Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/5/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Anja Karliczek (Minister:in)

Politiker ID: 11004323

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mehr BAföG für mehr junge Menschen – so lässt sich unsere BAföG-Novelle auf den Punkt bringen. Gerade in Zeiten des digitalen Wandels und des zunehmenden internationalen Wettbewerbs ist es entscheidend, in die Zukunft unserer Kinder, unseres Landes und unseres Standortes zu investieren. Gerade auch in Zeiten knapper werdender Kassen ist es entscheidend, Prioritäten zu setzen: Prioritäten in Innovation, Forschung und Bildung, Prioritäten in Zukunftsinvestitionen. ({0}) Das BAföG gehört dazu. Es ist seit vielen Jahren eine Form der Unterstützung für junge Menschen in schulischer und akademischer Ausbildung, damit gute Bildung in Deutschland für jeden möglich ist. Mit der heutigen BAföG-Novelle weiten wir die Unterstützung deutlich aus, noch über die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag hinaus. Warum machen wir das, und was wollen wir erreichen? Drei Ziele stehen für uns im Mittelpunkt: Erstens. Jeder junge Mensch soll die Chance auf eine gute Bildung haben. Zweitens. Oft höre ich, dass wir nur Randgruppen der Gesellschaft im Blick haben. ({1}) Mit dieser Reform nehmen wir die Mitte unserer Gesellschaft in den Blick. Viele Familien, die bislang knapp über den Einkommensgrenzen liegen, werden in Zukunft vom BAföG profitieren – gerade dieser Punkt ist mir wichtig –; denn das sind häufig Familien, in denen Eltern fleißig arbeiten und die Kinder in Ausbildung sind. Drittens bedeutet es, dass wieder mehr junge Menschen vom BAföG profitieren, und damit leiten wir die versprochene Trendumkehr ein. ({2}) In dieser Legislaturperiode haben wir mehr als 1,2 Milliarden Euro zusätzlich für das BAföG eingeplant. Das ist mehr als ursprünglich vorgesehen und damit wirklich ein großer Schritt. Dabei konzentrieren wir uns darauf, die wesentlichen Aspekte aufzugreifen: Erstens. Wir erhöhen den Förderhöchstsatz von heute 735 Euro auf 861 Euro im Jahr 2020. Das ist ein Plus von 17 Prozent. Zweitens. Wir erhöhen die Einkommensfreibeträge bis 2021, und zwar ebenfalls um fast 17 Prozent. ({3}) Drittens erhöhen wir den pauschalen Wohnzuschlag für alle BAföG-geförderten Studierenden, die nicht bei den Eltern wohnen, ({4}) und zwar überproportional von derzeit 250 Euro auf 325 Euro monatlich. Das ist ein Zuschlag von 30 Prozent. ({5}) Jetzt habe ich in den letzten Wochen große Klagen über den pauschalen Wohnzuschlag vernommen. ({6}) Deshalb lassen Sie mich darauf kurz eingehen. Der pauschale Wohnkostenzuschlag deckt die mittleren Wohnkosten der Studierenden ab. Aber der Wohnkostenzuschlag kann keine Lösung für zu knappen Wohnraum in Großstädten liefern. ({7}) Was da wirklich hilft, ist mehr Wohnraum für Studierende. Da haben einige Länder kräftigen Nachholbedarf. ({8}) Wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Schon die Situation hier in Berlin ist symptomatisch: In Berlin waren laut Deutschem Studentenwerk im Wintersemester 2017/18 knapp 168 000 Studierende eingeschrieben. Dagegen stehen weniger als 10 000 Wohnheimplätze. Das sind magere 5,9 Prozent. Im bundesweiten Vergleich belegt Berlin damit den letzten Platz. ({9}) Wenn sich also wirklich etwas ändern soll, dann beklagen Sie nicht zum Schein den Wohnzuschlag, sondern sorgen Sie mit Ihren Länderkollegen dafür, dass aus den Mitteln des sozialen Wohnungsbaus endlich Wohnheimplätze für Studierende gebaut werden. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem BAföG sorgen wir seit nunmehr fast 50 Jahren dafür, dass genau diejenigen Menschen in unserem Land unterstützt werden, die ohne BAföG aus finanziellen Gründen nicht studieren oder ihren Schulalltag bestreiten könnten. Unsere Gesellschaft lebt vom Zusammenspiel zwischen Subsidiarität und Solidarität. Das hat uns stark gemacht, und das ist eine tragende Säule unserer sozialen Marktwirtschaft. Ich wundere mich deshalb über die Forderungen nach einem BAföG für alle. Wer jeden unterstützen will, unterstützt niemanden mehr. Eltern sind in aller Regel stolz darauf, ihren Kindern einen guten Start ins Berufsleben mitgeben zu können. Ich jedenfalls will und werde mich mit all meiner Kraft dafür einsetzen, dass wir die unterstützen, die auch wirklich Unterstützung brauchen. ({11}) Meine Damen und Herren, das BAföG garantiert seit fast 50 Jahren, dass jeder die Ausbildung machen kann, die zu ihm passt, die seiner Eignung und seiner Neigung entspricht. Millionen Jugendliche und junge Erwachsene haben seither vom BAföG profitiert. Mit unserer BAföG-Reform halten wir unser Versprechen, das wir im Koalitionsvertrag gegeben haben: Wir stärken Familien mit Kindern in Ausbildung. Wir stärken Leistungsträger unserer Gesellschaft. Wir investieren in die Zukunft. Bildung hat für uns Priorität. Das war immer so, und das wird mit mir auch immer so bleiben. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Götz Frömming, AfD. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Frau Ministerin! Sehr geehrte Damen und Herren! Da sitzt ein junger Mann gebeugt über einen Stapel von Papieren. Es sind die Antragsformulare für das BAföG. Es sind Fragen zu beantworten zu den Einkommensverhältnissen der Eltern, zur Vermögenssituation, zur Zahl der Geschwister usw. Die Familie lebt vom Einkommen des Vaters. Es gibt noch zwei weitere Geschwister, die auch studieren wollen. Es ist nicht ganz klar: Bekommt er BAföG oder nicht? ({0}) Soll er sich gleich zu Beginn seines Studiums verschulden oder nicht? Diese Fragen stehen im Raum. Ich werde Ihnen in Kürze sagen, wie er sich entschieden hat. Meine Damen und Herren, was ist das BAföG seinem eigentlichen Sinne nach, und wozu soll es dienen? Wir meinen nach wie vor: Es ist eine Sozialleistung. Das BAföG ist kein Selbstzweck. Es ist auch kein Kriterium, an dem sich die Qualität unseres Bildungssystems ablesen ließe; das haben insbesondere Sie auf der linken Seite des Hauses nicht ganz verstanden. ({1}) Dass in den letzten Jahren die Zahl der BAföG-Empfänger abgenommen, aber gleichzeitig die Zahl der Studenten angestiegen ist, ist kein Grund zur Beunruhigung. Es spricht vielmehr für die gute wirtschaftliche Entwicklung und die Stabilität unseres Arbeitsmarktes. Dennoch sind wir uns hier im Hause einig, dass das BAföG an die allgemeine Preisentwicklung angepasst werden musste. Die Hausaufgaben hat die Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf jetzt auch endlich an dieser Stelle gemacht, wenn auch das Studentenwerk sich natürlich noch mehr gewünscht hätte. Die Bedarfssätze sollen zum Wintersemester 2019 um 5 Prozent und 2020 noch einmal um 2 Prozent angehoben werden. Gleichzeitig steigen die Einkommens- und Vermögensfreibeträge sowie der Wohnzuschlag. Das war überfällig, meine Damen und Herren. Darüber hinaus fehlt in der Vorlage der Regierungskoalition leider jegliche Kreativität, um das BAföG von Grund auf zu reformieren und attraktiver zu machen. Dazu hat aber jetzt die AfD-Fraktion mit ihrem Antrag einige wegweisende Vorschläge gemacht, wie ich meine, die ich Ihnen kurz erläutern möchte: Erstens. Es ist notwendig, dass wir das BAföG getrennt betrachten, und zwar zum einen den Zuschuss – wir schlagen vor, diesen bis zu 485 Euro betragen zu lassen – und zum anderen das Darlehen. Bisher zwingen wir junge Menschen, sich schon vor Beginn ihres Studiums zu verschulden. Wir meinen, man sollte das an dieser Stelle trennen. Zweitens. Die Darlehensschuld sollte nach dem Leistungsprinzip bis zu 100 Prozent erlassen werden, wenn der Student innerhalb der Regelstudienzeit besonders gute Leistungen erbringt. Damit würde sich nach unseren Vorstellungen das BAföG in eine Art Stipendium nach dem Leistungsprinzip verwandeln. Drittens. Wir meinen, auch wenn Studenten während des Studiums Kinder erziehen, leisten sie einen Beitrag für diese Gesellschaft. In diesem Fall schlagen wir vor, dass pro Kind ein Teil des BAföG erlassen werden sollte. Viertens. Ebenso ist es ein Beitrag für unsere Gesellschaft, wenn sich Studenten in anerkannten Freiwilligendiensten oder durch den Wehrdienst verdient machen. Auch hier schlagen wir einen Teilerlass des BAföG vor. Nach unseren Erwartungen würde sich die Zahl der BAföG-Empfänger durch diese Maßnahmen deutlich erhöhen, insbesondere weil die Angst vor der Zwangsverschuldung entfiele. Die Gesamtkosten würden sich aber im Rahmen des Gesetzentwurfs der Regierung bewegen, insbesondere da das BAföG wie bisher nur an wirklich Bedürftige, also eben nicht elternunabhängig, ausgezahlt werden soll. An dieser Stelle sind wir ganz bei der Koalition. Werfen wir einen Blick auf die beiden anderen von der Opposition vorgelegten Anträge. Mit dem Antrag der Linken sind wir sehr schnell fertig, er umfasst ja kaum eine halbe Seite. Ich weiß nicht, Frau Gohlke, hatten Sie da keine Lust oder keine Zeit? Nun, wie auch immer, die Kernpunkte sind: Fördersätze erhöhen, Vollzuschuss, keine Altersgrenzen. Das sind Ihre wesentlichen Punkte. Im Grunde wollen Sie das elternunabhängige Grundeinkommen für Studenten, ähnlich wie das auch die Grünen wollen. Ich muss Sie an dieser Stelle fragen: Wollen Sie wirklich den Millionärssohn genauso subventionieren wie die Tochter der alleinerziehenden Krankenschwester? Wie sollen auf diese Art und Weise die von Ihnen sonst immer beklagten sozialen Unterschiede eigentlich verringert werden? Sie werden so doch nur auf einem etwas höheren Niveau verfestigt. Interessanterweise bleiben Sie an dieser Stelle eine Antwort schuldig. ({2}) Haben Sie überhaupt einmal ausgerechnet, wie hoch die Belastung für die Steuerzahler wäre bei fast 3 Millionen Studenten, wenn das BAföG elternunabhängig für jeden in der von Ihnen vorgeschlagenen Höhe ausgezahlt werden würde? ({3}) Wir meinen, dieser Antrag der Linken ist nicht finanzierbar, er ist utopisch und viel zu teuer. ({4}) Der Antrag der FDP ist wesentlich ambitionierter. Sie wollen uns ein BAföG im Baukasten verkaufen. Das kennt man von Waschmitteln. ({5}) Bei Ihnen heißt das „elternunabhängiges Baukasten-BAföG“; das ist kein Witz, es heißt wirklich so. Schauen wir uns die Idee einmal an. Das erste Kästchen, den BAföG-Sockel, soll jeder Student bekommen, 200 Euro unabhängig vom Einkommen der Eltern. Er wird als Vollzuschuss gewährt. Das klingt erst einmal ziemlich sozial. ({6}) Aber, meine Damen und Herren, wir wären nicht bei der FDP, wenn die Sache nicht einen Haken hätte. Ganz hinten im Kleingedruckten steht dann, wie Sie das finanzieren wollen: Gleichzeitig wird den Eltern der Kinderfreibetrag bzw. das Kindergeld gestrichen. Das ist ein ziemliches Nullsummenspiel. Insbesondere wenn man mehrere Kinder hat – dann steigt ja das Kindergeld –, machen die Familien hier sogar noch Verluste. ({7}) Linke Tasche, rechte Tasche; nebenbei stellen Sie Eltern unter Generalverdacht und spalten die Familien. Das machen wir nicht mit. ({8}) Noch irrsinniger ist der zweite Baukasten. Nach dem Weichspüler kommt bei der FDP nun der Enthärter zum Einsatz. 200 Euro Zuschuss bekommt wer? Nur derjenige, der neben dem Studium arbeitet. Sie stellen also das eigentliche BAföG-Prinzip auf den Kopf. Sie ermöglichen Studenten nicht das Studium, sondern Sie zwingen sie in die abhängige Beschäftigung hinein, Sie setzen Anreize zum Arbeiten, nicht zum Studieren. Das ist widersprüchlich und bildungsfeindlich, meine Damen und Herren. ({9}) Nach dem FDP-Modell werden bildungsorientierte Studenten aus einkommensschwachen Familien vor allem auf die Darlehen verwiesen, sie hätten sich also noch vor Einstieg ins Berufsleben zu verschulden. Das ist nicht sozial und kann nicht Ziel und Sinn der Ausbildungsförderung sein. Meine Damen und Herren, die AfD-Fraktion bekennt sich voll und ganz zum Sozialstaatsprinzip. Wir wollen, dass BAföG nach wie vor eine Sozialleistung bleibt und es jungen Menschen aus sozial schwachen Familien ermöglicht, ein Studium zu ergreifen. Sozialistische Umverteilung in großem Stil, wie sie die Linken und auch die Grünen anstreben, lehnen wir ab, ebenso neoliberale Baukastenspielchen, wie die FDP sie uns schmackhaft machen will. Auch dies lehnen wir aus staatspolitischer Verantwortung ab. Meine Damen und Herren, wie hat der junge Mann, wie hat sich die Familie entschieden, haben sie BAföG genommen oder nicht? Nach Beratung kam man zu der Einsicht: Nein, dieses BAföG wird nicht beantragt. Die Familie hat auf tolle Urlaubsfahrten, Restaurantbesuche, teure Autos verzichtet. Der Vater, Alleinverdiener, hat allen drei Kindern das BAföG aus eigener Kraft bezahlt, das Studium allen drei Kindern selbst ermöglicht. Ich bin meinen Eltern noch heute dankbar dafür. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Lars Klingbeil, SPD. ({0})

Lars Klingbeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Frömming, ich habe mich gewundert, dass Sie kein BAföG vorgeschlagen haben, das aus der Schweiz finanziert wird. ({0}) Das hätte zur AfD gepasst. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich sehr, dass wir heute hier im Bundestag die Reform des BAföG in erster Lesung diskutieren. Für viele junge Menschen, für viele Familien, für die Zukunft dieses Landes ist es eine wichtige Weichenstellung, dass wir hier im Parlament die Situation für Studierende verbessern. Es ist gut, dass es das BAföG gibt, und es ist gut, dass diese Koalition das BAföG jetzt deutlich verbessern wird. Wir bringen das BAföG nach einer langen, nach einer wechselvollen Geschichte endlich wieder auf Spur. Wir schaffen mit diesem Gesetz die Trendwende. ({2}) Es war ja noch deutlich vor meiner Geburt, als die Bundesregierung damals unter Willy Brandt und Helmut Schmidt – diese beiden Namen will ich nennen – das BAföG eingeführt hat. ({3}) Die Älteren hier im Saal werden sich daran erinnern, dass wir in den 70er-Jahren einen großen Bildungsaufbruch hatten: Immer mehr junge Menschen fanden den Weg zum Abitur, fanden den Weg ins Studium, überall gründeten sich in Deutschland neue Hochschulen. Dieser Bildungsaufbruch in Deutschland wäre ohne die Einführung des BAföG nicht möglich gewesen. Die Chance auf ein Studium war endlich nicht mehr vom Geldbeutel der Eltern abhängig. Im Gegensatz zu seinen Vorläufern war das BAföG von Willy Brandt kein Gnadenakt mehr, sondern ein Rechtsanspruch. Diesen hat damals die SPD geschaffen. ({4}) Das, was damals unter Willy Brandt, unter Helmut Schmidt, unter einer SPD-Regierung eingeführt wurde, das, was damals Deutschland stark gemacht hat, wurde in 16 Jahren Kohl-Regierung gefleddert und zusammengestrichen. Gelder wurden gestrichen, das Volldarlehenssystem wurde eingeführt. Auf die jungen Menschen wartete damals nach dem Studium nicht mehr nur die Suche nach dem Job, sondern auch ein großer Schuldenberg, der sich aufgetürmt hatte und der mühsam abgetragen werden musste. ({5}) Es war wieder eine Zeit, in der in Deutschland viele talentierte Schulabsolventen nicht studieren konnten, weil sie nicht aus reichen Familien kamen und kein Geld auf der hohen Kante hatten. ({6}) Wir waren es dann unter Rot-Grün, die im Jahr 2001 das BAföG endlich wieder aufgerichtet haben. Der Förderanspruch wurde erheblich erweitert, die Förderung wurde erhöht, die Zahl derjenigen, die das BAföG bekommen haben, nahm endlich wieder massiv zu. Auch in den Jahren danach hat die Sozialdemokratie immer wieder Druck gemacht, dass die Bedarfssätze und die Freibeträge weiter angehoben wurden. ({7}) Herr Brinkhaus, weil Sie dazwischenrufen, will ich daran erinnern: Es war Ihre Bildungsministerin Frau ­Schavan, die im Jahr 2006 sogar gefordert hat, das BAföG in Deutschland komplett abzuschaffen. Gott sei Dank hat sie den Widerstand in der Sozialdemokratie gefunden. ({8}) Zwischenzeitlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind die Zahlen wieder zurückgegangen. Es war die Große Koalition, die im Jahr 2014 diese Abwärtsdynamik gebremst hat. Ich sage Ihnen – Herr Brinkhaus, ich hoffe, Sie teilen das –: Es ist unser Anspruch, uns nicht damit abzufinden, dass einfach nur die Abwärtsdynamik gestoppt ist, es ist der Anspruch dieser Koalition, dass endlich wieder mehr Studierende an die Hochschulen kommen. Das werden wir mit diesem Gesetz verwirklichen. ({9}) Es darf, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht die Realität in Deutschland sein, dass Familien am Küchentisch sitzen und gemeinsam im Familienrat entscheiden müssen, ob die Tochter oder der Sohn studieren kann. Das darf nicht die Realität in Deutschland sein. Dieses Gesetz, das wir auf den Weg bringen werden, schiebt dieser Entwicklung den Riegel vor. Darauf können wir stolz sein. ({10}) Wir brauchen Spitzenkräfte in Deutschland. Wir dürfen nicht auf die schlauen Köpfe verzichten. Wir brauchen die schlummernden Talente, bei denen nicht schon vor ihrer Geburt feststeht, dass sie an die Hochschulen gehen werden, weil das ihre Eltern auch schon getan haben. Wir brauchen die schlummernden Talente, die sich ein Studium nicht selbst leisten können und auf die Unterstützung des Staates angewiesen sind. Gerade wenn wir auf die heutige Welt schauen, wenn wir sehen, wie komplex die Entwicklungen geworden sind, dann wissen wir, dass wir mehr Fachwissen und mehr Know-how in unserer Gesellschaft brauchen. Wir haben in der Vergangenheit mit China konkurriert, das auf niedrige Qualifikation und günstige Arbeit gesetzt hat. Aber die heutige Realität in China ist eine andere: China hat massiv in Hochschulen investiert. Allein im Jahr 2019 werden 8,3 Millionen Studenten in China ihr Studium abschließen. Wenn wir mit anderen Ländern mithalten wollen, dann müssen wir auf die Potenziale in diesem Land setzen. Wir brauchen mehr Know-how. Auch das wird mit dem BAföG-Gesetz verwirklicht. ({11}) Es geht um Know-how, es geht um Arbeitsplätze, und es geht um die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Aber ich sage Ihnen: Es geht auch um den Zusammenhalt. Wir müssen auf die setzen, die nicht das große Glück reicher Eltern haben und auf die Unterstützung des Staates angewiesen sind. Es geht darum, dass der Staat Partner der Menschen in der schwierigen Situation ist, wenn man studieren will, aber sich das vielleicht nicht leisten kann. Wir werden mit diesem Gesetz auch dafür sorgen, dass sich die Spaltung in der Gesellschaft nicht vertieft, dass die Nachteile sich nicht verfestigen und dass der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gestärkt wird. Wenn ich auf das vorliegende Modell der FDP schaue, dann kann ich feststellen: Zusammenhalt ist nicht Ihr Ziel. ({12}) Ich finde es gut, dass die FDP sich mit dem Thema BAföG auseinandersetzt und sich dafür interessiert. Das Spannende ist, dass Sie das immer nur dann tun, wenn Sie in der Opposition sind. Sie hatten die Chance, dieses Land zu gestalten. Ich erinnere mich daran, dass Sie weggerannt sind. ({13}) Wenn ich auf den Jamaika-Vertrag schaue, dann stelle ich fest: Es war gar nichts zum Thema BAföG geplant. Ich sage Ihnen auch: Ihre Argumentation ist doch überhaupt nicht schlüssig. Sie wollen jedem Studenten, egal aus was für einem Elternhaus er kommt, 400 Euro geben. Erinnern Sie sich eigentlich an die Diskussion, die wir gerade zur Grundrente führen, wo es darum geht, dass Sie auf einer Bedürftigkeitsprüfung bestehen? ({14}) Was ist denn mit Ihrer Argumentation beim Zahnarztsohn? ({15}) Was ist mit dem Studenten, der auf einmal 5 Millionen erbt? Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, passen Sie auf, dass Ihre Argumentation schlüssig ist! ({16}) Man kann nicht einmal so blinken und einmal so; das entlarven die Menschen in diesem Land. Sehr geehrte Damen und Herren, der SPD geht es um echte Chancengleichheit. Wir wollen, dass Menschen selbstbestimmt leben und studieren können. Wer sich für eine Ausbildung entscheidet und das bewusst tut, der hat volle Unterstützung. Wir haben in Deutschland ein gutes Ausbildungssystem, das wir auch weiter stärken wollen. Was aber nicht sein kann – das ist heute leider wieder die Realität –, ist, dass sich Menschen, obwohl sie eigentlich studieren wollen, aus finanziellen Gründen für eine Ausbildung entscheiden.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke?

Lars Klingbeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das kann er danach machen. – Mit der aktuellen Reform erreichen wir, dass das BAföG endlich wieder in der Mitte der Gesellschaft ankommt und sich die Menschen nicht mit der Frage plagen müssen, ob sie sich ein Studium leisten können. Wir stärken mit dieser BAföG-Reform den Zusammenhalt und Fortschritt in diesem Land. Ich freue mich, dass wir als Koalition dieses Gesetz auf den Weg bringen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jens ­Brandenburg, FDP. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist die größte BAföG-Reform seit langem – sagt Andrea Nahles. Und sie hat recht damit, weil ihre Regierung es seit Jahren verpennt hat. Das BAföG erreicht immer weniger Studierende. Ausgerechnet bei Erstakademikern ist die Förderquote von 40 Prozent auf 27 Prozent eingebrochen. ({0}) Das BAföG ist so kompliziert geworden, dass niemand mehr seriös vorhersagen kann, wie der endgültige Bescheid ausfallen wird, und bis der Bescheid da ist, können Monate vergangen sein. Eine Teilzeitförderung für Teilzeitstudierende gibt es gar nicht. Das ist keine Lösung; das ist eine Zumutung. ({1}) Die größten Probleme haben diejenigen, deren Eltern für das BAföG zu viel, aber für die volle Studienfinanzierung zu wenig verdienen. Junge Studierende mit BAföG-Höchstsatz bekommen inklusive Kindergeld etwa 930 Euro im Monat. Beim Elternunterhalt wird dieses Geld allerdings angerechnet. Das führt dazu, dass Studierende ohne BAföG-Anspruch oder diejenigen mit BAföG-Teilförderung in der Regel etwa 200 Euro weniger zur Verfügung haben. Hinzu kommt, dass einige Eltern den formalen Unterhaltsanspruch gar nicht in vollem Umfang leisten können oder wollen, zum Beispiel, weil sie noch eine Wohnung abbezahlen müssen oder weil sie der Meinung sind, dass das eigene Kind besser Medizin als Sozialpädagogik studieren sollte. 40 Prozent – 40 Prozent! – der Nicht-BAföG-Empfänger sind neben dem Studium schon heute auf umfangreichste Nebentätigkeiten angewiesen. Was nützt denn der formale Unterhaltsanspruch, wenn man in der Praxis dafür seine Eltern erst verklagen muss? Wenn das Gesetz so sehr an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbeigeht, dann brauchen wir nicht andere Menschen, dann brauchen wir andere Gesetze. ({2}) Volljährige Studierende sind keine Anhängsel irgendeiner elterlichen Bedarfsgemeinschaft, sondern eigenständige Persönlichkeiten, die selbst und frei über die Wahl des Studiums entscheiden sollen. Wir wollen weltbeste Bildung für jeden, unabhängig von der sozialen Herkunft. Die Chance auf ein Studium darf nicht weiterhin von der Unterstützungskraft oder Unterstützungsbereitschaft der Eltern abhängen. Es ist Zeit für ein elternunabhängiges BAföG, das Studierenden diese Selbstbestimmung endlich ermöglicht. ({3}) Was Sie, Frau Karliczek, heute vorlegen, ist ein längst überfälliger Inflationsausgleich. Die große Strukturreform bleibt völlig aus. Wenn das alles ist, was Ihnen dazu einfällt, sage ich: Das hätten Sie letzten Sommer schon haben können. Die Anträge der anderen Oppositionsfraktionen sind da nicht besser. Der Antragstext der Linken kommt gerade mal auf eine halbe Seite, ist dafür aber etliche Milliarden schwer. ({4}) Der AfD-Antrag verstrickt sich in mehrere Widersprüche. Warum die Grünen nichts einreichen, weiß ich nicht; aber sie haben zumindest beim letzten Mal einen Arbeitskreis vorgeschlagen, der in Zukunft eine Strukturreform ausarbeiten soll. ({5}) Aber keine Sorge: Als gute Serviceopposition haben wir das jetzt natürlich selbst in die Hand genommen. ({6}) Ich sehe es auch als gutes Zeichen dafür, wie stark dieser Antrag ist, dass sich sämtliche Vorredner eigentlich mehr an unserem Konzept abarbeiten als an der schwachen Vorlage der Regierung. ({7}) Unser Baukasten-BAföG macht Schluss mit Antragsbürokratie und finanzieller Unsicherheit, so wie das BAföG der Zukunft sein sollte: schnell, einfach und auch digital, ein BAföG, das jedem eine Chance bietet. Zur passgenauen Studienfinanzierung gibt es bei uns drei Bausteine. Erster Baustein. Den BAföG-Sockel von monatlich 200 Euro gibt es für jeden Studierenden unter 25 Jahren. Anstatt diesen Beitrag, den wir als Staat schon heute zahlen, an die Eltern volljähriger Studierender auszuzahlen, soll er direkt denjenigen zugutekommen, für die er eigentlich gedacht ist. Zweiter Baustein. Wer Verantwortung für sich und für die Gesellschaft übernimmt, soll mit weiteren 200 Euro im Monat unterstützt werden. Studierende, die im Schnitt zehn Stunden die Woche einer Nebentätigkeit nachgehen, erhalten genau diesen BAföG-Zuschuss. Das ist zielgenau; das ist leistungs- und bedarfsgerecht, weil er genau diejenigen unterstützt, die darauf angewiesen sind und die auch bereit sind, ein Stück Verantwortung zu übernehmen. Die Hürde von zehn Stunden in der Woche ist zumutbar. Ein Großteil der Studierenden leistet das heute schon, in der Regel sogar weit mehr. Wir vermeiden mit unserem Vorschlag Mitnahmeeffekte. Es ist also bei weitem kein bedingungsloses Grundeinkommen, wie Sie das eben dargestellt haben. Vielmehr hilft er all denjenigen, die bisher durch das Raster fallen, was auch nach diesem Gesetzentwurf der GroKo der Fall wäre. Den 200-Euro-Zuschuss sollen auch diejenigen erhalten, die in diesem Umfang ehrenamtlich tätig sind, die eigene Kinder erziehen oder auch nahe Angehörige pflegen. So honorieren wir persönliches Engagement, wir stärken das Ehrenamt, und wir geben den Studierenden die nötige Luft zum Atmen. Das ist echte Chancengerechtigkeit. ({8}) Dritter Baustein: das flexible Darlehen. Bis zu 1 000 Euro im Monat abzüglich Sockel- und Zuschussbetrag soll jeder Studierende auf eigenen Wunsch aufnehmen können. Genau wie der Darlehensanteil im bisherigen BAföG – das ist ja nichts Neues – ({9}) ist er zinsfrei und außerdem später einkommensabhängig, also bei gutem Einkommen, zurückzuzahlen. Auch in unserem Modell verfallen offene Verbindlichkeiten nach 20 Jahren, also braucht niemand eine Schuldenfalle zu fürchten. Das ist sozial gerecht und sorgt für finanzielle Unabhängigkeit der Studierenden. ({10}) Anders als beim bisherigen BAföG, das Sie als GroKo verteidigen, ist dieser Darlehensanteil freiwillig. Es ist in unserem Modell mit einer überschaubaren Nebentätigkeit – plus Sockel, plus Zuschussbetrag, den es dann geben soll – möglich, im Monat über 800 Euro zu bekommen, ohne auch nur 1 Euro davon zurückzahlen zu müssen. Davon träumen doch heutzutage viele Studierende. Auch das ist im aktuellen BAföG-Modell nicht möglich. ({11}) Gleichzeitig schafft die Möglichkeit des Darlehens allen die nötige Absicherung, und zwar in jeder Studiensituation. Wir sorgen dafür, dass kurzfristige Fälligkeiten, zum Beispiel für das Semesterticket oder die Mietkaution, unproblematisch finanziert werden können. Auch das ist ein Problem des aktuellen BAföG. Wir versprechen also nicht wie manch andere mehr Geld für alle oder mehr Geld nur für eine kleine Gruppe, sondern handfeste Chancen für jeden. Die Bausteine lassen sich flexibel zusammensetzen und einfach per Smartphone-App verwalten. Das Modell ist mit bisherigen Haushaltsmitteln weitgehend gegenfinanziert und bereits ab Sommersemester 2020 umsetzbar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können es sich jetzt sehr einfach machen und im Status quo verharren – das wird die massiven Probleme der Studierenden nicht lösen –, oder Sie arbeiten konstruktiv mit uns zusammen an einer großen Reform, die Generationen von Studierenden handfeste Bildungschancen verschafft. Unsere Einladung dazu steht. Packen wir es also an! Abwarten ist keine Lösung. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Gohlke, Die Linke. ({0})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt hat die Bundesregierung also endlich einen Vorschlag gemacht, um das BAföG auf Vordermann zu bringen – endlich! –, und trotzdem kommt irgendwie nicht so richtig Jubelstimmung auf, was die Bundesregierung so gar nicht begreifen kann. Dabei ist es aus meiner Sicht wirklich nicht so schwer zu verstehen; denn die BAföG-Reform der Großen Koalition, sie kommt zu spät, und sie fällt zu gering aus, ({0}) und das geht ganz klar auf Kosten der jungen Generation. Es untergräbt den sozialen Ausgleich in unserer Gesellschaft, und das darf nicht so bleiben. ({1}) Das BAföG war mal eines der bedeutendsten Instrumente für sozialen Ausgleich, und es war mal die Möglichkeit schlechthin für junge Menschen, trotz geringer Einkommen der Eltern, trotz nichtakademischer Elternhäuser eine gute Ausbildung und ein Studium aufnehmen zu können. Dieses großartige Instrument verliert unter der Großen Koalition jedes Jahr an Bedeutung – jedes Jahr! Das ist eine bildungspolitische, das ist aber auch eine sozialpolitische Katastrophe; anders kann man das nicht nennen. ({2}) Die finanziellen Nöte, die hier entstehen, treffen bei weitem nicht nur die Geringverdienenden; denn den Kindern ein Studium zu finanzieren, wird immer mehr zur Last und eben auch zur Herausforderung, auch für durchschnittlich verdienende Haushalte. Das müssen Sie doch auch mal zur Kenntnis nehmen. Besonders krass ist die Misere bei den Wohnkosten sichtbar. Die Regierung will die Wohnpauschale im BAföG jetzt auf 325 Euro anheben. Aber viele können von diesem Betrag die Miete nicht bezahlen, und – logisch – da lässt auch niemand die Sektkorken knallen. Das ist ja klar. In Hamburg wurde gerade ein Studentenzimmer inseriert: 12 Quadratmeter für 750 Euro. ({3}) Ein Zimmer in den Wohnheimen des Studierendenwerks, von denen es viel zu wenige gibt, kostet 400 Euro. Und Sie, Frau Karliczek, stellen sich hin und sagen, das sei ja alles kein Problem; wenn sich Studierende die Miete nicht leisten könnten, dann sollten sie eben woanders hinziehen; schließlich sei es ja überall in Deutschland schön. So haben Sie das gesagt, auch im „Spiegel“-Interview genau so wiederholt. ({4}) Das finde ich wirklich bemerkenswert kaltschnäuzig. ({5}) Es ist nämlich gar nicht so, Frau Karliczek, dass man einfach frei entscheiden kann, wo man studiert. Studierende müssen ganz oft den Studienplätzen hinterherziehen – das ist die Situation –, und im schlimmsten Fall werden Studierende dann irgendwann auch mal ihren Studienplatz absagen müssen, wenn sie kein bezahlbares Dach über dem Kopf finden können. Was bedeutet Ihre lapidar dahingesagte Antwort eigentlich für die Entwicklung unserer Hochschulen und unserer Städte? Dass es dann bald Städte gibt, in denen nur noch die Kinder reicher Eltern studieren, und in den anderen studiert der Rest, an den Hochschulen für die Armen und Geringverdienenden? Das ist doch eine gruselige Vorstellung. Das können Sie doch nicht im Ernst wollen. ({6}) Ich sage Ihnen eines: Erst kriegt diese Regierung keine wirksame Mietpreisbremse hin, die den Mietenanstieg tatsächlich verhindert. Dann versäumen Sie es als Bund, in Studierendenwohnheime zu investieren, und dann stellen Sie sich hin und sagen: Wer es sich nicht leisten kann, der hat halt Pech gehabt. – Das kann wohl nicht wahr sein. ({7}) Das ist Ihr Job als Regierung, dafür zu sorgen, dass man an allen Hochschulstandorten in Deutschland wohnen und auch studieren kann. Das ist wirklich Ihr Job. ({8}) Beim BAföG-Grundbedarf genau dasselbe Drama! Der Grundbedarf soll jetzt auf 427 Euro steigen. Aber diese Zahl gleicht weder den Kaufkraftverlust seit der letzten BAföG-Novelle noch den zu erwartenden Kaufkraftverlust für das kommende Jahr aus, und für all die Studis, die in großen Hochschulstädten studieren, reicht der Betrag schon lange nicht, um ihre grundlegenden Ausgaben zu decken. Das heißt, Ihre BAföG-Reform, die Sie hier so voller Verve präsentieren, liegt deutlich unterhalb der Armutsgrenze. Das ist die Situation. ({9}) Das heißt zusammengefasst: Erstens. Mit dieser BAföG-Reform geht die große Masse der Studierenden leer aus, weil die Bundesregierung die Freibeträge für das elterliche Einkommen eben nicht substanziell erhöht und damit den Kreis der Anspruchsberechtigten nicht substanziell erweitert. Ihre BAföG-Reform bedeutet zweitens: Für die wenigen, die BAföG beziehen, bleibt das Leben eben eine Mischung aus Jobben, aus Prüfungsstress und aus Geldnot, und das ist wirklich kein Grund zum Jubeln. ({10}) Wir als Linke bleiben dabei: Das BAföG braucht eine wirklich grundlegende Reform. Dazu gehört, die Fördersätze so anzuheben, dass sie eben existenzsichernd sind. Dazu gehört, die Wohnpauschale so zu erhöhen, dass sich davon die Miete auch bezahlen lässt. Dazu gehört außerdem, dass das BAföG endlich lebenslanges Lernen unterstützen muss. Das liegt Ihnen doch so am Herzen, Frau Ministerin. Das betonen Sie doch immer. Ja, dann schaffen Sie doch endlich mal die Altersgrenzen ab! Die behindern nämlich das lebenslange Lernen. ({11}) Zu einer echten BAföG-Reform gehört vor allem, dass Sie das BAföG endlich dynamisieren, es also automatisch an die Preisentwicklung anpassen; ({12}) denn diese ganzen Hängepartien, die die Studierenden hier Jahr für Jahr durchmachen, dieses ganze Gezerre und Gestreite zwischen den Koalitionspartnern darüber, um wie viel die BAföG-Sätze denn jetzt steigen dürfen, das alles könnte Schnee von gestern sein, wenn es einfach automatisch passieren würde. ({13}) Das würde Generationen von Studierenden und ihren Eltern wirklich viel ersparen. Machen Sie das BAföG endlich wieder zu einem ­Instrument für sozialen Ausgleich! Vielen Dank. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach einem Jahr im Amt legt Ministerin Karliczek ihren ersten Gesetzentwurf vor. Damit haben Sie zwar Horst Seehofer als untätigsten Minister abgehängt, aber im Ernst, Frau Karliczek: Ihre Änderungsvorschläge zum BAföG sind nichts weiter als eine Alibinummer. Statt einer Strukturreform der Studienfinanzierung legen Sie eine halbgare Novelle vor, und das reicht einfach nicht. ({0}) Ihren Entwurf wird der Bundestag überarbeiten müssen, damit tatsächlich ein Plus für Bildungsgerechtigkeit herauskommt. Der Wohlstand unseres Landes beruht auf Bildung, und dafür brauchen Schüler, Studierende und ihre Familien bestmögliche Unterstützung. ({1}) Übrigens: Unter Schwarz-Gelb ging es dem BAföG historisch immer am schlechtesten. Daher ist es unglaublich unglaubwürdig, wie die FDP hier aufgespielt hat. Es gibt so viele Studierende wie nie zuvor, aber BAföG erhalten nur noch die wenigsten. 87 Prozent der Studierenden sind außen vor. Allein zwischen 2013 und 2017 ist die Zahl der BAföG-Empfänger um 200 000 gesunken – ein verheerender Abschwung und Folge Ihrer miserablen BAföG-Politik. ({2}) Auf rekordverdächtige Höhen angestiegen ist nur die Zahl der Studierenden in Nebenjobs, um irgendwie über die Runden zu kommen. Eine 60-Stunden-Woche hält auf Dauer niemand durch. Wir wollen keine Abbrüche provozieren, sondern Studienerfolge finanzieren. ({3}) Wo Studienfinanzierung versagt, wird am Nötigsten gespart. Bei den einkommensschwächsten Studierenden liegen laut DSW die Ausgaben fürs Essen zum Teil unter dem physiologischen Existenzminimum. Das heißt, einige sparen sich das Studium vom Munde ab. Das ist eine Schande für unser reiches Land. Das BAföG muss zum Leben reichen. ({4}) Statt zuverlässig mehr in Bildungsgerechtigkeit zu investieren, handelt die Ministerin beim BAföG nach Gutsherrenart. Freihändig hebt sie in zwei Kleckerschritten die Fördersätze an, die Freibeträge sogar in drei Schrittchen. Warum kommen diese Erhöhungen nicht sofort in einem Rutsch zum nächsten Semester? Nach sechs BAföG-Nullrunden für Studierende müssen Sie klotzen statt kleckern. ({5}) Mich wundert es nicht, dass der Bundesrat, die Gewerkschaften, sogar die Arbeitgeber, Studierendenverbände und das Deutsche Studentenwerk unisono sagen: Die geplanten Änderungen reichen nicht. ({6}) Recht haben sie. Was Sie vorlegen, ist eben keine Trendumkehr; das ist Mangelverwaltung. ({7}) Was muss konkret geändert werden? Wir meinen, Fördersätze und Freibeträge müssen sofort um mindestens 10 Prozent steigen und danach automatisch und regelmäßig, damit Schluss ist mit Willkür. Studentisches Wohnen liegt uns in der Tat auch am Herzen, Frau Karliczek, und natürlich braucht es mehr Wohnheimplätze. Aber wo bleibt denn dann die Karliczek-­Seehofer-Initiative für ein Bauprogramm für studentisches Wohnen? Dafür sind Sie doch auch in der Verantwortung. ({8}) Nichtsdestotrotz müssen Sie bei der Wohnpauschale dringend nachbessern: Denn in München oder Hamburg finden Studierende für die 325 Euro, die Sie vorsehen, nirgendwo eine Bleibe. Darum ist eine Pauschale auf Basis der Stufen des Wohngeldgesetzes die richtige und gerechtere Antwort. ({9}) Wer studieren will, soll den Studienort danach aussuchen, wo das Studienangebot passt. Frau Karliczek riet, man möge dort studieren, wo man es sich leisten kann. Und das ist wirklich zynisch. Wenn Sie Exzellenzuniversitäten in teuren Städten fördern, dann müssen junge Talente armer Eltern auch dort studieren können. Wir wollen Bildung und Forschung in der Spitze und in der Breite fördern; nur das ist fair. ({10}) Weitere Reformpunkte, die überfällig sind: Unterstützung von Studierenden, die Angehörige pflegen, BAföG-Öffnung für Teilzeitstudierende, Förderung von Orientierungssemestern, die Förderlücke für Geflüchtete schließen. Das alles sind Fortschritte, die nicht nur wir, sondern auch der Bundesrat fordern. Sie gehören in die Novelle. Bessern Sie also nach! ({11}) Mehr Fortschritt brauchen wir auch bei der Vereinfachung von Anträgen und beim Online-BAföG. 590 Onlineanträge gab es im Zeitraum Juni 2017 bis April 2018. Das bewegt sich im lächerlichen Promillebereich. Den BAföG-Antrag an jeder Milchkanne ausfüllen zu können, muss der Anspruch sein. Dafür sollten Sie streiten, Frau Karliczek. ({12}) Ihre halbgare Novelle setzt auf Tarnen statt auf Transparenz. Die Regierung will den BAföG-Bericht von 2019 in das Jahr 2021 verschleppen. Dabei sagt das Gesetz klipp und klar: Alle zwei Jahre hat die Regierung dem Bundestag diesen Bericht vorzulegen. Und das aus einem guten Grund: So können wir flott auf Reformbedarfe reagieren und das BAföG auf der Höhe der Zeit halten. So soll es sein, und so soll es auch bleiben. ({13}) Union und SPD haben ganz offensichtlich keine Idee, wie sie den krassen Bedeutungsverlust des BAföGs stoppen. Die Debatte über die Weiterentwicklung der Studienfinanzierung ist überfällig. Wir wollen sie seit langem führen, FDP und Linke auch. Als Grüne im Bundestag schlagen wir vor, das BAföG zu einem Zwei-Säulen-Modell auszuweiten: Wir wollen einen Studierendenzuschuss als Basis für alle plus einen Bedarfszuschuss für Studierende einkommensarmer Eltern. Beide Säulen sollen Vollzuschüsse sein; damit senken wir die Sorge vor Verschuldung auf null. ({14}) Das Gute am BAföG erhalten und die Nachteile korrigieren, darauf zielt unser Zwei-Säulen-Modell; denn die staatliche Studienfinanzierung muss gerechter, verlässlicher und leistungsfähiger werden. ({15}) Ministerin Karliczek, fangen Sie doch mal an zu kämpfen! Und Herr Minister Scholz – trotz der Klingbeil-­Oppositionsrede ist ja auch die SPD in der Regierung –, ({16}) öffnen Sie endlich Ihr Portemonnaie für ein besseres BAföG! ({17}) Denn ohne deutliche Korrekturen am Entwurf der 26. BAföG-Novelle, ohne eine echte Reform droht der 50. Geburtstag des BAföGs 2021 eher ein Trauerspiel als eine Freudenfeier zu werden. Sorgen Sie für eine Feier! ({18})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Stefan Kaufmann, CDU/CSU. ({0})

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Union ist der Garant für ein modernes und leistungsfähiges BAföG und für eine gute Zukunft vieler junger Studierender, die sich ein Studium sonst nicht leisten könnten. ({0}) Wir, die Union, waren es, lieber Kollege Klingbeil, die im Jahr 2008 nach mehr als sieben Jahren Stillstand unter Rot-Grün das BAföG weiterentwickelt haben. Wir waren es, die dann im Jahr 2010 gemeinsam mit der FDP eine nächste große BAföG-Reform auf den Weg gebracht haben. ({1}) Wir waren es, die in der vergangenen Wahlperiode gemeinsam mit der SPD die bisher größte BAföG-Reform aller Zeiten beschlossen haben. ({2}) Und die Union ist es, die nunmehr gemeinsam mit der SPD mit dem 26. BAföG-Änderungsgesetz den nächsten großen Schritt für eine moderne Ausbildungsförderung macht. ({3}) Fakt ist also: Niemand, meine Damen und Herren, hat so viel für die Ausbildungsförderung junger Menschen in diesem Land getan wie die Union. Auch das möchte ich heute mal sagen. ({4}) Nachdem wir als Bund bei der letzten BAföG-Reform im Jahr 2015 die alleinige Zuständigkeit übernommen haben, nutzen wir nun verantwortungsvoll unsere Gestaltungskraft, um die Ausbildungsförderung weiter zu modernisieren und zu stärken. Mit der vorliegenden Novelle wird das BAföG nun auch in dieser Wahlperiode noch besser und attraktiver: Mit deutlich höheren Fördersätzen und Einkommensfreibeträgen, mit einem höheren Wohnzuschlag, höheren Vermögensfreibeträgen und attraktiveren Rückzahlungsmodalitäten für das Darlehen verbessern wir das BAföG deutlich – die Ministerin hat dazu ja schon einiges ausgeführt –, und das, meine Damen und Herren, lassen wir uns in diesem Hause nicht kleinreden. Mehr als 1,2 Milliarden Euro nimmt die Koalition dafür in die Hand. ({5}) Und ja: Wir wollen damit bis zum Jahr 2021 eine Trendumkehr bei der Zahl der Geförderten erreichen. Dies, meine Damen und Herren, ist in Zeiten wirtschaftlicher Stärke und damit glücklicherweise guter und steigender Einkommen eine große Herausforderung. Und eine große Herausforderung ist auch, die rund 50 Prozent förderberechtigten Studierenden zu erreichen, die heute gar keinen Antrag stellen; auch darüber reden wir zu wenig. Solange jedenfalls die Studierendenanfängerzahlen auf einem Rekordhoch sind und die Abiturientenquote ebenfalls auf höchstem Niveau bleibt, so lange kann man beim besten Willen nicht davon sprechen, dass wir in Deutschland nicht genug tun würden, um möglichst allen Berechtigten ein Studium zu ermöglichen – ({6}) ein Studium im Übrigen ohne Studiengebühren an gut ausgestatteten Hochschulen mit einem extrem hohen Ausbildungsniveau. Dazu haben wir als Bund in den vergangenen Jahren maßgeblich beigetragen: mit Milliardenbeträgen für den Hochschulpakt, für den Qualitätspakt Lehre, die Exzellenzinitiative und auch durch die vollständige Übernahme der BAföG-Kosten 2015. Die Länder, meine Damen und Herren, haben durch ebenfalls hohe Steuereinnahmen ausreichend Spielraum, die Hochschulen fit für die Zukunft zu machen und beispielsweise im Bereich der Digitalisierung ordentlich nachzulegen; denn hier besteht dringend Handlungsbedarf; das hat uns die EFI ins Stammbuch geschrieben. Und ich erwarte von den Ländern, dass sie ihrer Verantwortung gerecht werden; denn es reicht eben nicht, im Bundesrat große BAföG-Versprechungen zu beschließen, die die Länder gar nicht mehr finanzieren müssen. Nein, jede staatliche Ebene muss die ihr durch das Grundgesetz zukommende Aufgabe bestmöglich erfüllen. Und dazu gehört auch – die Ministerin hat es angesprochen –, dass die Länder endlich mehr für bezahlbaren Wohnraum tun, auch und gerade für Studierende; ({7}) denn nur dadurch werden wir die seit Jahren stetig ansteigenden Mietpreise in den Griff bekommen. ({8}) Helfen soll dabei durchaus auch das milliardenschwere Wohnungsbauprogramm des Bundes. Wir überlassen jedenfalls die BAföG-Anpassung bewusst nicht irgendeinem Automatismus – das ist ja auch immer wieder Thema –; vielmehr wollen wir als Parlament selbstbewusst mit ganz konkreten Punkten die Weiterentwicklung des BAföGs gestalten. Das zeigt sich beispielsweise bei den Rückzahlungsmodalitäten, die wir in dieser BAföG-Novelle völlig neu konstruieren und bei denen wir deutliche Verbesserungen für die BAföG-Empfänger erzielen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese parlamentarischen Gestaltungsspielräume sollten wir uns doch nicht durch einen Automatismus bei der BAföG-Reform nehmen lassen. ({9}) Für meine Fraktion kann ich bereits heute ankündigen, dass wir die Ausnahmesituation, in der sich Studierende mit zu pflegenden Angehörigen befinden – Kollege Gehring hat es angesprochen –, würdigen wollen und hierzu gemeinsam mit dem Koalitionspartner auch einen entsprechenden Antrag formulieren. Zu den drei Anträgen der Oppositionsfraktionen möchte ich heute gar nicht viel sagen. Wir haben ja in den Ausschusssitzungen noch Gelegenheit, darüber zu diskutieren. Klar ist: Die Linke und auch die FDP wollen ein elternunabhängiges BAföG, also sozusagen ein Studierendeneinkommen. Über die Kosten schweigen sie sich natürlich aus. ({10}) Bei den Linken verwundert mich das nicht, aber bei der FDP, lieber Kollege Brandenburg, verwundert mich das schon. Ich habe, da Sie offensichtlich keine Zeit dazu hatten, Ihren Vorschlag mal durchgerechnet: Bei derzeit 2,9 Millionen Studierenden würden durch die Umsetzung Ihres Vorschlags allein durch den 200-Euro-Sockelbetrag jährlich Kosten in Höhe von 6,9 Milliarden Euro entstehen. ({11}) Wenn wir die 200 Euro dazurechnen, dann sind wir bei 13,9 Milliarden Euro, lieber Herr Brandenburg. ({12}) – Ja. – Da sollen die Kollegen mal ein solides Gegenfinanzierungsmodell berechnen. Ich bin gespannt. Alles, was Sie bisher vorlegen, überzeugt hier jedenfalls nicht.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Kaufmann, der Kollege Brandenburg würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das machen wir im Ausschuss, lieber Kollege ­Brandenburg. Ich kenne die Finanzierungsmodelle, aber das wird lange nicht reichen, um das zu finanzieren, was Sie wollen. ({0}) Wir als Unionsfraktion werden jedenfalls alles dafür tun, die Investitionen in Bildung und Forschung auch in Zukunft auf einem hohen Niveau zu halten. Apropos Zukunft: Die CDU/CSU-Fraktion macht mit ihrer Politik Lust auf Zukunft; deshalb ermutige ich die Studierenden und auch die Studieninteressierten heute ausdrücklich – auch vor dem Hintergrund unserer BAföG-Reform –, einen BAföG-Antrag zu stellen. Die Chancen auf eine BAföG-Förderung sind gut, und sie steigen zum kommenden Wintersemester mit dieser Novelle nochmals deutlich an. Die Angst vor Verschuldung ist unseres Erachtens unberechtigt, und auch die Sorge vor zu viel Bürokratie sollte und muss niemanden davon abhalten, einen BAföG-Antrag zu stellen. Ich freue mich jedenfalls auf die nun beginnenden Beratungen zum 26. Änderungsgesetz und bin überzeugt, dass uns am Ende erneut ein gutes Gesetz und ein großer Wurf für eine weitere Modernisierung der Ausbildungsförderung gelingen wird. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Brandenburg.

