Mittel sind von 460 Millionen Euro im Jahr 2014 auf 1,76 Milliarden Euro erhöht worden. Das ist besorgniserregend wegen des Anstiegs der Konfliktherde, zeigt aber zugleich, dass darauf entsprechend reagiert wird. Mit der Vervierfachung der Mittel definiert Deutschland seine Rolle in der humanitären Hilfe selbst neu. Das fordert uns auch neu in zahlreichen Bereichen: bei Qualität und Effektivität der humanitären Hilfe, bei Vernetzung und beim Heben von Potenzial nicht allein bei staatlichen Playern und bei der Stärkung der lokalen Akteure.
Ich glaube, die Perspektive der humanitären Hilfe muss sich künftig noch viel stärker verändern, und zwar von einer rein reaktiven Hilfeleistung nach einer Krise zu einem vorausschauenden Handeln zur Vermeidung von Krisen. Und : Humanitäre Hilfe darf nicht zum Alibi dafür verkommen, politische Konflikte durch die Staatengemeinschaft nicht zu lösen. Es ist richtig und notwendig, dass die Bundesregierung das Thema „humanitäre Hilfe“ zu einem Schwerpunkt der zweijährigen Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland im UN-Sicherheitsrat machen will. Dazu gehören zentrale Themen wie der Zugang zu Krisengebieten und der Schutz der humanitären Helfer, die Wahrung humanitärer Prinzipien und die Einhaltung des humanitären Völkerrechts. Das humanitäre Völkerrecht ist vielfach unter Druck. Völkerrecht muss die Menschenrechte schützen – nicht die Diktatoren.
Die Zeit läuft uns davon. Deswegen sage ich: Angesichts der wachsenden Anzahl und der Dauer von Konflikten sowie des steigenden Finanzbedarfs braucht es konkrete Initiativen.
Vielen Dank.
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Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Gyde Jensen.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht der Bundesregierung zeigt drei verschiedene Dinge ganz eindeutig auf: Humanitäre Krisen nehmen weltweit zu, und der Bedarf an humanitärer Hilfe ist so hoch wie nie zuvor. Zur Versorgung der Opfer von Konflikten und Naturkatastrophen wurde 2017 die Rekordsumme von 23,5 Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt. Und die Lücke zwischen den bereitgestellten Mitteln und dem Bedarf wächst trotzdem seit Jahren immer weiter an; momentan wird nur circa die Hälfte des tatsächlich Notwendigen gedeckt.
Mit diesen Fakten müssen die Weltgemeinschaft und vor allen Dingen auch die Bundesregierung umgehen. Deutschlands wachsender Beitrag dazu darf hier natürlich lobend hervorgehoben und nicht zu gering geschätzt werden; denn die deutschen Mittel – Frau Dr. Kofler hat es angesprochen – wurden in den vergangenen Jahren vervierfacht. Das zeigt den Willen, hier Hilfe im Rahmen unserer Möglichkeiten bereitzustellen.
Mit dem Wissen, dass die Dauer humanitärer Krisen stetig zunimmt und dass diese konfliktreicher und komplexer werden, reicht es aber nicht aus, in diesem Bericht sämtliche Einzelmaßnahmen aus den beteiligten Häusern zusammenhanglos aufzulisten. Was wir für eine bessere humanitäre Hilfe brauchen, liefert die Große Koalition in ihrem Bericht nicht. Es gibt kein abgestimmtes Konzept, es gibt keine deutlich erkennbare übergeordnete, ressortübergreifende Strategie, und es gibt keine wirkliche Ursachenorientierung zur nachhaltigen Konfliktlösung – weder hier im Bericht noch in dem angekoppelten Entschließungsantrag der Koalition.
Schwerpunkt der Arbeit meiner Fraktion ist deshalb, auf eine verstärkte Krisenprävention und Krisenfrüherkennung hinzuwirken, und im Mittelpunkt steht für uns die Frage, wie man Hilfe besser koordinieren und vernetzen kann.
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Hier sind vor allen Dingen zwei Dinge entscheidend:
Erstens. Es braucht aus unserer Sicht mehr Aufmerksamkeit für Good Governance – inklusive staatlicher Strukturen, die dazu beitragen, dass Konflikte erst gar nicht entstehen bzw. sie schnell gelöst werden. Wir müssen dafür eigene Ansprüche und Bedingungen formulieren – und das am besten in einem neuen ministeriumsübergreifenden Grünbuch für vernetztes Handeln.
Zweitens braucht es eine Stärkung der Resilienz multilateraler Institutionen, um in diesen immer komplexer werdenden Krisen flexibler reagieren zu können. Es kann nicht sein, dass wir immer erst aufwendige Geberkonferenzen veranstalten müssen und Organisationen quasi zu Bittstellern bei Staaten machen, der Bedarf jedoch letztlich überhaupt nicht ausreichend gedeckt wird.
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Wir müssen daher eine bessere Balance zwischen zweckgebundenen und nicht zweckgebundenen Mitteln finden; denn das Mindeste, was man hier von der Bundesregierung verlangen kann, ist, ihre internationale Zusage von 30 Prozent nicht zweckgebundener Mittel auch einzuhalten. Diesen Wert hat die Bundesregierung nie erreicht. Sie liegt tatsächlich deutlich darunter, nämlich mindestens 10 Prozent unter ihrer Zusage. Das ist tatsächlich nicht nur fahrlässig, sondern dadurch kommt auch die Hilfe nicht dort an, wo sie am meisten gebraucht wird.
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Mit dem Sitz im UN-Sicherheitsrat kommt auf Deutschland eine besondere Verantwortung zu – vor allem mit dem Vorsitz in diesem Monat –, und zwar die Verantwortung, zu zeigen, dass die internationale Gemeinschaft in Zukunft besser für die Verhinderung von und die Reaktion auf humanitäre Krisen gerüstet ist. Es wäre daher die Aufgabe der Bundesregierung, multilaterale Strukturen zu stärken und gemeinschaftlich mehr in Krisenprävention zu investieren. Der aktuelle Bundeshaushalt zeigt allerdings, dass die Bundesregierung die Schere zwischen multilateralen und bilateralen Vereinbarungen immer weiter öffnet, und das ist in Zeiten, in denen es deutlich mehr Multilateralismus braucht, ein fatales Signal.
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Meine Damen und Herren, perfide ist – und das muss an dieser Stelle gesagt werden –, dass Sicherheitsratsmitglieder wie China und Russland international ihren humanitären Verpflichtungen nicht im Geringsten nachkommen, gleichzeitig aber aus dem Leid der Menschen in bestimmten afrikanischen Ländern, beispielsweise mit leicht erkauftem Zugang zu Rohstoffen, Profit schlagen.
Meine Redezeit ist leider schon abgelaufen. – Was häufig vergessen wird, hier zu erwähnen, ist, dass es eben nicht nur Krisen im Jemen oder in Syrien gibt, sondern auch die sogenannten zehn vergessenen Krisen, die das Auswärtige Amt erst letztens wieder vorgestellt hat.
Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Deswegen brauchen wir nach Istanbul einen neuen humanitären Weltgipfel, mit dem wir entscheidend dazu beitragen, zu zeigen, dass Zivilisiertheit und Humanität ihren Wert in der Welt nicht verloren haben.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Nastic das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Weltweit sind 75 Millionen Menschen auf der Flucht, 821 Millionen Menschen hungern. Der Bedarf an humanitärer Hilfe hat sich seit den 2000er-Jahren mehr als verzehnfacht, obwohl man die Menschheit – das wissen wir alle – zweimal ernähren könnte. Solange aber mit Milch und Mais kapitalistische Geschäfte betrieben werden können, werden eher Nahrungsmittel vernichtet, als dass Konzerne wie Nestlé es zulassen, dass die Preise dafür sinken. Die humanitärste Hilfe – auch bei uns – wäre, die Spekulanten, die mit Not Geschäfte machen, aus der globalen Ernährungswirtschaft zu verjagen und zu vertreiben.
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Die Bundesrepublik hat die Mittel für humanitäre Hilfe in den vergangenen Jahren auf 1,5 Millionen Euro erhöht.
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Gleichzeitig haben Sie aber im vergangenen Jahr Rüstungsexporte im Wert von 4,8 Milliarden Euro genehmigt. Dadurch werden die Opfer mehr, auch wenn Ihre Statistik schöner wird.
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Als Wohltätige für die Bedürftigen dieser Welt sollten Sie sich nicht gerieren,
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solange Sie Kriegs- und Krisengebiete befeuern und sich mit den Milliardären gutstellen, die diese Welt beherrschen und ausbeuten.
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Sind Heckler & Koch-Sturmgewehre in den Drogenkriegen von Mexiko, EMT-Drohnen im Jemen und Rheinmetall-Granaten wirklich Beiträge zum Frieden und zu Menschenrechten in der Welt?
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Wie soll man eigentlich Politikerinnen und Politiker nennen, die diese Geschäfte abzeichnen und lizenzieren? Schreibtischtäter oder eher Beihelfer zum Mord?
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Herr Maas schwirrt über die Redepodeste der Welt und meint, es sei humanitär, zusammen mit Donald Trump den Halbfaschisten Guaidó an die Stelle des autoritären Linken Maduro zu setzen.
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Wissen Sie eigentlich, worin der wirtschaftliche Fehler und das Missmanagement von Maduro bestehen? Sie bestehen darin, dass er das Öl nicht mehr in Dollar verkauft.
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Seitdem wurde nämlich humanitäre Hilfe zum Putschinstrument degradiert, und seit Monaten hält die Bundesregierung die humanitäre Unterstützung für Venezuela zurück.
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Zu Recht kritisieren sowohl das Internationale Rote Kreuz
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– Frau Präsidentin! – als auch namhafte Expertinnen und Experten, dass das, was um Venezuela herum passiert, ein Paradebeispiel für den Missbrauch humanitärer Hilfe für politische Zwecke ist.
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Auch in Syrien war Ihnen nur dort humanitäre Hilfe genehm, wo die sogenannte Opposition herrschte. Die Notlage der Menschen in den anderen Gebieten war Ihnen vollkommen egal. Mit dem Neutralitätsgebot der humanitären Hilfe hat das rein gar nichts zu tun.
Das Mittelmeer: die tödlichste Grenze der Welt. Dort verwehren Sie gezielt die Seenotrettung von Menschen und riskieren Sie deren Leben. Auch das ist eine reine Missachtung der humanitären Grundsätze.
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Im Jemen, wo sich durch einen verbrecherischen Krieg – angeführt von Saudi-Arabien – die größte humanitäre Krise unserer Zeit abspielt, sind laut „Safe the Children“ allein 85 000 Kinder aufgrund der Blockadepolitik verhungert und gestorben. Und was machen Sie? Sie schicken humanitäre Hilfe und verschweigen, dass das Mordwerkzeug aus Ihren Genehmigungen stammt.
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Das Bundeswirtschaftsministerium hat gerade behauptet, Saudi-Arabien verstoße im Jemen nicht gegen die Endverbleibsklausel. Für Sie ist also der Einsatz deutscher Waffen in Angriffskriegen legitim. Für Die Linke ist das ein Verbrechen.
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Sie berufen sich auf die Neutralität der humanitären Hilfe, aber dort, wo es um Konzern- und NATO-Interessen geht, sind Sie nicht neutral. Die Linke ist es auch nicht; wir stehen nämlich bei den Opfern.
Seit Jahren schweigen Sie zu der humanitären Situation und Menschenrechtssituation von Julian Assange. Ich sage Ihnen eines: Nicht diejenigen, die Kriegsverbrechen aufdecken, sondern diejenigen, die sie begehen und in Auftrag geben, gehören kriminalisiert.
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Deswegen sagen wir Linken: Asyl für Julian Assange und Freiheit für Julian Assange!
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Das Wort hat die Kollegin Margarete Bause für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist gut und wichtig, dass Deutschlands Ausgaben für humanitäre Hilfe in den letzten Jahren deutlich gestiegen sind. Das ist von extrem großem Wert in Zeiten, in denen die Zahl von Menschen in Not dramatisch wächst. Von noch größerem Wert ist es, dass die Arbeit der vielen humanitären Helferinnen und Helfer vor Ort stattfindet. Deswegen gebührt all denen unser aller großer Dank für ihre aufopferungsvolle und zum Teil auch gefährliche Arbeit,
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sei es im Jemen, im Südsudan, in Bangladesch, ganz aktuell in Mosambik; überall da, wo Kinder, Frauen und Männer durch Naturkatastrophen, durch Klimakatastrophen, vor allem aber durch schlimmste Konflikte und Kriege in existenzielle Not geraten.
Mit mehr Geld alleine ist es aber nicht getan. Mehr Geld bedeutet auch mehr Verantwortung. Mehr Geld erfordert mehr Transparenz. Mehr Geld benötigt auch andere Strukturen. Sprich: Es braucht eine andere strategische Aufstellung und Klarheit über die Ziele, die man erreichen will.
Wir hatten vor kurzem in unserem Ausschuss eine Anhörung zur humanitären Hilfe; das wurde schon erwähnt. Die Stellungnahmen und Forderungen der Expertinnen und Experten waren sehr eindeutig. Zum einen wurde unisono die finanzielle Anstrengung Deutschlands gelobt. Gleichzeitig wurden aber auch die Mängel und die Herausforderungen benannt, vor denen wir stehen. Als ein großes Problem wurde immer wieder der Mangel an Transparenz thematisiert. Eine Expertin sagte: Wer warum für welches Land wie viel Geld ausgibt, ist nicht nachvollziehbar. – Ich finde, so etwas können wir uns nicht leisten. Da braucht es ganz klar andere Strukturen, mehr Transparenz. Es reicht auch nicht, alle vier Jahre hier im Parlament einen Bericht abzugeben. Da brauchen wir deutlich mehr an Anstrengungen.
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Zweiter Kritikpunkt war, dass die strategische Kompetenz nicht in gleichem Maße gewachsen ist wie die finanziellen Mittel. Zitat:
Will Deutschland strategisch dauerhaft eine größere Rolle spielen, besteht personell sowohl im Amt wie auch in den Botschaften vor Ort akuter Handlungsbedarf.
So der Direktor des Centre for Humanitarian Action. Er verwies darauf, dass das Auswärtige Amt in Berlin weniger Fachkräfte für humanitäre Hilfe vorhält als andere Top-Geberländer allein in ihren Botschaften vor Ort. Auch da brauchen wir größere Anstrengungen.
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Als weiterer Punkt und weitere Aufgabe wurden die bessere Planbarkeit und die größere Flexibilität der humanitären Hilfe eingefordert. Dafür braucht es verstärkte mehrjährige Förderungen von Programmen und mehr Mittel, die zweckungebunden vergeben werden, weil man nur mit diesen zweckungebundenen Mitteln tatsächlich schnell da helfen kann, wo Hilfe dringend nötig ist.
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Deswegen unsere Forderung: Geben Sie denen, die sich vor Ort auskennen, endlich mehr Beinfreiheit!
In Ihrer neuen Strategie betonen Sie auch die vergessenen Krisen. Allein, man merkt: Es gibt keine Kriterien, wonach sich das bemessen soll. Leider müssen wir feststellen, dass Deutschland im Jahr 2017 für die drei weltweit am schlechtesten finanzierten Krisenländer Senegal, Kuba und Dschibuti laut Ihrem Bericht null Euro an humanitärer Hilfe bereitgestellt hat.
Zur Glaubwürdigkeit der humanitären Hilfe gehört ebenfalls die Kohärenz; auch das wurde von den Experten angesprochen. Zur Glaubwürdigkeit gehört auch, dass wir nicht noch durch Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete die Konflikte verschärfen.
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Wir müssen Konfliktlösungen exportieren und keine Krisenverschärfung.
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Bei der Eröffnung des Centre for Humanitarian Action lautete das Motto: „Humanitäre Hilfe in der Krise – Deutschland nur ein kleiner Riese?“
Kollegin Bause, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mein letzter Satz. – Liebe Bundesregierung, nehmen Sie das als Ansporn. Zeigen Sie, dass Sie bei der humanitären Hilfe zu den Großen gehören.
Danke schön.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Sebastian Brehm das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Humanitäre Hilfe ist das wichtigste Mittel, um Menschen, die durch Kriege oder Naturkatastrophen in dramatische Lagen geraten sind, zu helfen. Deutschland hilft hier in besonderer Weise, und das ist gut und richtig.
Es ist ein positives Signal, dass Deutschland in den vergangenen Jahren eine massive Erhöhung der finanziellen Mittel vorgenommen hat, wie es auch der „Bericht der Bundesregierung über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 2014 bis 2017“ bestätigt. Wir tragen mit rund 1,8 Milliarden Euro große Verantwortung und sind somit der zweitgrößte Geldgeber weltweit.
Humanitäre Krisensituationen können aber leider nicht von einem Land alleine gelöst werden, wie sehr die Mittel hier auch erhöht werden. Humanitäre Hilfe ist eine Herausforderung, der sich alle Länder stellen müssen, vor allem aber die wohlhabenden Industrieländer. Der weltweite Bedarf an humanitärer Hilfe betrug in 2017 23,5 Milliarden US-Dollar, davon wurden leider nur 11,9 Milliarden US-Dollar gedeckt, also gerade einmal die Hälfte. Und der Bedarf steigt stetig weiter.
Wir haben gehört: 130 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, 68 Millionen Menschen sind auf der Flucht, davon die Hälfte Kinder. Deshalb finde ich es äußerst bedauerlich, dass finanzstarke Länder wie die USA ihr Budget für die Entwicklungszusammenarbeit und damit auch die Mittel für die humanitäre Hilfe in 2018 um 6 Prozent gekürzt haben. Im ursprünglichen Haushaltsentwurf war übrigens eine Kürzung von 33 Prozent vorgesehen. Das ist unverantwortlich und führt zwangsläufig zu weiteren Wanderungsbewegungen. Wir haben die Mittel vervierfacht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Um langfristig erfolgreich zu sein, sollten wir uns nicht nur auf den Wiederaufbau nach Kriegen oder die Versorgung und den Schutz von zivilen Opfern konzentrieren. Wir müssen präventiv handeln:
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durch den Aufbau von Frühwarnsystemen gegen Naturkatastrophen oder durch die Prävention von Hungersnöten. Hier müssen wir in Zukunft noch mehr auf die Bündelung unserer Ressourcen und unseres Know-hows setzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe können nicht strikt voneinander getrennt sein. Humanitäre Hilfe richtet sich an vier Prinzipien aus: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit. Dies führt unweigerlich immer mal wieder zu Zielkonflikten zwischen notwendigen außenpolitischen Interessen und humanitärer Hilfe. Aber ich kann in diesem Zusammenhang nur an beide Ministerien ein Dankeschön für die tolle Arbeit sagen, die in den vergangenen Jahren geleistet wurde. Herzlichen Dank dafür!
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Und ein weiterer wichtiger Punkt, der notwendig ist, ist, dass wir die Akteure vernetzen. Wir müssen die humanitäre Hilfe noch stärker vernetzen, um die Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen prüfen zu können. Hier liegt meiner Meinung nach der Schlüssel. Nur mit einer gemeinsamen Vernetzung können wir es schaffen, präventiv zu agieren mit dem Ziel, humanitäre Katastrophen zu verhindern. Damit verhindern wir übrigens auch neue Flüchtlingsströme, die entstehen, wenn Menschen vor Hunger, Krieg und Notlagen fliehen müssen. Diese Vernetzung ist ebenfalls notwendig und richtig.
Wenn die AfD und Die Linke heute die humanitäre Hilfe der Bundesregierung anzweifeln – ich tue das übrigens nicht –, dann zweifeln sie auch die Arbeit der vielen Akteure in der Welt an, die humanitäre Hilfe leisten.
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Ich habe großen Respekt vor den Menschen, die in der Welt Hilfe leisten. Deswegen bleibt mir am Schluss, ein großes Dankeschön an alle Akteure zu sagen, die teilweise unter Einsatz ihres Lebens und mit großem Engagement Menschen in der Not helfen. Sie sind alle die Visitenkarte von Deutschland in der Welt. Danke für Ihren Einsatz!
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Das Wort hat die Kollegin Özoğuz für die Fraktion der SPD.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch mal an 2014/2015 erinnern, als dem World Food Programme tatsächlich das Geld ausging. Wir konnten uns davon überzeugen, dass es für viele Lager der Welt, gerade in Syrien und um Syrien herum, einfach nicht mehr genügend Geld gab, um Menschen mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Als Folge daraus entstanden diese großen Flüchtlingsbewegungen. Obwohl die Menschen nicht weggehen wollten, mussten sie es aus Not doch tun.
Herr Braun, Sie haben gesagt, wir hätten da nicht geholfen. Die Bundesregierung hat Syrien damals das Angebot gemacht, zu helfen. Die syrische Regierung hat das nicht zugelassen. Sie sind als AfD-Fraktion zu den Machthabern nach Syrien gefahren und haben sich mit ihnen kumpelhaft getroffen – genau mit den Menschen, die die humanitäre Hilfe nicht ermöglicht haben. Es waren Ihre Freunde, die diese Hilfe unmöglich gemacht haben.
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Wir sprechen im Grunde jedes Jahr darüber – das kam auch in den verschiedenen Beiträgen immer wieder zur Sprache –, dass die Zahl von Flüchtlingen weltweit erneut am höchsten ist. Das braucht natürlich Antworten; denn wir wissen: Die Menschen fliehen vor gewaltsamen Konflikten. Der Bericht der Bundesregierung gibt darüber sehr gut Auskunft. Wir haben es eben mit immer komplexer werdenden und immer länger anhaltenden Konflikten zu tun.
Egal wie viel Geld von der Bundesregierung beigesteuert wurde, gibt es immer Menschen – ich stimme ihnen allen zu –, die sagen: Es kann mehr sein, und es muss mehr werden. – Wir müssen diese Mittel verstetigen, und die Förderung ausbauen. Ich stimme allen zu. Aber ein Zuwachs von 304 Millionen Euro im Jahr 2014 auf ungefähr 1,2 Milliarden Euro in 2017 ist deutlich, und ich finde, das muss man auch klar benennen.
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Die aktuell schlimmste humanitäre Katastrophe – Herr Brand, Sie haben es eben angesprochen; ich möchte es auch noch mal sagen – ist die im Jemen. Wir haben davon einfach keine Bilder in Deutschland. Ich glaube, das liegt auch daran, dass wir uns nicht alle jeden Tag mit dem Jemen befassen und uns anschauen, was dort eigentlich passiert:
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24 Millionen Menschen brauchen dringend humanitäre Hilfe, 10 Millionen Menschen – ich glaube, Frau Nastic hat es angesprochen – sind vom akuten Hungertod bedroht, die sanitäre Versorgungslage ist katastrophal, und es bahnt sich auch noch eine Cholera-Epidemie unfassbaren Ausmaßes an.
Manuela Roßbach aus dem Vorstand der Aktion Deutschland Hilft hat kürzlich gesagt – ich darf sie zitieren –:
Ohne humanitäre Hilfe bliebe im Jemen nur noch Leid und Tod!
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam weiter an der humanitären Hilfe arbeiten, sie effizienter und effektiver machen –
Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
– und damit unseren Beitrag für etwas mehr Perspektive in der Welt leisten.
Vielen Dank.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Norbert Altenkamp für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kürzlich habe ich mit Vertretern des Centre for Humanitarian Action, CHA, über die Frage diskutiert: Wie wird die deutsche humanitäre Hilfe eigentlich im Ausland eingeschätzt? Ist Deutschland hier ein kleiner oder ein großer Riese?
Bei der Anhörung im Menschenrechtsausschuss am 20. März 2019 war der Direktor des CHA einer der sechs Experten, die ihre Einschätzung zum Bericht der Bundesregierung zur deutschen humanitären Hilfe im Ausland abgaben. Das Fazit der Experten ist klar: Deutschland ist ein großer Riese, was die Mittel zur humanitären Hilfe betrifft.
Wir sind der zweitgrößte Geldgeber weltweit. Wir leisten damit einen großen Beitrag zur Katastrophenhilfe, zur Verbesserung der Lebensverhältnisse, zur Krisenprävention und zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Das ist heute notwendiger denn je; denn die Zahl der Menschen, die wegen Kriegen, Konflikten, Natur- und Klimakatastrophen weltweit auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, steigt. Da andere Geberländer ihre Mittel nicht aufstocken, wächst gleichzeitig die Lücke zwischen wachsendem Bedarf und verfügbaren Hilfen – eine katastrophale Entwicklung.
Umso wichtiger ist es, dass die knappen Mittel den größtmöglichen Effekt erzielen. Wie können wir das sicherstellen?
Die deutsche Hilfe könnte noch überzeugender sein, wenn die Mittel häufiger zweckungebunden und damit flexibler eingesetzt würden.
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Die Digitalisierung muss auch in der humanitären Hilfe weiter vorangetrieben werden: für mehr Schlagkraft, für schnellere Bargeldtransfers mithilfe von Blockchain-Systemen oder für die Weiterentwicklung der Hilfsprogramme vor Ort. Die deutsche Expertise bei Datenschutz und Datensicherheit ist hier sehr wichtig; denn Vertrauen in Datensicherheit und Schutz vor Datenmissbrauch sind bei der humanitären Hilfe essenziell.
Ein wesentliches Ziel der deutschen humanitären Hilfe ist es, die lokalen Akteure zu stärken. Hier muss auch die Selbsthilfe vor Ort noch besser eingebunden werden.
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Entscheidend ist zudem der Ausbau von Katastrophenfrühwarnsystemen und von schützender Infrastruktur. Deutschland ist bei der vorausschauenden humanitären Hilfe inzwischen Vorreiter. Daran sollten sich andere Geberländer ein Beispiel nehmen.
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Wir müssen nicht nur bei Katastrophen, sondern auch bei drohenden Konflikten früher und wirksamer eingreifen. Zum Beispiel in Regionen wie Assam, damit sich der dort aufblühende Hindu-Nationalismus und die zunehmende Verfolgung der muslimischen Minderheit nicht zu einer großen Krise auswachsen wie bei den Rohingya in Myanmar. Auch hier ist die stärkere Unterstützung von lokalen Initiativen ein guter Anknüpfungspunkt, zum Beispiel von Bildungsinitiativen, wie sie von Childaid Network aus meinem Wahlkreis gefördert werden. Sie helfen in Assam allen Gruppen gleichermaßen und bringen Menschen zusammen.
Die Möglichkeit für Deutschland, lokal engere Verbindungen zu knüpfen, ist groß. Wir genießen weltweit Vertrauen und hohe Wertschätzung für unsere auf Ausgleich und Konfliktlösung gerichtete Außen- und Sicherheitspolitik. Dieses Plus und unser Ansehen als ehrlicher Makler sollten wir bei der Zusammenarbeit vor Ort, aber auch im Bereich der humanitären Diplomatie strategisch noch stärker nutzen.
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Bei der Arbeit vor Ort sind wir außerdem ganz wesentlich auf die Mithilfe der zahlreichen NGOs angewiesen. Deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter engagieren sich oft unter Einsatz ihres Lebens für die Menschen in Not. Das verdient unseren größten Respekt, und deswegen sage auch ich an dieser Stelle ein herzliches Danke.
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Zu beachten ist: Wir dürfen die Mittel für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit nicht gegenrechnen. Wichtig ist, dass die Mittel im BMZ-Haushalt in den nächsten vier Jahren nicht, wie derzeit geplant, sinken, sondern steigen. Gerade in langanhaltenden Krisen müssen humanitäre Hilfe und entwicklungspolitische Ansätze ganz eng ineinandergreifen, zum Beispiel bei Bildungsmaßnahmen vor Ort.
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Mein Fazit: Der Mittelaufwuchs der deutschen humanitären Hilfe im Ausland ist beispielhaft. Um das insgesamt knappe Geld so effektiv wie möglich einzusetzen, müssen wir vor Ort, in den anstehenden Haushaltsberatungen und im UN-Sicherheitsrat auch neue Akzente setzen.
Herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf Drucksache 19/9300 zu dem Bericht der Bundesregierung über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 2014 bis 2017. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Berichts der Bundesregierung auf Drucksache 19/5720 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der AfD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Leitmarkt für die Elektromobilität sollte Deutschland nach dem Willen der Bundesregierung werden, und 1 Million elektrische Fahrzeuge sollten bis 2020 auf den Straßen rollen. Es ist beim Wollen geblieben.
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Damit gefährdet die Bundesregierung nicht nur die Einhaltung der Klimaschutzziele, sondern sie setzt auch die Zukunftsfähigkeit des stärksten Wirtschaftszweigs in Deutschland aufs Spiel. Man sichert keine Arbeitsplätze in der Automobilindustrie, indem man den fossilen Verbrennungsmotor unter Artenschutz stellt, während sich der Rest der Welt einen Wettkampf um saubere Antriebe liefert.
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Die Bundesregierung hat sich dazu verpflichtet, den CO 2 -Ausstoß im Verkehr bis 2030 um mindestens 40 Prozent zu reduzieren. Das ist ohne Elektromobilität nicht zu schaffen. Wer es mit Klimaschutz ernst meint, muss der Elektromobilität jetzt zum Durchbruch verhelfen.
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Doch stattdessen steht die Bundesregierung auf der Bremse. Nehmen wir die Kraftstoffsteuer: Die Bundesregierung verhält sich weder klug noch technologieoffen, wenn sie Dieselkraftstoff immer noch steuerlich stärker subventioniert, als sie die Elektromobilität insgesamt fördert.
Sehen wir uns den Aufbau der Ladeinfrastruktur an. Der bleibt in der Bürokratie stecken. Seit über zwei Jahren wird öffentliche Ladeinfrastruktur gefördert, doch nur ein Bruchteil der Infrastruktur ist aufgebaut. Die Antragsteller warten in der Regel über ein Jahr auf einen Förderbescheid des Ministers. Elektroautos werden künftig vor allen Dingen zu Hause geladen. Doch reihenweise scheitert die Installation von Ladeinfrastruktur in privaten Tiefgaragen oder auf Parkplätzen am Veto von Vermietern oder Miteigentümern.
Seit Herbst 2016 gibt es als Lösung einen Gesetzentwurf aus dem Bundesrat. Doch die Bundesregierung hat erst mal eine neue Arbeitsgruppe gegründet. Es ist dringend notwendig, dass die zuständige Ministerin Barley die Gesetzesänderungen im Miet- und Wohneigentumsrecht noch vor ihrem Abschied nach Brüssel vorlegt.
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Im Sommer läuft die Kaufprämie für Elektroautos aus. Das ist falsch, jetzt wo die deutschen Automobilhersteller endlich zahlreiche Elektromodelle auf den Markt bringen. Es wäre aber ebenso falsch, die Kaufprämie weiter aus Steuergeldern zu finanzieren. Sie sollte durch ein Bonus-Malus-System in der Kfz-Steuer ersetzt werden, sodass rein elektrische Fahrzeuge eine Gutschrift erhalten, während Spritschlucker, zum Beispiel SUVs, stärker an den ökologischen Kosten beteiligt werden.
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Nur auf Elektromobilität zu setzen, sei ihm zu eingegrenzt, sagte Verkehrsminister Scheuer am Montag beim Future Mobility Summit in Berlin. Es müsse auch die Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie gefördert werden. Das Gleiche hat FDP-Chef Lindner auf Twitter verkündet. Oje, wer erklärt ihnen, dass die Energie für Elektromotoren neben Batterien auch aus Brennstoffzellen kommen kann und dass in Brennstoffzellen Wasserstoff zum Einsatz kommt? Das sind also keine Alternativen zur Elektromobilität, sondern das sind Varianten der Elektromobilität.
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Das bestätigt wieder mal nur, dass es besser ist, wenn Ingenieure die Entscheidung treffen, mit welchen Antriebskonzepten die Autos produziert werden, und nicht die Politik.
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Es wäre Planwirtschaft, den Autobauern vorzuschreiben, in welche Technologien sie investieren sollen.
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Die deutschen Hersteller setzen, wenn auch reichlich spät, auf Elektromobilität. Bei Volkswagen haben die Ingenieure ideologiefrei die technischen Alternativen durchgerechnet und wenig überraschend festgestellt, dass batterieelektrische Autos als Massenprodukt deutlich günstiger,
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vom Energiebedarf her wesentlich effizienter und damit auch deutlich vorteilhafter sind als alle anderen alternativen Antriebstechnologien.
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E‑Autos verursachen bereits heute deutlich weniger Emissionen im Lebenszyklus als Autos mit Verbrennungsmotor. Dieser Vorsprung wird mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien weiter voranschreiten.
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In der Serienfertigung werden Elektroautos absehbar nicht teurer sein als Autos mit Verbrennungsmotor, trotz Batterie. Dass sich keiner mehr ein E‑Auto leisten kann, ist blanker Unsinn. Das derzeit meistverkaufte Elektroauto –
Kollege Kühn, kommen Sie bitte zum Schluss.
– ich komme zum Schluss – bekommt man schon für 99 Euro plus 59 Euro Batteriemiete im Monat. Das ist bezahlbar.
Meine Damen und Herren, wir müssen die Elektromobilität jetzt aus der Nische holen. Wir haben entsprechende Vorschläge gemacht.
Sie müssen jetzt den Punkt setzen, bitte.
Ich freue mich auf die Debatte und auf Ihre Vorschläge.
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Ich wiederhole mich, da einige Kolleginnen und Kollegen vor einer Stunde nicht hier waren: Ich bin fest entschlossen, die Praxis, die alle Präsidentinnen und Präsidenten seit heute Morgen um 9 Uhr geübt haben, fortzusetzen. Das heißt, Sie müssen damit rechnen, dass ich Ihnen dann, wenn ich Sie einmal ermahnt habe, Sie aber weiter reden, tatsächlich den Ton abstelle. Das gilt ausnahmslos für alle Kolleginnen und Kollegen, ohne Ansehen der Fraktion.
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Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Bilger für die Bundesregierung.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Dienstag hat die Leopoldina, die Nationale Akademie der Wissenschaften, ihr Gutachten zum Thema „saubere Luft, Grenzwerte und Fahrverbote“ vorgelegt. Dieser Bericht bestätigt uns in unserer Linie beim Einsatz für Luftreinhaltung unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit.
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Fahrverbote sind nicht sinnvoll, um die Luftreinhalteziele zu erreichen.
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Viel besser geeignet sind Maßnahmen wie Softwareupdates, Hardwarenachrüstungen bei Bussen, der Umstieg auf alternative Antriebe, die Förderung des ÖPNV, des Radverkehrs und neuer Mobilitätsangebote. Und: Die Luft wird ohnehin Jahr für Jahr besser, sodass es unter Beibehaltung der bisherigen Anstrengungen nur eine Frage der Zeit ist, bis die Grenzwerte überall eingehalten werden.
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Die Leopoldina bestätigt, dass es richtig ist, auf Innovationen statt auf Verbote zu setzen. Die Wissenschaftler bestätigen auch, dass es nicht richtig wäre, sofort nur noch auf Elektroautos zu setzen. Saubere Verbrennungsmotoren werden noch eine Zeit lang ihre Berechtigung haben. Außerdem gibt es auch andere alternative Antriebe als nur das Elektroauto mit Batterie.
Ein Grundkonflikt wird in der politischen Debatte ohnehin bleiben: Stehen wir zur Individualmobilität, zur Freiheit des Menschen, selbst zu entscheiden, wie er von A nach B kommt, oder wollen wir alles reglementieren und mit Verboten und Verteuerungen eine Umerziehung anstreben?
Am Montag gab es ein Ereignis, das viel über die aktuelle Debatte aussagt. Minister Scheuer fuhr zu einer Veranstaltung und wurde von selbsternannten „Aktivisten“ gestoppt. Greenpeace feierte die Aktion in den sozialen Medien und freute sich, dass der Minister in „seinem dicken SUV“ gestoppt wurde. Nur: Der „dicke SUV“ war ein Elektroauto.
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Meine Damen und Herren, wer aus ideologischen Gründen sogar dagegen ist, dass man mit einem Elektroauto, egal ob groß oder klein, unterwegs ist, dem sage ich sehr deutlich: So nicht! Das ist mit uns nicht zu machen.
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Das Ziel muss doch sein, nachhaltige, effiziente und bezahlbare Mobilität zum Wohl der Menschen zu ermöglichen.
Die Umsetzung der Energiewende ist eine große Herausforderung. Das gilt umso mehr für die Energiewende im Verkehr. Um die Ziele der Bundesregierung im Bereich Klimaschutz zu erreichen – Schadstoffminderung und Energieeffizienz –, sind erhebliche Veränderungen für das gesamte Mobilitätssystem notwendig. Der schrittweise Umstieg auf alternative Antriebe und Kraftstoffe mit gleichzeitigem Aufbau der Tank- und Ladeinfrastruktur ist dabei eine unverzichtbare Voraussetzung.
Die Bundesregierung unterstützt den Markthochlauf alternativer Antriebstechnologien mit zahlreichen Aktivitäten und Fördermaßnahmen im Bereich Forschung und Entwicklung, Marktaktivierung und Beschaffung über entsprechende Förderprogramme. Das betrifft sowohl die batterieelektrische Mobilität als auch die Nutzung von Wasserstoff- und Brennstoffzelle. Auch die Gasmobilität mit steigenden Anteilen erneuerbarer Gase sowie biogene und strombasierte Flüssigkraftstoffe werden ihren Beitrag leisten. Auch die Entwicklung synthetischer Kraftstoffe verdient Unterstützung. Offen gesagt, kann ich die Ablehnung von Teilen der Grünen, was die synthetischen Kraftstoffe anbelangt, nicht nachvollziehen.
In anderen Bereichen gibt es, wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, Übereinstimmungen. Auch wir sind beispielsweise der Auffassung, dass im Bereich der privaten Ladeinfrastruktur mehr passieren muss. Daher hat Minister Scheuer kürzlich ein Förderprogramm für private Ladeinfrastruktur vorgeschlagen. Auch beim Wohneigentumsrecht soll sich endlich etwas tun.
Im Ergebnis müssen also, um unsere ambitionierten Ziele zu erreichen, alle vorhandenen Technologien ihre Potenziale zur Reduzierung der Emissionen im Verkehr beisteuern. Heute Morgen beim „Tag der Logistik“ habe ich viele Beispiele für die Anwendung alternativer Antriebe gesehen. Zum Westhafen bin ich mit einem Wasserstoffauto gefahren. Dort wurde ein Schiffsprojekt mit Wasserstoffantrieb vorgestellt. Es waren Zugmaschinen mit Elektroantrieb im Einsatz. Die Unternehmen, die sich dort präsentiert haben, setzen Gas-Lkw ein. Das alles ist schon Realität.
Für alle genannten Beispiele und auch für Hybridbusse oder Wasserstoffzüge gibt es Fördermaßnahmen des Bundes. Ich will einen eindrucksvollen Beleg für diese effektive Förderung nennen. Seit Sommer letzten Jahres konnten wir allein im Lkw-Bereich – wir reden viel zu oft nur über das Auto, aber auch im Lkw-Bereich gibt es gewaltige Potenziale für alternative Antriebe – die Anschaffung von 506 LNG- und 160 CNG-Lkw, beides Gas-Lkw, und von 22 E‑Lkw fördern.
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Alternative Antriebe technologieoffen zu fördern, ist wichtig. Nicht die Politik muss entscheiden, welche Form nachhaltiger Mobilität sich durchsetzt. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, gute Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Bundesregierung hält einen breiten Technologiemix zur Erreichung der im Klimaschutzplan 2050 beschlossenen Klimaziele für notwendig. Deshalb müssen wir die Potenziale aller verfügbaren Technologien bestmöglich erschließen.
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Ich bitte diejenigen, die sich entschließen, Fragen zu stellen oder Bemerkungen zu machen, sich nicht zehn Sekunden vor Ende der verabredeten Redezeit zu melden. Es macht wenig Sinn, dann noch eine Frage an den Redner zu stellen.
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– Ja, das kann ich jetzt leider nicht ändern. Ich bitte, das in Zukunft einfach ein bisschen früher zu klären, dann kriegen wir das auch hin.
Nächster Redner ist der Abgeordnete Dr. Dirk Spaniel für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Elektromobilität wird ja immer begründet mit den Vorteilen gegenüber Verbrennungsmotoren bezüglich Luftschadstoffen und CO 2 -Emissionen.
Kommen wir mal zum Antrag der Grünen.
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Im Titel Ihres Antrags sprechen Sie davon, Elektromobilität auf die Überholspur bringen zu wollen. Offensichtlich ist Elektromobilität nicht konkurrenzfähig: Es braucht massive staatliche Eingriffe und Subventionen sowie Verbote von Verbrennungsmotoren, um diese nicht konkurrenzfähige Technologie überhaupt durchzusetzen.
({1})
Ich will Ihnen jetzt einmal erklären, warum Elektromobilität aus Sicht der AfD unsinnig ist. Unter dem aktuellen Strommix in Deutschland ist der CO 2 -Ausstoß beispielsweise eines Tesla Model S höher als der eines modernen Mercedes-E-Klasse-Diesels.
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Wer Elektromobilität fördert, ändert derweil überhaupt nichts am CO 2 -Ausstoß Deutschlands, die Emissionen werden lediglich vom Verkehrssektor in den Stromerzeugungssektor verlagert. Ergebnis: null Vorteil.
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Kommen wir einmal zu dem Argument „weniger Luftschadstoffe durch Elektromobilität“. Es wurde ja eben schon erwähnt: Diese Woche hat die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina ein interessantes Gutachten vorgestellt. In dem Bericht der Leopoldina wird klargestellt, dass nicht Stickoxid, sondern Feinstaub die Luftqualität negativ beeinflusst.
({4})
Ich zitiere:
Weltweit besteht Einigkeit darüber, dass von Feinstaub im Vergleich zu Stickstoffdioxid die höhere Gesundheitsgefahr ausgeht.
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Das ist ja hochinteressant. Feinstaub im Verkehr entsteht hauptsächlich durch Abrieb von Bremsen und Reifen
({6})
und eben nicht durch den Verbrennungsmotor.
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Im Übrigen liegen – und jetzt wird es spannend – die Feinstaubemissionen eines Euro-6-Diesel-Fahrzeugs auf dem Niveau eines Fahrrades.
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Ja, das sind Fakten. Die Feinstaubbelastung in den Stuttgarter U-Bahn-Stationen ist zweimal höher als an der schon fast legendären Messstation an der Straße am Neckartor. Nutzer der U-Bahn sind damit den höchsten Gesundheitsgefahren ausgesetzt.
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Das sage nicht ich, das sagt eine Studie der DEKRA. Wenn Sie also mit gesundheitlichen Risiken argumentieren, müssten Sie den schienengebundenen unterirdischen ÖPNV dringender unterbinden als den Verbrennungsmotor – ja!
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Daneben gibt es noch weitaus gravierendere Argumente, die gegen den Ausbau der Elektromobilität sprechen: Die Förderung von Rohstoffen, die weitestgehend in Entwicklungsländern stattfindet, gelingt nur mit menschenrechtlich, umwelt- und sozialpolitisch problematischen Maßnahmen.
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Hierbei ist insbesondere die Förderung von Lithium und Kobalt zu erwähnen. Speziell der hohe Wasserverbrauch bei der Lithiumgewinnung ist aus unserer Sicht unverantwortlich.
({12})
Sie können doch nicht allen Ernstes hier das Elektroauto als das umweltfreundlichste und sauberste Fortbewegungsmittel darstellen,
({13})
während in den Entwicklungsländern unter erbärmlichen Bedingungen
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Kinder und Erwachsene für Ihr gutes Gewissen einstehen sollen.
Ihnen geht es überhaupt nicht um die Umwelt,
({15})
Ihnen geht es allein darum, den deutschen Automobilsektor und die Individualmobilität an die Wand zu fahren; das ist Ihr Ziel.
({16})
Und der Gipfel ist, dass Sie Eigentümer verpflichten wollen, bei Renovierungen oder Neubauten Ladestationen zu errichten.
({17})
Dadurch steigen die Mieten, und die Kosten tragen wieder einmal die sozial Schwachen, die Sie angeblich immer vertreten wollen.
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Es gibt kein Konzept, wie wir den Strom für die Elektromobilität erzeugen wollen. Einerseits wollen Sie alle Kern- und Kohlekraftwerke abschalten, andererseits wollen Sie mit erneuerbaren Energien, also gerade nicht speicherbarem Strom, die Stromversorgung gewährleisten. Zeigen Sie doch erst einmal auf, wie das funktionieren soll, bevor Sie hier unsere Mobilität und die Autoindustrie abbauen wollen.
