Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf stärken wir die Verbindung zwischen den Prinzipien des Sozialstaats und des Rechtsstaates. Es geht um die Tätigkeiten des Zolls, der ein sehr, sehr breites und großes Spektrum hat. Zu diesen großen Aufgaben, die er heute schon hat, gehört auch der Kampf gegen illegale Beschäftigung und gegen organisierte Kriminalität in der Arbeitswelt. Der Zoll kontrolliert und ermittelt in Betrieben, auf der Straße und auf Baustellen, und er hat mit dem, was er bisher macht, schon viele Schäden aufgedeckt. 1,8 Milliarden Euro ist die Zahl, die wir zuletzt berichtet bekommen haben. Natürlich kontrolliert er auch bei Verstößen gegen den Mindestlohn und der Ausbeutung von Arbeitskräften. Wir können stolz sein auf den Zoll. Er leistet bereits heute eine sehr, sehr gute Arbeit.
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Aber eines ist auch ganz klar: Der Zoll muss mit den Instrumenten arbeiten, die ihm heute zur Verfügung stehen. Das sind gar nicht alle die, die man sich vorstellt, wenn man den Zoll im Blick hat. Das hat historische Gründe. Die haben etwas damit zu tun, dass der Zoll die Aufgaben der Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit übertragen bekommen hat, Aufgaben, die vorher zum Sozialversicherungsbereich gehörten. Aber tatsächlich ist es eine Behörde mit viel mehr Ermittlungskompetenzen, wenn es um die klassischen Felder der Zolltätigkeit geht.
Deshalb ist es wichtig, dass wir angesichts der wachsenden Kriminalität gerade in diesem Bereich die Beamtinnen und Beamten besser ausstatten, dass wir sie in die Lage versetzen, denjenigen entgegenzutreten, die mit hoher krimineller Energie arbeiten, dass wir Missbrauchsformen aufdecken, die viel komplexer werden, und dass wir dagegen vorgehen können, wenn Täter grenzüberschreitend am Werke sind, wenn es Geflechte gibt mit Subunternehmern und Scheinfirmen. Der Zoll braucht zusätzliche Kompetenzen. Diese bekommt er mit dem neuen Gesetz.
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Warum machen wir das? Unser Wirtschaftssystem, der Arbeitsmarkt, der Sozialstaat, alles das, was wir gemeinsam so schätzen, sind darauf angewiesen, dass nicht irgendjemand die Regeln umgeht und Missbrauch betreibt. Das ist wichtig für die Unternehmerinnen und Unternehmer und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich an die Regeln halten. Aber es ist auch wichtig, damit wir immer wissen, dass nicht mitten in unserer Gesellschaft Milieus und gesellschaftliche Strukturen entstehen, die sich außerhalb der Regeln, die wir miteinander besprochen haben und die wir festgelegt haben, entwickeln. Deshalb kann man nur sagen: Wir lassen uns das, was an neuer Entwicklung im Bereich der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung zu beobachten ist, nicht gefallen.
Der Rechtsstaat hat die Pflicht und die Möglichkeiten, dafür zu sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden. Diejenigen, die sich an die Regeln halten, müssen sich eben darauf verlassen können, dass wir das machen. Darum brauchen wir einen gut ausgestatteten Zoll, der die Möglichkeiten hat, den Rechtsstaat auch durchzusetzen. Die Beamten sollen nicht mehr zusehen müssen, wenn zum Beispiel bandenmäßige Tätigkeiten zu beobachten sind, durch die der Sozialstaat hintergangen wird. Das können wir in wachsendem Maße feststellen: Was in großem Umfang eine Rolle spielt und was wir immer wieder sehen, sind Scheinfirmen und Scheinrechnungen, in großem Stil organisiert und mit all den Strukturen, die man bei organisierter Kriminalität wahrnehmen kann. Deshalb brauchen wir neue zusätzliche Möglichkeiten und Kompetenzen, um dagegen vorgehen zu können.
Man muss auch etwas tun können, wenn ganz offensichtlich zu sehen ist, dass es in unserer Gesellschaft Dinge gibt, die nicht in Ordnung sind. Viele kennen Orte, an denen oft Männer und Frauen stehen, die ihre Arbeitskraft anbieten, wo dann irgendwelche Autos vorbeifahren, diese Menschen einsammeln und irgendwohin fahren. Jeder weiß, was dort genau geschieht: Es geht nämlich um illegale Beschäftigung und um die Verletzung vieler Regeln, die wir miteinander haben. Es ist gut, dass der Zoll jetzt die Möglichkeit bekommt – diese existiert heute noch nicht –, schon bei einem Verdacht einschreiten zu können und dafür zu sorgen, dass man solche Entwicklungen in unseren Städten, in unseren Gemeinden verhindern kann.
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Wir alle haben davon in vielen Berichten gelesen, haben oft auch nachgeschaut und kennen das aus den Städten, in denen wir aktiv sind, nämlich dass es Schrottimmobilien gibt, in denen Männer, Frauen, Familien zu Wucherpreisen wohnen, in denen die Wohnungen vollkommen überbelegt sind. Hier sieht man alle möglichen Strukturen, die wir in unserer Gesellschaft nicht haben wollen. Deshalb muss es möglich sein, dass man dort besser kontrollieren kann, als das heute der Fall ist, um solche Missstände in unserer Gesellschaft zu unterbinden.
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Natürlich gehört dazu auch, dass wir etwas dagegen tun, wenn zum Beispiel Kindergeld kassiert wird, ohne dass überhaupt Kinder da sind. Die Regeln sind heute nicht präzise genug, um das alles aufgreifen zu können. Mit den vielen Veränderungen, die wir jetzt vorschlagen, werden wir solche Missstände besser aufdecken können. Kindergeld ist eine Leistung, die für Kinder da ist, und nicht etwas, was man über Scheinstrukturen als zusätzliche Einnahmequelle nutzen kann. Auch da kann der Zoll, können die zuständigen Behörden jetzt besser vorgehen.
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Darum ist es wichtig, dass wir das angehen. Das machen wir mit unserem Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch. Der Zoll bekommt all die Kompetenzen, die er braucht, um effektiv handeln zu können. All die Befugnisse, die wir benötigen, werden bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit gebündelt. Wir passen insgesamt 15 Gesetze an, damit wir in der Praxis besser handeln können, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Ich nenne ein Beispiel: Den Mindestlohn, den wir in Deutschland beschlossen haben und um den so lange gerungen wurde, soll jeder, der in diesem Land arbeitet, auch tatsächlich erhalten. Wir können nicht akzeptieren, dass immer wieder Berichte auftauchen, in denen zu erfahren ist, dass mit irgendwelchen Scheinverträgen Leute viel weniger verdienen als das, was ihnen zusteht. Das müssen wir kontrollieren und unterbinden können.
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Die Kompetenzen, die neu entstehen, werden dazu beitragen, dass der Zoll diese Tätigkeiten auch wahrnehmen kann, zum Beispiel dann, wenn es darum geht, selbstständig Ermittlungen gegen Scheinselbstständigkeit und verschiedene andere Verfahren durchzuführen. Oft ist das heute sehr kompliziert. Deshalb ist es sehr gut, dass die Staatsanwaltschaft vom Zoll unterstützt werden kann und dass der Zoll gewissermaßen aus eigener Kraft und durch seine Aktivitäten die Staatsanwaltschaften in die Lage versetzen kann, Anklagen zu erheben.
Dazu gehört etwa auch, dass es in bestimmten Bereichen der Kriminalität, der illegalen Beschäftigung die Notwendigkeit gibt, zum Instrument der Überwachung der Telefone zu greifen, damit wir die bandenmäßigen Strukturen im Hintergrund aufdecken können. Auch müssen wir Unterkünfte von Arbeitnehmern überprüfen können, was bisher rechtlich nicht so einfach möglich ist, sondern juristisch eine hochkomplizierte Angelegenheit ist. Das wird jetzt alles viel besser werden. Ich glaube also, dass wir mit diesem Gesetz dazu beitragen, dass Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung in unserem Land zurückgehen werden.
Dieses Ziel werden wir auch dadurch erreichen, dass die Kontrolldichte größer wird. Das Gesetz betrifft die rechtlichen Möglichkeiten. Was wir zusätzlich brauchen, sind viele Beschäftigte beim Zoll. Deshalb ist es eine gute Botschaft, dass in den letzten Jahren die Zahl der Beschäftigten beim Zoll zugenommen hat, dass die Zahl derjenigen, die sich mit der Kontrolle der Schwarzarbeit beschäftigen, größer geworden ist. Es werden viele, viele tausend zusätzliche Stellen in den nächsten Jahren sein, damit der Zoll all das tun kann, was wir ihm jetzt als gesetzlichen Auftrag geben.
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Ich habe es schon gesagt: Wir stärken den Rechtsstaat und den Sozialstaat. Das gehört zusammen. Das gehört auch zum Selbstbild unserer Gesellschaft. Der Zoll ist eine hochleistungsfähige Behörde unseres Landes und ist in der Lage, dazu beizutragen, dass das Leben in unserem Land besser wird, indem er dafür sorgt, dass sich alle an die Regeln halten. Ich glaube, das ist wichtig für eine der größten kulturellen Errungenschaften unseres Landes, nämlich den Sozialstaat.
Schönen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Stefan Keuter, AfD.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Zuschauer! Die Bundesregierung legt heute einen Gesetzentwurf vor gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch. Das klingt erst einmal gut. Kurz gesagt: Gut gedacht, schlecht gemacht!
Billigfriseure, die Haarschnitte für 8 Euro und weniger anbieten, Dönerbuden mit Kampfpreisen von 2,50 Euro und Handwerkerkolonnen, die Pfusch zu Niedrigstpreisen verkaufen, sind nur einige Beispiele, die unsere Bürger tagtäglich wahrnehmen. Nennen wir die Probleme beim Namen: Es geht um die Baumafia. Es geht um Arbeiterstriche, wo zumeist osteuropäische Tagelöhner vermittelt werden. Es geht um Verschleierung von Zahlungspflichtigen für Steuern und Sozialabgaben. Es geht um Lohndumping.
Und es geht um Kindergeldbetrug. Die Bundesregierung schreibt selbst in der Begründung zu ihrem Gesetzentwurf:
Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass vom Kindergeld eine nicht beabsichtigte Anreizwirkung für einen Zuzug aus anderen Mitgliedstaaten ausgeht.
Ach was! Wir von der AfD weisen bereits seit 2014 auf diese Fehlentwicklungen hin und werden dafür von links-grünen Weltverbesserern mit ihren Realitätsverweigerungsbrillen ständig diffamiert.
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Mit dieser Verweigerungshaltung von Ihnen, die Sie schon länger in diesem Hause sitzen, haben Sie Deutschland großen Schaden zugefügt.
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Herr Scholz, wissen Sie, wie so etwas praktisch abläuft? Schlepper bringen systematisch Menschen aus Osteuropa nach Deutschland, quartieren sie in Schrottimmobilien ein, besorgen ihnen teils gefälschte Arbeitsnachweise, damit sie hier Kindergeld kassieren können – auch für Kinder, die nur auf dem Papier existieren. Wie reagiert die Bundesregierung? Der Zoll muss massiv aufgerüstet werden. Er braucht neue Rechte bei der Ermittlung und Durchsetzung. Bundesminister Scholz – wir haben ihn gerade gehört – sprach vollmundig von der Durchsetzung. Das klingt zunächst einmal gut, aber wir wollen genauer hinschauen.
Der Zoll soll auf Arbeiterstrichen Platzverweise aussprechen dürfen, hat aber andererseits nicht die Möglichkeit des Durchsetzungsgewahrsams. Wie soll das funktionieren, Herr Scholz? Auch wäre eine Anbindung an die IT-Systeme der Polizei sinnvoll, um Doppel- und Dreifacharbeit zu vermeiden. Die Strukturen des Zolls und auch die Zusammenarbeit mit der Polizei müssten effektiver sein. Der hier vorgelegte Gesetzentwurf sieht vor, dass die beim Zoll angesiedelte Einheit Finanzkontrolle Schwarzarbeit, auch FKS genannt, deutlich aufgestockt werden soll. Das passt wieder ins Konzept der SPD: die große Gießkanne, 3 500 neue Stellen zusätzlich zu den bisher geplanten. Über die Kosten hat Bundesminister Scholz eben nicht gesprochen. Ich sage es Ihnen: eine knappe halbe Milliarde Euro jährlich zuzüglich Einmalkosten von über 100 Millionen Euro.
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Wir müssen tiefer an die Wurzel des Problems. Die Bekämpfung von Kriminalität ist das eine; die Einwanderung in die Sozialsysteme zu stoppen, ist das andere. Die Zahl der Hartz‑IV-Empfänger aus Rumänien und Bulgarien hat sich seit 2015 mehr als vervierfacht.
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Das ist nicht mit normaler Arbeitslosigkeit zu erklären, schon gar nicht angesichts der angeblich ach so boomenden Wirtschaft, die ja jetzt schwächelt. Durch das für diesen Personenkreis vergleichsweise hohe Versorgungsniveau werden die Menschen geradezu eingeladen, in unsere Sozialsysteme einzuwandern.
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Wer bedürftig ist und die Solidarität seines Volkes benötigt, soll diese auch bekommen – von seinem Volk.
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Es ist nicht mehr vermittelbar, dass sich die deutschen Arbeitnehmer immer weiter einschränken und länger arbeiten sollen, während Zuwanderer – nicht nur aus der EU – es sich in unseren Sozialsystemen gutgehen lassen. Die Anreize für Zuwanderung in die Sozialsysteme müssen deutlich reduziert werden,
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sonst doktern wir ewig an den Symptomen herum, ohne echte Lösungen zu bekommen.
Wir freuen uns auf die Beratungen im Finanzausschuss.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Tillmann, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Nach der Rede von Finanzminister Scholz hatte ich schon befürchtet, dass es eine langweilige Debatte wird; denn ich konnte jedem Wort, das der Minister gesagt hat, nur zustimmen.
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Aber Herr Keuter hat die Stimmung sozusagen gerettet. Nach Ihrer Rede war klar, dass es hier eine sehr kontroverse Diskussion geben wird. Denn Sie haben das Thema wieder genutzt, um Menschen zu diffamieren, die in Deutschland mit uns zusammen am Sozialstaat arbeiten.
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Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Das Sozialstaatsprinzip zeigt sich darin, dass Leistungsstärkere mit ihren Leistungen, also durch Steuern und Sozialabgaben, Leistungsschwächere unterstützen. Das Sozialstaatsprinzip ist ziemlich unbestritten und breiter Konsens in der Bevölkerung. Leistungsträger sind auch ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die seit langem auf dem deutschen Arbeitsmarkt für uns und mit uns zusammen unseren Wohlstand sichern.
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Das lassen wir uns von Ihnen, Herr Keuter, nicht kaputtreden.
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Ich danke der Bevölkerung, dass sie das überwiegend genauso sieht.
Natürlich verstehe ich die Verärgerung derjenigen, die den Sozialstaat tragen, wenn es Missbrauch gibt. Gegen diesen Missbrauch wollen wir mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf vorgehen. Diesen Missbrauch betreiben übrigens Deutsche und Ausländer. Das ist eine kleine Gruppe von Menschen, die sich nicht an die Regeln halten wollen. Aber da ist es mir völlig egal, ob es ein rumänischer Schlepper oder ein Deutscher von der Baumafia ist.
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Wir müssen gegen Missbrauch von beiden Seiten vorgehen.
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Die Fallgruppen hat Herr Minister Scholz ja schon vorgetragen: im Baugewerbe, wo durch fingierte Rechnungen Schwarzarbeit gefördert wird, auf der Straße, wo Menschen ausgebeutet werden – der Billigste wird genommen, und dann werden ihm Sozialleistungen auch noch vorenthalten –, aber auch beim Kindergeld, wo Menschen fingierte Geburtsnachweise vorlegen. Das Kindergeld kommt dann nicht Kindern zugute, sondern Schlepperbanden. Ich betone ausdrücklich, dass es bei diesem Gesetz nicht darum geht, den berechtigten Anspruch von Kindergeld im europäischen Ausland zu reglementieren. Darum geht es hier nicht.
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Vielmehr geht es um Verbrecher, um Schleuser, um Kriminelle, denen wir das Handwerk legen wollen. Dies wird mit diesem Gesetz auch passieren.
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Es ist nicht so, dass wir seit 2014 nichts gemacht haben. Wir brauchten nicht die AfD, um festzustellen, dass es da Probleme gibt. Wir haben auch schon in der letzten Legislaturperiode Maßnahmen ergriffen, um diesem Missbrauch entgegenzuwirken. Wir haben nämlich die Möglichkeit, Kindergeld rückwirkend zu beantragen, auf sechs Monate beschränkt. Wir haben einen besseren Informationsaustausch zwischen Meldestellen und Familienkassen eingeführt. Das hat schon zu einer erheblichen Verbesserung geführt.
Wir schließen mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf die Lücken, die noch bestehen. Wir wollen, dass die Menschen, die in diesem Land mit ihrer Arbeit, mit ihrer Leistungsfähigkeit zum Wohlstand beitragen, auch weiterhin davon überzeugt sind, dass der Sozialstaat für uns alle gut ist, nicht nur für diejenigen, die davon leben.
Der Zoll wird zusätzliche Kompetenzen bekommen, Gott sei Dank auch zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ich danke all denjenigen, die schon heute ihre Arbeit beim Zoll tun. Das ist nicht immer vergnügungsteuerpflichtig, nicht immer werden sie fröhlich aufgenommen. Von daher herzlichen Dank! Ich wünsche mir, dass viele junge Menschen die Stellen, die wir zusätzlich zur Verfügung stellen, sehr schnell besetzen und sich in diese Ausbildung begeben.
Wir wollen bei Verdachtsfällen frühzeitiger reagieren. Wir wollen Regelungen, um bereits bei der Anbahnung von illegaler Beschäftigung eingreifen zu können. Wir wollen beim Inverkehrbringen von Scheinrechnungen den Tatbestand der Ordnungswidrigkeit einführen. Der Zoll soll bei der Überwachung von Verdächtigen die Möglichkeit der Telekommunikationsüberwachung bekommen. Wir wollen, dass beim Kindergeldanspruch stärker an die wirtschaftliche Betätigung angeknüpft wird. Wir wollen, dass Kindergeldzahlungen vorläufig gestoppt werden, wenn es den Verdacht auf Missbrauch gibt.
Das sind lauter Maßnahmen, die wir im Gesetzgebungsverfahren mit den Kolleginnen und Kollegen überprüfen. Ich bin auf Ihre konkreten Änderungsvorschläge sehr gespannt. Seien Sie sich gewiss, dass wir prüfen werden, ob nicht der eine oder andere dabei ist, den wir vielleicht noch aufnehmen. Solange Sie Ihre Vorschläge frei von Hetze und sachgerecht vortragen, sind wir natürlich bereit, mit Ihnen darüber zu diskutieren.