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Kollege Kaufmann, also es freut mich sehr, dass auch Sie sich sehr intensiv mit unserem Antrag auseinandergesetzt haben. Ich möchte nur etwas klarstellen; denn Sie haben in der Rechnung eben falsche Zahlen dargestellt und sind explizit auf den Sockelbetrag eingegangen. Das sind Ausgaben, die wir im Bundeshaushalt über das Kindergeld bisher schon haben. Das ist eine direkte Auszahlung an die Studierenden, für die es gedacht ist. Insofern verstehe ich nicht, wieso dabei zusätzliche Milliardenkosten entstehen sollten. Wir haben es sehr genau durchgerechnet. Wir können uns das im Ausschuss auch sehr gerne anschauen. Es geht um wenige Hundert Millionen Euro. Das ist durchaus zu stemmen. Das ist ab dem nächsten Jahr bereits umsetzbar. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Kaufmann, wollen Sie gleich antworten oder erst im Ausschuss? ({0}) – Im Ausschuss. Dann hat das Wort der Kollege Kaczmarek, SPD. ({1})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht ist es notwendig, zu Beginn noch einmal eine grundsätzliche Anmerkung dazu zu machen, warum wir das BAföG novellieren. Wir wollen eine Ausbildungsförderung, die Sicherheit für diejenigen gibt, die sich entscheiden, ein Studium aufzunehmen. Wir wollen, dass man das einfach in Anspruch nehmen kann. Wir wollen mit dieser Novelle erreichen, dass das eben für viel mehr Menschen gilt. ({0}) Wir sind uns hier ja einig, dass das Studium kein Königsweg ist, dass es eine Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung gibt. Gleichzeitig müssen wir aber sagen: Niemand darf vom Studium aus materiellen Gründen abgehalten werden. ({1}) Wir können es uns eben nicht leisten, auf Talente zu verzichten. Sie kennen die Zahlen: Etwa dreimal so viele Kinder aus Akademikerfamilien als Kinder aus Arbeiterfamilien nehmen ein Studium auf. Deswegen sagen wir: Wir müssen denjenigen eine Chance eröffnen, die heute noch keine Chance haben. Wir müssen in die Stadtteile gehen, wo Kinder leben, die bisher kaum Chancen hatten, das Abitur zu machen, deren Eltern kein Abitur gemacht haben. Wir müssen lernen, dass das keine Problemviertel oder Problemmilieus sind, sondern dass das, gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels, die Orte und die Menschen mit dem größten Potenzial sind. Da leistet das BAföG einen wichtigen Beitrag für Chancengleichheit. Wir freuen uns, dass wir es heute erhöhen können. Wir machen das aus Überzeugung. ({2}) Es ist ja richtig: Seit Jahren ist es ein Ärgernis, dass nur etwa die Hälfte aller potenziell Antragsberechtigten einen Antrag stellen. Das Antragsverfahren ist angesprochen worden. Das DSW hat ermittelt: Fünfeinhalb Stunden sind notwendig, um die Materialien und Unterlagen für einen BAföG-Antrag zu besorgen und diesen vollständig auszufüllen. Das ist zu aufwendig und abschreckend. Ich finde aber, was wir zu leisten haben, ist, die grundsätzliche Haltung, die dahinterliegt, deutlich zu machen. Unsere Haltung als Sozialdemokratie – das ist auch die Haltung der Koalition – ist: BAföG ist ein Anspruch und eine Chance für viele junge Menschen. Wir wollen uns mehr Mühe geben, das BAföG an den Mann und an die Frau zu bringen. Das ist die Messlatte für die Regierung. Wir müssen uns dabei viel mehr Mühe geben. Das Bildungsministerium muss mindestens so viel investieren wie in das Deutschlandstipendium, um auch das BAföG bekannt zu machen und die Menschen zu ermuntern, ihren BAföG-Antrag zu stellen. ({3}) Wir wollen das heute deutlich machen und auch eine Ermunterung aussprechen – Herr Kaufmann hat das gerade schon getan –: Stellen Sie Ihren Antrag! Sie haben ein Recht darauf. Niemand darf vom BAföG abgeschreckt werden. ({4}) Ein weiteres Hindernis, einen Antrag zu stellen, ist oft die Aussicht auf Verschuldung nach dem Studienabschluss. Ich muss sagen: Ich war schon sehr überrascht, Herr Brandenburg, dass Sie ein Modell vorschlagen – die AfD macht es so ähnlich –, das mit einer massiven Ausweitung der Verschuldung von Studierenden verbunden ist, ({5}) und zwar für diejenigen, die den höchsten Bedarf haben, die darauf angewiesen sind, BAföG zu bekommen. ({6}) In diesem Zusammenhang von Chancengleichheit zu sprechen, hat mir schon fast die Sprache verschlagen, meine Damen und Herren. ({7}) Es gibt an der Stelle einen klaren Unterschied zwischen den Vorschlägen, die die FDP und die AfD gemacht haben, und dem, was wir heute als Gesetzentwurf vorgelegt haben. Wir sorgen dafür, dass die Verschuldungsgrenze nicht weiter ansteigt. Diese Koalition sorgt dafür, dass keine unbegrenzte Ausweitung der Verschuldung infolge des BAföG-Bezugs möglich wird. Das ist ein Erfolg, den wir erreicht haben. ({8}) Richtig ist: Die Wohnkostenentwicklung ist ein Problem – nicht nur in München und in Köln, sondern auch in mittelgroßen Hochschulstädten. Die Erhöhung der Wohnpauschale um 75 Euro – ich sage es noch mal: das sind fast 25 Prozent, fast ein Viertel – hilft bei diesem Problem. Aber wir sind uns doch alle darüber einig: Die Krise am Wohnungsmarkt ist nicht mit immer höheren Beihilfen für die Betroffenen zu lösen. ({9}) Die Koalition hat da bereits reagiert. ({10}) Wer hier sagt, dass die Koalition auf die Wohnungskrise noch nicht reagiert habe, der behauptet Falsches; denn wir haben bereits 5 Milliarden Euro für sozialen Wohnungsbau nach der Verfassungsänderung zur Verfügung gestellt. ({11}) Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass auch Studierende davon profitieren, und zwar durch neu gebaute Wohnungen, durch öffentliche gemeinnützige Studentenwohnheime. Wir haben reagiert. Man muss aber beides tun: sowohl die Wohnpauschale steigern als auch bauen. Bauen ist besser, als das Geld steigenden Mieten hinterherzutragen. ({12}) Wir beraten hier heute, meine Damen und Herren, eine BAföG-Novelle in lange nicht mehr gesehenem Ausmaß. Wir haben uns im Koalitionsvertrag ja schon darauf verständigt, 1 Milliarde Euro prioritär – also bevor viele andere Ausgaben angemeldet worden sind – für das BAföG zur Verfügung zu stellen. Wir haben also Verantwortung übernommen und gesagt: Dieses Geld wollen wir in die Ausbildungsfinanzierung investieren. – Schon allein das war ein Erfolg. Ich will aber auch darauf hinweisen: Der Gesetzentwurf sieht jetzt schon ein Volumen von mehr als 1,2 Milliarden Euro vor. Das zeigt: Das BAföG ist der SPD, der Koalition, aber auch dem Finanzminister wichtig; denn sonst hätte es diese Ausweitung des Volumens über das, was im Koalitionsvertrag vorgesehen ist, hinaus gar nicht gegeben. Das zeigt auch: Bildungspolitische Vorhaben der Koalition haben Vorfahrt, wenn man für sie kämpft. Das ist eine der größten BAföG-Erhöhungen der letzten Jahre. ({13}) Unter dem Strich muss man sagen: Die Regierung hat uns eine solide Vorlage geliefert. Wir gehen einen großen Schritt nach vorne. Wir werden jetzt im Gesetzgebungsverfahren darauf achten, dass wir das Ziel, das wir uns vorgenommen haben, tatsächlich erreichen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Kaczmarek, der Kollege Gehring würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, natürlich.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade gesagt: Das ist eine der größten BAföG-Reformen der letzten Jahre. – Sie sprechen unisono von einer Trendumkehr. Ich will Sie noch mal als Vertreter der Regierungsfraktion SPD fragen: Wie passt denn das zu den Zahlen des Statistischen Bundesamtes? Ich habe vorgetragen: Zwischen 2013 und 2017 ist die Zahl der BAföG-Empfänger um 200 000 gesunken. – Frau Karliczek hat mir in der Regierungsbefragung erläutert, wie der Effekt ihrer BAföG Reform sein wird. Sie hat gesagt, dass 100 000 zusätzliche Anträge gestellt werden. Bei 100 000 zusätzlichen Anträgen durch Ihre Reform – man kann sagen: 80 Prozent haben Erfolg – bleibt unter dem Strich ein ganz deutliches Minus bei der Zahl der BAföG-Empfänger. Wie kommen Sie denn dazu, zu sagen, dass das eine Trendumkehr oder eine große BAföG-Reform ist? Ich wüsste gerne, mit wie vielen zusätzlichen Anträgen die SPD rechnet. Die Ministerin selber rechnet mit 100 000. Damit kompensieren Sie nicht mal die, die in den letzten Jahren rausgerutscht sind. ({0})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Niemand stellt die Zahlen aus dem BAföG-Bericht in Abrede; gar keine Frage. Genau deswegen nehmen wir dieses Geld auch in die Hand. Mein Punkt ist folgender: Wenn im Bundeshaushalt 1,2 Milliarden Euro für das BAföG zusätzlich vorgesehen sind, die Freibeträge in drei Schritten um 16 Prozent angehoben werden, kann man doch nicht ernsthaft behaupten, dass das nichts ist, dass das kein Fortschritt beim BAföG ist. Im Gegenteil: Das ist ein großer Fortschritt, den wir erreichen wollen ({0}) und für den wir viel Geld in die Hand nehmen. Ich bin der Meinung, dass man das betonen darf. Was Ihre Frage nach der Zahl der zusätzlich Geförderten angeht: Natürlich ist das der Maßstab, an dem wir uns messen lassen werden. Wir wollen, dass nach dieser Novelle nachweislich mehr Menschen BAföG erhalten – das ist genau das, was wir im Gesetzgebungsverfahren in den Vordergrund stellen werden –, dass die Kurve der Zahl der Geförderten nicht weiter nach unten, sondern nach oben geht. Daran werden wir uns messen lassen. ({1}) Diese Novelle ist eine der größten Novellen der letzten Jahre. Wir wollen viel mehr Geld für viel mehr Menschen ausgeben. Wir wollen die Menschen ermuntern, ihren Antrag zu stellen. Die Trendwende – das habe ich gerade gesagt – ist das zentrale Versprechen der Koalition und mit dieser Novelle verbunden. Daran werden wir arbeiten, und das werden wir dann auch in der zweiten Lesung nachweisen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die voraussichtlich letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Katrin Staffler, CDU/CSU. ({0})

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir denken bei dieser Reform über neue Wege nach. Wir nehmen eine Neubewertung vor und gestalten das BAföG, statt es nur zu verwalten. Wir zeigen den Willen zur Trendumkehr, und wir unterstützen den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung, damit der Weg frei ist für bessere Perspektiven für junge Menschen. Liebe Nicole Gohlke, lieber Kai Gehring, das eine oder andere, was ich gerade gesagt habe, mag Ihnen vielleicht bekannt vorgekommen sein. Das entspricht nämlich genau den Aufforderungen, die Sie vor ziemlich genau einem Jahr hier in diesem Haus an uns gerichtet haben. Die gute Nachricht am heutigen Vormittag lautet: Diesen Aufforderungen ist die Bundesregierung jetzt nachgekommen. Wir haben geliefert. Damit ist das Versprechen, das BAföG in dieser Legislaturperiode als Toppriorität zu behandeln, eingehalten. ({0}) Ich verzichte jetzt weitestgehend darauf, Ihnen die Details der Gesetzesänderung noch mal zu erklären und in den Einzelheiten darzulegen. Ich glaube, das hat die Ministerin eindrucksvoll gemacht. Aber spätestens seit ihrer Rede müsste ja auch Ihnen als Opposition klar geworden sein, dass dieses kritische und vor allem defizitäre Bild, das Sie hier von unserer BAföG-Novelle zeichnen, einfach nicht zutrifft. ({1}) Wenn wir gerade beim Stichwort „defizitär“ sind, liebe Opposition: Zu den vorliegenden Anträgen kann man, ehrlich gesagt, auch nicht viel mehr sagen als das, was der Kollege Kaufmann schon gesagt hat. Ehrlicherweise muss man sagen: Diese Anträge sind uns ja sehr gut bekannt. Wir haben im letzten Jahr zwei oder drei Diskussionen zu genau solchen Anträgen gehabt. Die Argumente sind auch da schon sehr deutlich ausgetauscht worden. Aber vielleicht kann ich an der Stelle auch mal etwas an Sie zurückgeben. Ich möchte Ihnen vorschlagen: Nehmen Sie sich doch mal ein Vorbild an der Bundesregierung; denn im Gegensatz zu Ihnen hat sie Vorschläge vorgelegt, die im Rahmen der Möglichkeiten auch finanzierbar sind ({2}) und mit denen wir – davon bin ich, ehrlich gesagt, fest überzeugt – förderbedürftige Auszubildende auch wieder sehr viel besser erreichen werden. ({3}) Wir werden vor allem diejenigen erreichen, die zuvor aufgrund von Verschuldungsängsten davon abgesehen haben und davor zurückgeschreckt sind, BAföG zu beantragen. Und vor allem: Der vorliegende Gesetzentwurf wird auch dem Grundgedanken, dass das BAföG eine Sozialleistung ist, wieder gerecht. Es ist nämlich kein Rundum-sorglos-Paket für Studierende, sondern es soll genau diejenigen unterstützen, deren Eltern sich die Studienkosten ihrer Kinder nicht vollständig leisten können. Das ist für mich echte Gerechtigkeit. ({4}) Jetzt mögen Sie anmerken, dass es an der einen oder anderen Stelle noch Änderungsbedarf gibt. Ja, ich glaube auch, dass wir zukünftig noch sehr viel mehr würdigen müssen, wenn beispielsweise Studierende nahe Angehörige pflegen. Es wird dazu auch einen entsprechenden Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen geben; das ist ja bereits angekündigt worden. An der Stelle möchte ich Sie auch gerne noch mal um Ihre Unterstützung in den anstehenden Beratungen bitten. Ich glaube, dass das ein gutes, ein wichtiges Anliegen ist, und dafür sollten wir gemeinsam arbeiten. ({5}) Wenn wir über das BAföG sprechen, müssen wir natürlich auch über das Thema „bezahlbarer Wohnraum für Studierende“ sprechen. Die Ministerin hat es in ihrer heutigen Rede bereits getan. Vor einigen Wochen haben wir ja die Zahlen zu den Mietpreisen in Deutschland bekommen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Als ich die Zahlen gesehen habe, haben die mich ziemlich schockiert. ({6}) Ich weiß nicht, ob Sie die Gemeinde Karlsfeld kennen. Sie liegt in der direkten Nachbarschaft von München und ist eine Kommune in meinem Wahlkreis. Die Gemeinde Karlsfeld ist deutschlandweit absoluter Spitzenreiter bei den Mietpreisen. ({7}) Und wenn ich dann in die direkte Nachbarschaft schaue, nach München, der Heimat von über 100 000 Studierenden, dann muss ich sagen: Da schaut es auch nicht viel besser aus, wenn der Quadratmeter einer typischen Normalwohnung mittlerer Größe, mittlerer Ausstattung, mittlerer Lage 10 Euro kostet. Da kommen wir natürlich angesichts der Wohnungsnot von vielen Studierenden überhaupt nicht drum herum, dass wir handeln. ({8}) Die deutliche Erhöhung der Wohnpauschale beim BAföG um ganze 30 Prozent ist, glaube ich, ein wichtiger Schritt. Es kann aber nur ein erster Schritt sein. Wir müssen gleichzeitig – und das ist ja heute auch schon angesprochen worden – mehr studentischen Wohnraum schaffen. Als Bund sind wir bereit, den Ländern beim sozialen Wohnungsbau ein bisschen unter die Arme zu greifen. Aber die Länder sind jetzt auch in der Pflicht, zu liefern. Was das zum Beispiel für Berlin bedeutet, ist heute auch schon deutlich angesprochen worden. Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist wichtig, dass wir gemeinsam dafür kämpfen, dass wir auch in Zukunft nicht nur die notwendigen Mittel haben, sondern auch den Willen, dieses wichtige Vorhaben umzusetzen, damit wir etwas tun können für die Zukunft, für die Bildung unserer Kinder, unserer Jugendlichen. Das BAföG ist eine wichtige Investition, und ich glaube, da sollten wir gemeinsam tätig werden. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/8749, 19/275, 19/576, 19/8990, 19/8956 und 19/8967 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die AfD-Fraktion beantragt heute, Schwellenländern den Status als Entwicklungsland zu entziehen. Nur in Deutschland wird Entwicklungspolitik noch immer nach dem Herz-Jesu-Prinzip gemacht. Weltmächte wie China sichern sich hingegen systematisch Handelsräume, politische Einflusszonen, Ressourcen und Schlüsseltechnologien. Chinas beispiellose Neue-Seidenstraße-Initiative umfasst eine Vielzahl von Entwicklungs- und Infrastrukturprojekten in der ganzen Welt mit einem Gesamtvolumen von 1 000 Milliarden US-Dollar. Dennoch erhält dieser Wirtschaftsgigant bis 2020 deutsches Entwicklungsgeld und wird auf der DAC-Liste der OECD doch tatsächlich als Entwicklungsland geführt. Ein Zielland chinesischer Investitionen ist dabei auch der G-20-Staat Indonesien. Dort werden Kohlekraftwerke und Stahlhütten mit chinesischem Geld aus dem Boden gestampft. Deutschland leistet auch Entwicklungshilfe in Indonesien. Dort fließt unser Steuergeld in erneuerbare Energien und Klimaschutz, ganz zur Erheiterung der chinesisch-indonesischen Kohlekraftwerksarchitekten. Anlässlich der Reduzierung der Entwicklungsleistungen an Indonesien durch Australien im Jahr 2015 verkündete ein Sprecher des indonesischen Außenministeriums die selbstbewusste Parole: Indonesien ist kein Entwicklungsland mehr, Indonesien benötigt keine Entwicklungshilfe. – Diese Nachricht hat Berlin offensichtlich noch immer nicht erreicht. Sie bezahlen noch immer. Gleichzeitig erhält Indonesien auf Basis der APS-Verordnung, dem Zollpräferenzsystem der Europäischen Union für Entwicklungsländer, obendrauf noch einen bevorzugten Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Und nicht nur Indonesien wird noch immer als Entwicklungsland behandelt. Auch die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt, Indien, genießt Zollbegünstigungen. Erst kürzlich hat US-Präsident Trump seine Regierung angewiesen, Indien die von den USA bisher eingeräumten Handelsvorteile zu streichen. Diesem Beispiel müssen wir folgen. Schließlich ist Deutschland der drittgrößte Warenimporteur. ({0}) 40 Prozent der Steuern im Bund werden vom Zoll eingenommen. Es ist der deutschen Öffentlichkeit nicht zu vermitteln, warum mit eigenen Steuermitteln Wirtschaftsmächte zum eigenen Nachteil subventioniert werden. Diese Länder können ihre weitere Entwicklung in Eigenverantwortung bewältigen. In Indonesien ist die Armutsrate innerhalb von zehn Jahren von 40 auf 5,7 Prozent zurückgegangen. In Indien hat sie sich zwischen 2005 und 2016 halbiert. Und Indien unterhält die zweitgrößte Armee der Welt, verfügt über das fünfthöchste Militärbudget und ein eigenes Kernwaffenarse­nal. Wie kommt man auf die Idee, dass Deutschland auf Zolleinnahmen verzichten oder gar staatliche Aufgaben von potenten Wirtschaftsmächten übernehmen müsse? Geht es uns in Deutschland so gut? Meine Damen und Herren, ich komme aus Baden-Württemberg. In Leimen wohnt die 64-jährige Rosemarie Rosenlehner. Frau Rosenlehner wohnt in einer fensterlosen Schiedsrichterkabine. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten: „Die Flüchtlinge bekommen alles gestellt, sogar die Erstausstattung – und ich muss für alles kämpfen“, sagt die 64-Jährige, mit Tränen in den Augen kämpfend. ({1}) Das ist Ihnen egal. Das wissen wir schon. ({2}) Gehen Sie einmal aus der Bundestagsblase heraus, dann sehen Sie draußen Leute, die Pfand sammeln müssen, damit sie überhaupt über die Runden kommen. Das ist Ihre Politik. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Setzen Sie sich damit einmal auseinander. ({3}) – Natürlich hat das damit zu tun. Hören Sie zu, ich werde es Ihnen gleich erklären. ({4}) Während sich also Frau Rosenlehner von den Behörden im Stich gelassen fühlt, ist Deutschland mit über 22 Milliarden Euro netto im Jahr 2016 der zweitgrößte Geber von Mitteln der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit. 26,6 Prozent dieser Mittel – jetzt hören Sie einmal zu! – wurden für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen in Deutschland bereitgestellt. ({5}) Das war anrechenbar, wie uns die Bundesregierung in einer Antwort auf meine Kleine Anfrage mitgeteilt hat. Ich sage Ihnen ganz klar: Das ist keine soziale Gerechtigkeit, das ist Zweckentfremdung von deutschem Entwicklungsgeld. ({6}) Wir, die größte Wirtschaftsmacht in Europa, machen keinerlei Anstalten, eine an nationalen Interessen orientierte Außenhandels- und Entwicklungsstrategie zu verfolgen und damit etwas für den eigenen Bürger zu tun. ({7}) Genderprojekte in Afrika, Poetry-Slams zur Bewerbung der Agenda 2030 mit den Kiezpoeten oder absurde Förderprogramme für Windräder: In Peking und Washington lacht man doch über uns. ({8}) Wir fordern Sie deshalb auf: Stellen Sie die Entwicklungszusammenarbeit mit Indonesien, Pakistan und Südafrika ein! Entziehen Sie Indien, Indonesien und Pakistan die Zollpräferenzen! Genug Einfluss dafür hat Deutschland in der Europäischen Union. Und sagen Sie der OECD endlich, dass Wirtschaftsgiganten wie China keine Entwicklungsländer sind! ({9}) Entwicklungszusammenarbeit und Außenhandelspolitik müssen sich an nationalen Interessen orientieren, Deutschland dienen. Stimmen Sie deshalb heute unserem Antrag zu! Vielen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Stefan Sauer, CDU/CSU. ({0})

Stefan Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Der Antrag der AfD mag jene begeistern, die sich dafür aussprechen, dass jeder Euro zunächst einmal im eigenen Land ausgegeben werden soll. Es bedarf daher der Erklärung, welche internationalen Abhängigkeiten ebenso betrachtet werden müssen, damit der Weltfrieden nicht weiter ins Wanken gerät und Naturkatastrophen aufgrund von Umweltschäden den Lebensraum vieler Menschen nicht noch weiter gefährden. Die aktuellen weltweiten politischen Beziehungen stehen auf dem Kopf. Die politisch Verantwortlichen sind von nationalen Interessen getrieben und suchen den Vorteil in der nationalen Abgrenzung. Es scheint, als sei die über Jahrzehnte aufgebaute Stabilität verloren gegangen und die politisch Verantwortlichen suchten lediglich ihren eigenen Vorteil. Im Deutschen Bundestag muss es daher das Ziel der verantwortlichen Parteien sein, diese Unruhe nicht noch zu schüren, sondern Beispiele zu geben für geordnete staatliche Strukturen. Dies ist im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit möglich. Entwicklungszusammenarbeit ist eine globale Aufgabe. Deswegen benötigen wir auch globale einheitliche Kriterien dafür, mit welchen Ländern wir diese noch durchführen wollen. Hierfür ist der Maßstab der OECD eine gute Leitlinie. Die AfD stellt nun in ihrem Antrag darauf ab, dass Deutschland beim Development Assistance Committee der OECD, kurz DAC, darauf einwirken möge, einer Reihe von Ländern den Status eines Entwicklungslandes bei der nächsten Evaluierung im Jahr 2020 abzuerkennen. Für das DAC und die Weltbank sind alle Länder grundsätzlich hilfsberechtigt, deren Durchschnittseinkommen zum unteren oder mittleren Einkommen zählt. Aus der Liste der Berechtigten werden Länder entfernt, die die Schwelle zu einem hohen Einkommen dreimal in Folge überschritten haben. Dies, meine Damen und Herren, sind klare Kriterien. Deutschland hält sich an diese Kriterien, sie haben sich bewährt. Eine Partei, die gegen diesen internationalen Konsens verstößt, stört die internationalen Beziehungen und gefährdet somit eine wertvolle vertrauensvolle globale Zusammenarbeit. ({0}) Die größten Probleme unserer Zeit benötigen jedoch gerade globale Lösungen, meine Damen und Herren der AfD. Daher benötigen wir gerade die großen Schwellenländer für die Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens, für die Vermeidung und für das Management des Abfalls – ich erinnere hier an die Kunststoffabfälle in den Meeren –, für die Schaffung von Arbeitsplätzen und Perspektiven, für Hilfestellungen bei der Entwicklung noch ärmerer Länder. ({1}) Folgt man Ihrem Antrag, so soll gelten: Bei der Beurteilung des Entwicklungsgrades eines Staates muss auch politischen und militärischen Faktoren eine Bedeutung beigemessen werden. Der Bezug zu Kernwaffen wird hergestellt. Ich teile die Einschätzung: Je weniger Atommächte es gibt, desto besser ist dies für den Frieden und die internationale Sicherheit. Aber glauben Sie wirklich, dass die Welt sicherer wird, wenn wir diesen Staaten den Rücken zuwenden und sich selbst überlassen? ({2}) Für mich werden hier inhaltliche Bezüge hergestellt, die oberflächlich begeistern sollen, Herr Gauland. Während Sie in der Antragsbegründung immer wieder gerne auf China eingehen, spielt China im Antrag eine untergeordnete Rolle. Ich gehe daher nur kurz darauf ein, insbesondere auch deswegen, weil Herr Frohnmaier hierzu schon falsche Zahlen geliefert hat. Seit dem Jahr 2010 erhält China keine Haushaltsmittel mehr im Sinne der klassischen bilateralen Entwicklungszusammenarbeit. ({3}) Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und die chinesische Regierung arbeiten nur noch dort zusammen, wo eine Kooperation punktuell noch Sinn macht: Rechtskooperationen in den Bereichen nachhaltige Entwicklung, Klima- und Umweltschutz. Dies ist im Interesse Deutschlands, da China schon aufgrund seiner Größe – 1,4 Milliarden Menschen – eine Schlüsselrolle bei der Lösung globaler Zukunftsfragen zukommt. Sie beantragen, die Zusammenarbeit mit Pakistan einzustellen, und Sie nutzen hierbei gerne die amtliche Bezeichnung Islamische Republik Pakistan. Die deutsche Entwicklungshilfe leistet in Pakistan einen aktiven Beitrag zur Bekämpfung von Fluchtursachen, indem sie die strukturschwachen Grenzregionen zu Afghanistan vor allem bei der Versorgung afghanischer Flüchtlinge fördert. Es ist auch im Interesse Deutschlands, Pakistan an dieser Stelle gut zu stabilisieren. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit konzentriert sich darüber hinaus in Pakistan auf drei Schwerpunkte: gute Regierungsführung, Förderung von erneuerbaren Energien und Maßnahmen der beruflichen Bildung und Förderung der Beschäftigung. Dies muss in unser aller Interesse sein. Sehr geehrte Damen und Herren, Indien mit ebenfalls 1,37 Milliarden Menschen bewegt sich wirtschaftlich aufwärts. Das ist richtig beschrieben, aber die Armutsquote ist immer noch enorm. Zwei Drittel der Menschen in Indien müssen mit weniger als 2 US-Dollar pro Tag auskommen. 400 Millionen Inder fallen sogar unter die absolute Armutsgrenze, die bei 1,25 US-Dollar pro Tag liegt. Sie stellen hingegen in Ihrem Antrag positiv heraus, dass sich die Armutsrate zwischen 2006 und 2016 halbiert hat und die Entwicklungszusammenarbeit daher entfallen kann. Sie zeigen sich auch mit der Entwicklung zufrieden, dass in Indien die Kindersterblichkeit pro 1 000 Lebendgeburten auf 32 gesunken ist. Ist Ihnen das nicht selbst unangenehm, was Sie da schreiben? ({4}) Wir müssen das Bewusstsein für Umwelt- und Klimaschutz über Dreieckskooperationen in den Köpfen der Menschen fördern; denn das Wirtschaftswachstum vor Ort ist wichtig, darf jedoch gerade in großen Volkswirtschaften nicht zügellos erfolgen. Deshalb hat das BMZ für das Haushaltsjahr 2019 insgesamt 67,5 Millionen Euro für gemeinsame Projekte vorgesehen. Es sind vor allem Maßnahmen in den Bereichen Energie, nachhaltige Stadtentwicklung und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung. Diese Projekte nehmen wichtige Weichenstellungen vor, damit Wirtschaftswachstum ermöglicht und zugleich die Umwelt geschützt wird. Außerdem stehen knapp 52 Millionen Euro für eine Klimatechnologieinitiative zur Verfügung. Wir nennen dies verantwortungsvolles globales Wirtschaften. Die Schüler, die freitags auf die Straße gehen, haben das entgegen Ihrer Fähigkeit schon begriffen. ({5}) Die von der AfD vorgetragenen Forderungen stellen sich nicht diesen immensen Herausforderungen, sondern versuchen, in einer einfachen Argumentation zu begeistern – und das wiederum ist verantwortungslos. ({6}) Die Argumentation basierte zudem auf verzerrten und teilweise falschen Daten. Auch wenn sich dies für die AfD vielleicht merkwürdig anhört: Es sollte uns eine moralische, aus unserem christlichen Grundverständnis herrührende Verpflichtung sein, auch dem weniger privilegierten Teil der Welt Wege in ein Gleichgewicht des Lebens aufzuzeigen. ({7}) Hoffnung und Zuversicht müssen wir sowohl den Schwellen- als auch den Entwicklungsländern vermitteln, jeweils individuell im Rahmen dessen, was sie prioritär benötigen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Reichtum ist das Privileg Einzelner, doch eine selbstbestimmte Zukunft ohne Hunger und Not ist ein Bedürfnis aller, und dem gilt es Rechnung zu tragen. Gerade Deutschland mit seinem Know-how im umwelttechnischen Bereich und seinem Wissen um gute Ausbildung und gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen kann hier effektiv Hilfestellung leisten. Die AfD fordert in ihrem Antrag: „Keine Förderung im Rahmen … des Außenhandels für Schwellenländer“. Wem, bitte, wäre mit so einer Maßnahme geholfen? Sicherlich nicht der deutschen Wirtschaft, für die ja gerade die Zusammenarbeit mit Schwellenländern eine große Chance darstellt – schließlich gilt es, Zukunftsmärkte gemeinsam zu erschließen. Fazit. Die AfD hat auch mit diesem Antrag deutlich gemacht, dass sie den vielfältigen Zielen der Entwicklungszusammenarbeit nicht positiv gegenübersteht. Mit ihrer Rigorosität und ihrem Tunnelblick fördert die AfD eine Entwicklung, die dazu führen würde, dass noch mehr Menschen ihre Heimat gegen ihren Willen verlassen. ({8}) Die AfD hat Sinn und Zweck der Entwicklungszusammenarbeit nicht verstanden. ({9}) Deshalb wird die CDU/CSU-Fraktion den AfD-Antrag ablehnen, und wir werden unsere Entwicklungszusammenarbeit weiterhin nach vernünftigen Kriterien ausrichten und nicht nach willkürlichen Kriterien, wie es die AfD fordert. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christoph Hoffmann, FDP. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Südbadischen würde man sagen, der vorgelegte Antrag der AfD „isch a rechter Saich“. ({0}) Ich will Ihnen auch sagen, warum: weil hier wieder einmal die Hälfte der Fakten nicht genannt wird, um Ressentiments zu schüren, um Hass zu säen und eine Kluft in die Bevölkerung zu treiben, so nach dem Motto: Deutschland verschenkt Geld, das unsere Armen gut brauchen könnten. – Das haben Sie ja hier auch wieder schön vorgeführt, Herr Frohnmaier. ({1}) Jetzt schauen wir uns aber mal die Wirklichkeit an. Nehmen wir das Beispiel China – das haben Sie ja auch erwähnt –: In 2017 sind an China etwa 600 Millionen Euro ODA-Mittel geflossen. Was waren das denn für Mittel? ({2}) – Jetzt hören Sie gut zu, dann lernen Sie was. ({3}) Das waren eigentlich nur Kreditmittel in großem Umfang, und diese Kreditmittel werden ja wieder zurückgezahlt. ({4}) Also geht dem Steuerzahler eigentlich nichts verloren, und on top gibt es dafür auch noch Zinsen. ({5}) Jetzt schauen Sie mal, wo Sie von einer deutschen Bank noch Zinsen kriegen, wenn Sie Geld anlegen. Sie kriegen da keine Zinsen, aber in dem geschilderten Fall kriegen wir Zinsen. Das nützt uns allen, das nützt auch dem großen Budget des Bundeshaushaltes, und das nützt auch Ihrer Rosemarie Weiß-nicht-wie, die Sie gerade genannt haben. Wir müssen noch weiter schauen. Die Entwicklungszusammenarbeit hat eine strategische Komponente. Das macht genau den Unterschied aus. Das haben Sie noch nicht verstanden. Sie sagen immer, das seien Hilfslieferungen, Hilfszahlungen etc. ({6}) Nein, es geht um wirtschaftliche Kooperation. ({7}) Wenn wir weiterkommen wollen, zum Beispiel mit dem Klimaschutz, dann müssen wir diese strategischen Mittel nutzen. ({8}) China erhält diese ODA-Mittel beispielsweise für den Bau von Windkraftanlagen. ({9}) Die werden zum Teil hier hergestellt ({10}) und helfen, das gesamte Klima in der Welt zu schützen. ({11}) Wir haben ja leider kein nationales Klima, obwohl manche im Saal das meinen, sondern wir haben ein internationales Problem, nämlich die globale Erwärmung. ({12}) Es ist doch im eigenen deutschen Interesse, ({13}) dass wir die Klimakatastrophe stoppen und in den Griff bekommen. ({14}) Da machen dann zum Beispiel auch die Zahlungen an Brasilien zur Rettung des Regenwaldes Sinn. ({15}) Wenn wir es schaffen, dass im Sinne des Klimaschutzes mehr Wald entsteht, dann macht das strategisch einfach Sinn. Von genau diesen strategischen Überlegungen erzählen Sie Ihren Wählern nichts, ({16}) sondern Sie wühlen sie auf, versuchen, den Hass zu schüren. Genau diese, Ihre Politik ist eine Politik, die wir nicht unterstützen können. Deshalb läuft Ihr Antrag hier auch ins Leere. ({17}) Ein weiteres strategisches Element ist zum Beispiel die Produktion von E-Fuels, künstlichen Kraftstoffen. Das kann man am allerbesten in den Gegenden machen, wo die Sonne den ganzen Tag unglaublich stark brennt. ({18}) Da nützt es doch, die Investitionen dort zu unterstützen. Das ist doch die Art von Strategie, die wir brauchen. Zur Einstufung als Entwicklungsland will ich Ihnen auch mal was sagen: Alle Länder sind Entwicklungsländer. ({19}) Alle Länder müssen sich entwickeln. Auch Deutschland: Da müssen wir die AfD überwinden, ({20}) aber nicht nur das. Wir sind zum Beispiel auch Entwicklungsland beim Thema Mobilfunk, bei 5G. Wir sind Entwicklungsland in Sachen Breitband. Wir sind Entwicklungsland in Sachen Kreislaufwirtschaft. Wir sind auch Entwicklungsland in Sachen Klimaschutz. Deshalb kann die Parole nicht wie bei Ihnen „Rückwärts!“ lauten, sondern die Parole muss lauten: Vorwärts und mit strategischen Elementen auch in der Entwicklungszusammenarbeit arbeiten! ({21})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Sascha Raabe, SPD. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Frohnmaier, Sie haben diesen Antrag heute eingebracht und haben in Ihren Ausführungen von einer Dame, 64 Jahre alt, aus Deutschland berichtet, die im Alter schwer über die Runden kommt. Keiner bestreitet, dass wir auch in Deutschland Armut haben und dass wir alles tun müssen, um diesen Menschen zu helfen, gerade im Alter. ({0}) – Es gibt nicht nur Altersarmut, Herr Kollege. Auch alleinerziehende Mütter haben es sehr schwer. ({1}) Das stellt fast noch ein größeres Armutsrisiko dar. Ich sage Ihnen auch, Herr Frohnmaier: Ich komme gerade von einer Dienstreise nach Togo und Ghana zurück, und ich habe dort Kinder gesehen, die in der heißen Sonne morgens nicht zur Schule, sondern mit Macheten auf Kakaoplantagen gehen, um dort Kakaobohnen für die Schokolade abzuschlagen, die Sie hier in Deutschland essen. Alleinerziehende Mütter können es sich, obwohl sie kein Schulgeld zahlen müssen, nicht leisten, die Kinder in die Schule zu schicken, weil sie die Schuluniform und die Lehrmaterialien nicht bezahlen können. Menschen leben dort im Dreck, in bitterster Armut, haben kein sauberes Wasser, schaffen es nicht mal, am Tag genügend Kalorien aufzunehmen, um einigermaßen gesund leben zu können. Wenn sie leichteste Erkrankungen haben, hilft ihnen kein Arzt, und sie sterben daran elendig. ({2}) Ich möchte damit nicht sagen, dass wir nicht auch die Altersarmut in Deutschland bekämpfen müssen; aber ich finde es schäbig und unanständig, dass Sie die Not und das Elend in der Welt gegen Probleme ausspielen, die wir in Deutschland haben. Das ist unanständig von Ihnen! Unanständig, nichts weiter! ({3}) Das eine tun und das andere nicht lassen – das muss doch unser Ziel sein. ({4}) Einerseits müssen wir in Deutschland für Verteilungsgerechtigkeit sorgen und die relative Armut überwinden. Das ist übrigens der Auftrag – vielleicht verstehen Sie es mal –, den sich die Vereinten Nationen mit der Agenda 2030 gegeben haben. Die neuen Ziele, die alle Länder dort entwickelt haben, die auch Deutschland unterschrieben hat, gelten nicht nur für Entwicklungsländer, sondern auch für Industrieländer. Auch in Deutschland muss die relative Armut überwunden werden. Da geht es um diejenigen, die von weniger als der Hälfte oder 40 Prozent des Durchschnittseinkommens leben müssen. ({5}) – Das ist eine Definitionsfrage. Die EU und die UNO nutzen da unterschiedliche Definitionen. – Andererseits müssen wir genauso schauen, dass weltweit Menschen nicht weiter von weniger als 1,25 Dollar bzw. 2 Dollar pro Tag leben müssen. Man darf diese Sachen nicht gegeneinander ausspielen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Raabe, der Kollege Frohnmaier würde gerne eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ach, doch, soll er machen. Jeder blamiert sich immer, so gut er kann.

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Dr. Raabe. – Geht es in dem Antrag, über den wir heute diskutieren, um Staaten wie Ghana, um die bitterärmsten Staaten der Welt, oder wird darin nicht vielmehr von aufstrebenden Wirtschaftsmächten, G-20-Staaten etc. gesprochen? Glauben Sie nicht, dass es ziemlich populistisch ist, wenn Sie in dem Zusammenhang hier den Eindruck erwecken, als hätte ich die ärmsten Staaten der Welt angesprochen? Wenn Sie hier Kinder mit Kulleraugen und Blähbauch etc. erwähnen ({0}) und von Ghana sprechen, versuchen Sie doch, solch einen Eindruck zu erwecken. Es geht doch in dem vorliegenden Antrag um potente Staaten, die in der Lage sind, selbstverantwortlich Entwicklung weiter zu betreiben. Seien Sie doch sachlich! ({1})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Frohnmaier, Sie wenden immer die gleiche Taktik an. Sie legen einen Antrag zu einem Thema vor – in diesem Fall geht es um die Frage, ob wir den ärmsten, den mittleren oder den Schwellenländern mehr Geld geben sollen –, aber anstatt über das eigentliche Thema zu sprechen, führen Sie auf einmal das Beispiel der 64-jährigen Frau aus Deutschland an, der es schlecht geht. Damit erwecken Sie aber den Eindruck, wir würden durch unsere Entwicklungszusammenarbeit Geld verschwenden und den armen Frauen in Deutschland nichts geben. ({0}) Diese Methode taucht in Ihrer Argumentation immer wieder auf. Herr Frohnmaier, Sie haben neulich hier in einer Debatte gesagt, wir brauchen keinen Entwicklungsplan für Afrika, sondern für Deutschland. Sie schreiben in Ihrem Antrag – ich darf zitieren –: Den eigenen Wohlstand zu erhalten und zu sichern sowie die hierfür notwendigen Voraussetzungen zu schaffen muss primäres Interesse sein. ({1}) Ich sage Ihnen: Wir machen Entwicklungszusammenarbeit, damit es allen Menschen auf der Welt gut geht. Es ist in unser aller Interesse, Herr Frohnmaier, dass es allen Menschen auf der Welt gut geht. Das muss doch auch Ihnen mal klar werden. ({2}) So, jetzt können Sie sich setzen. Es hat eh keinen Sinn, wenn ich Ihnen weiter antworte. Sie werden das sowieso nicht verstehen. Sie dürfen sich setzen. Ich bin fertig mit Ihnen. ({3}) Sie haben das Thema „Flüchtlinge und Flüchtlingskosten“ angesprochen. Sie sollten begreifen, dass es gerade in unserem deutschen Interesse ist, Hunger und Armut zu bekämpfen, dass wir Kindern die Möglichkeit geben, in die Schule zu gehen und eine Berufsausbildung zu machen, damit sie aus wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit eben nicht versuchen, nach Europa zu kommen. Das ist doch in unserem Interesse und im Interesse der Menschen. Keiner verlässt sein Land gerne und freiwillig, weil er meint, in Deutschland sei die Musik besser oder die Bratwurst würde hier besser schmecken. Vielmehr fliehen die Menschen, weil sie mit ihren Familien nicht über die Runden kommen. Deswegen ist es gut, wenn wir vor Ort helfen. Lassen Sie uns endlich damit aufhören, die Nöte der Ärmsten der Armen ({4}) gegen Probleme, die wir in Deutschland haben, auszuspielen. Beides müssen wir angehen. ({5}) Sie haben auch etwas zu den Ländergruppen gesagt. Wir von der SPD sagen schon seit langem – das ist auch im Koalitionsvertrag so festgelegt –: Wir müssen in unserem Portfolio insgesamt mehr in die Entwicklungszusammenarbeit mit den ärmsten Ländern, den sogenannten Least Developed Countries, investieren. ({6}) Hier wurde zu wenig getan. Diesen Schuh muss sich das Ministerium auch anziehen. Es wurde in den letzten Jahren von uns und auch von Nichtregierungsorganisationen und dem Entwicklungsausschuss der OECD zu Recht kritisiert, dass wir den Least Developed Countries, den ärmsten Entwicklungsländern, zu wenig geben. Das ist völlig unstrittig. Wir erwarten vom Bundesminister hier ein Umsteuern. ({7}) Sie haben vorhin über Kohlekraftwerke in Indonesien geredet. In Indonesien gibt es mit die weltweit größten zusammenhängenden Regenwälder. Die gibt es auch in Brasilien. Sie führen diese beiden Länder als Beispiel an und sagen: Wir sollten raus aus der Entwicklungszusammenarbeit, weil angeblich dadurch das Geld für die arme Frau und andere Menschen in Deutschland fehlt. Die Regenwälder und die Torfmoore gerade in Indonesien sind die größten CO 2 -Speicher der Welt. Bis zu einem Fünftel der weltweiten CO 2 -Emissionen sind darauf zurückzuführen, dass Wälder abgeholzt werden. Wir können doch den Ländern nicht sagen: „Ihr dürft eure Wälder nicht anfassen, weil wir das Weltklima schützen müssen“ und ihnen gleichzeitig keine Entschädigung oder Ausgleichsleistung bieten. Wir haben in Deutschland für den Kohlebergbau ganze Landschaften umgegraben, um an die Kohle zu kommen. Nun können wir einem Land wie Indonesien, das über viele Jahre bitterarm war und in dem es immer noch viel Armut gibt, doch nicht sagen: Ihr dürft die Wälder nicht abholzen, aber auf dem wirtschaftlichen Schaden bleibt ihr alleine sitzen. Auch heute werden wieder viele junge Menschen an den Fridays-for-Future-Demonstrationen teilnehmen, um für Klimaschutz zu demonstrieren. ({8}) Es ist richtig, dass die internationale Gemeinschaft und Deutschland sagen: Ja, wir wollen, dass die Tropenwälder erhalten bleiben. Wir erkennen auch an, dass diese Länder nicht einfach auf den wirtschaftlichen Nutzen verzichten können. – Daher geben wir ihnen Geld, damit wir gemeinsam das Weltklima schützen. Das ist gut angelegtes Geld; denn wir wollen nicht, dass es in Deutschland zu Fluten oder schlimmen Wetterkatastrophen kommt, ganz zu schweigen von den ganzen Dürrefolgen auf der Welt, die Hunger und Armut hervorrufen. – Ich weiß, das war ein bisschen kompliziert für Sie, aber ich glaube, der Rest des Hauses hat es verstanden. ({9}) In diesem Sinne: Wir müssen in den Haushaltsberatungen darauf achten, die Mittel für die ODA-Quote weiter zu steigern. Wir müssen im Entwurf des Finanzministers kräftig nachbessern. Die Zusagen, die wir im Bereich Klimaschutz zu Recht gemacht haben, können nicht alleine vom Bundesministerium für Entwicklung getragen werden. Auch das BMU muss seinen Beitrag leisten. Es geht nicht, dass die Hälfte unserer Mittel nur in den Bereich Klimaschutz gehen. Die Mittel müssen obendrauf kommen. Ich sage – anders als die AfD –: Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Geld für die Armutsbekämpfung und für den Klimaschutz. Das ist in unserem Interesse, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Helin Sommer, Die Linke. ({0})

Helin Evrim Sommer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004897, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Damen und Herren von der AfD haben den Antrag gestellt, die deutsche Entwicklungszusammenarbeit zu prüfen. Aufstrebenden Wirtschaftsmächten soll der Status als Entwicklungsland entzogen werden. Es ist wichtig, dass wir über die deutsche Entwicklungszusammenarbeit für aufstrebende Wirtschaftsmächte sprechen. Als Beispiel für aufstrebende Staaten werden Indonesien, Pakistan und Südafrika genannt. Ihnen sollen Gelder entzogen werden. Ich bin sehr dafür, dass wir diskutieren, wann diese Schwellenländer bereit sein werden, Verantwortung zu übernehmen, ihre Bevölkerung zu versorgen und ihre Wirtschaft zu stabilisieren. Die Boomregionen Lahore, Karatschi, Jakarta oder Kapstadt sind ein vielversprechender Anfang. Wenn das jahrelange Engagement der deutschen Entwicklungszusammenarbeit hier Früchte trägt, sollten wir das als Erfolg verbuchen. ({0}) Aber dieser Erfolg ist kein Grund, die Füße hochzulegen. Er sollte uns eher anspornen; denn Entwicklungszusammenarbeit zahlt sich tatsächlich langfristig aus, nicht nur weil sie Fluchtursachen bekämpft und der indischen und pakistanischen Jugend eine Alternative zur Karriere im Terrorcamp bietet. Wir müssen alles tun, um diese Erfolge zu stabilisieren. ({1}) Auf keinen Fall dürfen wir die jungen Beete des Wohlstandes gefährden, indem wir sagen: Job erfüllt, wir ziehen uns aus der Entwicklungszusammenarbeit zurück und schließen unsere Projekte. ({2}) Denn noch leben in allen drei Ländern außerhalb der Boomregionen bis zu 50 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Dasselbe gilt für Mexiko, Indien und die großen ländlichen Regionen Chinas. Diese Pakistaner, Indonesier, Südafrikaner, Mexikanerinnen, Chinesinnen und Inderinnen leben in bitterster Armut ohne ausreichende Nahrung, Wasser und Medikamente. Bei allen Erfolgen darf man dieses menschliche Elend nicht vergessen. Wir können diese Menschen nicht einfach leiden lassen mit dem Argument: Ja, warum helfen denn die anderen nicht? Die Folgen gehen aber über das humanitäre Leid hinaus. Kinder gehen betteln, anstatt eine Schule zu besuchen. Frauen gleiten in die Prostitution ab, anstatt eine Ausbildung zu machen. Je geringer die Ausbildung der Frauen, desto mehr Kinder bekommen sie, die wieder in Armut aufwachsen. Die Menschen erkranken an Typhus oder Cholera und können ihren Lebensunterhalt nicht selbst sichern. Den wachsenden Volkswirtschaften fehlen Fachkräfte, ohne die sie zusammenbrechen werden. Das dürfen wir um Himmels willen nicht geschehen lassen. ({3}) Deswegen unterstützen wir Indonesien, Pakistan und Südafrika vor allem beim Aufbau eines Berufsbildungssystems und einer allgemeinen Krankenversicherung. ({4}) Berufsbildung und Krankenversicherung, das sind doch zwei echt deutsche Themen. Sollen wir das einfach mittendrin abbrechen? Aber wir tun noch mehr. Wir helfen Pakistan bei der Versorgung von Flüchtlingen in der ohnehin bitterarmen Grenzregion zu Afghanistan. Sollen wir keine Zelte mehr aufstellen? Sollen wir die Camps nicht mehr mit Wasser, Bohnen und Reis versorgen? Wir fördern Aidsprävention und Gesundheitsprogramme in Südafrika. Sollen wir Krankenhäuser abwickeln, Impfprogramme beenden und Frauenhäuser schließen? Wenn wir all das, meine Damen und Herren, infrage stellen, dann riskieren wir ein Riesendesaster. Die Folgen werden wir in Deutschland und auch in Europa unmittelbar und schnell spüren. Dann sind wir mit unserem selbst gestellten Anspruch „Fluchtursachen bekämpfen“ auf ganzer Linie gescheitert. Um Fluchtursachen zu bekämpfen, müssen wir aus Entwicklungsländern Schwellenländer machen und aus Schwellenländern stabile Regionen. Denn Indonesien, Pakistan und Südafrika sind Modellstaaten für andere. Sie strahlen weit über ihre Landesgrenzen hinaus. Das ist auch bereits heute beim gemeinsamen Fonds Deutschland-Mexiko der Fall. Da zahlen übrigens beide Länder gleich viel ein. An dieser Stelle eine kleine Erinnerung zum Schluss: Die Vereinten Nationen sagen, die reichen Länder sollten 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungszusammenarbeit ausgeben. Wir haben in unserem Haushalt 2019 nur 0,5 Prozent vorgesehen. Da gibt es, meine Damen und Herren, noch viel zu tun. Danke schön. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viel von dem, was Herr Sauer und Sascha Raabe hier gesagt haben, kann ich teilen. Ich würde uns dann nur wünschen, dass wir in diesem Haus – wenn es richtig ist, dass wir mehr zur Bekämpfung der Armut der Welt tun müssen und dass wir mehr zur Bekämpfung des Klimawandels tun müssen – gemeinsam die Kraft hätten, die finanzielle Planung des Finanzministers zu korrigieren. Er sieht nämlich vor, dass hierfür 750 Millionen Euro weniger ausgegeben werden. Ich halte das für keine gute Idee. ({0}) Ansonsten teile ich viel von dem, was Sie gesagt haben. Diese Sachlichkeit hat die AfD an dieser Stelle gar nicht verdient, finde ich. ({1}) Dieser Antrag ist ein Musterbeispiel dafür, wie man durch Weglassen Lüge und Hetze betreiben kann. ({2}) Schauen Sie sich einmal die Begründung an. Darin heißt es, dass Deutschland Waren im Wert von 1,3 Billionen Euro importiert. Ja, aber ist das unser Problem? Ist das unser Problem, dass wir so viel Geld ins Ausland schicken müssen, um so viele Waren zu importieren? Die vollständige Wahrheit ist, dass Deutschland das gegenteilige Problem hat. Deutschland ist nicht nur der drittgrößte Warenimporteur, sondern auch der größte Waren­exporteur weltweit. ({3}) Wir haben einen Exportüberschuss von 249 Milliarden Euro erzielt, was Waren angeht. Für diejenigen, die glauben, es gehe hier um Hilfe, füge ich hinzu: Im gleichen Jahr haben wir auch noch 50 Milliarden Euro Zinsen aus im Ausland angelegtem Vermögen bekommen. So sieht die Welt in Wirklichkeit aus. Diese Wirklichkeit stellen Sie durch Weglassen schlicht und ergreifend auf den Kopf. ({4}) Dann wird das Ganze auch noch mit sozialer Demagogie und Ausgrenzung kombiniert. ({5}) Ich frage Sie einmal: Welche Folgen hätte es denn, wenn man zum Beispiel bestimmten Schwellenländern die Zollpräferenzen streichen würde? Ja, diese Waren würden sich verteuern. Was hieße das beispielsweise für die von Ihnen genannte Rentnerin, die ihren Lebensunterhalt kaum bestreiten kann? Sie müsste mehr ausgeben. Das wäre die Folge von dem, was Sie fordern. Sie stellen sich hierhin und verteidigen angeblich das Recht dieser Rentnerin. In Wirklichkeit wollen Sie ihr aber in die Tasche greifen. Das ist Ihre Politik. ({6}) Außerdem haben Sie überhaupt nicht verstanden, was deutsches Interesse ist. ({7}) Deutsches Interesse ist beispielsweise, mit dafür zu sorgen, dass die größte globale Krise, die wir haben, nämlich eine umfassende Klimakrise, bekämpft wird. Da muss man einfach feststellen: Es stimmt mancher Hinweis, dass Deutschland das nicht alleine machen kann. Ich höre ja immer aus diesen Reihen, wir würden das gar nicht alleine hinbekommen; das sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Wahrheit ist: 20 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen werden durch die kriminelle Abholzung von Wäldern gerade in solchen Ländern wie Brasilien und Indonesien verursacht. ({8}) Dann stellt sich die AfD hierhin und sagt: Wir leugnen den Klimawandel; das soll munter so weitergehen; wir sollten nicht durch Investitionen dagegen angehen. – Liebe Freundinnen und Freunde von der AfD, so kann man an dieser Stelle keine Klimaschutzpolitik machen. Das, was Sie hier praktizieren, ist verlogen hoch drei. ({9}) Wie ich höre, sind Sie jetzt plötzlich gegen Kohle in Entwicklungsländern. Ja, das bin ich auch. Wie bekommen Sie eigentlich die Kohle nicht nur in Deutschland, sondern global aus der Operation heraus? ({10}) Ganz einfach: Indem Sie in den Ausbau erneuerbarer Energien investieren. ({11}) Herr Frohnmaier stellt sich hierhin und spottet über Windräder. Ich will Ihnen einmal vorführen, welches Geschäft auch für die deutsche Industrie Sie sich an dieser Stelle durch die Lappen gehen lassen wollen. ({12}) Allein in China, dem am schnellsten wachsenden Markt für erneuerbare Energien, sind im letzten Jahr 150 Milliarden Dollar in neue Windanlagen investiert worden – zehnmal so viel wie in Deutschland. Ich begrüße das. Dies ist auch ein Ergebnis der Kooperation zwischen Deutschland und China, die lange, mehr als zehn Jahre, zurückreicht. Das ist etwas, worüber wir uns freuen sollten, weil es gut für das Weltklima und auch gut für unsere Unternehmen ist. ({13}) Hören Sie also auf, die deutschen Interessen mit Ihrer Demagogie mit Füßen zu treten! ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Wolfgang Stefinger, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Wolfgang Stefinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004414, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Direkt zu Beginn meiner Rede möchte ich daran erinnern, dass das Entwicklungsministerium seit dem Jahr 2015 eine Neudefinition vorgenommen hat, die die sechs größten Schwellenländer betrifft. Wir sprechen hier nämlich nicht mehr von der klassischen Entwicklungszusammenarbeit und von Entwicklungsländern, sondern von globalen Entwicklungspartnern. Diese Neudefinition hat auch dazu geführt, dass es keine klassische Entwicklungsförderung bzw. Entwicklungszusammenarbeit mehr gibt. Betroffen sind davon die sechs größten Schwellenländer, also Brasilien, China, Indien, Indonesien, Mexiko und Südafrika. Ich möchte darauf hinweisen, dass es richtig war, hier diese Neudefinition einzuführen. Schließlich wollen wir nicht, dass die Zusammenarbeit mit diesen Ländern endet; denn eine Beendigung der Zusammenarbeit mit ihnen würde nicht nur ihre wirtschaftlichen Perspektiven schmälern und Fluchtbewegungen begünstigen, sondern auch unsere heimische, unsere eigene Wirtschaft schädigen. Diese Länder bieten nämlich große Wachstumsmärkte und sind auch für den Export sehr wichtig. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Welt ist heute ein globales Dorf. Gegenseitige Abhängigkeiten waren nie so groß wie heute. Noch nie waren wir alle so eng miteinander vernetzt. Ich möchte das deutlich machen. Unser Handeln hat einen Einfluss auf die Regionen. Es ist bereits angesprochen worden. Das gilt schon allein beim Thema Lieferketten – ob das die Textilbranche betrifft, ob das der Kaffee ist, ob es um den Kakao geht; da gibt es ganz viele unterschiedliche Dinge. Unser Handeln hat also einen Einfluss auf die Regionen. Die Entwicklung in diesen Ländern hat am Ende aber auch einen Einfluss auf uns. Wir sehen doch die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen: Klimawandel, Ernährungssicherung, Wasserknappheit – dieses Thema spielt in einigen Ländern schon eine große Rolle – und daraus resultierend natürlich auch die Migration. All das sind globale Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, und hier sind globale Lösungen gefragt. Ich möchte ein Beispiel anführen, das unser Entwicklungsminister Gerd Müller immer wieder anspricht, und zwar bezogen auf den Energiebereich: Wir wissen, dass die Bevölkerungszahl in Afrika und Indien steigt. Wir wissen, dass es dort über 600 Millionen Haushalte gibt, die bis heute keine einzige Steckdose haben. Diese Länder werden in den nächsten Jahren verstärkt Energie nachfragen. Wenn diese Länder ihren Energiehunger mit Kohle stillen wollen, ja, dann brauchen wir uns über das 1,5-Grad-Ziel gar nicht mehr zu unterhalten. Es würden dann über 1 000 neue Kohlekraftwerke gebaut, sofern wir es im Rahmen unserer Partnerschaften nicht schaffen, die Länder davon zu überzeugen, auf erneuerbare Energien zu setzen. ({1}) Deswegen kommt diesen Ländern eine Schlüsselrolle beim Klimaschutz zu, und deswegen möchte ich Unterstützung und Zusammenarbeit; denn das ist der richtige Weg und eben nicht die Abschottung und die Beendigung der Kooperationen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Schwellenländer zeichnen sich dadurch aus – das ist richtig –, dass sie in den letzten Jahren eine rasante wirtschaftliche Entwicklung vollzogen haben – das ist auch gut so –, dass sie teils auch in sozialer und politischer Hinsicht eine rasante Entwicklung gemacht haben. Aber – das ist vorhin schon angeklungen – weder das Pro-Kopf-Einkommen ist mit dem von Industriestaaten vergleichbar, noch ist das Thema Nachhaltigkeit im Bewusstsein verankert, noch ist die Breitenwirkung des Wachstums gesichert; von den sozialen Ungleichgewichten in den Ländern will ich gar nicht sprechen. Deswegen gibt es diese neue Form der Entwicklungszusammenarbeit. Diese Form der Partnerschaft ist wichtig, um all das besser in den Griff zu bekommen. Damit stellen wir uns diesen Herausforderungen. Wir sehen natürlich, dass sich die wirtschaftlichen und auch die politischen Machtzentren verschieben; aber wir sehen auch, dass Schwellenländer mitgestalten wollen. Wir müssen sie in die Pflicht nehmen, Verantwortung in der Welt mit zu übernehmen. Ich denke hier insbesondere an Brasilien, ich denke an China, ich denke an Indien und auch an Südafrika. Es ist wichtig, dass wir mit diesen Ländern kooperieren, mit ihnen im Dialog und im Austausch bleiben. Selbstverständlich kann man die Aktivitäten Chinas kritisch hinterfragen. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass insbesondere viele Afrikaner in den Chinesen Vorbilder sehen, weil China in den letzten Jahren eine so rasante Entwicklung hingelegt hat. Genau deswegen ist es wichtig, dass wir mit den Chinesen kooperieren und dabei deutlich machen, dass es uns bei der Zusammenarbeit um verschiedene Schwerpunkte geht, nämlich um Rechtsstaatlichkeit, um Menschenrechte, um Nachhaltigkeit, um Umwelt- und Klimaschutz und auch um die Umsetzung der Agenda 2030. ({2}) Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zusammenarbeit mit Schwellenländern liegt in unserem eigenen Interesse. Ich möchte darauf hinweisen: In einem globalen Dorf müssen wir die globalen Herausforderungen gemeinsam angehen; die können wir nur gemeinsam meistern. Wir überweisen den Antrag in den Ausschuss; aber ich plädiere heute schon für Ablehnung. Danke schön. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dietmar Friedhoff, AfD. ({0})