({19})
Herr Scheuer bzw. Herr Bilger, hören Sie nicht auf die Grünen oder die unverbindlichen Inhalte des FDP-Antrags, setzen Sie besser unsere Forderungen nach synthetischen Kraftstoffen um.
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Damit kann der Verbrennungsmotor auch in Deutschland erhalten werden – auch in Deutschland, wie im Rest der Welt. Nur so können wir für eine breite Bevölkerungsschicht eine finanzierbare und saubere Mobilität gewährleisten.
Vielen Dank.
({21})
Das Wort hat der Abgeordnete Mathias Stein für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war, glaube ich, etwas von vorgestern. Jetzt kommt etwas aus der Zukunft.
({0})
Der vorliegende Antrag der Grünen serviert uns ein Sammelsurium an altbekannten Vorschlägen, garniert mit kräftigen Vorwürfen gegen die Bundesregierung.
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Sie werfen uns vor, wir untergraben die Verkehrswende, und fordern einen Neustart bei der Elektromobilität. Sie machen es sich aber verdammt leicht, wenn Sie so tun, als ob Sie in vielen Kommunen und Ländern gar nicht mit an der Regierung beteiligt wären, als ob Sie zur Zukunft der Elektromobilität nichts beitragen könnten.
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Wie sieht es denn mit der Förderung der Elektromobilität in den Bundesländern aus? Ich komme aus Schleswig-Holstein. Da warte ich immer noch auf ein Konzept der grünen Finanzministerin für eine Elektromobilitätsinitiative in der Landesverwaltung.
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Dabei kann sich das Land Schleswig-Holstein in Kiel dank unseres „Sofortprogramms Saubere Luft“ sogar die E-Autos und Ladestationen von der Bundesregierung finanzieren lassen.
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Also, liebe Grüne, handeln Sie erst mal dort, wo Sie selber regieren!
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Diese Koalition handelt, wir handeln im Bereich Elektromobilität, wir arbeiten, wir schreiten voran – manchmal streiten wir auch voran – bei den Themen Elektromobilität und CO 2 -freie Mobilität. Wir fördern Forschung in den Bereichen Batterietechnologie, Brennstoffzelle, Ladeinfrastruktur, E-Fuels mit Millionensummen, wir sponsern E-Fahrzeuge, Ladesäulen, Wasserstofftankstellen mit erheblichen Beiträgen. Wir bekennen uns bei der Förderung dazu, dass wir technologieoffen sind. Aber wir sehen natürlich auch, dass momentan, nach dem jetzigen Stand der Technologie, der batterieelektrische Antrieb der günstigste, praktikabelste und effizienteste ist; da stimmen wir mit den Grünen überein.
Schon heute ist ein E-Auto trotz hoher Abgaben – EEG-Abgaben, Stromsteuer – deutlich günstiger im Verbrauch als ein Verbrenner. Bei aller Kritik an der Geschäftspolitik mancher Automobilkonzerne: Ich glaube, wir werden auch bei den Anschaffungskosten in den nächsten Jahren einiges erreichen, sodass E-Autos auch günstig zu erwerben sein werden.
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Eines allerdings wundert mich bei dem Antrag der Grünen besonders: Sie haben den Erfolg in der Elektromobilität, den wir in den letzten Jahren erreicht haben, ganz verschwiegen.
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Wir haben in Deutschland bereits fast 5 Millionen Elektrofahrzeuge auf den Straßen, nämlich 4,8 Millionen E-Bikes
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sind bereits auf den Straßen; das sind auch Fahrzeuge, liebe Grüne.
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Allein im vergangenen Jahr wurden fast 1 Million E-Bikes verkauft. Das ist eine positive Entwicklung.
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Der Vorsitzende des Verkehrsausschusses fährt sogar eines. Das ist ein wunderbarer Weg, wie Menschen tatsächlich auch aufs Fahrrad umsteigen können, wie wir Emissionen sparen können, wie für Klimaschutz gesorgt wird und ein neues Gefühl für Mobilität da ist.
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Auch im Automobilbereich sind hinsichtlich der Elektromobilität deutliche Fortschritte zu erwarten. Ich habe mich neulich auf der Hannover Messe mit einer jungen Wissenschaftlerin aus Kiel unterhalten. Sie forscht im Bereich Siliziumbatterien. Sie erläuterte mir, dass es bald möglich sein wird, kostengünstige Batterien mit Reichweiten von 1 000 Kilometern zu bauen, die sich in zwölf Minuten voll aufladen lassen. Das wird tatsächlich in wenigen Jahren möglich sein.
({12})
Dann kann man von Kiel bis nach Friedrichshafen, wo die Maritime Konferenz stattfindet, fahren, ohne einmal zu laden oder zu tanken.
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Das ist, glaube ich, sehr konkurrenzfähig mit einem Verbrenner.
Eine Innovation – jetzt kommen wir zum Verkehrsminister – bei der Elektromobilität ist bereits heute etwas ganz Besonderes: Beim E-Auto kann man beim Bremsen gleichzeitig die Akkus aufladen. Wenn man das auf das Bundesverkehrsministerium überträgt – das ja das ein oder andere Mal vielleicht ein bisschen bremst bei der Verkehrswende –,
({14})
dann kann man sagen: Der Akku des Bundesverkehrsministeriums müsste ordentlich voll sein.
Kollege Stein, ich habe die Uhr angehalten; aber Sie müssen jetzt auch meine Frage zulassen, ob Sie eine Frage oder Bemerkung aus der AfD-Fraktion zulassen.
Nein.
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Wenn der Akku des Verkehrsministeriums durchs Bremsen nicht ausreichend aufgeladen ist, können wir als Sozialdemokraten dafür sorgen, dass die Klimaziele im Bereich Mobilität, verbunden mit Wohlstand und auch Mobilität für alle Menschen, erreicht werden.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Abgeordnete Daniela Kluckert das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein sehr kleines Auto in Deutschland, also ein Smart Fortwo beispielsweise, kostet zwischen 10 000 und 12 000 Euro. Die Absatzzahlen dieser Autos steigen, im letzten Jahr um 63 000. Gemeinsam mit den Kleinwagen, etwa einem VW Polo, haben sie in Deutschland einen Marktanteil von 25 Prozent. Das ist eine gute Nachricht für das Klima in Deutschland.
Man kann sich jetzt überlegen: Wer ist denn der typische Käufer eines solchen Kleinst- oder Kleinwagens? Das ist vielleicht jemand, dem das Statussymbol Auto nicht so wichtig ist. Es ist vielleicht jemand, der nicht so viel Geld hat oder nicht so viel Geld ausgeben will; aber wahrscheinlich ist es jemand, der das Auto braucht – für sein Büro, für seinen Job, für seine Familie oder für beides.
Die schlechte Nachricht ist: Für dieses Auto wird es keinen E-Auto-Ersatz geben. Schuld daran sind die Batterien. Sie sind womöglich zu schwer, da sie eine große Laufleistung ermöglichen; sie sind aber auf jeden Fall zu teuer; denn sie kosten 4 000 bis 6 000 Euro, und das ist eventuell mehr als die Hälfte dessen, was ein solches Auto überhaupt kostet.
Deswegen ist eine Politik, die allein auf die Elektromobilität setzt, eine Politik, die genau diese Autos abschafft.
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Eine Politik, die allein auf Elektromobilität setzt, ist eine Politik, die sich gegen diejenigen in unserer Gesellschaft überall in unserem Land wendet, die bezahlbare Mobilität brauchen.
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Außerdem ist eine Politik, die allein auf Elektromobilität setzt, eine Politik, die sich gegen die Mitarbeiter der Automobilindustrie wendet, und das sind immerhin 800 000 Menschen in Deutschland.
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Das erste Opfer dieser Politik ist der Opel Adam geworden. Dieses Kleinstfahrzeug wurde ersatzlos gestrichen; seine Produktion wurde eingestellt.
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Dabei könnten doch diese Autos mit alternativen Kraftstoffen, mit alternativen Antrieben, so wie auch in unserem Antrag gefordert, einen sehr großen Beitrag dazu leisten, die Emissionen in Deutschland zu senken. Die Bundesregierung, ihr Verkehrsministerium und ihr Umweltministerium, ist aber leider heillos zerstritten und außerstande, überhaupt irgendwelche Entscheidungen zu fällen. Das hat man zuletzt bei der Frage gesehen, ob alternative Kraftstoffe in Brüssel bei den EU-Flottenzielen angerechnet werden.
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Die Grünen würden, wären sie in der Bundesregierung, den Kampf jetzt endlich beginnen – in Wahrheit nicht gegen CO 2 , sondern gegen den Verbrennungsmotor und damit auch gegen die individuelle motorisierte Mobilität; gegen die würden sie ihren Kampf führen.
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Das wäre ein Aus für alles, was sich auf deutschen Straßen bewegt.
Kollegin Kluckert, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Spaniel?
Nein. – Wenn sie mit den Verbrennungsmotoren fertig wären, würden sie die E-Autos zu beseitigen versuchen. Sie sollten so ehrlich sein, das zuzugeben.
Wir erleben heute im Verkehr etwas, was dem ganz ähnlich ist, was wir 2011 in der Energiewirtschaft erlebt haben. Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima sind wir kopfüber aus der Nuklearenergie ausgestiegen. Das ist ein Grund, warum wir trotz des technischen Fortschritts bei den erneuerbaren Energien mit der Verminderung von CO 2 -Emissionen nicht wirklich weiterkommen. Genau das passiert jetzt, nach dem Dieselskandal bei VW. Kluge, in die Zukunft gerichtete Politik erleben wir nicht, sondern eine kopflose Abkehr vom Verbrennungsmotor. Statt Rationalität regieren Panik und Bauchgefühl.
Wir brauchen – das glaube ich ganz fest – für die Mobilität der Zukunft einen Mix. Wir brauchen Offenheit: Offenheit im Denken, Offenheit bei den politischen Vorgaben. Deswegen möchte ich heute noch mal für unseren Antrag werben, der die verschiedensten Arten der Mobilität zusammenfasst und sie in der Zukunft möglich macht, und das brauchen wir auch für die Zukunft der Mobilität.
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Zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Spaniel das Wort.
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Sehr geehrte Frau Kluckert, ich habe Ihren Antrag gelesen und habe mich ein bisschen gewundert. Wir haben ja einen Antrag gestellt, der im Grunde genommen in eine ähnliche Richtung zielt. Sie plädieren hier dafür, dass der – ich zitiere – „Einsatz alternativer Kraftstoffe ebenso Berücksichtigung findet wie die Elektromobilität“ – dann geht es weiter –, „sodass Anreize für die Nutzung von Fahrzeugen mit auf synthetischen Kraftstoffen aus erneuerbaren Energien basierenden Antrieben geschaffen werden“. Das ist schön und gut.
Tatsächlich sind die entscheidenden Argumente die Strafsteuern, die auf Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren und dann natürlich auch auf Fahrzeuge mit synthetischen Kraftstoffen ab 2021 fällig werden. Ich vermisse das in Ihrem Antrag. Ich wollte Sie jetzt fragen, wie Sie sich dazu positionieren; denn genau diese Strafsteuern sind es ja, die die Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren dann nach der Gesetzgebung der Europäischen Union um viele Tausend Euro verteuern. Es geht also viel weniger darum, dass die Nutzung verbilligt wird, sondern es geht, wie wir es in unserem Antrag formuliert haben, darum, dass diese Fahrzeuge fiskalisch mit Elektrofahrzeugen gleichgestellt werden. Es würde mich jetzt interessieren, warum das in Ihrem Antrag keine Verwendung findet.
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Möchten Sie erwidern, Frau Kluckert? – Bitte.
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Unser Antrag hat einen völlig anderen Geist. Ihr Antrag, auch der, den Sie zuvor eingebracht hatten, enthält wirre Ideen, etwa dass an der Tankstelle entschieden werden könnte, was alternative Kraftstoffe sind und was nicht. Das ist alles weder praktisch nachvollziehbar, noch hat es irgendetwas mit unserem Antrag zu tun. Es tut mir also leid, Ihnen sagen zu müssen: Sie sollten unseren Antrag noch mal lesen, und vielleicht können Sie davon etwas übernehmen.
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Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Abgeordnete Andreas Wagner für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Elektromotoren sind mit Abstand die effizienteste Form, Energie in Mobilität umzuwandeln. Elektrofahrzeuge haben daher eine deutlich bessere Klimabilanz als Benzin- oder Dieselfahrzeuge. Sie sind leise und frei von Abgasen. Elektromobilität kann daher zum Klimaschutz und zu lebenswerten Städten beitragen.
({0})
Hört sich gut an, oder? Doch zu welchem Preis?
Wer den Anteil von Elektrofahrzeugen im Verkehr deutlich erhöhen will, muss auch eine Antwort darauf haben, woher die Rohstoffe wie Lithium oder Kobalt für die Batterieherstellung für Millionen von Fahrzeugen kommen sollen. Es kann und darf nicht sein, dass in Ländern wie in Chile oder im Kongo unter menschenunwürdigen Bedingungen Rohstoffe abgebaut oder ganze Landstriche verwüstet werden und den einheimischen Bauern das Wasser für ihre Felder abgegraben wird, damit wir vermeintlich ökologisch mit Elektroautos zum Einkaufen fahren können und so unsere CO 2 -Bilanz verbessern.
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Ja, wir müssen die Schadstoffbelastung und die CO 2 -Emissionen bei uns in den Städten reduzieren, aber nicht auf Kosten der Umwelt und der Menschen in anderen Ländern.
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Abgesehen davon: Mit einer Erhöhung des Anteils elektrischer Fahrzeuge lassen sich die Verkehrsprobleme von heute nicht lösen. Parkplatzprobleme und nervige Staus werden nicht weniger, wenn Autos durch Elektroautos ersetzt werden. Elektroautos verbrauchen genauso viel Verkehrsfläche wie andere Pkw.
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Damit keine Missverständnisse entstehen: Die Linke sagt Ja zu Elektromobilität, allerdings nicht zu jedem Preis.
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Wir verstehen unter Elektromobilität mehr als Elektroautos.
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Dazu gehören auch E-Bikes. Die weitaus beste und sinnvollste Form der Elektromobilität ist und bleibt jedoch der Schienenverkehr.
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Wenn die Bundesregierung die Elektromobilität fördern will, sollte sie die Elektrifizierung von Bahnstrecken vorantreiben. Da gibt es viel zu tun.
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Elektromobilität ist jedoch kein Allheilmittel. Um den zukünftigen Herausforderungen gerecht zu werden, müssen wir den Verkehr anders organisieren. Dabei müssen wir auch die Menschen im Blick behalten, die kein Geld für ein Elektroauto haben oder aufgrund des Alters oder gesundheitlicher Einschränkungen nicht Auto fahren dürfen. Wir müssen dafür sorgen, dass alle Menschen mobil sind und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.
Wir brauchen eine Stadtplanung der kurzen Wege. Das Ziel muss sein, Verkehr und somit auch den Energieverbrauch zu reduzieren.
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Wir brauchen sichere und familienfreundliche Radwege. Der öffentliche Verkehr muss ausgebaut werden – nicht nur in den Städten, sondern auch im ländlichen Raum. Und wir brauchen Busse und Bahnen, die attraktiv, pünktlich, verlässlich und bezahlbar sind. Hier ist die Bundesregierung gefordert.
({9})
Stellen Sie endlich die Weichen für eine sozial-ökologische Verkehrswende!
Mit der Förderung von Elektroautos oder privater Ladeinfrastruktur werden die Privilegierten in der Gesellschaft gefördert – diejenigen, die sich ein teures Elektroauto leisten können. Wir wollen, dass von einer Förderung der Elektromobilität alle profitieren.
({10})
Die Linke lehnt daher Kaufprämien für Elektroautos ab. Stattdessen wollen wir Elektromobilität im öffentlichen Verkehr fördern, also elektrisch betriebene Busse und Taxen. Darüber hinaus halten wir Zuschüsse beispielsweise für Fahrzeuge von Handwerkerinnen und Handwerkern sowie sozialen Diensten für sinnvoll.
Mit der Elektromobilität wandelt sich die Automobilindustrie drastisch. Insbesondere bei Zulieferern für Motoren und Getriebe droht ein Abbau von Arbeitsplätzen. Es braucht langfristige Struktur- und Umschulungsprogramme für alle Menschen, deren Arbeitsplätze gefährdet sind.
({11})
Hier erwarten wir von der Bundesregierung ein schlüssiges Konzept.
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Der Verkehr der Zukunft muss attraktiv, bezahlbar für alle und klimafreundlich sein. Die Verkehrswende ist überfällig.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat der Abgeordnete Mario Mieruch.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ende Januar fand hier in Berlin der Fachkongress „Kraftstoffe der Zukunft“ statt. Über 100 Unternehmen forschen an alternativen Kraftstoffen, sowohl für die Verbrennertechnik als auch für die E-Antriebe. Sie haben alle eins gemeinsam: Sie betonen, dass sie dies völlig ergebnisoffen tun und dass es eine alleinige Universallösung nicht gibt. Das ist die gelebte Praxis.
Dem gegenüber stehen nicht nur die Grünenforderungen, alle Verbrenner ab 2030 zu verbieten. Nein, im Ausschuss stellen die Grünen gar heute schon fest – ohne dass zu Ende geforscht wurde –, dass die synthetischen Kraftstoffe für den Pkw-Verkehr nicht geeignet seien. Das ist spannend; entweder besitzt man bei den Grünen eine Glaskugel, oder es müssen die ideologischen Scheuklappen sein.
Ebenso spannend ist es, dass es deutsche Denkfabriken wie die Agora Verkehrswende gibt, die hinter verschlossenen Türen mit der Beteiligung namhafter Parteivertreter verschiedener Organisationen und Lobbyisten fleißig an der Energie- und Verkehrswende arbeiten und schon 2016 das Ende des Verbrenners propagiert haben. So habe ich den Leiter der eingangs genannten Kraftstoffforscher gefragt, ob es denn eine Kooperation mit der Agora gibt, wenn die Politik dort schon so stark vertreten ist. Und? Es gibt sie natürlich nicht. Liebe Gäste auf den Tribünen, Ihre Steuergelder finanzieren die Förderung für die Kraftstoffforschung und gleichzeitig die Förderung für Organisationen, die Ihrer Individualmobilität wesentlich entgegenarbeiten.
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Ziemlich irrsinnig. Als Zwischenergebnis dürfen Sie heute schon sehr hohe Strompreise zahlen;
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Tendenz steigend – versprochen.
Elektromobilität wird ganz klar ein wichtiger Bestandteil der Zukunft sein, aber als Teil eines Technologiemixes, welchen die Bürger über ihren individuellen Bedarf am Markt definieren und nicht durch Verbote aufgedrückt bekommen. Für uns als blaue Partei – da dürfte es jetzt den halben Saal aus den Stühlen reißen – ist Zukunftsmobilität grenzenlos, vielfältig, sie ist divers, sie ist bunt.
Drivers welcome!
Das Wort hat der Kollege Dr. Christoph Ploß für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei den vergangenen Debatten hier im Deutschen Bundestag ist deutlich geworden, dass wir als CDU/CSU-Fraktion in dieser Legislaturperiode zwei große Ziele haben, die für uns auch gar nicht im Widerspruch zueinander stehen.
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Zum einen wollen wir Deutschland noch mobiler machen, und zum anderen wollen wir den Verkehr in Deutschland immer klimafreundlicher machen und die Luftqualität in Deutschland weiter verbessern.
Die Mobilität der Zukunft, über die wir in dem Zusammenhang natürlich sprechen müssen, ist für uns dabei wie ein Puzzle, das aus unterschiedlichen Teilen besteht und das wir zu einem großen Ganzen zusammenfügen wollen. Ein Puzzleteil ist zum Beispiel die zunehmende Digitalisierung des Verkehrs. Ein weiteres Puzzleteil ist der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und des Radverkehrs. Weitere Teile sind Investitionen in die Infrastruktur – vor allem in die Schiene, aber natürlich auch in die Brücken, in die Straßen, in die Tunnel, kurz: in die gesamte Infrastruktur. Vor diesem Hintergrund möchte ich noch mal erwähnen, dass wir in den vergangenen Monaten den größten Investitionshaushalt aller Zeiten hier im Deutschen Bundestag beschlossen haben. Ebenfalls ein Teil sind Elektrokleinstfahrzeuge, bei denen wir dabei sind, sie zu legalisieren.
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Ein weiterer Baustein sind natürlich Elektromobilität und synthetische Kraftstoffe, die wir technologieoffen fördern wollen. Das will ich hier noch mal ganz klar sagen, weil der FDP-Antrag etwas anderes suggeriert. Für uns ist es keine Frage des Entweder-oder, sondern eher des Sowohl-als-auch.
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Kollege Ploß, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der Grünenfraktion?
Immer gerne. Ich kann mir nichts Schöneres am Donnerstagabend vorstellen.
Herr Kollege Ploß, vielen Dank. Mir geht es umgekehrt genauso. Ich freue mich deswegen sehr, dass Sie mir die Möglichkeit zu einer Frage geben. – Sie haben von einem Puzzle gesprochen. Meine Frage ist: Wird zu diesem Puzzle auch gehören, dass es eine Verlängerung oder Neuauflage der Kaufprämie – oder Umweltprämie, wie es offiziell heißt – für den Erwerb von Elektroautos gibt? Die bisherige Prämie wird ja zum 30. Juni auslaufen.
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Viele Menschen, die sich überlegen, was für ein Auto sie kaufen, sind verunsichert, weil sie nicht wissen, ob es noch diese Prämie gibt oder nicht. Am schönsten wäre es natürlich, Sie würden das nicht nur bestätigen, sondern auch das, was mein Kollege Stephan Kühn vorgeschlagen hat, bestätigen, nämlich dass es eine Bonus-Malus-Prämie gibt, das heißt, dass für große Spritschlucker höhere Kfz-Steuer zu bezahlen ist und aus den Einnahmen die Kaufprämie für Elektroautos finanziert wird. Wird es eine Verlängerung oder eine Neuauflage dieser Prämie geben?
Also, wenn wir über die Förderung von Elektromobilität sprechen – darauf hat auch der Staatssekretär Steffen Bilger zu Recht hingewiesen –, dann müssen wir unterschiedliche Punkte einbeziehen. Zum einen streben wir den Ausbau der Ladeinfrastruktur an – das wird ein ganz wichtiger Baustein sein –, aber wir brauchen auch steuerliche Anreize. Es wird nicht nur für die Menschen einfacher, das Elektroauto zu laden, sondern es gibt auch steuerliche Förderung. Dazu hat die Bundesregierung in den vergangenen Monaten viele Initiativen ergriffen. Es ist enorm attraktiv geworden, sich ein Elektroauto zuzulegen.
Wie das dann in den nächsten Monaten weitergehen wird, werden wir hier diskutieren; das haben wir ja auch schon angekündigt. Ich persönlich bin in dieser Hinsicht in vielen Richtungen offen. Wichtig ist aber, dass wir Elektromobilität steuerlich fördern. Ich beantworte das etwas allgemeiner, sage Ihnen aber zu, dass wir im Verkehrsausschuss und zusammen mit der Bundesregierung darüber natürlich noch rechtzeitig sprechen werden.
Kommen wir zurück zum Thema. Ich kann mit Blick auf Ihre Frage an den nächsten Punkt anknüpfen. Kein Autofahrer wird auf ein Elektroauto umsteigen, wenn er sich jedes Mal Sorgen machen muss, ob er das Auto aufladen kann. Deswegen ist eines unserer Ziele, dass das Laden eines Elektroautos so einfach sein wird, wie man das vom Tanken kennt, vielleicht sogar noch einfacher, wenn man seine eigene Ladestation zu Hause hat. Das muss unser Ziel sein.
Wenn wir über batteriebetriebene Elektroautos sprechen, dann hört man häufig – das waren ja heute wieder die Vorwürfe aus der AfD-Fraktion, und auch bei der FDP hat man das gehört –: Batteriebetriebene Elektroautos seien gar nicht klimafreundlich; denn entweder seien sie mit Strom aus Braunkohle unterwegs,
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oder die Entsorgung der Batterien sei klimaschädlich. Deswegen solle man darauf nicht setzen. – Ich kann ganz klar sagen: Natürlich sind Elektroautos für die Umwelt nur dann gut, wenn sie mit Wind-, Wasser- oder Solarstrom betrieben werden;
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denn ansonsten erfolgt der Schadstoffausstoß woanders. Es muss unser Ziel sein, die Klimafreundlichkeit noch weiter auszubauen.
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Natürlich steht und fällt der umweltpolitische Beitrag von Elektroautos auch damit, ob es gelingt, ein nachhaltiges Recyclingsystem zu etablieren und Nachnutzungskonzepte zu implementieren.
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Und das, meine Damen und Herren, ist möglich; Sie haben hier den völlig gegenteiligen Eindruck erweckt. Dafür brauchen wir politisch vorgegebene Standards für das technische Design der Batterien – da findet im Moment noch viel zu viel individuell statt –, und wir müssen dem Normungsbedarf für die Wiederverwertung der Autobatterien gerecht werden und die Wiederverwertung etablieren.
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Außerdem brauchen wir eine hohe Recyclingquote für die in der Batterie enthaltenen Materialien. Aber die Autobauer, die auf Elektromobilität setzen, sind heute schon in der Lage, mehr als 50 Prozent zu recyceln. Viele sagen ganz klar, dass sie es bald schaffen werden, annähernd 100 Prozent zu recyceln. Das muss der Weg sein. Alles andere, was Sie hier vorgeschlagen haben, wäre klimapolitisch der völlig falsche Weg. Deswegen müssen wir auf Elektromobilität setzen, wenn wir den Verkehr in Deutschland umweltfreundlicher gestalten wollen.
Meine Damen und Herren, wir alle wissen: Wir haben hier mit die besten Ingenieure in der Welt. Wir können, wenn wir es wollen, mit Investitionen in neue Technologien und in die Forschung an der Spitze des Fortschritts stehen. Das muss der Anspruch sein. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, setzen nicht auf Fahrverbote oder Gängelung der Bürger. Wir setzen auf Innovationen. Damit machen wir Deutschland noch mobiler und noch klimafreundlicher.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Christoph Ploß. – Schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! – Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Johann Saathoff.
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Schönen guten Abend, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Ostfriesland würde man sagen: Watt boben in’t Sack is, mutt toeerst weer rut. Im Englischen hieße das: Last in, first out. Ich will das mal frei übersetzen: Das Wichtigste muss zuerst erledigt werden. Und das Wichtigste für die Elektromobilität, das, was zuerst erledigt werden muss, ist die Energiewende. Die Rahmenbedingungen in der Energiewende müssen stimmen, damit die Verkehrswende auch tatsächlich klappen kann.
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Das bedeutet: Der Kohleausstieg, der im Konsens mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verhandelt wurde, muss endlich ins Gesetz und auch umgesetzt werden.
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Das bedeutet: Das Ziel „65 Prozent erneuerbare Energien am Bruttostromverbrauch bis 2030“ muss im Gesetz festgeschrieben werden,
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damit wir da weiterkommen können –
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das will ich an dieser Stelle auch noch mal deutlich sagen –, unter der Voraussetzung, dass insbesondere durch die Elektromobilität der Stromverbrauch bis 2030 nicht etwa sinkt oder gleich hoch bleibt, sondern unter der Voraussetzung, dass der Stromverbrauch, wenn wir Elektromobilität haben, natürlich deutlich steigen wird.
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Entgelte und Umlagen müssen wir reformieren, und wir müssen die Netzinfrastruktur an die E‑Mobilität anpassen.
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Das betrifft insbesondere die Verteilnetze; denn Ladesäuleninfrastruktur wird in Verteilnetze integriert. Es macht Sinn, Ladesäulen netzdienlich zu installieren. Das heißt, da, wo wir Netzausbaugebiete haben, also zu viel Strom aus erneuerbaren Energien, muss man Ladesäuleninfrastruktur besonders anreizen, und da, wo wir Schwierigkeiten haben, weil es zu wenig Strom gibt – wie zum Beispiel in Süddeutschland, weil es da eine eigenartige Erneuerbare-Energien-Politik gibt –, muss ein bisschen weniger Ladesäuleninfrastruktur hergestellt werden. Die Netzdienlichkeit ist besonders wichtig.
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Wir müssen die Verteilnetze intelligent organisieren, damit zum Beispiel durch Smart Meter, die direkt von Netzbetreibern an- und abgeschaltet werden, eine Synchronität hergestellt wird.
Gleichzeitig ist klar, dass wir vor einem enormen Transformationsprozess in der Automobilindustrie stehen. Auch da müssen wir die Rahmenbedingungen schaffen; auch da müssen Rahmenbedingungen stimmen. Denn gemeinsam mit den Sozialpartnern – das haben die Grünen in ihrem Antrag sehr schön ausgearbeitet; Kompliment dazu – muss der Übergang organisiert werden, gemeinsam mit den Betriebsräten und gemeinsam mit den Gewerkschaften.
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Dafür steht auch die Sozialdemokratie.
Wir müssen für die Mitarbeiter in der Autoindustrie, die Angst um ihre Arbeitsplätze haben, Rahmenbedingungen schaffen. Denn sie wissen ganz genau, dass die Fertigungstiefe bei der Elektromobilität sinken wird. Das bedeutet, man braucht weniger Menschen, um Elektroautos zu bauen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von einem Kollegen der AfD-Fraktion?
Frau Präsidentin, ich würde das gerne machen. Aber, ich glaube, nach der Rede wird auch die schlauste Frage mit der schlausten Antwort nicht zu einem Erkenntnisprozess führen. Von daher lehne ich sie ab.
({0})
Wir werden Rahmenbedingungen für die Menschen schaffen müssen, die täglich mit dem Auto zur Arbeit kommen. Denn sie müssen auch zukünftig mit dem Auto kommen und das auch bezahlen können.
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Wir wollen und müssen dafür sorgen, dass möglichst die gesamte Wertschöpfungskette der Automobilindustrie in Deutschland erhalten bleibt, auch wenn der Umstieg auf Elektromobilität erfolgt. Dazu gehört die Produktion von Batterien und Batteriezellen. Dabei müssen die Energiewende und die Verkehrswende zusammen gedacht werden. Ich erinnere an das Blue-Factory-Konzept aus Emden, das die Produktion von Autos mit deutlich geringerem CO 2 -Fußabdruck möglich macht, weil Autos mit Wind- und PV-Energie produziert werden.
({2})
Dazu gehört, dass die Produktion von Batterien dort stattfindet, wo grüne Energie jetzt schon im Überfluss vorhanden ist.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Johann Saathoff. – Letzte Rednerin in dieser Debatte für die CDU/CSU-Fraktion: Daniela Ludwig.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zukunft der Mobilität lässt sich zumindest für meine Fraktion sehr einfach anhand von drei bestimmten Parametern beantworten:
Erstens. Wir lassen den Menschen, soweit es geht, die individuelle Entscheidung, wie sie ihre Mobilität gestalten wollen.
Zweitens. Wir setzen Anreize für alternative Antriebe.
Drittens. Wir konzentrieren uns eben nicht einseitig auf eine Antriebsart, sondern lassen dem Erfindungsreichtum, den es in Deutschland zuhauf gibt, freien Raum und unterstützen deshalb jede Innovation, die dazu beiträgt, für einen klimafreundlichen, aber auch effektiven Verkehr zu sorgen.
({0})
Machen wir uns mal ehrlich: Ich glaube, keiner von uns hier in diesem Raum kann zum heutigen Tage sagen, welche Antriebsart am Ende für dieses Land, vielleicht auch für ganz Europa oder die Welt die einzig glückselig machende ist. Deswegen ist es für uns wichtig, dass wir nicht nur auf die batterieelektrische Mobilität setzen, die wir sehr schätzen und die wir auch fördern, sondern dass wir über verschiedene Programme auch auf Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie sowie den Umstieg auf Flüssiggasantriebe bei den Lkws setzen. Auch das ist uns wichtig.
Frau Kollegin, darf ich Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Nein.
Von niemandem?
In Anbetracht der verbleibenden Tagesordnung: Nein.
Gut.
Auf Basis des Regierungsprogramms zur Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie unterstützen wir die Forschung und Entwicklung auf diesem Themenfeld. Wir unterstützen mit Maßnahmen der Marktaktivierung die Produkte, die zwar Marktreife haben, aber sich am Markt noch nicht wettbewerbsfähig behaupten konnten. Ich halte das für den einzig richtigen Weg.
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Wir haben in den vergangenen Jahren eine Förderrichtlinie für energieeffiziente und CO 2 -arme Lkws aufgelegt. Damit unterstützen wir Speditionen, die bereit sind, sich umweltfreundliche Lkws anzuschaffen, pro Unternehmen mit einem Zuschuss von bis zu 500 000 Euro. Das ist ein Wort. Diesen Weg wollen wir auch weitergehen. Gleichzeitig verlieren wir – da sehen Sie, dass wir tatsächlich technologieoffen aufgestellt sind – natürlich die Elektromobilität nicht aus den Augen.
Unser Programm „Saubere Luft“ ist schon vom Kollegen angesprochen worden. Hier geht es uns im Moment schwerpunktmäßig darum, insbesondere die kommunalen Fahrzeugflotten umzurüsten, weil wir da sehr viel Potenzial sehen, wirklich emissionsärmer auf sehr großem Gebiet in den Städten unterwegs zu sein. Ich kann nur hoffen, dass die Kommunen, die jetzt schon auf diesem Weg erfolgreich sind, dieses Programm gut bewerben, sodass alle anderen, die noch etwas zögerlich sind, mit auf diesen Zug aufspringen.
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Natürlich können wir uns von politischer Seite darüber einig sein, dass wir es genau so machen wollen, dass wir technologieoffen unterwegs sein wollen. Das schaffen wir aber nicht ohne die Automobilindustrie. In der Tat war vielleicht der eine oder andere Denk- und Meinungsbildungsprozess in der Vergangenheit nicht effizient und schnell genug, zumindest nicht so, wie er es hätte sein müssen, um auf die Gegebenheiten zu reagieren.
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Wir merken aber relativ stark: Die Automobilindustrie hat es jetzt endlich verstanden, steigt ein in die Elektromobilität und fördert sie mit Milliardeninvestitionen; das ist richtig. Aber das muss jetzt auch beim Verbraucher ankommen. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Natürlich muss es die Ladeinfrastruktur geben. Es wäre schön, wenn wir in der Koalition nicht nur den Verkehrsminister hätten, der für die Ladeinfrastruktur plädiert, sondern auch den Finanzminister, der das Geld dafür gibt.
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Aber da weiß ich, dass die SPD-Verkehrspolitiker auf unserer Seite sind.
Es müssen natürlich Modelle sein, die sich nicht nur der Gut- und Bestverdiener leisten kann, sondern es müssen Modelle sein, die von der Breite der Bevölkerung erwerbbar sind. Dafür können nicht wir die alleinige Verantwortung übernehmen, sondern da ist tatsächlich die Automobilindustrie gefordert, sich massiv Gedanken darüber zu machen, wie das noch besser wird.
Ich bleibe dabei: Wir müssen technologieoffen bleiben, weil niemand die Glaskugel hat und heute entscheiden kann, was in Zukunft der Antrieb schlechthin sein wird. Es wird „den Antrieb schlechthin“ nicht geben. Ich kann nur hoffen, dass die Industrie mitzieht und am Ende auch die Bevölkerung. Wir tun unser Bestes dafür.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Daniela Ludwig. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/7195 und 19/9251 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zum Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Technologieoffene Förderung alternativer Antriebe“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8903, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/7902 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen gibt es keine. Dafürgestimmt haben die CDU/CSU, die SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegengestimmt haben die AfD und die FDP. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Wahl wird allgemein als das Hochamt der Demokratie bezeichnet. Und tatsächlich nimmt der Staatsbürger bei der Ausübung des Wahlrechts ganz unmittelbar seine demokratischen Rechte in einzigartiger Weise wahr. Den bisherigen Ausschluss der Teilnahme an diesem Hochamt der Demokratie für etwa 80 000 Staatsbürger, bei denen eine Betreuung in allen Angelegenheiten angeordnet ist, heben wir mit diesem Gesetzentwurf auf, so wie es im Koalitionsvertrag auch vereinbart ist.
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Gleichzeitig setzen wir Vorgaben aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Januar dieses Jahres zur Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsausschlüssen um. Dies gilt nicht nur für das Bundeswahlgesetz, das Gegenstand der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gewesen ist, sondern auch für das inhaltlich gleichlautende Europawahlgesetz. Der bisherige Wahlrechtsausschluss für schuldunfähige und im Maßregelvollzug in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Personen wurde durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig und nichtig erklärt und daher aus dem Gesetz gestrichen.
Ergänzend werden die Möglichkeiten und Grenzen zulässiger Assistenz geregelt. Die Strafvorschrift der Wahlfälschung nach § 107a Absatz 1 des Strafgesetzbuches wird im Hinblick auf die Überschreitung der Grenzen zulässiger Assistenz konkretisiert. Kern des Gesetzentwurfes ist die Aufhebung des bisherigen Ausschlusses von der Bundestags- und Europawahl für Personen, für die nicht nur vorübergehend eine Betreuung in allen Angelegenheiten angeordnet ist. Aufgrund der immer häufigeren Verbreitung von umfassenden und die Anordnung einer Betreuung ersetzenden Vorsorgevollmachten war für uns dieser typisierende Wahlrechtsausschluss unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung nicht mehr haltbar. Eine weitere Ungleichbehandlung ergab sich aber auch aus der regional unterschiedlichen Praxis der Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten.
Aus diesen Gründen hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 29. Januar dieses Jahres diesen Wahlrechtsausschluss im Hinblick auf den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl aus Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes für verfassungswidrig erklärt. Das Bundesverfassungsgericht hat aber auch ausdrücklich festgestellt, dass ein Ausschluss vom aktiven Wahlrecht verfassungsrechtlich grundsätzlich gerechtfertigt sein kann, wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen ist, dass die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht. Damit anerkennt das Bundesverfassungsgericht, dass für eine selbstbestimmte Wahlentscheidung eine Einsichts- und Kommunikationsfähigkeit erforderlich ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat daher dem Gesetzgeber aufgegeben – ich darf zitieren –:
… darüber zu entscheiden, wie er … den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl und die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes zum Ausgleich bringt.
Das bedeutet: Es bedarf einer Abwägungsentscheidung. Dieser Abwägungsentscheidung haben wir uns, anders als die Gesetzesinitiativen der Opposition, die wir bereits beraten haben und die sich auf eine bloße Streichung der bestehenden Wahlrechtsausschlüsse beschränkt haben, gestellt. Dabei kamen für uns als CDU/CSU-Fraktion verfassungsrechtlich zulässige typisierende Wahlrechtsausschlüsse wegen einer nur schwer zu regelnden Abgrenzung nicht infrage.
Wir hätten uns aber durchaus eine individuelle anlassbezogene Überprüfung der Assistenzfähigkeit durch Betreuungsgerichte vorstellen können. Letztlich wäre aber auch dies nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand möglich gewesen. Wir haben es daher vorgezogen, im Gesetzentwurf die Grenzen assistierter Wahlteilnahme zu regeln und die Geltung dieser Regelung durch die Konkretisierung der Strafvorschrift der Wahlfälschung nach § 107a des Strafgesetzbuches sicherzustellen und so die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen.
Vielen Dank.
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Danke schön, Ansgar Heveling. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Dr. Christian Wirth.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Ein so weitreichender Eingriff in die Grundrechte, wie es der Ausschluss vom Wahlrecht ist, muss gut begründet sein. Das heißt nicht, dass es keine Gründe geben kann. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil schließlich klargestellt, dass es durchaus gerechtfertigt sein kann, das Wahlrecht einzuschränken, wenn die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht.
Genauso wie wir die Sorge über unrechtmäßigen Wahlausschluss und mangelnde Teilhabe am Wahlrecht ernst zu nehmen haben, so haben wir auch die Sorge über mögliche Einflussnahmen und Manipulationen ernst zu nehmen. Dabei geht es bei letzterem Bedenken gar nicht so sehr um die betroffenen rund 80 000 vom Wahlrecht ausgeschlossenen Deutschen. Vielmehr handelt es sich um einen Verdacht gegen die Menschen, die sich teils beruflich, teils ehrenamtlich, teils aus der Familie heraus tagtäglich in den Dienst hilfsbedürftiger Menschen stellen. Es gibt keinen Grund, von ihnen weniger Ehrlichkeit zu erwarten als von all den Helfern, die bereits jetzt in der Bundeswahlordnung vorgesehen sind, um zum Beispiel Blinde oder anderweitig körperlich eingeschränkte Wähler beim eigentlichen Wahlvorgang zu unterstützen. Uns sind keine Fälle bekannt, in denen diese Position missbraucht wurde. Es erscheint auch mehr als fraglich, ob es die beste Strategie ist, eine Wahl zu manipulieren, indem man jahrelang als Betreuer fungiert, um dann eine einzelne Stimme zu verfälschen. Nein, es geht um die Teilnahme an unserer Demokratie, und Demokratie beruht auf dem Gedanken, dass der Mensch an sich nicht böse ist, nicht manipulieren will, nicht unehrlich ist.
Die Erfahrung aus den Bundesländern, in denen bereits jetzt auch für in allen Angelegenheiten Betreute das Wahlrecht gilt, zeigt, dass es funktioniert. Das sollte uns ermutigen, auch auf Bundesebene den richtigen Schritt zu tun. Nicht nur wird es den neuen Wählern mehr Teilhabe ermöglichen, es wird auch unsere Demokratie bereichern; denn in Zukunft müssen wir alle hier in diesem Hohen Haus auch um diese Stimmen werben. Der grundsätzliche und pauschale Ausschluss von Menschen aufgrund ihrer Betreuungssituation geht, abgewogen gegen das Gebot der Gleichbehandlung, einen Schritt zu weit. Das hat uns auch das Bundesverfassungsgericht klar vorgegeben.
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Auch die UN hat über die Behindertenrechtskonvention enge Grenzen für den deutschen Gesetzgeber gesetzt. Aber wir sollten dieser Ausdehnung des Wahlrechts oder, besser gesagt, der Abschaffung der Einschränkung des Wahlrechts hier nicht nur zustimmen, weil es uns Gerichte oder die UN vorgeben. Es ist eine Anerkennung der Menschenwürde, ein notwendiger Schritt des jahrzehntelangen Abschüttelns unserer alten Vorurteile gegenüber behinderten Menschen.
Als wir im März dieses Jahres zuletzt über das Thema Wahlrecht gesprochen haben, haben wir hier im Plenum gesagt, dass wir der Wiederherstellung des Wahlrechts für die betroffenen Menschen nicht im Wege stehen werden. Im Wege standen zu diesem Zeitpunkt allerdings die gerechtfertigten Bedenken gegen eine Änderung des Europawahlrechts so kurz vor der Stimmabgabe. Die mögliche Torpedierung der bereits aufgestellten Wahllisten für die Europawahl wäre wohl weder im Sinne der Betroffenen noch derjenigen, die den Gesetzentwurf vom heutigen Tage eingebracht haben.
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Ich habe, ehrlich gesagt, nicht so ganz geglaubt, dass Sie den hastig versprochenen eigenen Gesetzentwurf tatsächlich so schnell vorlegen würden. Das ist immerhin mal etwas Positives aus Ihren Reihen; das muss man dann auch mal anerkennen.
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Wir werden dem Gesetzenwurf zustimmen.
Aber noch ein Wort zur SPD. Wenn Ihr Abgeordneter Röspel glaubt, uns heute Morgen populistisch vorwerfen zu müssen, wir wären im Umgang mit Behinderten scheinheilig,
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dann muss ich sagen: Es steht auch einer sterbenden Partei wie der SPD nicht zu, Behinderte politisch zu instrumentalisieren. Das ist scheinheilig, selbstgerecht und letztendlich auch schäbig.
Vielen Dank.
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Danke schön, Dr. Wirth. – Nächster Redner ist der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren Abgeordnete im Deutschen Bundestag! Ich möchte mich als Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen zunächst dafür bedanken, dass ich heute hier im Deutschen Bundestag zum inklusiven Wahlrecht reden darf.
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Für mich ist der Deutsche Bundestag der zentrale Ort für Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland, und wir reden heute, hier und jetzt, über den zentralen Grundpfeiler der Demokratie, nämlich das inklusive Wahlrecht für Menschen, die unter sogenannter Vollbetreuung stehen, und für Menschen, die in der forensischen Psychiatrie untergebracht sind. Meine Damen und Herren, ich freue mich schlichtweg, hier zu sein.