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Wir wollen einen besseren Informationsaustausch zwischen Familienkassen und Zollämtern. Wir wollen auch, dass inländische Einkünfte besser nachgewiesen werden können; das ist für den Bezug von Sozialleistungen wichtig. Ich bin sicher, dass das Sozialleistungsprinzip und das Sozialstaatsprinzip in der Bevölkerung auch weiterhin breiten Rückhalt haben, wenn wir sicherstellen, dass es keinen Missbrauch gibt. Dazu fordere ich uns alle auf. Wir müssen den Sozialstaat und dieses soziale System stärken, indem wir den Missbrauch bekämpfen. Dieses Gesetz ist ein guter Weg in die richtige Richtung.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Markus Herbrand, FDP.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass wir Sozialleistungsbetrug, Schwarzarbeit und auch Lohnausbeutung beim sogenannten Arbeiterstrich bekämpfen müssen, ist doch selbstverständlich. Wir begrüßen auch ausdrücklich, dass der Missbrauch beim Kindergeldbezug endlich bekämpft wird; da hat sich ja eine regelrechte Industrie entwickelt. Insofern benennt und identifiziert der Gesetzentwurf selbstverständlich bestehende Schwachstellen.
Es stimmt auch: Der Zoll nimmt elementare Aufgaben für den Staat wahr. In letzter Zeit kommt aber eines viel zu kurz: Weil er viel zu lange stiefmütterlich behandelt wurde, krankt er inzwischen massiv an mehreren Stellen. Dabei denke ich vor allem an die halbherzigen Übertragungen immer neuer Aufgaben in den letzten Jahren: die Verwaltung der Kfz-Steuer, die Überprüfung im Falle von Schwarzarbeit, die Bekämpfung der Geldwäsche und die Überprüfung der viel zu bürokratischen Mindestlohndokumentation. Das alles führt zu strukturellen Problemen.
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In den Chor der Koalition, der nur Lobeshymnen auf diesen Gesetzentwurf singt, werden wir aber nicht einstimmen. Denn auch wenn Sie durchaus relevante Probleme identifiziert haben, ist Ihr Gesetzentwurf aus unserer Sicht noch kein großer Wurf. Unsere Skepsis beruht auf mehreren Gründen.
Erstens. Zunächst hat die FDP Bedenken, ob die zusätzlichen Ermittlungs- und Prüfungskompetenzen rechtsstaatlich angemessen und diesbezüglich verhältnismäßig ausgestattet sind.
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Die FDP ist die Partei der Bürgerrechte. Deshalb werden wir diesen Bedenken im Gesetzgebungsverfahren nachgehen.
Zweitens. Der Finanzminister denkt leider nicht im Traum daran, den bestehenden Verwaltungswahn einzustampfen. Verwaltungsvereinfachungen werden nicht ernsthaft angegangen. Gestern hat mein Kollege Dr. Hoffmann hierzu eine Frage gestellt. 34 000 Meldungen werden an der deutsch-schweizerischen Grenze täglich manuell abgestempelt. Ein Wahnsinn!
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Bevor wir immer mehr Personal in die Prüfung stecken, wäre es für den Staat doch ratsam, alle Möglichkeiten von Effizienzsteigerungen auszuloten. Zunächst sollten Arbeitsabläufe hinterfragt und auch Digitalisierungspotenziale ausgeschöpft werden. Wer einmal eine Prüfung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit miterlebt hat, der weiß, dass dort immer noch in ganz hohem Maße analog gearbeitet wird. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit könnte viel schlagfertiger sein, wenn die bereits seit Jahren bestehenden Vorgaben des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes endlich umgesetzt wären. Zum Beispiel ist immer noch nicht sichergestellt, dass die eine Behörde auf die Daten der anderen Behörde zugreifen darf. Das darf nicht weiter so sein.
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Vielleicht wäre es also ratsam, zunächst einmal die bestehenden Gesetze auch umzusetzen.
Die Bundesregierung will mit diesem Gesetz vornehmlich eins erreichen: sich als Vorreiter für die Einhaltung bestehender Gesetze in Szene setzen. Da ist es doch sehr interessant, dass Sie auf eine Anfrage der FDP-Fraktion vergangene Woche haben einräumen müssen, dass ausgerechnet auch beim Zoll nicht alle tarifvertraglichen Vereinbarungen eingehalten werden;
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denn nach Ihrer Antwort auf unsere Anfrage werden nicht für alle tariflich Beschäftigten Arbeitsplatzbeschreibungen vorgehalten.
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Ich glaube, da kann man auch von Doppelmoral sprechen.
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Sehr geehrte Kollegen, ich warne davor, Verbesserungen nur auf dem Papier vorzunehmen. An der hier längst überfälligen Initiative zur Stärkung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit müssen wir noch deutlich nachbessern. Wir freuen uns auf die inhaltliche Auseinandersetzung in den zuständigen Ausschüssen.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Susanne Ferschl, Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister! Ja, es ist dringend notwendig, gegen illegale Beschäftigung, gegen Verstöße beim Mindestlohn und gegen Ausbeutung am Arbeitsmarkt vorzugehen.
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Dieser Gesetzentwurf taugt dafür aber nicht; denn er beseitigt nicht die Ursachen von Schwarzarbeit, sondern kriminalisiert die Opfer von Ausbeutung, und er diskriminiert letztlich auch noch EU-Bürger. Ich bin echt sauer, Herr Minister, dass so ein Gesetzentwurf aus dem SPD-geführten Ministerium kommt.
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Ich fange trotzdem zunächst mit dem Positiven an, und zwar der Aufstockung des Personals der Finanzkontrolle Schwarzarbeit. Das ist eine Forderung, die wir schon sehr lange erheben, und es ist längst überfällig, diesen Bereich der Zollverwaltung zu stärken. Von Ihrem CDU-Vorgänger im Amt war offensichtlich nicht gewollt, dass die Einhaltung des Mindestlohns ordentlich kontrolliert wird. Insofern ist es gut, dass jetzt mehr Personal dafür zur Verfügung gestellt werden soll. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen beim Zoll und bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit für die Wahrnehmung ihrer wichtigen Aufgabe bedanken.
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Es ist aber rechtsstaatlich bedenklich und fragwürdig, wenn man die Finanzkontrolle Schwarzarbeit mit einer so großen Machtfülle ausstattet,
(Zuruf der Abg. Andrea Nahles [SPD]
zum Beispiel mit der Möglichkeit der Telekommunikationsüberwachung, bis hin zur Möglichkeit, dass Rechte und Aufgaben einer Anklagebehörde wahrgenommen werden sollen. Dieses Ausmaß ist nicht nötig.
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Die Bußgelder und Strafen, die verhängt werden, richten sich gleichermaßen gegen Beschäftigte wie Arbeitgeber. Um dies einmal deutlich zu machen: Opfer von Ausbeutung, also Menschen, die ihre Arbeitskraft auf den Tagelöhnerbörsen verkaufen, werden genauso bestraft wie die kriminellen Unternehmen, die davon profitieren. Das sind doch die eigentlichen Kriminellen, und das ist nicht hinnehmbar.
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Mit dem Fokus auf der Kriminalisierung der Opfer lenken Sie von den eigentlichen und hausgemachten Ursachen für illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit ab. Es ist so, als ob man jahrelang Öl ins Feuer gießen und dann plötzlich die Feuerwehr verstärken würde, ohne dem Feuer endlich die Nahrung zu entziehen. Illegale Beschäftigung dämmt man ein, indem man den Niedriglohnsektor austrocknet und den Arbeitsmarkt reguliert.
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Um dies an zwei Punkten festzumachen:
Erster Punkt. Minijobs sind ein Haupteinfallstor für Schwarzarbeit und Mindestlohnbetrug. Der Minijob wird angemeldet, und der Rest läuft dann schwarz. Aber was macht die Bundesregierung? Sie weitet die Möglichkeiten für Minijobs im Saisonarbeiterbereich auch noch aus. Das ist doch absurd, meine Damen und Herren.
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Die Linke fordert deswegen schon lange: Minijobs müssen in die Sozialversicherung und in den normalen Arbeitsmarkt integriert werden.
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Zweiter Punkt: Tarifbindung. Früher war es für Unternehmen gar nicht lukrativ, Tätigkeiten in Subunternehmen auszulagern, weil auch die Nachunternehmen ordentlich bezahlt wurden. Mittlerweile ist es so, dass nur noch jede oder jeder zweite Beschäftigte unter den Schutz eines Tarifvertrags fällt. Heute wird in Sub-, Sub-Sub- und noch mehr Subunternehmen ausgegliedert, die keiner Tarifbindung unterliegen und mieseste Stundenlöhne bezahlen. Das fördert doch Schwarzarbeit und gehört unbedingt unterbunden.
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Deswegen brauchen wir Tarifverträge, die aufgrund einer Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung für alle gelten, ein einheitliches Tariftreue- und Vergabegesetz, damit öffentliche Aufträge auch nur an tarifgebundene Unternehmen vergeben werden, und eine Änderung der Vergabepraxis hin zur Qualität von guter Arbeit und weg vom Preis.
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Darüber hinaus brauchen wir eine Nachunternehmerhaftung, damit die auslagernden Unternehmen gezwungen werden, stärker darauf zu achten, dass die Subunternehmen auch Mindestlohn und Tariflöhne bezahlen.
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Von all dem, Herr Minister, finde ich in Ihrem Gesetzentwurf nichts. Nicht einmal zu einem Verbandsklagerecht hat es gereicht. Das kann doch wirklich nicht wahr sein.
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Dafür enthält der Gesetzentwurf einen Punkt, der besonders perfide ist. Sie schließen letztendlich EU-Bürger vom Kindergeldbezug aus. Ja, merken Sie eigentlich noch, dass Sie damit den Rechtspopulisten auf den Leim gegangen sind?
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Kindergeldzahlungen sind geltendes EU-Recht. Das mag Ihnen nicht gefallen, Frau Nahles, aber es ist nun einmal so.
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Nur 1 Prozent der Kindergeldzahlungen fließen auf ausländische Konten. Das taugt nun wirklich nicht für einen Skandal.
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Schon 2016 hat die Neue Richtervereinigung, als die Bundesregierung die EU-Bürger vom Sozialleistungsbezug ausgeschlossen hat, von einer „sozialrechtlichen Apartheid“ gesprochen. Genau da machen Sie weiter. Das ist doch nicht zu fassen.
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Sie wollen Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber gleichzeitig gewähren Sie den Menschen nicht die existenzsichernden Leistungen.
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Insofern ist es doch traurig, dass die SPD sieben Wochen vor der Europawahl, bei der es darum geht, die Menschen für ein solidarisches Europa zu begeistern, so einen spalterischen Unsinn auch noch mitmacht.
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Diese Spaltungsversuche und auch die Kriminalisierung von Armutsopfern werden wir als Linke nie und nimmer mitmachen.
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Die Linke steht für gute Arbeit für alle Menschen, und zwar in Deutschland und in Europa, für soziale Standards, die überall gelten, und für einen europäischen Mindestlohn.
Vielen Dank.
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Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass in der EU mehr als 600 000 Menschen von Arbeitsausbeutung betroffen sind, und diese findet auch in Deutschland statt. Diese Menschen bekommen entweder gar keinen Lohn oder zu wenig, und sie haben häufig hohe Abzüge für Vermittlung, Unterkunft oder Verpflegung. Sie müssen lange und hart arbeiten – häufig unter gefährlichen Bedingungen. Sie leben in Matratzenlagern oder in baufälligen Unterkünften. Sie werden ausgebeutet, getäuscht, betrogen und menschenunwürdig behandelt. Das darf es nicht geben. Wir müssen die Menschen vor Arbeitsausbeutung schützen.
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Arbeitsausbeutung hat auch Folgen für das Gemeinwesen. Die Stichworte sind „Steuerhinterziehung“ und „Sozialversicherungsbetrug“. Wie hoch die Schäden eigentlich sind, weiß niemand. Davon betroffen sind auch die verantwortungsvollen Unternehmen; denn sie müssen sich gegen diese Schmutzkonkurrenz behaupten. Deshalb wurde vor drei Jahren das Strafgesetzbuch geändert, um Arbeitsausbeutung, Menschenhandel und Zwangsarbeit besser greifen zu können. Diese Änderung brachte aber keinen Erfolg. Das zeigen die Zahlen, die ich gerade erst abgefragt habe: Im Jahr 2017 gab es gerade einmal fünf Ermittlungsverfahren wegen Ausbeutung der Arbeitskraft. Bei Zwangsarbeit waren es ganze drei Verfahren.
Arbeitsausbeutung muss also endlich effektiv bekämpft werden,
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und deshalb geht der Gesetzentwurf an dieser Stelle in die richtige Richtung. Auch wir wollen die Finanzkontrolle Schwarzarbeit stärken.
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Es ist wichtig, dass die FKS endlich bei Verdacht auf ausbeuterische Arbeitsbedingungen ermitteln darf. Gut sind zum Beispiel auch tarifliche Mindeststandards für Unterkünfte im Arbeitnehmer-Entsendegesetz, deren Einhaltung kontrolliert wird. Und gut ist auch, dass die FKS besser gegen die Ausbeuter vorgehen kann, die Tag für Tag Arbeitskräfte für billiges Geld von der Straße holen.
Was wir aber in diesem Zusammenhang strikt ablehnen, sind Strafen gegen die Menschen, die ausgebeutet werden. Nicht die Menschen, sondern die Ursachen von Armut und Perspektivlosigkeit müssen bekämpft werden.
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Auch an anderen Stellen haben wir noch Diskussionsbedarf. Die Stichworte sind „kleine Staatsanwaltschaft“, „das Betreten der Unterkünfte ohne richterlichen Beschluss“, „Datenschutz“ und insbesondere die „Telekommunikationsüberwachung“. Das sind schon harte Eingriffe,
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und die müssen genau überlegt und insbesondere gut begründet sein.
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Positiv wiederum ist, dass die Finanzkontrolle Schwarzarbeit mehr Personal bekommen soll. Das fordern wir schon lange. Das Problem ist nur – jetzt hört der Herr Minister nicht zu –, dass mittlerweile 1 300 Stellen, und zwar von den alten Stellen, nicht besetzt sind. Das heißt, Herr Minister, Sie dürfen nicht nur ankündigen, sondern Sie müssen auch endlich liefern!
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Wir Grünen wollen, dass es gerecht zugeht auf dem Arbeitsmarkt. Arbeitsausbeutung darf es nicht geben. Wir wollen faire und gleiche Bedingungen für die Unternehmen. Im Ziel sind wir uns also einig. Aber darüber, ob dieses Ziel alle geplanten Mittel und Befugnisse rechtfertigt, werden wir im Ausschuss noch heftig diskutieren müssen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Ingrid Arndt-Brauer, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf gegen illegale Beschäftigung, Schwarzarbeit, Sozialleistungsbetrug sowie Kindergeldmissbrauch löst nicht alle Probleme des Landes, aber einige wichtige. Die Sondereinheit des Zolls, die sogenannte Finanzkontrolle Schwarzarbeit, wird zusätzliche Befugnisse bekommen. Sie wird mehr Personal bekommen; 3 500 zusätzliche Stellen sind hier vorgesehen. Ich denke, das ist ein wichtiges Signal, und das ist eine wirksame Maßnahme, die damit in Kraft treten wird.
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Der Gesetzentwurf ist grob gegliedert in vier Bereiche. Der erste Bereich ist der Einsatz für faire Arbeitsbedingungen. Die FKS, also die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, darf jetzt schon bei Verdacht auf Arbeitsausbeutung, Zwangsarbeit oder Menschenhandel ermitteln. Schon bei Verdacht! Das Sicherheitsgewerbe wird in den Branchenkatalog des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes aufgenommen. Auch das ist ein Gewerbe, das unter größere Beobachtung gestellt werden muss. Die Unterkunftsbedingungen von Arbeitnehmern werden auf Einhaltung von Mindeststandards gemäß Arbeitnehmer-Entsendegesetz geprüft, und es wird eingegriffen, wenn diese nicht eingehalten werden.
Der zweite große Bereich ist das Einschreiten gegen Tagelöhnerbörsen. Im Ruhrgebiet bei uns in NRW sagt man „Arbeiterstrich“ – das trifft es, glaube ich, besser; davon hat jeder eine etwas plastischere Vorstellung. Hier soll schon bei der Anbahnung eingeschritten werden können, also nicht erst, wenn irgendwelche Verfehlungen entdeckt werden konnten. Hier wird auch ganz stark die Einhaltung des Mindestlohns kontrolliert, weil in diesem Zusammenhang die meisten Missbräuche und Verstöße stattfinden.
Der dritte Bereich, den der Gesetzentwurf beinhaltet, ist der Kampf gegen organisierte Kriminalität. Wir haben es ansatzweise schon gehört. Hier geht es um Kettenbetrug, hier geht es um Scheinrechnungen, hier geht es um Sub-Sub-Sub-Subunternehmen. Hier muss man verstärkt Maßnahmen wie die Telekommunikationsüberwachung ergreifen. Wir müssen verstärkt gegen diese organisierte Kriminalität vorgehen.
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Der vierte Bereich ist der Missbrauch von Sozialleistungen, zum Beispiel beim Kindergeld. Dazu wird mein Kollege Michael Schrodi noch mehr ausführen.
2018 hat der Zoll einen Schaden für den Staat in Milliardenhöhe verhindert und das Geld eintreiben können. Der Gesellschaft wird wirklich Geld entzogen, wenn es zum Schaden kommt. Im Jahr 2018 sind 52 579 Ermittlungen durchgeführt worden. Es sind also keine Ausnahmen. Das betrifft Sozialversicherungsbetrug, das betrifft den Mindestlohn, der nicht eingehalten wird, und das betrifft organisierte Schwarzarbeit.
Wir brauchen stärke Überprüfungsrechte. Wir brauchen neue Ermittlungsbefugnisse. Und wir brauchen einen besseren Datenaustausch. Ich denke, der Zoll kann damit in Zukunft besser arbeiten. Er arbeitet jetzt schon sehr gut. Ich bedanke mich bei allen, die beim Zoll arbeiten. Ich wünsche dem Zoll, dass er in Zukunft noch besser für unsere Gemeinschaft, für unseren Sozialstaat arbeiten kann.
Vielen Dank.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Kay Gottschalk, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Liebe Gäste! Liebe Menschen und Bürger an den Bildschirmen! Zunächst einmal – das ist verräterisch – bedanke ich mich als Volksvertreter an dieser Stelle recht herzlich bei den Menschen des Zolls, die trotz der ganzen Behinderungen staatlicherseits und des Murks der EU andererseits so engagiert sind und so hervorragende Arbeit leisten. Vielen Dank an die Mitarbeiter!
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Ein zweites Dankeschön möchte ich an die EU richten – für Ausbeutung von Arbeitnehmern, Kindergeldmissbrauch, organisierte Kriminalität, einen Arbeitnehmerstrich, den ich hier zitiere. Auch das sind alles Errungenschaften Ihrer so abgefeierten EU. Die EU macht es möglich, und das verschweigen Sie an dieser Stelle. Liebe Bürgerinnen und Bürger, erteilen Sie der EU – nicht Europa, sondern der Europäischen Union – als Folge daraus im Mai bei der Europawahl eine ganz klare Abfuhr, indem Sie AfD wählen,
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damit auch das in der EU bekämpft werden kann, was hier von Ihnen mit Katzenjammer beklagt wird.