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich fange Sie kurz ein: Es geht um G-20-Länder. Das sage ich für alle im Klartext. Ich frage: Kann aufstrebend auch abstrebend sein? Wann ist ein Schwellenland ein Schwellenland, und welche Schwelle meinen wir? Wann erfüllt ein Schwellenland alle Kriterien, damit es nicht mehr unterstützt werden muss, braucht und will? Schauen wir uns die angesprochenen Länder einfach einmal aus einer ganz anderen Perspektive an: Indien, Pakistan, Türkei, Indonesien, Südafrika – alles Länder, die wir mit entwickelt haben und die wir unterstützt haben, ihre Fertigkeiten und Fähigkeiten weiterzuentwickeln in Bezug auf Demokratie, Selbstentwicklung und Einhaltung der Menschenrechte. Aus dieser Perspektive, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind alle fünf Länder keine aufstrebenden Länder, sondern abstrebende Länder. Alle fünf Länder haben die Schwelle überschritten, die Schwelle zu weniger Demokratie, weniger Rechtsstaatlichkeit und weniger Einhaltung der Menschenrechte. Alle fünf Länder haben die Schwelle überschritten zu mehr Gewalt, zu mehr Drangsalierung und Verfolgung von Minderheiten. Inhaftierungen, Folter, Tötungen sind an der Tagesordnung zum Erhalt der eigenen Machtstruktur. Das ist die traurige Tatsache nach Jahrzehnten laufender Zusammenarbeit. ({0}) All das sollte dazu führen, dass man sich endlich mal fragt, was schiefläuft. Und das sollte uns dazu veranlassen, die Zusammenarbeit zu beenden. Sie muss beendet werden und sollte beendet werden. In diesem Zusammenhang verweise ich auf Indien und Pakistan, zwei Atommächte, die sich im Kaschmirkonflikt unversöhnlich gegenüberstehen, einen türkischen Präsidenten, der nichts auslässt, um uns als Deutsche zu beleidigen, ein Indonesien im Wirbel von Gewalt und Christenverfolgung und ein Südafrika, das sich nach Jahrzehnten investierter Entwicklungszusammenarbeit in allen Bereichen wieder zurückentwickelt. Hier sollten wir endlich auch einmal eines erwähnen: die Gewalt gegen weiße Farmer. ({1}) Ein christliches Land sollte grundsätzlich keine Länder fördern, in denen Christen verfolgt und getötet werden, und es sollte in keine Länder investieren, wo generell Menschenrechte mit Füßen getreten werden. ({2}) – Ja, das tut weh, nicht? – Das bedeutet: Schwelle überschritten – Zahlungen aussetzen. Sonst haben wir überhaupt keine Hebel mehr. Und das, Herr Raabe, unterstützen Sie sogar. Also: Hebel einsetzen! Sonst haben wir keine Hebel mehr für nichts. Und damit wären alle Worte, die wir hier ständig verlieren, nur Schall und Rauch. Das betrifft ausdrücklich nicht den Bereich der humanitären Hilfe; denn für uns ist humanitäre Hilfe christliche Nächstenliebe und Verpflichtung zugleich. Setzen wir deswegen sichtbare Zeichen für unsere Werte, die wir meinen: Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Glaubensfreiheit. Genau das erfordert von uns allen hier in diesem Deutschen Bundestag, in dieser parlamentarischen Demokratie, dass wir das auch leben und vorleben. Die Nichtwahl unserer Kandidatin für das Amt der Bundestagsvizepräsidentin gestern zeigt jedoch auf, dass die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten in diesem Hause ihr Umsetzungsdefizit im Vorleben klar erkennen lässt. ({3}) Wir sind alle gemeinsam gefordert. Deutschland sollte nicht ständig versuchen, im Ausland Leuchttürme zu erschaffen, sondern Deutschland sollte endlich wieder eines sein: Leuchtturm für die Welt. Danke schön. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Ziegler, SPD. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte zu Beginn festhalten: Der unter diesem Tagesordnungspunkt zu behandelnde Antrag der AfD hat eigentlich gar keinen Bezug zur deutschen Entwicklungspolitik. Er fällt eher in die Kategorie „Tarnen und Täuschen“. Der Titel des Antrags lautet nämlich: „Aufstrebenden Wirtschaftsmächten den Status als Entwicklungsland entziehen …“ ({0}) Erstens. Einen entziehbaren Status als Entwicklungsland gibt es überhaupt nicht. Die als Entwicklungsländer bezeichneten Staaten variieren sehr stark und weisen lediglich gemeinsame Merkmale auf wie geringes Pro-Kopf-Einkommen, schlechte Gesundheits- und Nahrungsversorgung oder eine extrem ungleiche Verteilung von Gütern. Zweitens. Es gibt eine Liste von Ländern, die vom Entwicklungsausschuss der OECD geführt wird – sie wird 2020 weiterentwickelt –, es hängt aber überhaupt nicht von dieser Liste ab, mit welchen Ländern Deutschland Entwicklungspartnerschaften betreibt. ({1}) Das entscheiden wir selbst. Drittens. Eine partnerschaftliche Zusammenarbeit scheint Sie definitiv nicht zu interessieren. Im Antrag heißt es wörtlich: Es liegt nicht im deutschen Interesse, potentielle Wettbewerber mit deutschen Steuergeldern zum eigenen Nachteil zu subventionieren. Ach ja, worin liegt denn das deutsche Interesse? Ressourcen in Afrika ausbeuten? Billige Arbeitskräfte rekrutieren? Oder ausschließlich Absatzmärkte gewinnen? Sie haben nicht einen Punkt genannt, was Ihre „deutschen Interessen“ eigentlich beinhalten. ({2}) Welche Nachteile befürchten Sie denn? Auch diese haben Sie nicht dargelegt. Natürlich liegt die Kooperation mit unseren Partnern in einer globalisierten Welt im deutschen Interesse. Wir setzen unsere Entwicklungszusammenarbeit und die Finanzielle Zusammenarbeit genau in den Bereichen ein, die notwendig sind, um unser aller Welt nachhaltig zu gestalten. Klima und Umwelt – ich weiß, bei Ihnen ist alles nur „Wetter“ –, Menschenrechte und gute Regierungsführung, das sind entscheidende Fragen, nicht nur unserer heutigen, sondern vor allen Dingen auch der künftigen Generation, die Sie völlig ausblenden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gehen wir mal ins Detail. Ein Großteil der Kooperationen mit wirtschaftlich aufstrebenden Ländern wie Indien, Mexiko und Brasilien, besteht in der Finanziellen Zusammenarbeit durch laufende Kredite. China wurde schon genannt. Ich glaube, schon seit 2008 gibt es keine Entwicklungszusammenarbeit mit China mehr, und die laufenden Kredite werden lediglich abgewickelt. ({3}) Weitere Projekte in den sogenannten Schwellenländern stehen in absolutem Einklang mit den deutschen geopolitischen und strategischen Interessen. Brasilien: Klima- und Tropenwaldschutz, Erhalt der Artenvielfalt, erneuerbare Energien – strategisches deutsches Interesse. ({4}) Indien: erneuerbare Energien, nachhaltige Stadtentwicklung, Ressourcenschutz – strategisches deutsches Interesse. Indonesien: Umwelt- und Klimaschutz, erneuerbare Energien, berufliche Bildung – strategisches deutsches Interesse. Mexiko: Umwelt, erneuerbare Energien, nachhaltige Stadtentwicklung – strategisches deutsches Interesse. Südafrika: Klimaschutz, erneuerbare Energien, gute Regierungsführung – strategisches deutsches Interesse. Pakistan: gute Regierungsführung, Geschlechtergerechtigkeit, Menschenrechte – strategisches deutsches Interesse. Ziel und Aufgabe ist es, den Menschen in unseren Partnerländern Chancen zu eröffnen, die UN-Nachhaltigkeitsziele zu erreichen und unsere Welt sicherer zu machen. Das erfordert eine globale Gemeinschaftsleistung. In den ärmsten Ländern geht es dabei vorrangig um Themen wie Hungerbekämpfung, Gesundheitsförderung und den Aufbau einfachster Strukturen. In den sogenannten Schwellenländern geht es um den Ausbau und vor allem um die Festigung nachhaltiger und rechtsstaatlicher Strukturen. Nur wenn wir hier unsere Partner stärken, und zwar langfristig, werden wir in absehbarer Zeit weniger Länder auf der Liste der OECD als Entwicklungsländer stehen haben. ({5}) Nur so werden wir auch im eigenen Interesse unserer globalen Verantwortung als Industrienation, als Gesellschaft und, Kolleginnen und Kollegen der AfD, auch als Menschen gerecht. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Till Mansmann für die Fraktion der FDP. ({0})

Till Mansmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004815, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Geehrte Kollegen von der AfD-Fraktion, Sie stören sich daran, dass deutsche Steuergelder möglicherweise für die Unterstützung von Staaten ausgegeben werden, die diese Förderung im Grund gar nicht benötigen, die möglicherweise sogar zur Verzerrung des globalen Wettbewerbs und zum Schaden der hiesigen Wirtschaft führen. ({0}) Darüber könnte man auch reden; aber das ist gar nicht die Intention Ihres Antrags gewesen, ({1}) wie man deutlich gemerkt hat und wie man auch in Ihrem Antrag sieht. Herr Kollege Frohnmaier, Ihre Rede hat es ja noch viel deutlicher gezeigt. Ich zitiere aus der Begründung Ihres Antrages: Den eigenen Wohlstand zu erhalten und zu sichern sowie die hierfür notwendigen Voraussetzungen zu schaffen muss primäres Interesse sein. ({2}) – Nein, da widerspreche ich Ihnen in aller Deutlichkeit. ({3}) Das ist nicht unser Ziel. Unser Ziel ist es, die Lebensumstände der Menschen weltweit zu verbessern, in der festen Überzeugung, dass am Ende davon alle profitieren, ({4}) und in der festen Überzeugung, dass wir nur so globale Probleme – wir haben globale Probleme – angehen und lösen können. Wir wollen die Entwicklungszusammenarbeit nicht vor einen nationalistischen Karren spannen. ({5}) Wenn Sie schon falsch herum auf diesem Pferd sitzen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie in die richtige Richtung schauen, extrem niedrig. Das ist schade. Wir könnten hier nämlich mal darüber sprechen, was im BMZ wirklich falsch läuft, auch hinsichtlich der Schwerpunktsetzung bei den Partnerländern. Beginnen wir in dem Themenfeld, auf dem Sie vermeintlich arbeiten – was Sie in Wirklichkeit gar nicht tun –, damit, dass das BMZ sechs Reformpartnerländer herausgesucht hat, die es mit finanziellen Mitteln deutlich besser ausstatten möchte als bisher. Das hat seinen Preis. Da die Mittel insgesamt immer noch sehr begrenzt sind, muss das Geld in anderen laufenden Projekten eingespart werden. Andererseits gibt es die neuen Projekte noch gar nicht richtig. Das BMZ stellt also Geld bereit und streicht Projekte an anderen Orten zusammen und sucht dann erst die neuen Verwendungsmöglichkeiten. So kann Entwicklungszusammenarbeit nicht effektiv funktionieren. ({6}) Dazu kommt, dass die Least Developed Countries sträflich vernachlässigt werden. Dabei geht auch das Ministerium selbst viel zu national an die Sache heran. Das Vorgehen des BMZ steht im Widerspruch zu der andauernden Beschwörung der Multilateralität, und da sind Sie von der AfD in Ihrer Deutschtümelei wenigstens ehrlich. Aber diese Multilateralitätsbeschwörungen des Ministers sind leider nur Lippenbekenntnisse. Deutschland hat sich den Nachhaltigkeitszielen verpflichtet, und diesen Gedanken sehen wir von der FDP-Fraktion als ganz globale Konsequenz aus vernünftigem ökonomischem Handeln und dem Umgang mit global begrenzten Ressourcen. Aber das gehetzte Themenhopping des Ministers – Textilbündnis, dann Grüner Knopf, jetzt faire Lieferketten, dazu Finanztransaktionsteuer für Afrika, Zertifizierung von Rohstoffimporten, Mikroplastik in Shampoos –, dieses Stakkato von Entertainment-Tools in der Entwicklungszusammenarbeit ({7}) ist in der politischen Kultur ziemlich genau das Gegenteil von Nachhaltigkeit. Das sollte nicht der Maßstab für gute Entwicklungszusammenarbeit sein. ({8}) Gute Entwicklungszusammenarbeit wäre außerdem koordiniert und an einer Stelle gebündelt und nicht auf verschiedene Ministerien unkoordiniert aufgeteilt. Auf diese Ansätze sollten wir uns konzentrieren; aber das spiegelt Ihr Antrag in keiner Weise wider. Deswegen werden wir ihn zwar im Ausschuss gerne diskutieren, aber im Wesentlichen dann natürlich ablehnen. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Volkmar Klein für die CDU/CSU. ({0})

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Ende dieser Debatte kann man schon sagen: Es sind sehr viele sehr gute Argumente dafür zusammengetragen worden, dass der hier vorliegende Antrag sinnvollerweise sicherlich nicht viel weiter zu behandeln ist. Dabei steht an einer Stelle sogar etwas Vernünftiges darin. Wenn als Philosophie „Hilfe zur Selbsthilfe“ genannt wird, dann klingt das gut; das ist auch gut. Eigentlich muss es uns genau darum gehen: Hilfe überflüssig zu machen. Es wäre eigentlich unser Traum, wenn es uns gelänge, durch Entwicklungszusammenarbeit unseren entwicklungspolitischen Beitrag irgendwann einmal überflüssig zu machen. ({0}) Die Frage ist nur, ob jetzt die hier genannten Länder, auf die sich dieser Antrag einschießt, diesen Status überhaupt haben. Indonesien, Pakistan, Südafrika und Indien haben diesen Status stellenweise schon – das kann man ja auch an vielen Beispielen sehen –; aber in ganz vielen anderen Bereichen haben sie ihn eben ganz sicher nicht. Abgesehen davon ist diese Auswahl ja auch ein bisschen eine zufällige. Es gäbe noch eine ganze Reihe von anderen Ländern, die sich möglicherweise durch diese Auswahl beleidigt fühlen. Ecuador ist in diesem Sinne auch kein armes Land mehr. Brasilien, Albanien – überall gibt es stellenweise tolle Entwicklungen. Die Frage ist nur: Was ist uns denn wichtig? Aus welchem Anlass, mit welcher Motivation wollen wir denn in diesen Ländern weiter tätig sein? Vielen ist die ethische Dimension wichtig – das teile ich sehr –, als Gebot der Nächstenliebe dazu beizutragen, dass Menschen Perspektiven haben. ({1}) Das ist schon eine ganz wichtige Motivation, die bei dem einen oder anderen und sicherlich auch bei dem Antragsteller eher im Hintergrund steht. Deswegen will ich das jetzt einmal beiseitelassen und überlegen: Was ist denn in unserem, im deutschen Interesse? Was ist denn für uns als Deutschland wichtig, und was ist für die Menschen in Deutschland wichtig? Da will ich einfach drei Punkte nennen: Erstens – eben genannt – Jobs und Perspektiven und damit Sicherheit zum Beispiel in Pakistan. Sicherheit ist am Ende sehr im Interesse der Deutschen; denn wenn die Leute keine Perspektive und keine Jobs haben – das ist in Pakistan leider in großen Teilen des Landes gelebte Realität –, dann sind sie einfach leichte Beute für Terrorgruppen. Das heißt, es ist eben nicht im Interesse Deutschlands, wenn wir da tatenlos zuschauen, während sich Terror ausbereitet. ({2}) Wenn die Leute in Albanien zu wenig Jobs und Perspektiven haben, dann machen sie sich auf den Weg, um diese Jobs und Perspektiven woanders zu suchen. Auch das ist nicht im deutschen Interesse. Deswegen sage ich erstens: Für Jobs und Perspektiven in all diesen Ländern zu sorgen, dient am Ende der Sicherheit Deutschlands und ist im Interesse Deutschlands.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Klein, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Frohnmaier?

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich hätte eine Verständnisfrage. Das bedeutet dann, dass wir als Deutsche quasi global dafür verantwortlich sind, dass Menschen Ernährung, Bildung, Sicherheit, Perspektive haben. Sie als CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzen das ja auch schon mit Ihrem Programm „Perspektive Heimat“ um – Sie haben Albanien jetzt mehrfach angesprochen –, indem sie dort Migrationsberatungszentren bauen. Das sind quasi im Ausland stehende Arbeitsämter, die mit deutschen Steuergeldern betrieben werden. Würden Sie dem so zustimmen? ({0}) Welche Aufgaben müssen wir in Zukunft noch übernehmen? Ist es in Zukunft unsere Aufgabe als Deutsche und als Steuerzahler, global Verantwortung zu übernehmen?

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, davon, dass Deutschland dafür verantwortlich ist, dass die Menschen in Pakistan oder in Albanien Jobs und Perspektiven haben, kann natürlich keine Rede sein; das habe ich auch nicht gesagt. Es ist aber in unserem Interesse, dass wir im Rahmen unserer Möglichkeiten – die Möglichkeiten Deutschlands sind glücklicherweise groß – einen Beitrag leisten, damit sich am Ende weniger Terror ausbreitet und weniger armutsindizierte Migration stattfindet. Das ist in deutschem Interesse. Ich verstehe, dass Sie das nicht wollen, weil Sie dann kein Thema mehr haben. ({0}) Der zweite Punkt. Waldschutz in Indonesien, aber auch in Brasilien – es wurde eben schon mal kurz gestreift –: Am Ende ist Wald auch für uns hier in Deutschland, für unser Klima wichtig, egal ob dieser Wald links und rechts des Rothaarsteigs bei mir in Siegen-Wittgenstein oder eben in den Regenwäldern am Amazonas oder in Indonesien ist. ({1}) Es ist richtig, für Waldschutz einzutreten. Das ist im Interesse Deutschlands. ({2}) Dritter Punkt: Schwellenländer nach vorne bringen. Ich stelle in meiner sehr exportorientierten Region, aber auch in anderen Bereichen fest: Erfolgreiche Schwellenländer wie Brasilien sind für Jobs in Deutschland viel wichtiger als ganz Afrika. Wir haben weiterhin Interesse daran, Schwellenländern zu helfen, noch weiter nach vorne zu kommen. Ich finde es eine sehr interessante Vorstellung, dass man Wohlstand fördert, indem man Zollpräferenzen abbaut. Ich würde mir eine Welt wünschen, in der wir eher dazu beitragen, noch mehr Handelsbarrieren abzubauen, um die Grundlage für noch mehr Wohlstand in aller Welt, aber am Ende auch bei uns zu schaffen. Das wäre für Jobs in Deutschland wichtig. ({3}) Ich will den vorliegenden Antrag jetzt bestimmt nicht überhöhen. Aber wenn er konsequent umgesetzt wäre, dann würde er eine Gefährdung für Sicherheit und Wohlstand unseres Landes bedeuten. Das wollen wir nicht. Deswegen werden wir solche abstrusen Ideen zwar im Ausschuss beraten, aber ganz sicher nicht mit positivem Ergebnis. ({4}) Lasst uns eher darüber nachdenken, wie wir die Wirksamkeit unserer Entwicklungszusammenarbeit weiter erhöhen. Das ist die entscheidende Frage. Da ist noch Luft nach oben. Mit dieser Frage sollten wir uns beschäftigen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8986 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Johannes Selle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Vor 24 Jahren hat Bundeskanzler Helmut Kohl am Rednerpult des Deutschen Bundestages gesagt: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Zukunft nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“ Diese grundlegende Einsicht treibt uns an bei diesem Antrag; denn wir wollen die Gesellschaft so gestalten, dass vermeidbare Fehler nicht wiederholt werden. Man kann schon alarmierende Anzeichen von kritischen gesellschaftlichen Entwicklungen erkennen, zum Beispiel gesellschaftliche Blockaden, Rassismus, Nationalismus und absoluter Wahrheitsanspruch. Das Miss­achten von Signalen und abschüssigen Entwicklungen kann zu Verheerungen ungeahnten Ausmaßes führen. Dabei entstehen Nachwirkungen, die die Menschen jahrzehntelang abtragen müssen. 40 Jahre hat es gedauert, bis die deutsche Einheit möglich wurde. Gerade in der vergangenen Nacht haben wir hier im Plenum die Entschädigung weiterer Opfergruppen aus der NS-Zeit diskutiert. Wir haben die Pflicht, uns mit der Geschichte auseinanderzusetzen und Lehren zu erarbeiten. Die Jüngeren haben ein Recht auf Information und Kenntnis der Ursachen und Folgewirkungen von Diktatur und Gewaltherrschaft. ({0}) Wir in Deutschland und in ganz Europa stehen wahrlich vor extremen Herausforderungen – innenpolitischen ebenso wie außenpolitischen. Gerade jetzt ist der richtige Zeitpunkt, die Geschichte stärker einzubeziehen und zeitgemäße Formen der Vermittlung und Zielgruppenansprache zu nutzen. Wir wollen mit diesem Programm die Wissensvermittlung an junge Menschen modernisieren und intensivieren. Und wir wollen die Gedenkstätten bei ihrer wichtigen Arbeit fördern. Vier von zehn Schülern kennen Auschwitz-Birkenau nicht, so das Ergebnis der repräsentativen Umfrage der Körber-Stiftung aus dem Jahre 2017. Jugendlichen wird oft vorgehalten, dass sie sich für Geschichte des 20. Jahrhunderts zu wenig interessieren. Mangelndes Wissen liegt aber nur zum Teil am mangelnden Interesse. In Diskussionsrunden mit Schulklassen habe ich eher den Eindruck gewonnen, dass das Interesse vorhanden ist. Es kann durch eine überzeugende und mitreißende Weise, Zusammenhänge zu erklären, geweckt werden. Das belegen Studien. Die MEMO-Studie, die von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gefördert wurde, legt dar, dass 60 Prozent der befragten Schüler sich für Geschichte interessieren. Knapp 80 Prozent gaben an, dass die Geschichtsvermittlung ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung ist. Genau an dieser Stelle sollten wir ansetzen. Wir wollen uns nicht auf Pflichtfahrten zu Gedenkstätten konzentrieren oder die Moralkeule schwingen, ({1}) sondern nachwirkendes Wissen vermitteln und damit Denkanstöße für die Gegenwart geben. Die Gedenkstätten und Dokumentationszentren haben inzwischen sehr ansprechende und erfolgreiche Bildungsangebote entwickelt, zum Beispiel Selbsterkundungen oder die Möglichkeit, dass deutsche und europäische Jugendliche Zeit mit Überlebenden des Konzentrationslagers verbringen. Der Zuspruch ist sehr ermutigend, die Besucherzahlen steigen. Aber um das hohe Niveau zu halten und weiter auszubauen, bedarf es finanzieller und personeller Unterstützung. Die Generation der Zeitzeugen, die mit ihren persönlichen Erfahrungen des Schreckens den stärksten Eindruck hinterlassen, schwindet. Außerdem ist der Holocaust inzwischen für viele nicht Teil ihrer Familiengeschichte. Eine große Zahl junger Menschen mit Migrationshintergrund hat keinen familiären und gesellschaftlichen Bezug zu der Geschichte der Diktaturen auf deutschem Boden. Deshalb sind neue pädagogische Ansätze ebenso erforderlich wie die audiovisuelle, digitale Ansprache der jungen Generation, die ja durchweg digitalaffin ist. In zwei Fachgesprächen im Ausschuss haben wir weiterhin erfahren, dass das eigenständige Erkunden und Gespräche mit Zeitzeugen sehr nachwirken. Wir stehen vor der Aufgabe, Akten, Biografien, Bilder und Zeitzeugeninterviews digital und audiovisuell bearbeitet zugänglich zu machen. Über soziale Medien wie Facebook, Instagram oder YouTube können die Reichweiten bekanntlich vergrößert werden. Wir wollen das Programm mehrjährig anlegen, damit Planungssicherheit herrscht. Wir appellieren aber auch an die Bundesländer, dass Nationalsozialismus, Holocaust und kommunistische Diktatur Pflichtthemen im Geschichtsunterricht bleiben. ({2}) Beispiele dafür, wo das nicht mehr selbstverständlich zum Geschichtsunterricht gehört, sind Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen. Unsere Kinder sollen in Frieden, Sicherheit und Wohlstand leben. Deshalb müssen sie die Gefahren für Demokratie und Freiheit erkennen und Relativierung, Verharmlosung oder gar Verklärung entgegentreten können. Es ist mehr als vernünftig, diesem Antrag zuzustimmen. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Dr. Marc Jongen. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Abgeordnete! Das eine ist die historische Wissenschaft, die sich bemüht, zu erforschen, wie es wirklich war – objektiv und ohne politische Einflussnahme oder erkenntnisfremde Zwecke. Dabei werden einfache Geschichtserzählungen zumeist zerstört oder dekonstruiert. Das andere ist die Gedächtnispolitik, die ein ganz anderes Ziel verfolgt, nämlich planmäßig ein historisches Narrativ zu entwerfen, das eine Nation, eine Gesellschaft auf eine ganz bestimmte Sinngebung und damit auf eine bestimmte Identität einschwört. ({0}) Beides ist für sich genommen legitim. Man sollte beides aber nicht miteinander verwechseln. Das heißt, Gedächtnispolitik ist immer Konstruktion, nicht im Sinne von historisch falsch; aber sie wählt gezielt aus, lässt anderes weg, erweckt bewusst diese Emotionen und nicht jene, ist extrem selektiv. Und es ist völlig klar, meine Damen und Herren, dass wir es beim vorliegenden Koalitionsantrag zum Bundesprogramm „Jugend erinnert“ mit Gedächtnispolitik, nicht mit historischer Wissenschaft zu tun haben. ({1}) Da ist es schon interessant, zu sehen, welche Aspekte unsere Regierung aus der deutschen Geschichte herausgreift, welche jeder jungen Generation als identitätsstiftende Kollektiverinnerungen einpflanzt werden sollen. Es sind ausschließlich negative Aspekte, meine Damen und Herren. Wichtig ist der Regierung vor allem – und der linksgrünen Pseudoopposition ja umso mehr –, an Diktatur und Gewaltherrschaft auf deutschem Boden zu erinnern. ({2}) Ihr Antrag schwelgt geradezu in der Aufzählung von Verbrechen im deutschen Namen: ({3}) systematische Umsiedlung, Vertreibung, Vernichtung, Zwangsarbeit, Rassismus. Ja, natürlich, das NS-Regime hat all das verbrochen. Und ja, richtig, auch die DDR war ein Willkür- und Unrechtsstaat, wie Sie schreiben. ({4}) Aber was ist denn die Wirkung auf die Jugend, wenn ihr fast ausschließlich und immer noch intensiver diese Verbrechen vor Augen geführt werden? Die Wirkung, meine Damen und Herren, ist doch ganz klar die, dass die Jugend systematisch zu Schuld und Scham über ihr Deutschsein erzogen wird, ({5}) dass sie lernt, mit Deutschland Negatives, ja Böses zu assoziieren, und dass sie lernt, sich an einen Gedanken zu gewöhnen: Deutschland hat eigentlich kein historisches Lebensrecht. ({6}) Es ist gut, wenn Deutschland verschwindet. Besser ist es, andere nehmen hier unseren Platz ein. – Das ist doch die eigentliche Absicht dieser Form von Gedächtnispolitik. Und wo nicht die Absicht, dann doch die Wirkung: ({7}) Sie ist darauf ausgelegt, den Daseinswillen der Deutschen als Volk und Nation zu brechen, und sie ist damit schon erschreckend weit vorangeschritten, meine Damen und Herren. ({8}) Denn eines ist doch ganz klar: Ohne eine positive Referenz auf die eigene Geschichte in der kollektiven Erinnerung kann kein Volk auf die Dauer Bestand haben. Ein ausschließlich negatives Selbstbild, wie es hierzulande schon seit Jahrzehnten kultiviert wird, ist wie ein psychisches Gift, das schleichend zum Tod des Patienten führt. ({9}) Sie meinen vielleicht, es ist eine Medizin. Aber warum sollte es denn nötig sein, die Jugend durch Schocktherapie in KZ-Besuchen und ähnlichen Einrichtungen ({10}) permanent vor einer möglichen Wiederholung dieser Verbrechen zu warnen? Doch nur dann, wenn man die jungen Leute als potenzielle Mörder und Verbrecher sieht, die man vor dem Bösen in sich selbst erschrecken muss. ({11}) Wir haben ein positiveres Bild von unserer Jugend, als es in diesem düsteren Gedächtniskult aufscheint. Wir glauben, es geschähe nichts Böses, wenn die jungen Leute lernten, ihre Heimat zu lieben, anstatt sie zu hassen, wenn sie nicht dazu erzogen würden, als Linksjugend auf den Straßen „Deutschland verrecke!“ zu skandieren. ({12}) Wie sehr diese Gedächtnispolitik eigentlich dazu dient, ideologische Machtpolitik zu betreiben, lernt man aus Punkt III, Unterpunkt 1 b Ihres Antrags, wo Sie fordern, es sollen – Zitat – Bezüge zu aktuellen Fragen von Minderheitenrechten und Phänomenen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (wie Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Islamfeindlichkeit oder Klassen­ideologie) hergestellt werden. Hier wird doch die Katze aus dem Sack gelassen. ({13}) Schon die Jugend soll lernen: Wer Kritik am Islam äußert, wer nicht jede Minderheit so kritiklos zu vergöttern bereit ist, wie die politische Korrektheit es will, auf dem schwebt der drohende Schatten der NS-Terrorherrschaft, ({14}) der ist schon auf dem besten Weg zum Nazi, ({15}) der soll es sich besser dreimal überlegen, seine Meinung frei zu äußern. ({16}) So erzieht man die Jugend zur geistigen Unfreiheit, zu Angst und Schuldkomplexen, und das im Namen der Opfer von Diktatur und Gewaltherrschaft – welch bittere Ironie der Geschichte, meine Damen und Herren! ({17}) Die AfD – ich komme zum Schluss – will die Verbrechen des NS-Regimes auch nicht vergessen lassen, ({18}) auch die der DDR nicht. Aber im Zentrum unserer Gedächtnispolitik müssen die hellen, die lichtvollen Seiten der deutschen Geschichte stehen, und daher lehnen wir Ihren Antrag ab. Vielen Dank. ({19})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Marianne Schieder. ({0})

Marianne Schieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003838, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute mit unserem Antrag eine Thematik, die uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ein Herzensanliegen ist. Weil uns das so wichtig ist, haben wir dafür gekämpft, dass diese Thematik im Koalitionsvertrag einen wichtigen Platz gefunden hat und dass es gerade für diesen Aufgabenbereich einen doch erheblichen Mittelaufwuchs geben wird. Bereits in diesem Jahr stehen zusätzlich 7 Millionen Euro für „Jugend erinnert“ zur Verfügung. 5 Millionen Euro stehen im Haushalt des Auswärtigen Amtes bereit. Davon werden 1 Million Euro durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend verwaltet. 2 Millionen Euro stehen der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien zur Verfügung. Diese Mittel sollen in den kommenden beiden Jahren auf ebenfalls 5 Millionen Euro aufwachsen. Darüber hinaus wurden im Haushalt 2019 zusätzlich 22 Stellen für pädagogische Vermittlungsarbeit an den Gedenkstätten geschaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten steht fest, dass es für unser Land eine immerwährende Aufgabe sein muss, der ermordeten und der überlebenden Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken, ({0}) und dass, wo immer es möglich ist, die deutsche Stimme erhoben werden muss gegen Gewaltherrschaft, Nationalismus und Rassismus, Intoleranz und antidemokratische Tendenzen. Hier kann und darf es keine Relativierung geben. ({1}) Selbstverständlich müssen wir uns auch mit der SED-Diktatur und dem dort geschehenen Unrecht beschäftigen. Die Auseinandersetzung gibt es selbstverständlich bereits in vielfältiger Art und Weise und an vielen Orten. Es gibt gerade für junge Menschen ganz besonders gute Bildungsangebote. Aber wir wissen – Herr Kollege Selle hat bereits darauf hingewiesen –: Die Erinnerungsarbeit steht vor ganz neuen Herausforderungen. Bald wird die Arbeit mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nicht mehr möglich sein. Es gibt in den Familien keine Menschen mehr, die aus eigenem Erleben über diese Teile der deutschen Geschichte berichten können. Und es gibt immer mehr Menschen, die mit einem ganz anderen Zugang in unser Land kommen und von der deutschen Geschichte eine ganz andere Vorstellung haben. Die Gedenkstätten entwickeln bereits viele Formate, um diese unterschiedlichen Perspektiven einzubeziehen, die Menschen zum Austausch einzuladen und das Verbindende zu suchen. Hierbei wollen wir die Gedenkstätten weiter unterstützen. Wir wollen aber auch die Verzahnung außerschulischer historisch-politischer Bildungsarbeit der Gedenkstätten mit den Trägern der Bildungs-, Jugend- und Kulturarbeit voranbringen. Ganz besonders wollen wir die kleinen Gedenkstätten und Gedenkorte mit einbinden. Insbesondere wollen wir gezielt die internationale Komponente stärken. Dies kann durch Jugendaustauschprogramme passieren, durch Seminare und Besuche von Gedenkstätten im Inland, aber auch im Ausland oder indem sich Schülerinnen und Schüler zum Beispiel mit der Geschichte ihrer Auslandsschule während der NS-Zeit beschäftigen. Gerade hier gibt es – das ist wirklich ermutigend – ein besonders großes Interesse von jungen Menschen über alle nationalen Grenzen hinweg. Mein Dank gilt in besonderer Weise unserer Staatsministerin Michelle Müntefering für ihr Engagement in diesem Bereich. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, leider, muss man sagen – wir haben es gerade auf besonders drastische Art und Weise vorgeführt bekommen –, gibt es noch immer Menschen, die den Holocaust leugnen oder relativieren wollen, die das Gedenken infrage stellen und Hass auf andere schüren. Gerade deswegen ist dieser Antrag und das damit verbundene Programm „Jugend erinnert“ so wichtig. ({3}) Herr Dr. Jongen, ich muss es Ihnen sagen: Sie haben heute in dieser Debatte Ihr wahres Gesicht gezeigt. Besser und klarer hätte man nicht formulieren können, worum es Ihnen eigentlich geht. ({4}) Lassen Sie mich schließen mit einem ganz herzlichen Dank an alle Menschen, die als Ehrenamtliche oder Hauptamtliche in den Gedenkstätten, in den Schulen, in der Bildungs-, Jugend- und Kulturarbeit eine sehr gute Erinnerungsarbeit leisten und deutlich machen, dass Erinnerung wichtig ist, um die Gegenwart bewältigen zu können. In diesem Sinne freue ich mich auf eine gute Diskussion zu diesem Programm im Ausschuss. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Thomas Hacker. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Viele Ereignisse der deutschen Geschichte jähren sich in diesen Tagen mit runden Jubiläen. Sie bilden die Geschichte im Guten wie im Schlechten ab. Wir feiern bald 30 Jahre friedliche Revolution und erinnerten an 80 Jahre Reichspogromnacht. Das waren Ereignisse, die die Entwicklung unseres Landes prägten. Aber reicht es aus, Jubiläen zu begehen? Nein. Denn trotz des gemeinsamen Erinnerns zeigen Studien, dass das Wissen um unsere Geschichte verblasst. Nur 47 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler wissen, dass es sich bei Ausch­witz-Birkenau um ein Konzentrations- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten handelt. 40 Prozent der jungen Deutschen – Kollege Selle hat es erwähnt – wissen wenig oder gar nichts über die systematische Vernichtung von Juden im Nationalsozialismus. Geschichte ist mehr als Fakten und Zahlen. Sie ist die Identität unseres Landes – schmerzvoll und freudig. Um zu verstehen, wohin man geht, muss man wissen, woher man kommt! ({0}) Im Blick zurück wird die DDR oft verklärt. Die SED-Diktatur hat mit ihrer Staatssicherheit Menschen anderer Meinung systematisch ausgehorcht und zielgerichtet zerstört. Das Ende des Zweiten Weltkriegs besiegelte den Untergang des Naziregimes, die friedliche Revolution überwand die kommunistische Diktatur. In beiden Fällen siegte die Freiheit! ({1}) Es ist das Wissen um unsere Vergangenheit, das unser Land geprägt hat, die dunklen Stunden der Scham genauso wie der Freudentaumel. Aus überwundener Diktatur und Ruinen erwuchsen Demokratie, Rechtsstaat und die Achtung der Menschenrechte. Doch wie erreichen wir die junge Generation? Wie gewinnen wir sie für unsere Werte? Wie machen wir sie immun gegen Ewiggestrige und rechte Vereinfacher? Herr Jongen hat ja deutlich gemacht, wo die AfD hier steht. Allein die Anzahl der Besuche in den Gedenkstätten zu erhöhen, wird nicht reichen. Eine Aktualisierung des Gedenkstättenkonzepts ist dringend notwendig. Junge Menschen müssen konkret eingebunden werden, in die Forschung genauso wie in neue pädagogische Konzepte. Wir wollen eine Vermittlung von jungen Menschen für junge Menschen; denn wenn Jugendliche gleichen Alters sehen, wie andere Interesse zeigen und sich engagieren, dann kann das eine Vorbildwirkung und einen Abfärbeeffekt haben, den kein Unterricht in einem Klassenzimmer erzielen kann. Aber auch im Klassenzimmer müssen wir für Veränderung sorgen. Lehrpläne ändern und im Stundenplan mehr Zeit einplanen ist das eine, Lehrerinnen und Lehrer müssen sich weiterbilden, neue Erkenntnisse und Konzepte in den Unterreicht einbeziehen. Moderner Unterricht macht Geschichte erlebbar und lässt Menschenschicksale wieder aufleben. So erreichen wir nicht nur die Köpfe, sondern die Herzen der jungen Generation! Bisherige Generationen konnten die Schicksale der Menschen noch aus erster Hand erfahren. Zeitzeugen berichten eindringlich und schonungslos von Gräueltaten und dem damit verbundenen Leid. Wir selbst erfahren doch auch immer wieder – zuletzt bei den Reden von Anita Lasker und Saul Friedländer –, wie uns diese ganz persönlichen Lebensgeschichten ergreifen. Die Zeitzeugen werden immer weniger. Wir brauchen kreative Lösungen für die Zeit danach. Lassen Sie uns die Digitalisierung und neue Techniken wie die Holographie nutzen, um Schicksale und Geschichten auch in Zukunft spür- und erlebbar zu machen! Erst vor 30 Jahren gingen die Menschen in der DDR auf die Straße. Sie riskierten ihr Leben; denn sie wollten in Freiheit leben. Sie waren die Mutigen, die die kommunistische Diktatur überwanden. Die DDR hat mit ungeheuerlicher Akribie bespitzelt, durchleuchtet und fein säuberlich dokumentiert. Diese Dokumente zu erforschen, ist längst nicht abgeschlossen. Das Wissen darum, wie perfide die DDR funktionierte, ist kein regionales Thema. Es geht uns alle an, in Nord und Süd, in Ost und West! ({2}) „Jugend erinnert“, meine Damen und Herren, darf nicht nur der bloße Blick nach hinten sein. Es muss die Mechanismen der Unterdrückung deutlich machen, zeigen, welch fatale Folgen die Verachtung und Ausgrenzung von Menschen hat, die aus irgendeinem Grund anders sind. „Jugend erinnert“ muss darauf aufbauen und den jungen Menschen zeigen: Ja, es lohnt sich! Ja, es lohnt sich, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen, füreinander einzutreten! Wenn man mit dem Blick zurück bei jungen Menschen nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz erreicht, dann haben wir unser Ziel erreicht! Danke. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Birke Bull-Bischoff. ({0})

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Die faschistische Gewaltherrschaft der Nazis ({0}) bedarf immer wieder der Erinnerung an Millionen Opfer systematischer Vernichtung, und sie bedarf immer wieder der Debatte darüber, wie das geschehen konnte: systematischer Terror und Vernichtung auf der ganzen Welt, industrieller Massenmord an Jüdinnen und Juden. Deshalb bleibt dieses faschistische Terrorregime immer ein singuläres Ereignis in der deutschen Geschichte ({1}) und ist als solches zu betrachten. Alle Gleichsetzungen, und seien sie auch noch so subtil, enden in Verharmlosung und in diskursiven Sackgassen. ({2}) Ihr Antrag atmet leider den Geist der Gleichsetzung. Das wird natürlich einfließen in die Gedenkstättenarbeit und deren Konzeption. Wir werden ihm deshalb zumindest nicht zustimmen. ({3}) Meine Damen und Herren, im System der DDR sollten Vorstellungen von Sozialismus unter Missachtung demokratischer Grund- und Freiheitsrechte durchgesetzt werden. ({4}) Vor allem daran ist Sozialismus als System bisher weltweit gescheitert. ({5}) Erinnerung und Aufmerksamkeit gehören denjenigen, die Benachteiligung jedweder Form hinnehmen mussten, die politisch verfolgt worden sind und die Repressalien bis hin zu Gewalt ausgesetzt waren. ({6}) Respekt und Anerkennung gehören denjenigen, die laut Widerspruch erhoben haben, nicht selten mit hohem persönlichen Risiko, lange vor 1989. Wer Zukunft gestalten will, muss sich der Vergangenheit stellen, nicht nur der jeweils anderen, sondern auch seiner eigenen. Das ist nicht immer vergnüglich, aber aus einem solchen Prozess gehen junge Menschen, geht niemand traumatisiert hervor, sondern immer aufgeklärt und selbstbewusst. ({7}) Für uns heißt das: Den DDR-Sozialismus von links zu kritisieren, ist die Voraussetzung dafür, für eigene Politik heute zu werben. ({8}) Meine Damen und Herren, Ungerechtigkeit, Ausgrenzung und Benachteiligung politisch Andersdenkender gibt es auch im Rechtsstaat. Aber in einem Rechtsstaat gibt es demokratische Grundsätze, die es zumindest möglich machen, sich zu wehren, mit den Mitteln der Öffentlichkeit und mit den Mitteln des Rechts. ({9}) Um es ganz konkret zu machen: Der linke Ministerpräsident des Landes Thüringen ist jahrelang vom Verfassungsschutz beobachtet worden. Er konnte klagen, er konnte gewinnen – und er hat gewonnen. ({10}) Ihr Antrag hat aus unserer Sicht jedoch mindestens zwei Schwächen: Zum Ersten. Wir glauben, dass die Aufarbeitung der DDR-Geschichte so lange nicht erfolgreich sein wird, wie sie im Schwarz-Weiß-Modus verhaftet bleibt. Es braucht den differenzierten Blick ({11}) auf den Alltag und auf soziale Prozesse. Ich glaube, auf diese Art und Weise kommt man der Frage nahe: Wie kann Diktatur funktionieren? ({12}) Es braucht auf allen Seiten das Gespräch mit Zeitzeugen. Ich weiß, dass das sehr belastet und auch sehr schwierig ist. Dadurch wird es keineswegs kuschliger, meine Damen und Herren, sondern es lenkt den Blick auf die eigene, ganz persönliche Verantwortung. ({13}) Zum Zweiten. Demokratie muss gerade für junge Menschen am eigenen Leib erfahrbar werden, und zwar mit all ihren Anstrengungen und Verwerfungen. Das lernt man nicht durch akademische Festvorträge oder Simulationen. ({14}) Mit Verlaub: Ich finde, im praktisch-politischen Leben sind Sie schwach auf der Brust, wenn es um die Mitbestimmung junger Leute in Kitas, in Schulen, in Unis oder um das Wahlrecht für 14- oder 16-Jährige geht. Im 30. Jahr der friedlichen Revolution finden wir: ({15}) Das ist ein guter Anlass, junge Leute neugierig zu machen und die unterschiedlichen Perspektiven und Sichten ihrer Eltern einzubeziehen. Ich glaube, es wird ein spannendes Jahr, dem auch wir als Partei uns stellen werden. ({16})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Erhard Grundl. ({0})