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Ich habe für meine Amtszeit als Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen ein Motto gewählt. Dieses Motto, von dem ich tief überzeugt bin, prägt meine Amtszeit, die Diskussionen, die ich führe, und mein Werben für eine Gesellschaft, in der es normal ist, verschieden zu sein. Dieses Motto lautet: Demokratie braucht Inklusion.
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Ich will damit sagen, dass Demokratie und Inklusion für mich im Grunde zwei Seiten derselben Medaille sind und dass ich mir eine gut funktionierende Demokratie nicht vorstellen kann, ohne dass sie demokratisch handelt, inklusiv handelt und inklusiv denkt. Das ist mir besonders wichtig. Demokratie braucht Inklusion.
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Heute geht es um das inklusive Wahlrecht. Wir haben vor wenigen Wochen den zehnten Jahrestag der Ratifikation des völkerrechtlichen Vertrages der UN-Behindertenrechtskonvention gefeiert. Der Bundestag und der Bundesrat haben ihn ratifiziert und zu geltendem Bundesrecht gemacht. Es geht um Teilhabe, es geht um Menschenrechte. Wenn wir über Inklusion reden und vielleicht auch über den richtigen Weg für Inklusion streiten, muss uns klar sein, muss uns präsent sein, dass es letztlich um die Umsetzung von fundamentalen Grundrechten geht.
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Meine Damen und Herren, auch Menschen mit Behinderungen sind Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, und sie haben genau die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen.
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Es ist nicht nur Aufgabe des Staates, Recht zu setzen, also beispielsweise die UN-Behindertenrechtskonvention zu ratifizieren, sondern es ist vor allem auch Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass die Menschen mit Behinderungen diese Rechte, die ja Versprechen sind – Versprechen auf Teilhabe, Versprechen auf Partizipation –, auch leben können. Genau darum geht es hier.
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Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention regelt eine demokratische Selbstverständlichkeit, nämlich die Selbstverständlichkeit, das aktive Wahlrecht und auch das passive Wahlrecht zu haben. Aber Artikel 29 regelt noch mehr. Es geht darin auch um die Rahmenbedingungen, die es Menschen mit Behinderungen überhaupt erst ermöglichen, am politischen Prozess teilzuhaben. Es geht da auch um die Fragen von Barrierefreiheit, von Assistenz, damit Menschen mehr am politischen Prozess teilhaben können. Wir erleben immer noch, dass viel zu wenige Menschen mit Behinderungen beteiligt sind, und wir erleben auch, dass viel zu wenige Menschen mit Behinderungen beispielsweise in Parlamenten tätig sind. Auch darüber müssen wir sprechen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Einführung des inklusiven Wahlrechts war im Koalitionsvertrag vereinbart, und ich will Ihnen offen sagen, dass ich mir ganz konkret gewünscht hätte, dass die Umsetzung früher stattfindet, damit die Menschen, die jetzt noch unter den pauschalen Wahlrechtsausschluss fallen, ihr Wahlrecht bei der Europawahl einlösen können.
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Dazu hätte es auch mehr Mut des einen oder anderen Beteiligten gebraucht.
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Meine Damen und Herren, ich habe im Rahmen der Debatte auch zur Kenntnis nehmen müssen, dass es immer noch anachronistische Bilder von Menschen mit Behinderungen gibt. Auch darüber müssen wir reden. Letztlich hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes den Prozess beschleunigt. Darüber bin ich sehr froh. Ich will noch eines sagen: Bei der Debatte und der Diskussion um die Einführung haben wir oftmals die Argumente gehört, dass ein Missbrauch des Wahlrechts entstehen könnte oder dass eine Beeinflussung der Wählenden gegeben sein könnte. Meine Damen und Herren, genau die gleichen Argumente haben wir vor über 100 Jahren gehört, als es um die Einführung des Frauenwahlrechtes ging. Diese Argumente waren damals falsch, diese Argumente sind heute falsch, und wir sollten uns davon verabschieden.
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Herr Dusel, darf ich Sie bitten, langsam zum Ende zu kommen.
Ich komme zum Ende. – Trotz dieser kritischen Worte möchte ich ganz deutlich sagen, dass ich diesen Gesetzentwurf sehr begrüße. Ich halte ihn für eine große Errungenschaft für die Demokratie. Ich glaube, das inklusive Wahlrecht wird unserer Demokratie gut zu Gesicht stehen, einer Demokratie, die inklusiv denkt und inklusiv handelt; denn Demokratie braucht Inklusion.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank, Jürgen Dusel. – Der nächste Redner in der Debatte: für die FDP-Fraktion Jens Beeck.
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Hochverehrte Präsidentin! Herzlichen Dank, Herr Dusel, für Ihren Input in dieser Debatte, den ich inhaltlich teile, den ich aber – das will ich genauso deutlich sagen – in dem Gesetzentwurf, über den wir jetzt sprechen, überhaupt nicht wiederfinde. Am kommenden Montag wird das Bundesverfassungsgericht auf Antrag der Abgeordneten der Freien Demokraten, der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen über unseren Antrag entscheiden, diesen Menschen noch die Teilnahme an der Europawahl im Mai dieses Jahres zu ermöglichen.
({0})
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, scheitert vermutlich allein an Ihrem Widerstand.
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Wir hätten mit den Gesetzentwürfen der Freien Demokraten sowie von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken am 15. März in diesem Hause die Weichen dafür stellen können, und wir hätten Verfassungsfrieden geschaffen.
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Aber Sie wollten nicht, und Sie wollen immer noch nicht. Das wird mit dem Gesetzentwurf, der uns heute vorgelegt wird, mehr als deutlich.
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Nicht nur, dass das Inkrafttreten erneut auf einen Termin nach der Europawahl gelegt ist, auch die ergänzenden Regelungen zur Assistenz und zu Verschärfungen im Strafrecht atmen nichts anderes als tiefes Misstrauen gegenüber Angehörigen und Betreuern. Auch das ist eigentlich keine gute Entwicklung für den heutigen Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Dass Sie am Dienstagabend diesen Gesetzentwurf unter Fristverzicht der anderen Fraktionen noch auf die Tagesordnung gepeitscht haben, ist vermutlich der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am kommenden Montag geschuldet. Durchsichtig eigentlich!
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Aber es ändert nichts daran, dass klar geworden ist: Wir hätten eine Änderung für die Europawahl erreichen können; denn das, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf jetzt vorlegen, war schon in der internen Vorlage vom Dezember enthalten, und zwar inklusive der Assistenzregelungen und der Straftatbestände, die wir gar nicht brauchen und die wir als Freie Demokraten im Übrigen entschieden ablehnen, weil sie Ausdruck tief sitzenden Misstrauens gegenüber Angehörigen, Betreuern und Hilfspersonen sind und die wir deswegen an der Stelle auch nicht mittragen.
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Sie sind auch nicht erforderlich; denn schon heute ist die technische Hilfeleistung möglich. Bislang brauchten wir keine Vorschrift über § 107c Strafgesetzbuch hinaus, der weitere Verschärfungen geregelt hat.
Mit den von Ihnen vorgeschlagenen Änderungen verursachen Sie in erheblicher Weise die reale Gefahr von strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Hilfspersonen.
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Sie wollen Straftatbestände neu einführen, die mit einem Strafrahmen von zwei bis fünf Jahren Haft versehen sind, in § 107a und § 107c. Das machen Sie mit Regelungen, die vor unbestimmten Rechtsbegriffen nur so strotzen.
Unzulässig
– so soll es heißen –
ist eine Hilfeleistung, die unter missbräuchlicher Einflussnahme erfolgt, die selbstbestimmte Willensbildung oder Entscheidung des Wahlberechtigten ersetzt oder verändert oder wenn ein Interessenkonflikt … besteht.
Wann ist denn die Einflussnahme missbräuchlich? Mit welcher Unterhaltung, die zu einer Veränderung der Wahlentscheidung des Wahlberechtigten führen kann, verstößt eine Hilfsperson gegen diese Vorschrift: durch einen Hinweis auf einen anderen Kandidaten, durch einen Hinweis auf die eigene, abweichende Präferenz? Und für wen gilt das eigentlich wann? Wenn die Hilfspersonen Angehörige des eigenen Haushalts sind, gilt das dann nur bei der Wahlentscheidung, wenn das Kreuz gemacht wird, gilt es auf dem Weg zur Urne, oder gilt es auch für jedes Gespräch beim Frühstück, das man Wochen vorher geführt hat?
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Das alles ist überhaupt nicht klar, und es besteht die reale Gefahr, dass man darauf achten muss, dass durch diese Art der Formulierung Ihres neuen Straftatbestandes am Ende nicht sogar eine Beweislastumkehr entsteht, weil die Assistenz ja auch bei Nichtäußerung des Wahlberechtigten unter Strafe gestellt werden soll.
Nein, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, das allen gewährte zentrale Grundrecht der Demokratie, wählen zu dürfen, braucht keinerlei ergänzende Regelungen im Strafrecht, keine Drohungen gegen die Angehörigen und Betreuer. Es braucht im Grunde eine einzige Einsicht: In einer Demokratie bestimmen die Wähler ihre Politiker und nicht die Politiker ihr Wahlvolk. Wenn man dieser Einsicht folgt, braucht man diesen Entwurf nicht. Auch die ausgerechneten Verwaltungskosten gehen an der Lebenswirklichkeit vorbei.
Es wird Ihnen auch nicht gelingen, zu erklären, warum es nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts ganz viele Bundesländer geschafft haben, das Wahlrecht zu den zeitgleich stattfindenden Kommunalwahlen einzurichten,
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aber wir in diesem Hohen Haus das für die Europawahl nicht schaffen. Damit gibt dieses Haus tatsächlich ein klägliches Bild ab.
Frau Präsidentin, herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Jens Beeck. – Nächster Redner in der Debatte: Friedrich Straetmanns für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Immerhin, am 8. April 2019 hat es diese Regierungskoalition geschafft, den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und unter anderem auch des Europawahlgesetzes vorzulegen. Alle Achtung! Sie hatten sich doch schon im Koalitionsvertrag vom Februar 2018 vorgenommen, das Wahlrecht zu ändern. Schnelle und fachlich gute Arbeit sieht anders aus.
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Meine Fraktion Die Linke fordert die Aufhebung des Wahlrechtsauschlusses von Menschen mit Behinderung und unter Vollbetreuung stehenden Menschen schon lange. Sie aber brauchen erst die Belehrung durch das Bundesverfassungsgericht. Sehen Sie sich eigentlich in der Pflicht, ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für das Bundesverfassungsgericht aufzulegen? Es scheint so; denn immer wieder zwingen Sie uns dazu, gegen Ihre verfassungsrechtlich nicht haltbaren Gesetzesvorhaben vorzugehen.
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Aber zurück zum Wahlrechtsausschluss für unter Betreuung stehende Menschen und Menschen mit Behinderung. Mit Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Januar 2019 wurde festgestellt, dass § 13 Nummer 2 und § 13 Nummer 3 des Bundeswahlgesetzes, in dem es um den Ausschluss ebendieses Personenkreises geht, mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Für die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland, die Europawahl, enthält das Europawahlgesetz in § 6a Ausschlüsse vom Wahlrecht. Diese sind wortgleich mit denjenigen, die das Bundesverfassungsgericht Ende Januar 2019 für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt hat.
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Dass dringender Handlungsbedarf besteht, muss der Bundesregierung doch spätestens damals klar geworden sein. Ende Januar 2019 ist ja jetzt noch nicht so lange her, könnte man denken. Aber, meine Damen und Herren, die Beschwerde im genannten Verfahren richtete sich bereits gegen den Ausschluss von der Bundestagswahl 2013.
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In der Zwischenzeit wäre also mehr als genug Zeit gewesen, zu einer sachgerechten Lösung zu kommen. Ich finde das beschämend.
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Weil es Ihnen das nicht gelungen ist, reden wir heute über einen Gesetzentwurf, der im Sommer, also erst nach der Europawahl, in Kraft treten soll. Damit schließen Sie ohne Not mehrere Zehntausend Menschen von der Wahl aus. Deswegen haben wir – das ist erwähnt worden – gemeinsam mit den Fraktionen der Grünen und der FDP beim Bundesverfassungsgericht beantragt, die genannten Wahlrechtsausschlüsse bei der Europawahl nicht anzuwenden. Erwartungsgemäß kämpfen Sie auch hiergegen mit aller Kraft an. Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat zeichnet in seiner Stellungnahme gegenüber dem Gericht das Bild eines unmöglich zu leistenden Erfüllungsaufwandes
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und der Notwendigkeit zahlreicher Änderungen im Bundesrecht. Im vorliegenden Entwurf klingt das alles deutlich weniger aufwendig.
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Vielleicht stimmen sich Koalition und Regierung besser noch einmal ab.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, dafür, dass Sie diesen doch recht überschaubaren Gesetzentwurf erst jetzt präsentieren, gibt es keine Ausrede.
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Als es letztes Jahr darum ging, die staatlichen Leistungen im Rahmen der Parteienfinanzierung zu erhöhen, haben Sie den entsprechenden Entwurf innerhalb kürzester Zeit durch die parlamentarischen Abläufe gepeitscht. Das Wahlrecht von 85 000 Menschen bei der kommenden Europawahl interessiert Sie offenbar nicht genug. Und da sage ich ganz klar: Das ist respektlos, sowohl gegenüber den betroffenen Menschen als auch mit Blick auf eine so wichtige Wahlentscheidung in Europa.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Friedrich Straetmanns. – Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen: Corinna Rüffer.
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Was für eine Freude! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Herr Dusel! Liebe Abgeordnete! Man muss einfach sagen: Netter Versuch! Union und SPD legen hier im Eilverfahren einen Gesetzentwurf vor, den wir kaum lesen, geschweige denn angemessen prüfen konnten. Aber das sind wir ja irgendwie gewohnt.
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Deswegen will ich das gar nicht weiter thematisieren. Es ist jedoch nervig – das will ich an der Stelle einmal betonen –, dass man in einer solchen Weise mit uns umgeht.
Viel interessanter ist in der Tat die Frage, warum Sie heute diesen Gesetzentwurf vorlegen. Herr Dusel hat nahegelegt, dass es jetzt irgendwie vorangeht. Ich würde das bezweifeln. Ich glaube, es hat etwas damit zu tun, dass am Montag ein Termin ansteht, nämlich die mündliche Verhandlung beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Man könnte ja meinen, Sie wären eine gute Bundesregierung, die jetzt die Änderung des Wahlrechts umsetzen will. Ich glaube das noch nicht. Ich glaube, dass Sie versuchen, Ihre Argumentation gegenüber dem Gericht zu stärken, indem Sie behaupten, dass wir mit der Beantragung der einstweiligen Anordnung zu tief in die Rechte des Gesetzgebers eingriffen oder so. Das ist ein ziemlich perfider Plan und zeigt, dass Sie jeden Winkelzug nutzen, um zu verhindern, dass bei den anstehenden Europawahlen am 26. Mai die bisher ausgeschlossenen Menschen zu ihrem Grundrecht, zu wählen, kommen,
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und das nur, weil Sie sich nicht die Peinlichkeit geben wollen, dass erneut das Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden muss, ob in diesem Land Grundrechte eingehalten werden oder nicht. – So meine These, aber ich finde, sie ist wohlbegründet.
Der Hintergrund ist klar: Wir wissen lange, dass unser Wahlrecht gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstößt. Ich bin mir sicher, dass wir ohne die letzte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes heute überhaupt nicht über einen Gesetzentwurf reden würden.
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Was Herr Heveling heute gesagt hat – er hat betrauert, dass wir keine Einzelfallprüfung vornehmen können –, beweist doch, dass wir dann heute keinen Schritt weiter wären.
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Es liegt an der Unionsfraktion, die immer noch nicht kapiert hat, dass es hier darum geht, Menschenrechte umzusetzen.
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Ich muss wirklich sagen: Das ärgert mich so maßlos – obwohl wir viele Sitzungswochen hinter uns haben und auch gerne mal nach Hause gehen würden –, dass Sie es echt kaum glauben können.
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Ich glaube nicht, dass irgendjemand hier im Raum glaubt, dass Ihre verschwurbelten Formulierungen zur rechtlichen Assistenz zu mehr Rechtssicherheit führen. Sie führen zu mehr Rechtsunsicherheit auf allen Seiten. Das ist es, was Sie uns hier vorlegen. Sie wollen uns doch wohl nicht ernsthaft vormachen, dass wir hier heute auch nur einen Millimeter weiterkämen. Ich glaube das überhaupt nicht.
Ich möchte Sie, Herr Heveling, stellvertretend fragen: Vor wem haben Sie eigentlich Angst?
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Haben Sie vor den 85 000 Menschen Angst, die am 26. Mai 2019 schon wieder, wenn wir am Montag keinen Erfolg haben, vom Wahlrecht ausgeschlossen werden? Immer wieder argumentieren Sie, die bürokratischen Hürden seien so hoch. Jens Beeck hat es vorhin gesagt: Es gibt Bundesländer, die am 26. Mai 2019 Kommunalwahlen haben und eine entsprechende Änderung des Wahlrechts auf den Weg gebracht haben.
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Und wir hier im Deutschen Bundestag schaffen das nicht? Sie müssen doch sehen, wie peinlich das ist. – Ulla Schmidt, danke, dass Sie klatschen. Das ist hier eine peinliche Veranstaltung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Corinna Rüffer. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Wilfried Oellers.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach all der Kritik darf ich ein Wort der Freude darüber verlieren, dass wir dieses Gesetz jetzt auf den Weg bringen.
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Das ist sicherlich keine einfache Geburt gewesen; das gebe ich gerne zu. Ich hätte mir das auch anders gewünscht. Aber für die 80 000 Menschen, die bisher von den Wahlen ausgeschlossen waren, von Bundestagswahlen und Europawahlen,
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geht nun der hoffnungsvolle Wunsch in Erfüllung, dass das Wahlrecht für sie entsprechend geregelt wird. Das hat zur Folge, dass wir im Bundeswahlgesetz und im Europawahlgesetz die Wahlausschlüsse streichen. Für die Experten: Nummer 2 und Nummer 3 des § 13 des Bundeswahlgesetzes und des § 6a Absatz 1 des Europawahlgesetzes werden gestrichen.
Zum Verfahren. Nachdem wir im Koalitionsvertrag vereinbart hatten, dass wir das inklusive Wahlrecht einführen bzw. die Wahlrechtsausschlüsse aufheben wollen, hat das Bundesverfassungsgericht Anfang des Jahres, und zwar am 21. Februar 2019, eine Entscheidung getroffen, in der die Wahlrechtsausschlüsse für verfassungswidrig, aber auch für nichtig erklärt worden sind.
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– Frau Haßelmann, vielleicht hören Sie einmal zu. – Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht – das ist vielleicht auch für Sie, Frau Haßelmann, interessant zu wissen,
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falls Sie es nicht gelesen haben –
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eindeutig auf die Notwendigkeit der Einsichtsfähigkeit und der Entscheidungsfähigkeit der Menschen abgestellt und festgestellt, dass die Integrität der Wahl und damit auch die selbstbestimmte Wahl eines jeden gewährleistet sein muss, um somit die demokratische Wahl vor Missbrauch zu schützen. Das sind Dinge, die das Bundesverfassungsgericht gesagt hat. Wenn hier heute oft gefragt wird: „Wovor haben wir denn eigentlich Angst?“ oder: „Warum spricht man hier von Missbrauch?“, sage ich: Das sind Dinge, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung erwähnt hat, die wir als Gesetzgeber zu berücksichtigen haben.
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Wenn Sie fragen: „Warum dauert das so lange? Hat man Angst vor irgendetwas?“, dann sage ich: Nein, erstens haben wir keine Angst vor irgendetwas. Zweitens hat es gedauert, weil wir uns als sorgfältiger Gesetzgeber mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auseinandergesetzt haben.
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Deswegen streichen wir nicht nur die Wahlrechtsausschlüsse, sondern konkretisieren auch die Regelungen zur Assistenz sowohl im Bundeswahlgesetz und der Bundeswahlordnung als auch im Strafgesetzbuch. Diese Konkretisierung ist der gesetzgeberische Versuch, für Rechtssicherheit zu sorgen.
Das Gesetz wird laut Entwurf zum 1. Juli 2019 in Kraft treten. Ich bedauere auch sehr, dass wir das nicht bis zur Europawahl geschafft haben.
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Aber aufgrund der Vorbereitungen zur Wahl – das wurde uns von den Ministerien bestätigt – ist mit Blick auf die Rechtssicherheit der Europawahl – wir reden jetzt nicht nur über eine nationale Wahl, sondern über eine Europawahl, an der auch andere Länder beteiligt sind – Sorgfalt geboten. Da die Richtigkeit der Wahlverzeichnisse nicht gewährleistet werden kann, wurde der 1. Juli gewählt.
Mir ist sehr wohl bewusst, dass das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht läuft und die mündliche Verhandlung für Montag terminiert ist. Wir werden sehen, wie dort entschieden wird. Wir halten es aber für geboten, an dieser Stelle Rechtssicherheit zu wahren, damit die Wahl nicht gefährdet ist.
Danke schön.
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Vielen Dank, Wilfried Oellers. – Nächster Redner: Dr. Matthias Bartke für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Dusel! Die Auseinandersetzung um das Wahlrecht für Menschen unter Vollbetreuung hat mehr als zehn Jahre gedauert. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird sie endgültig beendet.
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Daher gilt: Heute ist ein großartiger Tag für Menschen mit Behinderung.
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Meine Damen und Herren, in den letzten Jahrzehnten waren wir Zeugen eines wirklich wunderbaren Bewusstseinswandels in der Behindertenpolitik. Dieser Bewusstseinswandel hat langsam, aber sehr stetig stattgefunden. 1994 änderten wir das Grundgesetz und führten das Benachteiligungsverbot von Menschen mit Behinderung in Artikel 3 ein. 2001 haben wir mit der Einführung des SGB IX den Grundsatz der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung in unsere Rechtsordnung eingefügt.
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Vor zehn Jahren, in 2009, hat der damalige Bundessozialminister, Olaf Scholz, die UN-Behindertenrechtskonvention für Deutschland unterzeichnet und damit die Tür zur Inklusion aufgestoßen.
({3})
2016 haben wir das Bundesteilhabegesetz verabschiedet, das einen Systemwechsel begründete und ein eigenes Leistungsrecht für Menschen mit Behinderung in einem neuen Teil 2 des SGB IX verankerte.
Und heute, meine Damen und Herren, gehen wir den vorerst letzten Schritt:
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Wir schaffen die Wahlrechtsausschlüsse für Menschen unter Vollbetreuung ab. Damit erfüllen wir eine Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention, die der UN-Fachausschuss bereits mehrfach angemahnt hat. Es geht dabei um weit mehr als nur um das Wahlrecht von etwa 85 000 Menschen unter Vollbetreuung. Es geht um die ganz grundsätzliche Frage: Kann und darf der Staat Menschen aufgrund ihrer Behinderung die intellektuelle Fähigkeit zu einer Wahlentscheidung absprechen? Hier lautet die ganz klare Antwort: Nein, das kann er nicht, und das darf er nicht.
({5})
Im Gegenteil: Menschen mit Behinderung haben häufig klarere Vorstellungen über politisch falsch und richtig als Menschen ohne Behinderung.
Gleichzeitig muss man aber natürlich konzedieren, dass es Menschen gibt, die ohne Hilfe nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können. Deswegen war es zwingend erforderlich, dass wir auch neue Regelungen für die Wahlassistenz einführen.
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Die Wahlassistenz ist daher ein ganz zentraler Bestandteil unseres Gesetzentwurfs. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, schüttelt man nicht einfach mal so aus dem Ärmel.
({7})
Es muss klar werden, wo die Wahlassistenz endet und wo die Einflussnahme beginnt. Wahlassistenz ist zulässig und erwünscht, Einflussnahme ist unzulässig und strafbar.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch eines möchte ich hier ausdrücklich klarstellen: Auch wir hätten uns natürlich gewünscht, dass dieses Gesetz rechtzeitig zur Europawahl in Kraft tritt.
({9})
Aber seit Veröffentlichung des Bundesverfassungsgerichtsbeschlusses sind nur sechs Wochen vergangen, und wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wenn man Gesetzentwürfe sorgsam fertigt, dann geht das nicht schneller.
({10})
Wir glauben auch, dass man sechs Wochen vor der Wahl nicht mehr am Wahlrecht drehen sollte, und schon gar nicht, wenn die Kandidatenaufstellungen bereits erfolgt sind.
Es gibt eine Fraktion hier im Hause, die den Leitsatz hat: Lieber nicht regieren als schlecht regieren.
({11})
Wir dagegen sagen: Lieber ein guter Gesetzentwurf, der etwas länger dauert, als ein schlechter Gesetzentwurf, der als Schnellschuss daherkommt.
({12})
Insbesondere vor diesem Hintergrund habe ich mir den Gesetzentwurf der FDP angeguckt. Im Übrigen wurden die Wahlrechtsausschlüsse damals, wie mir Ulla Schmidt gerade berichtet hat, unter Justizminister Engelhard, FDP, eingeführt. Sie wollen einfach die Wahlausschlüsse streichen, sonst nichts, das war’s – keine Folgeänderung, keine Wahlassistenz, keine Auseinandersetzung mit den Grenzen der Hilfestellung. Oh Mann! Wenn das gutes Regieren ist, dann ist uns ja wirklich einiges erspart geblieben.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss deutlich sagen: Der vorliegende Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen ist ein Meilenstein in der Behindertenpolitik. Er ist für alle Menschen mit Behinderung in unserem Land ein großer Grund zur Freude.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Dr. Bartke. – Letzter Redner in dieser Debatte: Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen! Wir sind in der Abteilung „Altius, citius, fortius“, in der es immer darum geht, sich selbst zu überbieten, nach dem Motto: Wir sind die Ersten, wir sind ganz vorne dabei.
Diese Koalition hat, noch bevor das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, sich mit der Frage der Wahlrechtsausschlüsse beschäftigt und das Thema in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Entschuldigung, aber gespielte Entrüstung bringt uns in dieser Frage keinen Schritt weiter,
({0})
sondern ausschließlich eine gute gesetzliche Grundlage, um mal etwas ernster zu werden.
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Es ist keine Petitesse, wenn man sich infolge des Bundesverfassungsgerichts mit der Frage beschäftigt, wie die Umsetzung eines Menschenrechtes auch handwerklich funktionieren soll. Nein, es ist keine Petitesse, wenn wir über Assistenzleistungen reden. Herr Beeck, das unbefugte Ausüben eines Willens, der gar nicht geäußert wurde, kann nur über das StGB geregelt werden. Das hat mit einem Misstrauen gegenüber dem Betreuer gar nichts zu tun. Im Gegenteil, gegen die Betreuer, die ernsthaft die Interessen ihrer Schützlinge, ihrer zu Pflegenden, ihrer Betreuten wahrnehmen, gibt es null Misstrauen.
Entscheidend ist, dass dort, wo eine Lücke auftaucht, diese gefüllt werden muss. Das geht eben nicht, indem man mit dem Rasenmäher über die einschränkenden Gesetzesformulierungen geht, sondern das funktioniert nur, wenn Sie die Dinge aufeinander abstimmen und die Trennschärfe, die das Bundesverfassungsgericht von uns verlangt, am Ende des Tages auch belegen. Deshalb ist dieser Gesetzentwurf so sinnvoll.
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Ich glaube, dass man sich jetzt nicht dazu verleiten lassen sollte, zu sagen: Was habt ihr da wieder verbrochen? Ja, die Umsetzung dauert seine Zeit. Natürlich wird sich das Bundesverfassungsgericht in der nächsten Woche mit dieser Frage beschäftigen. Dafür ist es da. Das ist in unserem Interesse, und das kann selbstverständlich auch im Interesse der hiesigen Opposition sein. Ich hoffe nur, dass sich dieses Mittel auf Dauer nicht abgreift;
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denn wir wollen keinen Ersatzgesetzgeber durch das Bundesverfassungsgericht.
Wir bleiben bei dem, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Ich glaube, dass diese Koalition nicht nur hinsichtlich der Umsetzung der Menschenrechtskonvention, sondern auch mit Blick auf die Frage, wie Menschen an Wahlen teilnehmen können, die dies bisher nicht konnten, einen durchaus belastbaren, validen Weg gefunden hat. Am Ende kommt es darauf an, dass wir als Gemeinschaft diese Menschen inkludieren und Regeln haben, wie die Assistenz für diejenigen, die aus einer betreuten bzw. geschlossenen Einrichtung kommen, beim Wahlrecht funktioniert.
Ich muss ehrlich sagen: Dank gilt denen, die sich Wochen und Monate mit diesem Thema beschäftigt haben. Das sollten wir an dieser Stelle am heutigen Tage nicht kleinreden.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Michael Frieser. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/9228 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt dazu keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine Damen und Herren! Ein Thema bewegt Deutschland und diesen Bundestag heute Abend, das Thema „Parlamentarische Staatssekretäre“. Das steht auch an der Tafel geschrieben. Da steht allerdings nicht, was wir mit dem Amt machen wollen. Wir als AfD wollen es abschaffen, und zwar ersatzlos. Ich erkläre Ihnen auch gern, warum.
Wir wollen es abschaffen, weil wir mehr Demokratie wagen wollen.
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Sie kennen dieses Zitat von Willy Brandt, wobei man sagen muss, dass ausgerechnet bei den Parlamentarischen Staatssekretären der Genosse Brandt keine sonderlich rühmliche Rolle spielte; denn er führte das Amt eigentlich mit ein.
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Gleichwohl wollen wir mehr Demokratie wagen. Wir knüpfen da an und wollen dieses verfassungsmäßig fragwürdige Amt abschaffen.
Bevor Sie von den Altparteien in der Weltgeschichte herumreisen und unsere Demokratie immer wieder als die allerbeste preisen, kehren Sie besser vor der eigenen Tür, und beseitigen Sie mit uns diesen verfassungswidrigen Zustand.
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Um vor der eigenen Tür kehren zu können, liefern wir Ihnen mit unserem Gesetzentwurf den Besen, meine Damen und Herren.
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Parlamentarische Staatssekretäre sind politische Zwitter – einige dieser Exemplare sitzen rechts von mir auf der Regierungsbank –; denn sie sind zugleich Abgeordnete. Parlamentarische Staatssekretäre sollen also Abgeordnete sein. Gleichwohl wurde da eine Ausnahme geschaffen. Parlamentarische Staatssekretäre im Bundeskanzleramt sind keine Abgeordneten. Da wurde der Ämterpatronage also noch mehr Tür und Tor geöffnet.
Jedenfalls sitzen hier auf der Regierungsbank die Parlamentarischen Staatssekretäre, die eigentlich dazu berufen wären, als Abgeordnete die Regierung zu kontrollieren. Das tun sie aber nicht. Sie sind Teil der Regierung und stellen in ihren Fraktionen, den Regierungsfraktionen, etwa 10 Prozent der Abgeordneten.
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Dadurch üben sie natürlich massiven Einfluss darauf aus, was in ihren Fraktionen geschieht. Sie sind also fremdgesteuert von der Regierung, meine Damen und Herren.
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Eine verfassungsrechtliche Grundlage für diese Parlamentarischen Staatssekretäre gab es bisher nicht. Es geht also darum, ein Relikt aus den späten 60er-Jahren abzuschaffen. Die Gewaltenverschränkung, die Sie, Herr Amthor, oder wer auch immer, gleich wieder erwähnen werden, spielt hier auch keine Rolle; denn die Gewaltenverschränkung verlangt nicht, dass Regierungs- und Abgeordnetenamt zusammenfallen.
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Im Gegenteil, im Sinne unseres Grundgesetzes ist eine klare Gewaltenteilung, und deshalb unser Antrag.
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Das Amt der Parlamentarischen Staatssekretäre ist längst dazu verkommen, Partei- und Personalpolitik zu verknüpfen und besonders willfährige, devote und verdiente Parteigenossen und -genossinnen mit lukrativen Posten auszustatten.
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Sie erinnern sich: Ein gescheiterter Merkel-Generalsekretär war schwups, innerhalb weniger Tage Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium, und ein besonderes Vertrauensverhältnis eines Staatsministers, also Parlamentarischen Staatssekretärs im Außenministerium, zum heimlichen SPD-Vorsitzenden Scholz reichte aus, um sich ein solches Amt zu verschaffen. Wenn man sich einmal umschaut – die Dame ist heute nicht da –, kann es auch hilfreich sein, mit einem ehemaligen SPD-Vorsitzenden verheiratet zu sein, meine Damen und Herren.
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Der Bund der Steuerzahler spricht von einem Instrument der Ämterpatronage und Pfründenwirtschaft, und weil es versäumt wurde, die Anzahl der Parlamentarischen Staatssekretäre zu begrenzen, gibt es davon inzwischen 35. Insgesamt waren es rund 270 Parlamentarische Staatssekretäre. Das ist rekordverdächtig.
Rekordverdächtig ist auch, was mit dieser Selbstbedienung der Altparteien an Kosten für das Personal einhergeht. So erhalten Parlamentarische Staatssekretäre unter Berücksichtigung der Diäten, die ja auch fließen, ungefähr 20 000 Euro im Monat. Samt Entourage, Fahrer, Mitarbeitern, Büros und allem Möglichen entstehen dem Steuerzahler so Kosten in Höhe von ungefähr 19 Millionen Euro im Jahr. Diese 19 Millionen Euro buttern Sie in ein Amt, das hinter allen Erwartungen zurückgeblieben ist. Die beabsichtigte Entlastung der Minister ist purer Hohn geblieben. Minister sind nicht da, Parlamentarische Staatssekretäre sind auch nicht da; wahrscheinlich gibt es demnächst Parlamentarische Staatssekretärsgehilfen, damit die Parlamentarischen Staatssekretäre entlastet werden. Also, eine Entlastung sehen wir da nicht.
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Wenn Minister entlastet werden sollen, dann sollen Minister ihr Abgeordnetenmandat abgeben und sich auf ihre Ministerarbeit beschränken. Das wäre ein richtiger Ansatz.
In der Hierarchie des Ministeriums haben sie auch nichts zu melden. Die FAZ schrieb gestern: Staatssekretäre unterschreiben immer in Lila. Das sei die Abkürzung für „liegen lassen“. – So scheint der Einfluss der Parlamentarischen Staatssekretäre im Amt zu sein. Selbst Frau Merkel antwortete auf die Frage, was die Staatssekretärin Bär ausrichtet, sie würde bestimmte Aufgaben wahrnehmen.
Meine Damen und Herren, Rainer Barzel – selig – nannte Parlamentarische Staatssekretäre überflüssig wie einen Kropf. Minister sind sie auch kaum geworden. Von den etwa 270 Parlamentarischen Staatssekretären wurden gerade einmal 10 Prozent Minister. Daran sieht man, dass da nicht unbedingt immer die Besten landen.
Ihre Redezeit ist überschritten.
Meine Redezeit ist um. Deshalb erinnere ich die Grünen noch mal an ihren gleichlautenden Antrag aus dem Jahre 1994
({0})
und an die Empfehlung der Unabhängigen Kommission aus der 12. Wahlperiode, diese Ämter abzuschaffen. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns mehr Demokratie wagen!
Ihre Redezeit ist zu Ende.
Lassen Sie uns dieses fragwürdige Amt abschaffen!
({0})
Stimmen Sie bitte unserem Antrag zu!
Ich bedanke mich herzlich – auch bei Ihnen, Frau Präsidentin, für die Geduld.
({1})
Nächster Redner in der Debatte: Philipp Amthor für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist wieder Donnerstagabend, und wir haben wieder einen neuen Teil der schlechten Schauspielreihe „Die AfD versucht sich im Parlamentsrecht“ erlebt. In der Hauptrolle, niveaulos wie immer: Stephan Brandner. Sein Ziel: wieder die angeblich faulen Altparteien. Bewaffnet ist der Held wie immer mit Halbwissen im Verfassungsrecht.
({0})
Das wird von Woche zu Woche nicht besser. Über Ihre Schmierenkomödie, Herr Brandner, schüttelt selbst mancher Kollege in der AfD schon den Kopf. Das kann ich auch nachvollziehen.
Sie haben uns in Ihrer Rede gesagt, Sie hätten einen Besen dabei, mit dem wir mal reinemachen könnten bei unseren Staatssekretären. Ich würde Ihnen empfehlen: Machen Sie damit doch erst mal den Dreck vor der eigenen Tür weg, ehe Sie uns hier belehren.
({1})
Ganz ehrlich: „Steuergeldverschwendung“ sagt die Mettbrötchenfraktion. Mehrere Zehntausend Euro in den ersten Wochen und all diese Dinge – von Ihnen brauchen wir nun wirklich keine Belehrungen.
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Vor allem weiß ich: Es ist vergossene Milch, Ihnen jetzt etwas über Verfassungsrecht zu erklären. Diesmal war es besonders niveaulos. Das fängt schon mit den Begriffen an. Sie machen sich ja nicht mal viel Mühe. Sie sagen, die Parlamentarischen Staatssekretäre seien Teil der Bundesregierung. – Wenn Sie wissen wollen, was die Bundesregierung ist, empfehle ich Ihnen: Schauen Sie mal in Artikel 62 des Grundgesetzes. Da steht nur ein Satz:
Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern.
Also schon bei den Begriffen sollten Sie aufpassen. Vor allem wie Sie den Begriff „Gewaltenteilung“ verwenden, finde ich bemerkenswert. In Ihrem Gesetzentwurf und hier sagen Sie, das mit den Parlamentarischen Staatssekretären sei verfassungswidrig. – Da denke ich ja: Mannomann, wenn der Vorsitzende des Rechtsausschusses, so eine Kapazität hier im Parlament, das sagt, dann müsste man sich mal Gedanken machen.
({3})
Verfassungswidrig! Da kann ich Ihnen nur sagen: Beschäftigen Sie sich einmal mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz des Grundgesetzes; denn der lässt die Rolle der Parlamentarischen Staatssekretäre ausdrücklich zu – das hätten Sie dem Grundgesetz sogar entnehmen können –, und zwar erstens dadurch, dass das Grundgesetz kein Verbot der gleichzeitigen Funktion als Abgeordneter im Parlament und als Unterstützung der Regierung macht. Zweitens gibt es sogar eine Norm – für verfassungsrechtliche Feinschmecker; die könnten Sie sich ja einmal anschauen, Herr Brandner –:
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Artikel 53a Absatz 1 Satz 2, zweiter Halbsatz – das können Sie im Protokoll nachlesen – regelt nämlich, dass es im Gemeinsamen Ausschuss eine partielle Inkompatibilität gibt.
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Das bedeutet, dass die Abgeordneten, die dort gewählt sind, nicht gleichzeitig Mitglied der Bundesregierung sein können.
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Daraus folgt im Umkehrschluss logischerweise, dass es ansonsten zulässig ist, dass Abgeordnete auch Parlamentarische Staatssekretäre sein können.
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Schauen Sie also einfach mal in die Verfassung! Das würde Ihnen echt helfen.
Ich will nur noch eines sagen: Es ist wirklich lästig. Die Plenarsitzungen sind nicht dafür da, dass Sie Debatten aufsetzen, um von uns Gratisnachhilfe im Verfassungsrecht zu bekommen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wenn Sie mit Inkompatibilitäten anfangen und sagen: „Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass die Parlamentarischen Staatssekretäre gleichzeitig Abgeordnete sind“, dann kann ich sagen: Die AfD kommt noch auf viel bessere Ideen. Wenn wir an den Anfang der Legislaturperiode gucken, dann stellt man nämlich fest: Bei Ihnen kann man Bundestagsabgeordneter und gleichzeitig Landtagsabgeordneter sein. So wie die Kollegen aus Mecklenburg-Vorpommern
({9})
gleichzeitig Abgeordnete im Landtag und im Europaparlament sind. Bei Ihnen geht das alles.
({10})
Deswegen: Es ist hochnotpeinlich, was Sie hier gezeigt haben. Wir sind froh, dass wir gute Parlamentarische Staatssekretäre haben. Ich danke dem Parlamentarischen Staatssekretär im Innenministerium, Günter Krings, ausdrücklich. Er kennt die Verfassung nämlich besser als Sie; das ist auch gut so. Ihr Auftritt heute war peinlich.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin: Linda Teuteberg für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frei nach Goethe: Man merkt die Absicht und ist verstimmt, weil man heraushört: Es geht nicht darum, unsere Demokratie zu verbessern, sondern darum, sie schlechtzumachen. Als Demokraten sollten wir allerdings nicht den Fehler machen, Probleme, nur weil sie von den Falschen angesprochen werden, zu ignorieren.
Zweifellos hat das Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs eine Funktion; denn auch wenn wir von Exekutive und Legislative und parlamentarischer Kontrolle der Regierungsarbeit sprechen, ist die gelebte Verfassungswirklichkeit zum Teil eine andere. Es gibt die Gewaltenverschränkung; sie wurde hier schon angesprochen. Auch Dolf Sternberger hat schon 1960 von einer Form der parlamentarischen Regierung in Deutschland geschrieben, und zwar nicht nur weil fast jede Ministerin, fast jeder Minister ein Bundestagsmandat hat, sondern auch weil die Bundesregierung in Deutschland auch in der Gesetzgebung, der eigentlichen Domäne des Parlaments, eine gewichtige Rolle spielt. Fast alle Gesetzentwürfe, die in diesem Haus schließlich eine Mehrheit finden, und selbst viele Änderungsanträge aus manchen Regierungsfraktionen kommen aus der Feder von Ministerialbürokraten. Das allerdings müssen wir so nicht hinnehmen, sondern daran sollten wir etwas verbessern.
Gerade hier könnten und sollten auch Parlamentarische Staatssekretäre eine wichtige Rolle in einer Zeit spielen, in der nicht nur die Welt, sondern auch die Regierungsarbeit immer komplexer wird, damit die Vorschläge der Regierung dem Willen des Parlamentes besser entsprechen. Wenn wir ehrlich sind, werden wir in der Praxis diesem Anspruch nicht gerecht und bleiben hinter diesen Möglichkeiten zurück.
Mit der Position des Parlamentarischen Staatssekretärs werden zumeist einflussreiche Abgeordnete in eine erweiterte Kabinettdisziplin eingebunden.
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Tatsache ist leider – das hat mein Kollege Stefan Ruppert letztes Jahr schon sehr gut analysiert –, dass Parlamentarische Staatssekretäre in der Praxis ja viel zu wenig als Parlamentarier in die Regierung hineinwirken, und zwar allein deshalb, weil ihnen dazu die Machtmittel fehlen;
({1})
denn die eigentliche Verantwortung liegt hinter dem Minister bei den beamteten Staatssekretären, die den Apparat führen und den Minister als Leiter der obersten Bundesbehörde vertreten. Ich finde daher, dass wir durchaus kritisch über die Rolle und die Zahl der Parlamentarischen Staatssekretäre in der Bundesregierung sprechen müssen –
({2})
allerdings nicht der Kosten, sondern der Demokratie wegen.
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Wer wichtige Debatten- und Kontrollfunktionen allein der Opposition überlassen will – so gern und so ernst wir sie wahrnehmen –, der verkennt das Wesen der Gewaltenteilung. Wir sollten allerdings das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und deshalb diese Funktion völlig abschaffen, sondern darüber sprechen, wie wir die Parlamentarischen Staatssekretäre in ihrer wohlverstandenen Rolle und Aufgabe stärken können, etwa durch Änderungen der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien, damit sie den Willen und die Vorstellung des Parlamentes besser in exekutives Handeln umsetzen. Das könnte ein echter Beitrag zur Stärkung parlamentarischer Kontrolle und zur Stärkung einer Verfassungswirklichkeit sein, die dem Stellenwert des Parlamentes entspricht.
Vielen Dank.
({4})
Vielen herzlichen Dank, Linda Teuteberg. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Mahmut Özdemir.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben mal wieder ein Schmierentheater erlebt.
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Zu einem so schwachen Gesetzentwurf Stellung zu nehmen, ist auch schwierig, weil er eben keinen Gehalt hat. Sie erheben hastig zusammengestrickt wieder die Forderung, etwas abzuschaffen.
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Schnell durch das Argument „Die verdienen doch so viel“ angereichert, haben Sie heute das Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs im Visier. Sie reihen Halbwahrheiten aneinander, die Sie ohne Scham der Öffentlichkeit andienen, und hoffen, dass sich so, in den Köpfen schwelend, ein bestimmter Eindruck bei den Menschen verfestigt. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Parlamentarische Staatssekretäre dienen dem Interesse des Deutschen Bundestages und dem Interesse der Wählerinnen und Wähler. Sie tragen diese Interessen in die Regierung hinein und bereichern aufgrund der Einarbeitung in die Tiefe eines Sachverhaltes die Debatte auch hier in unserem Hause.