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Die Bundesregierung setzt hier einige Punkte aus dem Koalitionsvertrag um. Man fragt sich, aus welchem: dem der CDU, der SPD, der CSU, vielleicht hat die FDP auch schon ein bisschen mitgeredet. Dennoch bin ich hocherfreut, dass Sie tatsächlich erkannt haben: Wir müssen gegen Schwarzarbeit und OK vorgehen.
Aber es sind Placebos. Die FDP hat schon wieder Bedenken und argumentiert mit Bürgerrechten.
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Beispielsweise ist das größte Problem bei der FIU, dass sie nicht auf die Dateien der Landeskriminalämter zugreifen kann. Teilweise sind Ihre Vorschläge genauso Placebos fürs Volk, mit denen Sie effiziente Verbrechensbekämpfung bekämpfen. Das ist die FDP 4.0, die Digitalisierung fordert. Herzlichen Dank, auch darauf können wir verzichten.
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Meine Damen und Herren, wir als AfD haben – das ist hier schon genannt worden; vielen Dank für das Kompliment – die Bundesregierung auf den tatsächlich rechten Pfad gewiesen. Ich zitiere aus dem Gesetzentwurf:
Zusätzlich erfolgt eine zielgenaue Änderung der Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch, durch die eine unangemessene Inanspruchnahme des Systems der sozialen Sicherheit in Deutschland verhindert wird. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass vom Kindergeld eine nicht beabsichtigte Anreizwirkung für einen Zuzug aus anderen Mitgliedstaaten ausgeht.
Meine Damen und Herren, ganz offensichtlich wirkt endlich die AfD. Entweder Sie sind teilweise belehrbar geworden, oder Sie sind populistisch geworden. Beides ist mir recht, weil auch Populismus an dieser Stelle richtig ist.
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Meine Damen und Herren, fraglich wird aber sein, ob die anderen Maßnahmen durchgreifend sein werden. Für mich stellt sich die Frage – Cum/Ex wird an der Stelle ja auch noch auf uns zukommen –, wie diese Regierung ihre Prioritäten setzt. Es scheint mir nämlich so, als mache sie von allem ein bisschen, aber nichts richtig. Auf Dauer, meine Damen und Herren, werden Sie mit dieser Art, Gesetze in die Welt zu setzen, die Sie nicht nachvollziehen, die Sie nicht durchsetzen können, alles andere als Lösungen erwirken. Manchmal kommt es mir sogar so vor, dass Sie das billigend in Kauf nehmen.
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– Ja, Sie reden von Populismus, ich nenne es Lebensrealität.
Ich habe in den letzten Tagen eine schöne Dokumentation bei „Kontraste“ gesehen. Da ging es mal wieder um das Thema „arabische Clans“ und wie diese ihre Macht weiter ausbauen. Mir und auch vielen anderen Bürgern, die sich bei mir gemeldet haben – Otto Normalbürger, den Sie ja vertreten –, ist aufgefallen, dass viele dieser Herren Luxuskarossen fahren, die sich viele Menschen da draußen mit harter, ehrlicher Arbeit gar nicht werden leisten können. Obwohl: Auf die Frage, welcher Tätigkeit sie nachgehen, wurde gesagt: Wir beziehen Hartz IV, und wir leihen uns diese Karossen von Familienmitgliedern. – Es scheint also in diesen arabischen Großfamilien eine Menge netter, reicher Menschen zu geben, die gerne ihre 100 000-Euro-Autos verleihen.
Vielleicht sollte die Bundesregierung hierauf ein Augenmerk legen; denn ein Sozialstaat lebt von Gerechtigkeit und der Akzeptanz der Menschen dort draußen. In einigen Stadtteilen und Großstädten der Bundesrepublik Deutschland scheinen Sie vollends die Kontrolle verloren zu haben. Ich sage nur: No-go-Areas. Die gibt es; auch das haben Sie geleugnet. Inzwischen sind ja einige, zum Beispiel Stadtteile in Duisburg, genannt worden.
Herr Kollege, achten Sie bitte darauf, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Das mache ich. – Zu guter Letzt lassen Sie mich damit schließen, dass das, was Sie wahrscheinlich gerne möchten, nämlich das Bargeld abzuschaffen, nicht zu weniger Schwarzarbeit führen wird;
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aber es wird die Freiheit der Menschen da draußen einschränken. Wir werden Ihre Gesetze weiter kritisch begleiten. Wir liefern gute Vorschläge, –
Herr Kollege.
– die aufgenommen werden, wie der zur Bekämpfung des Kindergeldmissbrauches; dafür bedanke ich mich.
Viel Spaß bei den Debatten.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Thomas de Maizière, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal ist Opposition wirklich schwer.
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Die Regierung legt einen guten Gesetzentwurf vor, alle sind irgendwie dafür. Die einen finden ein Haar in der Suppe, wie die FDP und die Grünen; darüber kann man reden. AfD und Linke reden über etwas ganz anderes und sagen: Das steht aber gar nicht im Gesetzentwurf.
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Es ist keine Schande, dass auch die Opposition mal einem guten Gesetzentwurf zustimmt. Das ist ganz einfach.
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Trotzdem beginne ich mit einer Kritik. Manche Arbeitgeber kritisieren den Zoll und sagen, dass es zu viele verdachtsunabhängige Stichproben gibt und man die Großen laufen lässt. Der Zoll wiederum kritisiert die Bundesagentur für Arbeit und sagt, dass er nicht weiß, welche Erkenntnisse dort über Fälle von Schwarzarbeit und Leistungsmissbrauch vorliegen. Die kommunalen Jobcenter kritisieren die Agentur für Arbeit und sagen, dass deren Datenbestand für sie zu sehr abgeschottet ist. Der Zoll weiß zu wenig über Verdachtsfälle bei der Familienkasse und umgekehrt. Der Zoll und die Deutsche Rentenversicherung wissen zu wenig voneinander im Hinblick auf das Problem der Scheinselbstständigkeit. Natürlich bedeutet das nicht, dass nicht oder nicht gut zusammengearbeitet wird – wir haben das gehört in Gesprächen mit Kommunen –; aber das läuft über Papier oder Telefon und ohne Vernetzung der Datenbanken. All das wird mit diesem Gesetzentwurf geändert. Jetzt ist ein Datenaustausch vorgesehen, der eine effektive Zusammenarbeit aller ermöglichen soll. Das ist gut.
Zur FDP will ich sagen: Sie sagen, der Finanzminister solle die Chancen der Digitalisierung stärker nutzen. Einverstanden. Das geht aber nur durch Datenaustausch von Behörden, und da sind Sie meistens dagegen.
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Ich bin gespannt, wie Sie dann damit umgehen.
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Wozu brauchen wir diesen Datenaustausch? Jetzt sind wir beim Kern der Sache; darüber ist schon geredet worden. Wir wollen nicht, dass Menschen, insbesondere auch EU-Bürger, in Deutschland ausgebeutet werden.
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Wir wollen nicht, dass sie auf einen Arbeiterstrich geschickt werden. Wir wollen nicht, dass sie nach Deutschland gelockt werden, um hier Sozialleistungen zu bekommen, von denen sie das Meiste wieder abgeben müssen. Wir wollen nicht, dass sie in Wohnungen zusammengepfercht werden und Wuchermieten zahlen. All das ist kriminell, schädigt die Finanzkassen und ist unseres Landes nicht würdig.
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Es ist schon davon geredet worden, dass wir die Eingriffsschwelle – so nennen wir das – auf die Verdachtsfälle vorverlegen wollen. Das ist gut und richtig. Ich bin gespannt, wie sich alle dazu verhalten. Eine kleine Nebenbemerkung: In anderen Fällen der inneren Sicherheit werden hinsichtlich der Vorverlegung auf Verdachtsfälle viele Bedenken geäußert. Hier wird es zustimmend zur Kenntnis genommen. Das ist gut so, das sollte man sich bei anderen Fällen vielleicht auch einmal überlegen.
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Meine Damen und Herren, für uns ist wichtig, dass wir festhalten, dass der Großteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus der EU, auch aus Bulgarien und Rumänien, hier korrekt lebt und arbeitet und Steuern zahlt, und wenn sie Sozialleistungen bekommen, dann auch Gründe dafür bestehen. Bei einer Minderheit ist das aber anders. Und diese Minderheit diskreditiert die Akzeptanz gerade der Bulgaren und Rumänen in unserem Land. Mit diesem Gesetz wollen wir das beenden.
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Nun will ich auch noch ein Wort zur AfD sagen. Sie haben gesagt: Vor Ort sieht das alles anders aus. – Wir haben mit den Kommunen gesprochen. Sie haben alle gesagt: Wir warten auf dieses Gesetz.
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Das kommt eher zu spät, aber es ist auf jeden Fall richtig. – Und sie sagen übrigens auch: Wir brauchen noch ein paar Änderungen. – Herr Scholz, darüber wird auch noch einmal zu reden sein. Herr Kollege Steiniger wird gleich noch über das Kindergeld reden. Wir wollen auch noch einmal darüber reden, ob die Definition des Beschäftigungsbegriffes präzise genug ist oder ob nicht auch mit diesem Gesetz immer noch der Begriff der Beschäftigung so missbraucht werden kann, dass es in Wahrheit eine Scheinbeschäftigung ist, die dann wiederum zum Bezug von Sozialleistungen berechtigt. Das ist ein EU-Problem – ich weiß das wohl –; aber wir wollen sehen, ob wir da noch etwas schärfer rangehen können. Wir wollen das, was das EU-Recht uns ermöglicht, soweit es irgend geht, ausschöpfen. Ich hoffe, dass wir dazu noch gute Beratungen führen werden.
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Wir stehen an der Seite der Kommunen, die diesen Kampf führen. Wir stehen an der Seite derer, die ehrlich Steuern zahlen. Und wir sagen den Chefs und Organisatoren derjenigen den Kampf an, die ausgebeutet werden und dafür nichts können.
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Dieses Gesetz leistet dazu einen guten und wichtigen Beitrag.
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Pascal Kober, FDP, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass Sie sich des Themas Sozialmissbrauch annehmen, gar keine Frage. Wir als FDP haben mit einer Kleinen Anfrage auf den Umstand hingewiesen, dass es einen bandenmäßigen Missbrauch von Sozialleistungen in Deutschland gibt.
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Die Schadenshöhe beziffert sich auf etwa 50 Millionen Euro. Allerdings – das wissen Sie auch – ist das nicht die volle Wahrheit; denn über viele Tatbestände konnten Sie als Bundesregierung gar keine Auskunft geben. Sie konnten nur darüber Auskunft geben, welche Schäden in den Jobcentern anfallen, die von der Bundesagentur für Arbeit betrieben werden, sonst haben Sie keine Informationen. Auch über Schäden durch Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch XII konnten Sie nichts sagen. Das ist natürlich unzureichend. Da müssen Sie besser werden. Da muss die Bundesregierung besser informiert sein über das, was in der Bundesrepublik Deutschland los ist.
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Jetzt legen Sie einen Gesetzentwurf vor, in dem Sie im Wesentlichen die Möglichkeiten der Finanzkontrolle Schwarzarbeit ausweiten. Das ist ein Schritt, über den wird man auch unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten beraten müssen, gar keine Frage. Aber an die einfachsten Dinge denken Sie nicht. Überlegen Sie mal: Wie ist es denn möglich, dass auf eine Schrottimmobilie in einer Kommune mehrere Mietverträge laufen, für die dann Wohnkosten aus dem Hartz‑IV-System bezogen werden, ohne dass es jemandem auffällt? Ich kann Ihnen sagen, woran das liegt. Das liegt daran, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern mit Bürokratie so überlastet sind, dass sie keine Zeit mehr haben, nachzudenken bzw. auch mal die Immobilie vor Ort von außen – da geht es nicht um Schnüffeln unter der Bettdecke – in Augenschein zu nehmen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben hier konkrete Vorschläge eingebracht, wie man die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern von Bürokratie entlasten könnte. Denen sollten Sie zustimmen. Damit würden wir viel bewirken für die Menschen, aber auch gegen den Sozialleistungsmissbrauch.
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Wir müssen die Jobcenter beispielsweise auch dahin gehend stärken, dass die Sprachbarrieren besser überwunden werden können. Es müssen den Jobcentermitarbeiterinnen und -mitarbeitern zuverlässige Sprachmittlerdienste zur Verfügung stehen. Es muss auch möglich sein, Dokumente aus anderen Ländern in fremder Sprache zuverlässig zu prüfen. Das sind alles Dinge, mit denen man präventiv Sozialleistungsmissbrauch begegnen kann. Dazu haben Sie keine Vorschläge gemacht, und das reicht nicht.
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Wenn es um den Tatbestand der Schwarzarbeit geht, dann muss man vielleicht auch einmal sagen, dass die Zuverdienstgrenzen im Hartz‑IV-System so ungerecht sind, dass es sich für kaum jemanden lohnt, über eigene Arbeit überhaupt etwas dazuzuverdienen.
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Wenn wir über Schwarzarbeit reden, geht es deshalb eben auch darum, dass wir die Zuverdienstgrenzen gerechter gestalten, dass es sich für die Menschen lohnt, legal zu arbeiten.
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Das wäre eine notwendige Maßnahme. Dazu fordern wir Sie auf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden diesen Gesetzentwurf weiter beraten. Wir glauben aber, dass es möglich ist, sehr viel unkomplizierter sehr viel mehr zu erreichen. Damit wollen wir Sie in Zukunft nicht alleine lassen. Wir werden weiterhin gute Vorschläge machen. Ich bitte Sie, diese in Zukunft nicht nur abzulehnen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gab einmal einen SPD-Politiker, dessen Motto war: „Versöhnen statt spalten.“ Er war Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, sogar zeitweise mit absoluter Mehrheit – so etwas gab es damals noch –,
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und später Bundespräsident. Jetzt gibt einen stellvertretenden Vorsitzenden der SPD und Vizekanzler, der von sich sagt, er könne auch Kanzler werden, der immer vorne mit dabei ist, wenn es um die Einschränkung von Sozialleistungen von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern geht.
Ich rede über einen Paragrafen, der sich hier so ein bisschen eingeschmuggelt hat. Da geht es nicht um Sozialmissbrauch; es geht auch nicht um Kinder, die nicht vorhanden sind, sondern es geht um Kinder, die hier rechtmäßig leben. Es geht um Familien, die nach Deutschland kommen. In diesem Gesetzentwurf steht, dass diese kein Kindergeld erhalten sollen. Und das geht gar nicht.
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Das geht gar nicht, weil es aus sozialpolitischen Gründen verwerflich ist, wenn Familien, die hier rechtmäßig leben, das Kindergeld verweigert wird. Es ist übrigens eine Ergänzung im Einkommensteuerrecht. Das macht noch einmal deutlich, um welche Leistung es hier geht: Es ist eben keine Sozialhilfeleistung. Solche Leistungen, Leistungen im Einkommensteuerrecht, aber auch Familienleistungen insgesamt, dürfen nach EU-Recht nicht eingeschränkt werden.
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Sie verstoßen mit diesem Absatz klar gegen EU-Recht. Es gibt eine ausführliche Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins, in der das ganz klar und eindeutig erklärt wird. Lesen Sie die mal! Dann wissen Sie, dass der Paragraf dagegen verstößt.
Ich frage mich: Was sagt eigentlich die Spitzenkandidatin der SPD zur Europawahl dazu? Sie ist ja, glaube ich, noch Justizministerin und Mitglied in diesem Kabinett. Sie muss dem ja auch zugestimmt haben – einem Paragrafen, der klar gegen EU-Recht und gegen grundlegende EU-Prinzipien verstößt.
Ich appelliere an die Fraktionen hier – Sie haben ja „christlich“ und „sozial“ in Ihrem Namen –, an alle, die noch christlich und sozial oder auch europäisch denken oder sich mit europäischem Recht auskennen: Sorgen Sie dafür, dass dieser Paragraf aus diesem Gesetzentwurf gestrichen wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Michael Schrodi, SPD, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir bringen hier eine zielgenaue Maßnahme gegen Schwarzarbeit – das heißt übrigens, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, auch für guten Lohn für gute Arbeit – und gegen ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen – hier ist es das Kindergeld – auf den Weg.
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Wenn falsche Angaben, zum Beispiel zur Anzahl der Kinder, gemacht werden, dann ist das Missbrauch, und dieser muss bekämpft werden. Dazu wollen wir – Herr de Maizière hat es schon erwähnt – den Datenabgleich der Behörden verbessern, aber beispielsweise eben auch das Prüfungsrecht der Familienkassen über die Gewährung des Kindergeldes und über die vorläufige Einstellung der Kindergeldleistungen bei begründeten Verdachtsfällen einführen. Das ist gut, um Missbrauch zu verhindern und zu bekämpfen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({1})
Wir tun das im intensiven Austausch mit der kommunalen Ebene und mit den Oberbürgermeistern, die uns immer wieder gesagt haben: Wir haben hier einen Problemfall. Es gibt Schlepper. Es gibt diejenigen, die Familien mit falschen Versprechungen nach Deutschland holen, die diese Familien dann in Schrottimmobilien unterbringen, die sie Kindergeld beantragen lassen, auch ohne Arbeit aufzunehmen, und ihnen hohe Mietpreise abpressen. – Das wollen wir nicht. Wir wollen Menschen schützen. Wir wollen den Städten helfen, und wir wollen den Schleppern das Wasser abgraben.
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Das wollen wir in enger Anknüpfung an das EU-Freizügigkeitsrecht tun, das es auch schon ermöglicht, die Grundsicherung für drei Monate auszuschließen, wenn keine Arbeitsaufnahme, keine Beschäftigung vorliegt. Wir wollen, dass das auch für die Kindergeldzahlungen gilt, um Missbrauch zu verhindern, um Schleppern das Wasser abzugraben. Wir bringen eine zielgenaue Maßnahme auf den Weg, meine sehr geehrten Damen und Herren. Das ist an dieser Stelle auch gut so.
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Wir wollen eben keine billigen Ressentiments und keinen Populismus. Ich denke, das haben Sie vollkommen vertauscht. Es geht hier eben nicht um die Kindergeldindexierung. Es ist bei vielen, auch bei den Kommunen, schon angekommen: Diese ist eben keine Maßnahme für eine sachgerechte Lösung des geschilderten Sachverhalts. Wir brauchen und wir wollen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem europäischen Ausland. Darin liegt übrigens auch eine Ursache für steigende Kindergeldzahlungen. Sie kommen hierher. Sie arbeiten hier. Sie zahlen Steuern und Sozialabgaben. Sie tragen mehr zum sozialen Zusammenhalt als Sie von der AfD bei. Sie haben ein Recht auf Kindergeld, und das soll auch so bleiben.
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Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Wir wollen Missbrauch bekämpfen. Wir wollen Arbeitnehmerrechte schützen. Das schafft dieses Gesetz. Es stärkt den Zusammenhalt, und deswegen ist es ein gutes Gesetz, dem Sie gut und gerne zustimmen können.
Danke schön.