Erhard Grundl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004733, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr verehrte Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne! Mit Ihrer Erlaubnis zitiere ich die Frau Bundeskanzlerin vom 21. November 2018 hier im Deutschen Bundestag: ({0}) „... weil wir alleine sein werden, die Generationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren sind …“. In der Tat: Wir stehen heute vor einer historischen Zäsur. Die Ära der Zeitzeugen geht zu Ende, und damit stehen wir vor der Frage: Wie wollen wir die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus lebendig halten, ohne ihre authentischen Stimmen, ohne die Antworten, die nur sie uns geben können? Dabei ist das Bedürfnis, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, groß; das zeigen die steigenden Besucherzahlen in den Gedenkstätten. Oft können sie die Anfragen nach Führungen gar nicht mehr zeitnah erfüllen. Angesichts der historischen Zäsur legen nun die Koalitionsfraktionen einen Antrag vor, der es zum Beispiel begrüßt, dass in den Haushalt 2019 mehr Geld für das Bundesprogramm „Jugend erinnert“, für die pädagogische Vermittlungsarbeit sowie für 20 neue Personalstellen in den Gedenkstätten eingestellt werden soll; das unterstützen wir. ({1}) Was diesem Antrag aber fehlt, ist ein überzeugendes Gesamtkonzept. Ihre sogenannten konkreten Maßnahmen sind leider zum größten Teil alles anderes als konkret. Ein großer Wurf ist dieses Programm nicht. ({2}) Da wäre zum Beispiel die Gedenkstättenkonzeption, die zu überarbeiten Sie sich im Koalitionsvertrag vorgenommen haben. Bekanntlich stammt das jetzige Konzept aus dem Jahr 2008. Die Erarbeitung eines neuen Gesamtkonzeptes gemeinsam mit den Gedenkstätten ist mehr als überfällig. ({3}) Stattdessen wollen Sie mit Programmen für Workshops und Pilotprojekten arbeiten. Das klingt interessant, weil damit eine gewisse Flexibilität gegeben ist, um auf Zeitgeschehen zu reagieren. Allerdings ist das aus unserer Sicht zu kleinteilig gedacht und gibt gerade den Gedenkstätten langfristig zu wenig gestalterische Möglichkeiten. ({4}) Gerade wegen der in Zukunft fehlenden Zeitzeugen brauchen wir Antworten auf die Frage, wie wir das Wissen dieser Menschen erfahrbar machen können – in Form von filmischem Material, Schriften, Kunstwerken, Fotos oder Interviews –, und zwar auch für kommende Generationen. Außerdem sagen Sie im Antrag nichts zur Finanzierung. Derzeit werden die Gedenkstätten und die Bezüge der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bekanntlich vom Bund nur mitgefördert. Die Länder sind hier zuerst in der Verantwortung, und die stoßen allzu oft an ihre Grenzen. Auch das ist ein Grund, warum viele Orte, die eigentlich Gedenkorte sein müssten, wie etwa das KZ Uckermark, noch weitgehend unerforscht sind. Was wir brauchen, ist eine Stärkung der dezentralen Erinnerungskultur. Die Kultusministerkonferenz unterstreicht, wie wichtig diese außerschulischen Lern- und Gedenkorte sind. Zum anderen sollten die Gedenkstätten noch stärker Orte der Forschung und Vermittlung sein. Vergleichbar mit zeitgeschichtlichen Museen brauchen sie eine entsprechende finanzielle und personelle Ausstattung, um standortspezifisch eigene Forschungsschwerpunkte ausbauen zu können. Wünschenswert wären außerdem unbürokratische Förderinstrumente für kleinere Projekte, die auch ohne Komplementärfinanzierung und Bagatellklauseln gefördert werden können. ({5}) Insgesamt muss ich leider sagen: Dieser Antrag wirft mehr Fragen auf, als er Antworten liefert. ({6}) Meine Damen und Herren, aus der Erfahrung, dass der Holocaust möglich war, dass universelle Werte wie Menschlichkeit und die Unantastbarkeit der Menschenwürde außer Kraft gesetzt werden konnten, erwächst für uns die entscheidende Aufgabe, zu erinnern und nicht zu vergessen. Es geht, so wie Géraldine Schwarz in ihrem Buch „Die Gedächtnislosen“ schreibt, um unser demokratisches Erbe. Einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, wie es die Herren hier rechts fordern, bedeutet, dieses demokratische Erbe an unsere nächste Generation aufs Spiel zu setzen. ({7}) Für all diese Aufgaben brauchen wir Antworten. Die haben Sie heute leider nicht gegeben. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Christoph Bernstiel für die Fraktion CDU/CSU. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Jugendliche auf den Tribünen! In dem vorliegenden Antrag zum Bundesprogramm „Jugend erinnert“ stehen so viele gute und wichtige Punkte, dass ich ihn am liebsten hier komplett vorlesen würde; aber das lässt die Zeit leider nicht zu. Deshalb werde ich mich auf die aus meiner Sicht wichtigen Passagen konzentrieren. Wenn wir über die Zukunft unserer Demokratie reden, dann müssen wir ganz zwingend darüber sprechen, was Jugendliche über die zwei deutschen Diktaturen, die sich hier abgespielt haben, noch wissen. Ich war selbst als Referent in der Jugendbildung tätig und muss leider feststellen, dass junge Menschen sehr wenig über die deutsche Geschichte wissen und demzufolge nur wenige Erfahrungen haben, die dazu beitragen können, Diktaturen zu verhindern. Zum diesem Schluss kommt auch eine aktuelle Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung, die den Titel „Diktatur oder Demokratie?“ trägt. Ich möchte gerne zwei zentrale Erkenntnisse dieser Studie vorstellen. Zum einen wurde herausgefunden: Je mehr Jugendliche über den Nationalsozialismus, die DDR und die Bundesrepublik wissen, umso leichter fällt es ihnen, die Diktatur des NS-Staats und die SED-Diktatur auch als solche zu bezeichnen. Haben sie dieses Wissen nicht, kommt es zum Teil zu fatalen Fehleinschätzungen. Zum Beispiel wird genannt, dass es kaum Unterschiede zwischen den drei genannten Staatssystemen gibt. Die zweite sehr zentrale Erkenntnis ist: Je mehr Jugendliche über die DDR erfahren, umso leichter fällt es ihnen, die DDR als das zu bezeichnen, was sie war: eine Diktatur. Und genau da liegt das Problem. Denn im Vergleich zu den zwölf Jahren NS-Geschichte wissen Schüler nur sehr, sehr wenig über 40 Jahre SED-Diktatur. 1949, 1953, 1961 und 1989: Anhand dieser Jahreszahlen wird meist die DDR-Geschichte abgehandelt. Dazwischen liegen aber 28 Jahre Alltagsgeschichte, und zwar von 1961 bis 1989, die genauso dazugehören, wenn man verstehen will, wie das Leben in der DDR organisiert wurde. Genau diese Erkenntnisse sind elementar, wenn es darum geht, zu verstehen, wie die SED mithilfe der Stasi die Bevölkerung systematisch unterdrückt hat und wie es trotz dieser Repressalien möglich war, ein Leben in der DDR zu gestalten. Meine Damen und Herren, nur wer weiß, wozu Sozialismus führen kann, der kann ihn auch verhindern. ({0}) Eine besondere Rolle spielen in diesem Zusammenhang die sogenannten Zeitzeugengespräche. Ich selbst habe erlebt, wie Jugendliche in persönlichen Gesprächen mit Opfern des Nationalsozialismus und der SED-Diktatur erfahren haben, wie grausam diese Systeme sein konnten; das hat bei vielen Jugendlichen prägende Erfahrungen hinterlassen. Zeitzeugengespräche sind persönlich, authentisch, fesselnd und eben auch ungeschönt. An dieser Stelle möchte ich einen ausdrücklichen Dank an das Koordinierende Zeitzeugenbüro hier in Berlin aussprechen. Dieses hat von 2011 bis 2018  4 800 Zeitzeugengespräche an Schulen und außerschulische Bildungseinrichtungen vermittelt. Dafür an dieser Stelle einen herzlichen Dank. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, das vorgelegte Programm ist gut, es ist wichtig, es kommt zur richtigen Zeit, und es setzt bei der Zukunft unseres Landes an: bei unseren Jugendlichen. Deshalb ist es richtig, dass wir 17 Millionen Euro zur Verfügung stellen und dieses Programm jetzt auf den Weg bringen. Ich freue mich, dass uns das gelungen ist, und ich würde mir wünschen, dass wir in Zukunft noch mehr solcher Programme finanzieren können. Zum Schluss muss ich leider eines feststellen. Die Debatte hat gezeigt: Sowohl die Rechtspopulisten als auch die Linkspopulisten in diesem Haus haben uns mal wieder mehr als deutlich gemacht, wie wichtig es ist, dass wir aufklären, was für Unrecht auf diesem staatlichen Boden passiert ist, damit so etwas nie wieder passiert. Herzlichen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Katrin Budde. ({0})

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das letzte Jahrhundert in Europa war das Jahrhundert der Diktaturen. Selbst gute und progressive Ideen, für die ganz viele begeistert wurden, wie der Sozialismus, der die Menschen aus Not, Hunger, Armut, Unterdrückung, Repression und ({0}) Ungleichheit befreien wollte, endeten am Ende im Nationalsozialismus, im Faschismus, im Stalinismus, ({1}) und am Ende hatte eine wirklich mies umgesetzte Idee halb Europa im Würgegriff. ({2}) Das ist die Erinnerung an das letzte Jahrhundert. Ja, das sind negative Erinnerungen, aber derer muss man sich bewusst sein. Man muss sie kennen. Man muss sie verstehen. Man muss wissen, wie so etwas entsteht, um eine positive Zukunft überhaupt gestalten zu können. Die Jugend von heute kennt die Diktaturen nicht mehr. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus ist verblasst, sofern sie in den Familien überhaupt aufgearbeitet wurde. Die Zeitzeugen sterben. Anders ist es mit der Aufarbeitung der letzten Diktatur, der SED-Diktatur. Die ist Gott sei Dank anders und früher angegangen worden, und deshalb hat sie auch zu Recht neben der NS-Diktatur einen Platz hier in diesem Antrag „Jugend erinnert“. ({3}) Was ist wichtig? Authentische Orte sind wichtig. Reden ist wichtig. Zuhören ist wichtig. Eigene Erfahrungen, Familienerfahrungen sind wichtig, außerdem selbst etwas zu finden, auf die Spurensuche zu gehen. Heute ist Erinnerungsarbeit, ist Erinnerungskultur ganz anders, als sie vor 40 oder 50 Jahren war, und diese Erinnerungsarbeit soll das Programm „Jugend erinnert“ ermöglichen. Lassen Sie uns doch gemeinsam mit der Jugend folgender Frage nachgehen: Warum lassen sich Menschen immer wieder verführen? Wie funktionieren Systeme aus Angst und Repression? Lassen Sie mich ein Muster ansprechen, nämlich das Muster der Denunziation, das immer wieder ein zentrales Element in Diktaturen ist. Das war es zu NS-Zeiten, das war es in der DDR, und, meine Damen und Herren – wehret den Anfängen! –, wir haben heute wieder eine Fraktion einer Partei in diesem Bundestag sitzen, die das Thema Denunziation ganz offen als ihr eigenes Mittel einsetzt. Schülerinnen und Schüler sollen Lehrer auf Plattformen denunzieren. ({4}) Die Antwort auf die ganz allgemeine Frage, wer ein Nazi ist, lautet: Ein Nazi ist jemand, der sich der Methoden der Nazis bedient. – Sie können also selbst die Antwort darauf finden. ({5}) Neben eigenen Projekten, neben dem Erleben, wozu es führt, wenn man sich darauf einlässt, wenn man nicht dagegen kämpft, neben dem Verstehen, gehört immer auch die europäische, aber auch die internationale Begegnung; denn Diktaturen sind überall auf der Welt ein Problem, und sie waren auch immer verbündet auf der Welt. ({6}) Deshalb ist es gut, dass wir hier einen interdisziplinären Ansatz haben, dass sowohl das Auswärtige Amt als auch das Familienministerium als auch die BKM die Idee „Jugend erinnert“ gemeinsam vorantragen und sie auch internationalisieren und europäisieren, im Großen im Übrigen wie im Kleinen. ({7}) Es ist wichtig, dass wir gerade in Deutschland die Orte der doppelten Diktaturerfahrung mit einbeziehen, also beispielsweise den Roten Ochsen in Halle. Ich meine aber auch das Thema Bildung, so zum Beispiel die Nationalpolitische Bildungsanstalt Ballenstedt, die danach übergangslos eine Schule für SED-Bezirksparteileitungen wurde. Der Architekt, der mit ihrem Bau im Nazireich begonnen hatte, baute sie für die SED zu Ende. Das sind Dinge, die man verstehen muss: Warum ist das ineinander übergegangen? Warum hat das funktioniert? Warum hat diese Repression wieder funktioniert? Das wollen wir mit ganz persönlichem Erleben, mit Spurensuche in den Familien, in der Nachbarschaft, auch mit dem Kleinen nebenan, und mit diesem Programm „Jugend erinnert“ erreichen. ({8}) Mein katholischer Pfarrer hat einmal zu mir gesagt: Wissen Sie, Frau Budde, Ideen sind immer dann Mist, wenn sie Ismen werden. – Er hat den Katholizismus mit einbezogen. Sorgen wir doch bitte gemeinsam dafür, dass in diesem Jahrhundert in Deutschland, in Europa und möglichst auch international diese Ismen nicht gewinnen. Das ist ein guter gemeinsamer Kampf. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Gitta Connemann. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Gebt ­Hitler nie eure Handynummer.“ Ein Schüler hat diesen Satz nach dem Besuch einer Holocaust-Ausstellung in das Gästebuch eines Museums geschrieben. Er überträgt das, was er gesehen hat, in seine Welt, in seine Zeit, und die ist mobil. Wem gibt man seine Handynummer? Freunden, Vertrauten. Hitler und Nazis gehören nicht dazu. Ohne Ausstellung hätte sich der Schüler vermutlich nicht so intensiv mit Shoah und NS-Terrorherrschaft auseinandergesetzt. Auch wer von einem Zeitzeugen durch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen geführt worden ist, wird die DDR nicht mehr glorifizieren. Das ehemalige Stasi-Untersuchungsgefängnis zeigt: Unter der SED-Diktatur herrschten Willkür und Unrecht. Freiheit gab es nur bei Flucht. Das zeigt: Wir müssen Jugendlichen den Besuch von Gedenkstätten und Dokumentationszentren ermöglichen, und zwar nicht nur der großen, sondern auch der weniger bekannten. Übrigens befinden sich viele davon auf dem Land. ({0}) Dort wird hervorragende Arbeit geleistet, auch ehrenamtlich, wie zum Beispiel in meiner Region in der Gedenkstätte Gnadenkirche Tidofeld in Norden oder der Gedenkstätte Esterwegen im Emsland. Genau deshalb schaffen wir ein neues Bundesprogramm „Jugend erinnert“. Herr Dr. Jongen, dieses Programm ist eines nicht: Gedächtnispolitik. Gedächtnispolitik macht in diesem Haus nur eine einzige Fraktion: die AfD. ({1}) Für Sie ist das Dritte Reich ein Fliegenschiss, ({2}) sind 6 Millionen ermordete Jüdinnen und Juden ein Fliegenschiss. Sie schreiben Geschichte um, weil Sie Geschichte vergessen wollen, und das ist nicht nur nationalistischer Unsinn, sondern auch gefährliche Geschichtsklitterung und politische Brandstiftung und nichts anderes. ({3}) Uns geht es hier um Verantwortung für Demokratie. Frau Kollegin Bull-Bischoff, Sie haben die Frage gestellt, wie Diktatur funktionieren kann. Das ist eine scheußliche Frage. Wir wollen wissen, wie Demokratie funktionieren kann, und das unterscheidet uns wiederum von Ihrer Fraktion. ({4}) Das geht am besten mit Zeitzeugen; ({5}) denn sie führen uns vor Augen, was Diktaturen für Menschen bedeuten. Ich nenne Albrecht Weinberg aus Leer. Er ist Jude. Er überlebte KZs. Er überlebte Todesmärsche, und er erzählt Schülern, wie aus Nachbarn Bestien wurden, wie aus Menschen Nichts wurden. Aber die Zeitzeugen verstummen, und mit „Jugend erinnert“ wollen wir auch ihre Geschichte bewahren, und zwar lebendig, in virtueller Realität, wie Zeitzeugen zum Beispiel als Hologramme. Hier kann tatsächlich moderne Technologie Brücken bauen, und so können sich Jugendliche ihre Erinnerung selbst schaffen. Genau darum geht es. Es geht nicht um verordnetes Erinnern. Erinnern ist kein Selbstzweck. Es geht am Ende um ein selbst geschaffenes Erinnern. Das ist übrigens auch die Gefahr eines ritualisierten Erinnerns, das am Ende das Gegenteil bewirken kann. Wir brauchen mehr als Mahnen und Beschwören; denn wir wissen auch: Wer die Vergangenheit nicht wiederholen will, der muss im Hier und Jetzt leben, und er muss jetzt handeln. Wir dürfen Antisemitismus nicht erst bekämpfen, wenn auf Demonstrationen „Juden ins Gas!“ gerufen wird, und das findet aktuell statt. ({6}) „Du Jude!“ darf kein Schimpfwort auf dem Schulhof sein. Wer eine Kippa trägt, muss sich in diesem Land genauso sicher fühlen wie jemand, der ein Basecap trägt. ({7}) Antisemitismus darf keinen Platz in Deutschland haben, und es darf sich nie wieder eine kommunistische Gewaltherrschaft in diesem Land wiederholen. ({8}) Deshalb muss sich Jugend ihre Erinnerung selbst schaffen – und uns erinnern. „Gebt Hitler nie eure Handynummer.“ ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8942 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist das so beschlossen.

Bernd Riexinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004865, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei kaum einem anderen Thema wird das Versagen dieser Bundesregierung so deutlich wie bei der Tarifbindung. Tatenlos sieht die Bundesregierung zu, wie sich Löhne und Arbeitsbedingungen von Millionen Beschäftigten verschlechtern. Tatenlos nimmt sie hin, dass im Westen nur noch 27 Prozent, im Osten sogar nur noch 16 Prozent der Unternehmen an einen Branchentarifvertrag gebunden sind. Tatenlos sieht die Bundesregierung zu, wie sich so die Löhne und Arbeitsbedingungen von Millionen Beschäftigten verschlechtern. Es wird höchste Zeit, dass gehandelt und gegengesteuert wird. ({0}) Wenn nichts getan wird, gibt es Millionen Verlierer und wenige Gewinner. Konzerne und Betriebe können weiter die Löhne drücken, die Arbeitsbedingungen verschlechtern und mit Ausgliederungen, Subunternehmen und Werkverträgen ihre Profite hochschrauben. Die Konsequenzen tragen die betroffenen Verkäuferinnen und Pflegekräfte, die Paketboten und Lageristen: Mit Tarifvertrag bekommt man im verarbeitenden Gewerbe im Westen 900 Euro mehr im Monat als ohne Tarifvertrag. Mit Tarifvertrag erhält man in der Gastronomie im Osten 400 Euro mehr im Monat als ohne. Diese Kluft muss dringend überbrückt werden. ({1}) Es muss wieder normal werden, dass die Beschäftigten unter Tarifverträge fallen. Tarifbindung ist kein Luxusgut. ({2}) Wer wie Bund, Länder und Kommunen jedes Jahr Aufträge mit einem Gesamtvolumen von 400 Milliarden Euro vergibt, kann doch die Regeln diktieren. ({3}) Es ist völlig unverständlich, dass die öffentliche Hand weiterhin Aufträge vergibt, ohne die Unternehmen zur Tariftreue zu zwingen. ({4}) Es ist ein Skandal, dass der Bund Millionen an Steuergeldern an Unternehmen zahlt, bei denen die Beschäftigten unter miesen Arbeitsbedingungen und zu schlechten Löhnen arbeiten müssen, deren Beschäftigte beim Jobcenter anstehen müssen, um Hartz IV zu beantragen, weil der Lohn zum Leben nicht reicht und sie im Alter nur Armutsrenten bekommen. Das ist doch absurd. ({5}) Wir dürfen nicht länger akzeptieren, dass Steuergelder in Millionenhöhe an Unternehmen gehen, die ihren Beschäftigten weniger als den Tarif zahlen. „Tarifverträge sind ein öffentliches Gut“, schreiben CDU, CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag. Leere Worte sind das, denen bisher überhaupt keine Taten gefolgt sind. ({6}) Wer sichere und gute Arbeitsplätze will, wer will, dass die Menschen von ihrer Arbeit gut leben können, der muss die Tarifbindung stärken. ({7}) Wir wollen erreichen, dass die Beschäftigten in Deutschland höhere Löhne bekommen und gute Arbeit zur Regel wird. Der Altenpfleger, die Blumenverkäuferin, der Zahntechniker, die Paketbotin – alle Beschäftigten sollen einen tarifvertraglich gesicherten und damit einklagbaren Anspruch haben auf ordentliche Bezahlung, auf geregelte Arbeitszeiten und auf bezahlten Urlaub. ({8}) Dafür ist es dringend notwendig, die Tarifbindung flächendeckend zu stärken. Im Einzelhandel zum Beispiel fällt heute gerade noch ein Drittel der Beschäftigten unter den Tarifvertrag. Bis 2001 war er allgemeinverbindlich, und die Tarifbindung lag bei 91 Prozent. Für die Mehrheit der Beschäftigten wird der ohnehin zu geringe Lohn noch weiter gedrückt. Das ist beschämend. ({9}) Deshalb müssen wir dem eigentlich selbstverständlichen Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, gleiche Arbeitsbedingungen und gleiche Rechte für alle“ wieder zum Durchbruch verhelfen. ({10}) Dafür ist eine zentrale Voraussetzung, dass es künftig einfacher wird, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Deshalb fordern wir, dass es eigentlich ausreichen muss, wenn eine Tarifpartei, in der Regel die Gewerkschaft, das beantragt. Leider wirkt die Tatenlosigkeit der Bundesregierung in die andere Richtung. Noch nie sind so wenige Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt worden wie im vergangenen Jahr. Deshalb wollen wir in einem ersten Schritt, dass Anträge auf Allgemeinverbindlichkeit nur mit Mehrheit abgelehnt werden können. ({11}) Und wir wollen, dass der Staat seinen Einfluss als öffentlicher Arbeitgeber nutzt, um Tariftreue zu erzwingen. Es kann doch nicht sein, dass der Staat Tarifflucht auch noch mit Steuergeld belohnt. ({12}) Wir wollen, dass der Bund Aufträge nur noch an Unternehmen vergibt, die sich an die Tarifverträge halten. ({13}) Unternehmen, deren Geschäftsmodell auf Lohndumping und schlechten Arbeitsbedingungen basiert, dürfen von der öffentlichen Hand nicht einen einzigen Euro bekommen. ({14}) Für Arbeit, die zum Leben passt, für höhere Löhne und weniger Stress im Job – dafür müssen wir die Tarifbindung stärken. Meine Fraktion, Die Linke, hat einen Antrag eingebracht, von dem Millionen Beschäftigte in Deutschland profitieren würden. Hören Sie endlich auf mit dieser Schlafmützigkeit, die einzig und allein den Arbeitgebern nutzt. Verbessern Sie die Lebenssituation von Millionen Beschäftigten und ihren Familien, und stimmen Sie diesem Antrag zu. Danke schön. ({15})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Uwe Schummer. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Kollege Riexinger, es wäre überzeugender, wenn Sie nicht immer eine Karikatur unseres Landes als eine sozialpolitische Sahelzone zeichnen würden. Wir haben derzeit die höchste Beschäftigungsquote: 45 Millionen sozialversicherte Arbeitnehmer in Deutschland. Wir haben langfristige, exzellente Tarifverträge, die derzeit abgeschlossen werden; das weiß ich auch als Gewerkschafter. Und wir haben derzeit auch eine Steigerung der Lohnquote und Einkünfte aller Familien- und Arbeitnehmerhaushalte. Auch das gehört zur Wahrheit in unserem Lande. ({0}) Die Tarifautonomie ist dabei ein wichtiges Gut. Sie ist der Kern der sozialen Marktwirtschaft. Sie wurde 1918/1919 von Heinrich Brauns, einem Christlichsozialen, einem Pfarrer, der Reichsarbeitsminister wurde, mitkonzipiert und umgesetzt und ist in der sozialen Marktwirtschaft das zentrale Element. Aber es heißt eben Tarifautonomie, und Autonomie bedeutet: nach eigenen Gesetzen leben. Das heißt, dass die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften miteinander in einem kultivierten Konflikt über die Arbeitskonditionen auf Zeit ringen, und nachdem sie dann ihren Kompromiss, ihren Tarifvertrag abgeschlossen haben, herrscht für beide Seiten Friedenspflicht. Diese Ordnungsfunktion, dass dieser kultivierte Konflikt in der Tarifautonomie stattfindet, war und ist in unserer Gesellschaft wichtig. Es gibt auch seitens des Bundesarbeitsgerichts bestimmte Kriterien für diesen Tarifkonflikt: Verhältnismäßigkeit der Mittel, Waffengleichheit zwischen den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften, es darf kein Unternehmen gefährdet werden, es darf nur um tarifpolitische Ziele gehen, nur eine Gewerkschaft kann einen Arbeitskampf ausrufen. Was das Bundesarbeitsgericht auch gefordert hat, ist, dass die Tarifpartner, das heißt die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände, ihr eigenes Tarifrecht autonom weiterentwickeln. Deshalb ist das auch Aufgabe der Politik. ({1}) – Lassen Sie das mit den Zwischenfragen. Wir sind zusammen im Ausschuss. Da können wir über den Antrag miteinander diskutieren. Ich möchte die Rede zu Ende führen. Für die Diskussion ist der Ausschuss da. ({2}) – In der ersten Lesung geht es zunächst einmal darum, die Grundsätze zu vereinbaren und sich miteinander auszutauschen. Zum Thema Tarifautonomie gehört die Aufforderung des Bundesarbeitsgerichtes an die Gewerkschaften und an die Arbeitgeberverbände, ein eigenes Recht zu entwickeln. Wir wollen nicht einer Tarifpartei Schützenhilfe leisten, weder den Gewerkschaften noch den Arbeitgeberverbänden, sondern als politischer Faktor den Rahmen setzen und dann mit den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden vernünftige tarifliche Regelungen entwickeln. Das ist unser Ansatz im Gespräch mit den Tarifpartnern. Wir wissen, dass wir die Tarifautonomie verlieren, dass weniger Tarifbindung vorhanden ist, und wir wollen gegensteuern. Deshalb haben wir das auch in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Wir, die Unionsfraktion, aber auch die Sozialdemokratie, wollen Gespräche mit den Gewerkschaften und mit den Arbeitgeberverbänden führen und haben auch das in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Wir werden Regelungen miteinander finden – aber mit beiden Tarifpartnern und nicht gegen irgendeinen Tarifpartner. Das ist Tarifautonomie. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Kollegin Krellmann erhält die Gelegenheit zu einer Kurzintervention.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin Gewerkschaftssekretärin der IG Metall, und ich weiß genau, was Tarifautonomie ist. Solange das System funktioniert, bin ich voll auf Ihrer Seite. Was ich aber sehe, ist, dass die Tarifbindung flächendeckend zurückgeht. Ich frage mich: Was machen wir denn da? Mittlerweile sind wir auf einem Niveau, das tendenziell bei unter 50 Prozent liegt. Das ist doch eine Katastrophe; das ist doch nicht in Ordnung. Und was tun wir? Wir sehen zu. Das geht doch überhaupt nicht. Was tut Ihre Fraktion dafür, dass sich das ändert? Was tut Ihre Fraktion, damit wir wieder da hinkommen und erreichen, was Sie sich wünschen? Bestehen bleibt es nicht. Den Weg dorthin müssen wir unbedingt beschreiten. Deswegen haben wir unseren Antrag eingebracht. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Schummer?

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin, meine Damen und Herren! Gerade weil wir uns in der Analyse einig sind, haben wir das Thema Gegensteuern in unseren Koalitionsvertrag mit aufgenommen. Wir wollen die Tarifbindung erhöhen, ({0}) und wir wollen auch die Allgemeinverbindlichkeitserklärung da, wo es notwendig ist, erleichtern. Dies wird derzeit beispielsweise in den Pflegeberufen entwickelt. Das wird auch eine der ersten Maßnahmen sein. Die Gründe für die abnehmende Tarifbindung liegen aber auch in neuen Arbeitsformen. Die Fragen von Homeoffice und Digitalisierung stellen uns vor neue Herausforderungen. Wenn Menschen auf einmal über eine App organisiert werden, müssen wir fragen, wie wir für diese neuen Arbeitsformen wieder Tarifbindung und die Wirksamkeit des Arbeitsrechts erreichen können. Das sind Themen, die wir mit den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden besprechen. Ihr Antrag springt viel zu kurz. Wir wollen die Elemente der Tarifautonomie wieder umfassend sichern, auch für Arbeitsformen, die modern sind, die anders sind als der klassische Betrieb, den Sie noch im Blick haben. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Uwe Witt von der AfD. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste des Hohen Hauses! Die Tarifautonomie ist für die soziale Marktwirtschaft ein bereits im Grundgesetz angelegtes hohes Gut unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die Tarifbindung ist in den letzten Jahrzehnten immer mehr aufgeweicht worden, und die Koalition von SPD, CDU und CSU hat trotz ihrer Lippenbekenntnisse im Koalitionsvertrag bis jetzt nichts dagegen unternommen. Durch die zunehmende Globalisierung haben wir immer mehr Betriebsverlegungen in Niedriglohnländer erlebt. Dazu kommt, dass hier in Deutschland in den letzten Jahren eine dramatische Veränderung des Arbeitsmarkts stattgefunden hat: weg von Vollzeitarbeitsplätzen hin zur Schaffung von immer mehr prekären Arbeitsverhältnisse. Ob diese in Teilzeit, Leiharbeit oder als Minijobber ausgeführt werden – ({0}) das Resultat ist immer ein geringes Einkommen, Kollege Zimmer. Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten ist von 4 Millionen im Jahr 2003 auf heute 15 Millionen angestiegen. 21,5 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland arbeiten heute im Niedriglohnsektor. Durch den massiven Ausbau der Leiharbeit wurde die Arbeitnehmerschaft in einen festen und in einen variablen Teil der Belegschaft gespalten, was den Zusammenhalt massiv untergraben hat. Genau deshalb wollen wir als AfD-Fraktion ja Leiharbeit sowohl in der Anzahl der Arbeitsverhältnisse als auch in der Dauer massiv einschränken. ({1}) Unzählige Personen sind heute darauf angewiesen, zwei Jobs auszuüben, um ihre Lebenshaltungskosten überhaupt noch bestreiten zu können. Mit der Digitalisierung erwartet uns der nächste Paradigmenwechsel. Ob Homeoffice, mobile Arbeit, Soloselbstständige, Arbeit auf Abruf oder Freelancer, die sich auf digitalen Plattformen an- und unterbieten und nicht selten in Selbstausbeutung unter prekären Bedingungen arbeiten müssen – all das ist die schöne neue Arbeitswelt, die den Einfluss der Gewerkschaften weiter schrumpfen lässt, den Zusammenhalt unter Arbeitnehmern mindert, die sozialversicherungsrechtlichen Garantien infrage stellt und unsere soziale Marktwirtschaft immer mehr verschwinden lässt. ({2}) Ich komme zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung für Tarifverträge zurück. Dies ist nicht, wie häufig dargestellt, Sozialismus, sondern dient dem Schutz unserer sozialen Marktwirtschaft. Der Antrag der Partei Die Linke, der auf einer halben DIN-A4-Seite niedergeschrieben ist, fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen regelt. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, was Sie in Ihrem Antrag fordern, ist keine Revolution oder gar innovativ. Sie fordern, dass ein Antrag vom Tarifausschuss nur noch mehrheitlich abgelehnt werden kann. Sie fordern weiterhin die Schaffung eines Tariftreuegesetzes auf Bundesebene, in dem geregelt ist, „dass öffentliche Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden dürfen, die ihre Beschäftigten nach den branchenüblichen … Tarifverträgen entlohnen“. Sie müssten doch wissen, werte Kolleginnen und Kollegen: Die Tariftreueverpflichtung bei öffentlichen Ausschreibungen haben wir doch außer in Bayern und Sachsen bereits in allen Bundesländern. ({3}) Zunächst müssen Sie alle, die hier sitzen, endlich einmal zugeben, dass die in Deutschland mühsam erkämpften Arbeitnehmerschutzrechte durch die EU und über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes immer wieder unterwandert und ausgehebelt werden. ({4}) Deshalb fordert die AfD ja die strikte Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und die Befreiung von EU-Regelungen, die unseren deutschen Interessen zuwiderlaufen. Wir erklären Ihnen das aber gerne noch einmal im Ausschuss und stimmen daher der Überweisung zu. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Bernd Rützel. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin froh, dass wir heute über die Tarifbindung sprechen können; denn Tarifverträge sichern den sozialen Frieden und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland in erheblichem Maß. Sie entlasten den Staat, weil und indem die Sozialpartner die Arbeitsbeziehungen eigenständig regeln und ihre Probleme selber lösen. Wo Menschen unter einen Tarifvertrag fallen, wo sie von einem Tarifvertrag geschützt werden, geht es ihnen besser. Trotzdem sinkt die Tarifbindung. Weniger als jeder Zweite, also weniger als die Hälfte aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden noch von einem Tarifvertrag geschützt. Warum ist das so? Das ist keine gute Entwicklung; das ist eine schlechte Entwicklung. Es gilt, sie aufzuhalten und umzukehren. ({0}) Die Konjunktur brummt. Die Konjunktur ist gut, und wir brauchen eine höhere Reichweite unserer Tarifverträge. Kerstin Tack und Michael Gerdes werden darauf gerade in Bezug auf den Bereich der Pflege eingehen. Es ist ein entscheidender und wichtiger Schritt zur Bekämpfung von Ungleichheit; denn der Abstand der niedrigen und mittleren Löhne zu höheren Löhnen ist in Deutschland größer als in den meisten nord- und westeuropäischen Ländern. Die Lösung liegt also in mehr Tarifbindung. Da können wir nicht zugucken. Sie muss von der Politik gefördert und gestärkt werden. Deswegen ist eure Analyse, lieber Bernd Riexinger, ja nicht verkehrt; sie ist richtig. ({1}) Euch mag entgangen sein, dass die Koalition in den letzten vier, fünf Jahren bereits einiges dafür getan hat. ({2}) – Das mag noch nicht genügen; aber es ist nie genug. Wir haben einiges Wichtige getan. Wir haben die Allgemeinverbindlichkeit verbessert, indem wir statt der 50-Prozent-Marke das öffentliche Interesse in den Vordergrund gestellt haben. Das hilft. Wenn wir flexible Regelungen eingebaut haben, zum Beispiel bei der Einführung des Mindestlohnes, zum Beispiel, als wir Leiharbeit und Werkverträge reguliert haben, haben wir immer auch dafür gesorgt, dass diese Flexibilität nur bei entsprechender Sicherheit gegeben ist. Ich war letzte Woche auf einer großen Betriebsversammlung der Deutschen Post. Dort wurde in einem Tarifvertrag die Höchstüberlassungsdauer vom Mutterunternehmen zu Tochterunternehmen verabredet. Davon profitieren alle Beschäftigten, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber. Das ist nur mit einem Tarifvertrag möglich. Ein Bekannter von mir ist mit seinem Unternehmen führend im Garten- und Landschaftsbau. Er ist auch im entsprechenden Verband aktiv. Was hat der früher immer gegen Gewerkschaften, gegen Betriebsräte und gegen Mitbestimmung gewettert! Die sollten sich raushalten. Die sollten sich auf keinen Fall in die unternehmerischen Entscheidungen einmischen. Mittlerweile ist er vom ­Saulus zum Paulus geworden. Er ist kuriert. Er ist ein Fan der Tarifvertragspolitik, weil er weiß: Wenn er es selber in die Hand nimmt, wenn er es selber regelt, ist es besser, als wenn es die Politik macht. Das ist Tarifautonomie. Aber wir werden es machen: Wir werden eingreifen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, es ist ja alles richtig, was ihr gesagt habt. Aber schaut doch einmal in das Sozialstaatspapier der SPD. Da sind diese Punkte drin. Da haben wir längst aufgeführt, dass das Vetorecht der Arbeitgeber, gerade was die Allgemeinverbindlichkeit betrifft, weg muss. Wir haben da Steuervergünstigungen für tarifgebundene Unternehmen hineingebracht. Wir wollen die Mitbestimmung insgesamt stärken. Diese Gewerkschaftsbekämpfung – modern sagt man Union-Busting; Gewerkschaftsbekämpfung ist aber besser – muss härter bestraft werden. ({3}) Und es ist auch nicht in Ordnung, wenn der billige Jakob das Geschäft macht und sich alle gegenseitig unterbieten. Das nützt am Ende niemandem. Deswegen brauchen wir ein Tariftreuegesetz auf Bundesebene. Das sind alles keine neuen Ideen, aber diese Ideen sind richtig. Ich habe mich gefreut, als ich positive Anzeichen gesehen habe. Lidl hat uns einen Brief geschrieben, in dem steht, dass sie allen 79 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mindestens 12,50 Euro pro Stunde zahlen. Wir brauchen einen Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde, sogar 12,70 Euro, wenn er nicht irgendwann wieder auf Sozialhilfeniveau sein soll. Lidl fordert eine zwingende Tarifbindung für die eigene Branche. Wenn schon Lidl das fordert, dann ist es höchste Eisenbahn bzw. höchste Zeit, dass sich hier etwas tut. Ich werbe also dafür, die Tarifbindung zu stärken. Mit uns, mit der SPD, haben Sie den richtigen Partner dazu. Vielen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank, Bernd Rützel. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Till Mansmann für die Fraktion der FDP. ({0})

Till Mansmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004815, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Grundsätzlich ist es natürlich gut, wenn Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite in Tarifverträgen zusammenfinden, und es ist auch gut, wenn der Staat dafür günstige Rahmenbedingungen schafft und beide Seiten auf dem Weg unterstützt, die eine wie die andere Seite gleichermaßen. Liebe Kollegen von der Linkspartei, was Sie vorschlagen, zeigt, dass Sie für den Staat aber keine neutrale Rolle vorsehen, sondern ihn als ein auf einer Seite stehendes Direktionsgebilde sehen. Der Geist dieses Antrags ist damit aus der Zeit gefallen. Wenn ich „Zeit“ sage, dann meine ich nicht das 20. Jahrhundert, sondern eher das 19. Jahrhundert. ({0}) Die Lage ist etwas komplexer. Wir leben in einer Zeit des Fachkräftemangels. Es gibt auch für Arbeitskräfte viele Gründe, sich für andere Modelle im Arbeitsleben zu entscheiden, und wenn in einem Unternehmen kein Tarifvertrag gilt, dann bedeutet das nicht automatisch, dass die Beschäftigten ausgebeutet oder schlecht behandelt werden. 40 Prozent der nicht tarifgebundenen Betriebe in Westdeutschland und 35 Prozent in Ostdeutschland gaben an, sich bei Einzelarbeitsverträgen freiwillig an bestehenden Branchentarifen zu orientieren. Abnehmende Tarifbindung kann auch ein Hinweis auf eine zunehmende Individualisierung der Arbeitswelt sein, in der Arbeitnehmer auf sie ganz persönlich zugeschnittene Arbeits- und Gehaltsmodelle leben wollen. Die Arbeitswelt verändert sich seit jeher ständig. Generell erscheint uns in diesem Zusammenhang wichtig, hier nochmals darauf hinzuweisen, dass es auch das Recht gibt, keinen Tarifvertrag abzuschließen. Die Freiheit, den Inhalt von Vergütungsvereinbarungen mit Arbeitnehmern selbst bewerten und frei aushandeln zu können, ist ein wesentlicher Bestandteil der Berufsausübung, weil diese Vertragsbedingungen in besonderem Maße den wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen bestimmen. ({1}) Wir halten es außerdem für kritisch, wenn wir dem Staat auftragen sollen, wettbewerbsverzerrend auf bestimmte Entscheidungen hinzuwirken. Die Pflicht, Unternehmen mit Tarifbindung bei öffentlichen Aufträgen zwingend zu bevorzugen, wäre eine solche Wettbewerbsverzerrung. Ist es denn wirklich so, dass der Abschluss eines Tarifvertrags für die betroffenen Unternehmen ein Handicap ist, das die staatliche Unterstützung erfordert? Ist das die Botschaft, die wir den Tarifparteien, vor allem aber auch den Arbeitnehmern vermitteln wollen? Wollen wir nicht lieber von einem System mit starken Gewerkschaften und starken Arbeitgebern sprechen, die auf Augenhöhe miteinander diskutieren? ({2}) Sie sollten sich vielleicht überlegen, warum sich viele Unternehmen überhaupt nicht mehr an öffentlichen Ausschreibungen beteiligen. Die Firmen meiden die öffentliche Hand, weil die Auftragsvergabe zu kompliziert und langwierig ist. Viele Firmen beklagen sich heute schon über bürokratische Hindernisse bei den Ausschreibungen. ({3}) Wenn Sie glauben, dass Sie diese Problematik damit entschärfen, dass Sie die Hürden für die Unternehmen noch höher legen, erreichen Sie nicht das, was Sie erreichen wollen. Damit werden öffentliche Aufträge nicht attraktiver. ({4}) Ein Auftrag, der gar nicht vergeben wird, hilft niemandem: keinem Unternehmen, keinem Arbeitnehmer und auch nicht denen, die einem Tarifvertrag unterliegen. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Es ist gut, dass wir heute über das Thema Tarifbindung diskutieren; denn die weißen Flecken der Tariflandschaft werden immer größer, und es ist dringend notwendig, die Tarifbindung zu stärken. Deshalb unterschreiben wir Grünen die Zielsetzung des Antrags ohne Wenn und Aber. ({0}) Tarifverträge garantieren gute Arbeit. Dabei geht es um faire Löhne, um Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Arbeitszeiten, Urlaubstage oder auch um die Regelungen zur betrieblichen Altersvorsorge. Beschäftigte mit einem Tarifvertrag stehen besser da als die Beschäftigten in Betrieben ohne Tarifbindung. Und wichtig ist auch: Diese guten Arbeitsbedingungen müssen die Beschäftigten nicht alleine für sich individuell erkämpfen. Von den Tarifverträgen, von diesen kollektiven Regelungen, profitieren alle. ({1}) Tarifverträge sind auch für die Arbeitgeber von Vorteil. Die Beschäftigten sind zufriedener und motivierter und damit auch produktiver. Das Betriebsklima ist besser. Tarifverträge garantieren auch gleiche Bedingungen für alle Unternehmen. Sie verhindern Schmutzkonkurrenz und sorgen so auch für fairen Wettbewerb. Darüber hinaus sind Tarifverträge auch noch ein wirksames Mittel gegen die Lohndiskriminierung von Frauen. Sie verhindern, dass die Schere bei den Einkommen immer weiter auseinandergeht. Alles zusammen bedeutet also, dass Tarifverträge den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stärken, und das ist wichtig. ({2}) Die positive Wirkung von Tarifverträgen kann also niemand ernsthaft bezweifeln. Und doch müssen wir feststellen, dass wir hier ein großes Problem haben. Arbeitgeber wechseln in OT-Mitgliedschaften und begehen Tarifflucht. In der Folge nimmt die Tarifbindung kontinuierlich ab. Heute zahlen nur noch 27 Prozent der Unternehmen nach Tarif, und nur noch 55 Prozent der Beschäftigten sind durch tarifliche Vereinbarungen geschützt. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Lohnentwicklung. Auch der Trend hin zu Niedriglöhnen ist ungebrochen. Diese Entwicklung ist nicht akzeptabel; sie muss gestoppt werden. ({3}) Und was machen Sie, die Regierungsfraktionen? Sie loben zwar immer die Sozialpartnerschaft. Im Koalitionsvertrag steht aber nicht ein Mal das Wort „Tarifbindung“. Sie wollen zwar Tarifverträge in der Pflege; aber das war es dann auch schon. Fakt ist: Bei der Tarifbindung haben Sie eine Leerstelle, und das wird der Bedeutung der Tarifverträge in keiner Weise gerecht. ({4}) Natürlich ist es hauptsächlich die Aufgabe der Sozialpartner, die Tarifbindung wieder zu erhöhen. Natürlich garantiert die Koalitionsfreiheit, die in unserem Grundgesetz steht, nicht nur die positive, sondern auch die negative Koalitionsfreiheit. Dennoch können und müssen wir, die Politik, gute Rahmenbedingungen schaffen, damit die Tarifbindung endlich wieder steigt. ({5}) Damit bin ich beim Antrag der Linken. Die erste Forderung, dass Tarifverträge einfach für allgemeinverbindlich erklärt werden können und damit für alle Betriebe einer Branche gelten, erheben auch wir schon lange; denn die aktuellen Regelungen führen dazu, dass Anträge im Tarifausschuss blockiert werden können. Häufig werden Anträge deswegen gar nicht erst gestellt, beispielsweise beim Einzelhandel. Wir haben also mit der Allgemeinverbindlicherklärung ein gesetzliches Instrument, das immer weniger genutzt wird. Das Instrument ist aber wichtig, und deshalb wollen auch wir die Spielregeln im Tarifausschuss verändern. ({6}) Die zweite Forderung ist die Schaffung eines Bundestariftreuegesetzes. Natürlich sollte der Bund als öffentlicher Auftraggeber das Vergaberecht für seine wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele nutzen. Mit der Tariftreueerklärung kann sichergestellt werden, dass nur Unternehmen öffentliche Aufträge bekommen, die sich an Mindestlöhne und Tariflöhne halten. Wichtig wäre aus grüner Sicht aber, diese sozialen Kriterien gleich auch mit ökologischen Kriterien zu verbinden, ({7}) also mit Umweltschutz, Ressourceneffizienz und Klimaschutz. Wir Grüne wollen eine zukunftsfähige Wirtschaft, die sozial gerecht ist und die gleichzeitig unsere Lebensgrundlagen schützt. Es lohnt sich also, diese Debatte auf die Agenda zu setzen. ({8}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, wenn es Ihnen ernst ist mit der Sozialpartnerschaft, dann müssen Sie endlich der Tarifflucht etwas entgegensetzen. Unsere Position ist bei diesem Thema eindeutig. Wir wollen die Tarifbindung wieder erhöhen. Wenn in manchen Branchen die Tarifpartnerschaft nicht mehr funktioniert, dann muss das Tarifvertragssystem politisch gestützt und gestärkt werden. In diesem Sinne hoffe ich auf eine konstruktive Debatte im Ausschuss. Vielen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Wilfried Oellers. ({0})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor ich zum eigentlichen Thema komme, will ich klarstellen, dass die Arbeitsmarktsituation vielleicht doch nicht so schlimm ist, wie Sie sie dargestellt haben, Herr Riexinger. Wenn man dem glauben soll, was Sie gesagt haben, müssten wir in einem wirklich schlimmen Land leben. Wir haben Rekordbeschäftigung, steigende Löhne, und die Zahl der Befristungen geht derzeit prozentual wieder leicht zurück. Ich muss ganz ehrlich sagen: Das Bild, das Sie hier malen, ist nicht richtig. ({0}) Darüber hinaus will ich noch auf einen Punkt eingehen. Herr Riexinger, wenn Sie sich hier schon äußern, dann würde ich an Ihrer Stelle genau überlegen, was ich sage. Sie haben in Ihrer Rede gesagt, dass die Menschen ein Recht auf bezahlten Urlaub haben und wir deswegen die Tarifautonomie stärken müssen. Herr Riexinger, für Urlaub brauchen Sie keinen Tarifvertrag zu schließen. Das steht im Bundesurlaubsgesetz. ({1}) Schauen Sie einmal in das Gesetz. Dort ist das längst geregelt, und zwar für alle Arbeitsverhältnisse. Ich will für unsere Fraktion deutlich hervorheben, dass wir die Tarifautonomie für einen der wichtigsten Bausteine unserer sozialen Marktwirtschaft halten. Das Miteinander von Arbeitgebern und Arbeitnehmern hat unser Land dahin gebracht, wo wir heute stehen. Diese Entwicklung beruhte auf einem Miteinander, auf dem beiderseitigen Verständnis am Verhandlungstisch mit der eben schon von Uwe Schummer angesprochenen Friedenspflicht bzw. dem Konsens, bis der Tarifvertrag abgelaufen ist. Ich denke, dass das die richtige Lösung ist. Das sehen wir auch daran, dass wir mit unserer Sozialpartnerschaft sehr gut durch Wirtschaftskrisen, zum Beispiel in den Jahren 2008/2009, kommen. Dass die tarifvertragliche Bindung derzeit rückläufig ist, bedauern wir sehr. Wir haben da aber – Sie haben die Allgemeinverbindlicherklärung angesprochen – in der letzten Legislaturperiode schon gehandelt. Sie wollen es zwar nicht hören, aber mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz haben wir die von Ihnen gewünschten Vereinfachungen bei der Allgemeinverbindlicherklärung schon vorgenommen, indem wir die 50-Prozent-Grenze gestrichen haben und jetzt nur noch das öffentliche Interesse bei einem gemeinsamen Antrag beider Tarifpartner notwendig ist. An der Stelle muss man Maß und Mitte halten. ({2}) Wenn Sie Zahlen dafür anführen, wie die Tarifbindung gesunken ist, will ich allerdings darauf hinweisen – das ist gerade schon angeklungen –, dass viele Arbeitgeber schon auf die Tarifverträge zurückgreifen, um entsprechende Bestandteile einzelvertraglich aufzunehmen. ({3}) Da muss man mal die Frage stellen: Warum ist es so, dass sie sich auf die einzelnen Tarifverträge beziehen, aber keine Tarifbindung eingehen? Das sollte man vielleicht einmal gesondert ergründen.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Oellers, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen der Linken?