Der Gesetzentwurf ist schwach; denn er übt Kritik an Ämtern in unserem parlamentarischen System und führt zur Begründung lediglich an, dass Parlamentarische Staatssekretäre hohe Kosten verursachen,
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die Gewaltenteilung beeinträchtigen würden und die mit ihrer Einsetzung historisch erhobenen Erwartungen nicht erfüllt hätten. Das ist alles falsch und aus meiner Sicht eine äußerst dürftige Begründung,
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die, wie ich nachfolgend auch zeigen werde, auch jeglicher Grundlage entbehrt. Sie stellt eine Respektlosigkeit
({4})
gegenüber den Staatssekretärinnen und Staatssekretären im Amt und außerhalb des Amtes dar, weil sie die geleistete Arbeit verkennt und den betriebenen Aufwand gering schätzt. 80 Prozent der 20 000 Anfragen, die aus dem Kreise des Deutschen Bundestages gestellt wurden, sind von Parlamentarischen Staatssekretären bearbeitet und beantwortet worden.
Der Gesetzentwurf der AfD folgt wieder mal einem hässlichen Muster. Sie instrumentieren eine Debatte hier im Deutschen Bundestag, um ein politisches Amt verächtlich zu machen. Sie stellen ein politisches Amt als sinnlos dar, weil es Geld kostet.
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Eine solche Betrachtung vorzunehmen, ist schändlich; denn Demokratie an Geld zu messen, verbietet sich in diesem Hause. So eine Betrachtung passt jedoch wiederum zu Ihnen, da Sie und Ihre Fraktion anscheinend mehr ausländischen Geldgebern als dem deutschen Volke dienen.
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Wenn für Teile dieses Hauses nicht mehr gilt: „Alle Gewalt geht vom Volke aus“, dann ist das der wahre Angriff auf unsere Gewaltenteilung hier in diesem Land. Für Sie gilt: Alle Gewalt geht vom Geld aus.
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– Frau Präsidentin, ich habe ein Summen auf dem rechten Ohr.
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Ja, dann müssen Sie einfach lauter reden.
Jede Wählerin und jeder Wähler draußen muss wissen, wenn sie oder er Ihnen eine Stimme anvertrauen will, dass es eingedenk dieser Tatsache ein Leichtes ist, von hier aus zu zeigen, warum Sie das Gesetz über die Rechtsverhältnisse von Parlamentarischen Staatssekretären abschaffen wollen. Sie wollen die demokratische Kontrolle in diesem Land, die durch dieses Amt ausgeübt wird, schwächen.
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Parlamentarier im Amt des Staatssekretärs – auf höchster Ebene im Ministerium – sind über Vorgänge innerhalb dieser Bundesregierung informiert. Sie üben ihre Kontrollfunktion innerhalb ihres Hauses frühestmöglich aus und sorgen ebenso frühestmöglich für die verwaltungstechnische Umsetzung und die Umsetzung des gesetzgeberischen Willens. Das Amt setzt aus meiner Sicht die urdemokratische Kontrolle von Gewalten fort. Die Gewaltenteilung ist nicht Selbstzweck. Sie dient einer Kontrolle der Machtausübung. Wo und wie diese Kontrolle von Macht in unserem demokratischen System stattfindet, ist eine Frage der besten Wirkung.
Die Ansammlung von Macht in Ämtern ist per se auch nicht verwerflich, wenn sie gleichsam von Kontrolle begleitet wird. So halte ich zum Beispiel Rechtsverordnungen durch die Bundesregierung für zielführend und unbedenklich, weil ich jederzeit einen Teil des Gesetzgebers im Haus zugegen weiß.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein. – In diesem Lichte ist der Parlamentarier in einem Ministerium, der zum Staatssekretär berufen wird, zusätzlich zu seiner ohnehin vorhandenen parlamentarischen Kontrollpflicht auch noch zu einer zusätzlichen Kontrolle und einer zusätzlichen Mittlerrolle bestellt. Das ist daher eine zusätzliche Bürde des Amtes, die für einen Parlamentarier entsteht, der eben auch allen Rechten und Pflichten eines Wahlkreisabgeordneten bzw. eines Abgeordneten, den die Wählerinnen und Wähler über die Landesliste gewählt haben, unterliegt. Daher rechtfertigen sich auch Amtsausstattung und der entsprechende Verdienst von Parlamentariern im Regierungsamt.
Dieser Gesetzentwurf ist verfassungsrechtlich mindestens schwach, eher sogar unbegründet.
Auch Ihr unterschwelliger Vorwurf, dass es sich hier um eine Art Staatssekretärsamt der Raffgier handelt, weil Abgeordnetendiät und Besoldung eines Staatssekretärsamtes auf ein und demselben Gehaltskonto vereinigt werden, geht fehl. Sie versuchen auch, die Menschen draußen im Land hinters Licht zu führen, und unterschlagen dabei völlig die speziellen abgeordnetenrechtlichen Regelungen. Die Absicht hinter diesem Vorgehen ist mir persönlich sehr klar: Sie versuchen, Ihre eigene Daseinsberechtigung abzusichern.
({0})
Abschließend zur Wahrheit: Lesen Sie § 29 Abgeordnetengesetz! Dort ist niedergeschrieben: Wenn Abgeordnetenentschädigung und das Einkommen als Staatssekretär zusammentreffen, dann wird die Abgeordnetenentschädigung um die Hälfte gekürzt. Die dort eingezogene Höchstgrenze kommt im Übrigen rechnerisch – persönliche Lebensverhältnisse berücksichtigend – auf den gleichen Betrag.
Für die übrigen von Ihnen genannten Vorteile wird natürlich zwischen den Tätigkeiten im Amt des Staatssekretärs und der ureigenen Wahrnehmung des Abgeordnetenmandates differenziert. Dies wird dann entweder separat berechnet, oder die Kostenpauschale des Abgeordneten wird pauschal um ein Viertel gekürzt. – Ich bin gerne bereit, Ihnen eine weitere Präzisierung und Belehrung außerhalb meiner Redezeit als Nachhilfe zu gewähren.
({1})
Die von Ihnen vorgenommene Zusammenrechnung der Kosten der Demokratie hinkt damit erheblich, da Sie ohne Befassung mit der Gesetzesgrundlage einfach gegriffen etwas behaupten und nicht begründen und unter dem Strich nicht einmal die Anforderung an eine hohle Phrase erfüllen.
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Aber auch hier gilt: Wer hat schon die Zeit, Zahlen zu prüfen und genau zu arbeiten, wenn er doch so leicht Vorwürfe erheben kann, Neid schüren kann und die Demokratie einer rein geldwerten Betrachtung unterwerfen kann?
Unter keinem politischen oder verfassungsrechtlichen Aspekt kommt daher die Abschaffung des Amtes des Parlamentarischen Staatssekretärs für meine Fraktion in Betracht. Sie haben mit Ihrem Gesetzentwurf einen Willen formuliert – das sehe ich –, aber dem Willen fehlt jeglicher Verstand, und das wiederum ist nichts Neues für die AfD.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Mahmut Özdemir. – Nächster Redner für die Fraktion Die Linke: Friedrich Straetmanns.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wie immer großspurig und als Highlight in Sachen Demokratisierung angekündigt, entpuppt sich der Antrag der AfD – auch wie immer erst nach einem langen Gärprozess vorgelegt – als schale Brühe. Gereift ist Ihr Vorschlag während dieses Prozesses allerdings nicht.
Sie picken sich wieder mal ein einzelnes Thema heraus und betrachten es durch Ihre rechtspopulistische Brille.
({0})
Sie schieben die Position des Parlamentes und die Gewaltenteilung als Gründe vor, entlarven sich aber später dann doch selbst mit Ihrem autoritären Weltbild.
Letzte Woche erzählten Sie uns hier noch, wie machtversessen der durchschnittliche Parlamentarier ist und warum die Bevölkerung dringend mit mehr gesetzgeberischen Kompetenzen ausgestattet werden muss. Heute stellen Sie sich hin, und spielen Sie sich als Retter des Parlaments gegenüber der Exekutive auf.
({1})
Später sagen Sie aber ganz deutlich, dass Sie eigentlich niemanden wollen, der den Ministerinnen und Ministern reinredet.
({2})
Sie wollen ein autoritäres Von-oben-herab-Regieren statt Diskussion und Interessenausgleich.
({3})
Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass die Abschaffung der Parlamentarischen Staatssekretäre eine sinnvolle Sache wäre, doch brauchen wir dafür ein tragfähiges Konzept, in das eine solche Abschaffung eingebettet ist. Das ist die Position meiner Fraktion.
({4})
Die Aufgaben, die momentan von Parlamentarischen Staatssekretärinnen und -sekretären erledigt werden, lösen sich ja nicht plötzlich in Luft auf. Sie stellen wieder mal eine populäre Forderung in den Raum, machen sich aber nicht an die Arbeit, eine Lösung auszuarbeiten.
({5})
Seriöse Arbeit ist das nicht.
({6})
In Ihrem Antrag behaupten Sie, meine Damen und Herren von der AfD, dass die Parlamentarischen Staatssekretärinnen und -sekretäre quasi nur den Zweck haben, in Vertretung ihrer Ministerin oder ihres Ministers in der Fragestunde zu sitzen. Herr Brandner, wer sitzt denn in so gut wie jeder Sitzung des Rechtsausschusses neben Ihnen und steht Rede und Antwort?
({7})
Das ist die Parlamentarische Staatssekretärin und nicht d i e Ministerin. Sie können ja nicht ernsthaft wollen, dass uns diese Informationen nicht mehr erreichen.
({8})
Gut durchdacht sieht anders aus.
({9})
Dass Sie das nicht getan haben – oder Sie haben es getan, aber die Überlegungen führten zu einem weniger aufsehenerregenden Ergebnis, das sie deshalb lieber unter den Tisch fallen lassen –, merken wir an den Zahlen, die Sie in den Raum stellen. Dass die Parlamentarischen Staatssekretärinnen und Staatssekretäre Kosten von insgesamt 19 Millionen Euro verursachen, mag stimmen, aber das hilft uns doch überhaupt nicht weiter, wenn wir nicht wissen, wie in Zukunft deren jetzige Aufgaben bearbeitet werden sollen und wer diese Aufgaben übernehmen soll. Wie auch immer die konkrete Verteilung der Arbeit aussieht: Der Einspareffekt wäre deutlich geringer, als Sie uns hier glauben machen wollen.
Ich tue mich außerdem sehr schwer, Ihnen die Sorge um den Geldbeutel des durchschnittlichen Steuerzahlers abzunehmen.
({10})
Als Sie versucht haben, durch Goldgeschäfte die eigene Parteienfinanzierung hochzuschrauben, um damit über die staatliche Parteienfinanzierung Steuergelder abzugreifen, war davon wenig zu spüren.
({11})
Auch wenn Spenden hereinkommen, ist es mit der Transparenz bei Ihnen so gut wie vollkommen vorbei.
({12})
Sie stellen hier mal wieder einen Antrag, der nichts besser machen würde, und das soll er ja auch gar nicht. Sie werfen einfach, wie jede Woche, Dreck auf das Parlament, in der Hoffnung, dass irgendwas kleben bleibt.
({13})
Meine Fraktion, Die Linke, will eine Parlamentsreform, die dazu taugt, das Parlament wieder näher an die Bürgerinnen und Bürger zu rücken,
({14})
die die Prozesse verständlicher macht und die den Menschen die Möglichkeit an die Hand gibt, darauf zu reagieren. Das Parlament soll schlanker werden, und in diesem Zug sind auch wir dafür, die Position des Parlamentarischen Staatssekretärs abzuschaffen,
({15})
aber nicht als Einzelmaßnahme, nicht planlos und nicht, ohne sich um die Folgen zu scheren. Folglich werden wir Ihren schlecht durchdachten Antrag ablehnen.
Vielen Dank.
({16}) – Stephan Brandner [AfD]: Was für ein Spannungsbogen!)
Vielen Dank, Friedrich Straetmanns.
({0})
Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen: Britta Haßelmann.
({1})
Noch eine frauenfeindliche Bemerkung vorher? Oder geht es noch?
({0})
– Ja, okay. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben sich ja gerade schon warmgelaufen. Ich wollte nur daran erinnern, damit es ganz sicher jemand hört und es im Protokoll steht.
Meine Damen und Herren! Liebe Frau Präsidentin! Man denkt ja jeden Donnerstag, wenn es wieder einen Brandner-Gesetzentwurf gibt,
({1})
der hier schnoddrig eingebracht wird: Geht es eigentlich noch schlechter? Ja, es geht jede Woche noch schlechter.
({2})
Aber bald sind wir auf einer Niveautiefe angelangt, bei der wir Kolleginnen und Kollegen mal neu überlegen müssen: Wie viel Zeit widmen wir dem Ganzen noch?
({3})
Aber auch der Einstieg, nicht nur das Thema selber, war schon wirklich bemerkenswert. Da startet der Abgeordnete Brandner mit den Worten: Ein Thema bewegt Deutschland: Parlamentarische Staatssekretäre.
({4})
Es sind ja ziemlich viele Leute heute da. Wissen Sie was: Ich glaube – das finde ich gar nicht schlimm –, dass zwei Drittel der Bevölkerung überhaupt nicht wissen, was Staatssekretäre und Parlamentarische Staatssekretäre überhaupt sind.
({5})
Ich frage mich: In welcher Welt lebt denn der Abgeordnete der AfD?
({6})
Meine Damen und Herren, wenn es darum geht, was Menschen in diesem Land bewegt, dann können wir über die Bekämpfung der Klimakrise reden.
({7})
Wir können über die Frage des Pflegenotstands reden, der nämlich sehr viele Menschen betrifft. Wir können auch über die Frage „Zukunft Europas“ reden oder über die Befürchtungen und Ängste, die Bürgerinnen und Bürger, die Unternehmen in unserem Land im Zusammenhang mit dem Brexit haben. Das sind Themen, die Menschen bewegen, aber doch nicht Ihr Parlamentarischer-Staatssekretär-Gesetzentwurf, der sauschlecht ist.
({8})
Wahrscheinlich ist es doch so: Insgeheim wäre er doch am liebsten selber ein Staatssekretär, oder?
({9})
Mann, Mann, wäre das großartig, sich keine Gedanken mehr zu machen. Aber wissen Sie was, Herr Brandner: Wir und die demokratischen Kräfte in diesem Land werden alles dafür tun, damit Ihnen diese Aufgabe in der Regierung niemals zugewiesen wird. Deshalb ist das ein rein hypothetischer Fall. Kommen Sie wieder runter. Denken Sie nicht zu lange darüber nach.
({10})
Auch Ihre Arbeitseinstellung würde nicht zu dem Aufgabenportfolio eines Parlamentarischen Staatssekretärs passen. Also, daraus wird einfach nichts.
({11})
Meine Damen und Herren, es gibt in der Staatsrechtslehre – den kleinen Exkurs haben wir schon vom Kollegen Amthor gehört – zu diesem Institut grundsätzlich verschiedene Auffassungen.
({12})
Es gibt auch grundsätzlich Kritik an der Frage, ob dieses Institut des Parlamentarischen Staatssekretärs, der Parlamentarischen Staatssekretärin, sinnvoll ist. Aber – das muss man ganz deutlich sagen – jede Fraktion, jede Partei, die einmal in einer Regierungskonstellation war oder ist, hat auf dieses Institut des Parlamentarischen Staatssekretär und der Parlamentarischen Staatssekretärin immer zurückgegriffen, auch die Grünen und alle anderen. Deshalb sollten wir alle nicht so die Backen aufblasen und hier keine Dinge ankündigen, die wir am Ende doch nicht machen würden.
Was allerdings, meine Damen und Herren, zu diskutieren ist,
({13})
ist die Frage: Warum hat diese Große Koalition eigentlich so viele Staatssekretäre?
({14})
Es geht nicht um die Frage des Instituts. Es geht um eine andere Frage, die Sie noch gar nicht aufgeworfen haben. Sie waren noch nicht einmal in der Lage, zu sagen, dass der Gesetzentwurf der Grünen dazu von 1993 war. Er ist noch nicht einmal in der Lage, das richtig zu bringen.
({15})
Einfach mal nachgucken: 1993 war es, nicht 1994, meine Damen und Herren.
({16})
Aber ich glaube, dass die Frage, warum die Große Koalition 35 Parlamentarische Staatssekretärinnen und Staatssekretäre in dieser Legislaturperiode hat, mit einem Legitimationsproblem verbunden ist; das wissen Sie auch alle.
({17})
Da haben wir seit Jahren eine wundersame Mehrung: Bei Rot-Grün in der 16. Legislaturperiode waren es 28, bei Schwarz-Gelb waren es 30, bei Rot-Schwarz in der ersten Großen Koalition waren es 33.
Denken Sie an Ihre Redezeit.
Jetzt sind es 35.
({0})
Wenn wir über das Parlament und über Parlamentsthemen reden, dann sollten wir nicht über das von Ihnen genannte Thema sprechen, sondern über Themen, die das Parlament nach vorne bringen, nämlich die Einführung eines Lobbyregisters, mehr Informationsrechte –
Denken Sie an die Redezeit.
({0})
– und viele andere Fragen, die uns Abgeordnete wirklich helfen würden.
({0})
Vielen Dank, Britta Haßelmann. – Die nächste Rednerin, Petra Nicolaisen, gibt ihre Rede zu Protokoll.
({0})
Der letzte Redner in dieser Debatte: Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Verfassungswirklichkeit unseres Landes existieren Parlamentarische Staatssekretäre seit 52 Jahren. In der weit überwiegenden Zeit in den 70 Jahren unseres Grundgesetzes haben Damen und Herren diesen Dienst vollbracht. Ich glaube, das hat sich bewährt. Wir können all den Männern und Frauen, die als Parlamentarische Staatssekretäre Dienst getan haben, für ihren Einsatz danken.
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Sie haben, Herr Brandner, die Geschichte des Jahres 1967 nicht vollständig erzählt. Das Institut der Parlamentarischen Staatssekretäre ist deswegen eingeführt worden, weil im Zuge der Kabinettsreform die Anzahl der Bundesministerien in den 60er-Jahren drastisch reduziert worden ist. Als Ersatz für die Reduzierung der Bundesministerien und vor dem Hintergrund der beginnenden stärkeren internationalen Verflechtung und der zunehmenden Komplexität der Regierungsarbeit ist das Institut der Parlamentarischen Staatssekretäre eingeführt worden.
Das heißt, die Einführung war letzten Endes dem Umstand geschuldet, dass man die Zahl der Ministerien reduziert hat, aber trotzdem eine starke Bande zwischen Parlament und Regierung aufrechterhalten wollte. Ich glaube, das ist der Hintergrund dessen, was dieses parlamentarische System bei uns in Deutschland so erfolgreich macht: dass wir uns nicht gegenseitig voneinander abgrenzen und Mauern hochziehen, sondern in diesem Hause gemeinsam und konstruktiv zusammenarbeiten.
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Auch die Überlegung, dass wir eine strikte Gewaltenteilung in Deutschland hätten, ist verfassungsrechtlich nicht haltbar.
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Allein der Umstand, dass in Deutschland – das ist ein weiteres Argument – die Gesetzgebung durch Bundestag und Bundesrat wahrgenommen wird und der Bundesrat nicht durch die Länderparlamente, sondern durch die Länderexekutive bestimmt wird, zeigt, dass sich in Deutschland die Vermischung zwischen parlamentarischem Auftrag und exekutiver Eigenverantwortung durch das gesamte Grundgesetz zieht.
Die Verfassungsmütter und ‑väter haben bereits vor 70 Jahren erkannt, dass die gemeinsam wahrgenommene Verantwortung zwischen Bundesregierung und Bundestag notwendig ist, um dieses Land insgesamt auf einen guten Weg zu bringen. Deswegen sind auch Ihre Erwägungen zum Thema „Gewaltenverschränkung und Gewaltenteilung“ vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Entwicklung, aber auch ganz klar vor dem Hintergrund der Rechtslage einfach als falsch zu bezeichnen.
Ihr Gesetzentwurf zeigt im Grunde genommen etwas anderes. Er zeigt, dass Sie nicht bereit sind, dieses parlamentarische System zu akzeptieren, dass Sie Schwierigkeiten mit der Verfassungspraxis haben
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und dass Sie beginnen, parlamentarische Verantwortung in Euro und Cent vorzurechnen.
Es geht Ihnen aber nicht darum, über die Effektivität oder über den Bundestag sprechen zu wollen, sondern es geht Ihnen um die Verächtlichmachung unseres Bundestages und der Bundesregierung. Das ist Ihr Ziel. Daran werden wir Sie immer wieder erinnern.
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Ein weiteres, letztes Argument. Herr Brandner, Sie haben die Kolleginnen und Kollegen auf der Regierungsbank, allesamt Parlamentarische Staatssekretäre, als „Exemplare“ bezeichnet, haben Sie mit dem Wort „devot“ belegt, haben über die Familienverhältnisse einer Staatsministerin gesprochen. Ich sage Ihnen: Das ist unter der Würde dieses Hauses.
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Das ist anstandslos. Aus all diesen Überlegungen heraus werden wir Ihren Gesetzentwurf mit Freude ablehnen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Volker Ullrich. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/9250 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen wünschen die Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat. Die Fraktion der AfD wünscht Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der AfD, also Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Die AfD hat zugestimmt, alle anderen Fraktionen haben ihn abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von FDP, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Linke, und dagegengestimmt hat die AfD.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Europa ist in aller Munde, aber leider wird überwiegend über den Brexit gesprochen. Deswegen bin ich froh, dass wir den Entwurf dieses Gesetzes, mit dem wir der deutschen Vertretung im Europäischen Rat erlauben, der Empfehlung für mehr Sozialschutz zuzustimmen, zum Anlass nehmen können, über das soziale Europa zu reden.
Ein gemeinsamer Binnenmarkt braucht auch eine gemeinsame sozialpolitische Antwort. Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir in Zeiten der Digitalisierung, der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen eine Renaissance der sozialen Marktwirtschaft brauchen, dass wir die sozialen Grundrechte stärken und gleichen Lohn bei gleicher Arbeit am gleichen Ort durchsetzen,
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dass wir unsere Arbeitsmarktpolitik besser koordinieren wollen und dass wir einen Rahmen für Mindestlohnregelungen und nationale Grundsicherungssysteme entwickeln wollen.
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Wir brauchen Mindeststandards, die Sozialdumping verhindern. Ein starkes soziales Europa schützt unseren Sozialstaat, aber auch diejenigen, die gute Löhne zahlen und faire Arbeitsbedingungen sicherstellen.
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Und weil wir der Ansicht sind, dass ein starker Binnenmarkt auch einen starken Sozialstaat und starke Arbeitnehmerrechte braucht, begrüßen wir die Initiative der Europäischen Kommission für eine Europäische Säule sozialer Rechte vom November 2017 sehr.
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Die Europäische Säule sozialer Rechte legt in drei Kapiteln zu den Themen „Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang“, „faire Arbeitsbedingungen“ sowie „Sozialschutz und soziale Inklusion“ in insgesamt 20 Punkten fest, welche Themen im Rahmen eines europäischen Sozialmodells angesichts der großen Veränderungen durch neue Technologien, die Globalisierung und die Alterung der Bevölkerung angepackt werden müssen. Dazu gehören Themen wie allgemeine und berufliche Bildung und lebensbegleitendes Lernen genauso wie die Gleichstellung der Geschlechter, gerechte Löhne und Gehälter sowie Mindestlöhne, die Armut trotz Erwerbstätigkeit verhindern. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehört genauso dazu wie das Recht auf eine gute Gesundheitsversorgung.
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Die Empfehlung, über die wir heute beraten, bezieht sich auf den zwölften Punkt der europäischen Säule, den Sozialschutz. Hier wird gefordert, dass unabhängig von Art und Dauer des Beschäftigungsverhältnisses Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und unter vergleichbaren Bedingungen auch Selbstständige das Recht auf angemessenen Sozialschutz haben. Denn die Veränderungen am Arbeitsmarkt sind immens. Während die sozialen Sicherungssysteme in Europa noch weitestgehend an sogenannten Standardversicherten orientiert sind – sprich: lebenslang bei einem Arbeitgeber, vollzeitbeschäftigt, ohne Unterbrechung für Kindererziehung oder Pflege –, ändert sich die Arbeit in der Realität schnell: Befristete und Teilzeitarbeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, Soloselbstständigkeit, Scheinselbstständigkeit, Wechsel zwischen Selbstständigkeit und abhängiger Beschäftigung, Arbeit auf Abruf und vieles mehr an sogenannter atypischer Beschäftigung sind bereits für viele Menschen Realität. Darauf müssen wir reagieren. Alle brauchen gleichermaßen die Möglichkeit zum Zugang in die sozialen Sicherungssysteme: Schutz bei Krankheit, Vorsorge für das Alter oder bei Invalidität, Hinterbliebenenleistungen, Leistungen bei Mutter- oder Vaterschaft.
Die Konsequenzen aus dieser Empfehlung sind für alle Mitgliedsländer unterschiedlich zu ziehen. Eines ist jedoch für alle gleich, und das ist die Richtung. Wir wollen einen besseren Sozialstaat in allen Ländern. Wir wollen uns dabei gegenseitig unterstützen und uns nicht mit Sozialdumping gegenseitig Konkurrenz machen.
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Wir wollen klug und zeitnah auf die Veränderungen reagieren und den Menschen in Europa soziale Sicherheit geben. Dazu leistet diese Empfehlung einen wichtigen Beitrag. Wir wollen im globalen Wettbewerb der Systeme, den es gegen die USA und China zu bestehen gilt, mit Europa die wirtschaftlich und sozial starke demokratische Alternative sein.
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Um es mit den Worten von Katarina Barley zu sagen: Europa ist die Antwort.
Glück auf!
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Vielen Dank, Dagmar Schmidt. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Martin Sichert.
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Wertes Präsidium! Meine Damen und Herren! Sie wollen per Gesetz sozialpolitische Kompetenzen an die EU übertragen.
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Aus welchem Grund sollten wir Deutsche ein Interesse daran haben, dass andere Staaten mitbestimmen, wie unser Sozialsystem aussieht? Sollen die Griechen, die Bulgaren oder die Spanier mitbestimmen, wie hoch die Rente, das Arbeitslosengeld oder die Sozialabgaben in Deutschland sind?
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Die Spanier, Griechen oder Bulgaren wissen doch gar nicht, welche Probleme es in Deutschland gibt und welche Vorstellungen wir in diesem Land von einem sozialen Netz haben. Wir wollen weder, dass andere Staaten unseren Sozialstaat mitbestimmen, noch wollen wir anderen Staaten vorschreiben, wie deren Sozialstaat auszusehen hat.
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Wir, die AfD, sind die Partei der Demokratie,
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der Souveränität, der Toleranz und des Respekts vor fremden Völkern und Kulturen. Möge jedes Volk in seinem Staatsgebiet so leben, wie es gerne möchte, aber natürlich auch die Konsequenzen des eigenen Handelns selbst tragen.
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Genauso, wie wir von der AfD es ablehnen, für die Schulden anderer Länder aufzukommen, lehnen wir es auch ab, anderen Ländern in deren Politik reinzureden.
Meine Damen und Herren von den Altparteien,
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die Zeit des Kolonialismus ist vorbei. Immer wenn man der Auffassung war, dass am deutschen Wesen die Welt genesen soll, immer wenn versucht wurde, anderen Ländern und fremden Völkern die eigenen politischen und kulturellen Vorstellungen aufzuzwingen, hat das in die Katastrophe geführt.
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Europa ist bunt, Europa ist vielfältig, und wir wollen, dass Europa bunt und vielfältig bleibt. Sie jedoch träumen von Vereinheitlichung, von einem europäischen Großreich, in dem alle Völker ihre Kultur, ihre Werte einer europäischen Zentralmacht unterordnen müssen.
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Union, SPD, Grüne und auch die FDP sind die Heuchler vor dem Herrn.
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Sie wollen auf der einen Seite Selbstbestimmung für die Tibeter, aber auf der anderen Seite die Aufgabe der Selbstbestimmung von den Ungarn, den Polen, den Griechen und anderen.
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Ein europäischer Sozialstaat ist absoluter Schwachsinn. Die Sozialstaaten in den einzelnen Nationen sind historisch vollkommen unterschiedlich gewachsen.
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Es gibt unterschiedliche Mentalitäten. Das zu vereinheitlichen, sorgt für massiven sozialen Sprengstoff. Die Griechen beispielsweise haben deutlich weniger Sozialleistungen als wir Deutsche, zahlen aber auch deutlich weniger Abgaben. Sollen wir nun einen Sozialstaat auf griechischem Niveau haben, in dem die Menschen bei Arbeitslosigkeit mit Glück 360 Euro im Monat bekommen?
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Oder sollen die Griechen unseren Sozialstaat bekommen, den sie selbst gar nicht finanzieren können?
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Und wer finanziert den Griechen dann einen solchen Sozialstaat, der dumme deutsche Michel? Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was für ein Pulverfass Sie hier aufmachen? Wer einen europäischen Sozialstaat fordert, der legt die Axt an den Frieden in Europa.
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Abgesehen davon, dass es vollkommen gegen die Interessen Deutschlands ist, sozialpolitische Hoheitsrechte an Brüssel abzutreten, ist es obendrein noch verfassungswidrig.
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Ich zitiere aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2009:
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Als besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates gelten seit jeher Entscheidungen über … die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen … Danach müssen die sozialpolitisch wesentlichen Entscheidungen in eigener Verantwortung der deutschen Gesetzgebungsorgane getroffen werden.
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Und: Es
… obliegt gerade die sozialpolitische Verantwortung dem demokratischen Entscheidungsprozess, auf den die Bürger mit der freien und gleichen Wahl einwirken wollen.
Auf europäischer Ebene haben wir keine gleiche Wahl. In der EU zählt die Stimme eines Luxemburgers oder Maltesers deutlich mehr als die eines Deutschen.
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Es sind die Deutschen, die bestimmen müssen, wie der deutsche Sozialstaat ausgestaltet ist, und zwar autonom und souverän, ohne dass die EU und andere Staaten uns reinreden.
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Wer dem deutschen Volk Entscheidungen über die Sozialpolitik aus der Hand nehmen will und diese an Brüssel übertragen möchte, der tritt das Grundgesetz mit Füßen.
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Es ist unfassbar, womit wir uns hier beschäftigen müssen. Gehen Sie bei Tageslicht alle bitte einmal vor den Reichstag. Lesen Sie, was dort geschrieben steht, wessen Interessen Sie hier zu vertreten haben. Nicht den Interessen von abgehobenen Politikern wie Merkel, Weber oder Juncker sind Sie verpflichtet, sondern nur einem: Dem deutschen Volke.
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Deswegen haben wir eine namentliche Abstimmung beantragt. So kann jeder in diesem Land sehen, wer sich mit der Übertragung von Hoheitsrechten als Feind von Demokratie, Souveränität und damit des Grundgesetzes outet. Wir wollen keine Großreiche, und zwar für niemanden. Stattdessen wollen wir Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung in Europa.
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Vielleicht nochmals zur Selbstvergewisserung, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich sehe hier keine Altparteien, sondern demokratisch gewählte Abgeordnete in diesem Bundestag.
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Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Peter Aumer.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hier spricht ein Abgeordneter der Altparteien, der mit ganzer Kraft und Liebe für das deutsche Volk arbeitet, so wie das ganze Haus hier. Zur AfD kann ich nur sagen: Den Populismus so kurz vor der Europawahl können Sie sich sparen.
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Hätten Sie die Beschlussempfehlung gelesen, nur einmal, dann hätte Herr Sichert sich die Rede sparen können.
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Denn es geht nicht darum, deutsche Hoheitsrechte zu übertragen. Es geht nicht darum, dass der dumme deutsche Michel Geld an Europa zahlen oder Rechte übertragen soll. Vielmehr geht es darum, Europa, das uns in den letzten Jahrzehnten Frieden, Freiheit und Sicherheit gebracht hat, eine Basis zu geben, damit man auf einer guten sozialen Grundlage weiter arbeiten kann.
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– Sie brauchen sich gar nicht melden. Ich werde Ihre Zwischenfrage nicht zulassen.
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Solche dummen Anmerkungen, die Sie vorhin gebracht haben, sind fast nicht der Rede wert. Lesen Sie die Beschlussempfehlung! Dann können wir uns ganz objektiv darüber unterhalten.
Es geht, liebe Kolleginnen und Kollegen, um den Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmer und Selbstständige. Es geht darum, dass die Bundesregierung dieser Ratsempfehlung zustimmen muss. Die Bundesregierung hat diese Ratsempfehlung unter Parlamentsvorbehalt gestellt, damit wir uns in diesem Hohen Hause für das deutsche Volk beraten und ihr zustimmen können oder auch nicht.
Wir als Union stimmen dem vorliegenden Gesetzentwurf zu; denn wir teilen das Ziel, dass der Schutz von Arbeitnehmern und Selbstständigen EU-weit verbessert werden soll. Da die Mitgliedstaaten für Sozialpolitik zuständig sind und, Herr Sichert, zuständig bleiben sollen, ist es konsequent und richtig, dass das nur in Form einer Empfehlung und nicht als Richtlinie gemacht wird. Sie sollten sich einmal mit dem europäischen Recht auseinandersetzen, bevor Sie hier dumm reden.
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Die Empfehlung des Rates enthalten Anregungen an die einzelnen Mitgliedstaaten. Im Rahmen der notwendigen nationalen Gegebenheiten sollen entsprechende Anpassungen erfolgen. Es ist richtig, dass die soziale Absicherung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen und von Selbstständigen gerade im Zeitalter der Digitalisierung und neuer Arbeitsformen besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Uns als Union ist es wichtig, dass der Vielfalt der mitgliedstaatlichen Systeme und den nationalen Besonderheiten Rechnung getragen wird und dass trotz des Empfehlungscharakters darauf zu achten ist, dass durch das Vorgehen der EU das Recht der Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien der Systeme ihrer sozialen Sicherheit festzulegen, nicht beeinträchtigt werden darf. Deshalb ist es uns wichtig, dass der Vertreter im Rat die Zustimmung mit einer Protokollerklärung versieht. Uns ist auch wichtig, dass der von der Kommission geplante Überwachungsrahmen zur Bewertung der Umsetzung der Empfehlung nicht zu einem Mehr an Bürokratie führen wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben ein drängendes sozialpolitisches Problem in Europa. Deshalb ist ein solches sozialpolitisches Ziel, auf das sich alle einigen, wichtig. Auch wir in Deutschland müssen unsere Hausaufgaben machen. Herr Sichert, es wäre gut gewesen, wenn Sie sich damit ein bisschen beschäftigt hätten. Die Bundesregierung, Frau Parlamentarische Staatssekretärin, wird noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf zur Altersvorsorgepflicht bei nicht abgesicherten Selbstständigen vorlegen. Auch das ist Ausfluss dieser Ratsempfehlung. Das ist ein wichtiger Punkt.
Dass ein hohes Sozialschutzniveau und der Abbau sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten in allen Mitgliedstaaten der EU langfristig ein wichtiges Ziel ist, ist für uns alle unbestreitbar. Es ist für uns wichtig, dass Europa langfristig wirtschaftlich und politisch dieselbe Entwicklung nimmt. Das alleine stärkt und fördert den Zusammenhalt in der Europäischen Union.
Die AfD hatte es gestern schon einmal: Sehr geehrter Herr Sichert, ich habe mir Ihre gestrige Rede auch anhören müssen. Da waren die Rumänen und die Altparteien schuld, dass wir zu wenige Wohnungen haben. Heute sind die Altparteien, die Spanier, die Portugiesen und die Rumänen schuld. Alle wollen unser Sozialsystem mitbestimmen. Das ist doch reiner Populismus, den Sie betreiben. Sie verstehen Europa nicht, und Sie werden in diesem Europa auch nie zu Hause sein.
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Für uns ist Europa ein ganz wesentliches Element, ein Element, das unsere soziale Marktwirtschaft in den letzten Jahrzehnten zu dem gemacht hat, was sie ist.
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Europa hat dazu beigetragen, dass wir heute in Wohlstand leben können. Das soll auch so bleiben. Deswegen stimmen wir dieser Ratsempfehlung zu. Wir brauchen ein starkes Europa. Ich hoffe, dass das die Menschen bei der Europawahl genauso sehen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Peter Aumer. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Carl-Julius Cronenberg.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Sichert, Heuchler ist, wer vorgibt, die Interessen der deutschen Bürgerinnen und Bürger zu vertreten, dabei in Wahrheit aber nur Angst schürt, um die eigene Karriere zu befördern.
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Niemand hat etwas gegen den Zugang zu mehr Sozialschutz. Und ja, es gibt immer viel zu verbessern, in Deutschland wie in allen anderen Ländern Europas auch. Darüber herrscht Einigkeit. Wir streiten allenfalls über das Wie, nicht über das Ob.
Es ist richtig, Sozialpolitik nah am Menschen zu machen. Deshalb ist und bleibt es richtig, dass Sozialpolitik Sache der Mitgliedstaaten ist und nicht der EU.
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Subsidiarität und Solidarität gehören untrennbar zusammen. Einen Einstieg in die Vergemeinschaftung von Sozialpolitik – so harmlos das heute auch erscheinen mag – lehnen die Freien Demokraten ab.
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Wir haben über die Empfehlung des Rats intensiv diskutiert und bei allen Kritikpunkten immer gehört: Das ist doch nur eine Empfehlung, das ist alles unverbindlich. – Das haben wir in der Anhörung im Ausschuss und auch heute Abend gehört. Meine Damen und Herren von Union und SPD, wenn Sie gebetsmühlenartig beschwören, wie unverbindlich die Empfehlung ist, dann lässt das doch nur zwei Schlüsse zu: Entweder sie ist überflüssig, oder sie ist doch gefährlicher, als sie aussieht, weil es langfristig nicht bei der Unverbindlichkeit bleiben soll.
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Ich finde, sie ist beides. Peter Aumer hat ja darauf hingewiesen, wie wichtig ihm das Zusatzprotokoll ist.
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Wir haben in Europa unzählige und historisch gewachsene Besonderheiten der Sozialsysteme. Es wird erhebliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Ratsempfehlung geben. Nehmen wir beispielsweise die geringfügige Beschäftigung. Minijobs bieten oft willkommene Zuverdienstmöglichkeiten für Studierende und Rentner.
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Vollumfassende Sozialabsicherung kann und soll der Minijob zurzeit nicht garantieren, wie es aber die Empfehlung fordert.
Nehmen wir als Beispiel die Absicherung Selbstständiger, eine besondere Herausforderung. Die Gruppe der Selbstständigen ist ebenfalls heterogen. Die Einkommen schwanken oft und stark. Einerseits darf die Solidargemeinschaft der Steuerzahler und der Sozialversicherungen nicht überfordert werden. Andererseits dürfen Gründern nicht unnötig Schwierigkeiten bereitet werden; auch sie dürfen nicht überfordert werden. Hier ist Feinsteuerung geboten und nicht Empfehlung.
Nehmen wir als Beispiel den Überwachungsrahmen, Artikel 19 ff., mit getakteten Fristen, mit quantitativen und qualitativen Indikatoren, mit späterer Überprüfung. Das atmet doch nicht den Geist der dauerhaften Unverbindlichkeit. Ganz ehrlich, diese wird doch hier von einigen politisch gar nicht gewollt. Dagmar Schmidt hat doch auf die Mindeststandards hingewiesen, die sie einfordert. Da, wo es mit der Union nicht geht, versucht man es mit Brüssel.
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Die ökonomische und soziale Ausgangslage in Europa ist nach wie vor extrem heterogen. Auch deshalb macht es Sinn, dass die Zuständigkeit der Sozialpolitik in den Mitgliedstaaten bleibt. Es gibt in Europa Länder, die wenig oder keinen Handlungsbedarf haben und denen es wirtschaftlich gut geht. Diese brauchen keine Empfehlung. Dann gibt es Länder, denen es wirtschaftlich schlecht geht. Denen hilft die Empfehlung nicht. Denen hilft die Umsetzung von Strukturreformen. Schließlich gibt es Länder, die sich mitten in einer Aufwärtskonvergenz befinden. Deren Wirtschaft wächst bei geringer Staatsverschuldung und geringer Arbeitslosigkeit. Diese Länder sollten wir nicht stören. Kluge Sozialpolitik in Europa bietet Mehrwert und nicht mehr Einmischung.
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Jetzt lesen wir, dass sich die Kommission in der nächsten Woche vom Einstimmigkeitsprinzip in der Sozialpolitik verabschieden will. Wenn das nicht ein deutliches Signal für den Einstieg in die Vergemeinschaftung sein soll! Wir lehnen das ab. Das Subsidiaritätsprinzip muss unter allen Umständen gewährleistet sein. Allein echter Mehrwert stärkt Chancen und Zusammenhalt in Europa.
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Vielen Dank, Carl-Julius Cronenberg. – Nächste Rednerin: Jessica Tatti für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es vorwegzunehmen: Die Linke stimmt dem Gesetz zum Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zum Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmer und Selbstständige zu.
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Denn für mich und meine Fraktion ist die Europäische Union nicht nur eine Freihandels- und Wirtschaftsförderzone, sondern sie muss ein Europa für die Beschäftigten werden.
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Für sie alle muss endlich ein Sozialschutz bestehen, der mindestens Arbeitslosigkeit, Krankheit, Erwerbsunfähigkeit, Renten, Unfälle und Berufskrankheiten absichert. Es ist also allerhöchste Zeit, dass sich die EU mit Fragen der sozialen Sicherheit in ihren Mitgliedstaaten befasst.
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Auch hierzulande müssen die gravierenden Lücken in unserem Sozialsystem geschlossen werden.
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Das heißt, Selbstständige müssen einen verbindlichen Zugang zur Sozialversicherung erhalten. Angesichts der Zunahme neuer Beschäftigungsformen zum Beispiel durch Plattformen ist das längst überfällig.
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Drei Viertel aller Soloselbstständigen sind gesetzlich nicht zur Altersvorsorge verpflichtet. Während die Zahl aller Selbstständigen eher stagniert, steigt die Zahl der Soloselbstständigen aber immer weiter an, und zwar gerade im prekären Helferbereich, in der Clickwork und Gigwork über Plattformen, zum Beispiel bei Essenslieferdiensten wie Deliveroo oder bei der Vermittlung von Reinigungskräften wie bei Helpling. Hier wollen Arbeitgeber heute lieber Vermittler sein oder Auftraggeber und stehlen sich damit aus ihrer sozialen Verantwortung. Sie drücken sich vor Mindestlöhnen, vor Sozialabgaben, vor Tarifbindung, vor Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und vor gesetzlichen Urlaubsansprüchen. Und Sie lassen das zu! Aber man sieht ja an der schwach besetzten Regierungsbank, wie sehr die Regierung dieses Thema interessiert.
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40 Prozent der Soloselbstständigen in Deutschland haben ein Bruttoeinkommen unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns. Für die Folgen haftet dann der Steuerzahler, weil die Armut im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit massiv ansteigt. Das wird Die Linke niemals akzeptieren.
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Mit freiwilligen Versicherungsangeboten kann das nicht gestoppt werden. Reinigungskräfte, Paketzustellerinnen und Kurierfahrer können nicht einfach so einen satten Zuschlag auf ihre Dienste verlangen, um sich Sozialabgaben leisten zu können, weil sie dann Gefahr laufen, keine Aufträge mehr zu bekommen. Das funktioniert also nur dann, wenn sie alle ausnahmslos in die Sozialversicherungssysteme einzahlen, und zwar zu Beiträgen, die sie sich leisten können.
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Soloselbstständige sind genauso wie alle anderen Beschäftigten in gleichem Maße schutzbedürftig. Ihre Einbeziehung in die sozialen Sicherungssysteme ist unabdingbar. So können auch hybride Erwerbsbiografien einfacher abgesichert werden, in denen Zeiten von Selbstständigkeit und abhängiger Beschäftigung sich abwechseln oder sogar parallel verlaufen. So können Versicherungsleistungen aus den Sozialsystemen zwischen verschiedenen EU-Ländern ohne Verluste übertragen werden. Die Globalisierung und die Digitalisierung haben den Arbeitsmarkt verändert und verändern ihn noch. Der Sozialschutz ist diesen Entwicklungen viel zu wenig angepasst. Das muss sich jetzt ändern.