({0})
Alois Rainer, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der heute von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch ist ein wichtiger Gesetzentwurf. Wie Sie alle wissen, ist es leider nicht möglich, den Umfang und die Entwicklung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung zu messen und mit absoluten Zahlen zu belegen; denn es liegt bekanntlich in der Natur der Sache, dass sich Schwarzarbeit als Teil der Schattenwirtschaft nicht freiwillig zu statistischen Erhebungen meldet. Deshalb kann nicht mit validen Zahlen operiert werden.
Dennoch geht aus dem Dreizehnten Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen des Gesetzes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung aus dem Jahr 2017 hervor, dass der Umfang der sogenannten Schattenwirtschaft in Deutschland nach vorsichtigen Schätzungen auf circa 350 Milliarden Euro beziffert werden kann. Dieser volkswirtschaftliche Schaden, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist enorm.
Wir reden heute aber nicht nur über Schwarzarbeit. Wir beraten in erster Lesung insbesondere über geeignete Mittel und Wege, mit denen illegale Beschäftigung und der Missbrauch von Sozialleistungen noch besser bekämpft werden können. So sollen mit dem Gesetzentwurf die Ermittlungs- und Kontrollmöglichkeiten der Finanzkontrolle Schwarzarbeit verbessert werden, um Arbeitnehmer gegen rechtswidrige Lohnpraktiken zu schützen.
Gleichzeitig soll die Finanzkontrolle Schwarzarbeit aber auch gegen den Sozialversicherungsbetrug und gegen das Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen vorgehen, damit illegale Beschäftigung besser eingedämmt werden kann. Meine Damen und Herren, da dürfen wir als Rechtsstaat und Gesetzgeber nicht wegschauen, sondern müssen handeln. Das wird mit diesem Gesetzentwurf getan.
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Wenngleich der Erfüllungsaufwand für den Bund bei voller Jahreswirkung im Jahr 2030 rund 464 Millionen Euro pro Jahr betragen wird, bin ich sehr zuversichtlich, dass wir der Schattenwirtschaft mit diesem Gesetz entgegentreten können und ein Gutteil dieses Geldes dem Bundeshaushalt wieder zur Verfügung gestellt wird. Schließlich ist ein Ziel des Gesetzes, Ausfälle bei den Beiträgen zur Sozialversicherung und Ausfälle bei den Steuereinnahmen zu bekämpfen. Hierfür sollen die Befugnisse der Finanzkontrolle Schwarzarbeit umfangreich erweitert werden. Die Maßnahmen wurden von meinen Vorrednern schon dargestellt. Ich will das hier nicht wiederholen.
Ich möchte auf eine Maßnahme aber dennoch eingehen; denn sie ist mir besonders wichtig. Wir machen mit dem Gesetz weitere wichtige Fortschritte bei der Bekämpfung des missbräuchlichen Bezuges von Kindergeld. Uns geht es mit diesem Gesetz nicht um den generellen Bezug von Kindergeld von EU-Ausländern, sondern um den missbräuchlichen Bezug von Kindergeld. In Zukunft wird der Leistungsanspruch für EU-Bürger, die nach Deutschland ziehen, stärker an die wirtschaftliche Aktivität geknüpft. Das bedeutet: Kindergeld gibt es zukünftig grundsätzlich nur noch, wenn in den ersten drei Monaten inländische Einkünfte nachgewiesen werden können.
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Ergänzend wird gerade in diesem Bereich der Informationsaustausch verbessert. Der Zoll übermittelt gewonnene Daten an die Familienkassen, die überdies neue Möglichkeiten erhalten, laufende Kindergeldzahlungen in begründeten – begründeten! – Zweifelsfällen vorläufig einzustellen. Meine Damen und Herren, ich habe vollstes Vertrauen, dass unsere Zöllnerinnen und Zöllner das Beste aus diesen neuen Möglichkeiten machen werden. Letztendlich sind sie es, die dieses Gesetz für uns vollziehen müssen und die letztendlich den erhofften Ertrag und Erfolg für uns einfahren müssen. Die Einsatzfreude unserer Zöllnerinnen und Zöllner steht für mich völlig dabei außer Frage.
Daher möchte ich zum Abschluss eines sagen: Ich befürworte alle Kontrollen und Überprüfungen, aber diese Kontrollen und Überprüfungen sollten mit dem notwendigen Augenmaß und Fingerspitzengefühl durchgeführt werden. Ich wünsche alles Gute für die Beratungen im Finanzausschuss und freue mich auf ein gutes Gesetz.
Danke schön.
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Damit erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Frauke Petry.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wer Lohndumping und unkontrollierte Einwanderung zulässt, der braucht sich über Sozialleistungsbetrug und Schwarzarbeit nicht zu wundern. Jedes Jahr steigen die Kosten für dieses Gesetz, bis sie im Jahr 2030 – Sie haben es gehört – fast 500 Millionen Euro jährlich betragen. 500 Millionen Euro jährlich! Wie wäre es, wenn die Bundesregierung statt immer neuer Gesetze, neuer Steuern und neuer Ausgaben endlich einmal die bestehenden Ausgaben in Angriff nähme, um Bürokratie abzubauen und die Steuerzahler zu entlasten? Raten Sie einmal, welches Land die kleinste Schattenwirtschaft hat. Die Vereinigten Staaten von Amerika, und zwar nicht, weil die Amerikaner so eine großartige Steuermoral hätten, sondern weil die Steuern schlichtweg geringer sind und sich deshalb das Risiko der Steuervermeidung einfach nicht lohnt. Die allgegenwärtige Steuerverschwendung hierzulande macht es Schwarzarbeitern und deren Kunden auch noch leicht, ihre Steuervermeidung zu rechtfertigen.
Aber anstatt sich in neuer Ausgabendisziplin zu üben, will die Bundesregierung wieder einmal neue Behördenstellen schaffen. Haben Sie eigentlich einmal durchgerechnet, ob es sich tatsächlich lohnt? Wie viel Schwarzarbeit werden Sie unterbinden, wenn Sie es in den letzten Jahren auch nicht geschafft haben? Wenn der Staat sich anschickt, über Jahre Milliarden in Gesetze zu investieren, können wir als Bürger erwarten, dass die Regierung sich zuvor wenigstens ordentlichen Rat einholt. Wir finanzieren ja nicht umsonst Hochschulen und Forschungsinstitute. Ist das passiert? Der Gesetzentwurf behauptet nur, eine „konkrete Bezifferung“ der Gesetzeseinnahmen sei „nicht möglich“. Wir wollen ja auch keine Angaben auf den Cent, sondern eine grobe Abschätzung der Größenordnung; aber auch die leisten Sie nicht. Sie scheinen nicht zu wissen, dass Ökonomen auch die Schattenwirtschaft untersuchen können. Sie begründen Ihr Unwissen mit der Natur der Sache. Also keine Kosten-Nutzen-Analyse für Ihr neues Gesetz.
So ist auch die Bekämpfung des Sozialleistungsmissbrauchs fadenscheinig. Sie feiern einen angeblich großen Sprung. Jetzt führen Sie sogar eine dreimonatige Wartefrist für die Einwanderung ins Sozialsystem ein. Was für eine Leistung! Sie täuschen darüber hinweg, dass Sie bei diesem Thema auf voller Linie versagt haben. Vor kurzem wollten Sie immerhin noch durchsetzen, dass das Kindergeld für EU-Ausländer richtigerweise an die Lebenshaltungskosten im Empfängerland angepasst wird. Als Brüssel drohte, wurde der Kopf vor der EU-Kommission eingezogen – nicht das erste Mal –, aus Angst vor einem Vertragsverletzungsverfahren. Die Verfahren werden jedoch – das wissen wir alle – nicht dazu verwendet, die europäische Rechtsordnung durchzusetzen. Seit Beginn hält sich kaum einer an die Regeln, auch Deutschland nicht, und die Kommission schikaniert nach Belieben diejenigen, die sie politisch unterbuttern will. Politische Verwaltung eben. Dabei sitzen in der EU reihenweise Deutsche aus Ihren eigenen Parteireihen, liebe Bundesregierung. Anstatt also hier die Interessen der Bürger zu vertreten, verstecken Sie sich hinter Brüssel. In Österreich läuft das anders. Also: Anstatt die wahren Probleme – Steuerverschwendung, Schwarzarbeit, Leistungsmissbrauch –, die es tatsächlich gibt, anzugehen, servieren Sie uns ein halbgares Gesetz. So eine Regierung kann man als Bürger nicht mehr ernst nehmen.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Johannes Steiniger, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit ein paar Wochen läuft in den sozialen Netzwerken eine sehr erfolgreiche Kampagne der Unionsfraktion. Sie heißt: #Starker Staat.
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Wir machen da klar, was wir unter einem starken Staat verstehen. Ein starker Staat ist ein Staat, auf den sich die Menschen verlassen können, ein Staat, der unsere Bürgerinnen und Bürger schützt, zu Hause, auf der Straße und im Internet. Aber es ist auch ein Staat, der diejenigen konsequent bekämpft, die diesen Rechtsstaat angreifen, indem sie beispielsweise auf unsere Polizistinnen und Polizisten losgehen.
Was wir hier heute einbringen, ist ein weiterer Baustein für einen starken Staat, beispielsweise wenn es darum geht, den Kampf gegen Sozialleistungsmissbrauch aufzunehmen. Wir gehen mit diesem Gesetzentwurf gegen diejenigen vor, die den Sozialstaat angreifen, indem sie bandenmäßig unberechtigt Kindergeld kassieren. Die Botschaft, meine sehr geehrten Damen und Herren, die von diesem Gesetzentwurf ausgeht, ist: Wir machen Schluss mit Kindergeldmissbrauch in Deutschland.
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Meine Damen und Herren, es wurde heute schon erwähnt: Der Gesetzentwurf ist auch eine Reaktion auf den Hilferuf der Kommunen, den wir im Sommer 2018 erlebt haben. Sie haben uns darauf hingewiesen, dass es ein Problem gibt mit kriminellen Banden, die Schrottimmobilien anmieten, die Arbeitsverträge fingieren und die Kindergeld für Kinder kassieren, die es gar nicht gibt. Wir legen hier einen Gesetzentwurf vor, der Antworten gibt und der ein ganzes Maßnahmenpaket vorschlägt, um den Kindergeldmissbrauch zu verhindern. Das Ganze geht in zwei Richtungen:
Erstens erweitern wir die Möglichkeiten, Missbrauchsfälle aufzudecken, durch mehr Personal, mehr Kompetenzen, aber vor allen Dingen auch durch einen besseren Datenaustausch zwischen den Behörden. Das hört sich vielleicht am Anfang etwas unsexy an, ist aber aus meiner Sicht einer der wichtigsten Punkte dieses annähernd 100 Seiten langen Gesetzestextes. Schauen wir uns einmal an, welche Behörden damit zu tun haben: Ausländerbehörden, Jobcenter, Familienkasse, Zoll, die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, Arbeitsagentur, Rentenversicherung. All diese Behörden sind an dem Prozess beteiligt. Wir wollen, dass diese Behörden dank des automatischen Datenabrufsystems in Zukunft leichter auf die Informationen anderer Behörden zugreifen können, und somit die Schlagkraft bei Ermittlungen erhöhen.
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Zweitens geht es darum, Herr Strengmann-Kuhn, die Anreize massiv zu verringern, nur wegen des Kindergeldes nach Deutschland zu kommen. Das erreichen wir zum einen dadurch, dass, wie es gerade eben schon gesagt worden ist, neu zugezogene arbeitslose EU-Ausländer, die hier noch nicht in die Sozialkassen eingezahlt haben, in den ersten drei Monaten kein Kindergeld beziehen können.
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Wir führen eine Beweislastumkehr ein. Das heißt, es muss nachgewiesen werden, dass es ein Arbeitsverhältnis gibt. Die Regelung gilt deshalb für drei Monate, weil man danach ohnehin die Freizügigkeit und den Aufenthaltsgrund infrage stellen würde. Zum anderen – das ist ein sehr scharfes Schwert; das wurde heute noch nicht erwähnt – können die Familienkassen in Zukunft bereits beim Verdacht auf Missbrauch die Zahlung des Kindergeldes einstellen. Das heißt: Die Behörden hinzuhalten und für die Dauer dieser Prüfung weiter zu kassieren, funktioniert künftig nicht mehr.
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Meine Damen und Herren, der Kollege de Maizière hat darauf hingewiesen: Wir haben uns schon vor zwei Wochen mit den Betroffenen zusammengesetzt. Wir haben mit den Kommunen, mit den Oberbürgermeistern gesprochen. Frau Kollegin Ferschl, das würde Ihnen, glaube ich, auch mal guttun. Die haben uns nämlich relativ klar darauf hingewiesen, dass sie auf dieses Gesetz warten, dass sie es brauchen, dass es keine zu hohen Strafen sind, dass es nicht zu viele Kompetenzen sind, wie Sie vorhin in Ihrem Redebeitrag gesagt haben.
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Vielmehr brauchen wir dieses Gesetz, um gegen Kindergeldmissbrauch vorzugehen. Herr Kollege Kober, die wissen im Übrigen auch genau um die Schrottimmobilien. Sie können im Moment nur eben nicht dagegen vorgehen. Deswegen ist dieser Datenaustausch auch so wichtig.
Es wird dann im gesamten Verfahren, sowohl in der Anhörung als auch im Ausschuss, darum gehen, aus diesem guten Entwurf ein noch besseres Gesetz zu machen. Wir werden noch mal über die Fragen reden: Nutzen wir beim Datenaustausch alle Möglichkeiten aus? Haben wir beim Thema „Selbstständigkeit und Minijobs“ vielleicht noch Lücken, die wir schließen können? Wir sollten durchaus auch diskutieren, ob man den Zeitraum von drei Monaten, der im Gesetzentwurf vorgeschlagen ist, vielleicht sogar erweitern kann. All das werden wir uns in den nächsten Wochen im Ausschuss und den Anhörungen noch mal in Ruhe anschauen und dann dieses Gesetz hier in zweiter und dritter Lesung beschließen, weil es ein klares Signal an kriminelle Banden darstellt: Kindergeldmissbrauch in Deutschland lohnt sich nicht; denn diese Bundesregierung geht dagegen vor.
Herzlichen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 19/8691 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste hier im Saal oder auf sonstigen Kanälen! Mit dem Antrag zur Reduzierung von Bürokratie übernehmen die Freien Demokraten einmal mehr die Hausaufgaben der Bundesregierung.
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Der deutsche Mittelstand benötigt wieder einmal einen Vertrauensbeweis der Politik, und wir machen ein konkretes Lösungsangebot.
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Dieses scheint umso mehr geboten nach der Diskussion der letzten Stunde, die gezeigt hat, dass Sie dem Mittelstand mehr misstrauen als vertrauen.
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Der Bürokratieaufwand für deutsche Unternehmen für Berichtspflichten an den Staat beträgt nahezu 50 Milliarden Euro im Jahr.
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70 Prozent der Betriebe beklagen einen weiterhin gestiegenen bürokratischen Aufwand. Das ist neben dem Mangel an Fachkräften die Hauptsorge der deutschen kleinen und mittelständischen Unternehmen.
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Umweltauflagen, Statistiken – dies auch mehrfach –, Mülltrennung, Achtung von Menschenrechten, Bekämpfung von Korruption, Datenschutz-Grundverordnung: Das ist nur ein kleiner Ausschnitt von alldem, was die Mittelständler neben oder anstatt ihrer eigentlichen Aufgabe zu tun und zu erledigen haben, nämlich ihrem Job nachzukommen. Bei der Mindestlohndokumentation fußt die ganze Regelung auf § 17 des Mindestlohngesetzes. Das heißt, Beginn, Ende und Dauer der Arbeitszeit sind binnen sieben Tagen nach Ende des Arbeitstages zu erfassen, und die Dokumente sind zwei Jahre aufzubewahren. Wir halten das für völlig überbordet. Es gibt die Vorschrift nach § 108 der Gewerbeordnung, die vorsieht, dass jeder einen Arbeitszeitnachweis und einen entsprechenden Entgeltnachweis zu fertigen hat. Dies geschieht einmal im Monat. Jeder, der des Dreisatzes mächtig ist, kann durch eine Division von Bruttolohn und Arbeitszeit den Stundenlohn ermitteln. Das halten wir für mehr als ausreichend, und das entspricht auch dem, was kleine und mittelständische Betriebe leisten können.
({5})
Betroffen sind nahezu alle Kleinstunternehmen und mittelständische Unternehmen, alle, die in diesem Markt Minijobs anbieten. Alle unterliegen der vollen Kontrolle. Gerade die kleinen Unternehmen sind dazu aufgrund von größeren Datenmengen, aufgrund von größeren Abteilungen oftmals nicht in der Lage. Sie erledigen das nach ihrer Arbeitszeit am Wochenende zulasten ihrer Freizeit, zulasten ihrer Familien. Auch das muss aufhören; denn drakonische Strafen, bis zu 30 000 Euro im Einzelfall, drohen. Das ist unangemessen.
({6})
Die Mindestlohnkommission hat berichtet, dass sich 92 Prozent an das Gesetz halten. 50 Prozent der Verstöße gehen auf fehlerhafte Dokumentationen zurück. Also, bei der Mindestlohnzahlung ist das nicht das große Problem. Ganz im Gegenteil – wir haben es gerade gehört –, es stehen bewaffnete Einheiten des Hauptzollamts in Backstuben, in kleinen Gastgewerben. Mir ist das auch schon passiert. Hier wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Das ist nicht mehr hinnehmbar.
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Woher kommt das Misstrauen der Politik, dass Unternehmen entweder Mitarbeiter hintergehen, die Kunden ausbeuten oder den Staat um Steuern betrügen? Wir brauchen Vertrauen. Wenn der Mittelstand das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bleiben oder wieder werden soll, dann müssen wir ihn stärken. Die Konjunkturprognosen zeigen nach unten. Die Gefahr einer Rezession steht vor der Tür. Es finden sich keine Unternehmensnachfolger, es finden sich zunehmend zu wenig Unternehmensgründer, es macht keinen Spaß mehr, Unternehmer zu sein, zu bleiben oder zu werden.
({8})
Die Lösung der Großen Koalition: Fehlanzeige. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die genau diese Attraktivität wieder herstellen, damit der Mittelstand wieder Spaß am Unternehmertum hat. Aber Ihnen, Herr Bundesminister – ich suche ihn vergeblich; Herr Staatssekretär Hirte, nehmen Sie es mit –, ist der ordnungspolitische Kompass abhandengekommen. Ich habe einen dabei, den gebe ich Ihnen gerne, vielleicht für Ihren Minister.
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Wir sollten keine Angst vor Investoren aus dem Ausland haben, vor chinesischen Investoren. Nein, wir sollten Angst vor unserem Misstrauen haben gegenüber den mittelständischen Unternehmerinnen und Unternehmern, dass sie Kunden, Mitarbeiter und Finanzämter hintergehen. Wenn wir diese Angst überwunden haben, Mut haben und Vertrauen geben, dann kann der Mittelstand seiner eigentlichen Aufgabe wieder nachkommen, nämlich für Wohlstand und Wachstum in diesem Lande sorgen.