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, das machen wir im Ausschuss. – Herr Riexinger, bei Ihrer Forderung, die Allgemeinverbindlicherklärungen auszuweiten, muss ich Sie beim Wort nehmen. Sie haben gesagt, dass einer den Antrag stellen darf, und um den Antrag ablehnen zu können, muss es eine Mehrheit geben. Das heißt, Sie drehen die Beweislast doppelt um. Ich darf Sie auf Ihren eigenen Antrag verweisen. Darin sprechen Sie davon, dass ein gemeinsamer Antrag gestellt werden soll. Ich weiß nicht, ob das mit Ihrer Fraktion abgestimmt ist. Aber zumindest halten Sie sich mit dem, was Sie hier gesagt haben, nicht an Ihren Antrag. Wenn Sie das aber wirklich behaupten wollen, dann ist das umso mehr abzulehnen. Sie können doch nicht hergehen und bei der Tarifautonomie die Beweislast doppelt umkehren, damit die Mehrheit den Antrag quasi ablehnen muss. Das geht, ehrlich gesagt, absolut zu weit. Zum zweiten Punkt, zum Tariftreuegesetz, nur in Kürze. Seitdem wir das Mindestlohngesetz haben, hat die Bedeutung eines Tariftreuegesetzes sicherlich in gewisser Weise abgenommen. Aber Sie müssen auch berücksichtigen, dass ein Tariftreuegesetz europarechtlich sehr kritisch gesehen wird. Noch 2014 hat der Europäische Gerichtshof erklärt, dass die Tariftreuegesetze nicht wirksam sind. Deswegen werden wir Ihren Antrag im Ausschuss ablehnen. Danke schön. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Pohl von der AfD. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Zuschauer! Werte Abgeordnete! „Tarifbindung stärken“, was fällt den Linken dazu ein? ({0}) Die Vereinfachung der Allgemeinverbindlicherklärung. Das ist doch nur ein Notnagel. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wenn Sie hier mit diesem Antrag antreten, dann sollten wir uns doch einig sein: Tarifbindung stärken heißt Sozialpartnerschaft stärken. ({1}) Aber dazu braucht es Gewerkschaften, die ihren Namen auch wert sind. Frau Krellmann hat in der Kurzintervention gefragt: Was sollen wir machen? Wir haben sinkende Tarifbindung? – Dann müssen wir die Gewerkschaften stärken, Frau Kollegin Krellmann, und dürfen nicht auf einen Notnagel setzen. Wenn wir den Arbeitnehmern wirklich helfen wollen, dann müssen wir zuerst den ideologischen Mief aus den Funktionärszentralen der Gewerkschaften vertreiben und da gründlich durchlüften. ({2}) In diesen Gewerkschaftszentralen geht es doch gar nicht mehr um Arbeitnehmerrechte. Da wird gegendert. Da geht es um Migration. Da geht es gegen die grundlegenden Interessen der Arbeitnehmer. Da werden Arbeiter gegen ihre Kollegen aufgehetzt. Und warum? Weil sie eine andere politische Meinung haben. Da wird die Arbeitnehmerschaft gespalten, aus rein ideologischen und parteipolitischen Interessen. ({3}) Und manche von den Gewerkschaftsfunktionären belohnen sich dann auch noch mit Luxuslustreisen nach Südamerika. ({4}) Um das zu machen, brauchen sie vereinfachte gesetzliche Bestimmungen. Seien wir doch mal ehrlich: Die heutigen Gewerkschaftszentralen sind doch nichts weiter als die Wurmfortsätze der Parteizentralen von SPD und Linken. ({5}) Und die Funktionäre von IG Metall, Verdi und DGB sind nichts weiter als willfährige Handlanger ideologischer Wirrköpfe. Damit muss Schluss sein. Wir brauchen wieder echte Arbeitnehmervertretungen. ({6}) In den Gewerkschaften muss es allein um die Rechte der Arbeitnehmer und um den sozialen Frieden gehen. Alles andere hat dort nichts zu suchen, meine Damen und Herren. „Sozial, ohne rot zu werden“, so heißt das bei ALARM! ({7}) Wir brauchen wieder ein Selbstverständnis wie in der alten Bundesrepublik. Damals haben sich die Gewerkschaften auf ihre Kernaufgaben konzentriert. Sie haben gekämpft und vieles erreicht. Die Gewerkschaften waren aus ihrer Größe und ihrem Selbstverständnis heraus echte Arbeitnehmervertreter. ({8}) Sie waren ein starker Partner in der für unsere Demokratie so wichtigen Sozialpartnerschaft. Sie konnten den Arbeitgebern Paroli bieten. Das zahlte sich aus für den Arbeitnehmer und den Wohlstandszuwachs im Land. Das sicherte den sozialen Frieden, und davon haben auch die Unternehmer profitiert. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, haben Sie sich mal gefragt, wie die Gewerkschaften in diesem Land derartig degenerieren konnten? Schuld daran sind die SPD, CDU, FDP und sogar Die Linke. Sie haben Politik gegen die Interessen der Arbeitnehmer gemacht. ({10}) Der Vertrag zur deutschen Einheit war kaum unterzeichnet, da begann die breitangelegte Deindustrialisierung Ostdeutschlands. Im großen Stil wurden Industrieanlagen abgebaut, Arbeitsplätze vernichtet – und warum? –, weil die westdeutschen Unternehmer keine ostdeutsche Konkurrenz brauchten und vor allem keine Arbeitsplätze für gewerkschaftlich organisierte Mitarbeiter. So wurde aus der ehemaligen DDR ein riesiger Arbeitsmarkt ohne Tarifverträge und weitgehend ohne Arbeitnehmerrechte. Die Gewerkschaften wurden ausgebootet, und das hat die Gewerkschaften im Westen massiv beschädigt; das wissen Sie. Diese Ostpolitik schwächte die Gewerkschaften im Westen massiv. Millionen von Mitgliedern wandten sich ab, und die verbliebenen Mitglieder suchten ihr Heil in fragwürdigen ideologischen Gesellschaftsprojekten bei SPD, Linken und Grünen. Liebe Mitglieder der Gewerkschaften, liebe Mitglieder der Parteien, konzentrieren wir uns gemeinsam auf die wirklich wichtigen Fragen: Wie schützen wir die Arbeitnehmer vor Ausbeutung? Wie gelingt es uns, Alleinerziehende so in den Arbeitsmarkt zu integrieren, dass sie nicht von Armut bedroht sind? Wie sichern wir eine auskömmliche Rente? Ich komme zum Schluss. Die AfD hat zu vielen dieser Fragen Vorschläge unterbreitet. ({11}) Wenn die Gewerkschaften interessiert sind, können sie mit uns darüber sprechen. Die Gewerkschaften müssen ihre Arbeit machen. Dann klappt es auch wieder mit dem Flächentarifvertrag. Danke schön. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Michael Gerdes. ({0})

Michael Gerdes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004039, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Herr Pohl, welches Bild von Gewerkschaften malen Sie hier eigentlich? Wie spalten Sie auch hier die Arbeitnehmer und ihre Vertreter? Schämen Sie sich nicht? Was nehmen Sie sich eigentlich heraus? Ich bin froh, dass es Gewerkschaften und ihre Vertreter gibt. ({0}) Wo wären wir heute ohne sie? Ich bedanke mich jedenfalls bei den Vertretern der Gewerkschaften für ihre Arbeit. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, ich fange heute einmal mit einem Lob in Ihre Richtung an – das andere vergessen wir jetzt sofort wieder –: Ihr Antrag geht vom Grundsatz her in die richtige Richtung; das sage ich deutlich. Es stimmt: Gute Löhne und gute Arbeitsbedingungen gibt es meistens dort, wo Tarifverträge gelten. Und wir haben in unserem Fachbereich Arbeit und Soziales in dieser Legislaturperiode schon einiges auf die Beine gestellt, Stichworte: Rentenpaket, sozialer Arbeitsmarkt, Brückenteilzeit, Qualifizierungschancengesetz. Auch wir von der SPD werden beim Thema Tarifbindung vorankommen, und wir werden es gründlich machen; denn wir sind der Meinung: je höher die Tarifbindung, desto besser. Je öfter die Sozialpartner ihre Arbeitsbedingungen auf Augenhöhe regeln, desto besser ist es. Den Eingriff des Staates wollen wir nur dann, wenn Konflikte nicht gelöst werden oder keine bzw. nur wenig sozialpartnerschaftliche Strukturen vorhanden sind. Man denke beispielsweise an die Pflegebranche. Dort haben wir aufgrund der Trägervielfalt sehr unterschiedliche Organisationsgrade, und zwar auf der Arbeitgeber- wie auf Arbeitnehmerseite. Wir wollen als Gesellschaft aber schnellstens mehr Wertschätzung für die Pflegearbeit erreichen, und das geht nur, indem sich die Arbeitsbedingungen von Pflegekräften zum Positiven verändern. Pflegerinnen und Pfleger bauchen weniger Zeitdruck, höhere Löhne und bessere Hilfestellungen, um ihre schwere Arbeit sowohl körperlich wie auch mental gut erledigen zu können. ({2}) Hier scheint der Eingriff des Gesetzgebers geboten. Meine Kollegin Kerstin Tack wird darauf gleich weiter eingehen. Jetzt kommt bei mir der Werbeblock, leider aber nur der negative. Besondere Sorge bereitet mir beispielsweise die Vorgehensweise des Metro-Konzerns bei den Real-Einzelhandelsmärkten: Man zieht sich aus der Tarifbindung mit der Mehrheitsgewerkschaft zurück, schließt einen neuen Vertrag mit einer kleineren Gewerkschaft, und plötzlich sind die Bruttolöhne von neueingestellten Beschäftigten 24 Prozent niedriger, bei gleichzeitiger Erhöhung der Wochenarbeitszeit. Das führt zu gleicher Arbeit für ungleiche Löhne im selben Betrieb. Solch ein Vorgehen, meine Damen und Herren, darf nicht Schule machen. ({3}) Verantwortliches Unternehmertum und seriöses Wirtschaften gehen anders. Und möglicherweise sind die aktuell geltenden Gesetze bei Betriebsübergängen oder Abspaltungen zu weit gefasst. Das sollten wir prüfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bernd Rützel hat es schon gesagt: Wo Tarifverträge gelten, haben die Beschäftigten bessere Arbeitsbedingungen und höhere Einkommen. Es ist ein dringendes sozialpolitisches Anliegen, die Tarifbindung zu steigern. Der DGB fordert zu Recht, Betriebsratswahlen zu erleichtern. Die Überwachung der Einhaltung von Tarifverträgen ist originäre Aufgabe von Betriebsräten. Studien zeigen, dass die Tarifbindung in Betrieben mit Betriebsrat deutlich höher ist als in betriebsratslosen Unternehmen. Tarifflucht dagegen schwächt das Tarifsystem. Darum müssen wir uns auch mit der Stärkung der Rechte von Betriebs- und Personalräten befassen und die entsprechenden Stellschrauben im Betriebsverfassungsgesetz drehen. ({4}) Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, in welcher Form wir gesetzgeberisch tätig werden sollten. Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. Und ich sage noch einmal: Ich als Gewerkschafter bin froh, dass es Gewerkschaften und ihre Interessenvertretungen gibt. Herzlichen Dank und Glück auf! ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Carl-Julius Cronenberg für die Fraktion der FDP. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einigen Monaten haben wir an das Stinnes-­Legien-Abkommen vom November 1918 erinnert und 100 Jahre Sozialpartnerschaft in Deutschland gefeiert. Ich finde, wir hatten einen guten Grund, zu feiern: so­zialer Frieden, wenig Streiks seit 70 Jahren; Bernd Rützel hat darauf hingewiesen. Dieses Jahr überschreiten wir die Grenze von 45 Millionen Erwerbstätigen – das sind mehr als je zuvor; Wilfried Oellers hat darauf hingewiesen –, es gibt Vollbeschäftigung in vielen Regionen und Branchen. Ohne Zweifel ist die Sozialpartnerschaft eine Erfolgsgeschichte, die in der Tarifautonomie ihre starken Wurzeln hat. ({0}) Laut Koalitionsvertrag wollen Sie die Tarifbindung stärken. Allerdings kommt der Begriff „Tarifautonomie“ gar nicht mehr vor. Die Linke geht in ihrem Antrag darüber hinaus. Ich sage, werte Kollegen: Wer – vielleicht mit hehrer Absicht – die Tarifautonomie schwächt, der legt die Axt an die Wurzeln der Sozialpartnerschaft, der gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit und schmälert die Beschäftigungschancen vieler Menschen. ({1}) Damit das klar ist: In den vergangenen zehn Jahren lag die Zahl der Beschäftigten mit Tarifbindung konstant bei deutlich über 20 Millionen. Sie ist nie gesunken. Ich weiß gar nicht, wann es überhaupt jemals mehr waren. Die Zahl der Beschäftigten ohne Tarifbindung ist dagegen gestiegen. Ja, wir hatten einen Beschäftigungsaufbau um 4 bis 5 Millionen Stellen, und dadurch ist die Quote schlechter geworden; aber die absolute Zahl ist nicht gesunken. Sind deswegen alle neuen Jobs prekär? Nein, sicher nicht. Nehmen wir den Maschinenbau, eine Schlüsselbranche mit über 1,3 Millionen Beschäftigten, mittelständisch geprägt. Der Arbeitgeberverband VDMA bedauert auch, dass nur noch ein Drittel der Unternehmen mit etwa der Hälfte der Beschäftigten tarifgebunden ist, mit sinkender Tendenz. Aber nach Auskunft des Verbands werden 75 Prozent der Beschäftigten nach Tarif oder besser bezahlt. Ich kann das aus meinem Wahlkreis bestätigen. Letztes Jahr habe ich ein mittelständisches Unternehmen besucht. Dort sagte man mir: Nein, wir sind nicht tarifgebunden. Ich fragte: Warum nicht? Der Inhaber sagte: Bei der Einstellung steigen wir etwas unter Tarif ein, dann haben wir schnellere Steigerungen als nach Tarif, und spätestens nach fünf Jahren liegen wir sogar über Tarif. Das ist unser System, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Das motiviert die Mitarbeiter mehr als die Tarifsteigerungen. – Wollen Sie diese Unternehmen in den Tarifvertrag Metall zwingen? Das Recht, einem Tarifvertrag nicht beizutreten, ist im Grundgesetz verankert. Dieses Recht dürfen wir nicht anrühren. ({2}) Genau das fordert aber die Fraktion Die Linke, wenn sie die Hürden für die Allgemeinverbindlicherklärung senken will. Das lehnen wir ab. Anträge auf Allgemeinverbindlicherklärung werden übrigens nur zu einem sehr geringen Teil abgelehnt, 90 Prozent laufen durch, und nur wenige regeln überhaupt Löhne. Meistens geht es um Themen wie Urlaub, Ausbildung oder Altersvorsorge. ({3}) Es besteht politisch also keine Notwendigkeit, hier einzugreifen, und dann lässt man es auch besser bleiben. ({4}) Ja, es geht darum, Tarifbindung attraktiver zu machen – das ist schon richtig –, an New Work, an Digitalisierung anzupassen. Hier rät die FDP zu mehr Öffnungsklauseln. Tarifverträge haben auch die Aufgabe, faire Mindeststandards zu setzen, die kleine und mittlere Unternehmen nicht mehr überfordern. Außerdem sollten wir lernen, Tarifverträge modular zu denken. Meine Damen und Herren, die Regelung von Löhnen und Arbeitsbedingungen ist und bleibt bei den Tarifparteien besser aufgehoben als beim Staat. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Axel Knoerig für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Axel Knoerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004073, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Tarifpartnerschaft in Deutschland – das kann man so formulieren – ist seit 100 Jahren ein Erfolgsmodell. Sie ist ein wichtiger Pfeiler der sozialen Marktwirtschaft geworden. Kooperation statt Klassenkampf, das war schon immer die Antwort der Christlichen Soziallehre auf Kommunismus und Radikalismus. Gerade wir als Union brauchen von den Linken keine Aufforderung, die Tarifautonomie zu verteidigen. Ich will, wie es Kollege Schummer schon getan hat, daran erinnern, dass das erste Betriebsrätegesetz 1920 unter Arbeitsminister Brauns zustande gekommen ist. Brauns war ein katholischer Priester und Mitglied der Zentrumspartei. Die Christlichen Demokraten haben seither die soziale Partnerschaft zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gestaltet. ({0}) Wie wichtig das Miteinander der Tarifpartner ist, das haben wir in der Wirtschaftskrise 2008/2009 erlebt. Hunderttausende Menschen waren vor Massenarbeitslosigkeit abzusichern. Durch das verantwortungsvolle Handeln beider Tarifparteien, durch Kurzarbeit und Weiterbildung, konnten Massenentlassungen verhindert werden. Gerade mittelständische Unternehmen haben die Krise so überbrückt, sodass Hunderttausende Beschäftigte vor der Arbeitslosigkeit geschützt wurden. Meine Damen und Herren, die Tarifpartnerschaft hat sich also für beide Seiten ausgezahlt. Das müssen wir auf die Arbeitswelt von morgen übertragen. Dabei ist das, was Die Linke hier präsentiert hat, nichts Neues. Auf Ihrem Einseiter stehen nur allgemeine Forderungen. Das wird der Komplexität des Themas nicht gerecht. Aufgrund der Digitalisierung stehen enorme Veränderungen in allen Branchen und Berufen bevor. Deswegen lautet die zentrale Frage: Wie schafft man Tarifbindung in der digitalen Arbeitswelt? Welche traditionellen Konzepte können wir übertragen, und welche neuen sind zukünftig gefragt? Wir waren vor wenigen Tagen mit dem Wirtschaftsausschuss auf der Hannover Messe. Dort konnten wir sehen, wie die Digitalisierung schon in wenigen Jahren die Arbeitswelt enorm verändern wird: Autonomes Fahren, Roboter und Elektromobilität werden bald in allen Bereichen zum Berufsalltag gehören. Diese Anforderungen und Anpassungen gerade im Bereich der Weiterbildung können am besten die Sozialpartner organisieren; denn sie kennen die Lage in den Branchen und die Bedürfnisse der Beschäftigten am besten. ({1}) In der digitalen Arbeitswelt gibt es auch neue Modelle der Arbeitsorganisation: Telearbeit, flexible Arbeitszeiten und Crowdworking schaffen völlig neue Arbeitsverhältnisse im Vergleich zu den bekannten Arbeitsstrukturen. Die Geschäfte von Onlineplattformen kennen keinen Betrieb, keine Mitbestimmung, keine Tarifvereinbarung. ({2}) Deswegen ist die Frage: Wie bringen wir das komplexe Arbeitsrecht in die digitalen Unternehmen? Dasselbe gilt auch für das Betriebsverfassungs- und für das Tarifvertragsgesetz. Wie soll die Mitbestimmung beispielsweise in einem virtuellen Betriebsrat funktionieren? Das sind die sozialen Fragen des digitalen Zeitalters. Und man muss ehrlich sagen: Hier stehen wir erst am Anfang. Wir müssen die Arbeitnehmervertretungen von unten in die Digitalwirtschaft bringen. Das ist auch eine Chance für die Gewerkschaften, von ihrer Seite aus die Tarifpartnerschaft zu modernisieren. Für uns als Politik gilt letztlich: Wir müssen Rechtsbereinigungen vornehmen, Regulierungsreformen durchführen und für Entbürokratisierung sorgen. Das waren drei Stichworte, die wir auf der Hannover Messe fortlaufend gehört haben. Das waren die Forderungen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, und wir müssen uns verstärkt bemühen, entsprechende Maßnahmen auf den Weg zu bringen. In den Koalitionsvertrag wurde aufgenommen, den Tarifunternehmen mehr betriebliche Flexibilität in der digitalen Arbeitswelt einzuräumen. So soll den Beschäftigten mehr Selbstbestimmung bei der Arbeitszeit gewährt werden. Wir haben uns dafür ausgesprochen, diese „Experimentierräume“ als Praxistest zu gestalten. Das ist schon in der vorherigen Wahlperiode unter der Ministerin Nahles auf den Weg gebracht worden; Minister Heil führt das fort. Wir werden in den nächsten Wochen hoffentlich die Ergebnisse erhalten. Solche Möglichkeiten zur Erprobung neuer Arbeitsformen brauchen wir in allen Branchen und Berufsfeldern. Wenn wir dann bessere Antworten darauf geben können, dann wird sich die Tarifpartnerschaft auch an die digitalen Herausforderungen anpassen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Tack für die Fraktion der SPD. ({0})

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, sich zu vergewissern, dass sich die Tarifbindung, die Stärkung derselben und die Sozialpartnerschaft in diesem Hause gut aufgehoben und unterstützt sehen. Es ist gut, dass es an der Stelle ein breites Bündnis gibt, das ein klares Bekenntnis zu einem starken sozialpartnerschaftlichen Deutschland abgibt. Das ist richtig. ({0}) Nichtsdestotrotz treibt uns alle die Sorge um, dass wir gerade bei der Tarifbindung eine starke Abnahme zu verzeichnen haben. Die Gründe wurden bereits genannt: OT-Mitgliedschaften, Outsourcing oder beispielsweise eine christliche Gewerkschaft, wie bei Real, die das C im Namen nicht verdient. Wir müssen hier politisch gegensteuern. Es geht nicht nur um die Erleichterung von Allgemeinverbindlicherklärungen, um ein Bundestariftreuegesetz oder um ein Verbandsklagerecht – das hat heute noch keine Rolle gespielt –, sondern vor allem darum, dass wir unsere Erwartungshaltungen an die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in Deutschland formulieren, dass wir deutlich machen, dass wir die Sozialpartnerschaft für richtig und notwendig erachten und dass eine Gemeinschaft in der Krise nur durch eine gemeinschaftliche starke Sozialpartnerschaft getragen werden kann. ({1}) Die Krise von 2008/2009 wurde bereits angesprochen. Wir haben damals gemerkt: Ja, das können wir mit unserer starken Sozialpartnerschaft überwinden. Aber dazu gehört, Teil dieser Gemeinschaft zu sein, zu bleiben und sie nicht zu verlassen und im Krisenfall darauf zu hoffen, dass andere in Gemeinschaft Verantwortung übernehmen. ({2}) Wir werden uns in Bezug auf einen Tarifvertrag und die Festschreibung der Allgemeinverbindlichkeit in den nächsten Wochen und Monaten einem Bereich widmen, der für ganz Deutschland besonders wichtig ist, und zwar dem großen Bereich der Pflege. Die Pflege in Deutschland, die aufgrund der Arbeitsbedingungen, weder bei der Entlohnung noch in Bezug auf die Rahmenbedingungen oder die Anzahl der Stellen, die zur Verfügung stehen, von allen als nicht auskömmlich definiert wird, hat eine ganz zentrale Schwäche, und das ist die nicht vorhandene Tarifbindung. Deshalb ist es gut und richtig, dass die Koalition gesagt hat: An dieser Stelle werden wir eine Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags definieren. – Wir freuen uns, dass wir in dieser notwendigen Geschichte weiterkommen und die gemeinnützigen Träger der Pflegeeinrichtungen in den nächsten Tagen einen Arbeitgeberverband gründen werden. Das ist gut und richtig. Es ist ein wichtiger erster Schritt, damit wir hier weiterkommen – hin zu einem Tarifvertrag, den wir für ganz Deutschland gültig erklären können, mit guten Löhnen, einer guten Refinanzierung und guten Rahmenbedingungen. ({3}) Allerdings möchte ich die Gelegenheit auch nutzen, um anzusprechen, was aber die Schwierigkeit für die Allgemeinverbindlichkeit in der Pflege ist. Das sind die privaten Anbieter von Pflegeeinrichtungen, die sich bis heute nicht in hinreichender Art und Weise genauso auf den Weg machen, einen Tarifvertrag mitzuzeichnen, den wir dann für allgemeinverbindlich erklären können. Weil wir heute hier von den Kollegen der FDP gehört haben, dass sie das für richtig halten, möchte ich insbesondere an Sie appellieren; denn der Ihnen gut vertraute Herr Brüderle, der Präsident des Arbeitgeberverbandes der privaten Pflegeeinrichtungen ist, befindet sich nach wie vor in großer Blockade, uns auf diesem Weg zu unterstützen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Tack, achten Sie bitte auf die Zeit.

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin zum Schluss gekommen. – Daher möchte ich darum bitten, dass wir gemeinsam an dieser Stelle noch einmal einen deutlichen Appell setzen: Wir wollen einen guten Tarifvertrag Pflege, wir wollen, dass wir uns darin nicht nur einig sind, sondern dass wir ihn für allgemeinverbindlich erklären können, und wir wollen, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Setzen Sie jetzt bitte einen Punkt.

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– dass es keine Blockadehaltung, auch nicht der Privaten, in dieser Frage gibt. Das Thema ist zu wichtig. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Stephan Stracke das Wort. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Grüß Gott! Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Sozialpartnerschaft ist im letzten Jahr 100 Jahre alt geworden. Es gehört heute in Deutschland zum Selbstverständnis, dass die Arbeitsbedingungen von den Tarifvertragsparteien autonom ausgehandelt und in Tarifverträgen geregelt werden. Diese Unabhängigkeit vom staatlichen Einfluss und das verantwortungsvolle Zusammenwirken der Tarifpartner sind ein starkes Fundament, ein Fundament, auf dem auch unser wirtschaftlicher Erfolg sowie Wohlstand und sozialer Frieden in diesem Land beruhen. Daran halten wir fest. Nur eine funktionsfähige Tarifautonomie sichert Lohngerechtigkeit und hat Schutz-, Befriedungs- und Ordnungsfunktion. Es ist und bleibt vorrangig Aufgabe der Tarifpartner, gute Arbeitsbedingungen und angemessene Löhne zu verhandeln – Löhne, die zum Leben reichen und im Alter eine auskömmliche Rente sichern. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, richtig ist, dass die unmittelbare Bindung an Tarifverträge rückläufig ist. Der Anteil der Betriebe ohne Tarifbindung hat zugenommen. Aber auch die Zahl der Betriebe, die sich an tariflichen Vereinbarungen orientieren, ist im gleichen Maße gestiegen. Das zeigt: Die Branchen- und Flächentarife haben immer noch eine signifikant hohe Breitenwirkung. Das ist gut so; denn Tarifverträge – darauf wurde in dieser Debatte bereits hingewiesen – haben auch große und wichtige Effekte für die Beschäftigten. So ist beispielsweise der Anteil der hochqualifizierten Fachkräfte in Betrieben mit Tarifbindung signifikant höher. Dies gilt ebenso für die Personalfluktuation. Das hat oftmals damit zu tun, dass die Betriebe, die tarifgebunden sind, auch größer sind. Aber auch im Ausbildungsbereich zeigen sich Unterschiede. In tarifgebundenen Unternehmen sind die Zahl derjenigen, die sich ausbilden lassen, und der Anteil der Unternehmen, die Ausbildungsplätze bereitstellen, deutlich größer. Das zeigt, wie wichtig Tarifbindung ist. Dies gilt auch im Bereich der Pflege. Jetzt gehen wir ja daran, die Pflegekommission neu aufzustellen. Das ist ein erster wichtiger Schritt in diesem Bereich. Wir werden dann dafür sorgen, dass wir auch den Kirchen die Möglichkeit eröffnen, bei den tarifvertraglichen Regelungen zusammenzuwirken – mit der Idee, eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung im Bereich der Pflege hinzubekommen. Gute Arbeitsbedingungen für die Pflege sind wichtig, damit wir auch in Würde altern können. Das ist etwas für die Gesellschaft Maßgebliches. Deswegen werden wir dies in diesem Bereich auch tun. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben in der Vergangenheit die Tarifautonomie gestärkt. Im Tarifautonomiestärkungsgesetz haben wir vor allen Dingen mit der Reform der Allgemeinverbindlichkeitserklärung dafür gesorgt, dass das sogenannte 50-Prozent-Quorum nicht mehr notwendig ist. Ab jetzt genügt das sogenannte öffentliche Interesse. Das ist eine wirkliche Vereinfachung, was die Allgemeinverbindlichkeitserklärung angeht. Mehr Handlungsbedarf in diesem Bereich sehe ich nicht. Die Allgemeinverbindlichkeit ist ein scharfes Schwert und muss deshalb auch Ausnahmecharakter haben. Es gibt gute Gründe dafür, dass der Tarifausschuss ein Kontrollorgan ist. Es geht darum, zwischen den Interessen der Arbeitgeber, der Antragsteller und Betroffenen, aber auch der Wirtschaft abzuwägen und eine Balance zwischen der positiven und negativen Koalitionsfreiheit – Freiheit der Ordnung – zu finden, wie wir es in diesem Bereich beschreiben. Deswegen ist es auch richtig, dass innerhalb des Tarifausschusses die Mehrheit entscheiden muss. Eine Abschaffung des Vetorechts der Arbeitgeber im Tarifausschuss lehnen wir ab. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben auch im Arbeitnehmer-Entsendegesetz dafür gesorgt, dass alle Branchen erfasst werden. Wir haben uns in der Vergangenheit für tariflich vereinbarte Branchenmindestlöhne eingesetzt. 4 Millionen Menschen profitieren davon. Das zeigt sich auch in der Lohnhöhe. Diesen erfolgreichen Weg der Branchenmindestlöhne wollen wir entsprechend weitergehen. Die staatliche Einmischung muss die Ausnahme bleiben, gerade bei der Willensbildung der Sozialpartner. Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit, sowohl der positiven als auch der negativen, ist für uns nicht verhandelbar. Deswegen ist und bleibt es eine freie Entscheidung der Arbeitnehmer, aber auch der Arbeitgeber, einer tarifschließenden Gewerkschaft oder einem tarifschließenden Arbeitgeberverband beizutreten oder ihm fernzubleiben. Es ist und bleibt vor allem originäre Aufgabe der Tarifvertragsparteien, ihre Attraktivität und Funktionsfähigkeit in diesem Bereich zu erhöhen. Ziel muss es sein, dass in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung gerade die Tarifvertragspartner für wettbewerbsfähige flexible Tarifverträge sorgen. Das ist eine zentrale Fragestellung, die in diesem Bereich bearbeitet werden muss. Darauf gibt der Antrag der Linken keine Antwort. Deswegen lehnen wir ihn ab. Herzliches Dankeschön. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8963 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! In dem Filmklassiker „Einer flog über das Kuckucksnest“ kann man nicht nur einen sensationellen Jack Nicholson sehen, sondern auch die schlimmen Zustände in einer psychiatrischen Einrichtung in den USA, von denen wir in Deutschland zum Glück meilenweit entfernt sind. Aber vor allem zeigt dieser Film, wie wichtig es ist, dass für die Patienten klare rechtsstaatliche Regelungen vorhanden sind, dass Grundrechtseingriffe gerechtfertigt sein müssen und nur mit einem klaren Verfahren möglich sind. Genau diese klaren Regeln schaffen wir mit diesem Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen. Anlass war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur unzureichenden Rechtslage in Bayern und in Baden-Württemberg. Das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass Fixierungen einen erheblichen Grundrechtseingriff darstellen und dass deshalb eine länger andauernde Fixierung nur nach Genehmigung durch ein Gericht zulässig ist. Mit dem Gesetz, dessen Entwurf heute vorliegt, regeln wir genau das: Ist eine Fixierung länger andauernd – wir gehen von etwa einer halben Stunde aus –, muss sofort eine richterliche Genehmigung eingeholt werden. Sie sehen: Damit sichern wir die Grundrechte der Patienten und schaffen für alle Beteiligten Rechtssicherheit. Laut Polizeilicher Kriminalstatistik, die wir diese Woche vorgestellt bekommen haben, sind viele erfreuliche Entwicklungen, etwa der deutliche Rückgang der Wohnungseinbrüche, zu verzeichnen. Aber leider müssen wir feststellen, dass es zunehmend Attacken gegen Polizeibeamte und auch Rettungskräfte gibt. Dabei dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, dass es auch in den Justizvollzugsanstalten oder in Krankenhäusern, etwa in psychiatrischen Krankenhäusern, Übergriffe und Attacken gegen Pflegerinnen und Pfleger gibt. Gerade diese Pflegerinnen und Pfleger machen, wie ich finde, einen wirklich sehr, sehr harten Job. Sie haben es mit einer nicht immer einfachen Klientel zu tun. Oft steht auch die Bezahlung nicht im Verhältnis zu den beruflichen Belastungen. Das Gleiche gilt für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Strafvollzug. Deshalb an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an all diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die tagtäglich ihre wichtige Arbeit in den Gefängnissen und in den Krankenhäusern tun. Das Mindeste – deswegen erzähle ich das –, was wir für dieses Personal, für diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tun können, ist, sie durch klare Regelungen bei der Fixierung vor den Attacken von Gefangenen oder Patienten zu schützen. Genau diese klaren Rechtsgrundlagen – auch zum Schutz der Mitarbeiter – schaffen wir mit diesem Gesetz. ({0}) Nun ist es grundsätzlich Aufgabe der Länder, Regelungen zur Zulässigkeit von Fixierungen zu treffen; aber gerade in diesem sensiblen Bereich der Freiheitseingriffe macht es Sinn, dass wir bundeseinheitliche Standards schaffen und bundeseinheitliche Regelungen haben. Wir brauchen für die betroffenen Personen zum Selbstschutz, aber auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und auch für alle, die in der Justiz mit diesen Fragen befasst sind, für die Richterinnen und Richter, klare Rechtsgrundlagen. Bei diesen sensiblen Grundrechtsfragen darf es in Deutschland keinen Flickenteppich geben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deshalb ist die wichtigste Neuregelung, dass wir bundeseinheitlich regeln, dass Personen zum Schutz des Pflegepersonals oder aber auch zum Selbstschutz fixiert werden können, auch über einen nicht nur kurzen Zeitraum hinaus. Bei länger andauernden Fixierungen – wir gehen, wie gesagt, in der Gesetzesbegründung von 30 Minuten aus – muss ein Richter über die Rechtmäßigkeit der Fixierung entscheiden. Und nur zur Klarstellung: Die richterliche Genehmigung muss nicht vor der Fixierung vorliegen; sie kann nachgeholt werden, muss aber so schnell wie möglich nachgeholt werden, unverzüglich. Für die Justiz regeln wir klare Verfahrenswege: Sachlich und örtlich zuständig werden die Amtsgerichte sein. Das hat sich bewährt. Dort gibt es gute Erfahrungen mit Bereitschaftsdiensten. Deswegen sind auch diese Regelungen sinnvoll. Wir brauchen in diesem sensiblen Bereich für die Rechtsanwender und für die Gerichte ganz klare, präzise rechtliche Regelungen, und die schaffen wir mit diesem Gesetz. Bedanken darf ich mich an dieser Stelle beim Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz. Frau Ministerin Barley, herzlichen Dank für die Erstellung dieses Gesetzentwurfes! Lassen Sie uns gemeinsam diesen wichtigen Gesetzentwurf gründlich, aber zügig beraten. Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich eine Frist zum 30. Juni 2019 gesetzt. Diese Frist sollten wir unbedingt einhalten, wenn wir nicht erhebliche Rechtsunsicherheit in den Justizvollzugsanstalten und in den Krankenhäusern schaffen wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Lassen Sie uns mit diesem Gesetz eine klare Rechtslage für die Fixierungen schaffen. Sichern wir die Grundrechte der Betroffenen einerseits, schaffen wir mehr Schutz für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und vor allem: Schaffen wir für die Richterinnen und Richter sowie die Justizbediensteten ganz klare Regeln im Sinne der Rechtssicherheit. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Thomas Seitz für die AfD-Fraktion. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorgelegte Gesetzentwurf ist inhaltlich im Wesentlichen nicht zu kritisieren. Die Regierungsfraktionen ziehen unvermeidliche Konsequenzen aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli 2018 zu zwei Verfassungsbeschwerden wegen Fixierungen im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung nach Landesrecht. Das Anliegen der Regierungsfraktionen, einheitliche materielle Regelungen im Rahmen der Zuständigkeit des Bundes und ein einheitliches Verfahrensrecht auch für die der Gesetzgebungskompetenz der Länder unterliegenden Unterbringungsgesetze zu schaffen, ist zu begrüßen. Kritik ist aber an der Bezeichnung dieses Gesetzentwurfs angebracht, die typisch für den herrschenden Zeitgeist ist. Sie reden hochtrabend von einem „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Betroffenen bei Fixierungen im Rahmen von Freiheitsentziehungen“ und erwecken damit den Eindruck, dass die Rechtsposition der Menschen in einem – wie es früher hieß – „besonderen Gewaltverhältnis“ verbessert werde. Damit erwecken Sie bei den Betroffenen und ihren Angehörigen Hoffnungen, die nicht zu halten sind. Dieses Gesetz bezweckt in Wirklichkeit eben keine substanzielle Verbesserung der Situation von Menschen in einer geschlossenen Einrichtung. Es geht vielmehr darum, eine verfassungswidrige Rechtslage, aufgrund derer dem bereits seiner Fortbewegungsfreiheit beraubten Menschen auch noch seine verbleibende Bewegungsfreiheit buchstäblich genommen wird, durch eine Rechtslage zu ersetzen, die zwar verfassungsgemäß ist, aber genau den gleichen allerschwersten Eingriff in das Freiheitsrecht des Betroffenen erlauben soll. Dem psychisch Kranken, der unter seiner Fixierung leidet und diese nicht akzeptieren kann, ist es herzlich egal, ob die Fixierung von einem Arzt oder einem Richter oder beiden gemeinsam angeordnet wird. Ihm ist auch egal, ob die Fixierung von Herrn Professor Voßkuhle persönlich oder nur von der Putzfrau angeordnet wird. Die Betroffenen interessiert nur eines, nämlich das Ergebnis: also ob sie fixiert werden oder ob nicht. Und das wäre etwas, worüber wir hier dringend auch diskutieren müssten. Welche Alternativen gibt es, zum Beispiel durch bauliche Maßnahmen? Welche Risiken akzeptieren wir für mehr Freiheit im Falle der Eigengefährdung? Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die geplante Regelung für den Strafvollzug. Bei Gefahr im Verzug soll die Fixierung vom Anstaltsleiter oder einem anderen Vollzugsmitarbeiter angeordnet werden können und der Arzt sodann unverzüglich herbeigerufen werden. Das hört sich nach einer sinnvollen Ausnahmeregelung an. Wenn man aber bedenkt, dass eine Fixierung überhaupt nur bei einer akuten Eigen- oder Fremdgefährdung in Betracht kommt, liegt hier doch eigentlich immer Gefahr im Verzug vor. In der Praxis könnte daher in der JVA die Ausnahmeregelung zum Regelfall werden. Ob sich dies verfassungsrechtlich halten lässt, erscheint mir fraglich. Der dritte Punkt meiner Kritik betrifft den Erfüllungsaufwand für die Länder. Diesen beschreiben Sie sehr lässig als einen „nicht näher bezifferbaren Aufwand“, dem aber „mittel- bis langfristig Einsparungen“ gegenüberstünden. Das ist mehr als gewagt. Die Redezeit erlaubt nicht, hier konkret auszuführen. Es ist mit einem erheblichen Arbeitsanfall bei den Amtsgerichten zu rechnen. Auch die Ausweitung der richterlichen Bereitschaftsdienste wird zu erheblichen Belastungen führen. Es bleibt auch abzuwarten, ob sich die Praxis nicht so helfen wird, dass eine Antragstellung umgangen werden kann. Ich hoffe auf eine konstruktive Diskussion im Ausschuss. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Volker Ullrich das Wort. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei dem heute vorliegenden Gesetzentwurf der Koalition zur Stärkung der Rechte von Betroffenen bei Fixierungen im Rahmen von Freiheitsentziehungen geht es um die sehr sensible Frage, wie wir mit Menschen umgehen, denen bereits die Freiheit entzogen worden ist und die im Rahmen dieses Freiheitsentzugs durch eine Fixierung eine verschärfte Form der Freiheitsentziehung erdulden müssen. Die sogenannten 5-Punkt- und 7-Punkt-Fixierungen sind nicht irgendwelche technischen Begriffe, sondern sie stellen einen der gravierendsten und einschneidendsten Eingriffe in die persönliche Freiheit dar, die sich der Rechtsstaat überhaupt leisten muss. Bei der 5-Punkt- und der 7-Punkt-Fixierung wird man an Händen, an den Beinen, am Hals und gegebenenfalls, bei der 7-Punkt-Fixierung, noch an der Stirn und am Kopf fixiert. Gerade weil das eine ganz elementare, einschneidende Erfahrung für die Betroffenen darstellt, reicht die richterliche Anordnung dieser Maßnahme zum Entzug der Freiheit nicht aus, es reicht auch keine ärztliche Anordnung aus, sondern in unserem Rechtsstaat muss vor dem Hintergrund der Eingriffsintensität auch eine präventive Rechtsschutzkontrolle erfolgen. Gegebenenfalls muss jede dieser Fixierungen auch richterlich überprüfbar sein. Da geht es um die Verwirklichung von Grundrechten und damit auch um die Stärkung des Rechts und die Würde des Einzelnen. Deswegen werden wir mit diesem Gesetz sehr sorgsam umgehen und im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens die unterschiedlichen Aspekte einfließen lassen. Es geht zunächst einmal um die Frage: Wer ist überhaupt zuständig? Auch hier haben wir eine Situation, bei der wir eine eher unübersichtliche Gemengelage haben. Für die Zivilhaft ist der Bund zuständig. Für den Straf- und Maßregelvollzug sind es die Länder, und für die Unterbringung existiert sogar eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder. Dennoch ist es wichtig, dass überall in Deutschland vor dem Hintergrund der großen Eingriffstiefe der gleiche Rechtsschutz existiert. Das sind wir den Betroffenen schuldig. Deswegen hat die 89. Justizministerkonferenz den Bund gebeten, eine einheitliche Regelung zu schaffen. Es geht also nicht darum, den Föderalismus auszuhebeln, sondern darum, deutschlandweit die Rechte der Betroffenen auf das gleiche Niveau zu heben. Ich glaube, das sind wir auch denjenigen, die dieser Freiheitsentziehung unterworfen sind, schuldig. Deswegen werden mit diesem Gesetz – sowohl durch eine Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen als auch durch eine Änderung des Strafvollzugsgesetzes als auch durch eine Änderung der Strafprozessordnung – die Voraussetzungen für eine richterliche Anordnung geschaffen. Diese Voraussetzungen sind zu Recht streng. Wenn eine Freiheitsentziehung durch Fixierung länger als eine halbe Stunde dauert, dann muss das richterlich angeordnet sein. Die Länder sind auch aufgerufen, einen einheitlichen Bereitschaftsdienst von 6 bis 21 Uhr vorzuhalten, damit diese richterliche Anordnung auch getroffen werden kann. Und ja, wir wollen nicht, dass eine Auseinanderdividierung von Zuständigkeiten erfolgt, sondern wichtig ist, dass einheitlich die Amtsgerichte vor Ort bei demjenigen, der betroffen ist, auch die Zuständigkeit nachweisen können. Vor diesem Hintergrund brauchen wir auch eine klare Haltung der Länder, dass sie diesen Bereitschaftsdienst auch stellen und dass jederzeit der Rechtsschutz gewährleistet werden kann. Wir müssen auch über die Frage sprechen, wie es gerade in sogenannten geschlossenen Einrichtungen der Psychiatrie aussieht. Ich glaube, dass auch hier die Fixierung nur die Ultima Ratio sein darf. Wir müssen alles dafür tun, dass durch eine Sicherstellung im personellen und therapeutischen Bereich Fixierungen vermieden werden können, ({0}) weil Fixierungen sich immer dann verbieten, wenn sie aus Hilflosigkeit oder, was noch schlimmer ist, aus Personalmangel heraus vorgenommen werden. Nein, die Menschen, die in einer Einrichtung untergebracht sind, verlieren ihre Würde nicht. Es ist schlimm genug, dass wir ihnen ihre Freiheit entziehen mussten; aber sie haben einen Anspruch darauf, dass sie menschenwürdig behandelt werden. Die Frage, wie wir in diesen Einrichtungen mit Fixierungen umgehen, ist vielleicht kein Thema für die große Öffentlichkeit; aber sie wird in Betroffenenkreisen sehr stark diskutiert. Vor dem Hintergrund, dass die Betroffenen auch Rechte haben, die wir respektieren müssen, müssen wir diesem Thema in den Anhörungen breiten Raum geben, damit wir insgesamt einen Gesetzentwurf haben, der Freiheit und Würde respektiert. Lassen Sie uns uns da auf den Weg machen. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Katharina Willkomm das Wort. ({0})

Katharina Kloke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004783, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Freiheit des Einzelnen ist ein Grundrecht, ein ganz besonders wertvolles Rechtsgut. In unserer Verfassung steht die Freiheit des Einzelnen deshalb fast an erster Stelle. Jeder staatliche Eingriff muss besonders gerechtfertigt werden. Der Staat muss besondere Mechanismen zum Schutz einbauen, bevor er in diese Freiheit eingreifen darf. Dies gilt umso mehr für Menschen, die sich in geschlossenen Einrichtungen befinden und deshalb besonders schutzbedürftig sind. Damit sind wir bei dem Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen. Eine Fixierung im Rahmen von Freiheitsentziehung bedeutet einen noch massiveren Grundrechtseingriff als der bloße Freiheitsentzug alleine. Deshalb muss sie als Maßnahme das denkbar letzte Mittel, die Ultima Ratio sein. Das Verfassungsgericht hat im letzten Juli entschieden, dass das Gesetz die Grundrechte Betroffener nicht ausreichend schützt. Erforderlich sind unter anderem ein gesonderter Richtervorbehalt in einem förmlichen Gesetz, eine Eins-zu-eins-Betreuung durch besonderes Personal, und der Betroffene muss wissen, dass er die Fixierung nachträglich durch einen Richter überprüfen lassen kann. Es ist zu begrüßen, dass die Regierungsfraktionen dem Auftrag aus Karlsruhe heute nachkommen wollen. Es ist gut, sich dabei eng am Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu orientieren. Es ist gut, wenn die gerichtliche Zuständigkeit und das gerichtliche Verfahren mit diesem Entwurf bundeseinheitlich geregelt werden; denn das schafft Rechtssicherheit. ({0}) Nicht gut ist aber, dass Karlsruhe die Große Koalition auch im vorliegenden Fall erst über das angemessene Maß zur Sicherung der Grundrechte belehren muss. Auch am Inhalt des Entwurfs müssen wir noch arbeiten. So hat der Deutsche Richterbund verfassungsrechtliche Bedenken. Die besondere Schwere des Eingriffs durch Fixierung und die damit verbundenen Gesundheitsgefahren seien nicht ausreichend berücksichtigt. Er kritisiert beispielsweise, dass zur Sachaufklärung im Hauptsacheverfahren künftig ein ärztliches Zeugnis ausreichen soll und nicht mehr ein Gutachten. ({1}) Er fordert, dass auch die Qualifikationen für den behördlicherseits beteiligten und den gerichtlich bestellten Arzt durch den Gesetzgeber festzulegen sind. Er weist darauf hin, dass Karlsruhe für die Fixierung selbst die Überwachung durch den Arzt für unabdingbar erklärt hat. Das sind nur wenige Beispiele. Wir haben in den anstehenden Beratungen noch einiges zu tun. Gehen wir es an! ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun Sylvia Gabelmann das Wort. ({0})