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Die vorhandenen Lücken gefährden das Wohl der Beschäftigten, verstärken Armut und Ungleichheit und schaden letztlich auch der Wirtschaft. Sachverständige haben uns das bei der Anhörung bestätigt. Aber vor allem die Union, Herr Whittaker, hat sich über die Unverbindlichkeit der EU-Empfehlungen erleichtert gezeigt. Von der Unverbindlichkeit profitieren aber nur die Arbeitgeber, und zwar auf dem Rücken ihrer Beschäftigten. Deshalb darf sich die Bundesregierung nicht hinter einer Pseudozustimmung verstecken. Setzen Sie die Inhalte der Empfehlung in nationales Recht um! Übernehmen Sie endlich eine aktive Rolle bei der Einführung verbindlicher Regelungen für den Sozialschutz von Millionen Menschen in Europa!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Jessica Tatti. – Nächster Redner für Bündnis 90/Die Grünen: Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeitsmärkte verändern sich. Wir haben nicht mehr das Normalarbeitsverhältnis als Standard. Vielmehr wird die Arbeitswelt bunter und vielfältiger, genauso wie die Lebensläufe. Es gibt mehr Wechsel zwischen abhängiger und selbstständiger Beschäftigung. Das ist gut, führt aber auch dazu, dass viele Beschäftigte, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch Selbstständige keinen oder keinen ausreichenden Zugang zum Sozialschutz haben. Die Europäische Union kümmert sich um dieses Problem, und das ist gut so.
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Nun gibt es eine Empfehlung des Rates, also der Versammlung der Regierungen. Wir entscheiden hier und heute im Bundestag, ob die Bundesregierung dieser Empfehlung zustimmen soll oder nicht. Wenn die Empfehlung dann mit Maßnahmen umgesetzt wird, entscheiden wir hier im Bundestag darüber, wie diese Maßnahmen aussehen und gestaltet werden sollen.
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Wir geben keinerlei Kompetenz an die Europäische Union ab. Wir entscheiden hier, und das bleibt so.
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Es gibt viele Länder in der Europäischen Union, die beim Sozialschutz etwas zu tun haben. Herr Cronenberg, mehr soziale Sicherheit ist keine Gefahr, sondern ist gut, egal ob in Griechenland oder bei uns.
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Wenn die Griechen Schwierigkeiten haben, müssen wir sie unterstützen, damit sie ihre Ziele erreichen. Das gehört zur europäischen Solidarität.
Wir haben aber auch hier bei uns in Deutschland noch Aufgaben zu erledigen. Bei abhängig Beschäftigten ist es weitgehend gut. Es ist aber nur weitgehend gut, weil die Minijobber keinen vollständigen Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen haben. Da müssen wir nachlegen. Das ist uns Grünen besonders wichtig, auch aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit.
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Die große Baustelle stellen aber die Selbstständigen dar. Da verändert sich eine Menge. Gerade durch die Digitalisierung wird sich noch mehr verändern. Viele Selbstständige sind gar nicht mehr so selbstständig, wie es die Bezeichnung besagt. Gerade durch Plattformen gibt es eine Art abhängige Selbstständige. Da verändert sich eine ganze Menge. Da müssen wir was tun. Die Alterssicherung ist da eine große Baustelle.
Ein Punkt, der uns als Grünen besonders wichtig ist, ist, überhaupt die soziale Sicherung viel universeller zu gestalten. Wir sind für das Prinzip Bürgerinnen- und Bürgerversicherung sowohl für Gesundheit und Pflege, aber eben auch für die Alterssicherung. Und: Die Absicherung von Selbstständigen ist für uns ein wichtiger erster Schritt.
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Da sind wir gespannt.
Angekündigt ist ja von der Bundesregierung, dass sie dieses Jahr noch was vorlegen will. Daran ist schon die jetzige Verteidigungsministerin von der Leyen gescheitert, als sie noch Sozialministerin war. Da gibt es viele Probleme, die gelöst werden müssen; vor allen Dingen muss es für die Selbstständigen bezahlbar sein. Das ist für uns übrigens nicht nur aus sozialen Gründen wichtig, sondern wir sind auch fest davon überzeugt, dass mehr soziale Sicherheit für Selbstständige auch für die Ökonomie gut ist. Soziales und Ökonomie gehören zusammen, bei uns in Deutschland, aber eben auch in Europa, und auch deswegen streiten wir für das soziale Europa.
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Wir würden also weitergehen, sowohl, was die Umsetzung angeht, aber auch, was das soziale Europa angeht. Wir haben letzte Woche einen Antrag mit elf Punkten eingebracht, wie nach unserer Meinung das soziale Europa weiterentwickelt werden soll. Es gibt heute einen Gesetzentwurf der Bundesregierung. Er ist ein Schritt in diese Richtung. Wir finden diesen Schritt richtig und werden den Gesetzentwurf der Bundesregierung unterstützen und ihm zustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. – Nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion: Jana Schimke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Europa ist ein Kontinent der Vielfalt, nicht nur kulturell und nicht nur mit Blick auf die Ausgestaltung der politischen Systeme, sondern auch mit Blick auf die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten. Was die Bundesrepublik Deutschland angeht, so kann man mit Blick auf die Ratsempfehlung durchaus sagen, dass der Sozialschutz, der dort angesprochen wird, der dort von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union verlangt wird, in unserem Land weitestgehend abgedeckt ist. Drei Beispiele:
Gesetzliche Rentenversicherung: Alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland sind in der gesetzlichen Rentenversicherung für das Alter abgesichert.
Selbstständige haben in Deutschland die Möglichkeit, sich freiwillig in der gesetzlichen Rentenversicherung zu versichern.
Wir haben in Deutschland eine Krankenversicherungspflicht. Auch das ist etwas, was den sozialen Status, den sozialen Standard unseres Landes zum Ausdruck bringt. Selbst im Fall von Elternschaft, im Fall von Elternzeit genießen sowohl Arbeitnehmer als auch Selbstständige in Deutschland eine Absicherung seitens der Bundesrepublik Deutschland.
Die Selbstständigen sind aber eine Gruppe, die wir aus gutem Grunde in vielen Bereichen der sozialen Sicherung durchaus anders behandeln. Wir behandeln sie anders als abhängig Beschäftigte, weil bei uns in Deutschland mit Blick auf das Unternehmertum zum Glück immer noch die Einheit von Risiko und Haftung gilt. Das heißt nicht nur, dass Selbstständige sich in ihren unternehmerischen Entscheidungen entfalten können, sondern auch, dass sie eigenverantwortlich für ihre Absicherung im Alter, im Fall von Krankheit und anderen Lebensrisiken sorgen müssen. Mir persönlich ist es sehr, sehr wichtig, dass wir diese Freiheit erhalten.
Nun ist aber Altersvorsorge etwas, was in den heutigen Zeiten, in diesen Tagen zunehmende Bedeutung erhält. Wir müssen auch von politischer Seite immer stärker auf die Bedeutung von Altersvorsorge hinweisen. Deswegen haben wir uns dazu entschieden – richtigerweise, wie ich finde –, im Koalitionsvertrag festzuhalten, dass wir auch bei Selbstständigen eine sogenannte Altersvorsorgepflicht einführen wollen. Das heißt hier natürlich nicht, eine Rentenversicherungspflicht einzuführen,
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sondern das heißt, auch bei der Vorsorge die Wahlfreiheit sicherzustellen. Mir ist es wichtig, bei allen Gesetzen, die wir mit Blick auf das Unternehmertum, auf Selbstständige im Deutschen Bundestag verabschieden, die Möglichkeit der Wahlfreiheit zu lassen.
Der Europäische Rat macht aus gutem Grunde keine Vorschrift, sondern gibt eine sogenannte Empfehlung ab: weil Europa ein sehr verschiedenartiges Gebilde ist und weil unterschiedliche Staaten mit unterschiedlichen sozialpolitischen Voraussetzungen nicht dieselben Lösungen gebrauchen können. Das ist auch nicht zielführend. Jedes Land braucht in seiner Konstitution andere Wege, um am Ende zum Ziel zu kommen. Ich denke, dass die Empfehlung des Europäischen Rates darauf Rücksicht nimmt.
Meine Damen und Herren, wir sind seit Monaten mit den Auswirkungen des Brexits konfrontiert. Jeden Tag schaltet man das Radio ein; jeden Tag kann man sich dieses Drama verinnerlichen, das dort in Großbritannien geschieht. Ich glaube schon, dass die Europäische Union sich im Moment in einer Krise befindet. Warum tut sie das? Vielleicht gerade deshalb, weil in der Vergangenheit viel reinreguliert wurde, viele Vorschriften gemacht wurden und wir jetzt eben stärker darauf Rücksicht nehmen müssen, die nationalen Individualitäten auch in solchen Empfehlungen zu berücksichtigen. Es geht darum, in der Europäischen Union Vertrauen bei den Menschen zurückzugewinnen. Ich glaube, der Empfehlungscharakter, der uns hier heute zur Abstimmung vorliegt, nimmt genau darauf Rücksicht.
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Meine Damen und Herren, ich möchte noch eines sagen: Die sogenannten Zielkriterien, die durch die Ratsmitglieder noch festgelegt werden sollen, werden genau durch die Ratsmitglieder festgelegt, zu denen auch die Bundesrepublik Deutschland gehört. Also, das Kind ist weiß Gott nicht in den Brunnen gefallen, so wie es uns die AfD glauben machen will, sondern die Ausgestaltung dieser Empfehlungen, die Konsequenz, die in diesen Empfehlungen steckt, liegt am Ende in unseren Händen. Auch die Bundesregierung wird im EPSCO noch einmal auf die Unverbindlichkeit hinweisen.
Meine Damen und Herren, wir treffen hier im Deutschen Bundestag die Entscheidungen. Das ist gut, das ist richtig; das zeigt, worum es in Europa geht. Europa kann irgendwo eine Richtung vorgeben, kann Anregungen geben; aber die Hoheit der Nationalstaaten bleibt selbstverständlich weiterhin gewahrt. Genau aus diesem Grunde und genau deswegen, weil diese Empfehlung das wiedergibt, werden wir dieser Empfehlung heute zustimmen.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner für die SPD-Fraktion: der Kollege Dr. Martin Rosemann.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir begrüßen die Empfehlung des Rates zum Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Selbstständige. Das ist ein wichtiges Zeichen für ein soziales Europa. Meine Kollegin Dagmar Schmidt hat schon darauf hingewiesen. Soziales Europa – das steht im Koalitionsvertrag, und das ist im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland.
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Mehrere Vorredner haben schon darauf hingewiesen, dass diese Empfehlungen rechtlich nicht verbindlich sind. Sie zeigen aber politischen Handlungsbedarf auf – in allen europäischen Ländern und, Herr Cronenberg, auch in Deutschland. Wir sollten uns nicht anmaßen, dass bei uns alles richtig läuft. Das gilt für das Thema Minijobs, und es gilt vor allem für den sozialen Schutz von Selbstständigen.
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Wir haben ein verändertes Bild von Selbstständigkeit. In den letzten 20 Jahren hat die Selbstständigkeit in Deutschland zugenommen. Mittlerweile sind mehr als die Hälfte der Selbstständigen Selbstständige ohne Beschäftigte, sogenannte Soloselbstständige. Selbstständige haben heute nicht mehr unbedingt ein hohes Einkommen und ein dickes Vermögen, sondern haben sogar ein relativ hohes Armutsrisiko. Im Alter ist das Armutsrisiko höher als bei abhängig Beschäftigten, und entsprechend ist auch die Grundsicherungsquote doppelt so hoch. Die Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit ist im Einzelfall schwieriger geworden. Die Zahl der Übergänge von abhängiger Beschäftigung zur Selbstständigkeit – bzw. umgekehrt – hat massiv zugenommen.
All das spricht aus unserer Sicht dafür, dass wir eine verbindliche Absicherung von Selbstständigen in der sozialen Sicherung schaffen, und zwar nicht nur für Soloselbstständige.
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Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion bereits in der letzten Wahlperiode ein Konzept zur umfassenden sozialen Sicherung von Selbstständigen vorgelegt. Erste Schritte aus diesem Konzept haben wir im Koalitionsvertrag verabredet. Dazu gehört – das haben wir ja bereits umgesetzt –, dass wir den Mindestbeitrag für Selbstständige in der gesetzlichen Krankenversicherung halbiert haben. Das haben wir Sozialdemokraten durchgesetzt – gegen den erbitterten Widerstand der Union.
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– Doch, das ist die Wahrheit.
Der nächste Schritt heißt: verbindliche Altersvorsorge für Selbstständige. Ich bin Bundesminister Heil sehr dankbar, dass er den entsprechenden Gesetzentwurf angekündigt hat. Unser Weg heißt: Einbeziehung in die gesetzliche Rente, mit Ausnahme derjenigen, die in berufsständischen Versorgungswerken versichert sind.
Frau Schimke, im Koalitionsvertrag steht eben keine Wahlfreiheit drin, sondern darin haben wir verabredet: Die gesetzliche Rentenversicherung ist der Regelfall.
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Und wir haben ein Opt-out verabredet. Wir werden jetzt miteinander klären, wie wir dieses Opt-out ausgestalten werden.
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Meine Damen und Herren, für uns ist wichtig, dass wir, wenn wir die Selbstständigen einbeziehen, der besonderen Situation von Selbstständigen, ihren schwankenden Einnahmen, Rechnung tragen. Deswegen müssen die Beiträge strikt einkommensabhängig sein. Deswegen brauchen wir auch besondere Regelungen für Gründerinnen und Gründer.
Ich weiß sehr wohl, dass es bei den Selbstständigen Vorbehalte gegen eine verpflichtende Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung gibt.
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Aber ich will an der Stelle sagen: Die gesetzliche Rentenversicherung ist nicht nur eine Altersabsicherung, sondern sie gewährt auch Leistungen wie Prävention, Rehabilitation und Nachsorgeleistungen, die wir in dieser Koalition in der vergangenen Legislaturperiode gestärkt haben. Sie bietet den Schutz vor Erwerbsminderung, und sie bietet eine Hinterbliebenenversorgung.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, uns geht es darum, Schutz und Chancen nicht nur für abhängig Beschäftigte, sondern für alle Erwerbstätigen in Deutschland, auch für Selbstständige, zu gewährleisten – Schutz und Chancen im Wandel, mit dem Sozialstaat als Partner für alle Erwerbstätigen in Deutschland.
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Der letzte Redner: Kai Whittaker, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Wir stimmen gleich darüber ab, ob der deutsche Vertreter im Rat der vorliegenden Empfehlung zustimmen darf. Ich frage mich schon, warum zu einer solchen Banalität ausgerechnet die AfD-Fraktion eine namentliche Abstimmung beantragt hat. Wenn ich mir Sie anhöre, Herr Sichert, dann weiß ich die Antwort: Sie haben Angst, Angst vor Europa, weil Sie es nicht verstehen.
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Gegen Verständnislosigkeit hilft Nachlesen. Deshalb möchte ich noch einmal zitieren, über was wir hier gleich abstimmen. Zitat:
Den Mitgliedstaaten wird empfohlen, allen Arbeitnehmern und Selbstständigen in den Mitgliedstaaten Zugang zu einem angemessenen Sozialschutz zu gewähren, … unbeschadet der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten …
Meine Damen und Herren, wer das heute Abend ablehnt, der ist in Wahrheit dagegen, dass Franzosen, dass Polen, dass Italiener, dass Rumänen, dass Schweden, dass Bulgaren Zugang zur Rente bekommen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
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Der ist dafür, dass sie keinen Zugang zur Arbeitslosenversicherung bekommen, dass sie keinen Krankenversicherungsschutz bekommen. Ich halte es für skandalös, dass Sie diesen Menschen das verwehren wollen, obwohl sie in diesem Land rechtmäßig sind, hier arbeiten und Steuern zahlen.
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Sie haben deshalb Angst vor Europa, weil Sie glauben, Europa mischt sich ein. Aber schauen wir uns doch mal die Empfehlungen an! Es geht darum, eine formelle Absicherung zu gewährleisten, sprich: abhängig Beschäftigte verpflichtend versichern und Selbstständige freiwillig versichern. Haken dran; das ist Rechtlage in Deutschland.
Es geht um eine tatsächliche Absicherung, also darum, dass man Beiträge zahlen muss, um Leistungen zu erhalten. Haben Sie schon mal was vom Äquivalenzprinzip in der Rente gehört? Wer mehr einzahlt, der bekommt auch mehr Geld raus. Auch da: Haken dran; ist Rechtslage in Deutschland.
Es geht um die Angemessenheit bei der Sozialversicherung, also darum, dass man zügig einen sozialen Schutz bekommt. Die Anwartschaftszeit bei der Rentenversicherung beträgt fünf Jahre, bei der Arbeitslosenversicherung maximal zweieinhalb Jahre. Auch da: Haken dran; ist Rechtslage in Deutschland.
Es geht um Transparenz – ich weiß gar nicht, warum Sie dagegen sind –, also darum, dass die Menschen verstehen, welche Leistungen sie warum bekommen. Bei den vielen Beratungen, die wir machen, können wir auch da sagen: Haken dran; ist Rechtslage in Deutschland.
Und es geht um die Evaluierung, also um eine Vergleichbarkeit der sozialen Systeme in Europa. Es geht nicht darum, ein einheitliches System zu implementieren. Weil Sozialpolitik in Europa nationalstaatlich gemacht wird, ist es so unterschiedlich. Weil wir es nicht vergleichen können, brauchen wir diese Evaluationsbasis. Deshalb müssen dem zustimmen.
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Und Sie haben auch Angst davor, dass Deutschland – angeblich -überfordert wird. Im Ausschuss lamentieren Sie ständig darüber, dass Rumänen, Bulgaren, Slowaken und Balten nach Deutschland kommen, um auf Kosten der Deutschen zu leben. Ich sage Ihnen, warum die Leute nach Deutschland kommen: Weil Deutschland Fachkräfte braucht,
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weil man in Deutschland gute Arbeit bekommt und weil man in Deutschland eine gute soziale Absicherung hat.
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Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sie das in ihren Herkunftsländern nicht haben. Deshalb braucht es diese Empfehlung. Wenn Sie wollen, dass diese Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive haben, dann braucht es diese Empfehlung. Sie sollten mal zur Kenntnis nehmen, dass die Länder in Osteuropa nur die Hälfte von dem ausgeben, was in Westeuropa für sozialen Schutz aufgewendet wird. Damit sich das ändert, braucht es diese Empfehlung.
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Ich glaube, Sie haben nicht Angst vor Europa; Sie haben Angst vor der nächsten Europawahl. Ihnen gehen die Themen aus. Ihnen gehen die Flüchtlinge aus.
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Deshalb brauchen Sie jetzt den sozialen Neid, und den schüren Sie.
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Ich kann jedem Kollegen nur zurufen: Wer möchte, dass der soziale Zusammenhalt in Europa gestärkt wird, der stimmt jetzt zu.
Danke schön.
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zum Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmer und Selbstständige. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/9292, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/8460 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind Linke, SPD, Grüne und CDU/CSU. Wer stimmt dagegen? – AfD und FDP. Damit ist der Gesetzentwurf in der zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Wir stimmen über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktion der AfD namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – An der Bundesratsbank fehlt noch ein Schriftführer der Opposition. – Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die namentliche Schlussabstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Bitte zügig einwerfen!
Jetzt frage ich noch mal: Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anfang 2016 verschwand hier in Berlin die damals 13-jährige Lisa aus einer deutsch-russischen Familie. Daraufhin erstatteten ihre Eltern eine Vermisstenanzeige. Schon am nächsten Tag tauchte Lisa wieder auf und gab gegenüber der Polizei an, sie sei von drei unbekannten – Zitat – „Südländern“ verschleppt, festgehalten und vergewaltigt worden.
Im späteren Verlauf der Vernehmungen stellte sich heraus, dass sie freiwillig bei einem Freund übernachtet hatte und sich wegen Schulproblemen nicht nach Hause traute. Rechtsmedizinische Untersuchungen ergaben, dass eine Vergewaltigung nicht stattgefunden hatte.
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Später wurden zwei Männer im Alter von damals 20 und 23 Jahren zu Bewährungstrafen verurteilt, weil sie mit dem Mädchen zwar einvernehmliche, aber strafbare sexuelle Kontakte unterhielten.
Eigentlich ist der Fall damit gelöst. Eigentlich ist der Fall Lisa damit einem Ergebnis zugeführt. Aber vor drei Jahren hat der Fall Lisa hier in Deutschland weite Kreise gezogen. Das staatliche russische Fernsehen verbreitete Berichte, dass die Vergewaltigung eines russischen Mädchens durch einen Flüchtling in Deutschland vertuscht worden sei. Die Berichte wurden weit geteilt. Es kam zu Demonstrationen. Etwa 10 000 Menschen gingen in Deutschland auf die Straße, davon 1 000 vor dem Kanzleramt. Und der russische Außenminister Lawrow, er stellte sich hin und warf den deutschen Behörden Vertuschung vor.
Meine Damen und Herren, dieser Fall Lisa im Jahr 2016, er war ein Musterbeispiel für eine Destabilisierungskampagne, die gegen die liberale Demokratie durchgeführt wird. Die Fraktion der Freien Demokraten, sie legt Ihnen heute ein Konzept vor, wie wir den Schutz der liberalen Demokratie intensivieren müssen. Darüber müssen wir vor der Europawahl sprechen.
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Das Ziel solcher Kampagnen ist völlig klar: Die Europäische Union soll delegitimiert werden. Zweifel an der NATO sollen gesät werden. Es sollen staatliche Institutionen untergraben und unterwandert werden. Mit einem ganz einfachen Ziel: Es soll beispielsweise abgelenkt werden von der Lage der Opposition in Russland. Es soll abgelenkt werden vom völkerrechtswidrigen Vorgehen Russlands auf der Krim und in der Ostukraine.
Es hört bei den Kampagnen nicht mit Desinformation auf, sondern geht weiter, wie zum Beispiel mit dem massenhaften Einsatz von Trollen und Social Bots in den sozialen Medien wie beim Brexit. Wir beobachten eine verdeckte Finanzierung von politischen Parteien wie beispielsweise beim Front National in Frankreich. Wir beobachten Cyberangriffe wie die im Jahre 2016 gegen die Demokratische Partei in den Vereinigten Staaten und auch gegen die IT-Infrastruktur des Bundestages im Jahr 2015.
Und, meine Damen und Herren, wir beobachten Kontakte zu Politikern und Parteien, die empfänglich sind für autoritäre und antiwestliche Tendenzen wie im Fall Frohnmaier und AfD.
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Die Kooperation mit Politikern und Parteien ist dabei völlig ideologiefrei. Wladimir Putin ist es egal, ob sein Krieg in der Ukraine von Linksradikalen oder von Rechtsradikalen verteidigt wird. Er arbeitet mit beiden zusammen und ist bereit, die Destabilisierung der liberalen Demokratie mit beiden zu machen.
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Wir legen Ihnen heute einige Ideen vor, was man dagegen tun kann.
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Wir können mehr investieren in Diplomatie, in Öffentlichkeitsarbeit, in fremdsprachige Medienarbeit. Wir können uns darum kümmern, dass die europäische Zusammenarbeit beim Kampf gegen Desinformation intensiviert wird, wie es Macron vorschlägt. Wir können mehr tun für die Transparenz bei der Parteienfinanzierung aus dem Ausland.
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Und wir können uns dafür einsetzen, dass die IT-Sicherheit gestärkt wird.
Meine Damen und Herren von der AfD, eines kann ich Ihnen nicht ersparen, weil Sie hier gerade so laut reagiert haben: Ihr Parteichef und Spitzenkandidat zur Europawahl, Jörg Meuthen, war doch vergangenes Wochenende in Mailand, um sich mit Herrn Salvini zu treffen, um eine Allianz für die Europawahl aufzubauen.
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Die FPÖ in Österreich hat schon erklärt, dass sie mitmachen will.
Ich will Ihnen mal was zu Ihren neuen Freunden sagen: Der niederländische und der britische Geheimdienst geben mittlerweile keine Informationen mehr an Österreich weiter, weil sie Sorge haben, dass die Sachen direkt nach Moskau durchgestochen werden.
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Salvini war vor der Europawahl im Dialog mit einer russischen Staatsfirma, um darüber zu sprechen, wie der Europawahlkampf der Lega aus Russland finanziert werden kann. Salvini, Le Pen, Strache und die AfD: Das ist ein und dieselbe gefährliche Mischpoche von Putins Gnaden.
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Wir müssen vor der Europawahl mit dieser Diskussion heute ein Zeichen gegen diese Tendenzen setzen. Die liberale Demokratie, sie muss bei der Europawahl verteidigt werden. Fangen wir heute damit an!
Vielen Dank.
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Als Nächstes hat das Wort der Kollege Philipp Amthor, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst sagen: Wir haben in Europa-Debatten von der FDP schon schlechtere Anträge gesehen. Vielen Punkten, die hier in dem Plädoyer enthalten waren, können wir insbesondere in der Zielstellung zustimmen. Es ist richtig und es sollte unser gemeinsames Anliegen sein, gerade auch vor der Europawahl, die Integrität von Wahlen zu schützen. Es sollte unser gemeinsames Ansinnen sein, die Institutionen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten zu schützen.
Es ist richtig – wie Sie es in Ihrem Antrag vorschlagen –, die politischen Stiftungen in ihrer Arbeit im Ausland zu fördern und sich klar gegen Fake News und gegen Desinformationskampagnen zu bekennen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es ist richtig, vorauszuschicken, dass das uns ein gemeinsames Anliegen sein kann.
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Ich will ausdrücklich sagen: Ich kann den Ausführungen des Kollegen Kuhle zum Thema Russland und zu den Gefahren, die von Russland auch für unsere staatlichen Institutionen ausgehen, zustimmen. Denn auch für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es ein Skandal, wenn sich die Medienberichterstattung über das Verhältnis des AfD-Abgeordneten Frohnmaier zu Russland bewahrheitet. Dem müssen wir entgegentreten. Wenn Sie von der AfD es ernst meinen würden, dann würden Sie sich an die Spitze der Aufklärung dieser Vorwürfe stellen.
({1})
Wir sind uns also einig in dem, was die Zielstellung angeht. Nur – das gehört auch zur Wahrheit –: Die FDP hat heute vieles gesagt, was in der Zielstellung richtig ist. Aber sie hat gleichzeitig doch dieses Thema zuallererst aufgesetzt, um – das kann ich ja verstehen – ein kleines glühendes Plädoyer noch vor der Europawahl abzusetzen. Das ist in Ordnung.
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Aber mit den Lösungen, lieber Herr Kollege Kuhle, war es dann doch eher ein bisschen magerer; denn hier ist, wie ich finde, eine kritische Auseinandersetzung schon ein Stück weit notwendig. Da will ich den Blick insbesondere auf den Vorschlag der FDP werfen, eine europäische Agentur für Demokratie einzuführen,
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wie sie Emmanuel Macron vorgeschlagen hat. Die Grünen und die FDP sind ja vor Verzückung schon ganz begeistert. Emmanuel Macron – was für ein toller Typ!
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– Ja, genau, ihr freut euch schon. Ihr könnt zusammen mit Macron Hand in Hand gehen.
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Ich kann verstehen, dass die FDP von Macron begeistert ist. Er schaut am Tag bestimmt genauso oft in den Spiegel wie Christian Lindner.
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Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hebner?
Von Herrn Hebner? Ja, gerne.
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– Oh, herzlich willkommen!
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Vielen Dank, Herr Amthor, für das Zulassen der Zwischenfrage. – Sie haben gerade das Verhältnis zu Herrn Putin angesprochen. Haben Sie sich eigentlich mal mit Ihrem Koalitionspartner unterhalten, aus deren Reihen der frühere Bundeskanzler namens Schröder kommt und der von Herrn Putin in einer großen Firma – nennen wir sie mit Namen: Gazprom – eingestellt worden ist? Herr Putin hat ihn auch in diesem Falle wirklich hofiert. Haben Sie mal mit Ihrem Koalitionspartner darüber gesprochen, welche Geheimnisse oder welche vertraulichen Informationen da eventuell geflossen sind, welche Vorbereitungen es gab, was vorher passierte?
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Haben Sie sich im Übrigen auch mal – anderes Thema – mit der Situation in Frankreich auseinandergesetzt, mit den bürgerlichen Protesten, die dort seit über 20 Wochen in über 30 Städten stattfinden und massive Verletzungen zur Folge hatten? Wissen Sie eigentlich, was da an Verletzungen zugefügt wurde? Es gab über 2 000 Schwerverletzte: mit ausgeschossenen Augen, mit abgeschossenen Händen und Füßen. Wissen Sie auch, dass es schon etwa 15 Tote gab? Ist Ihnen eigentlich bewusst, was in diesem Europa momentan passiert? Und da fangen Sie an, zu scherzen und über Herrn Macron, der dafür verantwortlich ist, Witze zu reißen!
({1})
Ist Ihnen eigentlich die Situation bewusst, die da herrscht?
Herzlichen Dank.
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Okay, die Frage wurde verstanden. – Herr Kollege Amthor.
Herr Hebner, ich danke Ihnen sehr, dass Sie uns für diese Debatte jetzt noch praktischen Anschauungsstoff gegeben haben, wie nämlich Desinformation und Ablenken funktioniert.
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Denn das ist der Kerninhalt der AfD.
Anstatt hier auch nur mal ein Wort darüber zu verlieren, dass Sie den Vorwürfen gegenüber Herrn Frohnmaier vielleicht nachgehen, lenken Sie ab
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und verweisen auf Fälle im Zusammenhang mit Gerhard Schröder und sonst was. Ich will Ihnen eines sagen: Es wäre ein Skandal, wenn Gerhard Schröder das, was er jetzt macht, als Abgeordneter des Deutschen Bundestages machen würde.
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Denn das ist es, was Sie hier praktizieren.
Ich will Ihnen noch etwas zur Methode der AfD sagen: Es gibt keine Gleichheit im Unrecht.
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So argumentieren Sie hier jedes Mal! Nach dem Motto: Die CDU hatte vor ein paar Jahren eine Spendenaffäre – jetzt sind wir auch mal dran! Der Schröder hat tolle Kontakte nach Russland und kriegt Geld dafür – jetzt können wir auch mal was bekommen!
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Das ist Ihr Modus.
Ich kann nur sagen: So funktioniert das nicht. Danke für Ihr praktisches Beispiel, wie Vereinfachungen und Ablenkungen von rechts und links funktionieren. Mit uns ist das nicht zu machen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte den Blick auf das konkrete Thema lenken, das ich gerade aufgeworfen habe, nämlich auf eine sachliche Auseinandersetzung mit der Frage „Brauchen wir das, was Macron vorschlägt? Brauchen wir eine europäische Agentur zum Schutz der Demokratie? Brauchen wir so etwas?“ Das klingt ja großartig und toll; aber bisher habe ich von der FDP eigentlich einen klügeren Ansatz gekannt. Denn bisher sagte die FDP immer: Bevor man neue Behörden schafft, sollte man darüber nachdenken, ob diese auch einen Mehrwert bringen. Hier wird zuallererst eine neue Behörde gefordert; allerdings ist der Mehrwert nicht zu sehen. Deswegen: Hinterfragen Sie mal ganz ehrlich, ob Ihr Freund Emmanuel Macron auch wirklich immer für unsere gemeinsamen europäischen Interessen und für unser deutsches Interesse steht.
Dass das nicht so ist, kann man an einem praktischen Beispiel sehen, nämlich an der Frage, ob es für die Europäische Union einen gemeinsamen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen geben soll. Das ist sicherlich ein vernünftiger Vorschlag, aber ein Vorschlag, der nicht zuallererst im Interesse Frankreichs liegt. Deswegen lehnt Ihr Kumpel Emmanuel Macron das auch ab.
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Deswegen: Seien Sie vorsichtig, wer Ihre Freunde sind. Emmanuel Macrons Meinungen zu übernehmen, steht nicht immer für das, was in unserem deutschen Interesse liegt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wenn es dann um den europäischen Mehrwert geht, frage ich mich: Was soll diese Agentur zum Schutz der Demokratie denn tun?
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Sie soll unsere Cybersicherheit erhöhen. Sie soll vor Hacking schützen. Sie soll vor Desinformationskampagnen schützen. Ich sage im Namen unserer Fraktion: Genau dafür haben wir starke und gute Sicherheitsbehörden. Genau dafür haben wir funktionierende Polizeibehörden. Genau dafür haben wir einen Verfassungsschutz.
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Ich würde mir wünschen, Sie würden genauso leidenschaftlich, wie Sie hier dafür werben, eine neue Agentur zu schaffen, auch mal für unsere Sicherheitsbehörden kämpfen; aber die bekommen von Ihnen immer nur Misstrauen. Das ist nicht unser Ansatz.
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Wir wollen deswegen den Verfassungsschutz zuallererst auf der Ebene der Mitgliedstaaten realisieren. Dafür müssen wir unsere Sicherheitsbehörden stärken. Sie brauchen nicht Ihr Misstrauen, das man im Antrag daran sieht, wie Sie mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik umgehen: Sie tun so, als stünde es unter der Kontrolle und politischen Leitung des Innenministeriums.
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– Das ist eben kein Interessenkonflikt, wie Sie hereinrufen. Das ergibt sich schon aus dem gesetzlichen Auftrag des BSI.
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Dabei geht es darum, Schwachstellen gezielt auszumerzen. Genau das macht das BSI auch. Ich weise dieses Misstrauen gegenüber unseren Sicherheitsbehörden zurück. Das ist nicht der richtige Weg.
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Stattdessen geht es um die Frage: Wo können wir einen europäischen Mehrwert schaffen? Ich sehe, dass wir dann, wenn es um den Eigenschutz der Institutionen der Europäischen Union geht, auch über Verfahren nachdenken können. Aber das geht eben Hand in Hand. Und auch wenn bald die Europawahl ist, ist heute nicht der richtige Tag, um auf dem Rücken der nationalen Sicherheitsbehörden hier für mehr Behörden in Europa zu werben. Da hätte ich von der FDP Besseres erwartet.
Ich will zum Schluss aber etwas Versöhnliches sagen. Es gibt, wie gesagt, viele vernünftige Ansatzpunkte, die wir auch teilen; darüber können wir sachlich reden. Und immerhin: Man hat sich bemüht, dem Anspruch der Serviceopposition gerecht zu werden. Da ist noch Luft nach oben;
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aber das Thema bietet immerhin Stoff für gute Diskussionen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Amthor.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Geschätztes Kollegium! Lieber Herr Kuhle, als Verfasser dieses Antrags darf ich Sie auch direkt darauf ansprechen
({0})
und Sie fragen, ob es eigentlich Ihr Ernst ist, dass Sie über dieses geschwätzige Papier hier abstimmen lassen wollen? Sie haben darin über 20 Feststellungen formuliert. Drei Erklärungen sollen wir abgeben und dann noch mal 13 Ihrer vorgeschlagenen Forderungen an die Bundesregierung übernehmen. Das ist sehr umfangreich. Ist das Ihr Ernst, oder ist das wieder eine parlamentarische Wahlkampfinitiative Ihrer Partei?
({1})
Vielleicht muss man in diesem Lichte auch mal den Titel des Antrags betrachten: „Schutz der liberalen Demokratie“.
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Sie versuchen, sich den Begriff der Demokratie in unzulässiger Weise zu eigen zu machen. Was ist denn liberale Demokratie?
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Erklären Sie das doch mal.
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Es geht doch vielmehr um Ihr liberales Verständnis vom Begriff der Demokratie. So wird ein Schuh draus. So liest sich auch Ihr Antrag bei näherem Hinsehen. Einerseits stellen Sie hier im Plenum große Forderungen gegen Uploadfilter und für die Meinungsfreiheit. Und auf der anderen Seite machen Sie sich für Macrons Idee zur Schaffung einer Agentur zum Schutz der Demokratie stark.
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– Jetzt bin ich dran.
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Das ist nichts als die Schaffung einer neuen Demokratiepolizei. Dieses Prinzip der Überwachung kennen die Kollegen aus dem Osten noch zur Genüge. Nein, danke!
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Aber es geht noch weiter. Ihr Antrag beinhaltet nichts als Larmoyanz, weil Sie in den vergangenen Wahlen nicht mehr so punkten konnten wie früher.
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– Ach, hören Sie doch auf! – Mit dem Auftauchen der AfD sind Sie 2013 schon einmal aus dem Bundestag rausgeflogen.
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Und jetzt wollen Sie Ihr persönliches Scheitern und das der anderen Parteien hier dadurch rechtfertigen, dass Sie behaupten, dass das alles das Ergebnis von unfairen Methoden, Wahlkampfbeeinflussung und unlauteren Kampagnen aus dem Ausland sei, statt sich eine Sache mal einzugestehen: Sie alle haben vollkommen abgeschlafft. Das ist der Grund, warum Sie nicht mehr gewählt werden, ganz einfach.
({10})
Sie haben Ihre Werte aufgegeben, weil Sie bei den entscheidenden Fragen, insbesondere bei der Euro-Rettungspolitik, zuverlässig umgekippt sind, jedes verdammte Mal. Die Wähler wollen Sie nicht mehr,
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und Ihre jämmerliche Antwort darauf ist diese hilflose Angstbeißerei gegen den politischen Wettbewerb. Lächerlich ist es!
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– Der Antifa-Supporter-Club ist auch wieder aktiv; wir hören es ja.
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Man liest in Ihrem Antrag vom Einfluss fremder Mächte. Vielleicht haben Sie ein bisschen zu viel „Star Wars“ gesehen wie der Kollege Minister Scheuer, der sich ja gerade mit einem Laserschwert hat abbilden lassen. Ich weiß auch nicht, was mit Ihnen los ist. Ihnen ist gar nichts mehr peinlich.
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Denken Sie, dass Sie mit so einem Rumgepose und mit Selfies in der Öffentlichkeit hier irgendjemandes Interesse zurückgewinnen? Das ist doch lächerlich!
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Und dann kommen Sie in Ihrem Antrag auch noch mit dem Thema Desinformation daher. Sie wollen den Qualitätsjournalismus fördern,
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insbesondere solchen über EU-Angelegenheiten. Aber wer sagt denn, was Qualitätsjournalismus eigentlich ist?
({17})
– Zum Beispiel. – Das ist doch reine Willkür und öffnet der Zensur Tür und Tor.
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In diesem Zusammenhang weisen Sie von den Freien Demokraten ja übrigens auch auf die Idee der Kommission hin, ein unabhängiges europäisches Netz – muss man ja hier ablesen –
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von „Faktenprüfern und die Einrichtung einer sicheren europäischen Online-Plattform gegen Desinformation“ zu schaffen. Dem reden Sie das Wort.
„Wahrheitsministerien sind keine Lösung gegen Fake News“ –
({20})
das ist ein Zitat, die Überschrift eines Artikels aus der „Welt“ vom Januar 2018.
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Herr Kuhle, ist das jetzt noch Qualitätsjournalismus, wenn „Die Welt“ so was Unmögliches schreibt,
({22})
wenn sie schreibt: „Wahrheitsministerium brauchen wir nicht“?
({23})
Und was ist, wenn ich Ihnen sage, dass der Autor der EU-Kommissar ist, der für die Sicherheitsunion zuständig ist? Ist das jetzt wieder in Ordnung, weil es ja ein Kommissar war? Und was ist, wenn ich Ihnen sage, dass es ein Brite war? Ist es jetzt wieder nicht legitim, weil es den Brexit gibt? Also: Sagen Sie es mir! Erklären Sie es!
Aber der absolute Knaller in Ihrem Antrag ist eigentlich: Sie möchten hier feststellen lassen, dass die AfD vor Strafzahlungen wegen illegaler Parteienfinanzierung steht.
({24})
Steht da drin, möchten Sie feststellen lassen. Da steht: „Der Deutsche Bundestag stellt fest: …“.
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– Nein, das ist keine Tatsache. Wir sind in einem schwebenden Verfahren.
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Ihre Verfahren sind abgeschlossen. Sie mussten zahlen. Fall Möllemann: Sie mussten zahlen.
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Auch Sie verbreiten Fake News. Sie sind Fake News.
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Sie spielen sich hier auf als der große Wächter der Meinungsfreiheit, und Sie produzieren selber Fake News.
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Abschließend möchte ich Sie noch mal auf eines hinweisen: Sie kommen hier mit so einem Zeug daher wie:
({30})
419 russische Fake-Accounts im Zusammenhang mit Brexit-Referendum aufgefallen. – Ich frage Sie mal: Wissen Sie eigentlich, wie viele Fake-Follower Ihr Twitteraccount hat?
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Ich habe es nachgeschaut: 1 139. Es gibt nämlich auch dafür unabhängige Plattformen. Das war’s von meiner Seite.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege Johannes Schraps.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unsere aktuelle Debatte ist dem Schutz der liberalen Demokratie in Europa gewidmet. Liberale Demokratie: Bei allem Gelächter und Gekeife und Tumult, die wir jetzt in der Debatte hier schon mitbekommen haben, hat das Thema, glaube ich, heute Abend eine gewisse Ernsthaftigkeit verdient.
({0})
Denn mittlerweile haben wir uns alle schon so sehr daran gewöhnt, dass wir in einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft leben, dass wir an die tiefere Bedeutung des Demokratiebegriffes eigentlich kaum noch denken. Wir nehmen das Leben, in dem wir uns im wahrsten Sinne des Wortes mit allen verbundenen Freiheiten hier bei uns wiederfinden, ganz selbstverständlich zur Kenntnis. Dabei gerät der Wert unseres Umfeldes, des friedlichen und demokratischen Umfeldes der Europäischen Union, trotz seiner Besonderheit manchmal ein wenig außer Acht. Denn wir sollten nicht vergessen, dass es nur wenige Regionen auf unserem Planeten gibt, denen ähnlich lange Zeiten in Frieden und mit demokratischen Strukturen vergönnt sind. Unsere liberale Demokratie ist deshalb nichts anderes als die unabdingbare Grundlage für den Frieden und Wohlstand, den wir alle so schätzen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Nur ein demokratischer Staat kann seine Pflichten gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in vollem Maße erfüllen und ihnen gleichzeitig ihre Freiheiten und Rechte vollumfänglich zugestehen. Nur in einer liberalen Demokratie kann die Einhaltung von Menschenrechten und von Minderheitenrechten gewährleistet werden. Nur in einem freien demokratischen Gemeinwesen gewährleisten rechtsstaatliche Grundsätze die Gewaltenteilung und Gleichberechtigung. Nicht umsonst sind all diese Punkte als Grundwerte der Europäischen Union in Artikel 2 des Lissabon-Vertrages fest verankert. Dazu gibt es in diesem Haus auch einen breiten demokratischen Konsens, der die Grundlage für den demokratischen Wettstreit in unserer parlamentarischen Demokratie bildet. Und deshalb ist es auch die Aufgabe aller in freien und demokratischen Wahlen gewählten Mitglieder von Parlamenten, also auch dieses Hauses, unsere freiheitliche Ordnung zu schützen und zu verteidigen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Leider gibt es aber zunehmend Akteure, die den Wert dieser liberalen demokratischen Ordnung nicht gleichermaßen wertschätzen, sowohl in den Parlamenten einiger europäischer Nachbarn als auch hier bei uns im Bundestag. Vertreter populistischer und rechtsextremistischer Bewegungen nutzen die Freiheiten, die jedem Mitbürger in unserer freiheitlichen Ordnung zugestanden werden; aber sie nutzen sie, um genau diese Grundlagen freiheitlicher Demokratie von innen zu untergraben. Meinungsfreiheit wird ganz bewusst zur Desinformation und zur Verbreitung von Falschmeldungen missbraucht.
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Mit dem Brexit haben wir übrigens – das ist noch nicht angesprochen worden – momentan ein Paradebeispiel dafür vor Augen, welche Auswirkungen es haben kann, wenn falsche Informationen extrem verbreitet werden. Man denke nur an den großen roten Bus mit lauter falschen Behauptungen, der wochenlang durch London fuhr.
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Der in Sankt Petersburg geborene deutsche Schauspieler Alexej Boris, der übrigens gerade ein tolles Projekt mit der Friedrich-Ebert-Stiftung durchführt, vergleicht die liberale Demokratie mit einer Kristallvase. Mit einer Kristallvase, die man von seinen Eltern geerbt hat: zerbrechlich und teuer – und irgendwie schon die ganze Zeit da gewesen. Man benutzt sie für Blumen, tagtäglich, und sie sieht manchmal vielleicht auch ein bisschen altmodisch aus. Man passt schon irgendwie darauf auf, aber eine gewisse Routine im Umgang schleicht sich ein.