Vielen Dank.
({10})
Dr. Matthias Zimmer, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Kemmerich hat, wenn ich es eben richtig mitbekommen habe, gesagt: Einer der bürokratischen Aufwände sei die Achtung der Menschenrechte. Ich hoffe, dass das nicht stimmt, Herr Kollege Kemmerich. Die Achtung der Menschenrechte sollte für alle Unternehmen in Deutschland kein bürokratischer Aufwand, sondern eine Selbstverständlichkeit sein.
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Meine Damen und Herren, der Antrag der FDP formuliert fröhlich drauf los, die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes hätte zu erheblichen bürokratischen Belastungen für die Wirtschaft geführt.
({1})
Besonders bürokratisch und aufwendig, so schreibt der Antrag, sei die Dokumentation der Arbeitszeit, und zwar deshalb, weil Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit aufzuzeichnen seien.
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Nun war ich selbst einmal Arbeitnehmer und habe meine Arbeitszeiten ebenfalls erfassen müssen. Es hat mich etwa sieben Sekunden pro Tag gekostet. So sieht ein liberales Bürokratiemonster aus, meine Damen und Herren, das besonders aufwendig ist: nicht einmal zehn Sekunden Arbeitszeit pro Tag, wenn ich den Aufwand derjenigen berücksichtige, die besondere Probleme beim Addieren der Arbeitszeiten haben.
({3})
Wenn sich der politische Liberalismus darin erschöpft, dieses Bürokratiemonster zu töten, dann hat er seine historische Berechtigung längst überlebt.
({4})
Meine Damen und Herren, der Antrag der FDP erwähnt, dass 92 Prozent der Arbeitgeberprüfungen keine Beanstandung der Dokumentationspflicht ergeben hätten. Daraus ergibt sich zweierlei: Offenbar stellt für 92 Prozent der Überprüften die Dokumentation kein unüberwindbares Hindernis dar; denn es gab keine Beanstandungen, sie kommen damit irgendwie klar. Zweitens war es bei 8 Prozent nicht der Fall. Hier argumentiert die FDP: 8 Prozent ist so wenig, dass es unfair wäre, wenn wir die restlichen 92 Prozent mit in Haftung nehmen würden. Lasst uns also die Regeln lockern! – Das ist liberale wirtschaftspolitische Logik.
({5})
Ich will es einmal deutlich machen: Bei 3 Prozent der Hartz‑IV-Bezieher gibt es Sanktionen, und wir finden das auch richtig. Hier reden wir über 8 Prozent von überprüften Arbeitgebern. Das soll dann nicht in Ordnung sein? So stellt sich der Verdacht ein, meine Damen und Herren, der FDP geht es nicht darum, die Ehrlichen zu verteidigen, sondern darum, zum Schutzpatron der Unehrlichen zu werden.
({6})
Schauen wir uns einmal die neusten Zahlen aus der Jahresstatistik des Zolls 2018 an: Die Zahl der Prüfungen der Arbeitgeber ist in den Jahren von 2016 bis 2018 deutlich angestiegen, von 40 000 auf knapp 54 000. Offenbar wurde dort mehr gefunden; denn die Zahlen der Ermittlungsverfahren wegen Straftaten aus diesen Prüfungen sind ebenso angestiegen wie die Zahl der Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten. Darunter fallen auch Verstöße gegen das Mindestlohngesetz. Wir haben bei der Erarbeitung des Mindestlohngesetzes keinen zahnlosen Tiger schaffen wollen.
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– Es wäre schön, wenn die FDP einmal zuhören würde, dann könnten Sie vielleicht einmal etwas lernen.
({8})
Sie waren damals bei der Erarbeitung des Mindestlohngesetzes nicht im Deutschen Bundestag vertreten.
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Ihr Antrag zeigt, dass Sie vieles nicht verstehen, was wir damals beschlossen haben.
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Wir haben damals gesagt: Das Mindestlohngesetz gilt, und wer betrügt, wird bestraft. Der Wettbewerb darf nicht damit geführt werden, dass man den Mindestlohn unterschreitet. Gerade die Ehrlichen haben ein Anrecht darauf, dass der Staat den fairen Wettbewerb schützt,
({11})
auch mit Kontrollen aufgrund der Erfassung der täglichen Arbeitszeiten. Ein wenig kommt mir der Antrag der FDP hier vor, wie das Prinzip „Freie Fahrt für freie Bürger“ auf den Wettbewerb zu übertragen. Das kann nicht funktionieren.
Nehmen wir ein weiteres Beispiel. Wir haben damals den Schwellenwert auf 2 958 Euro angesetzt. Die FDP will ihn auf 2 000 Euro herabsetzen. Der Schwellenwert ergab sich damals daraus, dass man angenommen hat, es werde mit Genehmigung der Arbeitsschutzbehörde und unter zulässiger Nutzung von Sonntagsarbeit ein Volumen von 348 Arbeitsstunden erreicht und diese würden mit 8,50 Euro vergolten. Das macht einen oberen Schwellenwert von 2 958 Euro.
({12})
Die Idee dahinter war, damit missbräuchlicher Arbeitsgestaltung entgegenzuwirken. Herr Kollege Kemmerich, das ist kein Schwachsinn, wenn wir wollen, dass nicht missbräuchlich Arbeit gemacht wird.
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– Nein, das ist nicht so, lieber Herr Kemmerich.
({14})
Nun will die FDP den Schwellenwert deutlich senken, obwohl der Mindestlohn seither gestiegen ist. Das kann nicht funktionieren, und ich frage mich, was da in Sie gefahren ist.
Es kann im Übrigen auch nicht funktionieren, wenn jetzt versucht wird, den Mindestlohn politisch nach oben zu schrauben. Ich bin mir sicher: Der Mindestlohn wird irgendwann einmal 12 Euro betragen. Aber das wird nicht dadurch passieren, dass die Politik in die Lohnfindung eingreift, sondern dadurch, dass die Mindestlohnkommission klug und weitsichtig den Mindestlohn nach jenen Parametern festlegt, die wirtschaftlich sinnvoll sind. Es kann doch nicht sein, dass wir die Einführung des Mindestlohns als sozialpolitische Großtat gefeiert haben und nur wenig später ein zentrales Element dieses Mindestlohns wieder abgeräumt werden soll, nämlich die Festlegung des Mindestlohns durch eine Kommission.
Ich finde im Allgemeinen unseren Koalitionspartner ja klug und weitsichtig;
({15})
aber wieso die Politik klüger und weitsichtiger sein soll als die Tarifparteien, das hat sich mir noch nie erschlossen, lieber Kollege Rützel.
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Dass Die Linke einen politischen Mindestlohn fordert, ist doch klar: Die tragen keine Verantwortung, werden es wohl auch nie tun und können jeden Tag so tun, als ob im Himmel Weihnachten gefeiert würde. Damit ist sie der FDP ganz nahe: Die tragen auch keine Verantwortung und erklären sich zum Drachentöter der Mühseligen und Beladenen,
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die gerne betrügen möchten, sich aber wegen der guten Kontrolldichte eines guten Gesetzes nicht so recht trauen.
Wir werden dieses Gesetz nicht verändern; dazu besteht keine Notwendigkeit. Aber wir werden den Antrag der FDP ablehnen; dazu besteht jede Notwendigkeit. Und im Geiste Ihres Vorsitzenden Christian Lindner möchte ich Ihnen zurufen: Lieber keinen Gesetzesvorschlag einbringen als einen schlechten!
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Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Pohl, AfD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Kollegen! Die FDP stellt einen ihrer typischen Anträge, diesmal auf Änderung der Mindestlohndokumentation. Wie üblich, hören wir da die neoliberalen Floskeln „Flexibilisierung“, „Deregulierung, „Entbürokratisierung“.
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Es sind immer die gleichen Schlagworte, die Sie verwenden, wenn es darum geht, die Interessen der Arbeitnehmer auszuhöhlen. Sie waren gegen die Einführung des Mindestlohns, Sie konnten ihn nicht verhindern; jetzt reden Sie von Entbürokratisierung. Sagen Sie doch gleich, dass Sie diesen Antrag als Korrektiv nutzen wollen, um durch die Hintertür am Mindestlohn zu arbeiten.
Ich frage Sie: Wissen Sie denn eigentlich, wer von einer De-facto-Abschaffung der Dokumentationspflichten beim Mindestlohn profitiert? Ich kann es Ihnen sagen: Es sind die großen Konzerne, insbesondere beim Bau, in der Hotellerie und im Versandgewerbe. Nur diese Großkonzerne sind in der Lage, durch ihre Marktmacht den Preis- und letztendlich den Lohndruck zum Beispiel an die Paketdienste und die dort prekär Beschäftigten weiterzugeben. Diese Versandkonzerne bieten kostenlose Lieferung und Abholung ihrer Handelswaren an. Und Sie als vermeintliche Wirtschaftspartei wissen doch: So etwas wie „kostenlos“ existiert nicht.
(Thomas L. Kemmerich [FDP]: Es geht um die Dokumentationspflichten! Thema verfehlt, setzen, sechs!
Die Kosten tragen nur andere: einerseits die Paket- und Kurierdienste und andererseits diejenigen, die dort oft unter erbärmlichen Bedingungen arbeiten.
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Es stimmt: Die Paketdienste finden das nicht lustig. Herr Kollege Kemmerich, Sie haben dazu ja etwas gesagt. Denen macht es keinen Spaß, unter diesem Druck zu arbeiten.
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– Wir kommen darauf.
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Schauen wir uns Ihren Antrag mal im Detail an: Es ist richtig, dass bei 8 Prozent der Arbeitgeberprüfungen ein Verstoß gegen die Dokumentationspflichten festgestellt wurde. Nun haben wir uns einfach mal den Zweiten Bericht zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns genommen und gelesen – Sie wahrscheinlich nicht –: Erstens gab es laut Bericht einen deutlichen Rückgang der Kontrollen parallel zur Einführung des Mindestlohns. Zweitens wurden in 20 Prozent der Fälle Ermittlungsverfahren eingeleitet, die zum Zeitpunkt der Drucklegung noch nicht abgeschlossen waren – Herr Zimmer hat auf diese Problematik hingewiesen – und damit gar nicht in Ihre Statistik einfließen. Drittens kommen weitere 8 Prozent an Mindestlohnverstößen in Branchen hinzu, in denen ein Branchenmindestlohn existierte, wodurch die Verstöße formal nicht unter das Mindestlohngesetz fallen. Das macht in der Summe circa 36 Prozent Verstöße bezogen auf die Kontrollen – nicht 8 Prozent, wie Sie sagen. Ich weise auch noch einmal darauf hin, dass es einen massiven Rückgang bei der Kontrolldichte gegeben hat. Das heißt, Ihre 8 Prozent müssen wirklich hinterfragt werden. Da frage ich Sie: Wenn bei relativ geringer Kontrolldichte mehr als ein Drittel der Arbeitgeber gegen die Dokumentationspflichten verstoßen hat, wie hoch ist dann die Dunkelziffer?
Am 8. Februar dieses Jahres hat das Hauptzollamt Köln in einer bundesweiten Aktion eine ungeheuerliche Zahl von Mindestlohnverstößen festgestellt: Bei 540 überprüften Personen gab es 220 Hinweise auf Mindestlohnverstöße. Dies sind 40 Prozent und nicht, wie Sie vortragen, 8 Prozent. Es besteht also Handlungsbedarf, und das keinesfalls bei der Verwässerung der Dokumentationspflichten.
Sie mögen recht haben, dass kleine und mittelständische Unternehmen im Bereich der Mindestlohnbürokratie und im Vergaberecht Probleme haben und dass dort der Druck zu hoch ist. Da müssen wir ran, da müssen wir die rechtlichen Regelungen ändern, aber keinesfalls die Dokumentationspflichten.
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Meine Damen und Herren, seit Jahrzehnten, spätestens seit dem Lambsdorff-Papier Anfang der 80er-Jahre, steht die FDP für die Entlastung der Großunternehmen und für die Belastung der arbeitenden Menschen und des kleinen Mittelstandes.
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Ich kann nur sagen: Gott sei Dank haben die Leute draußen im Land das irgendwann erkannt und genug davon gehabt.
Mit Ihrem Vorschlag, meine Damen und Herren von den Neoliberalen, verfestigen Sie die Wildwestzustände bei den Paketzustellern und in anderen Branchen, und das lehnen wir vollumfänglich ab.
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Wir als AfD, als neue Volkspartei, wollen den fairen Ausgleich zwischen den kleinen und mittelständischen Unternehmen und ihren Mitarbeitern und keine Übervorteilung, weder der einen noch der anderen Seite. Es gilt, in Deutschland die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen. Es gilt, die abhängig Beschäftigten nicht weiter zu schröpfen. Schauen Sie: 1974 hat eine Kassiererin im Einzelhandel gute 2 000 D-Mark verdient und ihr Manager circa das 15‑Fache. Heute verdient ein Manager im Vergleich mit einer Kassiererin das 130‑Fache.
Nach den letzten OECD-Berichten ist ein Großteil der deutschen Bevölkerung von Armut bedroht. Unter diesem Aspekt ist es nicht zielführend, die Schlupflöcher zu vergrößern, um den Arbeitgebern die Möglichkeit zu geben, weniger als den Mindestlohn zu zahlen. Es ist nicht zielführend, am Mindestlohn herumzudoktern. Wir müssen ein größeres Ziel anstreben: Nicht die Festigung des Mindestlohnes muss im Mittelpunkt stehen, sondern die Schaffung eines Wohlstandslohns.
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Meine Damen und Herren, es ist notwendig, in der Wirtschaft und innerhalb der Gesellschaft eine Diskussion zu eröffnen, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein Arbeitnehmer von seiner Arbeit leben, eine Familie gründen und diese Familie auch ernähren kann. Das muss unser Ziel sein.
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Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes war neben der neoliberalen Politik der FDP die Grundlage dafür, dass große Teile der deutschen Arbeitnehmer jetzt mit dem Mindestlohn kämpfen und Aufstocker sind, also bereits heute nebenher Hartz IV, Sozialhilfe, beziehen. Meine Damen und Herren, es wird uns die Gewissheit einen, dass diese Mindestlohnbezieher im Alter unter finanziellen Aspekten nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen werden. War es in Zeiten des Wirtschaftswunders unter Ludwig Erhard normal und richtig, dass ein deutscher Arbeitnehmer für seine Familie ein Haus und Heim errichtete, so ist es heute traurige Normalität, dass viele Arbeitnehmer nach dem Arbeitstag als Aufstocker zum Jobcenter gehen oder nach 67 Jahren eine Rente erhalten, die im Bereich der Grundsicherung liegt.
({9})
– Mit 67. Völlig korrekt, Herr Kollege Zimmer. – Es kann keinem Arbeitnehmer erklärt werden, warum er nach 45 Arbeitsjahren eine Altersrente unter dem Sozialhilfesatz bezieht, während ein Manager der Automobilindustrie 4 250 Euro Rente nicht monatlich, sondern täglich bezieht.
Jetzt fragen Sie mich oder mögen vielleicht denken: Was hat das mit den Dokumentationspflichten zu tun?
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Ich sage es Ihnen: Um sich gegen diese Armut zu wehren, ist es notwendig, dass wir valide Kontrollmechanismen haben. Die AfD, die neue Volkspartei, weist insofern den Antrag als reinen Klientelantrag à la Mövenpick zurück.
Danke schön.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Bernd Rützel, SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Kemmerich, ich hätte es mutig und ehrlich gefunden, wenn Sie hier gesagt hätten: Der Mindestlohn passt uns nicht, der gefällt uns nicht. Wir sind gegen den Mindestlohn, und wir sind auch dagegen, dass das Arbeitszeitgesetz eingehalten werden kann. – Das wäre ehrlich gewesen. Das hätte ich erwartet.
({0})
Aber von überbordender Bürokratie zu sprechen, das lädt ein, dass wir uns das Thema genauer anschauen.
Ich gebe Ihnen recht: Es ist immer hilfreich, zu überlegen, wo man Bürokratie abbauen kann. Unnötige Bürokratie braucht kein Mensch; die bauen wir auch gerne ab. Man muss allerdings aufpassen, dass notwendige Regeln dabei nicht über Bord geworfen werden. Es mag beliebt sein, Bürokratie im Ganzen zu verdammen; vernünftig ist das aber nicht. Schon der Soziologe Max Weber hat von der rationalen Form legaler Herrschaft gesprochen. Bürokratie ist für ihn der Versuch, Institutionen vernunftgemäß zu organisieren. Dazu gehören für alle verbindliche Regeln und die schriftliche Dokumentation der Arbeit. Das ist sinnvoll; denn wenn wir wollen, dass unsere Gesetze angewandt werden und für alle gelten, dann brauchen wir Kontrollen.
({1})
Und diejenigen, die kontrollieren, brauchen Kompetenzen und Befugnisse. Ich gehe davon aus, dass wir uns darüber einig sind.
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Die Streitfrage ist, ob wir den Unternehmen, wie Sie es beschreiben, zu viel Bürokratie in Bezug auf die Dokumentation des Mindestlohnes aufbürden, ob man das also einfacher machen kann.
Ich möchte zusammenfassen, was nach dem Mindestlohngesetz dokumentiert werden muss: Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit. – Zusammenfassung beendet.
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– Ja, sieben Tage hat man Zeit, das aufzuschreiben. – Sie fordern, dass man sich dafür vier Wochen Zeit lassen kann. Ich glaube, nach vier Wochen weiß man das nicht mehr so genau wie nach sieben Tagen.
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Also ist es sinnvoll, das zeitnah zu erledigen und nicht irgendwie zu verschieben.
({5})
Die Dokumentationspflicht gilt nur für geringfügig Beschäftigte – und dort nicht für diejenigen, die im privaten Bereich beschäftigt sind – und vor allem für die im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz genannten Wirtschaftsbereiche. Diese Aufzeichnungspflichten bedürfen keiner besonderen Form. Es braucht kein digitales Aufzeichnungssystem und keine Zeiterfassung. Es braucht nur einen Stundenzettel, auf dem das Datum sowie Beginn und Ende der Arbeitszeit stehen – das kann man sich selber herstellen –, und einen Kugelschreiber oder einen Bleistift. Wenn man das alles nicht zur Verfügung hat, kann man sich ein entsprechendes Formular von der Webseite des Bundesarbeitsministeriums herunterladen. Dort wird das angeboten. Ich halte deshalb den Aufwand nicht, wie Sie es beschreiben, für eine große Belastung. Es ist ein geringer Aufwand. Sie zahlen doch auch Löhne aus und schreiben Rechnungen. Wie führt man ein Geschäft, wenn das ein großer Aufwand sein soll?
({6})
Es ist ein Trugschluss, wie Sie in Ihrem Antrag beschreiben, dass die tarifvertraglich vereinbarte Arbeitszeit abgeglichen werden muss. Das ist eben nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass die tatsächlich geleistete Arbeitszeit dokumentiert und abgeglichen werden muss; denn aus ihr berechnet sich der Mindestlohn.