Sylvia Gabelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004723, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Besucherinnen und Besucher! Immer wieder muss der Gesetzgeber erst durch Gerichtsurteile dazu gezwungen werden, bei Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie eine Rechtssituation herzustellen, die mit den Grundrechten der Betroffenen vereinbar ist. Das sollte jeder und jedem in diesem Haus sehr zu denken geben. ({0}) Heute legen Sie, wie schon 2013 und 2017, einen Gesetzentwurf vor, der die gerichtlichen Mindestanforderungen erfüllt, aber an der Behandlungssituation der Betroffenen kaum etwas ändern wird. Ich denke aber, ein Weiter-so darf es beim Thema „Zwang in der Psychiatrie“ nicht geben. ({1}) Schauen Sie sich die erschütternden Zustände an, die unter anderem in der jüngsten Reportage des Teams ­Wallraff dokumentiert werden. Schauen Sie sich die riesigen Unterschiede an, wie häufig Zwangsmaßnahmen in den unterschiedlichen Regionen und Einrichtungen stattfinden. Es gibt Kliniken, die die Rate der Gewaltanwendung auf unter 1 Prozent gesenkt haben, während sie in anderen Einrichtungen an die 20 Prozent beträgt. Ob jemand fixiert wird, hängt demnach mehr davon ab, wo und von wem er behandelt wird, als davon, welche Erkrankungen er hat, und das darf nicht so bleiben. ({2}) Sie tun so, als seien Zwangsfixierungen unumgänglich. Dabei ist die Fixierung an das Bett, die hierzulande oft stunden-, ja sogar tagelang dauert, in Großbritannien ganz verboten, und Sie wollen jetzt einfach eine Unterschrift mehr zur Genehmigung vorschreiben und verkaufen das als Stärkung der Betroffenenrechte. Ich finde das skandalös. ({3}) Für Die Linke sage ich Ihnen ganz klar: Zwangsfixierungen sind für uns, wenn überhaupt, nur das allerletzte Mittel im Notfall. Um wirklich etwas für die Betroffenen zu verbessern, sorgen Sie doch für eine angemessene Personalausstattung in den Einrichtungen. Machen Sie sich für Krisenräume stark. Setzen Sie in Krisensituationen auf das Festhalten durch Pflegekräfte statt auf das Festschnallen. Stärken Sie Behandlungsvereinbarungen und Patientenverfügungen, und schreiben Sie endlich präventive Deeskalationskonzepte vor. ({4}) Wir sind überzeugt: Alleine dadurch könnten sehr viele Zwangsbehandlungen überflüssig werden. Und: Nehmen Sie den Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zu Folter ernst, der schon 2013 auf Basis der UN-Behindertenrechtskonvention ein Verbot von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie gefordert hat. Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, ob eine gänzlich gewaltfreie Psychiatrie möglich ist, aber wir müssen doch alles Menschenmögliche tun, um diesem Ziel so nah wie möglich zu kommen. ({5}) Dazu leistet der vorliegende Gesetzentwurf genauso wenig wie die letzten Gesetze. Deswegen werden Sie unsere Zustimmung dazu nicht erhalten. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Bayram das Wort. ({0})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die meisten Vorredner haben schon sehr nüchtern festgestellt, dass es sich hier um eine Problemlage handelt, die sich, glaube ich, keiner vorstellen kann und will. Es gibt nämlich Situationen, in denen Zwang angewendet werden muss, und Situationen, in denen Menschen, die schon in ihrer Freiheit eingeschränkt sind, noch weiter in ihrer Freiheit – bis hin zur Bewegungslosigkeit – eingeschränkt werden. Schon die Vorstellung ist für uns alle grauenhaft, glaube ist. Darüber müssen wir uns überhaupt nicht austauschen. Allein, die Frage ist: Wo sind die Grenzen, und wie definieren wir als Gesetzgeber die Grenzen, in denen das legal gemacht werden darf? Wenn wir uns das Gesetz anschauen, stellen wir fest, dass schon die Überschrift eine Täuschung ist. Es ist wirklich nicht in Ordnung, das Gesetz „Stärkung der Rechte“ zu nennen, auch wenn es aktuell in dieser Koalition immer wieder Gesetze gibt, die zwar eine positiv klingende Überschrift haben, deren Inhalt aber Freiheitsrechte einschränkt. Ich glaube, es wäre ein erster Schritt, das Gesetz nach dem Inhalt zu nennen, nämlich „weitere Einschränkung von Freiheitsrechten“ statt „Stärkung der Rechte der Betroffenen von Fixierungen“. ({0}) Herr Kollege, Sie sagen, Sie wollen das möglichst schnell durchs parlamentarische Verfahren bringen. Ich hoffe, Sie haben verstanden, dass die meisten Kollegen das lieber gründlich beraten wollen. So habe ich jedenfalls auch den Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion verstanden. In der Tat hat auch meine Vorrednerin gesagt: Der Lebenssachverhalt, für den wir Regelungen treffen müssen, ist so ernst und so wichtig, dass wir es uns wirklich schwer machen sollten, zu Regelungen zu kommen. Wir dürfen die Abwägung zwischen der Freiheit und dem Eingriff bzw. der Einschränkung von Freiheit nicht leichtfertig vornehmen, sondern müssen sehr gewissenhaft prüfen. ({1}) Dann kommt man nicht vorbei an der Kritik, die der Richterbund hat. Wir werden in einer Anhörung – ich hoffe, dass wir das gemeinsam leisten – die verschiedenen Perspektiven beleuchten. Der Richterbund hat, finde ich, in einer sehr ausführlichen Stellungnahme – ich will hier noch mal betonen, dass diese Stellungnahme schon aus dem August letzten Jahres ist; umso peinlicher ist, dass sich davon kaum etwas in dem Gesetz wiederfindet – vieles kritisiert. Auch die Verbände und selbst die Länder, die in der Umsetzung eine sehr wichtige Rolle übernehmen müssen, haben es kritisiert. All diese Beteiligten sollten wir hören, bevor wir so weitgehend in Rechte von Betroffenen eingreifen, die sich größtenteils nicht wehren können. Danke schön. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Patrick Sensburg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren über die Fixierung im Straf- und Maßregelvollzug, in der Zivilhaft, im Vollzug der Untersuchungshaft und bei der einstweiligen Unterbringung. Es handelt sich um eine Freiheitsentziehung in der Freiheitsentziehung; das ist gerade schon gesagt worden. Es geht um Personen, die sich bereits aufgrund eines Urteils in Haft befinden und dann erneut einer weiteren Freiheitsentziehung unterliegen. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht völlig zu Recht gesagt: Die erste Entscheidung reicht nicht aus für den zweiten Eingriff in Grundrechte – hier in Artikel 104 Absatz 2 des Grundgesetzes. Es handelt sich um einen ganz erheblichen, schweren Eingriff in die Grundrechte von Menschen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns einmal nur ganz kurz vorstellen, jeder Einzelne von uns wäre fixiert an Armen, Beinen, am Brustkorb, am Kopf für 30 Minuten – das ist die Zeit, die das Bundesverfassungsgericht als erheblich erachtet; das ist ungefähr so lange wie die Debattenzeit zu diesem Tagesordnungspunkt –, dann können wir, glaube ich, ermessen, wie schwer dieser Eingriff ist – man hat nicht die Möglichkeit, sich zu kratzen, nicht die Möglichkeit, wenn sich ein Muskel verkrampft, zu entspannen, sich zu bewegen – und wie schwer es ist, so ausgeliefert, in einer solch hilflosen Lage mehr als eine halbe Stunde zu sein. Ich glaube, daran erkennt man, wie wichtig es ist, dass wir hier darüber debattieren und wie richtig die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist. ({0}) Bei einer Fixierung über mehrere Tage oder gar Wochen – bei dem, worüber beim Bundesverfassungsgericht entschieden worden ist, handelt es sich um fünf Tage Fixierung am Stück; das halte ich übrigens für sehr fragwürdig – ist es, glaube ich, richtig, sich ausreichend Zeit zu nehmen und sich anzuschauen, was man machen kann. ({1}) Dazu, wie viele Fixierungen es in Deutschland gibt, haben wir gar keine konkreten und genauen Zahlen. Das ist aus meiner Sicht auch schon ein Problem. Bei psychiatrischen Kliniken – das kann man hochrechnen auf ganz Deutschland – reden wir von circa 75 000 Fällen pro Jahr; das ist geschätzt und hochgerechnet. In Baden-Württemberg haben wir eine Erfassung. Wenn man die Daten auf das gesamte Bundesgebiet hochrechnet, dann reden wir wahrscheinlich von 200 000 Maßnahmen in ganz Deutschland; das aber auch nur geschätzt und hochgerechnet. Wichtig wäre mir daher, über das Gesetz hinaus, dass wir nicht nur von einer Dokumentation reden, wie sie das Bundesverfassungsgericht gefordert hat, sondern auch eine einheitliche Erfassung anstreben, die eine Statistik ermöglicht: Wie viele Fälle welcher Art haben wir überhaupt in Deutschland? Neben den Personen, die einer Fixierung unterliegen, gilt es, auch die Personen in den Blick zu nehmen, die tagtäglich in den Anstalten arbeiten müssen. Denn auch das muss man sich vorstellen: Da sind Personen, die außer Rand und Band geraten, aggressiv werden, gewalttätig werden – sowohl autoaggressiv als auch aggressiv gegen andere Personen. Ich glaube, man kann sich auch diese Situation vorstellen. Es gibt drei Möglichkeiten, wie im weitesten Sinne agiert werden kann: Das ist die Isolierung, das ist die Medikamentierung, und das ist die Fixierung. Es sind unterschiedliche Wege, aber es gibt keinen Königsweg. Gerade ist Großbritannien angesprochen worden. Ja, Großbritannien fixiert nicht in dem Umfang; in Großbritannien wird medikamentiert. Dort wird man mit Medikamenten ruhiggestellt, fast sediert. In den Niederlanden wird isoliert, teilweise auch – was landläufig als „Zwangsjacke“ bezeichnet wird – in einen Raum abgeschoben. Ich glaube, keiner der Wege ist der richtige Weg. Wenn Maßnahmen ergriffen werden müssen, dann geht es um eine Kombination verschiedener Ansätze und die Möglichkeit, dem Patienten, der Person gerecht zu werden. Suizidale Patienten sind ganz anders zu behandeln als zum Beispiel autoaggressive Patienten ohne Selbstmordverlangen. Gegenüber Dritten aggressive Patienten sind wieder ganz anders zu behandeln als die vorgenannten. Von daher müssen wir im Gesetz verschiedene Punkte des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigen. Das sind: die klare Rechtsgrundlage, Beteiligung eines Arztes vor und nach der Fixierung, eine Eins-zu-eins-Betreuung durch therapeutisches Personal, eine Sitzwache, die nicht eine Videoüberwachung darstellt, Dokumentationspflicht, eine gerichtliche Überprüfung – das muss der Person auch mitgeteilt werden – und die richterliche Bereitschaft von 6 bis 21 Uhr. Aber wir sollten auch etwas weiter gehen; wir sollten darüber nachdenken, Alternativen zu beraten. Es gibt zum Beispiel sichere Betten bei partieller Desorientierung, bei alkoholisierten Personen gibt es Sicherungen, und es gibt aus anderen Bereichen, beispielsweise dem Betreuungsrecht, den sogenannten Werdenfelser Weg. Wir sollten schauen: Können wir Analogien ziehen? Ich hoffe, wenn wir das alles berücksichtigen, finden wir für beide Seiten ein gutes Ergebnis. Ich hoffe, dass wir in den Beratungen bei diesem Gesetz über alle Fraktionen hinweg gemeinsam eine gute Lösung finden; denn es geht auf beiden Seiten um Menschen – diejenigen, die fixiert werden, und diejenigen, die tagtäglich eine schwere Arbeit verrichten. Das sollte uns in diesem Parlament doch einmal gemeinsam gelingen. Danke schön. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/8939 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Forschung – für viele eine heilige Kuh. Drei Glaubensrichtungen: Die erste: die der Anhänger des Igittigitt. Unschuldige, neugiergetriebene Forschung darf in ihren zarten Augen nicht in die Fänge schnöder Wirtschaft geraten. ({0}) Das sind eher die, die hier links sitzen. Die zweite Gruppe sagt: Ja, es soll schon was herauskommen bei der Forschung; aber: Forschungsergebnisse lassen sich ja nicht messen. – Zu dieser Gruppe gehört unser Right Honourable Gentleman und Staatssekretär Michael Meister. Immer wenn ich Benchmarks und Performance-Indikatoren fordere, erwidert er, das ginge vielleicht in einem Unternehmen, aber nicht in einer Volkswirtschaft. Deutschland zweifelt, die Welt handelt. Länder wie die Schweiz und Großbritannien, die dritte Gruppe. Der eidgenössische Innovationsbericht benennt auf 60 Seiten internationale Benchmarks, der Innovationsbericht der Bundesregierung enthält nur dürre Zeilen. Warum? Weil wir beginnen, uns aus der Spitzengruppe herauszukatapultieren, und die Bundesregierung Vogel-Strauß-Politik macht. ({1}) Die Bundeskanzlerin hat auf der Hannover Messe mit Blick auf die KI-Konkurrenz aus den USA und aus Asien gesagt: Ich bin mir noch nicht ausreichend sicher, ob wir schon die Voraussetzungen haben, um weltweit mitzuspielen. Tja, richtige Diagnose. Handlung: ein Nullum – KI-Forschung kastriert, Forschungsförderung phlegmatisch, Digitalisierung deprimierend, Sprunginnovation auf Sparflamme, und unsere Potenziale sind noch nicht ausgeschöpft. Unsere britischen Freunde unterziehen ihre Forschungseinrichtungen einer transparenten Leistungsanalyse: Research Excellence Framework. 25 Prozent der Bewertung basiert auf dem Nutzen für Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Jungs von Jogi Löw mittelmäßig spielen, dann kocht die Volksseele. Wenn Fraunhofer und Co ihr gewaltiges Potenzial nicht voll ausschöpfen, dann kocht meine Seele. ({2}) Zwischen 2006 und 2020 werden die außeruniversitären Forschungseinrichtungen an die 86 Milliarden Euro von Bund und Ländern erhalten haben. Wir stecken vorne so viel rein. Aber was kommt hinten eigentlich raus? ({3}) Symptomatisch, meine Damen und Herren, ist das Schneckentempo bei der Erhöhung des Anteils von Frauen in Führungspositionen in der Forschung. Großmundige Versprechen, geringes Ergebnis. ({4}) Sogar der Bundesrechnungshof hat angemerkt, dass leistungsorientiertes Controlling fehlt, Controlling zum Innovationstransfer in den Mittelstand, zu KI-Ausgründungen, zu transnationalen Patenten, zur Zuwanderung von Spitzenforschern. Meine Damen und Herren, Forschung ist unser Lebenselixier. Das Budget für Wissenschaft und Forschung darf nicht schrumpfen; es muss wachsen. ({5}) Es geht uns auch nicht um die Unterwerfung von Forschung unter Erfolgskennziffern. Wir sagen: Grundfinanzierung: Ja. Dynamisierung: Ja. Weltspitze nachweisen: Ja, bitte. Und das heißt: Potenzial ausschöpfen. Dafür brauchen wir eine wettbewerbliche Komponente: 15 Prozent variabel für diejenigen, die die vereinbarten Ziele erreichen. ({6}) Auch den besonderen Charakter geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung haben wir bestens in unserem Antrag berücksichtigt: 15 Prozent ergebnisorientiert – in einem ersten Schritt! Ein Anreiz, sich auf den Hosenboden zu setzen, wie Frau Kramp-Karrenbauer es neulich formulierte. ({7}) Sie meinte die Schüler, ich meine das Bundesforschungsministerium. Wenn wir der Innovation nicht Beine machen, geht es um die Wurst in diesem Lande. Die Paktverhandlungen sind in vollem Lauf. ({8}) Ich kann da nur immer wieder rufen: Ran an den Speck, Frau Karliczek! ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sybille Benning für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sybille Benning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Titel des Antrags der FDP lautet: „Forschungsoutput stimulieren“. Klingt erst mal gut. Aber was ist damit gemeint? Bei Ihnen liest sich das so: Sie wollen erst mal Forschungsergebnisse bewerten und dann Fleißkärtchen verteilen. ({0}) Dazu listen Sie eine Vielzahl von Indikatoren auf, an die Sie einen Teil der Mittelvergabe des Pakts für Forschung und Innovation binden wollen. Zuerst sei gesagt: Der allergrößte Teil dieser langen Liste ist doch schon längst Realität. Peer Review praktiziert die Wissenschaft seit Jahrzehnten. Wissenschaftliche Kongresse, Ausgründungen, Drittmitteleinwerbung, Frauenanteile an Führungspositionen, Transfer – alles gängige Dinge, die die Forschungseinrichtungen in ihren eigenen Gremien, auch in den Kuratorien, in denen die Zuwendungsgeber, also auch der Bund, vertreten sind, zugrunde legen. ({1}) Sie, liebe Kollegen, blasen mit Ihrem Antrag kräftig in die Floskeltrompete des Managementsprechs. ({2}) Doch wer nur schrill in die Floskeltrompete bläst, sieht vor lauter Input, Output, Outcome, Controlling und Impact die Grund- und Vorzüge des deutschen Wissenschaftssystems gar nicht mehr und redet es außerdem auch noch schlecht. Es ist natürlich richtig, dass wir Ziele zur Verwendung der Paktmittel setzen und ihre Umsetzung überprüfen. Das findet statt. ({3}) Wir halten den Transfer von wissenschaftlicher Erkenntnis in Gesellschaft und Wirtschaft für zentral. Nur unterscheidet sich unser Verständnis von Transfer wohl fundamental von dem in diesem Antrag durchscheinenden Transferverständnis: ({4}) Sie haben verpasst, liebe Kollegen der FDP, dass wir in den letzten Jahren einen Kulturwandel im Innovationsprozess erlebt haben. Innovation entsteht nicht wie auf einer Produktionsstraße, wo vorn die Grundlagenforschung steht und hinten irgendwann die Anwendung herauskommt. ({5}) Nein, Erkenntnisgewinn und Anwendung stehen in vielen Disziplinen von Beginn an in einer Interaktion. Es ist Forschungsalltag, dass Anwendung mitgedacht wird. Ihr Verständnis von Transfer aber scheint linear zu sein, und es scheint sehr technokratisch zu sein. ({6}) Wie halten Sie es denn mit der Freiheit der Wissenschaft, wenn Sie für Sozial- und Geisteswissenschaften vorschlagen, den Eingang ihrer Erkenntnisse in politisches Handeln zur Fördergrundlage zu machen? Sie schreiben, dass in Großbritannien derlei Bewertung zur Vergabe von öffentlichen Forschungsmitteln genutzt wird, und seitdem dies so sei, würden die Institute die Auswirkungen ihrer Forschung deutlich stärker in den Blick nehmen. Ich bin mir nicht sicher, dass das in dieser Art erstrebenswert ist. Ich will betonen: Erst zweckfreie Forschung, Grundlagenforschung, ermöglicht oft den Gewinn von Erkenntnissen, die dann zu bahnbrechenden Erfindungen und Innovationen führen. Meine Damen und Herren, im Mai dieses Jahres wird unser Grundgesetz 70 Jahre alt. In Artikel 5 Absatz 3 steht: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Wir sind in Deutschland in der wunderbaren Lage, dass die Freiheit der Wissenschaft nicht nur in der Verfassung steht, sondern dass wir auch die materiellen Mittel haben, sie produktiv für Gesellschaft und Wirtschaft zu nutzen. Wir haben in dieser Woche im Forschungsausschuss die Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Frau Professor Brockmeier, zu Gast gehabt. Sie hat uns noch mal daran erinnert, wie wichtig es ist, Forschung auch auf Feldern zu betreiben, deren Nutzen in der Mehrheit der Gesellschaft umstritten ist oder sogar rundherum von ihr abgelehnt wird. ({7}) Sie nannte als Beispiel die Grüne Gentechnik. Warum muss es uns als Forschungspolitiker interessieren, dass es in Deutschland möglich ist, diese Themen zu erforschen? Weil sonst nur noch Forschungsergebnisse in Ländern entstehen, die nicht unsere Wertevorstellungen teilen und deren Methoden wir im Zweifelsfall auch nicht gutheißen. Meine Damen und Herren, der Pakt für Forschung und Innovation hat sich seit 2005 als wirkungsvolles Instrument zur Stärkung des deutschen Wissenschaftssystems erwiesen. Diesen überaus erfolgreichen Kurs wollen wir mit einer Fortschreibung des Paktes für die Jahre 2021 bis 2025 fortsetzen. Die Unionsfraktion steht dazu, dass auch künftig ein verlässlicher Budgetaufwuchs von mindestens 3 Prozent für die außeruniversitären Forschungsorganisationen und die DFG notwendig ist. Der Vorschlag der FDP, Bundesmittel, die für den Aufwuchs der DFG-Mittel bestimmt sind, für die Grundfinanzierung der Hochschulen umzuwidmen, lässt die Verantwortung der Länder völlig außer Acht. ({8}) Sie sind für die Grundfinanzierung der Hochschulen zuständig. Übrigens: Sie sind es anteilig auch für die Finanzierung der außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Darum wollen wir die Länder wieder an der Finanzierung des jährlichen Aufwuchses beteiligen. ({9}) Der Aufwuchs sorgt dafür, dass die Forschungsorganisationen ihre Leistungsfähigkeit gut erhalten können. Damit sind wir bislang gut gefahren. Im forschungsintensiven Wirtschaftsbereich steht Deutschland hervorragend da. Als Unionsfraktion können wir uns vorstellen, einen Teil des jährlichen Budgetaufwuchses variabel zu gestalten. Die Leistungskomponente würde einen gelungenen Transfer in Wirtschaft und Gesellschaft belohnen. Sie müsste aber je nach Mission der jeweiligen Forschungsorganisation gestaltet sein. Wir schlagen vor, dass ein international besetztes Expertenteam künftig die Transfererfolge bewertet. Ein solches Peer Review würde mit dem bestehenden Monitoring des Paktes verzahnt. Wir wollen außerdem, dass die Forschungsorganisationen öffentlich noch verständlicher kommunizieren, in welchen Wissenschaftsfeldern aktuelle Schwerpunkte liegen. Damit können sie den gesellschaftlichen Nutzen verdeutlichen und die Bürgerakzeptanz erhöhen. Ein persönliches Anliegen ist mir die Chancengerechtigkeit. Dass der FDP-Antrag dieses Thema besonders betont, ist eine gute Sache. ({10}) Bei der Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen des Wissenschaftssystems ist der Fortschritt seit Jahren eine Schnecke. Aber es gibt Fortschritte – man kann sie für die einzelnen Forschungsorganisationen im Monitoringbericht nachlesen –, aber eben nicht für alle Karrierestufen und Organisationen gleichermaßen und schon gar nicht für die einzelnen Disziplinen. ({11}) Den meisten von uns ist der Anstieg zu langsam. Weil das so ist, habe ich zwar eine gewisse Sympathie für die Idee, finanzielle Sanktionen folgen zu lassen, wenn die Forschungsorganisationen die von ihnen selbst gesetzten Ziele beim Frauenanteil verfehlen. Aber es muss einfach schneller gehen, meine Damen und Herren. Trotzdem: Noch halte ich am Kaskadenmodell fest. ({12}) Zum Schluss noch mal auf den Punkt: Die deutschen Forschungsorganisationen wollen, sollen und können sich mit den international besten messen. Wir unterstützen sie dabei. Mit uns ist der Bund ein verlässlicher Partner für die Forschungsorganisationen. Herzlichen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Michael ­Espendiller für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Espendiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004711, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es geht heute um einen Antrag der FDP, der sich mit dem Pakt für Forschung und Innovation befasst und zum Ziel hat, die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Forschungssystems zu stärken. Das ist ein gutes Ziel. Der Pakt für Forschung und Innovation ist eine Initiative von Bund und Ländern zur Förderung der Forschung. Damit werden außeruniversitäre Forschungsinstitute und die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziell gefördert. In der aktuell laufenden dritten Phase von 2016 bis 2020 waren das 3,9 Milliarden Euro. Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Pakt für Forschung und Innovation ein gutes forschungspolitisches Instrument ist. Forschungseinrichtungen können sich der freien Forschung widmen, Grundlagenforschung betreiben, können Kooperationen mit Unternehmen eingehen. Sie bringen Deutschland damit voran. Im Jahr 2017 war Deutschland einer der Innovationsführer in Europa und erreichte auch international hohe Platzierungen. Aber wir verlieren mittlerweile in diversen Bereichen den Anschluss. Wir haben einen Rückstand im Bereich der künstlichen Intelligenz. Wir haben eine Regierung, die parallel daran arbeitet, die in Deutschland führende Dieseltechnologie zu vernichten. Die geplante Streichung von 600 Millionen Euro im Bildungs- und Forschungsbereich, von der wir in der Presse lesen konnten, ist ebenfalls ohne Sinn und Verstand ({0}) und gefährdet den Forschungsstandort Deutschland. ({1}) Deswegen ist es eine gute Sache, diesen Forschungspakt zu verlängern und gleichzeitig auch zu verbessern. Wir können damit auch zukünftig die Planungssicherheit für deutsche Wissenschaftler gewährleisten. Das unterstützen wir ausdrücklich. Der Pakt für Forschung und Innovation soll nach dem Willen der FDP zukünftig verbindliche Zielvorgaben erhalten. Auf dieser Basis sollen dann die Steuergelder verteilt werden. Dabei sollen Ergebnisse, Nutzen und Wirkung genauer in den Blick genommen werden. Dieser Ansatz ist richtig. Mit Steuergeld müssen wir verantwortungsvoll umgehen. Der Staat muss auf eine wirtschaftliche Mittelverwendung achten. Um den Nutzen der Forschungseinrichtungen zu messen, hat die FDP einen Kriterienkatalog vorgelegt. Darunter sind einige sinnvolle Dinge, wie die Anzahl und die Qualität von Publikationen – Stichwort „h-Index“ –, die Qualität der hervorgebrachten Patente oder die Anzahl und der Erfolg von Unternehmensausgründungen. Aber es finden sich auch Kriterien in diesem Vorschlag, die mit einer freien Forschung rein gar nichts zu tun haben. So will die FDP verbindliche Zielvereinbarungen für den – Zitat – Anteil von Frauen in Führungspositionen festschreiben. Geld vom Staat gibt es also nur, wenn die Forschungseinrichtung die Frauenquote erfüllt. – Aber nur und ausschließlich die wissenschaftliche Leistung kann ein zulässiges Kriterium sein. ({2}) Die Vergabe von Forschungsgeldern an die Erfüllung einer Frauenquote zu knüpfen, ist grober Unsinn. ({3}) Die Fraktion der Magenta-Sozialisten ({4}) verachtet offensichtlich unsere wissenschaftlichen Ideale von Leistung, Eigenständigkeit und Verantwortung. ({5}) Die Quote ist zur Verbesserung unseres Wissenschaftssystems nicht geeignet. Ein Geschlecht zu haben, ist keine wissenschaftliche Leistung. ({6}) Herr Sattelberger, Sie reden im Ausschuss ja immer von der neuen FDP. Ich weiß mittlerweile, was Sie damit meinen. Die alte FDP hat sich gegen Quoten und für freiheitliche Werte eingesetzt – Werte wie Eigenverantwortung und Leistung. Diese alte FDP ist tot. Christian Lindner hat sie beerdigt, und Sie haben die Schaufel gekauft. ({7}) Die alte FDP von 2013 hätte niemals einen solchen Antrag gestellt. Wenn ich mir angucke, dass mittlerweile mehr als die Hälfte Ihrer Fraktion einen Antrag unterstützt, sogar namentlich, der die Frauenquote fordert, dann bin ich mir sicher: Sie hätten auch genug Geld gehabt, statt einer Schaufel gleich einen ganzen Bagger zu kaufen. ({8}) Erstens. Mehr Wettbewerb im Forschungssystem ist sinnvoll; das sagen selbst die betreffenden Forschungseinrichtungen. Im Ergebnis teilen wir also Ihren Ansatz. Aber wir müssen im Ausschuss noch einige Dinge debattieren; auch Frau Benning hat einiges genannt. Wir müssen auf schlanke Strukturen achten. Das darf kein bürokratisches Monster werden. Die Wissenschaftler sollen ja Forschung betreiben und nicht nur Berichte für uns schreiben. Zweitens. Die Frauenquote widerspricht unserem freiheitlichen Ansatz von Politik. Wer die Freiheit einschränken will, dessen Anträge unterstützen wir nicht. ({9}) Die Frauenquote muss also weg. Was Sie immer vergessen: Ungleichheit ist auch ein Ausdruck von Freiheit. Jeder hat die freie Berufswahl. ({10}) Drittens. Bei der Ausgestaltung eines Kriterienkatalogs müssen wir auch auf die Freiheit der Wissenschaft achten. Zuletzt: Vielleicht liefern Sie im Ausschuss noch Änderungen; darauf hoffen wir. Wir freuen uns auf die kommende Beratung. Herzlichen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege René Röspel für die SPD-Fraktion. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An einer Stelle will ich der FDP ganz herzlich danken, nämlich dafür, dass wir heute in der Lage sind, eine der erfolgreichsten und wirklich zukunftsweisend­sten Maßnahmen von Wissenschaftspolitik der letzten zwei Jahrzehnte noch mal zu diskutieren. Das ist nämlich der Pakt für Forschung und Innovation, 2005 von einer sozialdemokratischen Forschungsministerin auf den Weg gebracht. Er bedeutet, dass die außeruniversitären Forschungseinrichtungen – Max Planck, Helmholtz, Leibniz, Fraunhofer – sich darauf verlassen können, jedes Jahr 3 Prozent mehr Mittel zur Verfügung gestellt zu bekommen. Wir würden das gerne auch bei dem Problemkind Hochschulgrundfinanzierung machen. Dazu sind wir verfassungsrechtlich leider nicht in der Lage. Dennoch hat dieser Pakt für Forschung und Innovation dazu geführt, dass Deutschland mittlerweile wieder ein weltweit anerkannter, nachgefragter und hochangesehener Wissenschafts- und Forschungsstandort ist und dass Menschen aus anderen Ländern gerne zu uns kommen, um hier Forschung zu betreiben. Diese Milliardenbeträge sind auch nicht so ohne Weiteres den Forschungseinrichtungen übergeben worden, sondern es gibt alle fünf Jahre Zielvereinbarungen mit diesen Einrichtungen. Dabei sagen wir: Wir wollen, dass ihr mit diesem Geld Frauenförderung macht, familiengerechte Wissenschaft macht, dass es einen stärkeren Transfer in Gesellschaft und Wirtschaft gibt und dass Nachwuchs rekrutiert wird, dass Internationalisierung und Vernetzung erfolgen. Jedes Jahr wird dann bei der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz ein Bericht abgeliefert, wie sich das Ganze entwickelt. Den können Sie lesen. Es wäre vielleicht sinnvoll gewesen, ihn zu lesen, auch wenn das 690 Seiten sind. Darin steht, was die einzelnen Organisationen machen, um Frauen und Nachwuchs zu fördern, um mehr Vernetzung und eine familiengerechtere Wissenschaftshandhabung zu erreichen. Tatsächlich ist das immer noch nicht genug. Ich vermute, dass in den jetzt laufenden Paktverhandlungen – das erwarte ich auch – diese Ziele noch mal stärker formuliert werden. Aber ich glaube, dass viele von denen, die diesen Antrag der FDP unterzeichnet haben, niemals – das sieht man dem Antrag an – in der Forschung gearbeitet haben. ({0}) Wie läuft das da? Einer der wesentlichen Punkte dieses Paktes ist es, den Forscherinnen und Forschern Verlässlichkeit und ein gerüttelt Maß an Sicherheit zu geben. Sie wissen, dass es auch im nächsten Jahr weitergeht. Da gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Ich will ein Beispiel aus der experimentellen natur- oder ingenieurwissenschaftlichen Forschung nehmen. Wenn es gut läuft, kommt man in ein Institut, in dem die Projekte und die Methoden laufen. Dann arbeitet man sehr fleißig, meistens über 40 Stunden in der Woche. Aber das machen die meisten Forscherinnen und Forscher gerne, weil sie ein Ziel vor Augen haben, nämlich die Welt zu verbessern, ein konkretes Produkt zu entwickeln oder vielleicht die Antwort auf eine Frage zu finden. Und dann machen die das 40 Stunden pro Woche und, wenn es gut geht, sind sie vielleicht nach einem Jahr in der Lage, ein Paper, eine Veröffentlichung zu machen, manchmal vielleicht auch erst nach zwei Jahren, je nachdem, wie schwierig das Thema ist. Oder sie arbeiten, wenn sie in der Grundlagenforschung als junger Wissenschaftler ohne viel Erfahrung oder mit einem Projekt, das es bislang noch nicht gegeben hat, neu anfangen, ein Jahr, und dann stellen sie vielleicht fest, dass sie auf dem völlig falschen Weg sind, dass die Methode nicht funktioniert, und dann brauchen sie ein weiteres Jahr. Vielleicht sind sie erst im dritten Jahr in der Lage, eine Veröffentlichung zu machen. Manchmal ist es so, dass das Projekt nach drei Jahren immer noch nicht wirklich gut steht, aber sie die Arbeit für die nächste Generation gemacht haben. In dieser Situation kommt die FDP daher und kippt eine Reihe von Indikatoren auf genau diese Menschen. ({1}) Ich sage dazu ausdrücklich: Das ist der falsche Weg. – Und wenn Sie das auch noch mit der Zielmessbarkeit verknüpfen: „Wer seine Ziele nicht erreicht, bekommt 15 Prozent seines Budgets gestrichen“ – und diese 15 Prozent werden auch noch wettbewerblich ausgeschrieben und neu verteilt –, ({2}) dann kann ich nur sagen: Sie verstehen das System nicht. ({3}) Denn was bedeutet das für die Forscher, die ich beispielhaft genannt habe? Sie wollen ja eine Kontrolle und Bewertung nicht nur des Institutes, sondern auch der einzelnen Forscher. Das steht vor Ihrer langen Kriterienliste ausdrücklich drin. ({4}) Ein Institut muss sich überlegen: Kann ich überhaupt junge Forscher, die noch wenige Veröffentlichungen haben, einsetzen? Kann ich mutige, neue Projekte überhaupt angehen, weil ich nicht weiß, ob es in zwei Jahren publikationsfähig ist, ob es in Ihrem Sinne erfolgreich ist, ob da Produkte für die Wirtschaft rauskommen? Das müssen sie kalkulieren und sich überlegen: Wenn ich so mutig bin, junge neue Leute einzustellen und neue Projekte zu beginnen, verliere ich möglicherweise, weil ich die Kriterien nicht einhalten kann, 15 Prozent meiner Mittel. – Was glauben Sie, was das für den Wissenschaftsstandort, für die Institute bedeuten wird? Das wird bedeuten, dass sie ganz anders denken müssen, nämlich nicht mehr frei, mutig, offen und kreativ, sondern mit der Überlegung: Können wir diese Ziele erfüllen? ({5}) Wenn Sie – zu Recht, das will ich auch sagen – beklagen, dass immer noch zu wenige Frauen in Führungspositionen sind, (Beifall der Abg. Dr. Anna Christmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] dann zeigen drei Finger auf Sie zurück; denn in Ihrer Fraktion ist ja nicht mal jeder vierte Abgeordnete weiblich. Deswegen gibt es da erst einmal viel zu tun. ({6}) Ich glaube – das erkennt die Wissenschaft auch –, dass mit Ihrem Projekt viele unserer Nobelpreisträger wahrscheinlich mittendrin vom System rausgekickt worden wären. Das ist der falsche Weg, und deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke spricht nun Dr. Petra Sitte. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der FDP-Antrag platzt in eine Grundsatzdebatte über die Gesamtfinanzierung und Ausgestaltung unseres Bildungs- und Wissenschaftssystems. Und er trifft auf ein Eckpunktepapier des SPD-Finanzministers. In diesem sind für 2020 rund 533 Millionen Euro weniger für Bildung und Forschung vorgesehen. Noch einmal zur Erinnerung: In Umfragen wird Bildung und Wissenschaft regelmäßig höchste Priorität eingeräumt. Umso unverständlicher sind die Kürzungspläne von Olaf Scholz. ({0}) Es kommt mir auch so vor, als ob er von den fragwürdigen Asymmetrien in der Ausstattung von Bildung und Wissenschaft keine Ahnung hätte. Einerseits finden sich unterfinanzierte Hochschulen. Andererseits erfahren außeruniversitäre Forschungseinrichtungen jährlich 3-prozentige Aufwüchse. Allerdings sind diese auch nicht exorbitant, sondern sie gleichen gerade einmal Tarif- und Sachkosten aus. Die Jahrzehnte anhaltende Unterfinanzierung bringt insbesondere Hochschulen an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit. Man spricht mittlerweile von „erschöpften Einrichtungen“. Wie will man, wie wollen Sie unter diesen Bedingungen die Freiheit von Forschung und Lehre garantieren? Statt auszufinanzieren, haben Sie in den letzten Jahrzehnten den Konkurrenzdruck erhöht. Fast alle zusätzlichen Mittel werden wettbewerblich vergeben. So haben Exzellenzinitiativen zwar bemerkenswerte Leistungen in Teilsystemen der Wissenschaft hervorgebracht; aber die Ungleichgewichte in Hochschulen, zwischen Hochschulen und zu den außeruniversitären Forschungseinrichtungen sind gewachsen. Dagegen haben Sie nun das Mittel der Pakte gefunden. Sie haben sie nacheinander aufgelegt: den Hochschulpakt – davon war eben die Rede –, den Pakt für Forschung und Innovation und als letzten den Pakt für Qualität in der Lehre. Trotzdem sind die Ausgaben pro Studierenden heute geringer als vor zehn Jahren. Als sogenanntes Herzstück bleiben die Hochschulen gewissermaßen infarktgefährdet. Das ist ein völlig absurder Vorgang. ({1}) Lehrende und Lernende spüren es täglich. Wir haben immer noch überfüllte Hörsäle, wir haben immer noch Befristungen en masse, wir haben schlecht bezahlte Lehrbeauftragte und, und, und. Darunter leidet natürlich am Ende auch die Qualität von Forschung. Die „Frist ist Frust“-Kampagne beispielsweise der GEW ({2}) setzt dabei aus unserer Sicht genau an der richtigen Stelle an. Aber, meine Damen und Herren, solange grundsätzlich keine verlässlichen Bedingungen, keine verlässlichen Perspektiven geschaffen werden, bringen auch Verschiebungen zwischen den Pakten, wie sie der FDP vorschweben, kaum etwas. ({3}) Der FDP-Antrag bietet nun geradezu eine Inflation an vorgeschlagenen Indikatoren an. ({4}) Da sollen Bilanzmatrizen entstehen. ({5}) Lineare Kombinationen zur Bewertung von Nutzen und Wirkung eingesetzter Mittel bestehen aber gerade in der Wissenschaft nicht. Ignoriert werden auch Unterschiede zwischen den außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Max-Planck- und Helmholtz-Institute betreiben vor allem Grundlagenforschung. Leibniz-, Fraunhofer-Institute oder Institute der Zuse-Gemeinschaft sind viel stärker anwendungsorientiert. ({6}) – Genau den Eindruck macht Ihr Antrag. Ihr Antrag hinterlässt den Eindruck, dass Sie mit Ihren Kriterien alle über einen Kamm scheren. Nein, nein, nein; da brauchen Sie mir nichts erzählen! ({7}) Um es klar zu sagen: Natürlich hat die Gesellschaft Anspruch auf Anwendungsperspektiven wissenschaftlicher Erkenntnisse. Trotzdem wollen wir wissenschaftliches Arbeiten und Forschen offenhalten. Sinnvoller wäre doch gerade in dieser Situation, die außeruniversitären Forschungseinrichtungen näher an die Hochschulen zu bringen. Der FDP-Antrag behandelt, ehrlich gesagt, alle Wissenschaftseinrichtungen in diesem Land irgendwie wie Industrieforschungseinrichtungen. ({8}) Und das wollen wir ganz bestimmt nicht. ({9}) Wir wollen erstens, dass die Kürzungen im Bundeshaushalt zu Aufwüchsen werden. Wir wollen zweitens, dass die Unterfinanzierung an den Hochschulen endlich beendet wird. Und drittens können wir dann auf dieser Basis gern in eine Debatte darüber eintreten, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Sitte!

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– was wir, was die Gesellschaft von Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft erwarten kann. Ich danke Ihnen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Kai Gehring das Wort. ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bund und Länder stecken mittendrin in der heißen Verhandlungsphase zur Fortsetzung der Wissenschaftspakte. Gut also, dass wir als Bundestag heute darüber debattieren, wie in diesem Land am besten geforscht, gelehrt und gelernt werden kann. ({0}) Wir Grüne im Bundestag appellieren an die Verhandlungsrunde: Sorgen Sie zügig für grünes Licht für den Pakt für Forschung und Innovation, für den Hochschulpakt und den Qualitätspakt Lehre. Universitäten, Hochschulen und Forschungsinstitute sind die Innovationstreiber der Republik und brauchen endlich einen Durchbruch für verlässliche Finanzierung. ({1}) Insofern, lieber Herr Sattelberger: An Ihrem Antrag gefällt uns das Timing. Aber ansonsten, wie so oft: viel Lärm um fast nichts. Richtig ist Ihre Forderung nach verbindlichen Gleichstellungsstandards und -kriterien. Das wollen wir Grüne seit vier Jahrzehnten; da sind wir bei Ihnen. Aber nicht nur in der Wissenschaft, auch in der Wirtschaft und in der eigenen FDP-Fraktion braucht es mehr Frauen in Führung. Nur so wirkt doch Ihre Forderung authentisch! ({2}) Ansonsten ist Ihr Antrag geprägt von zu viel Management und zu wenig Wissenschaft. Da ist die alte FDP ganz die neue und umgekehrt. Bitte verschonen Sie die neugiergetriebene Grundlagenforschung von Ihrem Ökonomisierungsfetisch. Rankings, Benchmarks, Outcomes: Sattelberger-Anträge sind eine Schatztruhe für Bull­shit-Bingos. ({3}) Aber hören Sie auf, die Freiheit der Wissenschaft mit Ihren plumpen Nützlichkeitsinteressen auszuhöhlen. ({4}) Sie fordern verbindliche Indikatoren für den Eingang von Forschungsergebnissen in Gesetzestexte. Haben Sie das mal zu Ende gedacht? Wenn es nicht klappt, soll es weniger Geld für die Forschung geben; das schreiben Sie auch noch rein. ({5}) Was für ein Humbug! Die FDP würde also Klimaforschung bestrafen, wenn die GroKo kein Klimaschutzgesetz hinbringt, oder die Friedensforschung kürzen, wenn deutsche Rüstungsexporte Kriege anheizen. Das ist doch wohl ein schlechter Witz; das können Sie doch nicht ernst meinen! ({6}) Natürlich braucht es einen Gegencheck von FuE-Leistungen; dieser muss aber dem Forschungsfeld angemessen sein. Ein Forschungsmuseum, das Kinder durch Dinoskelette aus der Urzeit und Meteoriten aus dem All begeistert, entfaltet doch eine ganz andere Wirkung als ein Institut, das an CO 2 -neutraler Mobilität forscht. Und beides verdient doch eine verlässliche Finanzierung! ({7}) Der PFI ist ein hochwirksames Bund-Länder-Forschungsförderprogramm. Daher ist er aus grüner Sicht dringend fortzusetzen. Ich sage aber auch: Der Deutsche Akademische Austauschdienst und die Alexander von Humboldt-Stiftung gehören meiner Meinung nach ganz genauso in diesen Pakt für Forschung und Innovation und seinen Aufwuchsmechanismus; denn DAAD und AvH bringen maßgeblich die Internationalisierung und die weltweite Attraktivität unseres Wissenschaftssystems voran. Trotzdem bleiben verlässliche Aufwüchse bei der Finanzierung aus. Das wollen wir als Grüne im Bundestag ändern! ({8}) Wir wollen endlich auch die Unterfinanzierung unserer Hochschulen beenden. Die dynamischen Aufwüchse, die es zu Recht für die außeruniversitären Forschungseinrichtungen alljährlich gibt, brauchen die Hochschulen genauso dringend, damit eben die universitäre und die außeruniversitäre Forschung nicht weiter auseinanderklaffen. Unser Antrag – Herr Sattelberger, da müssen Sie wirklich früher aufstehen – liegt seit dem Herbst schon längst auf dem Tisch: für beste Forschung und Lehre, für verlässliche Karrierewege, für modernste Infrastrukturen des Wissens; denn all das braucht es für die Wissenschaft und für mehr Technik, Toleranz und Talente. ({9}) Der Finanzminister ist ja heute nicht an Bord. Er hat dem BMBF eine deutliche Kürzung verordnet. Darum wende ich mich an Frau Karliczek oder vielmehr an Herrn Rachel als Staatssekretär. Setzen Sie sich dafür ein, dass Forschung und Lehre im Haushalt nicht auf der Strecke bleiben und nicht um eine halbe Milliarde gekürzt werden! Geben Sie Unis, Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen endlich den notwendigen Schub, damit auch noch morgen herausragende Wissenschaft in unserem Land möglich ist, und zwar an allen Universitäten! ({10}) Die Unterstützung unserer Fraktion hätten Sie. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger. ({0})

Dr. Wolfgang Stefinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004414, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bund und Länder haben im Jahr 2005 – das ist vorhin schon angesprochen worden – den Pakt für Forschung und Innovation geschlossen. Lieber Kollege Röspel, dieser Pakt ist von einer SPD-Ministerin geschlossen worden; die danach amtierenden Unionsministerinnen haben den Pakt verbessert. ({0}) Der Pakt, liebe Kolleginnen und Kollegen, sorgt dafür, dass finanzielle Planungssicherheit und verbesserte Rahmenbedingungen gegeben sind und vor allem auch stabiles Wachstum und insgesamt eine positive Entwicklung der außeruniversitären Forschungs- und Wissenschaftsorganisationen gewährleistet sind; und das ist auch gut so. Denn diesen Pakt gibt es, weil wir Innovationen brauchen. Innovationen sind das Fundament für unseren wirtschaftlichen Erfolg. ({1}) CDU und CSU, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen, dass Deutschland zu den führenden Innovationsnationen gehört. Wir wollen, dass Deutschland ein attraktiver Wissenschaftsstandort ist. Und wir wollen, dass Deutschland ein erfolgreicher Wirtschaftsstandort bleibt. Deswegen investieren wir massiv in diesen Bereich und kämpfen selbstverständlich dafür, dass auch im zukünftigen Haushalt die entsprechenden Mittel zur Verfügung gestellt werden. ({2}) Die FDP und auch die Linken tun heute so, als trüge Deutschland die rote Laterne, als wäre Deutschland in allen Bereichen das Schlusslicht. Fakt ist, dass Deutschland bei Innovationen weltweit auf Platz eins steht. Ich wiederhole: weltweit auf Platz eins, und zwar vor den Vereinigten Staaten von Amerika. Das steht im Bericht des Weltwirtschaftsforums. ({3}) Auch auf der Rangliste der wettbewerbsfähigsten Staaten haben wir uns innerhalb von zwölf Monaten von Platz fünf auf Platz drei vorgearbeitet; nur noch die USA und Singapur stehen vor uns. Und für diese Rangliste wurde der gesamte Innovationsprozess beleuchtet, nämlich von der Idee über die Forschung und Entwicklung hin zu Umsetzung und Vermarktung. Es wurden Patente und Veröffentlichungen ebenfalls herangezogen. ({4}) Für uns ist es vollkommen klar, dass es kein Ausruhen geben darf. Deswegen geht es bei der Paktverlängerung um eine Weiterentwicklung. Es geht um eine finanzielle Planung. Insbesondere bei der finanziellen Planung darf ich daran erinnern, dass hier auch die Bundesländer gefordert sind und nicht nur der Bund alleine. ({5}) Es geht eben nicht allein darum, den Status quo zu halten, sondern wir wollen besser werden, und gerade uns als CDU/CSU-Fraktion geht es auch um den Transfer. Deswegen hinterfragen wir uns auch immer wieder selber: Wo können wir noch besser werden? Wo gibt es Überschneidungen, auch bei Förderprogrammen? Wo sind doppelte Strukturen? Wo kann man auf überflüssige Bürokratie verzichten? Vor allem fragen wir uns auch: Wie kann der Transfer besser gelingen? Wie kann er messbarer werden? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben den Menschen versprochen, dass wir beispielsweise beim Thema Volkskrankheiten eine Schippe drauflegen, dass wir wirklich Gas geben wollen, was Alzheimer, Demenz und Krebs betrifft. Auch der Spitzenkandidat der EVP für die Europawahl, Manfred Weber, sagt ganz klar, dass er dem Thema Volkskrankheiten, insbesondere dem Thema Krebs, auch auf europäischer Ebene eine herausragendere Bedeutung geben möchte. ({6}) Wir stehen vor weiteren Herausforderungen, bei denen wir Forschung und Wissenschaft brauchen. Ich nenne das Thema Klima, das Thema Ernährungssicherung oder Mobilität. Für all das brauchen wir gute Forschung und am Ende auch die Umsetzung – selbstverständlich. CDU und CSU, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben ihre Positionen weit vor Beginn der Verhandlungen über die Neuauflage des Paktes eingebracht. Das Thema „Transfer und Verankerung von Zielen“ sowie ein umfassendes Monitoring sind adressiert. Es wird hier so getan, als müssten wir nachsitzen. Ich kann Ihnen nur zurufen: Die Hausaufgaben sind längst gemacht. ({7}) Wenn ich mir einzelne Einrichtungen anschaue, beispielsweise Fraunhofer, dann stelle ich fest: Fraunhofer hat mehr Ausgründungen als die ETH Zürich. Das muss man auch mal festhalten dürfen. Auch die Fraunhofer-Gesellschaft hat sich selbst interne Maßstäbe gesetzt, interne Verpflichtungen auferlegt, um Ziele zu erreichen, nämlich die Ziele, die wir vorgeben. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir insgesamt, was die Verhandlungen und auch unsere Zielsetzungen für die Neuauflage des Paktes betrifft, auf einem sehr guten Weg. Ich freue mich über die Unterstützung, auch aus den Bundesländern, auch von den Landesministern, was das Thema Finanzierung betrifft. Des Weiteren freue ich mich auf eine gute Beratung im Ausschuss. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Oliver Kaczmarek das Wort. ({0})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor genau zwei Wochen wurde hier in Berlin der Gründerpreis der Leibniz-Gemeinschaft an die Firma elena international verliehen. Diese hat sich mit einem Problem beschäftigt, das wirklich von großer Relevanz ist, nämlich mit Netzschwankungen in entlegenen Gebieten, wo es einen hohen Anteil an schwankenden erneuerbaren Energien gibt. Diese Firma hat Softwarelösungen entwickelt, die dafür sorgen, dass dort der Aufbau erneuerbarer Energien bei Beibehaltung stabiler Netze fortgesetzt werden kann. Im Übrigen ist das eine Ausgründung aus dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Deswegen möchte ich einmal sagen: elena international ist sicherlich ein Beleg dafür, dass Wissenschaft in der Lage ist, relevante Probleme zu lösen und unsere Innovationsfähigkeit zu steigern und das auch durch Ausgründungen zu dokumentieren. Ich muss ganz ehrlich sagen, Herr Sattelberger: Sie haben hier ein Zerrbild von der Leistungsfähigkeit unseres Wissenschaftssystems gezeichnet. Ich bin mir nicht sicher, ob Ihnen das wirklich geholfen hat. ({0}) Ist so eine Ausgründung, ist so ein Gründerpreis – es wurden ja mehrere Firmen ausgezeichnet; das machen die anderen außeruniversitären Forschungsorganisationen auch – ein Beleg für die Wirksamkeit der Wissenschaftspakte? Das ist sicherlich ein Beleg, aber uns ist eben auch wichtig: Wirksamkeit bemisst sich nicht nur an Ausgründungen. Wirksamkeit ist viel mehr als Ausgründung. Wissenschaft hat eine viel grundlegendere, umfassendere Aufgabe. Sie soll Erkenntnisse gewinnen und uns helfen, Probleme zu lösen. Sie soll Fortschritt im wissenschaftlichen Kontext schaffen, eben nicht losgelöst von allem anderen, sondern einen Fortschritt, der sich sozial, ökonomisch und ökologisch auswirkt. Und insofern ist unsere Aufgabe als Politik, dass wir das absichern. Wir wollen Forschung und Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung, nicht losgelöst von allen Rahmenbedingungen, sondern im Sinne eines Nutzens für die Gesellschaft, absichern. ({1}) Und es ist völlig klar – da muss man nur mal in den Koalitionsvertrag schauen –: Wir haben gemeinsam Anforderungen formuliert, die auch die außeruniversitären Forschungseinrichtungen dafür, dass sie Planungssicherheit bekommen, erfüllen sollen. Ich nenne beispielhaft den Transfer, den Ausbau dieser Aktivitäten, die ich gerade genannt habe. Dazu gehört auch Gleichstellung – ich bin froh, dass Sie diesen Aspekt angesprochen haben –, dazu gehört, dass wir in den außeruniversitären Forschungseinrichtungen gute Arbeitsbedingungen schaffen, dass Mitbestimmung ein wichtiger Bestandteil ist und dass für den Nachwuchs Karriereperspektiven und Fördermöglichkeiten geschaffen werden. All das sind Anforderungen, die wir aufgestellt haben, die wir auch an sie stellen. Aber am Ende wollen wir Wissenschaftspolitik gemeinsam gestalten. Wir sind doch nicht der Aufsichtsrat der deutschen Wissenschaft, sondern mitgestaltender Akteur auf Augenhöhe mit allen Akteuren, die am Wissenschaftssystem beteiligt sind. ({2}) Zum Schluss nur ganz kurz: Der Pakt für Forschung und Innovation hat sich bewährt. Er wird fortgesetzt. In der letzten Wahlperiode haben wir uns darauf verständigt, eine Entlastung vorzunehmen, indem der Bund die Aufwüchse einseitig finanziert. Dabei bleibt es. In dieser Wahlperiode haben wir uns vorgenommen, wieder zu dem bewährten Bund-Länder-Schlüssel zurückzukehren. Das ist das Ziel. Und wir erwarten, dass es dazu konstruktive Verhandlungen im Sinne des Koalitionsvertrags gibt und dass diese auch zügig zum Abschluss gebracht werden, damit Planungssicherheit für die Forschungsinstitutionen gewahrt wird. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8957 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Grundgesetz hat die deutsche Demokratie erfreulich wehrhaft aufgestellt. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung wird vielfältig geschützt: durch unsere Freiheitsrechte, unsere plurale Zivilgesellschaft und durch unsere Sicherheitsbehörden, auch durch den Verfassungsschutz. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat in den vergangenen Jahren in mehreren Fällen auch erfolgreich gearbeitet – gar keine Frage. ({0}) – Vielen Dank, Marian Wendt. ({1}) Aber das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in das Bundesamt hat in den letzten Jahren auch immer wieder stark gelitten: ({2}) das Oktoberfestattentat, die Mordserie des NSU, die bis heute völlig offenen Widersprüche beim Anschlag auf dem Breitscheidplatz und die derzeit sich zahlreich stellenden Fragen im Hinblick auf rechtsextreme Netzwerke in Deutschland und Europa. Gerade in diesen Zeiten ist es dringend notwendig, dass wir verlorengegangenes Vertrauen zurückerobern, meine Damen und Herren. ({3}) Mit der neuen Amtsleitung des Bundesamtes ist sicherlich eine positive Entwicklung zu verzeichnen. ({4}) Aber dass offensichtlich verfassungswidrige Befugniserweiterungen, wie gerade eben von Horst Seehofer vorgeschlagen, in dieser Situation überhaupt nicht helfen, müsste eigentlich jedem klar sein, Philipp Amthor. ({5}) Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen, auch beim Verfassungsschutz, meine Damen und Herren! ({6}) Wir wollen einen modernen, einen rechtsstaatlichen, einen effektiven Verfassungsschutz, ({7}) einen Verfassungsschutz, der gut gegenüber jedweder extremistischen Bestrebung aufgestellt ist ({8}) und auch in einer seiner absoluten Kernaufgaben, Herr Kollege, der Spionageabwehr, endlich wieder handlungsfähig wird. ({9}) Fakt ist aber: Der Verfassungsschutz erkennt in seiner jetzigen Form wegen seiner analytischen Defizite viele Sicherheitsrisiken nicht, und das können wir uns schlicht und einfach nicht mehr leisten, meine Damen und Herren. ({10}) Nur ein Beispiel. Die Risiken waffenaffiner Reichsbürger waren lange bekannt; aber erst nach dem Mord an einem bayerischen Polizeibeamten begann eine systematische Bearbeitung dieses Bereichs. So etwas darf sich nicht wiederholen. ({11}) Wir wollen gefährliche Entwicklungen wissenschaftlich fundiert früher erkennen und früher analysieren. Dafür braucht es erstens ein neues Institut zum Schutz der Verfassung, das eigenständig und unabhängig auf streng wissenschaftlicher Grundlage demokratie- und menschenfeindliche Bestrebungen beobachtet, erforscht und analysiert ({12}) und hierüber regelmäßig – das dürfte Sie freuen, Herr Gauland – öffentlich berichtet. Dabei ist völlig klar: In einer pluralen Gesellschaft gilt die Meinungsfreiheit und ein hoher Toleranzbereich, auch für scharfe, für zugespitzte, für abwegige und für drastische Meinungen. Aber da, wo es gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung geht, wo es um rassistische Gewalt, Antisemitismus, völkische Menschenverachtung geht, sind wir schon vor dem Hintergrund unserer Geschichte dazu verpflichtet, scharf hinzuschauen und uns dagegen entschlossen zu wehren, meine Damen und Herren! ({13}) Zweitens ist ein entsprechend kleineres Bundesamt für Gefahrenerkennung und Spionageabwehr erforderlich, und es soll wie folgt arbeiten: mit rechtsstaatlich einwandfreien nachrichtendienstlichen Mitteln, klar abgegrenzt von polizeilichen Aufgaben und straff und effektiv parlamentarisch kontrolliert. ({14}) Dafür ist auch unabdingbar, dass wir die Arbeit der Gemeinsamen Zentren als Gesetzgeber endlich rechtsstaatlich ausgestalten und den Informationsaustausch zwischen den über 40 Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern effektivieren. ({15}) Der Verfassungsschutz und die Sicherheitsarchitektur in diesem Land sind so alt wie die Verfassung selbst, nämlich 70 Jahre. Um unsere wehrhafte Demokratie zu bewahren, müssen wir den Verfassungsschutz modernisieren. Dazu dient unser Antrag hier. Wir freuen uns sehr auf die gemeinsamen Beratungen in den Ausschüssen. Herzlichen Dank. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Armin Schuster für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß jetzt gar nicht, wozu ich reden soll. Herr Dr. von Notz, das war eine gescheite Taktik. Jedoch mit Ihrem Antrag, so sympathisch Sie hier auch vorgetragen haben, hatte das wenig zu tun. ({0}) Da könnte man ja vermuten, dass man sich einigen kann. Aber jetzt mal im Ernst. Ich habe den Antrag extra mitgenommen und zitiere aus dem Antrag: Überwachungen politischer Parteien und Gruppierungen … dürfen nicht den Anschein einer geheimdienstlichen Gesinnungsüberprüfung haben … Das bezog sich auf das BfV. ({1}) Das BfV dürfe nicht den Eindruck erwecken, „Waffe im parteipolitischen Meinungskampf“ zu sein. ({2}) Seit Jahren gebe es erkennbare Missstände bezüglich praktisch aller Bereiche des BfV. ({3}) Es erkenne aufgrund fehlender klar definierter Aufgaben seine analytischen Defizite nicht. ({4}) Es gebe einen unreflektierten Einsatz von V-Leuten. ({5}) Die Wissenschaft – Achtung, meine Damen und Herren! – wisse mehr über die Entwicklungen im Bereich der Sicherheitslage als das BfV selbst. ({6}) Es gebe unsachgemäßes, rechtswidriges Geheimhalten, Vertuschen, Überwachung Unbeteiligter. ({7}) – Ja, genau, Herr Dr. Hahn. Ich habe dreimal meine Mitarbeiter gefragt: Kommt der Antrag von den Linken, oder kommt er von den Grünen? Nein, er kommt von den Grünen. ({8}) Bisher dachte ich, es sei der destruktiv motivierten Sicherheitspolitik dieser Fraktion geschuldet, dass Sie in den letzten zehn Jahren alles abgelehnt haben, was wir hier vorgelegt haben. Unendlich viele Reformgesetze, unendlich viele Sicherheitsgesetze: Die Grünen haben immer abgelehnt – außer bei Besoldungserhöhungen für Beamte. Ich dachte bisher, das sei destruktiv motiviert. Nach diesem Antrag habe ich das Gefühl, Sie haben ein echtes Problem. Die Lücke zwischen den Fraktionen der CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen, die Sie hier im Raum sehen, hat sich durch diesen Antrag unglaublich erweitert. Ich frage mich, wo die Lockerungsübungen sind, die Sie, wie ich in den deutschen Zeitungen lese, angeblich machen. Diese Lockerungsübungen uns oder den Sicherheitsbehörden gegenüber sind so verspannt. Sie sind reif für eine Therapie, wenn Sie wirklich glauben, was hier drinsteht, meine Damen und Herren. ({9}) Ich will als jemand, der in drei Untersuchungsausschüssen war, sagen: Es ist feige, sich nur am Bundesamt für Verfassungsschutz zu vergreifen. Es gab eine klare Analyse nach dem NSU-Komplex. Diese hat auch Wolfgang Wieland hier so vorgetragen: Es war ein komplettes Systemversagen der deutschen Sicherheitslandschaft, ja, auch deutscher Regierungen, auch der Gerichte und der Staatsanwaltschaften. ({10}) Wenn Sie all diese Fehler bereinigen wollen, indem wir diese Behörden auflösen, ({11}) wenn Sie neue Institute und damit eine total verkopfte und akademisierte Landschaft schaffen wollen, dann machen Sie die deutsche Sicherheitsarchitektur kaputt; Sie machen sie nicht besser. ({12}) Meine Damen und Herren, wir haben Gesetzesreformen gemacht. Ich bin sehr stolz, dass wir richtigerweise in Personal investiert haben. Wir haben etwas für die Finanzen getan: Die deutsche Sicherheitslandschaft im Bund hat in den letzten fünf Jahren einen einmaligen Aufwuchs erlebt. Wir machen es besser, wenn wir Fehler erkennen. Aber ein x-tes Institut, von dem Sie, glaube ich, selbst gar nicht wissen, wie es funktionieren soll, ist keine Lösung. ({13}) Es soll im BMI angesiedelt sein, das aber keine Rechts- und Fachaufsicht haben darf. Und gewählt wird das Ganze im Deutschen Bundestag. Geht es eigentlich noch komplizierter? ({14}) Ich habe es nicht verstanden. ({15}) Vor allen Dingen verstehe ich nicht, warum Sie eine Behörde zerschlagen wollen, die uns x-fach erfolgreich gewarnt hat: ob im Fall „Rizin“, ob bei Albakr, ob bei Oldschool Society oder bei der „Gruppe Freital“. Das Bundesamt für Verfassungsschutz leistet eine hervorragende Arbeit und hat Ihre Diffamierungen nicht verdient, meine Damen und Herren. ({16}) Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Wir haben mit den Freien Demokraten und mit der SPD in den letzten zehn Jahren aufgrund der Fehler, die man in vielen Behörden erkannt hat, immer wieder unendlich reformiert. Ja, da hätten Sie einmal zustimmen können. Was dieser Antrag jetzt soll, erschließt sich mir nicht. Wenn Sie schon modern sein wollen, dann lassen Sie uns doch über Fragen der künstlichen Intelligenz, über die Sicherheit der Zukunft diskutieren. Lassen Sie uns über Front Doors reden, wenn Sie über Back Doors nicht reden wollen. Quellen-TKÜ, Onlinedurchsuchungen – –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Schuster, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Mihalic?

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Endlich. Meine Zeit läuft ab. ({0}) – Also das erspare ich Ihnen lieber.