Von wem geht also Gefahr für diese Vase aus, von wem Gefahr für die Demokratie? Von denen, die sie tagtäglich routiniert benutzen. Wenn Routine sich einschleicht, dann ist die Abstumpfung nicht mehr weit: „Es ist doch schon immer gut gegangen. Warum sollte sie ausgerechnet heute kaputtgehen?“ Die Demokratie geht vielleicht nicht so kaputt wie eine Vase, die runterfällt. Aber auch sie bekommt nach und nach Risse, wenn Unachtsamkeit und Routine Einzug halten. Zugegebenermaßen: Alles in allem ist das vielleicht ein wenig pathetisch. Aber wenn es um Demokratie geht, dann darf man aus meiner Sicht auch mal pathetisch sein. Und vielleicht sollten wir die Augen offen halten, aufmerksam sein und nicht alles allzu routiniert und für ganz selbstverständlich nehmen.
Vielen herzlichen Dank.
({4})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Dr. Diether Dehm.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Die Forderung nach Abschaffung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes
({0})
unterstützen wir. Die Stärkung der Gesinnungspolizei im Internet – East StratCom Task Force – lehnen wir ab.
({1})
Auf fremde Mächte, aufs Ausland lenken Sie ab. Der Russe hätte dann den Brexit herbeigeführt,
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Trump und die AfD herbeimanipuliert.
({3})
Ich sage Ihnen: So fangen Fake News an.
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Aber der Hauptlügner steht im eigenen Land. Das waren die Dieselgangster in den Konzernetagen. Das sind die Tausenden von Lobbyisten der deutschen Banken, die seit Jahrzehnten gegen den Sozialstaat hetzen und den Privatisierungswahn befeuern. Die Linke fordert öffentliche Eintragungen der Lobbyisten in das EU-Lobbyregister. Das muss zur Pflicht werden.
({5})
Mit ihrem Antrag wollen die Liberalen nur die liberale Demokratie vor Lügen schützen.
({6})
Aber in Artikel 20 des Grundgesetzes steht mehr:
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
({7})
Wer aber den Sozialstaat nicht schützt, der stärkt die Rechten.
Als die „Bild“-Zeitung in den 90ern die gute, alte Solidarrente und Norbert Blüm sturmreif geschossen hat, da waren die Nutznießer der Privatisierung der Renten die größten Werbekunden der „Bild“, nämlich die Allianz-Versicherung und Herr Maschmeyer. Gegen deren Lügen müssen wir uns wehren.
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Der FDP-Antrag kämpft gegen staatlich gelenkte Medien.
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Das ist sicherlich richtig. Aber da steht kein Wort über die Gewerkschaftsfeindlichkeit der Privatsender. Da müssten Sie mal reinhören.
({10})
Ein früherer FDP-Parteichef nannte dort, in den Privatsendern, den Mindestlohn – ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten – „DDR pur ohne Mauer“. Der Mindestlohn eine DDR ohne Mauern.
({11})
Und Herr Lindner beschimpfte junge Menschen von Fridays for Future
({12})
und sagte, man solle die Klimakatastrophe endlich den Profis zu überlassen. Konstantin Wecker hat gepostet, wer diese Profis sind – er schreibt –: „bestechliche Wissenschaftler, geldgeile Lobbyisten“. Recht hat Konstantin Wecker mit der Beschreibung Ihrer „Profis“, Herr Lindner.
({13})
Von wem kamen die Propagandalügen, mit denen der Beginn der Bombardierung Jugoslawiens orchestriert wurde, oder die Lüge von Saddam Husseins Giftgas im irakischen Sand oder die Lügen, die zum Libyen-Krieg führten?
({14})
Im ZDF lief kürzlich „Killing Gaddafi“, mit Beweisen, wie NATO-Lügen den „Islamischen Staat“ in Libyen erst groß gemacht haben.
({15})
Jetzt wollen Pentagon und Trump russische Gaslieferungen über North Stream 2 durch das teurere amerikanische Fracking-Gas ersetzen, mit einer riesigen antirussischen Propagandaschlacht. Und ein deutscher Außenminister erklärt wenige Stunden danach, er wisse ganz genau: Wladimir Putin hat den Auftrag zum Giftanschlag auf den Doppelagenten Skripal in London gegeben. – Das sind Fake News, gegen die man sich wehren muss.
({16})
Heute Morgen wurde der Whistleblower Julian Assange inhaftiert, weil er Kriegslügen aufgedeckt hat. Wenn Leute wie Assange eingesperrt werden, wenn der Cum/Ex-Aufklärer Oliver Schröm kriminalisiert wird, wenn Attac und die antifaschistische VVN
({17})
die Gemeinnützigkeit von Spenden aberkannt bekommen sollen, dann kann einem wirklich angst um die Demokratie werden.
({18})
Was die Welt braucht, sind nicht solche Anträge der FDP, sondern wieder mehr kritischer Journalismus wie einst von Günter Gaus, Gabriele Krone-Schmalz, Klaus Bednarz, Bernt Engelmann, Can Dündar. Was wir brauchen, ist Freiheit und mehr Rückgrat für kritischen Journalismus,
({19})
Freiheit für Edward Snowden und Julian Assange und nicht für die Verlagskonzerne.
Ich danke Ihnen.
({20})
Die Kollegin Dr. Franziska Brantner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die liberale Demokratie ist das, was Europa auszeichnet, und sie steht unter Druck. In sechs Wochen sind Europawahlen, und da steht verdammt viel auf dem Spiel. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass wir heute darüber diskutieren, wie Wahlbeeinflussung von außen, Desinformation, Social Bots Einfluss auf Wahlen nehmen. Zu dem Thema hat unsere Fraktion auch schon gute Vorschläge gemacht. Einige davon finden sich ja auch in Ihrem Antrag wieder.
Wir brauchen, um Beispiele für Beeinflussung zu finden, gar nicht mehr in die USA oder auf das Brexit-Referendum zu schauen, sondern wir finden Beispiele dafür am Rand unseres Plenums.
({0})
Herr Dehm, Sie haben gerade die Beeinflussung des Brexit-Referendums als Beispiel für Fake News genannt.
({1})
– Dass das die Russen waren, hat das Unterhaus detailliert nachgewiesen.
({2})
– Herr Dehm, auch wenn es Ihnen nicht in den Kram, in Ihre Ideologie passt: Es stimmt trotzdem, dass die Beeinflussung stattgefunden hat,
({3})
jedoch leider nicht zugunsten Europas und der liberalen Demokratie. Das stört Sie; aber das ist so.
({4})
Wir haben hier Abgeordnete sitzen, von denen Russland sagt, sie stünden unter absoluter Kontrolle.
({5})
Herr Frohnmaier, wie sollen wir das denn verstehen? Ist Russland die Alternative für Deutschland?
({6})
Machen Sie sich doch mal ehrlich, und erklären Sie mal,
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wie die russische Regierung denn zu dieser Einschätzung über Sie kommt.
({8})
Herr Frohnmaier ist in der AfD nicht alleine, wenn es um die Einflussnahme von außen geht. Frau Miazga, wir wissen ja immer noch nicht, wo Ihre Spendengelder eigentlich herkommen.
({9})
Das Einzige, was wir wissen, ist: ziemlich sicher nicht aus Deutschland. Vielleicht können Sie uns ja mal erklären, wo sie herkommen.
({10})
Dass die AfD unterwandert wird, zeigt noch ein anderer Fall: Ihr Abgeordneter Siegbert Droese beschäftigt Daniel Fiß. Das ist der Co-Chef der Identitären Bewegung,
({11})
ehemals Jungkader der NPD.
({12})
Diese Organisation steht unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes, weil sie unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung bedroht. Ich fordere Sie auf: Trennen Sie sich endlich von solchen Leuten. Das ist doch unsäglich.
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Schauen Sie sich Ihr Netzwerk, Ihre Partner an: FPÖ, Salvini etc.
({14})
Wir haben jetzt vom Berner Netzwerk gehört. Die Nachrichtendienste von USA, UK und Holland kooperieren alle nicht mehr mit Österreich, weil die Nähe der FPÖ zu Russland zu groß ist. Das sind Ihre Partner, das sind Ihre Freunde. Sie sind Team Putin und nicht Team Europa.
({15})
Was braucht es zum Schutz der liberalen Demokratie? Sie haben viele Vorschläge eingebracht. Wir würden noch ein paar ergänzen: Wir brauchen mehr Unterstützung für unabhängigen, investigativen Journalismus. Wir brauchen mehr Medienbildung, Fact-Checking. Man kann noch einiges obendrauf legen, aber Sie haben wichtige Punkte angesprochen.
Es gibt auch den europäischen Aktionsplan zum Kampf gegen Desinformation; aber die Regierung tut bis jetzt nichts. Ich habe dazu etwas gefunden und lese es Ihnen mal vor – es geht um Social Bots –:
Ob, in welcher Form und auf welcher Ebene eine Regulierung von Social Bots … geboten ist, bedarf einer vertieften rechtlichen und fachlich-inhaltlichen Prüfung. … Die Bundesregierung befindet sich zu diesen Fragen bereits im Austausch mit der Rundfunkkommission der Länder …
Zur Erinnerung, liebe Bundesregierung: Die Wahl startet in genau 41 Tagen. Da ist es an der Zeit, zu handeln. Die Kommission hat Vorschläge gemacht. Setzen Sie das endlich um, und hören Sie auf, einfach nur vor sich her zu prüfen.
({16})
Wir haben noch einiges vor. Wir werden diese liberale Demokratie verteidigen. Ich freue mich auf die Auseinandersetzung mit allen, die dagegen sind.
({17})
Der Kollege Dr. Volker Ullrich ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zur liberalen Demokratie gehören die Geltung des Rechts, der Schutz der Grundrechte und der Menschenrechte, der Schutz von Minderheiten und die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit. Zur liberalen Demokratie gehört die Integrität von Wahlen und Abstimmungen, gehören Wahlen und Abstimmungen, die fair sind und unter Chancengleichheit ablaufen. Die Geltung der liberalen Demokratie bildete übrigens den Anfangspunkt der europäischen Einigung: im Jahr 1949 die Menschenrechtskonvention des Europarates mit einem klaren Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
Wir müssen heute feststellen, dass dieses Europa der liberalen Demokratie und des Rechts herausgefordert wird, von innen und von außen. Wir stellen uns tatkräftig gegen diejenigen, die Europa und die Rechtsstaatlichkeit von innen und außen herausfordern – egal ob es sich um Abwege des Rechtsstaats in einigen europäischen Ländern handelt,
({0})
bei denen wir feststellen müssen, dass die Rechtsstaatlichkeit nicht mit einem Knall, sondern schleichend verblasst.
Wir müssen auch darüber sprechen, dass das Vertrauen in Wahlen und Abstimmungen in Europa gelitten hat, weil es in den letzten Jahren gehäuft zu Vorkommnissen kam, bei denen ganz gezielt Kräfte von außen versucht haben, demokratische Prozesse in Europa zu stören und zu zerstören.
({1})
Das werden wir klar benennen, und wir werden uns dagegen wenden.
Ich erinnere daran, dass im Vorfeld des Brexit-Referendums vor knapp drei Jahren über viele Hundert Accounts – auch aus dem Ausland finanziert und gesteuert – versucht wurde, die Kampagne zu beeinflussen. Ich erinnere daran, dass Marine Le Pen Darlehen aus Moskau bekommen hat.
({2})
Ich erinnere daran, dass die FPÖ eine Kooperation mit der Putin-Partei Einiges Russland hat.
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Ich erinnere daran, dass auch die Partei von Salvini, die Lega Nord, direkte Kontakte in den Kreml hat.
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Und all diese Parteien schicken sich nun an, dokumentiert durch die Pressekonferenz von letzter Woche, mit Ihnen von der AfD im Europäischen Parlament eine gemeinsame Fraktion zu bilden. Das ist die Fraktion derjenigen, die Europa zerstören wollen; aber das werden wir nicht zulassen.
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Wir wollen und werden die Integrität von Wahlen schützen. Zur Demokratie gehört selbstverständlich die kontroverse und offene Auseinandersetzung;
({6})
aber die Grenze ist erreicht, wenn eine unzulässige Einflussnahme vorliegt, wenn eine Wahlbeeinflussung stattfindet, die nicht transparent ist – nicht transparent in dem, was jemand sagt, und auch nicht transparent in dem, wie sie finanziert wird. Deswegen brauchen wir eine klare gemeinsame Haltung. Wir müssen uns in Europa auf gemeinsame Themen verständigen.
Wir müssen sprechen darüber, wie Werbung in sozialen Netzwerken, die gerade vor der Europawahl europaweit geschaltet wird, finanziert wird. Wir müssen sprechen über die Frage der Parteienfinanzierung. Wie machen wir deutlich, dass wir es nicht zulassen, dass es eine Parteienfinanzierung von außen gibt mit dem Ziel, unlauteren Einfluss auf den demokratischen Diskurs in einem Land zu nehmen?
({7})
Ja, wir müssen über verschiedene Maßnahmen diskutieren. Über einige Aspekte in dem Antrag der FDP können wir mit gutem Gewissen diskutieren. Diese Debatte hat aber klargemacht, dass sich bei den Kontakten zu Russland und der Einmischung russischer Politik in die europäische Politik, was einen Eingriff in die Integrität Europas darstellt, die Extreme von links und rechts berühren.
({8})
Dagegen müssen wir uns wenden. Wir wissen – und das sagen wir ganz klar und deutlich –, wer Europa spalten möchte. Wir stehen bei dieser Europawahl vor einer großen Herausforderung.
({9})
Es geht natürlich um sachliche Fragen, aber es geht letzten Endes auch um eine grundsätzliche Auseinandersetzung. Welches Europa wollen wir? Überlassen wir Europa den Populisten und den Nationalisten, oder sagen wir, dass wir ein Europa der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Verantwortung brauchen? Wir stehen für dieses Europa der Demokratie und der Verantwortung.
({10})
Wir werden dieses Europa verteidigen gegen all diejenigen, die Europa spalten wollen.
({11})
Es steht außer Frage, dass all diejenigen, die ich vorhin genannt habe – mit Rassemblement und Marine Le Pen in Frankreich,
({12})
mit FPÖ, mit Salvini –,
({13})
letzten Endes populistische, nationalistische Bewegungen sind.
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Man muss eines ganz klar und deutlich sagen: Wenn wir Europa denjenigen überlassen, die sagen: „Ich zuerst, mein Land zuerst“, und zwar in Abgrenzung zu den anderen, ohne Rücksicht auf die gemeinsame Friedens- und Freiheitsordnung in Europa, dann werden wir am Ende wieder in einen Zustand kommen, der Europa erst notwendig gemacht hat.
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Die historische Verantwortung zeigt uns, dass wir diesen Weg nicht zulassen dürfen. Lassen Sie uns deswegen gemeinsam eintreten für all diese wichtigen Werte: für Rechtsstaatlichkeit, für Demokratie, für Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa.
Herzlichen Dank.
({16})
Vielen Dank, Herr Kollege Ullrich. – Die Rede der Kollegin Saskia Esken geht zu Protokoll.
Ich schließe damit zu diesem Tagesordnungspunkt die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/9225 an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute über ein Gesetz, mit dem die Bundesregierung autorisiert wird, das Protokoll vom 11. Juni 2014 zum Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation von 1930 zur Zwangs- und Pflichtarbeit zu ratifizieren.
Ich denke, die Inhalte des Protokolls sind wenig strittig. Im Protokoll wird der Menschenhandel als eine wesentliche Form der Zwangsarbeit anerkannt. Es wird anerkannt, dass das Verbot von Zwangs- und Pflichtarbeit Bestandteil der Grundrechte ist. Wer würde dem widersprechen? Es verweist auf die Verpflichtung der Mitglieder, Zwangs- und Pflichtarbeit unter Strafe zu stellen, darauf, dass es Verpflichtungen des Staates gibt, auf die Beseitigung von Zwangs- und Pflichtarbeit hinzuwirken, und auf vieles mehr. Damit wird auch der Nationale Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte flankiert, der menschenrechtliche Sorgfaltspflichten entlang der Lieferketten betont. Alles in allem also ein gutes Protokoll, ein richtiges und wichtiges überdies, mit dem für uns keine neuen Pflichten verbunden werden, weil das dort Geforderte bei uns längst gesetzlich verankert ist.
Und dennoch habe ich beim Durchlesen des Protokolls mir im Geiste ausgemalt, wem ich dieses Protokoll einmal zur Lektüre anempfehlen würde:
Ich würde es zunächst einmal der russischen Regierung zur Lektüre anempfehlen, vor allen Dingen mit Blick auf nordkoreanische Zwangsarbeiter, die dort arbeiten. Vielleicht kann ja die Fraktion, deren besondere Beziehungen nach Russland in den letzten Tagen so offenkundig geworden sind, einmal den Versuch unternehmen, den Einfluss umzukehren und Herrn Putin davon zu überzeugen, dass Zwangsarbeit keine gute Sache ist. Dann wäre das Moskauer Geld jedenfalls gut investiert.
({0})
Ich würde es dann auch der Regierung in Polen einmal geben; denn dort sind ebenfalls noch nordkoreanische Zwangsarbeiter beschäftigt. Dass dies in einem EU-Land passiert, meine Damen und Herren, ist eine Schande.
({1})
Ich würde es den Menschen geben, die von „sogenannten Flüchtlingen“ sprechen, ganz so, als sei die Überfahrt auf dem Mittelmeer, die Flucht aus Furcht vor Sklaverei und Zwangsarbeit eine vergnügliche Bootsreise. Wer vor Sklaverei und Zwangsarbeit flieht, hat ein Anrecht darauf, bei uns Schutz zu finden.
({2})
Ich würde es dem Deutschen Fußballbund geben. Die Verhältnisse auf den Baustellen für die Fußball-WM in Katar sind bekannt. Wer auf dem Leiden der Zwangsarbeiter dort ungerührt Fußball spielt, muss sich sagen lassen: Fußball hat etwas mit Fair Play zu tun, auch abseits des Rasens. – Leider hat man beim Fußball allzu häufig den Eindruck: Mehr Pay ist wichtiger als Fair Play.
({3})
Ich würde es dem Arbeitgeberpräsidenten Kramer geben, der sich vor ein paar Tagen dahin gehend geäußert hat, es sei der Wirtschaft nicht zuzumuten, die Menschenrechte in den Lieferketten zu beachten. Ich sage ganz deutlich: Wer Kinderarbeit, Sklavenarbeit oder Zwangsarbeit in seinen Lieferketten zulässt oder Hinweise darauf ignoriert, ist Teil einer Unterdrückungsmaschinerie und hat in einer sozialen Marktwirtschaft nichts zu suchen.
({4})
Soziale Marktwirtschaft, Herr Kramer, heißt Menschenrechte und Menschenwürde achten. Das können Sie schon bei Alfred Müller-Armack nachlesen.
Ich würde das Protokoll gerne den Verantwortlichen in Venezuela geben. Dort dürfen Beschäftigte in privaten Betrieben zur Zwangsarbeit in die Landwirtschaft abgeordnet werden. Zugegeben: Das ist noch eines der kleineren Probleme Venezuelas, es macht aber deutlich: Nicht überall, wo Sozialismus draufsteht, sind auch Menschenrechte drin.
Ich könnte die Liste weiter fortführen; sie ist natürlich nicht abschließend. Ja, es wäre schön, wenn dieses Protokoll bei denen bekannt wird, die die Menschenrechte verachten oder schlicht ignorieren. Deswegen wünsche ich dem Protokoll nicht nur, dass es ratifiziert wird; ich wünsche ihm viele Leser für ein Tribunal der Öffentlichkeit, in dem Praktiken der Zwangsarbeit, der Sklavenarbeit und des Menschenhandels an den Pranger gestellt, verfolgt und abgeurteilt werden.
Herzlichen Dank.
({5})
Der nächste Redner ist der Kollege Jürgen Pohl, AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Zuschauer! Werte Kollegen! Wir sind heute zusammengekommen, um einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Thema Zwangsarbeit zu debattieren, den diese seit knapp fünf Jahren vor sich herschiebt. Das ist schon eine herausragende Leistung, besteht der Entwurf doch aus insgesamt zwei Artikeln. Da kann man schon mal sagen: Hut ab, alle zweieinhalb Jahre ein Artikel.
Aber gehen wir in medias res, und schauen wir uns an, was die Kollegen von der Regierungsbank uns hier vorgelegt haben. Die Bundesregierung möchte das Protokoll der ILO zum Thema Zwangs- und Pflichtarbeit endlich auf nationaler Ebene in Kraft setzen. Das ist natürlich äußerst lobenswert, soll doch die Arbeitsleistung eines jeden Einzelnen nicht rechtswidrig ausgebeutet werden.
Auch ist die ILO als internationaler Vertreter für Arbeitsrecht hierbei Vorreiter, stammt doch die Grundlage für das gegenständliche Protokoll aus dem Jahr 1930. Die ILO hat heute auf den Tag vor genau 100 Jahren ihre Tätigkeit aufgenommen. Glückwunsch dazu, das mag ein Grund für frische Schnittchen sein, aber nicht für frische Gesetze.
({0})
Die Vorgaben bestehen größtenteils aus reinen Absichtserklärungen und Empfehlungen, die in der Zukunft vermutlich – wie überall und immer wieder – zu neuen rechtlichen Regelungen in Deutschland führen werden, und davon hat Deutschland eigentlich genug.
({1})
Wir werden eh schon als Streber auf dem internationalen Schulhof der Politik belächelt. Die Umsetzung der Vorgaben der ILO ist mal wieder ein Paradebeispiel dafür. All die Punkte, in denen wir bitte schön aufgefordert werden, sie national umzusetzen, sind bei uns doch schon lange rechtlich geregelt: Schwarzarbeitsbekämpfung, Schutz von Prostituierten, Verbot der Kinderarbeit, rechtliche Regelungen nebst Amt zum Arbeitsschutz, das Recht zum Arbeitskampf, das Recht auf Arbeitnehmervertretungen – alles ist rechtlich geregelt.
Ein Punkt stößt mir jedoch in der Debatte so richtig sauer auf: Nebenbei wird erklärt, dass die Bundesregierung an einem neuen Opferentschädigungsgesetz arbeitet, durch das auch die Opfer von Menschenhandel und letztlich Zwangsarbeit entschädigt werden sollen. Erst schaffen wir die Möglichkeiten zum Rechtsbruch bei uns in Deutschland, wir kontrollieren an den Grenzen mehr zum Schein, um dann geschleuste und verschleppte Arbeitnehmer für die Folgen zu entschädigen. Das ist widersinnig.
({2})
Wir laufen wiederum Gefahr, Anreize für die illegale Einwanderung zu schaffen, die dann den Druck auf die Niedriglöhner erhöht.
({3})
– Das ist so.
({4})
Damit wir uns verstehen: Schutz vor Zwangsarbeit ist gut und wichtig, aber die Definition von Zwangsarbeit hat sich doch wesentlich geändert. Waren es nach früherem Verständnis die kleinen Kinder, die Fußbälle in den Hinterhöfen von Bangladesch genäht haben, so haben wir mittlerweile kriminelle Zustände auf dem deutschen Arbeitsmarkt geschaffen. Um diese kriminellen Zustände zu sehen, müssen Sie nicht einmal investigativ tätig sein. Fahren Sie einfach nach Duisburg-Marxloh. Da sehen Sie den Arbeitnehmerstrich ganz ungeniert auf offener Straße. Die Folgen sind Löhne, von denen niemand leben kann. Der redliche deutsche Arbeitnehmer muss bei einer Vollzeitbeschäftigung mit Hartz IV aufstocken. Dies ist so, weil die von Ihnen geförderte und protegierte Arbeitnehmerfreizügigkeit und unkontrollierte Migration zu Lohndumping geführt haben.
({5})
Die Arbeitnehmer stehen im Lohnkampf mit den verelendeten Zwangsarbeitern, meine Damen. Lohndruck, Abhängigkeit, Ausbeutung, Mietwucher, Prostitution, Verelendung – das sind die Folgen dieser unseligen Politik.
({6})
Jetzt wollen Sie ganz selbstgefällig Ihre Unterschrift unter ein Gesetz setzen, um solche Zustände angeblich zu bekämpfen. Für mich ist das ein Taschenspielertrick. Auf der einen Seite verurteilen Sie die Zwangsarbeit und schwadronieren von Menschenhandel, den es einzudämmen gilt, auf der anderen Seite fördern Sie durch Ihre eigene Zuwanderungs- und Freizügigkeitspolitik ebensolche Zustände.
Wissen Sie noch, wie wir von der AfD im Jahr 2015 verteufelt wurden, als wir diese Verelendung der Massen bereits vorhergesagt haben? Das haben wir 2015 gesagt. Sie haben durch Ihre Politik der offenen Grenzen erst dafür gesorgt, dass solche neuen Gesetze notwendig werden. Sie wollen jetzt die Geister bekämpfen, die Sie selbst riefen. Aber nicht mit uns!
({7})
Wir als AfD stehen für den vorrangigen Schutz des deutschen Arbeitnehmers und des deutschen Arbeitsmarktes.
({8})
Danach können wir uns Gedanken über unsere Nachbarn machen.
Wir haben aber hohe moralische Ansprüche. Wir achten das Wirken der ILO. Wir werden uns deswegen nicht gegen dieses Gesetz und auch nicht gegen dieses Protokoll stellen. Insofern werden wir uns enthalten.
({9})
– Bitte schön, Sie können weiter rufen.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Rede von Michael Gerdes, SPD, geht zu Protokoll, und die nächste Rednerin ist die Kollegin Gyde Jensen für die FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anpassung des ILO-Übereinkommens zur Zwangs- oder Pflichtarbeit ist ein weiterer wichtiger Baustein auf dem Weg, Menschenhandel weltweit zu ächten und zu bekämpfen.
Es ist wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag hier und heute positioniert und Menschenhandel noch einmal ausdrücklich als eine der wesentlichen Formen von Zwangsarbeit anerkennt, aber mit dieser Anpassung eben auch die Verbesserung von Prävention, die strafrechtliche Verfolgung und den Opferschutz mit auf die Agenda nimmt.
Bemerkenswert finde ich allerdings dennoch, dass die Große Koalition fünf Jahre gebraucht hat, um ein Übereinkommen zu verabschieden, das erstens für bessere Regeln im weltweiten Kampf gegen den Menschenhandel sorgt und dessen Forderungen zweitens Deutschland schon lange vollkommen erfüllt. Es dokumentiert, wie wenig Ehrgeiz die Bundesregierung der Entwicklung des Multilateralismus beimisst, mit Ausnahme schöner Reden hier.
Meine Damen und Herren, sosehr ich und die Freien Demokraten dieser Ratifizierung positiv gegenüberstehen und dieser auch zustimmen, so sehr zeigt das mit großer Mehrheit verabschiedete Übereinkommen aber auch, dass wir keinen Mangel an internationalen Zusagen oder universellen Leitprinzipien haben. In fast jedem Land der Welt sind Gesetze gegen Menschenhandel verabschiedet worden, aber es mangelt schlicht an der effektiven Umsetzung dieser Gesetze.
Als Zwangsarbeit definiert die ILO unfreiwillige Arbeits- oder Dienstleistungen, die unter Androhung von Strafe ausgeübt werden. Die Ausbeutung von Menschen, die kaum eine andere Möglichkeit haben, als in derartigen Situationen zu arbeiten, bezeichnet die Organisation als moderne Sklaverei. Die weitaus größten solcher kriminell erwirtschafteten Profite werden laut ILO durch zwangsweise sexuelle Ausbeutung erreicht.
Immer noch sind über 400 Millionen Menschen weltweit von moderner Sklaverei betroffen. Darunter fallen zum Beispiel Zwangsarbeit, Zwangsprostitution, politische Gefangennahmen, Kinderarbeit und Rekrutierung von Kindersoldaten. Der Global Report des United Nations Office on Drugs and Crime beschreibt ganz eindrücklich, wie in den aktuellen Krisen dieser Welt vermehrt auf Menschenhandel als Kriegsinstrument zurückgegriffen wird.
Es ist schändlich, wie Menschenhändler große wirtschaftliche Not, in der sich Kriegsbetroffene und Flüchtende befinden, ausnutzen. Jeder Staat hat eine besondere Verpflichtung zum Schutz; denn die häufigste Form des Menschenhandels bleibt die sexuelle Ausbeutung, insbesondere von Frauen, aber auch von einer wachsenden Zahl junger Mädchen.
Ja, auch Deutschland kommt heute bereits seinen Verpflichtungen nach. Aber wenn wir die staatliche Verantwortung in jedem Land ernst nehmen, dann müssen wir feststellen, dass sich Deutschland zum Beispiel nicht mit ausreichender Kontrolle von Zwangsprostitution befasst. Es wird auch in unserer Gesellschaft viel zu wenig über die negativen Folgen von Prostitution gesprochen. Der Staat ist verpflichtet, vor allem Frauen vor Missbrauch zu schützen und bestehenden Risiken für Menschen zu begegnen.
({0})
Schwierige Ermittlungsbedingungen in Rotlichtmilieus dürfen keine Ausrede dafür sein, Menschenhandel und Zwangsprostitution nicht effektiv zu bekämpfen.
Die Kleine Anfrage, die wir an die Bundesregierung gestellt haben, hat gezeigt, dass die Bundesregierung schlicht nicht in der Lage ist, die Entwicklung von Zwangsprostitution einzuschätzen, geschweige denn einen tatsächlichen oder einen rechtlichen Handlungsbedarf zu bestimmen und abzuleiten.
In der effektiven Umsetzung – das zeigt dieses Beispiel Prostitution – haben wir bei besonders gefährdeten Gruppen auch hier in Deutschland – in Hamburg, in Saarbrücken, in Berlin und in vielen anderen Gegenden – noch erheblichen Nachholbedarf. Das gehört natürlich auch in diese Debatte, und ich erwarte, dass die Bundesregierung diese Schutzstandards ernst nimmt und Lösungsvorschläge dazu erarbeitet und uns hier im Parlament präsentiert.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Jutta Krellmann, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, feiert im Moment ihr hundertjähriges Bestehen. In dieser Sonderorganisation der Vereinten Nationen sind fast 190 Länder Mitglied, und ihre Aufgabe ist heute immer noch genauso wichtig wie früher.
({0})
Hauptziel der ILO ist es, die Arbeits- und Lebensbedingungen aller Menschen weltweit zu verbessern. Da gibt es nach 100 Jahren immer noch viel zu tun. Weltweit arbeiten 40 Millionen Menschen in moderner Sklaverei, 25 Millionen davon in Zwangsarbeit – zum Beispiel auf den Baustellen in Katar, aber auch auf den Tomatenfeldern in Italien. Eines von vier Opfern moderner Sklaverei ist ein Kind. Diese Kinder bauen Rohstoffe ab, die wir für unsere Handys und Elektroautos brauchen. Es ist gut, dass die ILO 2014 das Übereinkommen Nr. 29 zum Verbot der Zwangsarbeit verabschiedet hat. Wir begrüßen es, dass die Bundesregierung dieses Übereinkommen jetzt ratifiziert.
({1})
Auch wir werden dem zustimmen; aber es kommt fünf Jahre zu spät.
Zurück zur ILO: Sie steht, wie gesagt, für Mindeststandards, wenn es um den Schutz von Beschäftigten geht. Es ist aber die Aufgabe der Bundesregierung, dass diese Standards in Deutschland auch eingehalten werden. Die Bundesregierung bewegt sich an der Stelle unseres Erachtens nicht genügend, also viel zu wenig,
({2})
zum Beispiel wenn es um Arbeitsschutzkontrollen geht. Seit 2006 fordert das ILO-Übereinkommen Nr. 81, dass es ausreichend staatliche Arbeitsschutzkontrolleure geben muss. Nur so kann der Arbeits- und Gesundheitsschutz auch kontrolliert werden. Für 10 000 Beschäftigte soll es eine Aufsichtsperson geben, doch in Deutschland kommt eine Aufsichtsperson auf 14 000 Beschäftigte. Das ist deutlich schlechter als das, was das ILO-Übereinkommen an der Stelle vorgibt. Was für ein Armutszeugnis für so ein reiches Land wie Deutschland!
Ähnlich sieht es bei der Umsetzung der Europäischen Sozialcharta aus. Das ist ebenfalls eine internationale Vereinbarung zum Schutz von Arbeitnehmern. Sie wurde vor 20 Jahren überarbeitet. Bis heute hat es die Bundesregierung nicht geschafft, sie zu ratifizieren. Bereits 1998 hat es die SPD, damals in der Opposition, in einer Kleinen Anfrage gut auf den Punkt gebracht. Ich zitiere: Die Charta „ist rechtsverbindlicher Ausdruck der Untrennbarkeit von Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und sozialen Rechten.“ Die Europäische Sozialcharta ist „eine tragende Säule für die Entwicklung des europäischen Sozialmodells.“
Und heute? Mehr als 20 Jahre später können Sie als SPD sie jetzt umsetzen. Warum versuchen Sie es nicht einfach? Unsere Unterstützung hätten Sie.
({3})
Wir als Linke, liebe SPD, sind immer dabei, wenn es um den Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geht.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Das ILO-Übereinkommen über Zwangsarbeit gibt es wirklich seit 1930. Es ist also ein echtes Urgestein, und dieses Urgestein wird jetzt auf den neuesten Stand gebracht. Das ist richtig und wichtig. Natürlich muss das Protokoll zum Übereinkommen auch ratifiziert werden. Deswegen werden natürlich auch wir Grünen dem Gesetzentwurf zustimmen; denn wir müssen die Menschen konsequent vor Ausbeutung und Zwangsarbeit schützen.
({0})
Die Bundesregierung beschreibt in ihrer Stellungnahme ihre Aktivitäten und die gesetzlichen Regelungen zum Thema Zwangsarbeit. Parallel diskutieren wir ja auch den Gesetzentwurf gegen illegale Beschäftigung. Auch die Opferentschädigung soll reformiert werden. Das ist alles gut, und doch gibt es aus unserer Sicht noch einiges zu tun.
Ich gebe Ihnen drei Beispiele.
Erstes Beispiel. Es ist ein Problem, dass Zwangsarbeit häufig gar nicht erkannt wird. Herr Kollege, das gilt auch für Deutschland. Die Menschen werden unter falschen Versprechungen angelockt, und wenn sie dann hier sind, werden sie unter widrigen Bedingungen ausgebeutet. Wenn sie sich wehren, werden sie unter Druck gesetzt, bedroht oder sie verlieren ihre Arbeit, ohne den versprochenen Lohn zu erhalten. In dieser prekären Situation sind sie dann gezwungen, immer wieder schlechte und auch illegale Jobs anzunehmen. Auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht so aussieht: Das ist nichts anderes als Zwangsarbeit.
({1})
Deshalb müssen wir von den Opfern aus denken und ihre Situation verstehen. Dafür müssen alle Akteure, die Zwangsarbeit bekämpfen, geschult und sensibilisiert werden. Notwendig sind vielfältige Wege, um die Menschen überhaupt zu erreichen, mehr Beratungsstellen, effektive Vernetzung und koordinierte Zusammenarbeit. Zwangsarbeit muss erst einmal sichtbar werden. Erst dann kann sie tatsächlich bekämpft werden.
({2})
Zweites Beispiel. Opfer von Ausbeutung und Zwangsarbeit haben ein Recht auf ihren Lohn. Das ist die Theorie; in der Praxis sieht es aber anders aus. Sie müssen individuell klagen, und das ist für sie extrem schwierig. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ich will nur einige nennen: die Dauer der gerichtlichen Verfahren, finanzielle Notlagen, die Beweislast. Häufig haben sie einfach nur Angst. Die gewerkschaftlichen Beratungsstellen, das Projekt „Faire Mobilität“ und andere Initiativen helfen zwar, wo sie nur können, notwendig wäre hier aber ein Verbandsklagerecht. Das würde die Opfer wirkungsvoll unterstützen.
({3})
Drittes Beispiel. Die soziale Verantwortung der Unternehmen, und zwar entlang der gesamten Lieferkette. Wer in Deutschland beispielsweise mit Kaffee gut verdient, trägt Verantwortung dafür, dass auch die Beschäftigten auf den Kaffeeplantagen anständig behandelt und bezahlt werden. Die Bundesregierung steht aber immer noch auf der Bremse, wenn es um verbindliche Transparenz- und Sorgfaltspflichten geht. Auch an dieser Stelle müssen Sie endlich liefern.
({4})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass wir heute geschlossen ein Zeichen gegen Zwangsarbeit setzen, aber ich hoffe auch, dass wir noch weitere Schritte gehen, um Ausbeutung wirklich konsequent zu bekämpfen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die Kollegen Stephan Stracke und Bernd Rützel geben ihre Reden zu Protokoll, sodass ich die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 14 schließen kann.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Protokoll vom 11. Juni 2014 zum Übereinkommen Nr. 29 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 28. Juni 1930 über Zwangs- oder Pflichtarbeit. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/9011, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/8461 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Bei Enthaltung der Fraktion der AfD haben die übrigen Fraktionen des Hauses zugestimmt. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit unserem Antrag fordern wir, in Deutschland ein Unternehmensstrafrecht einzuführen. Es leuchtet nicht ein, dass jemand, der 5 Euro klaut, strafrechtlich verfolgt wird, während Unternehmen, die kriminelle Geschäfte tätigen, die einen massiven Steuerbetrug begehen oder die elementare Menschenrechte verletzen, ungeschoren davonkommen.
({0})
Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. So ist es bisher, weil wir kein Unternehmensstrafrecht haben. Die Linke will das ändern.
CDU/CSU und SPD schreiben auf Seite 126 ihres Koalitionsvertrages – ich zitiere –:
Wir wollen sicherstellen, dass Wirtschaftskriminalität wirksam verfolgt und angemessen geahndet wird. Deshalb regeln wir das Sanktionsrecht für Unternehmen neu.
Wo sind denn Ihre Vorschläge dazu?
({1})
Jetzt muss Die Linke die Koalition schon an ihren eigenen Koalitionsvertrag erinnern.
({2})
Die damals SPD-geführte Landesregierung in NRW hatte einen Gesetzentwurf für ein Unternehmensstrafrecht vorgelegt. Ich fand den ganz gut, aber der ist im Sande verlaufen. Packen Sie den doch endlich wieder aus!
({3})
Meine Damen und Herren, Unternehmen haben fast alle Rechte, welche auch natürliche Personen haben. Sie können Eigentum erwerben, sie werden durch die Grundrechte geschützt, sie genießen alle Vorteile des demokratischen Rechtsstaates. Anders als für jede natürliche Person gilt für sie aber nicht das scharfe Schwert des Strafrechts. Diese Rosinenpickerei ist inakzeptabel.
({4})
Zahlreiche deutsche Unternehmen sind in Skandale verwickelt, etwa die Deutsche Bank. Ein ehemaliger Mitarbeiter warf ihr eine kriminelle Unternehmenskultur vor. Das ist angesichts der Verwicklungen der Deutschen Bank in den Cum/Ex-Skandal, den größten Steuerbetrug der Geschichte, kein Wunder. Oder nehmen wir den Dieselskandal: Volkswagen und andere Autokonzerne haben systematisch Kunden betrogen, indem sie Fahrzeuge mit manipulierten Abschalteinrichtungen verkauften.
Zwar wird gegen einzelne Mitarbeiter von VW und der Deutschen Bank ermittelt, aber in solchen Fällen gibt es eine Gesamtverantwortung des Konzerns. Volkswagen und die Deutsche Bank gehören als Unternehmen auf die Anklagebank – und nicht nur einzelne Mitarbeiter.
({5})
In 21 von 28 EU-Staaten haben wir bereits ein Unternehmensstrafrecht.
({6})
In Deutschland gibt es nur § 30 Ordnungswidrigkeitengesetz. Dieser ermöglicht es, Unternehmen für Straftaten ihrer Leitungspersonen zur Verantwortung zu ziehen. Aber es ist halt, wie das Falschparken, nur eine Ordnungswidrigkeit.
Nehmen wir den VW-Dieselskandal: Nach § 30 Ordnungswidrigkeitengesetz kommt maximal eine Geldbuße von 10 Millionen Euro in Betracht – dafür, dass Zehntausende Kunden betrogen worden sind.
({7})
Das zahlt doch fast jeder Großkonzern aus der Portokasse.
({8})
Zudem muss die Staatsanwaltschaft nicht mal ermitteln. Sie ist da bei Ordnungswidrigkeiten frei. Eine Studie der Universität Köln zeigt, dass es fast niemals Ermittlungen gegen Unternehmen gibt.
Hätten wir ein Unternehmensstrafrecht, wären erstens Geldstrafen gemessen an der Wirtschaftskraft der Unternehmen möglich, zweitens müsste dann die Staatsanwaltschaft ermitteln, und drittens wäre bei systematischem kriminellem Verhalten eines Unternehmens mehr als nur eine Geldstrafe möglich, etwa Lizenzentzüge oder auch Betriebsbeschränkungen.
Verfassungsrechtlich spricht nichts gegen ein Unternehmensstrafrecht. Kriminalpolitisch ist ein Unternehmensstrafrecht notwendig, um der kriminellen Energie einiger Unternehmen gerecht werden zu können.
Der Kölner Entwurf für ein Verbandssanktionengesetz – geschrieben von vielen Wissenschaftlern – wäre eine super Vorlage.
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Setzen Sie von der Koalition sich bitte damit auseinander!
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Hören Sie auf den Deutschen Richterbund, auf das katholische Hilfswerk Misereor
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und auf die Menschenrechtsorganisation ECCHR! Sie und viele mehr fordern strafrechtliche Sanktionierungen von Unternehmen, wenn diese kriminelle Machenschaften aufweisen. Setzen Sie endlich um, was Sie Ihren Wählerinnen und Wählern im Koalitionsvertrag versprochen haben!
Danke schön.
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Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eines ist natürlich völlig klar: Unternehmen müssen sich an Regeln halten. Recht und Gesetz sind für jedermann verbindlich – auch für Unternehmen. Das ist eine ganz bare Selbstverständlichkeit.
Genauso selbstverständlich ist es, dass Verstöße gegen Regeln sanktioniert werden müssen. Das ist ganz klar; denn eine Rechtsordnung, die die durch sie statuierten Rechte und Pflichten nicht durchsetzt, entwertet sich am Ende selbst. Eine Rechtsordnung bedarf deswegen auch eines effektiven Sanktionsinstrumentariums, weil die Akzeptanz derjenigen, die sich an die Rechtsordnung zu halten haben, nur dadurch aufrechterhalten werden kann. Deswegen ist die Verteidigung unserer Rechtsordnung – das sage ich jetzt auch mal als jemand, der in einer Rechtsstaatspartei wie der Union ist; wir fühlen uns hier ganz besonders verpflichtet – ganz in unserem Sinne.
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Das, was jetzt die Linken vorschlagen, ist aber nun wirklich der völlig falsche Weg, weil sie nämlich ein Unternehmensstrafrecht vorschlagen. Wenn Sie sich mal die Dogmatik unseres Strafgesetzbuches anschauen – im Übrigen nicht nur die unseres Strafgesetzbuches, sondern schauen Sie sich auch mal an, welches Menschenbild unserem Grundgesetz zugrunde liegt –, dann sehen Sie,
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dass eine Sanktionierung im Strafrecht als Ultima Ratio eine persönliche Verantwortung und individuelle Schuld voraussetzt. Das ist in § 17 unseres Strafgesetzbuches als grundlegendes strafrechtliches, aber eben auch verfassungsrechtlich fundiertes Prinzip manifestiert. Ohne eine zweifelsfrei nachgewiesene individuelle Schuld gibt es keine Strafbarkeit.
Herr Kollege, Sie haben es vorhin selber gesagt: Unternehmen sind keine natürlichen Personen. Und weil Unternehmen keine natürlichen Personen sind, können sie aufgrund dieses grundlegenden strafrechtlichen Prinzips auch nicht mit Strafe bedroht werden. Das ist mit unseren verfassungsrechtlichen Prinzipien nicht vereinbar, und alleine schon deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab.
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Ich finde es aber bemerkenswert – das muss man an dieser Stelle ja schon mal sagen –, dass Die Linke hier so sehr auf das Instrument Strafrecht pocht. Ich kann mich noch an sehr viele Debatten hier im Hohen Hause erinnern, zum Beispiel, als wir die Einbruchskriminalität zu einem Verbrechenstatbestand hochgestuft haben, weil wir gesagt haben: Das ist schon etwas, bei dem wir die höhere Strafe ein Stück weit als Abschreckung brauchen. – Sie haben damals gesagt: Ach, das ist doch alles großer Blödsinn. Das Strafrecht hat doch keine abschreckende Wirkung.