({7})
Und eine Stunde hat 60 Minuten und nicht 90 Minuten, wie bei manchen, die vorher und nachher für lau bzw. für nichts arbeiten sollen. Jede Arbeitsstunde muss bezahlt werden. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist das Betrug. Leider Gottes werden immer noch viele Menschen teilweise um ihre Arbeitszeit betrogen. Sie schaffen für lau und für nichts, und das ist nicht in Ordnung.
({8})
Letzte Woche hat Bundesfinanzminister Olaf Scholz die Zollstatistik 2018 vorgestellt. 2018 gab es über 6 000 Verstöße gegen den Mindestlohn. Ich weiß aus Gesprächen mit Beschäftigten des Zolls, wie wichtig die Aufzeichnungspflichten für ihre Arbeit sind. An dieser Stelle möchte ich mich – es ist in der letzten Stunde von allen hier bekräftigt worden, wie schwierig die Arbeit beim Zoll ist – sehr herzlich bei allen Beschäftigten der Finanzkontrolle Schwarzarbeit und beim Zoll generell für ihre hervorragende Leistung bedanken. Aus diesen Gründen stärken wir den Zoll mit mehr Personal, mehr Befugnissen und vor allem durch weniger Bürokratie, damit sie ihre Arbeit besser machen können, damit sie besser kontrollieren können. Wir können durch bessere Verfahren Bürokratie abbauen, und das machen wir.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zusammenfassend will ich sagen, dass wir die Umgehung des Arbeitszeitgesetzes nicht zulassen,
({10})
dass wir eine Aushöhlung des Mindestlohnes nicht zulassen, und das unter dem Deckmäntelchen des Bürokratieabbaus. Das lehnen wir ab. Darüber werden wir noch diskutieren.
Vielen Dank.
({11})
Susanne Ferschl, Die Linke, ist die nächste Rednerin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die FDP hat mal wieder – ganz was Neues – einen Antrag zum Bürokratieabbau vorgelegt.
({0})
Dieses Mal geht es um die Aufzeichnungspflicht beim Mindestlohn, um zu kontrollieren, ob er eingehalten wird.
({1})
Bürokratieabbau klingt erst mal gut, nach Vereinfachen und Verbessern, aber man muss bei der FDP immer genau hinschauen, was da vereinfacht und vor allem abgebaut werden soll.
({2})
Das Muster bei Ihnen ist doch jedes Mal das gleiche: Arbeitgeberverbände haben eine lange Wunschliste, welche Regelungen zum Schutz von Beschäftigten abgebaut werden sollen. Sobald die kleinste Verstärkung von Arbeitnehmerschutz droht, laufen sie Sturm – wie man bei der Debatte um die sachgrundlose Befristung sehen kann –, und die FDP trägt die Wünsche der Arbeitgeberverbände im vorauseilenden Gehorsam ins Parlament. Die Notwendigkeit, Schutzgesetze abzubauen, wird – je nach Wetterlage – mit einem drohenden wirtschaftlichen Abschwung, mit den Herausforderungen der digitalen Zukunft oder dem angeblichen Bürokratiemonster begründet. Es ist immer die alte Leier, und ich kann das als langjährige Betriebsrätin und Gewerkschafterin wirklich nicht mehr hören.
({3})
Dabei geht es bei der Dokumentationspflicht zum Mindestlohn nicht um unnötigen Papierkram, sondern um Nachweise, damit Beschäftigte nicht um ihren Lohn betrogen werden und im Übrigen der Staat nicht um die Sozialversicherungsbeiträge.
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Für das Jahr 2017 sprechen wir hier in Summe von geschätzt 7 Milliarden Euro. Ich meine, das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.
Aber nun zu Ihrem Antrag. Sie behaupten im Feststellungsteil, die überwältigende Mehrheit halte sich an Recht und Gesetz. Kollege Kemmerich, Sie haben aus dem Bericht der Mindestlohnkommission zitiert, dass nur 8 Prozent aller Betriebe beim Mindestlohn schummeln. Aber was Sie verschweigen, steht im Bericht zwei Zeilen weiter. Genau in der Branche, für die sich die FDP immer so ins Zeug legt, dem Hotel- und Gaststättenbereich, sind es nämlich schon 20 Prozent!
({5})
Generell frage ich mich aber, wie man die Situation so eindeutig beurteilen will, wenn lediglich 2,4 Prozent aller Betriebe kontrolliert werden. Eines ist doch logisch: Wenn man wenig kontrolliert, dann findet man auch wenig. Mit diesem Argument ein Ende der Kontrollen zu fordern, ist schon ein starkes Stück.
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Eigentlich müssten Sie alle hier ein Interesse an stärkeren und mehr Kontrollen haben, um Schmutzkonkurrenz zu verhindern; denn die Unternehmen, die sich anständig verhalten, haben dadurch einen Wettbewerbsnachteil.
Ihnen liegen ja besonders die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die sogenannten KMU, am Herzen, wobei die bisweilen gar nicht so klein sind. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die Betriebsinhaber häufig am Wochenende die Aufzeichnungen machen müssen. Mir kommen echt die Tränen. Und so etwas kommt von der Partei, die die Ausweitung des Arbeitszeitgesetzes fordert!
({7})
Ich zeige Ihnen mal was: Das hier ist das Formblatt für Stundenaufzeichnung der Minijob-Zentrale. Da trägt man Beginn und Ende der Arbeitszeit und die Summe ein.
({8})
– Hören Sie zu! – Das können Arbeitnehmer sogar selber machen.
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Und zum Thema „digital“: Es gibt vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales sogar eine App, mit der die Arbeitszeiten ganz einfach erfasst werden können. „Digitalisierung first, Bedenken second!“, sage ich dazu nur.
({10})
Im Vergleich dazu: Das hier ist der Antrag auf Hartz IV, den Erwerbslose und Aufstockerinnen und Aufstocker, die zum Teil um ihren Mindestlohn betrogen werden, ausfüllen müssen. Sechs Seiten, ohne Anlagen!
({11})
Merken Sie was? Sechs Seiten im Vergleich zu drei Spalten. Und vor diesen drei Spalten „Bürokratie“ müssen wir die Unternehmen schützen? – Wir als Linke sagen dazu ganz klar Nein!
({12})
Aber die Spitze der Absurditätensammlung dieses Antrags ist etwas anderes. Ich zitiere:
… KMU werden hier vom Gesetzgeber ohne Not der Gefahr von Ordnungswidrigkeiten ausgesetzt.
Also nicht die Unternehmen begehen Ordnungswidrigkeiten, weil sie ihrer Dokumentationspflicht nicht nachkommen, sondern der Gesetzgeber provoziert das durch Regulierung. Das ist ein ganz schön krudes Rechtsverständnis.
({13})
Mit dieser Begründung, Kolleginnen und Kollegen oder liebe Bundesregierung, könnten Sie eigentlich alle Gesetze abschaffen, die Unternehmen in irgendeiner Form regulieren; denn das ist dann immer eine Provokation zu einer Ordnungswidrigkeit. Keine Gesetze, keine Ordnungswidrigkeiten! Man kann es sich natürlich auch einfach machen.
({14})
Wir als Linke bleiben jedenfalls bei unseren Forderungen, den Mindestlohn auf mindestens 12 Euro zu erhöhen und die Kontrollen auszuweiten. Vier Jahre nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns wird es auch endlich Zeit, die Finanzkontrolle Schwarzarbeit – darüber haben wir vorhin gesprochen – mit mehr Personal auszustatten und diesen Leuten die Arbeit zu erleichtern. Wenn Sie sich mit den Kolleginnen und Kollegen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit unterhalten würden, wüssten Sie, dass sie eine Aufzeichnungspflicht ab dem ersten Tag und eine Ausweitung der Branchen fordern. Wir als Linke unterstützen diese Forderungen.
({15})
Abschließend noch einmal an die Adresse der FDP: Wir brauchen keinen Abbau, sondern eine Stärkung von Arbeitnehmerrechten. Das ist keine Bürokratie, sondern notwendiger Schutz von Beschäftigten.
Vielen Dank.
({16})
Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Wir haben gerade über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung diskutiert, mit dem die Finanzkontrolle Schwarzarbeit gestärkt werden soll. Jetzt fordert die FDP mit ihrem Antrag genau das Gegenteil und redet nur über Bürokratie.
Für uns Grüne geht es bei diesem Thema um die Menschen. Es geht um die Beschäftigten, die von ihrem Lohn kaum leben können. Es geht beispielsweise um die Bedienung im Restaurant, um die Reinigungskraft im Hotel, um den Postboten und um die Beschäftigten in der Fleischbranche. Genau diese Menschen müssen darauf vertrauen können, dass der Mindestlohn nicht nur auf dem Papier steht, sondern auch wirklich gezahlt wird.
({0})
Es darf keine Lücken und keine Möglichkeiten geben, den Mindestlohn zu unterlaufen. Deswegen muss der Mindestlohn effektiv kontrolliert werden. Dennoch möchte die FDP die Dokumentationspflichten einschränken. Sie meinen ja, für Kontrollen würden die Dauer der Arbeitszeit und der ausgezahlte Lohn ausreichen. In Ihrem Antrag schreiben Sie sogar, für die Arbeitszeit sei schon der Arbeitsvertrag eine ausreichende Dokumentationsbasis und außerdem könnten die Beschäftigten ja klagen, wenn irgendetwas nicht stimmt. Liebe FDP, das ist absurd; denn das geht in vielen Fällen an der Realität vorbei.
({1})
Wer sich schon einmal mit Kontrollen beschäftigt hat, dem ist bekannt, dass jemand, der Mindestlöhne umgehen will, das über die Arbeitszeit macht. Da hilft der Blick in den Arbeitsvertrag kein bisschen. Deshalb fragt die Finanzkontrolle Schwarzarbeit bei den Beschäftigten nach. Sie schaut sich die Abläufe in den Betrieben genau an.
({2})
Das alles vergleicht sie dann mit den dokumentierten Arbeitszeiten. Dafür braucht sie nicht die Dauer der Arbeitszeit, sondern die tatsächlichen Arbeitszeiten. Nur so kann die Finanzkontrolle Schwarzarbeit den Mindestlohn effektiv überprüfen. Deshalb müssen die Dokumentationspflichten so bleiben, wie sie sind.
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Diese Aufzeichnungspflichten gelten ja nicht für alle. Bei den Minijobs – das kritisieren Sie ja – macht das aber Sinn; denn gerade hier werden häufig die Rechte der Beschäftigten missachtet. Dann ist die Gefahr groß, dass am Lohn und an den Arbeitszeiten etwas gedreht wird. Entscheidend ist aber: Diese Dokumentationspflichten gelten nur für die Branchen, die im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz stehen. Herr Kemmerich, ich bin mir nicht sicher, ob Sie das tatsächlich verstanden haben. Es geht nur um diese Branchen. Der Fokus auf diese Branchen ist auch nicht willkürlich, ist nicht vom Himmel gefallen. Das sind Erfahrungswerte – wie vor kurzem bei den Kontrollen in der Logistikbranche, die ergeben haben, dass jeder dritte Arbeitgeber zu wenig Lohn zahlt. Für diese missbrauchsanfälligen Branchen möchten Sie, die FDP, jetzt die Dokumentationspflichten reduzieren. Das geht gar nicht;
({4})
denn der Gesetzgeber muss seiner Schutzverantwortung für die Beschäftigten gerecht werden.
Dann gibt es auch noch die Kritik am Schwellenwert, ab dem dokumentiert werden muss. Sind 2 958 Euro oder 2 000 Euro richtig oder willkürlich? An dieser Stelle möchte ich einmal ganz grundsätzlich werden; denn die Empörung der FDP ist so groß, dass man fast meinen könnte, durch den Mindestlohn gäbe es zum ersten Mal die Pflicht, die Arbeitszeit zu dokumentieren. Und das ist einfach falsch.
Darf ich mal kurz etwas sagen? Die Antragsteller in der ersten Reihe schauen nur aufs Handy. Das finde ich irgendwie komisch.
({5})
– Ich wollte nur einmal sagen, dass mich das irritiert.
({6})
Ich werde jetzt also etwas grundsätzlicher. Laut Arbeitszeitgesetz müssen alle Überstunden dokumentiert werden. Aber wie sollen die nachgewiesen werden, wenn die anderen Stunden gar nicht dokumentiert werden? Der Arbeitgeber muss auch darauf achten, dass die gesetzlichen Grenzen bei der Arbeitszeit und die Ruhezeiten eingehalten werden. Schon allein deswegen muss der Arbeitgeber wissen, wann und wie viel seine Beschäftigten arbeiten. Für die Sozialversicherung muss auch das Arbeitsentgelt nachgewiesen werden, und zwar die Zusammensetzung und die zeitliche Zuordnung. Außerdem gibt es genau die gleichen Dokumentationspflichten im Arbeitnehmer-Entsendegesetz und bei der Arbeitnehmerüberlassung. Diese Dokumentationspflichten sind also nicht neu. Bevor Sie sich empören und etwas fordern, sollten Sie erst einmal die Gesetzeslage zur Kenntnis nehmen.
({7})
Die Dokumentation der Arbeitszeit ist im Übrigen auch keine unzumutbare Belastung für die Unternehmen. Im Gegenteil: Sie macht Sinn, und zwar für beide Seiten. Die Beschäftigten können damit ihre Arbeitsstunden nachweisen, damit sie gerecht entlohnt werden. Die Arbeitgeber können die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten kontrollieren. Mir kann keiner erzählen, dass daran niemand Interesse hat. Immerhin wurde die Stechuhr nicht von der Politik, sondern von den Unternehmen eingeführt.
Arbeitszeiten können auch ganz einfach erfasst werden. Viele Möglichkeiten sind hier genannt worden. Das ist kein Bürokratiemonster.
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Hier sollte sich die FDP den eigenen Wahlslogan, der schon zitiert wurde, einfach einmal zu Herzen nehmen: Digital first, Bedenken second. – Ich finde, dass das auch bei der Dokumentation der Arbeitszeit gelten sollte.
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Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Torbjörn Kartes, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zumindest in einem sind wir uns, glaube ich, einig: Wir müssen dringend Bürokratie in Deutschland abbauen.
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Das würde auch ich so sagen. Wir müssen Bürokratie dort abbauen, wo sie zu unnötigen – ich sage bewusst: unnötigen – Mehrbelastungen für Unternehmen, aber auch für Bürgerinnen und Bürger führt.
({1})
In der Tat gibt es da viel zu tun. Das gilt auch für viele Menschen vor Ort. Versuchen Sie heute einmal, vor Ort noch eine Kerwe zu organisieren, oder führen Sie rechtssicher einen Verein. Deswegen gibt es da unbestritten viel zu tun.
Wir haben uns als Unionsfraktion auch vorgenommen, in dieser Legislaturperiode in diesem Zusammenhang einiges auf den Weg zu bringen. Ich möchte nur kurz das dritte Bürokratieentlastungsgesetz erwähnen, das wir einbringen werden.
({2})
Das wird nicht alle Probleme lösen. Es gibt aber einen Unterschied: Wir gestalten. Wir werden dieses dritte Bürokratieentlastungsgesetz auf den Weg bringen. Sie machen immer wieder Vorschläge, haben es aber vorgezogen, jetzt in der Opposition zu sitzen. Wir werden da konkret handeln. Wie gesagt, das wird nicht alle Probleme lösen. Es ist aber ein richtiger und wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
({3})
Für mich wird es immer schwierig, wenn Sie hier Vorschläge machen und dabei Regelungen zur Disposition stellen, die zumindest auch dem Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dienen. Diesen Vorwurf müssen Sie sich an dieser Stelle gefallen lassen;
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denn Sie wollen in großem Umfang die Dokumentationspflichten beim Mindestlohn abschaffen.
Natürlich ist und bleibt es so, dass der Mindestlohn in erster Linie ein ordnungspolitisches Instrument ist, das der Regulierung des Wettbewerbs dient. Wir wollen dafür sorgen, dass faire Löhne gezahlt werden und dass es nicht Unternehmer gibt, die diesen fairen Wettbewerb mit Dumpinglöhnen untergraben.
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Natürlich schützen diese Dokumentationspflichten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer davor, dass sie zwar formal nach Mindestlohn beschäftigt und vergütet werden, faktisch aber unbezahlt mehr arbeiten und in Summe unterhalb des Mindestlohns verdienen. Das ist nicht überall so – das wissen wir –, aber es gibt diese Fälle, und es ist, glaube ich, aller Anstrengungen wert, das zu verhindern.
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Mit Ihrem Antrag wollen Sie nun ganz konkret erreichen, dass die Dokumentationspflichten für diejenigen, die geringfügig oder im Rahmen der Saisonarbeit beschäftigt sind, vollständig aufgehoben werden. Bei der Einführung des Mindestlohns hat man sich ganz bewusst dafür entschieden, gerade dort Dokumentationspflichten vorzusehen. Ich glaube, dass der Grund dafür bis heute nicht entfallen ist. Insbesondere bei den Minijobs kommt es entscheidend darauf an, dass die Verdienstobergrenzen eingehalten werden, und dafür ist es notwendig, dass man sich die tatsächlich geleistete Arbeitszeit genau ansieht. Bei der sogenannten Saisonarbeit, bei der kurzfristigen Beschäftigung, kommt es entscheidend darauf an, dass die tatsächliche Zahl der gearbeiteten Tage vernünftig dokumentiert wird. Deshalb glaube ich, dass es für diese Dokumentationspflicht immer noch gute Gründe gibt.
Schauen wir uns Ihren Vorschlag einmal im Lichte dessen an, was Sie vor kurzem hier eingebracht haben. Sie wollen die Minijobs massiv ausweiten. Ich sage gleich: Mit uns kann man darüber sprechen, die Minijobgrenzen moderat anzupassen. Aber wenn Sie vorschlagen, die Minijobs massiv auszuweiten
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– das haben Sie hier eingebracht –,
({8})
und gleichzeitig vorschlagen, die Dokumentationspflichten beim Minijob abzuschaffen, dann kann ich nur sagen: Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns. Unser vorrangiges Ziel ist und bleibt es, Menschen in gut bezahlte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu bekommen.
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Bei denen, die laut Ihrem Antrag in der Dokumentationspflicht bleiben sollen, soll faktisch die monatliche Lohnbescheinigung ausreichen. Ich bin der Meinung, Sie hätten dann eher beantragen sollen, dass die Dokumentationspflicht komplett abgeschafft wird; denn das, was Sie hier beantragen, ist faktisch nichts anderes. Ich sage Ihnen auch: Die Einhaltung des Mindestlohns können Sie damit nicht garantieren, und die Bekämpfung von Schwarzarbeit – wir haben hier heute Morgen ja schon über Schwarzarbeit gesprochen – können Sie damit auch nicht voranbringen. Deshalb glaube ich, dass Ihr Antrag in die falsche Richtung geht.
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Im Übrigen sollten Sie – auch das ist schon gesagt worden – einmal ins Arbeitszeitgesetz schauen. Ich glaube, dass es ein guter Plan ist – es gibt eine ganze Reihe von Regelungen dazu –, Arbeitszeiten zu dokumentieren. Schon nach dem Arbeitszeitgesetz müssen Sie Mehrarbeit dokumentieren.