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Schuster, dass Sie die Frage zulassen –. Sie können natürlich auch noch länger aus unserem Antrag zitieren. Sie müssten ihn allerdings vorher lesen. ({0}) Sie haben gerade gesagt: Die Einrichtung eines Analyseinstituts wäre aus Ihrer Sicht überhaupt nicht nötig; denn das Bundesamt für Verfassungsschutz in seiner heutigen Struktur liefert die wunderbaren Analysen ohne Weiteres. – Jetzt gehörten wir beide drei parlamentarischen Untersuchungsausschüssen an. Im zweiten parlamentarischen Untersuchungsausschuss, dem wir zusammen angehört haben, ging es um den NSU-Komplex. Wir haben in diesem Untersuchungsausschuss mehrere Sachverständige beauftragt, die uns etwas über rechtsextremistische Strukturen in Deutschland und über die Gefahren, die damit zusammenhängen, über diverse Bezüge zum Nationalsozialistischen Untergrund und zu anderen Neonazi-Organisationen berichtet haben. Warum, glauben Sie, war das eigentlich nötig, wenn die guten Analysen vom Bundesamt für Verfassungsschutz kommen? ({1})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Dr. Mihalic, ich bin wirklich dankbar, dass Sie mich fragen; denn ich hätte sonst – das steht hier – nur noch 17 Sekunden Redezeit gehabt. Wir sind uns doch einig, und zwar in einem einzigen Punkt – das können Sie aus dem Handlungsempfehlungskatalog des NSU-Untersuchungsausschusses herauslesen –: Wir haben deutlich kritisiert, dass die wissenschaftlich fundierte Analyse-, Prognose- und Szenarienfähigkeit des BfV gegenüber dem, was wir von dieser Behörde erwarten, nicht angemessen ist. ({0}) Darin sind wir uns einig. Wir ziehen daraus aber jeweils eine andere Schlussfolgerung. Sie wollen das BfV zerschlagen und vielleicht irgendwelchen ehemaligen Studienkollegen einen neuen Job in irgendeiner verkopften Behörde besorgen. ({1}) Wir wollen – ich glaube, das ist im ganzen Haus so; ich bleibe völlig unpolitisch – das tun, was man heute da draußen auch tut. Wir wollen das BfV prozessorientiert dort stärken, wo es nicht gut ist. Deswegen investieren wir in Personal. Wir haben dem BfV ins Stammbuch geschrieben: mehr Beschäftigte im höheren Dienst, höhere Analysefähigkeit, Wissenschaftskompetenz aufbauen. Warum haben wir das getan? Wenn wir das in dieser Behörde nicht haben – das ist der Kopf einer Behörde –, stellt sich die Frage, wie die operativen Maßnahmen in dieser Behörde denn dann gut funktionieren sollen. ({2}) Deswegen wollen wir hier eine Lösung aus einem Guss. Aber die Idee, die wissenschaftliche und die szenarienhafte Kompetenz aus einer Behörde herauszulösen und sie in einem Institut anzusiedeln und zu denken, das BfV erfülle die operativen Aufgaben dann auf irgendeiner Grundlage, ist doch völlig irre. Unsere Meinung ist – so steht es auch im GroKo-Handlungskatalog –: Diese Behörde braucht diese wissenschaftliche Basis in Köln und in Berlin-Treptow und nicht in irgendeinem Institut. Dann werden auch die operativen Einsätze besser. Danke, dass ich das noch einmal erklären durfte. So steht es nämlich schon seit 2013 im Empfehlungskatalog des NSU-Untersuchungsausschusses. ({3}) Ihr sehr geschätzter Kollege Wolfgang Wieland hat das genau so mitbeschlossen; da waren wir uns vollkommen einig. ({4}) – Ja, Herr Dr. von Notz, ganz ehrlich: Ihr spielt in irgendwelchen Bundestagsstuben Legoland und baut euch euer BfV irgendwie, während wir uns um Deutschland kümmern und versuchen, die Sicherheit der Zukunft herzustellen. Lasst uns über unseren Gesetzentwurf reden! Er macht das BfV besser. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Bernd Baumann für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Grünen wollen den Verfassungsschutz erneuern. Er soll nicht im politischen Meinungskampf missbraucht werden. Sie schreiben in Ihrem Antrag wörtlich: Der Verfassungsschutz dürfe nicht den Eindruck erwecken, er „sei eine Waffe im parteipolitischen Meinungskampf oder ein verlängerter Arm der Regierungsmehrheit oder einer Parteizentrale“. Meine Damen und Herren, diese Einsicht hat die AfD schon lange. Diesen Missbrauch spüren wir am eigenen Leib, und das nicht zu knapp. ({0}) Aber Ihnen, den Grünen, geht es ja gar nicht darum, den Missbrauch abzustellen. Mit Ihrem Antrag wollen Sie den Verfassungsschutz selbst auf Dauer missbrauchen für Ihren ideologischen Kampf gegen rechts; ({1}) denn die alles entscheidende Frage, wer Feind der Verfassung ist und wer nicht, wer vom Verfassungsschutz beobachtet wird und wer nicht, wird bei Ihnen mit der Idee eines neu zu gründenden Instituts beantwortet. In diesem Institut sollen sich Gruppierungen versammeln, die sich angeblich im Kampf gegen sogenannte Menschenfeindlichkeit bewährt hätten. Gegen Menschenfeindlichkeit? Hinter diesem verlogenen Kampfbegriff verschanzen sich links-grüne Ideologen bis hin zu gewalttätigen Antifa-Mitgliedern. Selbst wenn Abgeordnete der AfD wie unser Kollege Frank Magnitz halb totgeschlagen werden, ({2}) nennen Linke das noch Kampf gegen Menschenfeindlichkeit. Solche Gruppierungen sollen jetzt den Verfassungsschutz ersetzen? Es ist eine Farce, was Sie heute hier vorlegen. ({3}) Die Grünen geben allen Ernstes vor, den Verfassungsschutz unabhängiger machen zu wollen. Mit solchen Anträgen, Herr Notz, wird das nichts. Natürlich muss eine so wichtige Behörde unabhängig sein. Das ist doch keine Frage. Aber dann darf ein Verfassungsschutzpräsident wie Hans-Georg Maaßen nicht vom Hof gejagt werden, nur weil er der Kanzlerin die Wahrheit sagt, nur weil er die Verfassung schützt. ({4}) Merkel hat Maaßen geschasst und hastig gegen einen biegsamen Nachfolger austauschen lassen. Kaum im Amt, begann dieser, eilfertig die einzig wirkliche Oppositionspartei zu verfolgen. ({5}) Als Erstes verteufelte er die AfD öffentlich als Prüffall für den Verfassungsschutz. Das ist eine Art politischer Rufmord. Das durfte er gar nicht. Das Landgericht Köln hat dem Verfassungsschutz untersagt, so massiv das Recht zu brechen. Meine Damen und Herren, wenn der Verfassungsschutz selbst die Verfassung bricht, ist diese Republik am Ende. ({6}) Wer hat denn dafür gesorgt, dass dieses Unrecht überhaupt aufgedeckt wurde? Wer hat dafür gesorgt? Die Qualitätsmedien, die kritischen? Die Grünen? ({7}) Innenminister Seehofer? Nein, die AfD hat diesen Angriff auf unseren Rechtsstaat abgewehrt, sodass auch der Inlandsgeheimdienst zu Gesetz und Verfassung zurückkehren musste, und das war höchste Zeit, meine Damen und Herren. ({8}) Aber der Missbrauch ging ja noch weiter. Nach der Kaltstellung von Maaßen forderte am 24. Januar ein interner Rundbrief alle 3 000 Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf, sich zu melden. Wer AfD-Mitglied sei, der müsse sich melden. Selbst wer überhaupt nur ein AfD-Mitglied kenne, müsse sich melden. ({9}) Man werde dann ernste Personalgespräche über einen Jobwechsel führen. Hunderte Mitarbeiter waren empört – zu Recht. Auch hier ging Merkels neuer Präsident viel zu weit. ({10}) Übrigens wird die Linkspartei anders als die AfD seit Jahrzehnten in breiten Teilen vom Verfassungsschutz beobachtet. Von denen, die beim Verfassungsschutz arbeiten, wurde niemals jemand gefragt, ob er Mitglied in der Linkspartei ist oder jemanden kennt, der Mitglied ist. Das zeigt die ganze linksgrüne Schieflage dieser Republik bis tief in die Merkel-CDU hinein. ({11}) Dieser Verfassungsschutz schützt nicht die Verfassung, sondern er schützt die Altparteien vor der größten Oppositionspartei. Würde Viktor Orban in Ungarn seinen Inlandsgeheimdienst säubern, um die stärksten politischen Wettbewerber zu schikanieren, welchen Aufschrei gäbe es in dieser Republik! Sie alle verfolgen Ihre machtpolitischen Interessen in diesem Fall genauso, wie Sie es Viktor Orban unterstellen. Hören Sie auf damit! ({12}) Wie man die Unabhängigkeit von Behörden besser sichert, haben wir im November 2018 mit unserem Gesetzentwurf zur Entpolitisierung der Justiz und Sicherheitsbehörden hier im Bundestag gezeigt. So könnte der Verfassungsschutz unabhängiger werden. ({13}) Aber das wollen Sie ja gar nicht. Sie wollen ja das Gegenteil. Sie wollen den Verfassungsschutz als Waffe im parteipolitischen Wettbewerb. Sie wollen den Verfassungsschutz als Waffe gegen die AfD. Das ist Ihre Absicht. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Kuhle das Wort.

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Lieber Kollege Baumann, angesichts der Berichte, die heute von ZDF und „Spiegel“ über die Verbindungen zwischen Ihrer Fraktion, zwischen Ihrer Partei, der AfD, und der russischen Regierung veröffentlicht worden sind, wäre ich an Ihrer Stelle hier, bei einer Debatte über den Verfassungsschutz und das Thema Spionageabwehr, so klein mit Hut. ({0}) Ich möchte das hier mal vortragen. Es geht in den Zitaten aus E-Mails aus dem Umkreis des russischen Staates, die vom ZDF und vom „Spiegel“ veröffentlicht worden sind, laut dem „Spiegel“ darum, dass die AfD ein – ich zitiere – „Glücksfall für Wladimir Putin“ ist. Aus diesen russischen E-Mails ist weiter zu lesen, dass Abgeordnete Ihrer Fraktion unter – ich zitiere – „absoluter Kontrolle“ Moskaus stehen. ({1}) Weiter ist dort von einem „Aktionsplan“ ({2}) für die Wahlkampagne von AfD-Kandidaten die Rede. ({3}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, angesichts der Europawahl sollten wir uns, wenn wir uns hier über das Thema Spionageabwehr unterhalten, im Klaren darüber sein: Sie haben es gemeinsam mit Ihren Freunden in Moskau auf die liberale Demokratie in Europa und in Deutschland abgesehen, und Sie stehen doch in Wahrheit Wladimir Putin näher als dem Grundgesetz. ({4}) Deswegen sollten Sie sich hüten, den anderen Fraktionen oder der deutschen Öffentlichkeit hier Vorhalte über die Fragen des Verfassungsschutzes und über das Grundgesetz zu machen. Sie sollten sich schämen. ({5}) Dass Sie hier so rumschreien, das zeigt, dass an diesen ganzen Geschichten etwas dran ist. Alle Bürgerinnen und Bürger, die bei der Europawahl wahlberechtigt sind, müssen wissen: Die AfD, das ist die Stimme Moskaus, ({6}) das ist die Stimme gegen die liberale Demokratie bei der Europawahl, und das dürfen unsere Bürgerinnen und Bürger vor der Europawahl auch mal erfahren. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zur Erwiderung hat der Abgeordnete Baumann das Wort. ({0}) – Er hat auch jetzt überwiegend das Wort. Ich bitte also, die entsprechende Ordnung herzustellen. ({1})

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich danke dem Kollegen von der FDP ausdrücklich für diese Einlassung. Besser hätten wir gar nicht beweisen können, mit welchen Methoden, mit welchen Mitteln, ({0}) mit welchen Gerüchten, mit welchen halbgaren Sachen Sie hier kommen. ({1}) Irgendwelche russischen E-Mails: Das trauen Sie sich, hier wiederzugeben und gewählte Abgeordnete damit sozusagen anzugehen. Das ist null Beleg. Das ist noch nicht mal Hörensagen. Das ist das mieseste vom miesesten Gerücht. ({2}) Aber wie man sich hier zur parlamentarischen Demokratie stellt und wie die parlamentarischen Gepflogenheiten eingehalten werden, hat man ja gestern gesehen, als hier eine Vizepräsidentin gewählt werden sollte, ({3}) wie es sich nach der Geschäftsordnung gehört. ({4}) Die gestrige Wahl hat gezeigt und für jeden nachvollziehbar bewiesen, wo nicht mitgezogen wird und wo sich an der parlamentarischen Demokratie vergangen wird. Bei Ihnen geht es nur ums Hörensagen. Sie sind die Parlamentarier, die nicht funktionieren. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich bitte jetzt alle, wenn sie dann weiter an der Debatte teilhaben wollen, erstens Platz zu nehmen, zweitens die Aufmerksamkeit herzustellen. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uli Grötsch für die SPD-Fraktion. ({0})

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank, lieber Kollege Konstantin Kuhle, dass du an dieser Stelle auf diesen wichtigen Aspekt hingewiesen hast. Wahrheit ist nun mal Wahrheit. ({0}) Dass es der rechten Seite oftmals nicht schmeckt, wenn es um die Wahrheit geht, ist eine Erfahrung, die wir in den letzten Jahren ja eigentlich schon zur Genüge gemacht haben. ({1}) Wenn ich sage: „zur Genüge gemacht haben“, dann will ich das auch auf die Grünen beziehen: In der letzten Sitzungswoche standen wir zu dieser Zeit hier und haben über den sinnvollen Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zur Einführung eines unabhängigen Polizeibeauftragten diskutiert. Nun habe ich in dieser Woche eine Erfahrung mit Ihrer Fraktion gemacht, die ich schon öfter gemacht habe. Als ich Ihren Antrag gelesen habe, habe ich mich gefragt: Same procedure as last year? Die Antwort, die ich mir dann für mich selber gegeben habe, war: „Same procedure as every year“, weil es schon fast zur Tradition wird, dass Sie einmal im Jahr die Abschaffung des Bundesamtes für Verfassungsschutz fordern. Immer wieder haben wir es abgelehnt; aber im Kern bleibt die Forderung doch trotzdem die gleiche. Herr Schuster, Sie haben sich eben gefragt, welche Rede Sie heute halten sollen. Sie hätten die Rede vom letzten Jahr noch mal nehmen können, weil im Antrag der Grünen im Kern das Gleiche drinsteht wie beim letzten Mal. ({2}) Ich glaube, dass wir uns hier alle einig sind und dass auch die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen das unterschreiben würden, dass man verlorenes Vertrauen – das wurde eben angesprochen – in den Verfassungsschutz nicht dadurch zurückgewinnt, dass man ihn etwa acht Jahre nach seinem größten Desaster abschafft. Das ist bestimmt kein Mittel, um verlorenes Vertrauen wieder zurückzugewinnen, zumal in einer Zeit – und das ist eigentlich der wichtigste Punkt –, in der wir einen gut aufgestellten und parlamentarisch effektiv kontrollierten Verfassungsschutz so dringend brauchen wie schon lange nicht mehr; ich gehe noch mal ausführlicher darauf ein. Das zeigt uns auch die Festnahme der drei mutmaßlichen Terroristen in Schleswig-Holstein vom Januar dieses Jahres. Diese Festnahmen hätte es nicht gegeben, hätten wir in Deutschland keinen gut aufgestellten und effizient arbeitenden Verfassungsschutz. Das vergisst man aber oftmals. Sie vergessen oftmals, zu erwähnen, was dort an wertvoller Arbeit für die Sicherheit in diesem Land geleistet wird. ({3}) Wenn irgendwas schiefläuft, ist es in gewissen Kreisen, so nenne ich das, politisch durchaus en vogue, zu schimpfen und auf den Verfassungsschutz einzuschlagen usw. usf. Dass wir uns in unserer parlamentarischen Arbeit mit den Fehlern auseinandersetzen, ist Kerngeschäft unserer Arbeit im Innenausschuss und in den anderen Gremien, die sich mit dem Verfassungsschutz befassen. ({4}) Aber dass man dann, wenn etwas gut gemacht wurde, das auch mal unterstreicht, halte ich für einen ganz wichtigen Aspekt, der hier auch nicht unerwähnt bleiben soll. ({5}) Ganz ohne Nachrichtendienste geht es offenbar auch bei den Grünen nicht. Aber statt des Verfassungsschutzes wollen Sie hier ein unabhängiges Institut zum Schutz der Verfassung und ein Bundesamt für Gefahrenerkennung und Spionageabwehr. Ich habe mir, als ich neu im Bundestag war, die Liste angeschaut, welche Bundesämter es in Deutschland gibt. Ich musste bei manchen Titeln schmunzeln und habe mir gedacht, für was es nicht alles ein Bundesamt bei uns im Land gibt. Das Bundesamt für Gefahrenerkennung und Spionageabwehr haben wir schon, das würden wir aber nicht auf der Liste finden. Das ist gut untergebracht im Bundesamt für Verfassungsschutz, in der dort zuständigen Abteilung. Dass Sie trotzdem V-Leute einsetzen wollen, so steht es in Ihrem Antrag, bestätigt wiederum uns als Große Koalition in unseren Reformen, die wir hinsichtlich des Einsatzes von V-Leuten gemacht haben. ({6}) Hinzu kommt noch eine mysteriöse Stelle beim Bundeskriminalamt, die nachrichtendienstlich arbeiten soll – Stichwort: Trennungsgebot –, und all das, was sonst noch im Antrag steht. Ist das wirklich Ihr Ernst, liebe Kolleginnen und Kollegen? ({7}) Ich habe mich ernsthaft gefragt, ob Sie es ernst meinen mit diesem Antrag in diesen Zeiten. Während wir hier sitzen, arbeiten beim Bundesamt für Verfassungsschutz die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im internationalen Verbund an der Aufklärung der Strukturen des Attentäters von Christchurch. Wir haben alle in dieser Woche gelesen, dass er in der ganzen Welt unterwegs war, dass er dem Vernehmen nach auch in Deutschland war, dass er europäische Bezüge hatte. Wenn wir eine Antwort darauf haben wollen, welche Bezüge es nach Deutschland gibt, welche deutschen Neonazis und Rechtsextremisten er als seine Brüder angesehen hat, dann brauchen wir das Bundesamt für Verfassungsschutz, weil es die einzige Stelle ist, die uns die Antwort auf solche komplexen Fragen geben kann, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Weiterentwickeln muss man das Amt, ganz ohne Frage. Das liegt auch in der Natur der Sache und in der Art und Weise, wie das Amt arbeitet und für was es zuständig ist. Ich glaube, dass wir dem auch gerecht werden. Es geht dabei aber immer um die maßvolle Mitte. Es geht nicht darum, entweder das Amt abzuschaffen oder es mit allen Befugnissen auszustatten, die irgendjemandem irgendwann einmal einfallen. Es geht um die maßvolle Mitte. In keiner Sicherheitsbehörde des Bundes ist wahrscheinlich dieser Spagat zwischen Freiheit und Sicherheit auf der einen Seite so notwendig und auf der anderen Seite so schwierig, wie es im Bundesamt für Verfassungsschutz der Fall ist. Gerade deshalb ist es gut, dass es so effektiv kontrolliert wird, wie wir das nach Kräften jede Woche tun. Ich will Ihnen zum Ende meiner Rede noch einen Grund geben, warum ich glaube, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz gerade in diesen Zeiten – ich habe das eingangs schon gesagt – so extrem wichtig ist. Wir alle spüren doch, dass sich in diesem Hause etwas verändert hat, dass das Klima im Deutschen Bundestag, hier im Plenarsaal und in den Ausschusssälen und sogar auf den Gängen des Hauses seit 2017 anders geworden ist. Mit der Klimaveränderung meine ich Nachrichten, die es ihrer Lesart nach gar nicht gibt. ({9}) – Sie sind diejenigen, die den Klimawandel leugnen, um das noch einmal zu sagen. Wir haben doch alle erst gestern gelesen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass ein Funktionär der Identitären Bewegung ein Mitarbeiter bei einem Abgeordneten der AfD-Bundestagsfraktion ist. Gerade für solche Sachverhalte, wenn den Rechtsextremisten oder gar den Neonazis der Zugang zu diesem Haus ermöglicht wird, brauchen wir ein gut arbeitendes und ein genau so arbeitendes Bundesamt für Verfassungsschutz, wie es die Abteilung Rechtsextremismus jetzt tut. Ich bin sehr wohl der Meinung, dass die Prioritäten beim Amt absolut richtig gesetzt sind. Ich bin darauf gespannt, welche Antworten ihr neuester und wohl interessantester Prüffall der letzten Jahrzehnte hervorbringen wird. Ich bin froh, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das BfV diese Bestrebungen, die ich eben genannt habe, ganz klar einstuft und sehr genau beobachtet. Zum Schutz vor den Demokratiefeinden gibt es den Verfassungsschutz. Um die Verfassung vor den Feinden derselbigen zu schützen, dafür gibt es das Bundesamt für Verfassungsschutz heute, und ({10}) dafür brauchen wir es auch in Zukunft. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Benjamin Strasser für die FDP-Fraktion. ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was uns hier heute von den Grünen als Neustart verkauft wird, ist im Prinzip nichts anderes als die Zerschlagung des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Alter Wein in neuen Schläuchen – leider –; denn Grüne und Linke fordern dies schon seit dem Jahr 2012 in schöner Regelmäßigkeit. Mich verwundert es wenig, wenn man in die Mitgliederschaft der Ränder schaut – ganz links und ganz rechts außen –, dass diese Parteien ein Problem mit dem Verfassungsschutz haben. Dass aber ausgerechnet die Grünen jetzt ins selbe Horn stoßen, gibt mir schon zu denken. ({0}) Ich möchte mit den Gemeinsamkeiten in diesem Antrag beginnen, die es durchaus gibt, wenn man ihn liest. Das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum auf eine rechtliche Grundlage zu stellen, wie Sie es fordern, unterstützen wir Freien Demokraten explizit. Wir müssen den Zustand der organisierten Verantwortungslosigkeit in diesem Gremium beenden. Der Fall Amri zeigt es exemplarisch. ({1}) Hier sind wir auch gerne bereit, gemeinsame Initiativen mit Ihnen umzusetzen. Damit hat es sich mit den Gemeinsamkeiten schon erledigt. Eines verstehe ich wirklich nicht, lieber Kollege von Notz, liebe Kollegin Mihalic: ({2}) Wir sitzen jeden Donnerstag fast 14 Stunden im Untersuchungsausschuss. Wir erleben, dass 40 Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder offensichtlich nicht in der Lage sind, in terroristischen Fällen miteinander zu kommunizieren. Und was ist Ihre Antwort? Sie gründen mit einem Institut die 41. Behörde. ({3}) Da ist doch das Chaos vorprogrammiert. Dann werden wir in Zukunft nicht nur über reine Polizeifälle, sondern über reine Institutsfälle diskutieren. Und Sie geben dem Nachrichtendienst die Chance, sich herauszureden. Also, lieber Kollege von Notz, ich habe ein megakrasses Störgefühl, wenn Sie diese Kiste wirklich durchziehen. ({4}) Wir brauchen weniger Behörden, die mehr Sicherheit organisieren, und nicht mehr Behörden, die sich noch weniger verantwortlich fühlen. Genau deshalb haben wir in diesem Haus vor wenigen Wochen einen Antrag zur Einsetzung einer Föderalismuskommission III eingebracht, die unsere Sicherheitsarchitektur insgesamt neu ordnet und klare Verantwortlichkeiten schafft. Der Antrag liegt auf dem Tisch. Stimmen Sie doch einfach zu. Beide Anträge – der Linken und der Grünen – zielen letztendlich auf die faktische Abschaffung des Bundesamtes für Verfassungsschutz ab. ({5}) Diese Antwort ist mir im Hinblick auf das NSU-Desaster und auf den Fall Amri einfach zu billig. Die Probleme liegen auf der Hand, und die sprechen Sie auch an: der Umgang mit den V-Personen. Es ist eine berechtigte Frage, ob der Staat Personen, Extremisten finanzieren sollte, die er eigentlich bekämpft. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass wir auf die Informationen dieser Personen, wenn wir terroristische Zellen aufklären wollen, nicht verzichten können. Die Lösung ist deshalb nicht die Abschaffung des V-Personen-Systems, sondern die parlamentarische Kontrolle hinsichtlich der V-Mann-Führung zu stärken, ({6}) und zwar für das ganze Parlament. Hält sich der Verfassungsschutz an die Regeln, die wir uns 2015 gegeben haben? Ich weiß es nicht. Ich sitze nicht im Parlamentarischen Kontrollgremium. Es ist ein Punkt, über den wir nachdenken sollten, ob wir beispielsweise einen Nachrichtendienstbeauftragten brauchen. An solche Dinge müssen wir ran, wenn wir eine Behörde haben wollen, die mit dazu beiträgt, unsere Verfassung zu schützen. Ich bin mir sicher, dass Reformen innerhalb des Verfassungsschutzes nicht nur nötig, sondern auch möglich sind. Wir Freie Demokraten können beiden Anträgen wenig abgewinnen. Wir werden unsere Verfassung und unsere Demokratie in Zeiten der Angriffe von allen Seiten nicht dadurch schützen, dass wir einen Stuhlkreis aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einrichten, sondern wir müssen das Bundesamt so aufstellen, dass es auch handlungsfähig ist. Vielen herzlichen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. André Hahn für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Bundesamt für Verfassungsschutz in seiner jetzigen Form und bei den geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen ist weder reformierbar noch wirksam kontrollierbar und muss deshalb aus Sicht der Linken aufgelöst werden. ({0}) Diese Forderung meiner Fraktion ist nicht neu. Ich freue mich, dass nun auch die Grünen einen Antrag stellen, der im Kern ebenfalls diese Zielsetzung verfolgt. Insofern bin ich dankbar für die heutige Debatte, gibt sie uns doch Gelegenheit, unsere Position ebenfalls vorzustellen. Unser Antrag unterscheidet sich von dem der Grünen in einem ganz zentralen Punkt: Wir als Linke wollen in Zukunft, nach der Auflösung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, keinen wie auch immer gearteten Inlandsgeheimdienst, wir wollen keine neue Behörde mit nachrichtendienstlichen Befugnissen. ({1}) Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen enthält jedoch leider einen solchen Passus. Bei vielen anderen Forderungen, Herr Kollege von Notz, gibt es jedoch Übereinstimmungen. Deshalb freue ich mich auf die Beratungen im Innenausschuss. Meine Damen und Herren, ich habe eingangs darauf hingewiesen, dass wir schon lange die Position vertreten, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz abgeschafft werden muss. Es hat nicht nur beim Thema NSU, beim Umgang mit V-Leuten, bei der Vernichtung von wichtigen Akten, bei der fragwürdigen Weitergabe von Informationen für den Drohnenkrieg der USA, der Hunderte unschuldige Opfer forderte, bei der völlig unzureichenden Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus und mit Herrn Maaßen als Präsidenten, der jedwede parlamentarische Kontrolle als lästig empfand und zu unterlaufen suchte, derart viele Pannen und Skandale gegeben, dass eigentlich nur noch die geordnete Abwicklung bleibt. ({2}) Herr Kollege Schuster, Sie haben auf den Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses aus dem Jahr 2013 hingewiesen. Das Kernproblem ist doch, dass seitdem nichts wirklich besser geworden ist. Deshalb muss der Bundestag aus unserer Sicht handeln. ({3}) In früheren Debatten hat man uns als Linke ja häufig vorgeworfen, wir wollten das Bundesamt für Verfassungsschutz einfach nur abschaffen, ohne zu sagen, wie es anschließend weitergehen und wer dessen bisherige Aufgaben künftig übernehmen soll. Unser heutiger Antrag trifft genau dazu ganz klare Aussagen, sodass diese Kritik selbst dann obsolet sein dürfte, wenn man unsere Vorschläge inhaltlich nicht teilt. Unser Antrag enthält im Kern folgende Eckpunkte: Erstens. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wird aufgelöst. Stattdessen soll eine Zentralstelle gebildet werden, wie sie in Artikel 87 des Grundgesetzes zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Schutzes der Verfassung vorgesehen ist. Diese arbeitet ausdrücklich nicht mit nachrichtendienstlichen Mitteln und hat auch keine eigenständige Befugnis zur Informationsbeschaffung. Vielmehr nimmt sie Erkenntnisse über verfassungsfeindliche Aktivitäten von den Behörden des Bundes und der Länder sowie aus dem Ausland entgegen, ({4}) sammelt diese und koordiniert den Austausch zwischen den Ländern und den Strafverfolgungsbehörden. Zweitens. Eine neu einzurichtende Bundesstiftung zur Beobachtung und Erforschung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit übernimmt die Aufgabe der Gefahrenabschätzung. Die dem demokratischen Gemeinwesen entgegenstehenden Bedrohungen, seien sie religiös, politisch oder rassistisch motiviert, werden von dieser Stiftung wissenschaftlich untersucht und dokumentiert, die zugleich öffentliche Aufklärung betreibt und die Opfer unterstützt. ({5}) Drittens. Hinweise von ausländischen Geheimdiensten und anderen Behörden auf womöglich geplante Terroranschläge gehen künftig an das Bundeskriminalamt. Das Bundeskriminalamt bewertet diese ({6}) und leitet die entsprechenden Ermittlungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen ein. Viertens. Sicherheitsüberprüfungen in besonders sensiblen Bereichen werden auch künftig notwendig sein, aber dafür ist kein Inlandsgeheimdienst notwendig. Diese Aufgabe kann eine zivile Bundesanstalt für Geheim- und Spionageschutz wahrnehmen. Fünftens. Schließlich ist ein Inlandsgeheimdienst auch nicht erforderlich, um Cyberangriffe auf öffentliche Einrichtungen oder die Wirtschaft aufzuklären. Das kann das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik viel besser. Es muss aber personell gestärkt und vor allem aus der Unterstellung unter das Innenministerium befreit werden. ({7}) Ich komme zum Schluss. Dieser Maßnahmenkatalog zeigt, dass die Auflösung des BfV mit dem notwendigen Willen möglich ist. Die immer wieder behaupteten Sicherheitslücken entstehen durch seinen Wegfall nicht. Der Schutz der Verfassung ist definitiv auch ohne einen Inlandsgeheimdienst und ohne nachrichtendienstliche Mittel möglich. Genau das wollen wir. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Hans-Jürgen Irmer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Jürgen Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst als Bürger dieses wunderschönen Landes, als Mitglied des Deutschen Bundestages, aber auch als Vorsitzender der unabhängigen, überparteilichen Bürgerinitiative Pro Polizei Wetzlar – mit 850 Mitgliedern, die allein eines machen: Polizeibehörden und Sicherheitsbehörden unterstützen – allen Sicherheitsbehörden in diesem Staat herzlich danksagen. Dazu gehört natürlich und in erster Linie auch das Bundesamt für Verfassungsschutz. ({0}) Ich schließe in diesen Dank ausdrücklich auch Hans-­Georg Maaßen ein, der über viele Jahrzehnte eine hervorragende Arbeit geleistet hat, und ich schließe mich den guten Glückwünschen für den neuen Chef des Bundesamtes, Thomas Haldenwang, an. Ich bin überzeugt davon, dass auch unter seiner Leitung eine hervorragende Arbeit im Sinne der Sicherheit Deutschlands geleistet werden wird. ({1}) Meine Damen und Herren, wie ist die Situation? Im islamistischen Bereich hatten wir im Jahre 2017 ein Potenzial von 25 810 Personen, inklusive der Salafisten. Das sind 1 400 mehr als 2016. Im Bereich des Rechtsextremismus hatten wir 2016 ein Potenzial von 23 100 Personen, 2017 waren es 24 000 – 900 mehr, inklusive der Identitären –, davon mehr als 12 000 gewaltorientierte. Im Bereich des Linksextremismus hatten wir 2016 ein Potenzial von 28 500 Personen, 2017 waren es 29 500, davon 9 000 gewaltorientierte – Hamburg, Frankfurt und Hambacher Forst lassen grüßen. Das heißt, meine Damen und Herren, wir haben eine wachsende Bedrohung. Deshalb brauchen wir nicht weniger Verfassungsschutz, sondern wir brauchen mehr Verfassungsschutz. Und deshalb haben wir auch zu Recht im Rahmen der Koalitionsvereinbarung mit der SPD festgehalten: Wir wollen eine maßvolle und sachgerechte Kompetenzerweiterung. Richtig! Da geht es um Trojanersoftware, um Datenaustausch zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz und anderen Ämtern wie Europol und Interpol. Verbrechen kennen keine Grenzen. Deshalb brauchen wir einen zielgerichteten Datenaustausch im Interesse der inneren Sicherheit. ({2}) Dass die SED-Nachfolger das nicht wollen, ist mir klar; das hat der Kollege Hahn hinreichend begründet, und es fehlt mir die Zeit, darauf einzugehen. Aber wenn man weiß, dass es eine fließende Grenze zwischen Linken und Linksextremen gibt – mit Antifa und Roter Hilfe –, ({3}) dann muss man sich nicht wundern, dass sowohl die Linksextremen als auch Sie den Verfassungsschutz abschaffen wollen. An die Adresse der Grünen richte ich die Frage, warum Sie letzten Endes auch das Geschäft der AfD betreiben – wenn ich an Herrn Gauland denke, der den Verfassungsschutz auch abschaffen will. ({4}) Bei Ihnen, meine Damen und Herren, wundert es mich schon – das muss ich ganz offen sagen –, dass Sie diese Forderung indirekt aufnehmen, indem Sie versuchen, den Verfassungsschutz de facto zu kastrieren. ({5}) Ich will Ihnen mal ein Zitat von Frau Kollegin Mihalic vortragen – ich zitiere aus einer Zeitung, die nicht zu meinem Tagesgeschäft gehört –: Wir wollen ein unabhängiges wissenschaftliches Institut zum Schutz der Verfassung, das anhand von offen zugänglichen Quellen ({6}) extremistische Bestrebungen aufklärt … ({7}) Meine Damen und Herren, wie naiv muss man denn eigentlich sein? Glauben Sie ernsthaft, mit offenen Quellen ({8}) im Untergrund agierende Terroristen, Islamisten und andere enttarnen zu können? ({9}) Die klopfen sich doch vor Freude auf die Schenkel, wenn sie das hören, was Sie sagen. ({10}) Wie naiv muss man sein? Sie betreiben damit indirekt das Geschäft der Radikalen von rechts und links außen. Das kann doch nicht Ihr Ansinnen sein. ({11}) Deshalb sage ich Ihnen – auch wenn Sie laut sind –: Wir sind mit unserer Grundposition auf dem richtigen Weg, indem wir sagen, wir wollen den Verfassungsschutz stärken, ausbauen. Wir tragen im Gegensatz zu Ihnen zur inneren Sicherheit in Deutschland bei. Herzlichen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Philipp Amthor für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben ja dieser Tage das tolle Phänomen, dass die Grünen jetzt nicht mehr nur die nette Spartenpartei sein wollen, sondern die mit Moral aufgeladene, superneue Volkspartei. Dazu gehört jetzt auch scheinbar das neue Profil in der Sicherheitspolitik. ({0}) Aber diese Debatte hat heute eines ganz klar gezeigt: ({1}) Dieselben Grünen, die immer in der „Tagesschau“ für die Sicherheitsbehörden reden, zeigen hier im Parlament ihr wahres Gesicht, ({2}) und das beinhaltet, dass Sie am Mittwoch mit der Polizeilichen Kriminalstatistik gegen uns agitiert haben. In der letzten Sitzungswoche haben Sie hier einen Oberaufseher für die Polizei beim Bundestag gefordert. Und, Herr von Notz, jedes Mal, wenn wir über neue Kompetenzen für die Sicherheitsbehörden reden, werfen Sie mit irgendeiner Verfassungswidrigkeit um sich, sodass ich Ihnen empfehlen würde, mal eine richtige Verfassung zu kaufen und darin zu lesen. Und heute der Höhepunkt: Kritik am Bundesamt für Verfassungsschutz. Ja, Sie sagen, Sie wollten einen Neustart der Behörde; aber das, was Sie in Wahrheit wollen, ist, diese Behörde aufzulösen. Damit machen Sie sich mit den Linken gemein. Das lehnen wir ab. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Ende dieser Debatte muss man doch mal sagen: So schlecht, wie wir über unsere Nachrichtendienste hier im Parlament reden, redet kein Land der Welt über seine Nachrichtendienste. Drei von sechs Fraktionen in diesem Haus wollen das Bundesamt für Verfassungsschutz auflösen. Im Parlamentarischen Kontrollgremium sitzen der Kollege Hahn und der Kollege von Notz, die sich ein katastrophales Zeugnis für ihre Arbeit ausstellen, wenn sie sagen: Die Behörde ist nicht kontrollierbar. – Wir sollten über unsere Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden nicht schlecht reden. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind stolz auf unsere Beamten. ({4}) Wir sind offen für Reformen, aber wir reden sie nicht schlecht. Dazu gibt es auch gar keinen Anlass. ({5}) Natürlich kann man Kritik am Bundesamt für Verfassungsschutz üben, ({6}) aber es sind auch Erfolge vorzuweisen. Schauen wir uns die Erfolge im Bereich Islamismus und Terrorismus an, etwa den vereitelten Rizin-Anschlag in Köln. Schauen wir uns die erfolgreiche Arbeit im Bereich Rechts- und Linksextremismus an, die Beiträge zum NPD-Verbotsverfahren, das Vereinsverbot gegen islamistische Gruppen oder gegen „linksunten.indymedia“. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat hier jeweils gute Beiträge geleistet. ({7}) Dass Sie auf dem linken Auge blind sind, das kann man in fast jeder Zeile Ihres Antrags lesen. Sie kritisieren das Bundesamt für Verfassungsschutz für Defizite im Umgang mit Rechtsextremismus und mit dem Islamismus. Man müsste sich mit dem Linksextremismus beschäftigen. ({8}) Aber das scheint Ihnen ein Dorn im Auge zu sein. Wir sind nicht auf dem linken Auge blind. Wir stellen uns auch gegen den Linksextremismus. Es ist deutlich geworden, wie Sie das Bundesamt für Verfassungsschutz umbauen wollen. Sie wollen keinen starken Sicherheitsapparat. ({9}) Sie wollen lieber in einem kleinen Stuhlkreis à la Prenzlauer Berg auf einem schönen Samtsofa zusammen mit Ihren Soziologenfreunden die Welt erklären. ({10}) Wir wollen stattdessen eine funktionierende Sicherheitsbehörde. ({11}) Unsere Nachrichtendienste sind dem objektiven Verfassungsschutz verpflichtet. Der objektive Verfassungsschutz wird nicht durch Ihre links-grüne Lebensrealität bestimmt, ({12}) sondern durch einen klaren Blick gegenüber rechtem und linkem Extremismus. Damit müssen alle Außenseiten dieses Parlaments leben. Für uns zählt nicht ein Verfassungsschutz im politischen Wettbewerb, sondern ein objektiver Verfassungsschutz. Das wollen wir mit vernünftigen Reformen voranbringen. Deswegen wird das Innenministerium unter Horst Seehofer einen Gesetzentwurf zur Harmonisierung des Verfassungsschutzrechtes vorlegen. ({13}) Das ist eine gute Diskussionsgrundlage, nicht Ihre Ideen, nicht Ihr Schlechtreden. Wir machen gute Arbeit. Wir stehen hinter unseren Beamten und für einen starken Staat. Ihre Anträge lehnen wir ab. Herzlichen Dank. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/8700 und 19/8960 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Kriegsallianz, angeführt von Saudi-Arabien, bombardiert auf grausame Weise seit vier Jahren den Jemen. Sie bricht Völkerrecht, sie blockiert Hilfslieferungen und verursacht unendliches Leid. Gerade erst haben Journalistinnen und Journalisten – wieder einmal mit ihrer Recherche unter dem Hashtag #GermanArms – beispielsweise anhand von gefundenen Trümmerteilen anschaulich dargestellt, wie deutsche und europäische Waffen im blutigen Jemen-Krieg landen. Das wollten Sie von der SPD in den Koalitionsverhandlungen im letzten Jahr ja auch verhindern. Aber kaum war die Tinte des Vertrags trocken, wurde vor einem Jahr gleich die Lieferung von acht Kriegsschiffen nach Saudi-Arabien genehmigt. Denn Sie haben in letzter Minute eine riesige Hintertür in den Koalitionsvertrag eingebaut, sodass bereits genehmigte Waffen einfach weiter geliefert werden durften. Im Herbst 2018 kam dann ein Exportstopp. Darüber, wie lange der dauern soll, wurde lange heftig gestritten. Jetzt kommen wieder ein paar Monate – also nur befristet – hinzu, aber Bauteile an Rüstungsunternehmen in Europa dürfen weiter geliefert werden. Die Bundesregierung will nun freundlich darum bitten, dass die Auslieferung nicht erfolgt, und sich von der saudi-arabischen Regierung versprechen lassen, dass wenigstens diese Waffen nicht im Jemen-Krieg eingesetzt werden. Aber seien Sie ehrlich: Sie von der Bunderegierung spielen doch einfach nur auf Zeit. Sie hoffen, dass die entsprechenden Güter ohnehin aus technischen Gründen gerade nicht endmontiert werden. Meine Damen und Herren, diese naive und abenteuerliche Konstruktion einen Exportstopp zu nennen, das ist schon nicht mehr Augenwischerei, das ist einfach extrem verlogen. ({0}) Mit Ihrem Zickzackkurs in der Rüstungsexportpolitik haben Sie einen Scherbenhaufen sondergleichen geschaffen: Der Jemen-Krieg geht weiter. Die europäischen Partner sind verärgert. Es gibt weiter Rüstungsexporte an die Kriegsparteien im Jemen, auch mit deutscher Zulieferung. Die Unternehmen haben keine Planungssicherheit, Arbeitsplätze werden gefährdet, und Polizei oder Zoll müssen vielleicht die weiteren, bereits bestellten Schiffe kaufen, die sie überhaupt nicht brauchen. Ihre Politik sorgt nur für eines, nämlich für maximalen Schaden an allen Fronten. ({1}) Meine Damen und Herren, Ihre Rüstungsexportpolitik ist überhaupt nicht restriktiv. Das zeigen schon Ihre eigenen Rüstungsexportberichte und die jährlichen Ausfuhren in Milliardenhöhe an Länder außerhalb von EU und NATO. Ihre Rüstungsexportpolitik ist, wie es die französische Botschafterin kürzlich treffend in einem Gastbeitrag formuliert hat – Zitat –, „nicht restriktiv, sondern unberechenbar“. Das ist ein riesiges Problem. ({2}) – Herr Amthor, kommen wir zu den Fakten. ({3}) Die können wir uns gerne anschauen. Es ist nämlich ganz sicher nicht die Europäische Union, die nach mehr Waffenexporten an Diktaturen und in Kriegsgebiete ruft. Das EU-Parlament hat über Fraktionsgrenzen hinweg schon 2016 einen Rüstungsexportstopp nach Saudi-Arabien gefordert. Die Niederlande, Dänemark, Finnland, Schweden und Norwegen haben das unterstützt. Und von besonderer Relevanz dabei ist – Sie sind Jurist und kennen sich gut aus –: Es gibt bereits EU-Kriterien für Waffenexporte, auf die sich alle europäischen Staaten verpflichtet haben. ({4}) Die untersagen Lieferungen in Kriegs- und Krisengebiete. Die legen Wert auf Menschenrechte. ({5}) Wenn also nun Präsident Macron fordert, dass für den neuen deutsch-französischen Kampfjet keinerlei Exportbeschränkungen gelten sollen, dann ist es nicht die Antwort der guten Europäer, zu sagen: Ach ja, das ist ja super, da sind wir gern dabei. – Vielmehr würde ein guter Europäer antworten: Wir haben doch bereits kluge gemeinsame Regeln für Frieden, Sicherheit und Menschenrechte. Die sollten wir anwenden und nicht in die Tonne kloppen. ({6}) Wenn die europäische Zusammenarbeit als Argument für Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien angeführt wird, dann kann man nur sagen: Wie falsch und zynisch ist das denn? ({7}) Aber besonders entlarvend ist die Argumentation vor dem Hintergrund, dass die Bundesregierung sonst überhaupt keine Skrupel hat, Partnerschaftsstaaten in Europa heftig vor den Kopf zu stoßen, um mit der Brechstange nationale Alleingänge durchzusetzen, wo es Ihnen passt, wo Sie das wollen. Hier ein paar Beispiele: Union und SPD haben bisher ihr politisches Kapital in Europa dafür eingesetzt, wichtige und dringend notwendige Initiativen zu blockieren. Was ist mit konsequentem Klimaschutz? Die Bundesregierung streicht das 1,5-Grad-Ziel aus den EU-Beschlüssen und macht Druck für niedrige Grenzwerte beim Diesel. Endlich eine echte Reform der Wirtschafts- und Währungsunion, damit bei der nächsten Finanzkrise nicht die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler die Zeche zahlen müssen? Die GroKo blockiert. Eine gemeinsame europäische Haltung bei Nord Stream 2? Die Bundesregierung verärgert alle europäischen Partner. Aber bei Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien werden jetzt die EU und die europäischen Partner vorgeschoben, und es wird behauptet, da müsse man sich jetzt fügen. Das ist ein Offenbarungseid und zeigt die wahren Prioritäten dieser Großen Koalition. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit?

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dieses Land braucht keine Bundesregierung, die für mehr Rüstungsexporte kämpft, sondern eine, die sich für mehr Klimaschutz und Frieden, Sicherheit und Menschenrechte auf der Welt einsetzt. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich möchte daran erinnern, dass wir jetzt in der Aktuellen Stunde sind. Es gibt also keine Zwischenfragen und Zwischenbemerkungen. Außerdem beträgt die Redezeit für alle Rednerinnen und Redner exakt fünf Minuten. Als Nächster hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer aus der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat geht es heute um die Frage: Wie gehen wir mit Saudi-Arabien und konkreten Rüstungsexportgenehmigungen um? Es geht aber leider mittlerweile um mehr – und da bin ich ob der selektiven Wahrnehmung der Vorrednerin schon etwas verwundert –, nämlich um die Frage: Ist Deutschland eigentlich noch zuverlässiger Partner für europäische Rüstungsprojekte? Sind wir überhaupt noch kooperations- und bündnisfähig mit unserer Politik, die wir verfolgen – auch vor dem Hintergrund Ihrer Argumentation? Was Saudi-Arabien angeht, ist – um das auch klarzustellen – der Mord an Khashoggi inakzeptabel und zu verurteilen. Das machen wir auch tagein, tagaus, indem wir mit den Verantwortlichen in Saudi-Arabien sprechen. ({0}) Es ist auch richtig, dass der Jemen-Krieg dringend beendet werden muss und eine Lösung benötigt wird. Tatsache ist aber auch, dass Saudi-Arabien für Deutschland und Europa von strategischer Bedeutung auf der Arabischen Halbinsel ist. ({1}) Deshalb anerkenne ich ausdrücklich die Bemühungen zur Aufarbeitung und das Bestreben in Saudi-Arabien, sicherzustellen, dass sich solche Dinge nicht wiederholen. Da müssen wir mithelfen, weil wir ein Interesse daran haben, und sollten hier nicht nur stehen und den moralischen Zeigefinger erheben. Ich glaube, dass die Modernisierung und Öffnung in Saudi-Arabien, die wir in den letzten ein, zwei Jahren sehen, durchaus in die richtige Richtung geht. Wir mögen es vielleicht noch etwas belächeln, wenn Frauen dort jetzt Auto fahren dürfen oder Zugang zu Berufen haben, die bisher Männern vorbehalten waren. Aber es geht eindeutig in die richtige Richtung und hat für Saudi-Arabien fast schon revolutionären Charakter. Deshalb ist es richtig, dies zu unterstützen. ({2}) Jetzt frage ich: War es deshalb klug, dass Deutschland unilateral und unabgestimmt ({3}) als einziges Land der Welt den Export von bereits genehmigten Gütern gestoppt hat? Wir haben ja nicht nur den Export von deutschen Gütern wie den Küstenschutzbooten, über die gesprochen wird – die im Übrigen, wie der Name schon sagt, zum Küstenschutz und zur Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus auf See eingesetzt werden sollen –, gestoppt, sondern auch Zulieferungen zu gemeinsamen europäischen Projekten, ohne dass wir das mit unseren Partnern abgestimmt haben, obwohl wir sonst die Multilateralität immer gerne im Munde führen. ({4}) Wir haben unsere Partner in Frankreich, in Großbritannien, in Spanien und auch in den USA brüskiert und quasi zum Vertragsbruch gezwungen, weil diese jetzt nicht mehr in der Lage sind, die Waren zu liefern, die zugesagt waren. ({5}) Dies ist der wahre Skandal, meine Damen und Herren; denn das ist uneuropäisch und, ehrlich gesagt, auch gefährlich. ({6}) Hier stellt sich nämlich die Frage, ob Deutschland überhaupt noch ein ernstzunehmender europäischer Kooperationspartner ist. Unter dem Deckmantel des moralischen Zeigefingers isolieren wir uns, obwohl die Welt nicht sicherer wird. Letzte Woche fand die erste Sitzung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung statt. Viele von Ihnen haben daran teilgenommen. Sie hat 50 deutsche Mitglieder. Im Aachener Vertrag haben wir klar festgelegt, dass es eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und gemeinsame Kooperationsprojekte geben soll. ({7}) Bei diesen gemeinsamen Kooperationsprojekten geht es nicht nur um die Entwicklung und die Produktion, sondern auch um die Endverwendung, also darum, wie und wo die Güter eingesetzt werden. Da brauchen wir gemeinsame Bedingungen, die – genau so, wie es richtig zitiert wurde; ich würde mich freuen, wenn die Grünen sich dann konstruktiv beteiligen würden – verantwortungsvoll sind. ({8}) Unser Exportkontrollsystem ist, wie die französische Botschafterin sagt, „nicht restriktiv, sondern unberechenbar“. Wir erteilen Exportgenehmigungen nach Bauchgefühl. ({9}) Deshalb ist es notwendig, dass wir diese Diskussion nicht nur mit dem Koalitionspartner, bei dem im Moment in der Tat über Exportgenehmigungen nach Bauchgefühl entschieden wird, sondern im ganzen Haus führen. Denn wir können zwar erklären, dass wir als Union dort verantwortungsvoll handeln. Nach außen ist die Wahrnehmung aber: Deutschland als Land ist unzuverlässig. ({10}) Diesen gefährlichen Weg einer deutschen Isolierung und eines deutschen Alleingangs sollten wir nicht gehen. ({11}) Deshalb ist es wichtig, dass wir diese europäische Säule und auch die deutsch-französische Säule stärken. Wir sollten das, was vereinbart ist, konkret unterlegen, zum Beispiel mit De-minimis-Regelungen, indem wir sagen: Ab einem bestimmten Prozentsatz geht es nicht; darunter kann geliefert werden – so, wie das früher der Fall war. Konkrete Projekte, die in die Zukunft gehen, müssen jetzt und für die Zukunft verlässlich geplant werden. Denn sonst wird es zu Rüstungsgütern „German-free“ kommen: Es wird keine Kooperation mit Deutschland geben, und wir machen uns einseitig abhängig von anderen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Pfeiffer, achten Sie bitte auf die Zeit.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das macht die CDU/CSU nicht mit. Wir stehen für eine verantwortungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik, ({0}) zu der auch klare und verantwortungsbewusste Regeln beim Rüstungsexport gehören. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Rüdiger Lucassen für die AfD-Fraktion. ({0})