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Gucken Sie sich jetzt doch mal Ihren Antrag an. Da argumentieren Sie genau so: Das Strafrecht habe eine abschreckende Wirkung, und deswegen müsse man das jetzt für Unternehmen einführen. – Sie messen mit zweierlei Maß. Das ist unglaubwürdig, liebe Kollegen von den Linken.
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Richtig ist natürlich, dass wir Handlungsbedarf haben. Sie haben die momentane Regelung im Ordnungswidrigkeitengesetz genannt. Das alles ist manchmal sehr komplex und wird den Umfängen der Verfehlungen auch nicht gerecht. Ein Problem ist zum Beispiel manchmal, dass die Zuständigkeit beim Amtsgericht liegt. Ich glaube, hier müssen wir etwas tun, und deswegen haben wir im Koalitionsvertrag ja genau das aufgegriffen und gesagt: Wirtschaftskriminalität muss effektiv verfolgt und effektiv geahndet werden.
Wir werden – Sie müssen gar nicht so ungeduldig sein – einen Gesetzentwurf vorlegen.
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Wir haben das Justizministerium gehört und erwarten diesen Gesetzentwurf im Frühsommer. Das wird also nicht mehr allzu lange dauern.
Die Frage ist jetzt: Was wollen wir in diesem Gesetzentwurf regeln? Ich habe es gerade gesagt: Wir wollen keine strafrechtliche Regelung. Wir als Union wollen auch nicht ein Gesetz, das die Sanktion in den Mittelpunkt stellt, sondern unser Ziel bei einem solchen Gesetz muss doch sein, dass sich die Unternehmen zukünftig rechtstreu, compliant verhalten.
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Deswegen müssen wir in diesem Gesetz Anreize dafür schaffen, dass die Unternehmen kooperieren, Anreize, wie etwa in der US-amerikanischen Doktrin des Good Corporate Citizen. Wir müssen sie dazu anhalten, dass sie sich zukünftig rechtstreu verhalten, und wollen mit diesem Gesetz nicht repressiv, sondern präventiv vorgehen.
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Damit wir das am Ende erreichen, müssen wir effektive Compliance-Maßnahmen von den Unternehmen einfordern, sodass die Kooperation am Ende auch gelingen kann. Wir fordern das, sagen aber: Wir belohnen das am Ende auch. Wenn die Unternehmen kooperieren und effektive Compliance-Maßnahmen einführen, dann soll es dafür auch einen Bonus geben;
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das soll bei der Strafzumessung am Ende berücksichtigt werden.
Ich will jetzt noch mal etwas zu den Sanktionen sagen – Sie haben in Ihrem Antrag ja auch was dazu geschrieben –: Natürlich darf es am Ende keine unverhältnismäßigen Sanktionen und auch keine sinnwidrigen Sanktionen geben. Wir wollen auch keinen modernen Pranger, dass also Unternehmen in öffentlichen Registern angeprangert werden, sodass sie möglicherweise schon in einem Verfahrensstadium, in dem sich noch gar nicht herausgestellt hat, ob sie wirklich eine Verfehlung begangen haben, einen Ansehensverlust erleiden.
Deswegen müssen am Ende die Rechtssicherheit und die Praxistauglichkeit dieses Gesetzes sowie vor allen Dingen der ganz wichtige Bereich der Internal Investigations – das gehört mit den Sanktionen zusammen; hier besteht ein immanenter Zusammenhang – im Vordergrund stehen. Wir wollen, dass Unternehmen aufklären, dass sie kooperieren. Dann müssen wir ihnen aber auch als Subjekte des Verfahrens Beschuldigtenrechte geben. Das ist ein Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, des Gebots des Fair Trial. Sie brauchen eine starke Verfahrensstellung.
Dann müssen wir uns auch das anschauen, was das Bundesverfassungsgericht jetzt gesagt hat, dass es nämlich keine Beschlagnahmefreiheit gebe. Die Frage ist, ob das richtig ist.
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Ich glaube, interne Untersuchungen funktionieren am Ende nicht, wenn die Unternehmen Gefahr laufen, dass am Ende die Staatsanwaltschaft kommt und alle Unterlagen beschlagnahmt.
Kommen Sie bitte zum Ende.
Noch einmal: Deswegen ist unser Ziel: Kooperation, Anreize dafür schaffen, Compliance-Systeme honorieren. Dann kann es am Ende eine effektive Maßnahme werden, damit sich Unternehmen rechtstreu verhalten.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner: für die Fraktion der AfD der Kollege Roman Reusch.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man als alter Staatsanwalt hört, dass ein Unternehmensstrafrecht eingeführt werden soll, dann lacht im ersten Augenblick erst mal das Herz. Man denkt sofort daran: Die Nachweisführung ist natürlich wesentlich leichter, wenn ich es mit einem Unternehmen zu tun habe, als wenn ich individuelle Schuld beweisen muss. Aber – Dr. Luczak hat es eben völlig zu Recht erwähnt – dafür müsste man den Gesichtspunkt der persönlichen Schuld aufgeben. Da heißt es: Aufgepasst!
Der Vorschlag hätte aber auch noch weitere Risiken und Nebenwirkungen. Stelle man sich ein großes Unternehmen vor, das eine Riesensauerei angerichtet hat. Dieses Unternehmen ist dann mit massiven Schadensersatzforderungen belastet. Das Image dieses Unternehmens wird in den Keller rauschen. Dementsprechend werden auch die Umsätze sinken. Wenn jetzt noch die von den Linken geforderte drastische Geldstrafe dazukommt, dann kann das so einem Unternehmen schon das Lebenslicht ausblasen. Wer wird dann bestraft? Tausende, unter Zurechnung von Zulieferbetrieben, die damit nichts zu tun haben, aber mit in den Abgrund gerissen werden, vielleicht sogar Zehntausende von Arbeitnehmern.
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Sie werden sich nicht wundern, dass wir diesen Entwurf voraussichtlich ablehnen werden. Wir sind aber auf die fällige Anhörung im Rechtsausschuss gespannt. Bis dahin wünsche ich allen Beteiligten a guats Nächtle.
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Vielen Dank. – Der Kollege Dr. Johannes Fechner hat das Wort für die SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Skandal um die Panama Papers, der Skandal um Cum/Ex oder der Dieselskandal waren Wirtschaftsskandale, die Milliardenschäden angerichtet haben, aber bei denen die Hauptverantwortlichen in der Regel nicht zur Rechenschaft gezogen wurden und bei denen man vor allen Dingen nicht den Eindruck hat, dass die beteiligten Unternehmen ihre Unternehmenspolitik nachhaltig geändert und die Konsequenzen aus diesen Betrügereien gezogen hätten. Das kann nicht so bleiben. Wir müssen Wirtschaftskriminalität deshalb viel effektiver bekämpfen, sonst geht das Vertrauen der Bürger in unsere soziale Marktwirtschaft verloren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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In vielen Ländern, auch in der EU, gibt es schärfere Sanktionsregeln als bei uns. Deshalb hat die SPD zu Recht schärfere Unternehmenssanktionen in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt. Mit dem Gesetzentwurf rechnen wir noch in diesem Jahr.
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Das ist auch notwendig, weil Wirtschaftskriminalität endlich effektiver und nachhaltig geahndet werden muss, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir haben heute eine Bußgeldobergrenze von 10 Millionen Euro. Das ist für viele große Konzerne keine spürbare Sanktion. Deshalb werden wir das verhängbare Bußgeld erhöhen, und zwar deutlich. Die Höhe der Geldbuße wird sich zukünftig an der Wirtschaftskraft orientieren. Bei Unternehmen mit mehr als 100 Millionen Euro Umsatz können bis zu 10 Prozent des Umsatzes als Geldbuße festgesetzt werden. Wenn also ein Unternehmen einen Jahresumsatz von 1 Milliarde Euro macht, dann kann die Geldbuße 100 Millionen Euro betragen. Das sind dann spürbare Sanktionen, die auch tatsächlich die notwendige Wirkung entfalten werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wichtig ist, dass wir das Legalitätsprinzip einführen, also weg vom im Ordnungswidrigkeitenrecht geltenden Opportunitätsprinzip. Das bedeutet, dass die Staatsanwaltschaften und die Behörden zukünftig bei Rechtsverstößen auf jeden Fall ein Ermittlungsverfahren einleiten werden. Auch das ist eine wichtige Neuerung.
Wir hätten uns noch weiter gehende Sanktionen vorstellen können, etwa dass Unternehmen vom Subventionsbezug ausgeschlossen werden oder von öffentlichen Ausschreibungen. Aber immerhin haben wir uns mit der Union darauf einigen können, dass die Rechtsverstöße von Unternehmen und die Sanktionierungen veröffentlicht werden. Auch das wird eine abschreckende Wirkung haben. Sie sehen: Das sind alles wichtige Maßnahmen, die die Wirtschaftskriminalität bekämpfen und damit das Vertrauen unserer Bürger in die soziale Marktwirtschaft wieder stärken werden.
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Wir werden diskutieren, wie wir Unternehmen, die taugliche Compliance-Regelungen haben, einen Vorteil zukommen lassen werden. Es ist zum Beispiel denkbar, dass solche Unternehmen eine geringere Sanktion bekommen werden. Das werden wir auf jeden Fall diskutieren.
In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig, zu sagen: Uns geht es hier nicht darum, alle Unternehmen unter den Generalverdacht krimineller Handlungen zu stellen. Nein, wir wissen, dass die große Mehrheit der deutschen Unternehmen sich an Recht und Gesetz hält. Aber es gibt eben leider auch schwarze Schafe. Genau um die geht es. Die wollen wir kriegen. Die ehrlichen Unternehmen wollen wir mit diesem Gesetz schützen. Es darf nicht sein, dass die Unternehmen ihren Wettbewerbsvorteil, den sie durch Betrug erlangt haben, nutzen dürfen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Den Antrag der Linken werden wir ablehnen. Sie wollen ein Unternehmensstrafrecht einführen und damit einen Paradigmenwechsel im Strafrecht, also nicht nur ein Personenstrafrecht, sondern auch ein Unternehmensstrafrecht. Das kann man diskutieren. Das wäre aber ein sehr grundlegender Schritt. Den wollen wir nicht gehen. Entscheidend ist, dass es schärfere Sanktionen gibt und dass das Legalitätsprinzip gilt. Das werden wir mit unserem Vorschlag, wie wir ihn im Koalitionsvertrag stehen haben, umsetzen.
Sie fordern in Ihrem Antrag eine härtere und weiter gehende Vermögensabschöpfung. Dazu will ich nicht ganz ohne Stolz und mit nicht geringer Zufriedenheit sagen: Das haben wir in der letzten Wahlperiode beschlossen. Das wirkt. Ich nenne etwa das Milliardenbußgeld gegen VW oder die in den Medien nachzulesenden Abschöpfungen bei kriminellen Clans. Das hätte es ohne dieses Gesetz nicht gegeben. Also, da sind wir schon ein gutes Stück weiter.
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Ich komme zum Schluss. Wir sollten Wirtschaftskriminalität bei den schwarzen Schafen unter den Unternehmen effektiv ahnden, damit bei Rechtsverstößen die Geldbußen nicht mehr aus der Portokasse bezahlt werden können. So sichern wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unsere soziale Marktwirtschaft. Das ist ein ganz entscheidender Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Jürgen Martens.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Einführung strafrechtlicher Sanktionierung von Unternehmen wird nun schon eine geraume Zeit diskutiert. Das stellt insofern keine neue Idee dar.
Aber die Annäherung an ein Unternehmensstrafrecht ist fachlich schwierig, schwieriger als in anderen Ländern, etwa mit Blick auf deren Traditionen, deren strafrechtliche Dogmatik, deren Verständnis vom Strafrecht als ein schlichtes Erfolgsstrafrecht. Wir haben in Deutschland ein Schuldstrafrecht, das an das individuelle Fehlverhalten des Täters anknüpft.
Deswegen bedarf die Schaffung eines Unternehmensstrafrechts zunächst der Klärung der Frage: Welches Handeln oder welches Unterlassen wollen Sie denn als so sozial schädlich ansehen, dass es zwingend mit strafrechtlichen Mitteln bekämpft werden muss? Anders gesagt: Wie soll ein solcher Vorschlag mit dem Ultima-Ratio-Prinzip des Strafrechts vereinbar sein? Dazu verlieren Sie kein einziges Wort.
Bei § 30 Ordnungswidrigkeitengesetz bemängeln Sie alleine, dass die Höchstbuße von 10 Millionen Euro zu gering sei.
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Aber mit der Frage, auf welche Höhe man es heraufsetzen könnte, beschäftigen Sie sich erst gar nicht.
Sie führen aus, dass zu wenig Bußgeldbescheide erlassen worden wären, und nennen als Gründe fehlendes Personal bei den Staatsanwaltschaften und fehlendes Spezialwissen.
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Was um Himmels willen soll sich denn an dieser Mangelsituation bei den Staatsanwaltschaften ändern, wenn Sie ein Unternehmensstrafrecht einführen? Gar nichts! Überhaupt nichts wird sich daran ändern. Das nenne ich insofern eine Symbolforderung, meine Damen und Herren.
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Die Schwächen des Antrages liegen auch darin, dass er alleine auf die Sanktionierung von Unternehmen ausgerichtet ist. Das Unternehmen selber kann gar nicht handeln; das haben wir herausgefunden. Die Verantwortlichen sind Menschen. Aber was ist der Grund für strafrechtliche Verfolgung? Das Unterlassen der Organisation von Compliance-Systemen? Eine mangelhafte Überwachung von Handelnden? All das sagen Sie nicht.
Den Boden einer ernsten Diskussion verlässt der Antrag dann endgültig, wenn Sie pauschal die strafrechtliche Sanktionierung nicht näher bezeichneter Menschenrechtsverstöße im Ausland verlangen, meine Damen und Herren. Das alles gipfelt in dem Ruf nach Sanktionen bei „Verfehlungen“. Was um Himmels willen sollen denn „Verfehlungen“ sein?
Sie kennen den Bestimmtheitsgrundsatz in Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes: „Nullum crimen sine lege“ – kein Verbrechen ohne Gesetz. Dieser Grundsatz besagt: Gesetzliche Bestimmungen müssen so gefasst sein, dass der Betroffene seine Normunterworfenheit und die Rechtslage konkret erkennen und sein Verhalten danach ausrichten kann. Die Anforderungen an die Bestimmtheit erhöhen sich mit der Intensität, mit der aufgrund der Regelung in grundrechtlich geschützte Rechte eingegriffen werden kann. Sie wollen hier bis zur Auflösung von Unternehmen gehen; aber die Voraussetzungen dafür erwähnen Sie mit keinem Wort. Anders gesagt: Wenn es darum geht, Unternehmen zu bestrafen, kann Strafbarkeit für Die Linke gar nicht früh genug beginnen.
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Darin liegt die Schwäche des gesamten Antrags: Er ist alleine auf strafrechtliche Sanktionen fixiert. Die Begründung, die dogmatische Herleitung, die Nennung von Tatbeständen oder Ähnliches ersparen Sie sich, meine Damen und Herren. Es handelt sich um Symbolforderungen, und Sie werden sich nicht weiter wundern, wenn ich Ihnen sage: Wir werden dem nicht zustimmen.
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Die Reden der Kollegen Dr. Manuela Rottmann, Dr. Volker Ullrich, Dr. Nina Scheer und Dr. Matthias Heider gehen zu Protokoll,
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sodass ich die Aussprache schließen kann.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7983 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es tut mir leid: Ich kann Ihnen keine elektrisierende Rede halten, auch wenn es um die Stromsteuer geht. Ich weiß, dass die Opposition noch einmal die Gelegenheit nutzen will, die Energiebesteuerung insgesamt zu thematisieren. Ich kann das auch verstehen. Aber was wir hier heute machen, ist eigentlich mehr Handwerk. Will sagen: Der vorliegende Gesetzentwurf hat das Ziel, bestehende ökologische Stromsteuerbefreiungen an das EU-Beihilferecht anzupassen; darum geht es. Fachlich sind sich die Regierungsfraktionen und die Opposition sogar in weiten Teilen einig, was das konkrete Gesetzesvorhaben angeht. Echte Probleme gibt es eigentlich nicht, das heißt, das BMF hat das gut umgesetzt.
Ich will trotzdem kurz ein paar Punkte ansprechen.
Der erste Punkt. Es gibt eine bestimmte Klassifikation der Wirtschaftszweige nach bestimmten Feststellungszeitpunkten und entsprechende Änderungen. Einige Branchen, die nach den Wirtschaftszweigfeststellungen des Jahres 2003 zum produzierenden Gewerbe gehörten, waren bei der Feststellung des Jahres 2008 nicht mehr dabei und umgekehrt. Deswegen haben wir die Bundesregierung darum gebeten, die Frage einer möglichen Umstellung von der WZ 2003 auf die WZ 2008 im Zuge der Auswertung des kommenden Evaluierungsberichtes zu den Subventionen im Energie- und Stromsteuersektor zu prüfen. Das passiert noch in diesem Jahr; da soll es eine entsprechende Prüfung geben.
Der zweite Punkt – auch in der Anhörung spielte das eine Rolle – betrifft das Kriterium der Zeitgleichheit von Stromerzeugung und Stromentnahme für die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung für den Eigenverbrauch. Hier wurde von einigen Sachverständigen die mangelnde gesetzliche Grundlage kritisiert. Wir sind nach Prüfung der Sachlage der Auffassung, dass das kein grundsätzliches Problem rechtlicher Art ist. Es ist eine realitätsgerechte Anforderung, die ungefähre Zeitgleichheit von Produktion und Entnahme nachweisen zu müssen, wenn man die Steuerbefreiung für den Eigenverbrauch in Anspruch nehmen will. Das ist, glaube ich, nach der Durchführungsverordnung zulässig. Damit gibt es auch eine hinreichende rechtliche Grundlage, mit der das Erfordernis durch die Bundesregierung dann auch praxisorientiert und bürokratiearm umgesetzt werden kann.
({0})
Bürokratieabbau ist wirklich eine Kernforderung von uns; das wissen, glaube ich, auch alle.
Drittens. Ein weiteres Thema waren die sogenannten Grünstromnetze. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist für stromsteuerliche Zwecke von einem einzigen Versorgungsnetz auszugehen, das nicht in einzelne Teilnetze aufgespaltet werden kann. Das gibt es aber faktisch eigentlich gar nicht mehr. Es ist daher richtig, dass die Erfordernis eines Grünstromnetzes für eine Stromsteuerbefreiung wegfällt.
Als Letztes zum Thema Bürokratie. Es ist ein permanentes Thema, und der geplante Bürokratieabbau ist ja eben auch durch entsprechende Beifallsbekundungen gewürdigt worden, wofür ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanke.
({1})
Es geht im Kern um Meldepflichten, die sich aus dem EU-Beihilferecht ergeben. Danach fallen kleine Anlagen in Zukunft unter eine allgemeine Erlaubnis, größere Anlagen müssen lediglich einmal gemeldet werden. Das ist, glaube ich, durchaus vertretbar.
Die Opposition will noch einmal die Gelegenheit nutzen – das kann ich auch verstehen –, durch Änderungsanträge hier etwas zu thematisieren. Das hängt ein bisschen damit zusammen, dass das Gesetz suggeriert, es ginge wirklich um große Dinge. Das ist aber nicht der Fall. Die FDP fordert in ihrem Antrag – das muss man tatsächlich hervorheben, Herr Kollege Herbrand – die Absenkung der Stromsteuer auf das EU-rechtliche Mindestmaß, ohne Ausnahme. Das verkennt, dass damit auch die bisherigen Steuerbefreiungen wegfallen würden. Da haben wir also den seltenen Fall, dass die FDP auch mal dafür steht, dass die Steuern für andere erhöht werden.
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Es ist vom Volumen her nicht so bedeutend; aber es ist, sagen wir mal, wichtig genug, um hier erwähnt zu werden.
Ansonsten hat die FDP noch zwei Entschließungsanträge gestellt, mit denen sie weiter gehende Steuerbefreiungen für bestimmte Branchen und Unternehmen fordert. Denen wollen wir nicht folgen.
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Zu guter Letzt: Ja, man kann natürlich fragen – die Grünen tun das, wie ich finde, zu Recht –, ob man jetzt nicht eine grundlegende und umfassende Reform der Energiebesteuerung bräuchte. Wenn man den Klimaschutz ernst nehmen will, kommt man nicht umhin, das derzeitige System der Energiebesteuerung in Richtung einer CO 2 -Besteuerung umzustellen. Ich habe dafür viel Sympathie; aber Kollege Schmidt weiß, dass dieses kleine Gesetz für dieses große Rad eigentlich nicht geeignet ist. Im Übrigen ist die Debatte noch längst nicht abgeschlossen. Der Grundgedanke: „Wir müssen den Ausstoß von CO 2 anders besteuern, anders bepreisen“ ist vielleicht einfach und richtig. Andererseits müssen erneuerbare Energien auch attraktiver werden. Die Idee ist nicht schlecht; aber auf der Grundlage dieses Gesetzes eine gesetzliche Initiative zu verlangen, verkennt, dass es sich um einen hochkomplexen Vorgang handelt, den man sozusagen nicht übers Knie brechen kann.
Also, kurz und gut: Wir haben gutes Handwerk abgeliefert. Ich bedanke mich für die konstruktive Zusammenarbeit beim Koalitionspartner, aber in diesem Falle auch bei der Opposition. Alle haben ordentlich mitdiskutiert; deswegen haben wir ein gutes Ergebnis. Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen.
Herzlichen Dank.
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Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Dr. Bruno Hollnagel.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die damalige rot-grüne Regierung führte 1999 die Stromsteuer in Deutschland ein. Dieser Schritt wurde als Einstieg in die ökologische Steuerreform gefeiert. Damals war das vertretbar. Der Strompreis wurde seinerzeit als zu niedrig angesehen. Heute haben wir Stromhöchstpreise, und trotzdem wird sich an den exorbitant hohen Stromabgaben nichts ändern. Das ist schon absurd.
Wissen Sie aber, was noch viel absurder ist? Die Vorgänge um die Stromsteuerbefreiung im Vorfeld des hier zu behandelnden Gesetzentwurfes. Seit 20 Jahren haben wir jetzt den Zustand, dass bestimmte Stromerzeuger von der Stromsteuer befreit sind. Wir meinen: völlig zu Recht. Doch jetzt kommt das Ungeheuerliche: Gemäß der Rede des Herrn Kollegen Daldrup am 14. März dieses Jahres ging die Bundesregierung proaktiv auf die EU zu, um die Sache prüfen zu lassen – nach 20 Jahren! Das Ergebnis ist, dass nun bei einer ganzen Reihe von Stromerzeugern die Stromsteuerbefreiung als staatliche Beihilfe bewertet wird. Um die Stromsteuerbefreiung beizubehalten, soll nun das vorliegende Gesetz verabschiedet werden. Das führt zu mehr Bürokratieaufwand beim Staat und bei circa 35 000 Stromerzeugern.
Noch mal – um es ganz deutlich zu sagen –: Durch das proaktive Einschreiten der Bundesregierung wird der Staat und werden viele Stromerzeuger zu einem zusätzlichen bürokratischen Aufwand geradezu getrieben,
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Einige Firmen, die bisher steuerbefreit waren, werden zukünftig zahlen müssen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung sollte die Interessen der Bürger wahren, statt ihnen Steine in den Weg zu legen.
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Ich erinnere an die Anhörung im Finanzausschuss. Praktisch alle Sachverständigen beklagten unklare Begriffe und prangerten die zusätzliche Bürokratie an. Es ist nach unserer Meinung die Aufgabe der Bundesregierung, die Interessen unseres Landes und seiner Bürger zu verteidigen, statt ihnen zu schaden.
Neben den genannten Mängeln berücksichtigt das Gesetz nicht die Tatsache, dass heutzutage Strom zu den Grundbedürfnissen gehört. Kochen, der Gebrauch von Handy, Fernsehen, Computer sind ohne Strom undenkbar. Dennoch sollen die Grundbedürfnisse besteuert werden, und das ohne eine angemessene soziale Komponente bei der Stromsteuergestaltung. Das ist verwerflich.
Abschließend zum Antrag der FDP. Er geht in die richtige Richtung, richtig, lässt aber leider eine seriöse Gegenfinanzierung ebenso vermissen wie soziale Komponenten.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hollnagel. – Als Nächster für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Sebastian Brehm.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Neuregelung von Stromsteuerbefreiungen sowie zur Änderung energiesteuerrechtlicher Vorschriften setzen wir zum großen Teil nur das um, was durch die Europäische Union im Rahmen des Beihilfeverfahrens erforderlich wurde. Ohne die heutige Änderung wären Tausende Betreiber von Photovoltaikanlagen steuerpflichtig geworden, und es wäre für wichtige Stromerzeugungsanlagen die Stromsteuerbefreiung ersatzlos weggefallen.
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Deshalb musste hier reagiert werden, es mussten die notwendigen Schritte für eine beihilfekonforme Gesetzgebung eingeleitet werden.
Das haben wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf getan. Wir haben hier schnell gehandelt und haben es vermieden, durch die Gesetzgebung neue Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger, den deutschen Mittelstand und die deutsche Industrie zu erzeugen. Genau das ist eine Vertretung der Interessen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Sie haben leider, Herr Kollege Hollnagel, überhaupt nicht verstanden, wie die Systematik der Stromsteuer hier ist; tut mir leid.
({1})
Die Stromsteuerbefreiung wird künftig auch weiterhin bei Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen gewährt. Dies gilt auch bei Stromerzeugung aus Anlagen mit hocheffizienter Kraft-Wärme-Kopplung zum reinen Energie- und Selbstverbrauch des Betreibers, bei Anlagen über 2 Megawatt – und bei Anlagen unter 2 Megawatt dann, wenn es in einem räumlichen Zusammenhang zu der Anlage an das Unternehmen als Letztverbraucher geleistet wird. Das betrifft vor allem viele kleine kommunale Anlagen.
Im Rahmen der parlamentarischen Behandlung – der Kollege Daldrup hat es gesagt – haben wir drei Punkte zur Ergänzung vorgeschlagen:
Erstens. Wir wollen eine bürokratiearme Regelung für das neue Antragsverfahren, was ja durch die EU vorgeschrieben ist.
Zweitens. Es muss eine Präzisierung der noch ein bisschen unbestimmten Rechtsbegriffe erfolgen: Was ist der Ort der Leistungserbringung? Was ist ein räumlicher Zusammenhang? Was ist zeitgleiche Verwendung? Das wollen wir noch tun.
Ein dritter wichtiger Punkt wurde auch von Ihnen bereits angesprochen, auch in der Anhörung der Sachverständigen: Viele kommunale Betriebe, insbesondere Abfall- und Abwasserbetriebe, werden durch die Klassifikation der Wirtschaftszweige – unter Bezugnahme auf WZ 2003 – nicht von der Stromsteuer befreit, auch wenn sie einen wichtigen Beitrag für den Umstieg auf erneuerbare Energien leisten. Deswegen werden wir im Sommer, wenn der Evaluationsbericht zu den gewährten Subventionen bei Energie- und Stromsteuer vorliegt, noch mal entsprechende Gespräche führen bzw. aufnehmen, um diese Fragen zu klären. Dies wurde im Verlauf des Verfahrens miteinander besprochen und auch so festgehalten, und wir sind froh, dass wir hier im Sommer 2019 nochmals Ergebnisse erzielen können.
Im Rahmen der Diskussion wurde vor allem von der FDP und von den Grünen eine grundsätzliche Debatte zur Reform des Energie- und des Stromsteuerrechts angestoßen. Die FDP spricht sich für eine Absenkung der Stromsteuer aus. Das würde dazu führen, dass wir allgemeine Steuern erhöhen müssten.
({2})
Sie haben schon darauf hingewiesen.
Die Haltung der Grünen verstehe ich nicht, weil Sie es waren, die das Gesetz 1999 eingeführt haben.
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Die Gesetzgebung 1999 ist ja mit Ihrer Mehrheit damals gegen den Widerstand der Union eingeführt worden. Der einfache Fakt, der dadurch erreicht worden ist: Die Strompreise sind durch Ihre Gesetzgebung eklatant gestiegen.
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Jetzt fordern Sie erneut, liebe Kolleginnen und Kollegen – übrigens neben der Enteignung von Wohnungseigentümern –,
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eine weitere Belastung der Wirtschaft. Das ist wieder ein Beispiel grüner Verbotspolitik; Sie werden gleich in Ihrer Rede darauf zu sprechen kommen.
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Mit uns ist das so nicht zu machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir können die Debatte über eine sinnvolle Strombesteuerung oder eine sinnvolle Energiebesteuerung gerne führen. Aber wenn wir darüber diskutieren, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, dann machen wir das nach CDU/CSU-Manier durch eine vernünftige und ausgewogene Anreizpolitik, aber nicht mit Verboten, wie Sie es fordern. Keine Verbote, sondern Angebote!
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Wir wollen nicht, dass wieder ein Gesetz à la 1999 kommt, das unvernünftig ist und zu weiteren Belastungen für Unternehmen, zu weiteren Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger und zu weiteren Belastungen für die Mieterinnen und Mieter führt. Deswegen wollen wir mit Ihnen in eine vernünftige Debatte eintreten, und da können wir gerne an anderer Stelle diskutieren.
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Heute stellen wir die Beihilfekonformität her. Wir schließen die Gesetzgebung ab, sodass alle wieder die Stromsteuerbefreiung in Anspruch nehmen können. Das ist heute Beratungsgegenstand; es ist keine grundsätzliche Debatte.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Brehm. – Als nächste Rednerin erhält die Kollegin Sandra Weeser für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Hier im Bundestag und auch in den Medien wurde in den letzten Wochen intensiv über das Thema Energie- und Strompreise gestritten. Ich will vorweg eines sagen: Wenn ich die Kommentare zu den hohen Strompreisen aus den Reihen der Koalition höre – gerade auch noch mal den Kommentar von Herrn Daldrup –, dann beweist mir das, dass Sie eigentlich gar nichts verstanden haben. Uns geht es hier um Entlastung.
({0})
Das gilt auch für die Kommentare der SPD in der Aktuellen Stunde letzte Woche zu dem Tohuwabohu, von dem vor allem auch Menschen mit geringem Einkommen betroffen sind. Wenn Ihnen dazu nichts Besseres einfällt, als das auch noch zu belächeln, dann tut es mir um die Sozialdemokratie wirklich leid,
({1})
und dann brauchen Sie sich auch nicht zu wundern. Hier geht es um eine soziale Frage, und die erkennen und adressieren wir auch. Von Ihnen würde ich mir das auch wünschen.
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Wir kommen doch alle zu der Feststellung, dass die Strompreise in Deutschland viel zu hoch sind; wir haben es gerade von allen gehört. Das ist der größte Hemmschuh für den Mittelstand. Reden Sie mal mit den Unternehmen in Ihrem Wahlkreis! Hören Sie mal, was die Ihnen erzählen! Die Unternehmen sagen mir ganz klar: Wenn die Strompreise weiter steigen, dann müssen wir gehen.
Und reden Sie mal mit Mietern über Nebenkostenabrechnungen! Hier muss etwas passieren, meine Damen und Herren. Die Verbraucher zahlen einen viel zu hohen Preis, und die mittelständischen Unternehmen hier verlieren im Wettbewerb.
({3})
– Ja, aber ich muss es anscheinend wiederholen. Sie haben es ja nicht verstanden.
Ich denke, der Vorschlag der FDP-Fraktion, die Stromsteuer so weit wie möglich abzusenken
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– lassen Sie mich doch mal zu Ende reden! –, ist wirklich sinnvoll und notwendig, zumal CDU, CSU, SPD, Grüne und Linke das teilweise auch vertreten. Lassen Sie also Ihren eigenen Worten mal Taten folgen, und stimmen Sie unserem Antrag zu!
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Unser Vorschlag ist – im Gegensatz zu den Aussagen von Herrn Brehm – auch finanziell gut darstellbar. Denn wenn wir die Ausweitung des Emissionshandels auf weitere Sektoren vorantreiben, dann steigen die Einnahmen; dies gleicht die Mindereinnahmen durch die Absenkung der Stromsteuer aus. Das würden wir auch erst ab 2021 machen, wenn wir den Soli dann auch abgeschafft haben.
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Das Ganze reiht sich ein in unsere Forderungen nach mehr Wirtschaftlichkeit in der Energie- und in der Klimapolitik. In diesem Zusammenhang freut es mich wirklich, wenn die Union hier ein Umdenken vorantreibt, wenn es um den Emissionshandel geht. Die Bundeskanzlerin hat uns ja gestern – ganz aktuell – Hoffnung gemacht, dass der Ansatz der Grünen und auch der Umweltministerin verworfen wird, die Klimaziele sektorspezifisch zu betreiben.
Wir Freien Demokraten treten auch dafür ein, die Belastung auf Strom zu senken und CO 2 überall zu bepreisen. Das erleichtert nämlich dann auch die Sektorenkopplung, die wir für eine ganzheitliche Energiewende brauchen.
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Insgesamt kann die Absenkung der Stromsteuer allerdings nur der erste Schritt sein. Deswegen fordern wir die Bundesregierung dazu auf, sich auf EU-Ebene für die Möglichkeit zur Abschaffung der Stromsteuer in Gänze einzusetzen. Die Stromsteuer hat ihre Legitimität längst verloren. Sie hat keine Lenkungswirkung mehr; vielmehr behindert sie dort, wo Innovationen möglich sind.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Stimmen Sie unserem Antrag zu! Es lohnt sich.
Danke schön.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin Weeser. – Der Kollege Jörg Cezanne, Die Linke, hat seine Rede zu Protokoll gegeben. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Stefan Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
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Guten Abend! Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschland wird seine verbindlichen Klimaziele 2020 nicht erreichen. Das ist bitter, und es ist verantwortungslos gegenüber den nachfolgenden Generationen.
Was wir jetzt brauchen, das sind große Reformen, und zwar solche, die wirklich eine Lenkungswirkung entfalten und effektiv darauf hinwirken, dass wir unsere Klimaziele erreichen. Was wir im Finanzbereich brauchen, ist eine grundlegende Reform der Energiepreise. Es ist höchste Zeit für einen CO 2 -Preis. Mit Verboten hat das überhaupt nichts zu tun, Herr Brehm.
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Mit dem Gesetzentwurf, den sie vorgelegt hat, hat die Bundesregierung die Chance auf solch eine grundlegende Reform vertan. Die Stromsteuerbefreiungen sind jetzt zwar wieder mit dem EU-Beihilferecht vereinbar. Aber gleichzeitig schafft die Koalition mit der neuen Erlaubnispflicht zusätzliche Bürokratie, und zwar für alle: für die Betreiberinnen und Betreiber von kleinen und großen Anlagen zur Gewinnung erneuerbarer Energien und auch für die Finanzverwaltungen. So viel zu Ihrem Ziel, Bürokratie abbauen zu wollen.
Die Bundesregierung hat auch die Chance vertan, für durchgehende Rechtssicherheit zu sorgen. Schon heute gibt es im Stromsteuergesetz unklare Rechtsbegriffe – das wurde hier schon angesprochen –, die verunsichern und zu Rechtsstreit führen. Diese Unklarheiten werden nicht aufgelöst. Wozu haben wir denn eine Anhörung gemacht, in der alle Experten einstimmig gesagt haben: „Da müssen wir nachbessern, da gibt es unklare Stellen“? Nichts wurde getan, weder vonseiten der Bundesregierung noch vonseiten der Koalitionsfraktionen.
({1})
– Ich war in der Anhörung dabei. Wenn Sie es nachlesen wollen, dann können Sie das auch tun.
Das Gesetz ist mal wieder ein Paradebeispiel: Reagieren statt Agieren, Verwalten statt Gestalten.
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Eines muss doch klar sein: Mit mehr Klimaschutz hat der Gesetzentwurf gar nichts zu tun.
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Die SPD, Herr Daldrup, hat öfter mal von der Pflicht gesprochen, die man erfülle statt der Kür. Damit suggeriert die Koalition, dass mit Klimaschutz und CO 2 -Reduktion noch gewartet werden könne. Ganz im Gegenteil: Wir müssen jetzt etwas für den Klimaschutz tun.
({4})
Wann beginnen wir endlich, die Netzentgelte, die Abgaben, die Umlagen, die Steuern auf Strom und Energie zu überarbeiten? Wann wird endlich ein CO 2 -Preis eingeführt?
Herr Brehm, Sie haben es angesprochen: Ihr Wirtschaftsminister ist es, der blockiert. Er fährt in die Schweiz, schaut sich die CO 2 -Bepreisung an, lobt, wie das dort gemacht wird, kommt zurück – und macht nichts. Das ist grundlegend falsch.
({5})
Da müssen wir endlich ran, so schnell wie möglich, damit wir wenigstens unsere Klimaziele 2030 erreichen.
Wir Grünen haben mit unserem Entschließungsantrag den Anfang dafür gemacht. Wenn Sie das unterstützen, könnten Sie hier etwas Gutes für den Klimaschutz tun.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vielen Dank, Herr Kollege Schmidt. – Der Kollege Dr. Hermann-Josef Tebroke, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben. – Damit schließe ich die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 16 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuregelung von Stromsteuerbefreiungen sowie zur Änderung energiesteuerrechtlicher Vorschriften. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/9297, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/8037 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung in zweiter Beratung gegen die Stimmen der AfD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen der FDP, der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen
({0})
– das habe ich doch gerade gesagt, Herr Kollege Theurer; Aufmerksamkeit zahlt sich aus – mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Gesetzentwurf in der dritten Beratung und Schlussabstimmung gegen die Stimmen der AfD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion der FDP, der Fraktion Die Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/9301. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist dieser Entschließungsantrag gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 16 b. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 19/9297 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/8268 mit dem Titel „Stromsteuer senken – Bürger entlasten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion der FDP bei Enthaltung der Fraktionen der AfD und der Linken mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses angenommen.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Modernisierung und Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung ist ein wichtiges Anliegen, das in Deutschland leider viel, viel zu lange verschlafen wurde.
({0})
– Es ist so; da kann man auch mal klatschen.
Eine elementare Bedingung für die Onlinenutzung von Verwaltungsdienstleistungen ist natürlich, dass die Nutzer sich online authentifizieren bzw. ausweisen können. Schon vor Jahren wurde aus diesem Grund der neue Personalausweis mit der eID-Funktion entwickelt. Er war zur Zeit seiner Entwicklung ziemlich modern. Heute wirkt die Idee des dazu notwendigen Lesegerätes aber schon wieder seltsam aus der Zeit gefallen.
Nur wenige Bürgerinnen und Bürger nutzen diese eID-Funktion in der Praxis. Laut dem E-Government-Monitor der Initiative D21 haben nur 22 Prozent der Nutzer bei ihrem Personalausweis die eID freigeschaltet, und nur 6 Prozent der Befragten besitzen auch so ein Lesegerät und könnten damit zumindest theoretisch die eID zur Authentifizierung nutzen. So bleibt auch der Anteil derer, die die digitalen Services der Verwaltung nutzen, auf sehr niedrigem Niveau.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen sind die Angebote viel zu wenig bekannt; denn es wird leider keine Werbung dafür gemacht. – Kollegen, wenn Sie sich unterhalten wollen, dann gerne draußen. Hallo?
({1})
Wenn der Präsident das nicht – –
Frau Kollegin, ich sehe das auch so. Aber nicht alles, was Sie stört, ist eine Störung.
Alles gut. Ist alles eine Frage der Lautstärke.
Es wäre trotzdem schön, wenn man der Rednerin mehr Aufmerksamkeit schenkt, auch zu so später Stunde.
Wenn man schon da ist.
({0})
Also, zum einen fehlt es an Werbung, und es fehlt an Informationen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Deswegen sind unsere Angebote, die wenigen Angebote, die wir bereits digital anbieten, viel zu wenig bekannt. Zum anderen sind die Angebote zu wenig am Nutzer und an seinem Nutzen orientiert. Es fehlt nicht nur an schicken Front-Ends, sondern oft kann man sein Anliegen gar nicht durchgängig online erledigen und muss dann doch noch persönlich erscheinen. Der digitale Weg müsste schon bequemer, schneller oder wenigstens kostengünstiger sein; sonst kann ich ja gleich aufs Amt gehen.
Bund und Länder haben sich mit dem Onlinezugangsgesetz ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Bis 2022 sollen alle relevanten Leistungen der öffentlichen Verwaltung digital angeboten werden. In Digitallaboren wird jetzt mit Nutzerinnen und Nutzern gemeinsam entwickelt, wie so eine Anwendung eigentlich aussehen muss, damit sie auch genutzt wird; denn dazu soll sie ja da sein.
Um auch bei der Authentifizierung vorwärtszukommen, hat die Koalition in der vergangenen Legislatur dafür gesorgt, dass der Personalausweis jetzt automatisch mit der eID ausgeliefert wird, wenn der Bürger oder die Bürgerin eben nicht ausdrücklich widerspricht; das war früher andersrum.
Für die aktuelle Legislatur haben wir uns vorgenommen, den elektronischen Personalausweis jetzt zu einem universellen, zu einem sicheren, mobil und vor allem ohne zusätzliche Hardware einsetzbaren Identifizierungsmedium zu machen, also zu einem smarten Perso – entsprechende Projekte sind im Gang –, sodass wir den Antrag der FDP-Fraktion als Bestätigung dieser Vorgehensweise zur Kenntnis nehmen.
({1})
Auch uns kommt es natürlich darauf an, mit den Services unserer Verwaltung der Lebenswirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger entgegenzukommen, die den Personalausweis mit ihrem Smartphone benutzen wollen und nicht mit altertümlichen Lesegeräten. Viele Smartphones bieten mit der sogenannten NFC-Schnittstelle schon eine Erkennung des Ausweises an. Doch während bei Android-Smartphones diese Schnittstelle serienmäßig freigegeben ist, weigert sich Apple bisher, diese Schnittstelle zu öffnen. Das kann ich nicht nachvollziehen.
({2})
Ich frage mich, ob wir Zwangsmaßnahmen auf den Weg bringen müssen, bevor sich das Unternehmen an der Stelle bewegt.
Der Antrag der FDP-Fraktion zum Smart Perso enthält in der Analyse viel Wahrheit, beschwört aber leider ein Stück weit auch die Vergangenheit und blendet die aktuelle Entwicklung aus.
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Die in früheren Legislaturen verschlafene Modernisierung der Verwaltung ist mit dem OZG nicht nur auf einem ambitionierten, sondern auch auf einem guten Weg.
Auch zur mobilen Authentifizierung und zu einem multifunktionalen Bürgerkonto hat die Bundesregierung schon mit der Arbeit begonnen und eigene Projekte gestartet. Allerdings ist die eID in ihrer bisherigen Form an den Besitz eines Personalausweises gebunden. Es gibt die eID nur in Verbindung mit dem Personalausweis. Damit sind EU-Bürger – und davon leben nicht wenige in Deutschland – von der Nutzung ausgeschlossen. Natürlich wollen wir die staatlichen Leistungen, die wir jetzt modernisieren und digitalisieren, möglichst vielen Menschen in Deutschland zugänglich machen. Wir wollen deshalb eine eID-Karte für Bürger schaffen, die kein Ausweisdokument, aber ein Authentifizierungsmittel ist.
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Übrigens können auch deutsche Staatsbürger, die im Ausland leben, E-Government-Leistungen nicht nutzen, weil eine Auslandsadresse nach gegenwärtiger Rechtslage nicht in den Personalausweis aufgenommen werden kann.
Der vorliegende Gesetzentwurf will diese Hindernisse nun beseitigen; das ist im Sinne der Gleichbehandlung natürlich rundum zu begrüßen.
Als ich meinen neuen Personalausweis vor einigen Jahren bei der Gemeinde abgeholt habe – mit freigeschalteter eID selbstverständlich –, hat mich die Mitarbeiterin der Verwaltung gleich gewarnt, das sei aber gefährlich. Ich würde mir natürlich wünschen, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der öffentlichen Verwaltung von den Leistungen des Staates einigermaßen überzeugt sind und deshalb auch dafür werben.