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Deswegen ist es sinnvoll, Anfang und Ende der täglichen Arbeitszeit zu dokumentieren. Ich kann nicht erkennen, warum die Abschaffung dieser Dokumentationspflicht zu einem massiven Bürokratieabbau führen sollte. Im Arbeitszeitgesetz ist sie sowieso vorgeschrieben. Ich glaube auch, dass es im Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern fair ist, wenn Arbeitszeiten korrekt dokumentiert werden.
({12})
In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass sich der weit überwiegende Teil an die Regelungen hält und wir deshalb die Regelungen abschaffen können. Wir haben gerade eine Pressemitteilung des Bundesfinanzministeriums gelesen, in der deutlich gemacht wird, dass die Zahl der Ermittlungsverfahren wegen Nichtgewährung des gesetzlichen Mindestlohns stark angestiegen ist. Insofern sehe ich gute Gründe, weiter zu dokumentieren.
({13})
Angesichts der Arbeitsbedingungen von Paketzustellern – auch darüber diskutieren wir ja zurzeit – gibt es weiterhin einen Bedarf für eine vernünftige Dokumentation. Das zeigt, dass wir hier noch etwas zu tun haben.
Zum Schluss. Die Dokumentation ist nicht so kompliziert, wie Sie suggerieren. Manche haben hier einen Zettel hochgehalten und gesagt, man müsse nur Anfang und Ende der Arbeitszeit aufschreiben. Es gibt sogar eine App dazu. Ich bin nicht begeistert von allem, was aus dem Bundesarbeitsministerium kommt, aber es gibt die App „einfach erfasst“.
({14})
Arbeitnehmer können sie kostenlos herunterladen. Da machen Sie morgens einen Klick und abends einen zweiten Klick – wir klicken sowieso alle den ganzen Tag auf diesen Kisten rum –, und dann sind die Zeiten erfasst.
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– Ja, das erkläre ich Ihnen jetzt noch in den letzten Sekunden meiner Redezeit. – Aus der App heraus wird automatisch eine E-Mail an den Arbeitnehmer erzeugt, und schon hat er seine Arbeitszeiten entsprechend dokumentiert. Ich glaube, das geht ganz einfach.
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Das geht auch digital. Wir sollten viel mehr für diese App werben, damit sie bekannter wird. Sie wird viel zu selten heruntergeladen. Dafür brauchen wir auf jeden Fall Ihren Antrag nicht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Manfred Todtenhausen für die Fraktion der FDP.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich spreche hier als betroffener Handwerksmeister. Das möchte ich Ihnen, Herr Dr. Zimmer einmal nahelegen:
Wir treiben den Abbau von Bürokratie weiter voran und stärken damit die Wirtschaft. Deshalb wollen wir für diese durch Entlastungen neue Freiräume für ihr Kerngeschäft und neue Investitionen schaffen. Im Rahmen eines Bürokratieabbaugesetzes III werden wir insbesondere die Statistikpflichten weiter verringern.
So steht es im Koalitionsvertrag.
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Das sollten Sie allmählich mal angehen.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Todtenhausen?
Ich rede erst einmal. Dann können Sie sich ja immer noch überlegen, ob Sie eine Zwischenfrage stellen wollen.
Also, schon ein Jahr GroKo, schon ein Jahr Minister Altmaier; aber was hat es mit den Bekenntnissen zum Bürokratieabbau auf sich? Tausendmal diskutiert, tausendmal ist nix passiert, und Zoom hat es erst recht nicht gemacht.
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Trotz der vielen Ankündigungen lässt der Bürokratieabbau weiterhin auf sich warten. Dabei gibt es Vorschläge von vielen Betroffenen. Schon im vergangen Frühjahr haben einige Verbände erste Vorschläge gemacht, zum Beispiel von den Bäckern; das weiß ich. 43 detaillierte Ideen zur Umsetzung tragen das Datum 22. März 2018. Das ist über ein Jahr her. Sie glauben, kommt Zeit, kommt Rat. Ich glaube, für unsere Betriebe ist Zeit nicht Rat, sondern Geld, Geld, das die kleinen und mittleren Unternehmen bezahlen müssen.
Es geht hier nicht um den Abbau von Leistungen, was immer gesagt wird. Das nervt eigentlich nur. Es geht einfach um den Abbau von Bürokratie.
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Jeder Tag ohne Entlastung bedeutet überflüssige Arbeit, und das für 99 Prozent unserer Betriebe, für mehr als 3,5 Millionen Unternehmen. Die Zeit, die man mit dieser Arbeit verbringt, kann man besser – das weiß ich aus eigener Erfahrung – mit seinen Aufträgen, mit seinen Mitarbeitern, mit seinen Kunden verbringen.
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Was unsere Betriebe am Mindestlohn am meisten nervt, ist nicht, dass es ihn gibt – die meisten zahlen sowieso weit mehr –, sondern die umfangreiche Dokumentationspflicht, auch wenn Sie die hier immer kleinreden. Für mich stellt sich die Frage: Warum ändern Sie das nicht einfach? Warum stellen Sie alle Unternehmer unter Generalverdacht?
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Warum misstrauen Sie den Unternehmen? Bauen Sie doch mal Vertrauen auf. Das, was Sie machen, ist fatal.
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Wie sieht es in kleinen und mittleren Unternehmen tatsächlich aus? Da arbeitet der Chef die ganze Woche mit, und abends und am Wochenende erledigt er die Bürokratiearbeit, die Sie ihm auferlegt haben, und da hilft die Frau meistens mit. Ich kenne das so.
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Sie von der SPD wollen die 35- bis 38‑Stunden-Woche für Arbeitnehmer. Ob Unternehmer 60 Stunden oder mehr arbeiten, ist Ihnen aber völlig egal. Und Sie reden von Vereinbarkeit von Familie und Beruf! Bei Unternehmen ist es Ihnen doch völlig egal, was mit den Familien ist.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt komme ich langsam zum Schluss.
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Zwei Drittel der Unternehmen beklagen eine erhebliche bürokratische Belastung. Wir wollen sie deutlich senken. Machen Sie doch mit! Machen Sie es den Unbescholtenen einfacher!
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Konzentrieren wir uns doch auf die schwarzen Schafe! Ja, die gibt es, ja, die müssen wir bekämpfen, von mir aus mit drakonischen Strafen; aber mit dieser Dokumentationspflicht schießen Sie weit über das Ziel hinaus.
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Wir machen Ihnen ein praxisnahes Angebot. Sie können das annehmen. Wir schlagen vor, die bürokratischen Auflagen für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber auf ein vernünftiges Maß zurückzufahren. Die Beschäftigten werden genauso gut wie bisher vor rechtswidrigem Verhalten und Ausbeutung geschützt. Machen Sie also mit! Die Betriebe, die Unternehmer und die Arbeitnehmer werden es Ihnen danken.
Vielen Dank.
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Der Abgeordnete Klaus Ernst erhält die Gelegenheit zu einer kurzen Kurzintervention.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Die Frage ist eigentlich ganz einfach und auch sehr kurz. Schauen Sie, Herr Todtenhausen, wenn Sie in den Biergarten gehen und sich ein Maß Bier bestellen – bei Ihnen im Bergischen Land ist es vielleicht ein Pils – und wenn Sie noch eins und noch eins trinken – es werden zwei, drei, vier, fünf –, finden Sie es dann nicht richtig, dass das, was Sie getrunken haben, irgendwie dokumentiert wird? Ich meine, wenn es um die Rechnung geht. Warum soll die Bedienung, die Ihnen die Rechnung bringt und mit einem relativ großen bürokratischen Aufwand – fünf bestellte Biere müssen jeweils aufgeschrieben werden – dokumentiert, was Sie getrunken haben, eigentlich nicht ihre Arbeitszeit aufschreiben dürfen?
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Warum ist denn der bürokratische Aufwand für diese Frau höher, wenn sie ihre Arbeitszeit aufschreibt, als wenn sie dokumentiert, was Sie getrunken haben? Wo ist der Unterschied?
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Ich kann Ihnen sagen, wo der Unterschied ist: Bei dem einen Fall geht es um Ihren Geldbeutel, und bei dem anderen geht es um den Geldbeutel dieser Frau, und der ist Ihnen egal. Das ist das, was wir kritisieren.
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Herr Todtenhausen.
Vielen Dank, Herr Ernst, für Ihren Einwand. – Ich freue mich, wenn ich in einem Biergarten sein kann; aber ich trinke kein Bier, sondern Cola, und die zwei Cola, die ich trinke, kann ich mir merken. Aber es geht doch nicht darum. Natürlich schreibt auch der Handwerker Rechnungen; natürlich dokumentiert auch er, was er gemacht hat.
Es geht doch einfach darum, dass wir Bürokratie im Zusammenhang mit bestimmten Vorgängen abbauen. Über 90 Prozent aller Unternehmen sind ehrlich. Wenn wir von den restlichen 8 Prozent sprechen, dann geht es doch nicht ausschließlich darum, dass sie nicht den Mindestlohn zahlen – schauen Sie sich das doch mal an –, sondern sie haben ihre Dokumentationspflicht nicht immer erfüllt, weil sie oftmals zu spontan sind und weil die Dokumentationen nicht sofort, auch nicht nach einer Woche, vorgenommen worden sind.
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Da wollen wir doch reingrätschen. Wir wollen die angesprochenen 8 Prozent reduzieren, sodass klar ist, wer die wirklichen Gangster sind und diejenigen, die den Mindestlohn nicht zahlen. Wir wollen nicht diejenigen bestrafen, die vielleicht aus Zeitmangel ihrer Dokumentationspflicht nicht nachgekommen sind. Deswegen ist unser Antrag goldrichtig.
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Vielen Dank. – Wir fahren in der Debatte fort. Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Michael Gerdes.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, ich hoffe, Sie hören mir jetzt auch zu. Ich halte die Klage über die Dokumentationspflichten beim Mindestlohn für eine Debatte von vorgestern.
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Weder habe ich den Eindruck, dass die deutsche Wirtschaftsleistung aufgrund überzogener Aufzeichnungspflichten nachgelassen hat, noch haben wir an dieser Stelle ein unüberwindbares Bürokratiemonster geschaffen. Was für ein Quatsch! Das zeigt auch diese Debatte.
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Da gibt es mit Sicherheit schlimmere verwaltungstechnische Vorgänge. Mein Kollege Bernd Rützel und auch Herr Kartes haben darauf hingewiesen und aufgezeigt, wie simpel die Dokumentation tatsächlich ist.
Was ich Ihnen zugutehalten möchte: Bei der Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie war die FDP-Fraktion nicht Teil dieses Hauses.
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Vor diesem Hintergrund verstehe ich, dass Sie mit dieser Debatte Ihre wirtschaftspolitische Expertise für die Öffentlichkeit dokumentieren wollen. Damit haben Sie anscheinend in diesem Haus ein Alleinstellungsmerkmal.
Gerne unterstreiche ich noch einmal die Haltung der SPD. Verehrter Herr Kollege Todtenhausen: Ohne klare Aufzeichnung von Arbeitszeiten keine Kontrollmöglichkeit, und ohne Kontrolle keine Fairness bei der Bezahlung.
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Eine Tabelle, bestehend aus Beginn, Ende und Dauer der Arbeitszeit, kann man auch als komplex bezeichnen, ja. Ich bezweifle auch, dass die Dokumentation für Arbeitgeber einen erheblichen Mehraufwand bedeutet.
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Wer Rechnungen stellt, in denen Arbeitsstunden enthalten sind, muss diese ohnehin aufschreiben; das haben wir heute hier schon öfter gehört.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, anstatt sich an der Bürokratie zu stören, sollten wir uns lieber darauf konzentrieren, wie wir die Durchsetzung des Mindestlohns verbessern und Umgehungen der Lohnuntergrenze vermeiden. Die vorangegangene Debatte zum Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch hat gezeigt, dass Union und SPD genau hier ansetzen: Der Zoll wird mit mehr Personal und neuen Befugnissen ausgestattet, und auf diese Weise schützen wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besser vor Lohndumping und nicht bezahlten Arbeitsstunden.
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Unseriöse Unternehmen werden damit schneller entlarvt.
Problematisch finde ich auch, dass viele Beschäftigte, die nicht regelkonform bezahlt werden oder Verstöße gegen die Aufzeichnung von Arbeitszeiten feststellen, Angst davor haben, ihre Ansprüche einzufordern. Hier müssen wir überlegen, wie wir Betroffenen den Rücken stärken. Sicherlich kennen die meisten von Ihnen Beispiele aus ihren Wahlkreisen. Hinter vorgehaltener Hand kann man dann von Umgehungspraktiken hören. Da werden Pausenzeiten nicht gewährt, aber abgerechnet, Leerfahrten nicht bezahlt oder Zielvorgaben so gemacht, dass sie in der Arbeitszeit nicht zu schaffen sind, und so lässt man Stundenlöhne sinken. Ein Dialog aus einer Bäckerei: „Uschi, kannst du mal vier Brötchen in deine Kasse eingeben? Ich bin ja noch in der Pause.“ Das sollte uns nachdenklich machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Einführung des Mindestlohnes war ein Meilenstein. Ich wiederhole noch einmal gerne: Der Mindestlohn ist ein Erfolg,
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weil alle Horrorszenarien, wonach Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten, ausgeblieben sind, weil er messbare Einkommensverbesserungen gebracht hat, weil vor allem Frauen, prekär Beschäftigte, Arbeitnehmer in kleinen Betrieben und Beschäftigte mit Migrationshintergrund von ihm profitieren und weil mehr sozialversicherungspflichtige Jobs entstanden sind.
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Selbstverständlich wissen wir auch, dass der Mindestlohn allein nicht alle sozialpolitischen Probleme löst, zum Beispiel macht der Mindestlohn die steigenden Mieten nicht wett. In seiner jetzigen Höhe schützt er auch nicht angemessen vor Armut. Er dient vor allem dazu, dass sich Wettbewerber bei den Löhnen nicht unterbieten und den Preisdruck nicht auf dem Rücken von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern austragen. Daran müssen wir weiter arbeiten. Das beste Mittel für gute Löhne und vernünftige Arbeitsbedingungen sind umfassend geltende Tarifverträge.
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Der Mindestlohn hilft vor allem dort, wo keine Tarifbindung vorhanden ist. Eine Diskussion darüber werden wir morgen hier noch führen.
Herzlichen Dank und Glück auf!
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die fraktionslose Abgeordnete Dr. Frauke Petry.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist löblich, dass es immerhin eine Fraktion der schon länger hier sitzenden gibt, die sich hin und wieder für die Interessen des Mittelstandes einsetzt – wenn auch inkonsequent. Es gibt aber nur eine Partei, die blaue Partei, die in diesem Parlament noch eines tut: den Mindestlohn als insgesamt untaugliches Instrument und vor allen Dingen – das vergessen viele – als die Folge einer verfehlten Währungspolitik zu kritisieren.
Vor der Euro-Einführung waren wir Hochlohnland. Heute laufen wir der Gehaltsentwicklung im Vergleich zu anderen Industriestaaten meilenweit hinterher. Millionen Arbeitsstunden, Geld, Strom und CO 2 werden für unproduktive Arbeit seitens der Betriebe – zudem handelt es sich um Steuermittel der Bürger – für die Bürokratie verblasen, nur um eine sowieso ökonomisch sinnbefreite Maßnahme zu kontrollieren, Millionen Arbeitsstunden, in denen keine Werte geschaffen werden – ein Luxus, den sich Deutschland nicht leisten kann.
Im FDP-Antrag heißt es, dass die Lockerungen der Dokumentationsvorschriften – welche wir ausdrücklich unterstützen – zudem die Akzeptanz des Mindestlohns weiter erhöhen würden. Verständlich: Eine Daumenschraube wird zwei Daumenschrauben vorgezogen. Eine freie Gesellschaft, moderne Industrie sollten allerdings auf freie Entfaltung und die Bezahlung von Ergebnissen und den freien Willen aller Individuen Wert legen und nicht darauf, die eigene Vorstellung anderen aufzuzwingen.
Der mündige Bürger, sollte er auf Mindestlohn bestehen, ist laut der Mehrheit in diesem Plenum nicht mündig genug, um gegenüber seinem Arbeitgeber bezüglich Rechts- oder Vertragsbruch eigenständig tätig zu werden. Der mündige Bürger, der Sie hier ins Parlament gewählt hat und Sie bezahlt, ist nach der Wahl für Sie nicht mehr mündig. Bald reden wir über ein soziales Dokumentationssystem nach chinesischem Vorbild; denn offenbar müssen alle sozialistischen Hirngespinste mit Zwang und Gewalt durchgesetzt werden.
Liebe FDP, die Freiheit verteidigt man nicht in Trippelschritten, sondern mit Konsequenz und ohne regelmäßige Anbiederung an Teile der Regierung. Davon sind Sie noch weit entfernt.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Peter Aumer.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Antrag der FDP „Mindestlohndokumentation vereinfachen – Bürokratie abbauen“. Den wolltet ihr von der FDP vor zwei Wochen schon beraten; da ist euch dann ein wichtigeres Thema dazwischengekommen. Ich glaube, man muss sich entscheiden, wo man Prioritäten setzt.
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– Ach so, deswegen. Na ja, okay.
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– „Entschuldigt“, genau.
Wenn man, meine sehr geehrten Damen und Herren der FDP, Ihren Antrag liest, stellt man fest: Da steht vieles Richtige drin; aber der Zungenschlag ist doch ein sehr negativer, gerade hinsichtlich der Bewertung des Mindestlohnes. Wir haben darüber gerade schon sehr viel geredet: Es gibt viele positive Aspekte, die der Mindestlohn mit sich gebracht hat. Wir haben gesellschaftspolitisch sehr viel befriedet. Wenn man die Debatte der letzten Jahrzehnte Revue passieren lässt, sieht man, dass die linke Seite gefordert hat, dass der Mindestlohn viel höher sein muss, als er jetzt ist,
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während die rechte Seite des Hauses sagte: Durch den Mindestlohn gehen Arbeitsplätze verloren. – Sie sind nicht verloren gegangen. Ich glaube, dass der Mindestlohn bei uns im Land eine große Akzeptanz erfährt und wir die richtigen Akzente setzen müssen. Dass ihr in eurem Antrag schreibt, die Akzeptanz des Mindestlohns wird durch Bürokratieabbau erhöht, ist, glaube ich, nicht ganz richtig. Es gibt eine gesellschaftliche Akzeptanz des Mindestlohns, und diese müssen wir politisch begleiten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hatte vor kurzem ein Gespräch mit dem Kreisverband der DEHOGA in meinem Wahlkreis. Wie Landwirte, Handwerker und viele Mittelständler kämpfen auch Gastwirte mit den großen Herausforderungen der Bürokratie. Dokumentationspflichten, auch in Bezug auf den Mindestlohn, sind in allen Bereichen ein Thema. Es geht aber natürlich auch um die andere Seite. Es geht um die Einhaltung des Arbeitsrechts. Es geht auch um die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich glaube, unsere Aufgabe in diesem Hohen Haus ist, den Ausgleich herzustellen.