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer nicht offen zu seinen Überzeugungen steht, diese erklärt und auch verteidigt, wird in die Ecke gedrängt. Genau das passiert gerade wieder der CDU. Ein Zeugnis dafür hat mein Vorredner von der CDU hier abgegeben. Die Regierung will eigentlich exportieren, ist aber nicht in der Lage, die radikalen Linken in den eigenen Reihen zu bremsen. ({0}) Wenn Realisten nicht für ihre Überzeugung stehen, folgt die Unterwerfung. ({1}) Die deutschen Rüstungsexportregeln sind klar: keine Lieferungen an Krieg führende Staaten. Saudi-Arabien führt einen Krieg im Jemen. Dessen Bilanz: bisher mindestens 60 000 Tote; allein die Saudis sollen zwischen 1 000 und 3 000 Soldaten verloren haben. Das ist ein Krieg. Daraus folgt für die AfD: totaler Lieferstopp auch von Systemen, die deutsche Komponenten enthalten. ({2}) Deutschland ist auf den Export von Wehrtechnik angewiesen. Trotz des immensen Aufholbedarfs bei unseren eigenen Streitkräften kann die Bundeswehr niemals ausreichende Stückzahlen abnehmen, um Forschung, Entwicklung und Produktion heutiger Waffensysteme bezahlen zu können. ({3}) Deutsche Rüstungsschmieden brauchen daher eine verlässliche Exportquote, um weiter existieren zu können. Die AfD will diese Quote, weil wir eine nationale Verteidigungsindustrie wollen, weil wir den Erhalt von Schlüsseltechnologien im eigenen Land wollen. ({4}) Die großen Rüstungsvorhaben sind zu teuer und technologisch zu aufwendig, als dass Deutschland sie alleine entwickeln und herstellen könnte. Wir brauchen in der Rüstung internationale Kooperation. Die AfD will diese Kooperation. Internationale Rüstungskonsortien brauchen ebenso den Export, um die Waffensysteme der Zukunft bauen zu können. Wer das nicht will, der müsste die Differenz aus eigener Tasche bezahlen. Ein Hubschrauber oder U-Boot würde dann das Vier- oder Fünffache kosten. Ist das mit dem Linkslager zu machen? ({5}) Es ist auf jeden Fall nicht mit anderen Regierungen zu machen. Frankreich und Großbritannien haben in diesen Wochen erneut sehr deutlich gemacht, was sie von der deutschen Moralpolitik halten – nämlich nichts. ({6}) Wer in der Rüstung international kooperieren will, der muss auch verkaufen wollen. Die AfD steht zu einem solchen Prinzip. Die AfD will die internationale Rüstungskooperation. Was wir aber nicht wollen, ist eine zentralisierte Steuerung durch Brüssel. ({7}) Die AfD steht für die Freiheit des Marktes auch in der Rüstung. Das bedeutet: Staaten schließen sich zusammen, um ihren Bedarf an militärischen Fähigkeiten abzustimmen und dann gemeinsam auszuschreiben. Danach muss es aber der Freiheit des Marktes überlassen bleiben, zu kooperieren und Angebote zu machen. Entspricht das Angebot den militärischen Anforderungen, kann gekauft werden. Eine Brüsseler Behörde steht der Kraft und der Kreativität eines freien Marktes im Weg. Aus diesem Grund lehnen wir auch den EU-Verteidigungsfonds entschieden ab. Dieser Fonds ist ein planwirtschaftliches Konstrukt zum Nachteil Deutschlands. ({8}) Meine Damen und Herren, Rüstungsexportpolitik ist keine Wohlfühlpolitik. Rüstungsexportpolitik ist Realpolitik, um die Interessen und die Sicherheit unseres Landes zu schützen. Ja, wer Wehrtechnik verkauft, geht immer ein Risiko ein. ({9}) Niemand kann sagen, ob ein Käuferland zehn Jahre später einen Krieg führt und dann auch deutsche Waffen in diesem Krieg einsetzt. Wir müssen deshalb stets sorgsam prüfen, an wen wir liefern. Am Ende bleibt die Abwägung verschiedener Interessen. Für die AfD steht die Sicherheit und Unabhängigkeit des deutschen Volkes immer an erster Stelle. Eine eigene wehrtechnische Industrie ist dafür eine Grundvoraussetzung. Meine Damen und Herren, Deutschland und Europa verlieren in der Wehrtechnik den Anschluss. Die Feindseligkeit gegen alles Militärische in großen Teilen des politischen Establishments trägt erheblich dazu bei. ({10}) Moralisch ist das nicht. Moralisch ist, den Schutzauftrag für unsere Bürger ernst zu nehmen, unser Land gegen Gefahren zu wappnen und die Freiheit des deutschen Volkes auch in der Zukunft zu sichern. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Frank Junge für die SPD-Fraktion. ({0})

Frank Junge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004317, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich begrüße die Festlegung des Bundessicherheitsrates von letzter Woche ausdrücklich, wonach die Lieferungen von genehmigten deutschen Rüstungsexportgütern nach Saudi-Arabien für weitere sechs Monate gestoppt sind. In meinen Augen ist diese Verlängerung des Moratoriums gerade vor dem Hintergrund der verheerenden Dynamik im Jemen-Krieg, der humanitären Katastrophe und vor allen Dingen auch der Rolle, die Saudi-Arabien dort ausübt, ({0}) die absolut richtige und notwendige Entscheidung. Herr Pfeiffer, gerade vor dem Hintergrund der dort stattfindenden massiven Verletzung der Menschenrechte bin ich froh darüber, dass sich bei der Entscheidung im Bundessicherheitsrat die SPD-Minister der Bundesregierung durchgesetzt haben; ({1}) denn für uns ist die Festlegung im Koalitionsvertrag, für eine restriktive Rüstungspolitik einzustehen, auch dann bindend, wenn damit verbundene Entscheidungen keine einfachen sind. ({2}) An dieser Stelle möchte ich Ihnen, Frau Brugger, sagen: Rüstungspolitik wird von uns sehr ernst genommen. Ein eindeutiger Beleg dafür ist, dass das Volumen der Kleinwaffenexporte so niedrig ist wie noch nie. Die von uns eingeführten Post-Shipment-Kontrollen leisten an dieser Stelle ihren Dienst. Ich halte die Regelung des Bundessicherheitsrates, in den nächsten neun Monaten die auslaufenden europäischen Gemeinschaftsprogramme in Bezug auf Saudi-Arabien sozusagen zu nutzen, um die Vorgabe umzusetzen, nicht nach Saudi-Arabien bzw. in den Jemen-Krieg zu liefern, für gut und richtig. Vor dem Hintergrund, dass wir uns als SPD zu dem außenpolitischen Grundsatz bekennen, gemeinsam mit den europäischen Partnern für einen sicherheits- und verteidigungspolitischen Ansatz einzustehen, ist das aus meiner Sicht die richtige Herangehensweise. ({3}) Natürlich streben wir in Europa nach gemeinsamen Richtlinien in der Rüstungsexportpolitik. Natürlich ist das das, was wir wollen. Allerdings sind wir noch nicht so weit. An dieser Stelle hat jedes Land bisher immer noch seine eigenen Grundsätze. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Da ist es völlig egal, wie wir auf nationaler Ebene internationale Krisenlagen einschätzen. Wir haben zu akzeptieren, dass andere europäische Partner ihre eigenen Einschätzungen haben. Vor dem Hintergrund halte ich den im Bundessicherheitsrat gefundenen Kompromiss für gut, weil er drei Punkte miteinander verbindet: Erstens. Wir setzen den Export deutscher Rüstungsexportgüter nach Saudi-Arabien nicht fort; wir setzen ihn aus. Zweitens. Wir binden die Ausfuhr gemeinsamer europäischer Rüstungsgüter an klare Bedingungen. Drittens. Wir gewinnen außerdem Zeit – auch das ist wichtig – für außenpolitische Bemühungen im Rahmen des Jemen-Krieges, um mit allen Beteiligten nach tragfähigen Lösungen für Friedensverhandlungen zu suchen und um die europäischen Partner voranzubringen, wenn es darum geht, engere Abstimmungen hinsichtlich gemeinsamer Rüstungsexportrichtlinien vorzunehmen. Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch ein Punkt, über den ich persönlich besonders froh bin. Vor allen Dingen die Peene-Werft in Wolgast, in meinem Bundesland, hat unter dem Exportmoratorium sehr zu leiden. Die Beschäftigten dort und auch die Beschäftigten in den Zulieferbetrieben haben aufgrund des Moratoriums große Sorgen um ihre Zukunft. Vor diesem Hintergrund bin ich sehr froh darüber, dass sich die Bundesregierung mit der Beschlusslage des Bundessicherheitsrates gleichzeitig auch der Verantwortung stellt, eine Lösung zu suchen, damit die dort gebauten Patrouillenboote andere Abnehmer finden und damit die vertraglich vereinbarten Patrouillenboote weitergebaut werden können. Ich halte das für ein ganz wichtiges Signal für die Beschäftigten vor Ort. Ich halte das auch für einen Beweis dafür, dass beides geht, sowohl für eine restriktive Exportpolitik zu stehen als auch dafür, dass die Beschäftigten in der Bundesrepublik Deutschland nicht im Regen stehen bleiben. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Djir-Sarai für die FDP-Fraktion. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unabhängig von der konkreten Sachfrage der Rüstungsexporte ist es außerordentlich wichtig, dass der Deutsche Bundestag heute auch über die Situation in Jemen diskutiert. Der Beginn dieses Krieges jährte sich in der vergangenen Woche zum vierten Mal, und ein Ende dieser Katastrophe ist nicht in Sicht. Die internationale Gemeinschaft weiß, dass in Jemen Millionen von Menschen kurz vor dem Hungertod stehen und viele bereits verhungert sind. Doch die internationale Gemeinschaft schaut weg. Auch medial findet der Krieg in Jemen bei uns so gut wie gar nicht statt. Wie kann es sein, dass die Welt die Augen vor einer solchen humanitären Katastrophe verschließt? Mir ist das ein Rätsel. ({0}) Stattdessen sind diese Menschen den eigentlichen Kriegstreibern, Saudi-Arabien und Iran, hilflos ausgeliefert. Beide Staaten haben sich eingemischt und sind seit geraumer Zeit verantwortlich für Leid und Elend. Sie haben aus diesem ursprünglich innerjemenitischen Konflikt einen blutigen und brutalen Stellvertreterkrieg gemacht. Dabei geht es den beiden Erzfeinden weniger um religiöse als um knallharte machtpolitische Interessen. So hat der Iran zuletzt seinen Einfluss in Irak, Libanon und Syrien ausgeweitet; nun greift er auch nach Sanaa. Während Deutschland und die EU den Iran bei der Rettung des Atomabkommens unterstützen, sind sie gleichzeitig nicht in der Lage, mit dem Iran erfolgreich über dessen aggressive Regionalpolitik zu sprechen. ({1}) Doch auch der Umgang mit Saudi-Arabien – das ist ja heute einer der Schwerpunkte – wirft immer wieder Fragen auf. Die Bundesregierung – das hat einer meiner Vorredner bereits erwähnt – hat im Zusammenhang mit Saudi-Arabien immer von einer strategischen Partnerschaft gesprochen. Die Frage, was das konkret bedeutet, wurde nie beantwortet. Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit die menschenrechtliche Situation in Saudi-Arabien komplett ignoriert. Sie tut so, als hätte sie im Zusammenhang mit dem Fall Khashoggi zum ersten Mal von Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien erfahren. ({2}) Menschenrechtsverletzungen hat es in Saudi-Arabien vor dem Fall Khashoggi gegeben, und es wird sie leider Gottes auch nach dem Fall Khashoggi geben. Meine Damen und Herren, es mutet absurd an, eine wertebasierte Außenpolitik vertreten zu wollen und gleichzeitig Rüstungsgüter in Krisengebiete und Diktaturen zu exportieren. ({3}) Im Zusammenhang mit Saudi-Arabien und der regionalen Bedeutung ist das selbstverständlich immer ein Abwägungsprozess. Wir wissen, wie Realpolitik funktioniert. Man sieht letztendlich, wie schwer es für die gesamte Europäische Union ist, bei dieser Frage eine gemeinsame Linie zu finden. Als der Fall Khashoggi bekannt wurde, hat sich die Bundesregierung, wie bekannt ist, für einen temporären Rüstungsexportstopp ausgesprochen. Der französische Staatspräsident geht hin und sagt: ­Khashoggi und Rüstungsexporte, das sind völlig unterschiedliche Debatten, sie haben nichts miteinander zu tun. – Der spanische Ministerpräsident geht hin und sagt: Wir können uns diese Debatte überhaupt nicht leisten. Rüstungsexporte sind bei uns immer Teil wirtschaftspolitischer Debatten und haben mit Moral und Außenpolitik gar nichts zu tun. – Das zeigt, wie schwer und komplex es ist, hier eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik und vor allem eine gemeinsame europäische Linie zu finden, und das ist bedauerlich. ({4}) Wir finden, es ist höchste Zeit für transparente europäische Exportrichtlinien mit einem starken Fokus auf die außen-, sicherheits- und menschenrechtspolitischen Auswirkungen. ({5}) Aber auch wirtschaftspolitische Fragen sind selbstverständlich entscheidend. Wer sich bei dieser Debatte hierhinstellt und behauptet: „Das hat keine wirtschaftspolitische Komponente“, der sagt mit Sicherheit nicht die volle Wahrheit. ({6}) Die unabgestimmten Alleingänge der Bundesregierung schaden Deutschland in jeder Hinsicht. Weder wird den Partnern gegenüber Verlässlichkeit demonstriert, noch wird maßgeblicher Druck auf die Kriegsbeteiligten in Jemen ausgeübt. Scheinlösungen und nationale Alleingänge, mit denen man die finale Verantwortung einfach Großbritannien oder Frankreich überlässt, sind nicht zielführend; sie sind feige und in der Tat unberechenbar. ({7}) Europa muss sich dieser Debatte gemeinsam stellen. Meine Damen und Herren, eine letzte, abschließende Bemerkung. Ich kann mich, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, weil ich ein exzellentes Gedächtnis habe, wunderbar an die Debatten mit Ihrer Fraktion in der 17. Wahlperiode erinnern. Ich kann mich erinnern: Damals waren wir gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus der Union in einer Koalition. Sie glauben gar nicht, wie Ihr Kollege Rolf Mützenich, der heute gar nicht dabei ist, diese Bundesregierung damals kritisiert hat und wie er hier gesprochen hat und wie Ihr damaliger Parteivorsitzender, der Kollege Sigmar Gabriel – die älteren Sozialdemokraten erinnern sich –, damals diese Bundesregierung kritisiert hat. Sie haben in der Opposition definitiv anders geredet als heute.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege, das müssen wir jetzt in das Selbststudium der Dokumente verweisen.

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das fällt Ihnen auf die Füße, und ich hoffe, die anderen werden das auch feststellen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn es um Waffenexporte an die islamistische Kopf-ab-Diktatur Saudi-Arabien, an die Vereinigten Arabischen Emirate oder die anderen Länder des Militärpakts geht, die seit mehr als vier Jahren im Jemen Krieg führen, Schulbusse und Krankenhäuser bombardieren, die die Zivilbevölkerung aushungern und auch eine Choleraepidemie zu verantworten haben, wenn es also um diese Länder geht, dann kennt diese Bundesregierung weder Moral noch Recht. Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete verstoßen gegen die deutschen Rüstungsexportrichtlinien. ({0}) Waffenlieferungen an Saudi-Arabien verstoßen gegen den gemeinsamen Standpunkt der Europäischen Union, der rechtsverbindlich ist, und Waffenlieferungen an die Jemen-Kriegsallianz verstoßen auch gegen Ihren eigenen Koalitionsvertrag. ({1}) Vor einem Jahr haben Union und SPD festgeschrieben, keine Rüstungsexporte an Länder zu genehmigen, solange diese sich am Jemen-Krieg unmittelbar beteiligen. In den darauffolgenden zwölf Monaten wurden Waffenlieferungen im Wert von rund 400 Millionen Euro an diese Länder genehmigt. Zwei Drittel davon gingen alleine an Saudi-Arabien und die Emirate, also an die Hauptkriegsverbrecher im Jemen. Es sind auch von deutschen Rüstungsschmieden mitgebaute Eurofighter und Tornado-Kampfflugzeuge, mit denen die Zivilbevölkerung im Jemen getötet wird. Es sind Patrouillenboote aus deutscher Produktion, die die Hungerblockade auf See durchsetzen. ({2}) Während sogar der US-Kongress Saudi-Arabien wegen dieses mörderischen Jemen-Kriegs, aber auch wegen des Mordes an Khashoggi sagt: „Wir möchten diese Militärhilfe streichen“, öffnet die Bundesregierung eine Tür – da spreche ich nicht von der Hintertür; es ist die vordere Tür – nach der anderen, um Saudi-Arabien mit neuen Rüstungsgütern unter die Arme zu greifen. Während der US-Kongress versucht, der perfiden Unterstützung des US-Präsidenten für Riad in den Arm zu fallen, wird Saudi-Arabien nach der Entscheidung des Bundessicherheitsrates über Frankreich und Großbritannien wieder mit deutschen Rüstungsgütern versorgt – mit genau den Rüstungsgütern, die für den Bombenkrieg essenziell sind, weil beispielsweise die US-Amerikaner bei der Militärhilfe nicht mehr mitmachen. ({3}) Allein Frankreich soll zudem Rüstungsgüter nach Saudi-Arabien liefern dürfen, die deutsche Bauteile in einem Gesamtwert von mehr als 400 Millionen Euro enthalten. Das allein ist so viel, wie in den vergangenen zwölf Monaten von der Bundesregierung an die Kriegsallianz im Jemen gegangen ist. Es ist, finde ich, wirklich ungeheuerlich, wie sich die SPD hinstellt und dreist behauptet, sich hier gegen die Union durchgesetzt zu haben. Hören Sie doch bitte auf, sich in die Tasche zu lügen und die Öffentlichkeit für dumm zu verkaufen. ({4}) Sie haben sich nicht durchgesetzt. Ich verstehe auch nicht, wie Sie sich hierhinstellen können und jedes Mal argumentieren, Sie hätten die Endverbleibserklärungen, Sie hätten die Post-Shipment-Kontrollen durchführen lassen. Herr Kollege, Sie haben doch hier die Post-Shipment-Kontrollen als ein tolles Verdienst dieser Bundesregierung ausgezeichnet. Ich sage Ihnen mal etwas zu den Post-Shipment-Kontrollen: Seit 2017 gab es gerade einmal drei Vor-Ort-Kontrollen, weil Sie nur zwei Planstellen zur Verfügung gestellt haben, um überhaupt eine Endverbleibskontrolle durchzuführen. Ich halte das für lächerlich. ({5}) Zu Ihrem Argument „Wir wollen die Arbeitsplätze schützen“ sage ich: Bitte schön, wenn Sie Arbeitsplätze schützen wollen, dann investieren Sie doch in den Frieden. Das ist die Zukunftstechnologie. ({6}) Konversion ist die Zukunft unseres Landes. Sorgen Sie dafür, dass seitens der Bundesregierung keine Waffenexporte unterstützt werden, sondern eine Umstellung auf friedliche Produktion. ({7}) Wenn der größte Panzerhersteller in Deutschland früher Eisenbahnwaggons herstellen konnte, kann er heute auch auf friedliche Produktion umstellen. Konversion war mal ein großes Thema der SPD. Ich würde mir wünschen, die SPD würde zurück zu ihren Wurzeln finden. ({8}) Ich möchte eins noch mal sagen: Auch das Argument, die anderen würden doch liefern, zieht doch nicht. Wenn mein Nachbar mit Drogen dealt, dann heißt das doch noch lange nicht, dass ich ebenfalls Drogendealer werde. ({9}) Da müssen Sie doch wirklich mal aufwachen. Aber wie rücksichtslos und abgebrüht ist man eigentlich bei CDU und CSU, wenn man christliche Werte predigt ({10}) und gleichzeitig Journalistenmörder und Diktatoren mit deutschen Waffen hofiert und dann groteskerweise auch noch mit der Idee von der europäischen Zusammenarbeit argumentiert, dass man jetzt den Saudis Waffen liefern müsse, weil man sonst europäisch nicht mehr verlässlich sei! Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Deutlicher kann man sich nicht von der europäischen Idee verabschieden, als Sie es jetzt gerade getan haben. ({11}) Die europäische Idee ist nicht dazu da, sich an Kriegsverbrechen mitschuldig zu machen. Damit sollten Sie aufhören. Keine europäische Idee hat es bisher befürwortet, dass man Diktatoren mit Waffen hofiert.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Auch Sie müssen zum Schluss kommen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Klaus-Peter Willsch für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Sie von den Linken können es ja gar nicht erwarten, mich reden zu hören. Das ist eine tolle Erwartungshaltung. Dabei ist es gar nicht lange her: Wir haben vor rund 16 Stunden hier das gleiche Thema debattiert. Ich glaube, es war gestern Nacht um halb zwölf. Wenn man Aktuelle Stunden beantragt, sollte man mal ein bisschen darauf achten, ob auf der Tagesordnung nicht vielleicht die Beratung von Anträgen steht, die denselben Vorgang behandeln. Aber es kommt wieder kein Erkenntnisfortschritt zustande. ({0}) Frau Dağdelen, wie Sie sich hier aufführen, das ist unerträglich. Es ist auch völlig egal, worum es im Einzelnen geht. Wenn Sie nur hören, dass es um Rüstung geht, dann tritt Ihnen Schaum vor den Mund. ({1}) Es ist ja Ihr gutes Recht; aber quälen Sie uns doch nicht ständig damit. ({2}) Und dass die Grünen Ihnen mit ihrer Aktuellen Stunde noch eine Plattform dafür bieten, dafür habe ich kein Verständnis. ({3}) Den beiden Fraktionen, den Linken wie den Grünen, geht es im Kern doch nicht um Frieden, um irgendwelche Leute im Mittleren Osten. Ihnen geht es darum, die Bundeswehr runterzureden, die deutsche Wehrindustrie runterzureden ({4}) und unsere Bündnisfähigkeit nachhaltig zu beeinträchtigen. ({5}) Ich bin Herrn Djir-Sarai dankbar für seinen Beitrag. Sie hätten auch zu dieser Erkenntnis kommen können, wenn Sie zu der öffentlichen Anhörung, die wir ja Ihnen zuliebe im Wirtschaftsausschuss gemacht haben, ({6}) gekommen und dort mal zugehört hätten. Sie können es auch jetzt noch in der Mediathek anschauen. Dort hat beispielsweise Professor Dr. Joachim Krause vom Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel zum Jemen-Konflikt gesagt: … in Jemen muss man die Sache ganz genau sehen. Es ist ja nicht so, dass Saudi-Arabien in Jemen einfällt, sondern in Jemen haben wir eine sehr komplexe Lage. Wir haben eigentlich dort drei verschiedene Konflikte, einmal zwischen der legitimen Regierung und den Huthi-Milizen, die extrem stark vom Iran unterstützt werden. Wir haben den Kampf dieser Regierung gegen Al-Qaida und wir haben auch noch eine Separationsbewegung im Süden des Landes. Wir haben Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die dort intervenieren. Es ist eine sehr komplexe Situation und ich würde vor einer vorschnellen Verteilung, wer hier gut und wer hier schlecht ist, warnen … ({7}) Sie können aber nicht geopolitisch denken. Sie denken immer in den einfachen Kategorien Schwarz und Weiß. Deshalb haben Sie keinen Blick für Außenpolitik und für die Durchsetzung deutscher und europäischer Interessen in der Welt. Das ist Ihnen völlig fremd. Sie wollen ein Land, das Sie sich selbst erträumen. Wir wissen aber, dass die Welt anders ist. Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass wir für unsere eigenen Leute, für unser Land, für unsere Mitbürger ({8}) und für Europa eine Sicherheitsstruktur erhalten. Dafür ist das, was Joachim Pfeiffer vorgetragen hat, essenziell. Es werden nicht alle nach unseren Regeln spielen und nach Ihrer selbsterklärten Supermoral agieren. Wir brauchen Partner im Bereich „Rüstung, Verteidigung, Schlagkraft“, wenn wir irgendwas erreichen wollen. ({9}) Sie können sich doch nicht hinstellen und sagen: „Alle anderen haben einen Erkenntnismangel“, während Sie wissen, wie die Welt funktioniert. ({10}) Dann ist keiner mehr da, der mit uns spielt. Das ist die Situation, die kommen wird. ({11}) Wenn der Deutsche Bundestag wegen jeder Schraube, wegen jedem Splint, wegen jedem Lochblech, das irgendwo an einem Gerät ist, mehrere Debatten in einer Sitzungswoche führt, dann sagen die anderen: German-free, sonst macht es keinen Sinn. Deshalb bin ich froh, dass hier ein vernünftiger Kompromiss gefunden wurde. Wenn es nur um deutsche Komponenten geht, sind die Lieferungen weiterhin möglich. Es gibt keine neuen Aufträge. ({12}) Insofern rate ich unserem Koalitionspartner, wenn ich das vielleicht zum Schluss noch sagen kann – Herr Junge, auch mit Blick auf Ihre Aussage zu den Patrouillenbooten –: Wiegen Sie sich doch nicht in der Hoffnung, dass es irgendeinen Unterschied machen würde, an wen die nachher geliefert werden. Erst mal müssen wir einen Interessenten finden. Die sind nämlich eigens für einen Kunden gebaut worden. Wir können sie der Bundeswehr hinstellen, aber die braucht sie in der Konfiguration nicht. Andere Interessenten müssen wir erst finden. Und wenn der Käufer für die Grünen oder für die Linken nicht wie gemalt ist, dann werden Sie sich das Gleiche wieder anhören. Deshalb lügen Sie sich in die Tasche. Das ist nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Wenn wir Verträge eingegangen sind, müssen wir vertragstreu sein. Wir sollten nicht versuchen, bei Leuten zu fischen, die für diese Themen überhaupt nicht ansprechbar sind. Es kommt darauf an, dass Deutschland verlässlich ist und verlässlich bleibt. Dafür steht die Union in diesem Haus. Danke schön. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Enrico Komning für die AfD-Fraktion. ({0})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Liebe Besucher auf der Tribüne! Mit der abermaligen Verlängerung des Exportstopps, und zwar für ein halbes Jahr, hat die Bundesregierung einen diplomatischen, einen politischen und nicht zuletzt auch einen wirtschaftlichen Scherbenhaufen angerichtet. Politisch, weil Sie sich in der Regierung mal wieder nicht einig sind. Die CDU will Rüstungsexporte, auch nach Saudi-Arabien. Die SPD will auch Rüstungsexporte, aber nicht nach Saudi-Arabien. Und der heimliche Chef am Kabinettstisch, nämlich die Grünen, will Exporte am liebsten gar nicht. Diplomatisch, weil Sie Deutschland zu einem unzuverlässigen Partner gemacht haben; mein Kollege Lucassen hat schon darauf hingewiesen. Frankreich und Großbritannien, unsere engsten Verbündeten, sind zu Recht verärgert. Wirtschaftlich, vor allem wirtschaftspolitisch sind Sie unzuverlässig; denn Sie lassen deutsche Firmen mit Ihrer Entscheidung im Regen stehen. Und das, obwohl Sie sich in Ihrem Koalitionsvertrag ausdrücklich auf Vertrauensschutz für die betroffenen Unternehmen geeinigt haben. Und was machen Sie? Sie regieren in Gutsherrenart: heute so und morgen so; egal. Was geht mich mein Geschwätz von gestern an? – Dabei ist Planungssicherheit gerade für Rüstungsunternehmen wegen der langwierigen Genehmigungsverfahren ungemein wichtig. Circa 200 000 Arbeitsplätze hängen mittelbar oder unmittelbar an der deutschen Rüstungsindustrie. Besonders gekniffen und von der SPD besonders ignoriert ist die Peene-Werft – sie wurde heute schon mehrfach angesprochen – in Wolgast in meinem Wahlkreis. ({0}) – Philipp Amthor nickt schon; auf Sie komme ich gleich zurück. – Schon im Januar haben wir hier an dieser Stelle über diese für die Region nicht unwichtige Werft diskutiert. Herr Amthor, sonst sagen Sie uns ja immer was, heute will ich Ihnen mal was sagen: ({1}) Sie haben sich vor knapp drei Monaten an dieses Pult gestellt und große Lösungen für die Peene-Werft versprochen. ({2}) Nichts ist seit dieser Zeit passiert. Schnelle Hilfe, Herr Amthor: Fehlanzeige! Unser Antrag versauert im Ausschuss. Währenddessen stehen die Arbeiter der Peene-Werft auf der Straße; sie stehen vor dem Nichts. ({3}) In der Presse hört man jetzt, dass die Bundesregierung einen Ankauf von mindestens sieben Booten plane. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Aber immerhin scheinen Sie sich ja unserem Antrag etwas anzunähern. ({4}) Es reicht aber nicht. Die Bundesregierung plant offenbar eine Eigennutzung durch die Bundeswehr. Das ist nicht sinnvoll; denn in der Bundeswehr gibt es schlicht keinen Bedarf für die Patrouillenboote. Die Bundeswehr, meine Damen und Herren, darf nicht zur Resterampe einer chaotischen Außenwirtschaftspolitik werden. ({5}) Aber sagen Sie mir: Warum nutzen wir die Boote nicht, wie in unserem Antrag von uns vorgeschlagen, im Rahmen der europäischen EUNAVFOR MED Mission, dem sogenannten Sophia-Mandat. Gerade wurde dieses Mandat bis zum 30. September 2019 verlängert. ({6}) Gedacht ist es, die Schleuserkriminalität auf dem Mittelmeer zu stoppen. ({7}) Allerdings dümpelt dieser Einsatz mehr oder weniger vor sich hin. Es wird zwar umfangreiche Luftaufklärung betrieben, aber wenige Konsequenzen werden aus den Erkenntnissen gezogen. Dabei kamen letztes Jahr mehr als 100 000 Menschen über das Mittelmeer nach Europa. Die meisten davon blieben in Deutschland. Und ungefähr 2 000 Menschen haben diese Reise mit dem Leben bezahlt. Teil des Mandats ist die Ertüchtigung der libyschen Küstenwache und Marine, und zwar sowohl personell als auch in Fragen der Ausrüstung. Und hier, meine Damen und Herren, wäre doch ein perfekter Einsatzort für die Patrouillenboote aus Wolgast. Sie könnten flexibel an Libyens Mittelmeerküste eingesetzt werden, um das Auslaufen von Flüchtlingsschiffen zu verhindern. Der Aufkauf der restlichen Patrouillenboote bietet der Werft Planungssicherheit, macht Sophia effizienter und ist am Ende günstiger, als Tausende von Armutsflüchtlingen hier in Deutschland zu versorgen. Die Lösung liegt also auf der Hand. Beenden Sie die Waffenexporte nach Saudi-Arabien. Finden Sie gemeinsame Lösungen mit Frankreich, Italien und Großbritannien. Übernehmen Sie Verantwortung für die Arbeitnehmer in der deutschen Rüstungsindustrie, die für Ihre Politik nichts können. Und leisten Sie einen effektiven Beitrag zur Schließung der Mittelmeerfluchtroute. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Dr. Daniela De Ridder das Wort. ({0})

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Gäste! Auch wer kein Experte in Rüstungsfragen ist, hat im Laufe dieser Debatte wohl mitbekommen, wie komplex dieses Thema ist. Allerdings darf diese Debatte weder ausschließlich von einem industriepolitischen Standpunkt aus geführt werden, Herr Willsch, noch darf sie, liebe Frau Brugger, nur von einem menschrechtlichen Standpunkt aus geführt werden. Dazu ist die Debatte in der Tat zu komplex. Ich mache gar keinen Hehl daraus, dass die SPD sich mit dieser Frage sehr schwertut. Gerade wir als Friedenspartei haben hier durchaus eine Bring- und Holschuld. ({0}) – Sie können lachen, ({1}) aber ich werde an Willy Brandt anknüpfen, der anlässlich seiner Friedennobelpreisrede gesagt hat, dass Frieden mehr ist als nur die Abwesenheit von Krieg. Das macht es umso komplizierter, meine Herren. ({2}) Ja, richtig ist, dass sich im Jemen – darauf ist verwiesen worden – zurzeit eine humanitäre Katastrophe abspielt. Und wenn man daran erinnert, welche kriegsführenden Parteien hieran beteiligt sind, dann ist das ein Bild, das einen erschauern lässt. Es geht im Übrigen nicht nur um Saudi-Arabien; es geht auch um die Vereinigten Arabischen Emirate oder den Bahrain. Auf der anderen Seite – es ist erwähnt worden – stehen die Huthi-Rebellen, die auf den Ruf Teherans hören. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir hier nicht nur eine militärische Lösung finden, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, sondern auch eine politische. Das ist wichtig, und deshalb hat die SPD – allen Unkenrufen zum Trotz – hier dafür gesorgt, dass wir das Moratorium um sechs Monate verlängern können, um eben auch viele offene Fragen noch einmal zu diskutieren. ({3}) Dieser Zeitraum – das ist ganz entscheidend – muss jetzt genutzt werden, um – ja, Herr Willsch – eine europäische Lösung zu finden. Sie haben evoziert, dass wir verlässliche Partner sein sollen. Das wollen wir gerne sein. Deshalb ist es ja so wichtig, dass wir mit Frankreich sprechen, dass wir mit Großbritannien sprechen, aber auch die Italiener nicht außen vor lassen. Es geht, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, nur mittels einer europäischen Lösung. Ja, es wird ein steiniger Weg, es wird schwierig werden. Aber das Gebot der Stunde heißt doch, europäische Konsultationen zu führen; denn der Dialog ist unerlässlich an dieser Stelle. Das ist ein möglicher Weg, und den sollten wir nicht von vornherein ausschließen. Ja, wir wollen PESCO, die Permanent Structured Cooperation, weiter fortführen. Und ja, es ist eine gute Idee, über einen europäischen Verteidigungsfonds nachzudenken. ({4}) Aber ebenso gut wäre es, über einen Konversionsfonds nachzudenken; gar keine Frage. ({5}) Wenn wir dafür Unterstützung bekommen, dann ist das Feld weit geöffnet und lösungsaffin. Aber wir haben nicht nur auf der europäischen Ebene zu diskutieren. Menschenrechte und Frieden sind auch hier in Deutschland ein Diskussionsthema. Deshalb ist es wichtig, noch einmal klarzustellen, wie komplex die Prüfungsverfahren sind, die wir bei den Rüstungsexporten anwenden. Es ist doch mitnichten so, dass der Sicherheitsrat erst seine Arbeit aufgenommen hat, als Herr Khashoggi von den Saudis ermordet wurde. Es gibt eine lange Erfahrung. Wenn man sich das Prüfverfahren einmal anschaut, dann kann man sehen, dass Menschenrechte dort sehr wohl einen eminenten Platz haben, dass anhand von OSZE-Berichten und UN-Berichten geprüft wird: Wohin exportieren wir da eigentlich? Wie sieht die Menschenrechtslage aus? Das ist doch keine Neuerung; das gibt es schon eine ganze Weile. ({6}) Und ja, es ist problematisch, eine Endverbleibsgarantie zu erzielen. Aber das von vornherein auszuschließen, ist doch auch nicht der Weg. ({7}) Es geht in der Tat auch darum, wie wir mit Post-Shipment-Kontrollen umgehen; das will ich gar nicht in Abrede stellen. Aber, liebe Sevim Dağdelen, auch das gehört zur Wahrheit: Neben Deutschland führen nur die USA und die Schweiz überhaupt Post-Shipment-Kontrollen durch. Das muss man doch auch einmal anerkennen. ({8}) Und natürlich ist und bleibt das schwierig, weil man on the long run nicht wissen kann, was die Zersetzung, was Kriege alles noch befördern können. Aber wir bemühen uns zumindest, in dieser Hinsicht etwas zu erreichen. Dies einmal anzuerkennen und zu würdigen, wäre auch ein Gebot der Stunde. ({9}) Es bleibt eine Reihe offener Fragen. Ich will sie kurz benennen; denn auch dafür müssen wir uns in der Diskussion die Zeit nehmen. Was ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Dual-Use-Produkten, ({10}) die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden? Über diese Frage müssen wir diskutieren und darauf eine Antwort finden. Was ist mit der Vergabe von Lizenzen in der militärischen Produktion, die man verlagern kann? Was ist mit Tochterunternehmen deutscher Rüstungskonzerne, Herr Willsch, die dann ihre Produktion etwa nach Südafrika verlegen und sich unseren restriktiven Kon­trollen entziehen? ({11}) Das kann auch nicht die Lösung sein. Was ist mit dem geistigen Eigentum in den Köpfen unserer Ingenieurinnen und Ingenieure, die dann möglicherweise abwandern? Diese Fragen sind so komplex, dass wir die Verlängerung des Moratoriums um sechs Monate brauchen, um darüber zu diskutieren, und wir brauchen eine europäische Lösung; denn das verdienen die Menschen im Jemen allemal. Vielen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Omid Nouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Grüne haben 2016 als Erste das Thema Jemen-Krieg hier auf die Tagesordnung gesetzt. Es gibt ein paar Konstanten. Es gibt beispielsweise die beiden Kollegen von der Union, die in fast jeder Debatte zu diesem Thema und auch heute geredet haben. Ich muss zugeben: Es ist schon ein wenig befremdlich, in diesen Reden immer wieder zu hören, wie sehr Sie mit dem Begriff „Moral“ auf Kriegsfuß stehen. ({0}) Als wir 2016 das erste Mal dieses Thema aufgesetzt haben, konnte ich mir nicht vorstellen, dass wir 2019 immer noch über diesen Krieg reden würden, und ich konnte mir nicht vorstellen, welches Leid in der Zwischenzeit über die Menschen im Jemen hereingebrochen sein würde. Eine Gruppe von Nichtregierungsorganisationen schätzt die Zahl der direkten Kriegstoten auf 80 000. Mindestens genauso viele Kinder sind mittlerweile verhungert. Da wir über selektive Wahrnehmung sprechen: Ich würde mir wünschen, Herr Pfeiffer, dass Sie ein Wort zur Lage im Jemen sagen würden. ({1}) Die Menschen im Jemen leiden unter der Seeblockade, die die saudische Koalition errichtet hat. Sie leiden darunter, dass alle Kriegsparteien Hilfsgüter veruntreuen. Sie leiden darunter, dass Familien im ganzen Land mittlerweile kein Geld mehr haben, um Lebensmittel zu kaufen. Sie leiden unter Cholera. Sie leiden unter Landminen, unter willkürlicher Verhaftung. Sie leiden unter Folter, und sie leiden unter Bomben. Das alles ist nicht neu; das alles ist seit vier Jahren bekannt. Schuld daran sind in erster Linie die Kriegsparteien, und zwar alle: die Huthis und die Iraner auf der einen Seite, die Regierungen Jemens, Saudi-Arabiens, der VAE und die Alliierten auf der anderen Seite. Bei dieser Tragödie stellt sich doch die Frage: Tun wir alles, was in unserer Macht steht, um dieses Leiden zu beenden? Ich habe diese Frage von diesem Platz aus ganz oft gestellt, und nach vier Jahren muss ich weiterhin feststellen: Nein, Deutschland tut das nicht. Stattdessen gibt es einen Eiertanz der Bundesregierung: Obwohl der Koalitionsvertrag vorsieht, keine Waffen mehr an die Staaten, die am Krieg im Jemen beteiligt sind, zu liefern, werden weiter Exporte allein an Saudi-Arabien in einem Umfang von Hunderten von Millionen Euro genehmigt. In den letzten zwölf Monaten sind alleine 128 Genehmigungen für Waffenexporte in Staaten dieser Koalition außer dem Jemen und den Vereinigten Arabischen Emiraten erteilt worden. ({2}) Nachdem man sich ganz viel gewunden hat, gibt es dann einen Exportstopp mit Schlupflöchern, die so groß sind, dass Patrouillenboote durchschwimmen können. ({3}) Dann gibt es einen zweiten Exportstopp, aber nur für Saudi-Arabien und beispielsweise nicht für die Vereinigten Arabischen Emirate. Und jetzt geht es weiter, indem man sagt: Dann machen wir es über Frankreich und Großbritannien. – Der Exportstopp gilt im Übrigen nicht für Ersatzteile für genau die Flugzeuge, die ihre Bomben über dem Jemen abwerfen. Das ist schlicht beschämend. ({4}) Dann twittert Karl Lauterbach für die SPD: „Wir haben uns durchgesetzt.“ Und drei Tage später tauchen schon wieder neue Schlupflöcher auf. ({5}) Das ist schlicht kaum zu fassen – und das in Zeiten, in denen das Europäische Parlament so oft gefordert und beschlossen hat, dass keine Waffen mehr geliefert werden. Gestern haben beide Kammern des US-Kongresses ein Ende der Unterstützung beschlossen. Und dann kommt die Bundesregierung und sagt: Wir nehmen doch sonst keinen Einfluss mehr auf Saudi-Arabien. – Ich bete für Ihr Seelenheil, dass Ihr Einfluss nichts damit zu tun hat, dass 80 000 Menschen im Jemen getötet worden sind, ({6}) dass die lebensnotwendige Infrastruktur mittlerweile in Schutt und Asche liegt, dass Hochzeitsgesellschaften, Flüchtlingslager, Großbäckereien, Schulen und Fußballstadien dort weggebombt worden sind. Und dann wird auch noch behauptet, dass die Saudis überlegen, den Krieg zu beenden, da wir jetzt so zaudern. Das behaupten Sie seit vier Jahren. Es ist schlicht nichts passiert. Deshalb: Wenn Sie schon nicht das Richtige tun, dann hören Sie bitte wenigstens mit Ihren unerträglichen Ausreden auf, ({7}) die bei den armen Menschen im Jemen permanent Hoffnung schüren! Bitte hören Sie wenigstens damit auf! Es geht aber nicht nur um die Frage der Rüstungsexporte. Frau De Ridder hat recht: Es gibt so vieles, was die Politik tun könnte. Ich habe gerade eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt: Was tut sie denn eigentlich jetzt, wo Deutschland Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ist? Welche Initiativen gibt es? Es gibt laut ihrer Antwort keine einzige konkrete Initiative, die die Bundesregierung ergreift. Deshalb stellt sich die Frage, warum diese Bankrotterklärung mit einer überbordenden Rhetorik eigentlich permanent überspielt werden soll. ({8}) Das werden wir uns nicht weiter anschauen, und das wollen wir auch den Menschen im Jemen nicht weiter zumuten. Der Jemen wird lange brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen, sollte dieser Krieg demnächst aufhören. Das wird er wahrscheinlich nicht. Es ist eine Kriegswirtschaft mit vielen Partikularinteressen geschaffen worden. Der alte Konflikt zwischen Nord und Süd ist so manifest wie lange nicht mehr. Im Süden wird über Unabhängigkeit diskutiert, extremistische Gruppen haben sich wieder festgesetzt. Im Übrigen sehen wir beim Thema „Post-Shipment-Kontrollen und Endverbleib“ ja, dass mittlerweile G36-Gewehre bei al-Qaida im Jemen sind. All das ist ein weiterer Beitrag zur Instabilität in der Region. Da geht es nicht alleine um Moral – Moral ist im Übrigen wahnsinnig wichtig –; da geht es auch um Sicherheit und Stabilität. Aber das alles spielt keine Rolle, weil aus rein geografischen Gründen keine Flüchtlinge kommen. Das ist schlicht beschämend. Wir brauchen ganz dringend eine andere Jemen-Politik, die mit den Rüstungsexporten an alle Kriegsparteien, die dort beteiligt sind, endlich sofort aufhört. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Roderich Kiesewetter das Wort. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unsere Debatte heute zeigt schon sehr klar das außenpolitische Dilemma, in dem wir stecken, und sie zeigt auch, dass es keine einfachen Wahrheiten gibt und wir uns positionieren müssen. Dabei helfen natürlich ein Spiel auf Zeit und, Herr Junge, vielleicht auch ein Gespräch mit dem Bundesfinanzminister, aber das löst das Kernproblem nicht. Es wurde heute schon gesagt, dass wir restriktive Rüstungsexportbeschränkungen haben. In diesem Zusammenhang wurden Post-Shipment-Kontrollen, Kleinwaffenregelungen und eben auch das Kriegswaffenkontrollgesetz angesprochen. Diese müssen wir mit unserer Außen- und Sicherheitspolitik verzahnen. Hierbei geht es darum, dass wir überlegen, wie wir unsere werte- und interessenorientierte Politik auch auf bestimmte Regionen hin anwenden. ({0}) Ich bin den Wirtschaftspolitikern sehr dankbar, dass sie das Beziehungsgeflecht insgesamt aufgezeigt haben, und ich glaube, uns allen ist auch durch das, was aus der Wirtschaftspolitik heraus dargestellt wurde, deutlich geworden, dass mit unserer restriktiven Entscheidung zwei Signale gesendet wurden, die falsch verstanden werden könnten, wenn wir nicht aufpassen. Das eine Signal geht in den Nahen und Mittleren Osten, an Saudi-Arabien und an die Vereinigten Arabischen Emirate, und könnte so verstanden werden: Zieht euch von einer Rüstungskooperation mit Europa zurück. – Nur: Wohin sollen sie sich wenden? Kolleginnen und Kollegen der Opposition, wollen wir wirklich, dass sie sich Richtung China, Russland oder Pakistan orientieren? Ich glaube, das kann nicht in unserem Interesse sein. ({1}) Das zweite Signal geht an unsere eigenen Partner, an Großbritannien und an Frankreich. Viele Menschen sind davon betroffen. Allein in Großbritannien sind in Bezug auf den Eurofighter 500 Zulieferbetriebe betroffen. Das Signal könnte so verstanden werden: Auf Deutschland können wir nur bauen, wenn wir uns viel Zeit lassen, und Deutschland hält die Fahne eines gemeinsamen europäischen Vorgehens immer hoch, aber wenn es darum geht, knallhart Interessen in bestimmten Regionen durchzusetzen, sind sie nicht dabei. So könnten die Signale womöglich verstanden werden, und sie werden auch mit einem Sechs-Monats-Moratorium nicht aufgehoben werden. Sie werden uns dauerhaft begleiten. Ich sehe zwei Auswege aus dieser absehbaren Krise. Der erste Ausweg ist, dass wir in Europa stärker auf die Durchsetzung des europäischen Standpunkts drängen sollten. ({2}) Das wird Ihnen vielleicht weniger gefallen, aber die Kollegin De Ridder hat erkannt, wohin ich möchte: Es geht um den Benutzerleitfaden. In diesem Benutzerleitfaden sind Hinweise, die viel restriktiver als das sind, was durch die Ausführung des Gemeinsamen Standpunktes geschieht. Wir sollten alles dafür tun, dass wir diesen Benutzerleitfaden auf europäischer Ebene dann auch umsetzen. ({3}) Das ist gegenwärtig nicht absehbar. Deutschland ist diesem Ziel am nächsten. Wenn wir das erreicht haben, dann sollten wir auch großzügig sein und entsprechende europäische Regelungen anstreben. Das ist ja gerade die Balance, die wir auch im Koalitionsvertrag versuchen: Auf der einen Seite versuchen wir, mit Blick auf Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate möglichst restriktiv zu handeln, auf der anderen Seite brauchen wir aber diese europäische Harmonisierung. Ich sage ganz offen: Wir Deutsche können in der Mitte Europas nicht einerseits sagen: „Wir wollen mehr Europa und mehr Außen- und Sicherheitspolitik“, und auf der anderen Seite bei der Frage, wohin wir liefern und wie wir das machen, keine klare Position beziehen. Der Ausweg ist natürlich, dass wir sagen: Wir halten uns dort zurück. – Das bedeutet aber – und das ist mehrfach angesprochen worden – das berüchtigte „German-free“, das heißt Wertschöpfungsketten ohne die deutschen Fähigkeiten, und wer sich nicht beteiligt, hat auch keinen Einfluss mehr. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, das müssen Sie sich ins Stammbuch schreiben. Es nützt uns überhaupt nichts, wenn wir moralisch hohe Ansprüche durchsetzen und sich unsere Partner nicht daran halten und wir das von der Seitenlinie kommentieren. Das wird auch nicht den Ansprüchen der Münchner Sicherheitskonferenz, des Außenministers Steinmeier, des Bundespräsidenten Gauck und der Verteidigungsministerin von der Leyen gerecht. ({4}) Wir haben in diese Richtung gearbeitet. ({5}) Herr Junge hat ja angesprochen, dass es vielleicht auch interne Lösungen gibt. Darüber müssten wir auch mit unserem Finanzminister reden. Ein letzter Gedanke: Es gibt noch einen zweiten Ausweg. 80 Prozent dessen, was die europäische Rüstungsindustrie herstellt, geht in den Export. ({6}) Wir müssen bestimmen, wohin. Unser Ziel muss sein, dass wir mehr mit Blick auf Standardisierung und eine verbesserte Zusammenarbeit schauen, dass unsere osteuropäischen Nachbarn in die Lage versetzt werden, Rüstungsgüter zu beschaffen, die für eine Standardisierung innerhalb Europas sorgen. Wir haben in Europa 178 verschiedene Waffensysteme, die Amerikaner haben 30. Es gibt also Möglichkeiten, wie wir das Problem lösen können. Ich komme zum Schluss. Moralische Überhöhung hilft uns überhaupt nicht. Wir müssen die Rüstungsexportgrundsätze mit unserer Außen- und Sicherheitspolitik verknüpfen. Wenn wir europäischer werden wollen, dann müssen wir enger mit unseren Nachbarn, mit Frankreich und Großbritannien zusammenarbeiten. Herzlichen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Bernhard Loos aus der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bernhard Loos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004806, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Aktuelle Stunde hat etwas von dem berühmten Grimm’schen Märchen, bei dem es zum Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel kommt. In diesem Fall ist es ein Wettlauf zwischen den Grünen und den Linken, nach dem Motto: Wer darf dieses Thema zuerst auf seinem politischen Konto verbuchen? ({0}) Der bisherige Debattenverlauf zeigt jedoch – man kann es hier im Hohen Haus offenbar nicht oft genug wiederholen –: Statt einer emotional geführten Anprang-Debatte wäre eine sachliche, an den Fakten orientierte Analyse angemessen und auch notwendig. ({1}) Meine Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und den Linken, es geht eben nicht um eine Schwarz-Weiß-Einteilung in die Gutmenschen und in die bösen Vertreter der deutschen Rüstungslobby bei der Regierung, sondern es geht der Koalition um eine europäische Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik und um keinen deutschen Sonderweg in der Außenpolitik. Es geht natürlich auch um die europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik und letztendlich aber auch um Arbeitsplätze – nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und in Großbritannien. Wir leben in einer Welt der Unsicherheit, der Bedrohung und eines globalen kriegerischen Terrors. Daher geht es uns im Kern um den Dreiklang aus folgenden Punkten: Erstens: Nationale Verteidigungsfähigkeit. Zentrale Aufgabe eines jeden Staatswesens ist die Gewährleistung der äußeren Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger. Es geht also um eine unabhängige Wehr- und Abwehrfähigkeit Deutschlands. ({2}) Dazu brauchen wir Rüstungsgüter zur Verteidigung und zur Abschreckung. Zweitens: Erhalt einer eigenen wehrtechnischen Industrie. Die deutsche wehrtechnische Industrie leistet einen wichtigen Beitrag für die Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands. Sie ist im Übrigen unverzichtbar für die Auftragserfüllung der Bundeswehr im Bündnis und für die Einsatzbereitschaft. ({3}) Oder wollen Sie deutsches Steuergeld in den USA, in China oder in Russland ausgeben, um damit dort Arbeitsplätze zu schaffen und die in Deutschland bestehenden Arbeitsplätze zu beseitigen? ({4}) Wir sprechen hier von rund 55 000 direkten und insgesamt – mit den Zulieferern – von 135 000 Arbeitsplätzen in unserem Land – sei es bei den Werften im Norden, bei der Wehrtechnik im Westen oder bei der Luftfahrt im Süden. Wir von der Union stehen zum Erhalt einer leistungsfähigen deutschen wehrtechnischen Industrie, und wir wollen, dass diese deutsche Hochtechnologiefähigkeit nicht unwiederbringlich verloren geht. Daher unterstützen wir die deutsche Rüstungsindustrie im Rahmen der geltenden Bestimmungen bei ihren Exportbemühungen, wie das auch alle anderen europäischen Länder für ihre Rüstungsindustrien tun. Nichts anderes ist der Kerninhalt des aktuellen Beschlusses des Bundessicherheitsrates. Drittens: Zusammenhalt im Bündnis. Innerhalb der NATO und der EU arbeitet Deutschland eng mit seinen Partnern für Sicherheit, Frieden und Freiheit zusammen. Das bedeutet ganz konkret: Wir planen als verlässliche Partner gemeinsame Rüstungsprojekte und produzieren gemeinsam Rüstungsgüter, die unsere europäischen NATO-­Partner und auch wir selbst wegen der enormen Entwicklungskosten und notwendigen Stückzahlen alleine nicht wirtschaftlich produzieren könnten. Aber immer mehr macht das Schlagwort „German-free“ die Runde. Man sagt: „Wir machen es ohne die Deutschen“, weil man einfach Angst hat, mit uns gemeinsam entwickelte Rüstungsgüter nicht verkaufen zu können. Wollen Sie einen Ausstieg oder, besser gesagt, Ausschluss Deutschlands aus diesen Kooperationen? Dann stehen Sie auch zu den Konsequenzen für die Arbeitsplätze in Deutschland. Und vor allem: Sagen Sie auch, dass wir dann Flugzeuge und vieles andere dauerhaft aus dem Ausland, zum Beispiel aus den USA, beziehen müssen. Wollen Sie eine solche Isolierung Deutschlands bei den europäischen Partnern im Bündnis? Wir, die Union, stehen dazu, dass wir gemeinsam als Verbündete Verteidigungstechnologien entwickeln und nutzbar machen. Wenn wir uns so verhalten würden, wie Sie das von den Linken oder Grünen wollen, dann bräuchten wir auch nicht 70 Jahre NATO zu bejubeln. ({5}) Der Ausstieg aus der NATO ist aber Ihr Endziel. Wir, die Union, sehen die NATO als Erfolgsgeschichte und als eine Basis für die Wiedervereinigung Deutschlands und den Mauerfall vor 30 Jahren. ({6}) Bundesminister Heiko Maas hat mit Recht gesagt, dass wir im Rahmen des Moratoriums nicht nur mit Blick auf den Fall Khashoggi die Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien beschränkt haben, sondern auch, weil wir Druck ausüben und deutlich machen wollen, dass wir von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten einen Beitrag zu einem Friedensprozess erwarten. Wir von der Union unterstützen diese Haltung. Ich stimme Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier völlig zu: Es hat keine Folgen positiver Art, wenn nur wir die Exporte nicht weiter durchführen, aber gleichzeitig andere Länder diese Lücke füllen. Ein dauerhafter Alleingang Deutschlands in dieser Frage ist ein falscher Weg. Danke. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 10. April 2019, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen bis dahin alles Gute und danke im Übrigen auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die uns durch diese Woche begleitet haben. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 16.22 Uhr)