Aber unabhängig davon muss man natürlich sagen: Das Vertrauen in die Sicherheit unserer E-Government-Anwendungen spielt schon eine sehr, sehr wichtige Rolle in der Frage, ob die Bürgerinnen und Bürger sie auch annehmen. Dazu gehören Datenschutz und Sicherheit, und dazu gehört natürlich auch die Sicherheit der Authentifizierung. Gerade als Mittel zur Onlineauthentifizierung müssen wir den Personalausweis gegen Missbrauch und gegen Datenklau sichern. Von europäischer Seite ist dazu die Speicherung von Fingerabdrücken auf den Ausweisdokumenten angedacht, und weil es ganz, ganz sicher sein soll, will man die Bürger zur Speicherung ihrer Fingerabdrücke verpflichten. Das ist zum einen in meinen Augen –
Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
– verfassungsrechtlich hochproblematisch.
({0})
Die Pflicht, Fingerabdrücke zu speichern, würde einen schwerwiegenden Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger darstellen. Zum anderen aber ist es ein Irrglaube –
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
– ja –, dass die Fingerabdrücke tatsächlich zur Sicherheit beitragen. Fingerabdrücke nämlich – –
Ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen, Frau Kollegin.
({0})
– Sie haben die Redezeit überschritten, und zwar deutlich.
Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Christian Wirth, AfD-Fraktion.
({1})
Herr Kollege Wirth, bevor Sie anfangen, möchte ich Sie darauf hinweisen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir zu so später Stunde noch Besuch auf der Tribüne haben: Kollegen aus Liechtenstein, die mit uns heute die 300-jährige Staatlichkeit des Fürstentums begangen haben.
({2})
Herr Präsident! Werte Kollegen! Bevor man damit anfängt, elektronische Ausweispapiere und ihre Funktionalität großzügig in Europa zu verteilen, sollte man vielleicht erst einmal überlegen, warum die Deutschen sich schon nicht mit diesem System anfreunden können. 2018 haben weniger als 10 Prozent aller Deutschen überhaupt eine Onlinefunktion einer Behörde in Anspruch genommen, und die deutliche Mehrheit aller Besitzer eines entsprechenden Ausweises hat die Onlinefunktion nicht einmal aktiviert.
Könnte es vielleicht daran liegen, dass das Identifikationsverfahren mit Karte und Lesegerät eine doch außerordentlich analoge Lösung für ein digitales Verfahren ist, das schon längst von den technischen Möglichkeiten und Gewohnheiten der Bevölkerung weit entfernt ist? Und wenn Sie jetzt mit der Ausweis-App auf dem Smartphone kommen: Schauen Sie einfach in die Kundenrezensionen – oder besser nicht; sonst fangen Sie dort auch noch an zu zensieren.
An dieser Stelle geht der Antrag der FDP sicherlich in die richtige Richtung: Das Smartphone als modernes Allzweckwerkzeug hat großes Potenzial für die Vereinfachung der Behördengänge und Einsparungen in der Verwaltung, wenn die Bürger das Vertrauen in die Sicherheit und Privatsphäre der Technologie haben.
Allerdings würde ich von dieser Bundesregierung hier nicht viel erwarten, die das Neuland Internet zwar schon entdeckt, aber kaum erkundet hat. Wen funktionierende Segelschiffe und Flugzeuge vor eine schier unüberwindbare Herausforderung stellen, den sollte man nicht mit der Technologie des 21. Jahrhunderts belasten.
({0})
Was den Gesetzentwurf der Bundesregierung angeht, kann ich genau einen positiven Punkt feststellen: Das ist der Eintrag eines Wohnsitzes im Ausland auf dem deutschen Personalausweis. Gerade für die im Ausland lebenden Deutschen wäre ein dadurch ermöglichter Zugang zu Behördendienstleistungen eine deutliche Verbesserung.
Warum wir allerdings eine komplett neue Infrastruktur mit einer komplett neuen Identifikationskarte für EU-Bürger und Staatsbürger weiterer Vertragsstaaten brauchen, erschließt sich uns nicht, vor allem wenn man an Kosten und Nutzen denkt.
({1})
In der Problembeschreibung zum Gesetzentwurf wird festgestellt, dass deutsche Staatsbürger den elektronischen Ausweis und Ausländer mit Aufenthaltsrecht den entsprechenden elektronischen Aufenthaltstitel schon haben. Warum es ein Problem darstellt, dass sonstige Nichtstaatsbürger kein deutsches elektronisches Ausweispapier besitzen, wird mit keinem Wort erklärt.
Ein Problem, das Sie nicht benennen können, wollen Sie mit einer Lösung bekämpfen, die schon in Deutschland kaum einer haben will. Gut, Sie schreiben in der Tat, dass Sie weitere Bereiche erschließen wollen, öffentlich und privat. Sie schaffen sich also erst einmal einen internationalen Kundenstamm und liefern dann das Angebot. Kindergeld hierhin, Aufenthaltstitel dahin – wer weiß, was man bald mit ein paar Klicks aus aller Welt beim internationalen Sozialleistungsversand BRD alles bestellen kann.
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Gleichzeitig geht es wieder einen deutlichen Schritt in Richtung EU-Staatsbürgerschaft. Sie versuchen, mit Verwaltungsakten zu schaffen, wofür es in Wahrheit Jahrhunderte der Geschichte und Kultur braucht: ein Staatsvolk, das die EU nicht hat.
Digitalisierung und Vereinfachung von Behördengängen: gerne. Einen EU-Personalausweis lehnen wir aber definitiv ab.
Vielen Dank.
({3})
Der Kollege Höferlin, FDP-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben. Die Kollegin Akbulut, Die Linke, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.
Als Nächster redet zu uns der Kollege Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Guten Abend! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon der elektronische Personalausweis war aufgrund seiner unzureichenden IT-Sicherheit – wir haben darüber hier häufiger geredet – ein absoluter Flop. Die Bürgerinnen und Bürger vertrauten ihm nicht – evangelisch aus gutem Grund. Während nämlich die Bundesregierung die vermeintlich so sicheren Zertifizierungslesegeräte ausgab, warnte das BSI – die eigene Behörde des Innenministeriums – vor den eklatanten Sicherheitslücken ebendieser Geräte.
Deswegen kann man nur sagen: Wer so agiert, der gefährdet die Datensicherheit der Bürgerinnen und Bürger,
({0})
der vergibt die großen Chancen im Bereich des E-Government, und der sorgt dafür, dass Vertrauen in neue Onlinedienstleistungen eben nicht entsteht, und das, obwohl Vertrauen in Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit das Fundament für die Entwicklung ist, die wir brauchen, meine Damen und Herren.
({1})
Das Vorgehen der Großen Koalition beim E-Perso ist leider exemplarisch und steht in einer ganzen Reihe gescheiterter IT-Projekte, Großprojekte, bei denen man genau in diesem wichtigen Bereich der IT-Sicherheit fünf hat gerade sein lassen. Auch bei der De-Mail wurden alle Sicherheitsbedenken in den Wind geschlagen; es wurde leider über Jahre auf eine durchgehende Ende-zu-Ende-Verschlüsselung verzichtet. So ist auch dieses Projekt phänomenal gefloppt. Doch statt aus den Lehren Konsequenzen zu ziehen, die bisherige E-Government-Politik zu überdenken und konsequent auf Sicherheit zu setzen und damit zu überzeugen, Herr Krings, haben Sie die Bürgerinnen und Bürger zur Nutzung der Onlinefunktion des Persos – die Kollegin Esken hat es eben angesprochen – verpflichtet. Zwangsbeglückung statt Überzeugung, so geht es eben nicht, meine Damen und Herren.
({2})
Während Sie also den Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern die Verpflichtung vorschreiben, wollen Sie nun für EU-Bürger erneut eine freiwillige elektronische Identitätskarte einführen. Wer soll diesen Zickzackkurs verstehen? Parallel zu alldem machen Sie biometrische Daten in allen EU-Ausweisen zur Pflicht. So erhöht man keine Sicherheit. Ganz im Gegenteil: So schafft man neue Risiken.
({3})
Vor diesem Hintergrund ist der Antrag der FDP zum Smart Perso grundsätzlich sehr begrüßenswert; denn er hat die sehr lobenswerte Intention, kryptografische Verfahren in die breite Masse hineinzutragen, und das ist auch dringend nötig. Vielen Dank dafür.
({4})
Leider findet sich jedoch kein Wort zu den ja auch von Ihnen – unter anderem vom geschätzten Kollegen Schulz – genannten Initiativen zur IT-Sicherheit, und deswegen ist uns der Antrag an dieser Stelle etwas zu dünn.
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Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Es ist klar: Wir hinken in Deutschland beim E-Government hinterher. Das ist traurig. Wir müssen dringend aufholen. Das geht nur, –
Herr von Notz, bitte!
– wenn wir durch Sicherheit überzeugen.
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben. Deshalb schließe ich die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 18 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Karte für Unionsbürger und Angehörige des Europäischen Wirtschaftsraums mit Funktion zum elektronischen Identitätsnachweis sowie zur Änderung des Personalausweisgesetzes und weiterer Vorschriften. Der Ausschuss für Inneres und Heimat empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/9078, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/8038 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der AfD-Fraktion, der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dann stelle ich fest, dass auch in der dritten Beratung und Schlussabstimmung der Gesetzentwurf mit den Stimmen von CDU/CSU-Fraktion und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der AfD-Fraktion, der Fraktion der FDP, der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist.
Tagesordnungspunkt 18 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat zu dem Antrag der FDP mit dem Titel „Smart Perso – Personalausweis auf dem Handy“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/9291, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/8265 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion der AfD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der SPD angenommen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich vor, es gäbe eine neue Möglichkeit, Brustkrebs so früh zu erkennen, dass er noch gut behandelbar ist. Es könnte so viel Leid erspart werden.
({0})
Die gute Nachricht ist: Das gibt es schon, aber nur in wenigen Arztpraxen. Ein Sozialunternehmen aus Mülheim an der Ruhr bildet sehbehinderte Frauen darin aus, kleinste Gewebeveränderungen zu ertasten. Das könnte flächendeckend Wirklichkeit sein und Leben retten. Der besondere Tastsinn dieser Frauen mit Sehbehinderung ist aber nichts, was der Markt abfragt, sondern das ist etwas, was sozial gefördert werden muss.
Ein zweites Beispiel. Ein Unternehmen aus Konstanz vermittelt ehrenamtlich Datenanalystinnen und -analysten, die in gemeinnützigen Organisationen, von den Pfadfindern bis zum Sportverein, dafür sorgen, dass Prozesse effizienter gestaltet, Zielgruppen besser kennengelernt und Ressourcen besser genutzt werden können. Data Volunteering nennt sich das und ist, wie ich finde, eine unglaublich gute und wichtige Idee.
Ganz ähnlich sieht es bei vielen anderen Social Entrepreneurs aus. Es gibt so viele Ideen, so viel Potenzial. Aber warum wird das nicht ausgeschöpft? Social Start-ups machen inzwischen 38 Prozent der deutschen Gründerlandschaft aus. Ashoka und McKinsey schätzen das finanzielle Potenzial von Sozialunternehmen auf 18 Milliarden Euro pro Jahr. 50 Prozent der Gründerinnen und Gründer sind Frauen.
Im Koalitionsvertrag haben Sie in Aussicht gestellt, die Sozialunternehmen besser zu fördern. Aber es ist bislang nichts passiert. Also bitte: Wachen Sie endlich beim Thema Social Entrepreneurship auf! Hier muss etwas getan werden.
({1})
Doch leider ist es so, dass die Social Entrepreneurs selbst Ihnen die Note 4,6 geben. In der Schule bedeutet das: durchgefallen. Für den Bereich Gründungsstandort geben sie Ihnen die Note 4,4. Liebe Bundesregierung, wenn Sie die Unternehmerinnen und Unternehmer in diesem Bereich fragen, dann sagen sie zu Ihnen: Sie sind durchgefallen.
Wir müssen noch etwas tun. Wir brauchen bessere Rahmenbedingungen. Wir brauchen zum Beispiel Finanzierungsmodelle jenseits des klassischen Denkens. Nicht alles, was sozial ist, lohnt sich in der klassischen Finanzwelt, aber es lohnt sich für die Gemeinschaften. Hier müssen wir ansetzen.
({2})
Lassen Sie uns eine Strategie für soziale Innovationen schaffen. Lassen Sie uns unter Federführung eines Staatssekretärs oder einer Staatsekretärin im Wirtschaftsministerium einen Schwerpunkt auf das Gemeinwohl legen und nicht nur auf die Interessen von Konzernen und Industrie.
({3})
Natürlich brauchen wir auch spezielle Finanzierungsmodelle. Denn was bringt die beste Idee, wenn sie niemand finanzieren will? Das ist leider ein Denken, das in Deutschland sehr verbreitet ist. Gehen Sie nach Schweden, in die Niederlande oder nach Frankreich: Überall gibt es entsprechende Förderung in ausreichendem Maße, nur bei uns nicht. Wir müssen hier wirklich etwas tun.
({4})
Wir haben in unserem Antrag sehr konkrete Vorschläge unterbreitet. Analog zum High-Tech Gründerfonds brauchen wir zum Beispiel einen „matching fund for social investing“ – so etwas gibt es zum Beispiel in Schweden –, damit auch diejenigen, die soziale und ökologische Ideen haben, die Möglichkeit haben, vor potenziellen Investoren zu pitchen. Bitte fördern Sie so etwas.
({5})
Wir müssen auch den Gründungszuschuss der Arbeitsagenturen verändern, damit Menschen, die gründen wollen, auch bei Sozialunternehmen einsteigen können. Auch das ist nicht Teil Ihrer derzeitigen Strategie.
({6})
Auf internationaler Ebene sieht es so aus, dass sich Deutschland laut World Economic Forum auf Platz 34 von 45 Ländern befindet. Das heißt, wir liegen weit hinten. Dagegen könnte man mehr tun. Social Start-ups brauchen verlässliche Strukturen. Sie brauchen eine feste Anlaufstelle. Sie brauchen finanzielle Unterstützung. Auch die Wohlfahrtsverbände haben in einer gemeinsamen Erklärung betont, dass sie Innovationen in diesem Bereich stärken wollen.
Wir reden doch so oft über die Digitalisierung und darüber, dass wir sie gemeinwohlorientiert, ökologisch und sozial gestalten wollen. Dann sollten wir aber wirklich auch diejenigen unterstützen, die das konkret tun, und das sind die Unternehmerinnen und Unternehmer im sozialen Bereich. Das sind fast 50 Prozent derjenigen, die im Start-up-Bereich unterwegs sind. Das sind viele Frauen. Das sind Menschen, die etwas tun für unser Land. Bitte helfen Sie ihnen, damit hier etwas passiert.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege Janecek. – Der Kollege Jan Metzler, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede – vorbildlich – zu Protokoll gegeben.
Als nächster Redner kommt der Kollege Bernd Westphal, SPD-Fraktion, an die Reihe, der vielleicht die Frage des Kollegen Hampel gleich mit beantworten kann, nämlich was Social Entrepreneurship eigentlich ist.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um das aufzugreifen, was der Präsident eben gesagt hat: Es geht um soziales Unternehmertum.
({0})
Ich finde gut, dass wir hier über das Thema diskutieren. Es geht um Sozialunternehmer, die verantwortungsvoll einen Beitrag für unsere Gesellschaft leisten.
({1})
– Ich brauche keine Nachhilfe von Ihnen. Sie hätten hier ja einen Wortbeitrag abgeben können. Das haben Sie aber nicht gemacht. Sie haben es nicht verstanden. Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich mit dem Thema intensiv auseinanderzusetzen.
({2})
Heute Abend diskutieren wir über einen wichtigen Beitrag für unsere Gesellschaft. Ich mache keinen Hehl daraus, dass wir als SPD-Fraktion schon die Erwartung hatten, Herr Hirte, dass das Wirtschaftsministerium mehr macht. Ich glaube, dann wären wir in vielen Bereichen schon weiter. Wir haben eine entsprechende Passage in den Koalitionsvertrag reinverhandelt, weil wir einiges erwarten. Wir haben vor allem dafür gesorgt, dass das Thema „soziale Innovationen“ Eingang fand, weil es umfassender gedacht werden muss. Das greift der Antrag der Grünen nicht auf. Hier geht es nur um die Finanzierung. Das ist eine Stellschraube, die sicherlich wichtig ist und auf die man sich fokussieren sollte, aber das ist nicht ausreichend. Wir hingegen plädieren für einen grundsätzlichen Wandel hin zu einer sozialen Innovationspolitik. Im Kern geht es dabei darum, den Menschen mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt zu stellen, Profite in sozialen Mehrwert zu verwandeln und spürbare Verbesserungen für die Lebenswelt zu erreichen.
({3})
Unser herkömmliches, einseitiges – weil nur an der Technologie- und Angebotsseite ausgerichtetes – Innovationsverständnis schränkt unsere Lösungsmöglichkeiten ein. Angesichts zukünftiger Herausforderungen sind kreative und beteiligungsorientierte Wege richtiger. Grundlage dafür sind Innovationen, also Produkte, Dienstleistungen und Prozesse, durch die soziale, ökologische und gesellschaftliche Probleme gelöst werden können. Ideen dafür können Sozialunternehmer, aber auch öffentliche und zivilgesellschaftliche Akteure generieren. Daher verfolgen wir einen breiteren Ansatz. So stellt sich die Frage, wie beispielsweise die Idee der genossenschaftlichen Organisation und Strukturen im Zeitalter der Digitalisierung übertragen werden kann. Dennoch teile ich die Forderung, Sozialunternehmer zu stärken; denn sie leisten einen wertvollen Beitrag für unsere Gesellschaft.
Wenn es aber um die Gründung solcher Unternehmen geht, stellt man fest, dass Finanzierungen oft unzureichend organisiert sind, sodass die Unternehmen durch das Raster fallen. Deshalb brauchen wir auf jeden Fall eine Verbesserung. Das Problem ist, dass sich der potenzielle gesellschaftliche Mehrwert nicht in Geld ausdrücken lässt. Aufgrund dieser Prämisse müssen wir dafür sorgen, dass Genossenschaften und gemeinnützige GmbHs genauso Anerkennung und entsprechende Kapitalausstattung finden wie etablierte Unternehmen.
({4})
Angebote der Wirtschaftsförderung und die Möglichkeiten, die den Wohlfahrtsorganisationen offenstehen, sollten von sozialen Unternehmen genutzt werden können. Hier besteht Handlungsbedarf. Allerdings setzt der vorgelegte Antrag sehr einseitig auf die Finanzierungsförderung und vergisst dabei, dass für Unternehmen in der Gründungsphase Know-how, Wissenstransfer und Netzwerkbildung entscheidende Faktoren sind, um die Unternehmensstrukturen zu fördern.
Das Wirtschaftsministerium hat eine Pilotförderung von nichttechnischen Innovationsprojekten initiiert. Das ist ein erster Schritt. Das Projekt wird Aufschluss darüber geben, worauf es in der Praxis ankommt. Das wird uns eine Grundlage dafür bieten, politisch anzusetzen und entsprechende Regelungen auf den Weg zu bringen. Welche Kriterien es braucht, wird der Praxistest zeigen. Wir können Erkenntnisse – soweit das BMWi sie vorlegt – sammeln und nutzen, sodass das Förderprogramm weiter angepasst werden kann. Es ist gut, dass das BMWi auf mehr Transparenz setzt, um die finanziellen Angebote der Sozialunternehmen sichtbar zu machen, und mit einer Öffentlichkeitskampagne dafür sorgt, dass das Image geschärft und die Aktivitäten in die Öffentlichkeit getragen werden.
({5})
Das Familienministerium fördert zudem das Projekt „Soziale Innovation in der Wohlfahrtspflege“, das den Austausch zwischen Sozialunternehmen und karitativen Einrichtungen wie der AWO, der Diakonie und anderen anregt. Diese Maßnahmen begrüßen wir ebenfalls. Das zeigt, dass die Bundesregierung soziale Innovationen auf verschiedenen Ebenen angeht. Auch in der Hightech-Strategie zum Beispiel wird auf das Thema eingegangen.
Auch wenn es bereits ein paar positive Entwicklungen gibt, so fehlt, wie von Bündnis 90/Die Grünen richtig bemerkt, ein Konzept, wie eine umfassende Strategie sozialer Information gefördert werden kann, eine Strategie, die sich allerdings nicht nur auf Maßnahmen zur Förderung von Sozialunternehmen beschränkt, sondern einen ressortübergreifenden Pfad hin zu sozialer Innovationspolitik aufzeigt. Daran werden wir weiter arbeiten. Ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion über diesen Antrag auch im Ausschuss.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Westphal. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Enrico Komning, AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Social Entrepreneurship?
({0})
– Ja, jetzt wissen wir es endlich. – Ich musste das nachlesen. Aus dem Englischen übersetzt, bedeutet das: soziales Unternehmertum. Warum verwenden wir nicht den deutschen Begriff „Sozialunternehmertum“?
({1})
Der vorliegende Antrag der Grünen ist ein weiteres Beispiel dafür, wie weit entfernt die grüne Ideologie von der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den wahren Bedürfnissen der Menschen in diesem Land ist.
({2})
Sie wollen ein unbürokratisches Darlehen für Sozialunternehmen, setzen dafür aber ein bürokratisches Verfahren voraus. Sie wollen eine soziale Innovationsstrategie ausgearbeitet wissen, um natürlich solche Unternehmenszwecke von vornherein auszuschließen, die nicht in Ihr grünes Weltbild passen.
({3})
Sie wollen einen eigenen Staatssekretär für Sozialunternehmen, als hätten wir nicht schon genug davon. Wenn wir überhaupt einen speziellen Staatssekretär brauchen, dann ist das doch einer für den Mittelstand.
({4})
Nein, mit Ihrem Antrag werden Sie den gesellschaftlichen Mehrwert, den Sie vorgeblich erreichen wollen, nicht schaffen. In Wahrheit geht es Ihnen doch eher darum, Ihre teuren und irrsinnigen grünen Ideen umzusetzen. Ich bin dagegen, diesen Ideen noch sauer verdientes Steuergeld hinterherzuschmeißen. Da werden wir nicht mitmachen.
({5})
Wir wollen Mittelstand statt Biosiegel. Wir wollen eine Gründerkultur statt Gendersternchen.
({6})
Das schafft gesellschaftlichen Mehrwert.
({7})
Wir brauchen dringend eine neue und umfassende Förderstruktur für mittelständische Unternehmen und vor allem für Unternehmensgründungen, und zwar technologie- und branchenoffen. Ganz ehrlich, wenn jemand mit einem Konzept kommt, das auf dem Markt bestehen kann und das wie zum Beispiel die Ausstellung „Dialog im Dunkeln“ des deutschen Sozialunternehmers Andreas Heinecke der gesellschaftlichen Integration von Blinden dient, dann bin ich der Erste, der dabei ist und eine Förderung befürwortet.
({8})
Förderung von Unternehmen mit öffentlichen Geldern, ob Start-ups oder bestehende Betriebe,
({9})
muss immer darauf gerichtet sein, dass es sich am Ende bezahlt macht. Der Entrepreneur muss im Vordergrund stehen. Nicht das „social“ darf im Vordergrund stehen.
({10})
Denn der soziale Aspekt solcher Unternehmen steht allenfalls in der Gründungsphase im Fokus. Weniger romantisch wird es dann, wenn es in der Folge um solche simplen Fragen wie den Erhalt von Arbeitsplätzen geht. Landläufig wird der Social Entrepreneur, also der Sozialunternehmer, beschrieben als Person mit kraftvoller Imagination, Ausdauer, Fähigkeiten zur Problemlösung und Umsetzungsstärke bei großer sozialer Kompetenz.
({11})
Wenn ich das lese, fällt mir sofort unser stellvertretender Fraktionsvorsitzender, Malermeister und mein Freund Tino Chrupalla ein.
({12})
Aber ihn werden Sie wahrscheinlich nicht meinen. Es ist schon bemerkenswert, dass gerade Sie nun solche Personen fördern wollen, die Ihre Ideologie von Sozialismus und Klassenkampf über ein Jahrhundert in Deutschland bekämpft haben: den ideenreichen, klugen und am Gemeinwohl interessierten mittelständischen Unternehmer.
({13})
Wir müssen den deutschen Mittelstand stärken und fördern. Wir dürfen nicht eine sich selbst verwirklichende Generation Z fördern. Der Mittelstand verkörpert alles, was wir brauchen: Innovationskraft, Produktivität, Flexibilität sowie gesellschaftliches und auch soziales Engagement.
({14})
Die Bürger werden in Zukunft noch härter arbeiten müssen, um dieses Land aus der Misere herauszuführen, die die idiotische sogenannte Energiewende sowie die katastrophale Euro- und Migrationspolitik herbeiführen werden.
({15})
Wir brauchen dazu eine Gründerkultur in Deutschland, Menschen, die mit Ideen und Tatkraft ans Werk gehen. Diese müssen wir unterstützen. Dabei ist die Ausrichtung des Geschäftskonzepts egal, solange eine ernsthafte Marktchance besteht.
({16})
Abschließend: Förderpolitik darf keinesfalls durch Ihren grünen Unsinn instrumentalisiert werden.
Vielen Dank.
({17})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält nunmehr der Kollege Reinhard Houben, FDP-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Zuruf „Guter Mann!“, der gemacht wurde, als Sie, Herr Komning, an das Rednerpult getreten sind, haben Sie durch die Rede, die Sie gehalten haben, eigentlich nicht untermauern können.
({0})
Wer es schafft, in fünf Minuten alternative Krebsbekämpfung mit dem Sieg des Sozialismus zusammenzubringen, hat irgendwie den Knall nicht gehört. Es tut mir leid.
({1})
Kommen wir zu den Tatsachen. Herr Kollege Janecek, ich kann verstehen, dass Sie eine gewisse Enttäuschung verspüren.
({2})
– Hören Sie auf, zu hampeln, Herr Hampel.
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Eine gewisse Frustration spricht aus Ihrem Antrag. Das ist durchaus zu verstehen; denn trotz vieler Zusagen seitens der Koalition ist nicht viel passiert. Aber, Herr Janecek, das ist ein allgemeines Zeichen von Desinteresse und einer gewissen Ignoranz der aktuellen Bundesregierung, vor allem des Wirtschaftsministers, was diese Themen angeht. Er bekommt inzwischen auch die Quittung von den Wirtschaftsverbänden.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Um Social Entrepreneurs – das Wort ist tatsächlich etwas schwierig – ist es in Deutschland gar nicht so schlecht bestellt, wie Sie vielleicht meinen.
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Sie beziehen sich auf eine drei Jahre alte Studie. Lediglich 619 Fachleute und Unternehmer wurden befragt. Die Umfrage fand eigentlich ohne eine objektive Faktenbasis statt. Zudem steht Deutschland bei fast allen Themen im oberen Drittel. Berlin ist eigentlich der Hotspot für Sozialunternehmen. Manche Forderungen, die Sie offensichtlich vom Social Entrepreneurship Netzwerk übernommen haben, sind nachvollziehbar. Eine konsistente und koordinierte Sozialunternehmensstrategie auf Bundesebene könnte aus unserer Sicht durchaus sinnvoll sein. Richtig ist auch die Forderung, bürokratischen Hürden abzubauen. Aber das sollte für alle Start-ups gelten, nicht nur für die im Bereich der Sozialwirtschaft.
Spannend ist die Frage, ob wir eine neue Gesellschaftsform brauchen. Die Vielseitigkeit des Gesellschaftsrechts in Deutschland bietet viele Möglichkeiten. So bietet gerade die gGmbH, die gemeinnützige GmbH, Sozialunternehmen schon viele Vergünstigungen und Vorteile. Deswegen sollten wir uns genau überlegen, ob wir noch ein neues Gesellschaftsrecht aufbauen müssen, um solchen Unternehmen zu helfen. Bei der Frage der Förderinstrumente bin ich skeptisch; denn Sozialunternehmen sollten am Ende eigenständige Unternehmen bleiben, die sich selbst tragen. Wie gesagt, steuerliche Vorteile gibt es nicht nur für die gGmbH, sondern auch für Vereine und Stiftungen.
Wenn ich mir die Unternehmen genau anschaue, stellen sich mir folgende Fragen: Ist eine Bank besonders förderungswürdig, nur weil sie eine Kreditkarte anbietet, bei der man statt Payback-Punkten Punkte für soziale Projekte sammelt? Ist umgekehrt Payback ein Sozialunternehmen, weil man die Payback-Punkte auch spenden kann? Ich glaube, dass das vielleicht ein etwas irriger Ansatz ist. Ich halte es auch für eine abwegige Idee, das Freiwillige Soziale Jahr so auszuweiten, dass die FSJler zum Beispiel in einer Fabrik für sozialverantwortlich produzierte Limonade tätig sind. Das halte ich vom Ansatz her für zu weitgehend.
Für uns Liberale muss am Ende ein Sozialunternehmen in erster Linie auch ein souveränes Unternehmen sein. Langfristige Subventionen schaden der Innovationsfähigkeit der in Rede stehenden Branche. Diesen Weg würden wir nicht mitgehen. Ich freue mich trotzdem auf die Diskussionen im Ausschuss.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Houben. – Die Kollegin Petra Sitte, Fraktion Die Linke, und der Kollege Mark Hauptmann, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8567 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, dass das der Fall ist. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am späten Abend kommt als letzter Tagesordnungspunkt ein richtiger Kracher.
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Es geht um die Zwölfte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung. Die Diskussion über die Außenwirtschaftsverordnung wurde mehr oder weniger durch die Versuche chinesischer Unternehmen bzw. Staatsunternehmen angestoßen, sich in deutsche Unternehmen einzukaufen. Ich nenne als Beispiele die Übernahme von KUKA oder den Versuch, sich bei 50Hertz einzukaufen.
Nun muss man sagen: Wir ändern die Außenwirtschaftsverordnung nicht, weil wir Angst vor ausländischen Investoren haben. Aber es hat die Diskussion immerhin befruchtet, dass wir darüber nachdenken müssen, was die kritische Infrastruktur in Deutschland ist und wie wir mit ihr umgehen. Damals, als der amerikanische Geheimdienst das Telefon der Bundeskanzlerin abhörte, stellte sich schon die Frage: Wie sicher sind unsere Netze, und wer hat eigentlich Zugriff auf unsere Infrastruktur? Wenn man sich aber die Zahlen einmal genauer anschaut, dann stellt man fest, dass die chinesischen Investitionen in Deutschland eigentlich nicht so bedeutend sind. Im vorletzten Jahr zum Beispiel waren mit großem Abstand die Niederlande größter Investor in Deutschland, nicht die Volksrepublik China. Des Weiteren haben deutsche Unternehmen 2017 76 Milliarden Euro in China investiert. Das heißt, Deutschland ist ein sehr bedeutender Investor in China. Deswegen kann es bei der Änderung der Außenwirtschaftsverordnung nur darum gehen, mit sehr viel Fingerspitzengefühl die Sache anzupacken. Wir wollen uns in Deutschland nicht gegenüber ausländischen Direktinvestitionen abschotten. Auch wir werben für Direktinvestitionen. Außerdem dürfen wir keine Welle auslösen, die dazu führt, dass andere Länder auf die Idee kommen, ihre Märkte gegenüber deutschen Auslandsinvestitionen abzuschotten.
Wir sind der Auffassung, dass die Außenwirtschaftsverordnung mit großem Augenmaß geändert wurde. Im Prinzip handelt es sich um drei kleine Regelungen, die heute zu beschließen sind. Das Erste ist die Absenkung der Prüfschwelle bei ausländischen Beteiligungen von 25 auf 10 Prozent. Das gilt aber nur für Anträge auf Investitionen in die kritische Infrastruktur.
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Alle anderen Schwellen in der Verordnung bleiben unverändert. Dann gibt es noch das berühmte Boykottverbot.
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Das ist nicht so einfach zu erklären. Dafür brauche ich eigentlich zwei Minuten mehr Redezeit. Das will ich Ihnen aber ersparen. Das können Sie selber in der Begründung der Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung nachlesen. Es gibt zudem eine ganz besondere Spezialität, nämlich eine Genehmigungspflicht für die Ausfuhr von Technologien für die Herstellung von kleinen und mittelgroßen unbemannten Flugkörpern. Das ist ganz bedeutend und wichtig. Deswegen werden wir der Änderung zustimmen.
Kurz zu den Anträgen. Meine lieben Kollegen von der FDP, wir sind in verschiedenen Dingen nicht weit auseinander. Aber verschiedene Passagen Ihrer Anträge können wir so nicht mittragen. Bei den Grünen habe ich den Eindruck, dass sie Gedanken lesen können. Genau das, was wir gerade machen oder was die Regierung gerade umsetzt, schreiben die Grünen schnell auf, machen das zum Antrag und sagen dann hier: Wir wissen etwas!
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Da dieser Antrag schon vor einem Vierteljahr geschrieben wurde, ist das alles fast erledigt.
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Sie können heute der Regierung eigentlich nur Beifall klatschen, weil sie genau das getan hat, was Sie wollten. Damit ist Ihr Antrag leider überflüssig, und wir können ihm nicht zustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Lämmel. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Steffen Kotré, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir hatten schon im letzten Jahr auf das Problem des Know-how-Abflusses aufmerksam gemacht. Damals hat die Bundesregierung noch gar nicht daran gedacht, den vorgeschlagenen Weg einzuschlagen. Nun macht sie es. Das finden wir schon einmal sehr gut. Aber es geht natürlich nicht weit genug. Wir reden hier nicht nur von kritischer Infrastruktur. Vielmehr müssen wir auch über ausgewählte Unternehmen der Schlüsseltechnologien reden. Auch hier droht ein Know-how-Abfluss. Das müssen wir ebenfalls unterbinden. Das heißt, wir müssen darüber nachdenken, ob es notwendig ist, hier nachzulegen. Das ist das eine. Das andere ist: Wenn die Schwellen gesenkt werden, dann bitte mit Leben erfüllen, klare Kante zeigen, die Unternehmen entsprechend schützen und auch handeln! Das heißt, dieser Schutz muss durchgesetzt werden.
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Drohender Know-how-Abfluss bedeutet nach unserem Verständnis auch Marktversagen. Das muss verhindert werden. Das dürfen wir auch verhindern. Wir dürfen nicht so lange warten, bis wir in anderen Ländern die gleiche Gesetzmäßigkeit vorfinden und deutsche Unternehmen im Ausland gleichberechtigt behandelt werden. Die Zeit haben wir nicht. Das wird nicht funktionieren. Wir haben auch nicht die Zeit, so lange zu warten, bis sich die EU darum kümmert und sich vielleicht in zwei Jahren dieses Problems gnädigerweise annimmt. Nein, wir haben jetzt das Risiko des Know-how-Abflusses. Dieses Risiko auszuschalten, darum geht es hier. Es wurde argumentiert, dass wir hier noch keine großen schädigenden Wirkungen zu verzeichnen hatten. Nein, es geht darum, schon das Risiko auszuschalten, damit wir hier weniger erpressbar sind. Es verstößt auch nicht, wie der eine oder andere vermutet, gegen das Grundgesetz, ausgewählte Unternehmen der Schlüsseltechnologien zu schützen. Das Grundgesetz ist dafür da, Schaden vom deutschen Volk bzw. vom Volksvermögen abzuwenden.
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Es ist völlig legitim, dass wir die Technologien, das Wissen und das Know-how, das wir in unserem Land erarbeitet haben, auch in unserem Land behalten; denn das sind unsere Bodenschätze.
Nun zum Thema Medien. Es ist schon grotesk, zu lesen, dass die Bundesregierung große deutsche Medienunternehmen vor ausländischem Einfluss schützen möchte. Denn was passiert in diesem Land? Die Medien liegen am Boden. Es gibt Falschnachrichten, eine nach der anderen.
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Ich befürchte, dass das Niveau unserer großen Medienhäuser so sehr am Boden ist, als dass Ausländer das noch toppen könnten.
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Ich wünsche mir manchmal, dass sich hier Ausländer bei uns einkaufen, damit die Berichterstattung vielleicht wieder objektiv wird. Ich erinnere an selbsterfundene Hetzjagden in Chemnitz, die nie stattgefunden haben,
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an die Verharmlosung von Ausländerkriminalität – das geschieht systematisch in unseren Medien –, an Merkels kriminelle Grenzöffnung, die nicht so thematisiert wird, wie es sein müsste, oder an die Masseneinwanderungen in die Sozialsysteme. Eine Auseinandersetzung damit findet großflächig nicht statt.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Da wünsche ich mir fast sogar, dass ausländische Unternehmen ins Land kommen –
Herr Kotré, bitte kommen Sie zum Schluss!
– und hier vielleicht ohne Ideologie berichten.
Vielen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Markus Töns, SPD-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.
Wir beginnen den neuen Tag mit den Worten des Kollegen Michael Theurer, FDP-Fraktion.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer sich die Äußerungen des Abgeordneten Kotré anhört
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und sich vor Augen führt, wie er über den Standort Deutschland spricht, der maßgeblich davon abhängig ist, dass wir in die internationale Arbeitsteilung eingebunden und weltoffen sind, stellt fest, dass diese Vorgehensweise der AfD den nationalen Interessen Deutschlands und den Interessen von Millionen Menschen, die einen Arbeitsplatz haben, widerspricht. Sie sollten an dieser Stelle dringend einen Kurswechsel vornehmen.
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Wir diskutieren zu früher Stunde über die geänderte Außenwirtschaftsverordnung der Bundesregierung wieder einmal in Abwesenheit des Bundeswirtschaftsministers.
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Man fragt sich angesichts der Bedeutung der Auslandsinvestitionen deutscher Unternehmen und ausländischer Investitionen in Deutschland, ob nicht zur Primetime über dieses Thema im Deutschen Bundestag diskutiert werden müsste. Wir haben mit unseren Anträgen dafür gesorgt, dass darüber im Deutschen Bundestag überhaupt diskutiert wird und dass dies nicht nur eine Sache der Bundesregierung ist.
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Wir stellen fest: Die Novellierung der Außenwirtschaftsverordnung wurde ohne angemessene Beteiligung der Wirtschaft und in Rekordzeit durchgedrückt. Genauso wie bei der Nationalen Industriestrategie und dem Industriepolitischen Manifest wendet sich der Bundeswirtschaftsminister vom deutschen Mittelstand ab. Der Mittelstand hat die Außenwirtschaftsverordnung massiv kritisiert, und zwar absolut zu Recht; denn diese Verordnung stellt eine Entmutigungsstrategie für ausländische Investoren dar. Wir wollen aber ausländische Investoren ermutigen, in Deutschland zu investieren. Auch unsere Unternehmen investieren schließlich im Ausland. Der beste Schutz gegen den Ausverkauf der deutschen Wirtschaft, den manche hier an die Wand malen, ist doch, die Bedingungen für inländische Investoren zu verbessern. Deshalb wäre es dringend notwendig, dass die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen dafür sorgten, dass die inländischen Investoren durch bessere steuerliche Rahmenbedingungen und Abbau von Bürokratie entlastet werden. Aber Fehlanzeige! Stattdessen wird eine unausgegorene Außenwirtschaftsverordnung auf den Weg gebracht, die unpräzise ist, das, was kritische Infrastruktur darstellt, nicht präzisiert und praktisch der Willkür, wie es die Wirtschaftsweisen zum Ausdruck gebracht haben, Tür und Tor öffnet. Deshalb lehnen wir Freie Demokraten diese Novellierung der Außenwirtschaftsverordnung ab.
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Vielen Dank, Herr Kollege Theurer. – Der Kollege Alexander Ulrich, Fraktion Die Linke, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.
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– Das finde ich auch.
Die Kollegin Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen, ist die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Lämmel, Sie schaffen es noch immer, mich zu verwirren.
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– Auch nach so vielen Jahren zusammen im Ausschuss bekommen Sie das noch hin. – Während sich Herr Altmaier und Herr Braun öffentlich darüber zerstritten haben, welches die richtige Antwort auf den unfairen Wettbewerb aus China ist, sagen Sie nun, dass wir uns lieber mit den Auslandsinvestitionen aus den Niederlanden befassen sollten; denn das sei interessanter. Die Bundesregierung und die Große Koalition müssen irgendwie klären, wie sie mit China und dem unfairen Wettbewerb umgehen wollen.
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Wir sollten schon etwas genauer hinschauen als bei den Auslandsinvestitionen aus den Niederlanden, wenn wir uns mit China befassen, mit dem, was im Rahmen des „Neue Seidenstraße“-Projekts – China 2025 – geplant ist, den gigantischen Infrastrukturinvestitionen, insbesondere mit den gigantischen Investitionen in kritische Infrastruktur und in Schlüsseltechnologien, die gezielt getätigt und mit geopolitischen Interessen verbunden werden. Angesichts dessen kann man sich hier nicht einfach hinstellen und sagen: Lasst uns über die Niederlande reden! – Vielmehr muss man genau hinschauen, prüfen und sich damit befassen, dass sich nun europäische Länder wie Italien dem „Neue Seidenstraße“-Projekt“ angeschlossen haben. Darüber kann man nicht hinwegsehen. In Richtung SPD und CDU/CSU sage ich: Heiko Maas hat Italien dafür kritisiert, dass es sich dem „Neue Seidenstraße“-Projekt“ angeschlossen hat. Er hat wörtlich gesagt:
Sollten einige Länder glauben, man kann mit den Chinesen clevere Geschäfte machen, werden sie sich noch wundern und irgendwann in Abhängigkeit aufwachen.
Das ist eine wohlfeile Kritik der Bundesregierung. Denn wer war es denn, der die Länder Südeuropas in eine Austeritätspolitik gedrängt hat? Wer war es denn, der den Ländern die Vorgabe gemacht hat, Infrastruktur zu privatisieren? Da muss man sich nicht wundern, wenn die Länder irgendwann einen Käufer finden, der bereit ist, das Geld für solche Infrastrukturen zu zahlen. Das ist auch Ergebnis Ihrer Politik im Deutschen Bundestag.
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Die Antwort auf Chinas Seidenstraßen-Strategie ist eine kluge Industriepolitik, die auf der einen Seite davon ausgeht, dass die Infrastruktur in öffentliche Hand gehört, und die auf der anderen Seite dort, wo sich ausländische Investoren an kritischer Infrastruktur beteiligen, genau hinschaut und prüft. Deswegen ist es richtig – daher werden wir der Novelle zur Außenwirtschaftsverordnung zustimmen –, dass Sie nun die Schwellenwerte für die Prüfung abgesenkt haben. Aber was ich nicht verstehe, ist, warum Sie nur den halben Sprung gemacht haben. Sie schauen beim Aufkaufen kritischer Infrastruktur durch ausländische Unternehmen genau hin, aber nicht beim Aufbau kritischer Infrastruktur. Bei den 5G-Netzen beispielsweise haben Sie nichts geregelt und keinen Schritt gemacht. Entsprechende Schritte haben wir Ihnen in unserem Antrag vorgeschlagen. Aber diesen Teil unseres Antrags haben Sie leider ausgeblendet. Diesen hätten Sie auch übernehmen sollen. Dann wäre das Ganze besser gewesen. Machen Sie also noch den zweiten Schritt! Dann kommen wir auch zueinander.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dröge. – Der Kollege Karl Holmeier hat seine Rede ebenfalls zu Protokoll gegeben.
Damit schließe ich die Aussprache.
Bevor jetzt alle aufbrechen: Wir kommen noch zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie auf Drucksache 19/9296. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung auf Drucksache 19/7139 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ich muss die AfD bitten, sich zu entscheiden. Man kann nicht dafür und dagegen sein. Das geht nicht. Ich frage noch einmal: Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Das sind CDU/CSU-Fraktion, SPD-Fraktion, Fraktion Die Linke und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die FDP-Fraktion und ein wesentlicher Teil der AfD-Fraktion. Wer enthält sich? – Einige Mitglieder der AfD-Fraktion enthalten sich. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Weiter empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/8953 mit dem Titel „Lenkende Industriepolitik ablehnen – Änderung der Außenwirtschaftsverordnung zurücknehmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der FDP mit den Stimmen der anderen Mitglieder des Hauses angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/4216 mit dem Titel „Attraktivität Deutschlands für ausländisches Kapital sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der FDP mit den Stimmen aller anderen Mitglieder des Hauses angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/5565 mit dem Titel „Schlüsseltechnologien und Kritische Infrastruktur schützen – Standortattraktivität für Investitionen sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion der AfD mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der Fraktion der SPD und der Fraktion der FDP angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich wünsche Ihnen allen herzlich noch eine erholsame Restnacht.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute, Freitag, den 12. April 2019, 9 Uhr – pünktlich –, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
(Schluss: 0.13 Uhr)