Die FDP schreibt in ihrem Antrag, bei 92 Prozent der Geprüften gab es keine Beanstandungen. Das bedeutet aber, dass es bei 8 Prozent welche gab. Es ist daher wichtig, dass wir auf diese Zahlen schauen und dies angehen. Die Frage ist nur, wie man das macht.
Lieber Herr Kollege Kemmerich, in Ihrer Rede sagten Sie, dass Sie die Hausaufgaben der Bundesregierung machen müssten, dass wir als Union mehr Misstrauen als Vertrauen gegenüber den Unternehmerinnen und Unternehmern haben und dass unser ordnungspolitischer Kompass fehlt. Sehr geehrter Herr Kollege, darüber sollten wir uns einmal persönlich unterhalten; denn gerade bei uns ist es eben nicht so.
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Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland haben wir einen klaren Kompass: die soziale Marktwirtschaft.
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In einer digitalen Zeit diese soziale Marktwirtschaft neu zu denken, ist eine Herausforderung, der wir uns alle in diesem Hohen Hause stellen müssen. Ich bin gespannt, welche Antworten die FDP in dieser Debatte geben wird.
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In der sozialen Marktwirtschaft ist der Ausgleich der Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein ganz essenziell wichtiger Bestandteil. Deswegen ist dieser Ausgleich beim Thema Mindestlohn so wichtig. An dieser Stelle müssen wir ein Gleichgewicht hinbekommen. Ich bin mir sicher, dass man auch beim Thema Bürokratieabbau ganz genau hinschaut. Die Bundesregierung macht es jedenfalls nicht so eindimensional, wie die FDP das tut, ganz nach dem Motto: Mal schauen, welches Thema man hervorholen kann, um wieder einmal über Bürokratieabbau zu reden.
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Wir als Koalition haben das gesamte Thema Bürokratieabbau auf die Tagesordnung genommen. Wir bringen ein Bürokratieabbaugesetz als Gesamtkonzept in den Deutschen Bundestag ein.
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Dazu gehört natürlich auch, dass man über die Mindestlohndokumentation spricht. Aber es gibt noch viele andere Bereiche. Die Bürokratie ist vor allem im Steuerbereich ein großes Thema, da 43 Prozent des Bürokratieaufkommens dort anfallen. Damit müssen wir uns befassen. Einige Ansätze in Ihrem Antrag sind sicherlich überlegenswert; darüber kann man reden. Man muss aber das Große und Ganze im Auge haben.
Unser Ziel muss es sein, hier im Deutschen Bundestag den Mittelstand und das Handwerk zu fördern.
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Wenn man sich die aktuellen Zahlen anschaut, sieht man: Die Wirtschaftsprognosen sind nicht ganz so positiv. Die Wirtschaftsweisen haben ihre Wachstumsprognose für 2019 halbiert. Deswegen, glaube ich, ist es wichtig, dass wir einerseits unsere Unternehmer und Unternehmerinnen in ihrer Arbeit unterstützen und andererseits natürlich auch den Ausgleich der Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern hinbekommen. Diesen Ausgleich bekommen Sie aber leider nicht hin, meine lieben Kollegen der FDP. Die Debatte von Ihrer Seite war sehr eindimensional.
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– Nein, Sie muten mir nicht zu viel zu. – Wir versuchen, einen Ausgleich hinzubekommen und das Große und Ganze im Blick zu behalten. Ich glaube aber, dass das nur mit uns geht und dass wir hier mit unserem Koalitionspartner und dem Bürokratieabbaugesetz einen Weg beschreiten, der es uns ermöglicht, alle Bereiche anzugehen.
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Es gibt durchaus Auswüchse in unserem Land, über die man reden muss. Ich hoffe, wir alle haben den Mut, dies gemeinsam anzugehen. Wir als CDU/CSU stehen für eine starke soziale Marktwirtschaft in unserem Land. Wir stehen für den Ausgleich der Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Unser Interesse ist es, dass die Wirtschaft in unserem Land weiterhin gut funktioniert. Unser Interesse muss es sein, dass wir Arbeitsplätze sichern, aber auch faire Arbeitsbedingungen für die Zukunft sicherstellen.
Herzliches Dankeschön für die Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner ist der fraktionslose Abgeordnete Uwe Kamann.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher! Er wurde 2015 eingeführt, er gilt in allen Branchen, und im Januar dieses Jahres wurde er auf 9,19 Euro erhöht: der Mindestlohn. Der Mindestlohn soll sicherstellen, dass ein Arbeitnehmer von seinem Lohn auch leben kann, egal in welchem Beruf. Jedoch wurde nicht sichergestellt, dass der Mindestlohn nicht zur Höchstbelastung wird, und zwar für kleine Arbeitgeber. Ich meine damit nicht nur die finanzielle Komponente, sondern die Faktoren Zeit und Aufwand.
Es liegt offensichtlich in unserer Natur, alles bis ins Detail regeln und überprüfen zu wollen.
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Was sich aber die GroKo mit der Überwachung der Einhaltung der Mindestlohnverordnung ausgedacht hat, geht zulasten sinnvollerer Aufgaben. Insbesondere kleine und mittlere Betriebe sind überfordert.
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Es gilt: Du kannst den Mindestlohn zahlen, aber dokumentierst du falsch, hast du ein großes Problem.
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Man soll nicht glauben, dass in einem kleinen Betrieb für diese Art der Dokumentation die Zeit bleibt.
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Herr Dr. Zimmer, ich kann Ihnen sagen: Es geht nicht nur darum, die drei Zeilen auszufüllen. Wenn Sie das denken, dann haben Sie, sorry, Unkenntnis dahin gehend, was notwendig ist. Sie müssen es kontrollieren. Sie müssen es überprüfen. Sie müssen Rücksprache halten, und Sie müssen archivieren, und das nicht nur bei einem Mitarbeiter, sondern das müssen Sie auch mit fünf oder zehn Mitarbeitern in einem kleinen Unternehmen machen. Stattdessen sollten Sie aber lieber Aufträge reinholen, um ihrem Arbeitnehmer auch seinen Arbeitsplatz zu sichern; denn das ist in dem Sinne die Aufgabe eines Unternehmers. Ich kann Ihnen das sagen; denn ich bin Unternehmer. Sie waren es noch nicht.
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Ich bin ganz entschieden dafür, die Dokumentationspflichten zu liberalisieren, die detailgenaue Erfassungspflicht abzuschaffen und nur das abzufragen, was gemäß dem gesunden Menschenverstand ausreicht, um die Einhaltung der Regeln zu dokumentieren.
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Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass der vorliegende Antrag als richtiger Schritt hin zur Entlastung unserer Betriebe von unnötigem bürokratischem Ballast sinnvoll ist und ihm zugestimmt werden sollte.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Letzte Rednerin in dieser Debatte ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Gabi Hiller-Ohm.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fest steht: Der Mindestlohn ist eine Erfolgsgeschichte.
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Ich freue mich deshalb, dass auch ich ganz persönlich mit der SPD den Mindestlohn hier im Bundestag gegen erhebliche Widerstände der CDU/CSU, aber vor allem der FDP mit durchsetzen konnte. Millionen Menschen haben seitdem vom Mindestlohn profitiert.
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Natürlich muss die Einhaltung des Mindestlohns kontrolliert werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir brauchen klare Spielregeln; das ist doch überhaupt gar keine Frage. Wir werden die Kontrollen durch die Stärkung des Zolls, der dafür zuständig ist, sogar noch verschärfen, damit kein Arbeitnehmer und keine Arbeitnehmerin in unserem Land auch nur einen Cent weniger bekommt als den Mindestlohn.
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Das, meine Damen und Herren, ist uns wichtig; denn wir stehen auf der Seite der Beschäftigten.
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Das kann man von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, aber nun wahrlich nicht behaupten.
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Sie haben schon die Einführung des Mindestlohns 2015 massiv bekämpft, und Sie versuchen es auch heute wieder. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer doch schnurzpiepegal.
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Sie vertreten ausschließlich die Interessen einiger Unternehmen.
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Und das ist besonders schlimm, weil Ihre Forderungen voll zulasten der Menschen gehen, die sich und ihre Familien trotz harter Arbeit mit dem Mindestlohn gerade eben so über Wasser halten können. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Wir werden sicherstellen, dass der Mindestlohn eingehalten wird – mit Kontrollen und ohne Wenn und Aber.
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Wir unterstützen damit auch die Unternehmen, denen ihre Beschäftigten eben nicht egal sind, die vernünftige Löhne zahlen und an einem fairen Wettbewerb interessiert sind.
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Das sind viele. Denn eines ist klar: Fairen Wettbewerb gibt es mit Schwarzarbeit und Lohnmissbrauch nicht.
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Aber genau das befördern Sie mit Ihrem Antrag. So wollen Sie unter dem Deckmantel des angeblichen Bürokratieabbaus Dokumentationspflichten aufweichen und einige sogar ganz und gar abschaffen. Diese Pflichten zur Erfassung der Arbeitszeiten, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, sind nicht vom Himmel gefallen; denn ihnen liegen – „leider“, muss ich sagen – ganz konkrete Erfahrungen zugrunde.
Schauen wir nur mal auf die Minijobs. Wir wissen doch: Gerade Minijobs verführen Arbeitgeber immer wieder zur Beförderung von Schwarzarbeit.
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Wenn Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, die Dokumentationspflichten für die Arbeitgeber bei den Minijobs zu bürokratisch und zu belastend sind, dann gibt es eine ganz einfache Lösung Ihres Problems: Setzen Sie sich für die Abschaffung der Minijobs ein!
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Dann müsste überhaupt nichts mehr dokumentiert werden, und wir hätten in Deutschland endlich wieder mehr reguläre und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.
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Ihr Herr Lindner von der FDP hat am 1. Mai, am Tag der Arbeit, vor einem Jahr behauptet – ich zitiere –: „Die Beschäftigten waren noch nie so zufrieden wie heute.“ An dieser Einschätzung wird deutlich, wie weit die FDP vom Alltag der meisten Menschen in diesem Land entfernt ist.
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Wirklich zufrieden, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, werden die Beschäftigten erst dann sein, wenn das Gleichgewicht zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen wiederhergestellt ist. Was wir dafür brauchen, sind gute Arbeit für alle, starke Arbeitnehmerrechte, faire Löhne, Aufstiegschancen, Verlässlichkeit und eine gerechte Verteilung des Reichtums.
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Wir lehnen Ihren Antrag ab.
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Vielen Dank. – Das war die letzte Wortmeldung. Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7458 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Woche hat mit heftigen Diskussionen begonnen. Es ging um unsere Jugendoffiziere in den Schulen. Ich möchte mich vorweg für viele klare Worte bedanken, die aus diesem Hohen Haus geäußert worden sind.
Aber diese Debatte hat auch im übertragenen Sinne klargemacht, worum es eigentlich geht: Sicherheit und Freiheit fallen nicht einfach vom Himmel. Sie müssen geschützt werden. Wir müssen in sie investieren. Wir müssen das politische Verständnis verbreitern. Wir müssen die Debatte darüber führen. Deshalb ist es gut, dass wir heute Morgen eine ganze Stunde dem Thema „70 Jahre NATO“ widmen; denn seit 70 Jahren ist die NATO der Garant für Sicherheit und Freiheit in Europa.
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Ich möchte diese Debattenzeit nutzen, um drei Gedanken mit Ihnen zu teilen:
Erstens. Europa und unser Land haben der NATO viel zu verdanken. Es war auch der Schutzschirm der NATO – nicht nur, aber auch –, der dazu beigetragen hat, dass unser Land seine Einheit, seine Freiheit wiedererlangen konnte – auch weil Amerikaner und Kanadier sich entschieden haben, hier in Europa für unsere Freiheit verlässlich einzustehen.
Und wir feiern heute nicht nur den 70. Jahrestag der Gründung der NATO, sondern auch den 20. Jahrestag der ersten Erweiterung um Staaten, die zuvor hinter dem Eisernen Vorhang gefangen waren. Am 4. April 1999 sind Polen, Ungarn und Tschechien dem Bündnis beigetreten. Wir werden bald als 30. Mitglied Nordmazedonien willkommen heißen können. Wichtig ist: Alle diese Länder sind freiwillig der NATO beigetreten. Alle diese Länder haben enorme Anstrengungen unternommen, um die Kriterien zu erfüllen, um der NATO beitreten zu können. Andersherum wird sogar ein Schuh daraus: Unsere Gegner haben zum Teil mit Gewalt versucht, Länder daran zu hindern, der NATO beitreten zu können. Die NATO hat in vielen, vielen Ländern nach der Erfahrung der kommunistischen Herrschaft überhaupt erst einen sicheren Rahmen geschaffen, dass sie sich stabilisieren konnten, dass sie wachsen konnten, um damit dann auch die Grundvoraussetzungen in diesen Ländern zu schaffen, der EU beizutreten.
Wenn wir heute auf die Sicherheitslage schauen – angesichts der Annexion der Krim und des hybriden Krieges in der Ukraine, angesichts des neuen Selbstbewusstseins Chinas, angesichts des islamistischen Terrors, der alles versucht, um unsere offene Gesellschaft im Mark zu treffen, angesichts der massiven Cyberattacken, die dazu dienen, die Demokratien zu destabilisieren, angesichts der hybriden Bedrohungen –, dann komme ich, wenn ich alles zusammenzähle, zu dem Schluss: Wenn die liberalen Demokratien die NATO nicht hätten, dann müssten wir sie heute erfinden.
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Zweiter Gedanke. Die NATO ist unsere Versicherung gegen Katastrophen. Niemand käme auf die Idee, an der Versicherungsprämie zu sparen, nur weil es im eigenen Haus lange Zeit nicht gebrannt hat. Klar, Feuerversicherung und insbesondere die Investition in die Feuerwehr kosten Geld, aber wir alle wissen: Das ist sinnvoll investiertes Geld. – Im übertragenen Sinne gilt das auch für die NATO. Das bedeutet: Wenn wir dauerhaft in Frieden und Freiheit leben wollen, dann müssen wir in das investieren, was uns heute schützt und was uns auch morgen schützen wird. Und das ist auch unsere Bundeswehr, das sind unsere Soldatinnen und Soldaten, jede und jeder Einzelne von ihnen.
Die NATO lebt ja von zwei Prinzipien: Das eine ist die Glaubwürdigkeit des Bündnisversprechens. Das andere ist die Fairness in der Lastenteilung; das heißt, dass alle im Bündnis beharrlich und verlässlich in die Finanzierung unserer Fähigkeiten investieren.
Wenn wir den Blick auf Deutschland richten: Ich finde, beim Beistandsversprechen sind wir gut. Wir sind der zweitgrößte Truppensteller in der NATO, gleich hinter den USA. Wir sind treu und zuverlässig seit 18 Jahren in Afghanistan, inzwischen auch dort der zweitgrößte Truppensteller.
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Wir sind der zweitgrößte Nettozahler in der NATO. Wir sind das einzige kontinentaleuropäische Land, das als Rahmennation die östliche Grenze schützt; wir sind in Litauen in der Enhanced Forward Presence.
Aber diese Anstrengung muss genauso für die Fairness in der Lastenteilung gelten. Deutschland muss mehr investieren in die Modernisierung seiner Bundeswehr. Deshalb ist für uns klar: Wir stehen ganz klar zu der Zusage, 1,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes in 2024 in Verteidigung zu investieren und in den Jahren danach weiter das 2-Prozent-Ziel zu verfolgen.
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Drittens. Die NATO ist nicht nur eine militärische, sie ist auch eine politische Allianz. Die militärischen Fähigkeiten der Vereinigten Staaten von Amerika stehen außer Frage. Um es klar zu sagen: Die NATO benötigt sie dringend, auch das, was die Amerikaner weiterhin investieren. Es schmerzt, dass viele unserer Partner – das sind nicht nur die Amerikaner – an der grundsätzlichen Bereitschaft Deutschlands zweifeln, in der Allianz unsere Verpflichtungen zu erfüllen.
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Auf der anderen Seite schmerzt es ebenso, wenn gerade auf der anderen Seite des Atlantiks Zweifel am Beistandsversprechen geschürt werden. Die NATO wird ihren bleibenden Wert für beide Seiten des Atlantiks nur behalten, wenn vollkommen klar ist, dass wir unseren kleinsten und schwächsten Verbündeten genauso schützen werden, wie wir das bei unserem mächtigsten und größten Verbündeten nach Nine Eleven getan haben.
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Es gilt immer noch: Zusammen sind wir immer stärker, als der Mächtigste unter uns allein es je sein könnte.
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Wenn wir nach vorne schauen, wissen wir genau, worauf es ankommt: Wir brauchen ein waches Auge gegenüber China, wir brauchen aus der Position der Stärke und der Einigkeit ein besseres Verhältnis zu Russland, und wir brauchen Wehrhaftigkeit im Cyberraum – alles mit einem starken Europa als wichtiger Pfeiler in der transatlantischen Sicherheit. Wir dürfen keinen Zweifel aufkommen lassen an unserem Zusammenhalt – von Kanada bis Nordmazedonien.
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Denn schlussendlich geht es um nichts Geringes als um den Schutz unserer liberalen Demokratien.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Rüdiger Lucassen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 70 Jahre NATO – stellen Sie sich einmal vor, es gäbe eine große Familienfeier zu diesem Anlass. Alle sind da: Da sind die Großeltern, die alles zusammenhalten, die den Kindern und Enkeln beim Hauskauf und beim Studium helfen, die netten Onkel und Tanten, verlässlich und grundsolide, stets pflichtbewusst, jeder nach seinen Möglichkeiten. Dann ist da die Generation der Jüngeren, Berufsausbildung fertig, dankbar für die Unterstützung aus der Familie, mit klaren Zielen und Wertvorstellungen. Dann sind da noch die etwas schrägen Verwandten aus dem Süden, offenes Seidenhemd, falsche Goldkette, Porsche mit roten Kennzeichen, immer alles auf Kredit, aber irgendwie trotzdem sympathisch.
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Der Schwager aus dem äußersten Südosten ist nicht zur Feier erschienen. Er ist stattdessen lieber auf ein Treffen von irgendeinem Rockerklub gegangen. Da hängt er jetzt öfter ab. Eigentlich gehörte er nie wirklich zur Familie.
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Dann ist da diese ältere komische Tante, die wieder nur sich selbst zum Fest mitgebracht hat, sich nicht an den Kosten beteiligt hat, nicht mit aufbaut und nicht mit aufräumt, dafür aber alle mit ihrer Arroganz nervt,
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die immer weiß, was das Richtige ist, aber nie da ist, wenn man sie mal braucht.
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So ist es auch mit einem Militärbündnis. Auf Dauer kann ein Militärbündnis nur funktionieren, wenn alle ihren Teil zur Gemeinschaft beitragen: die Älteren mehr als die Kinder, die Starken mehr als die Schwachen. Deutschland hält sich schon lange nicht mehr an dieses Prinzip.
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Die Tante aalt sich stattdessen in Selbstzufriedenheit. In ihrem Antrag zeigt die Regierungskoalition ihre gestörte Selbstwahrnehmung in Bezug auf Deutschlands NATO-Mitgliedschaft.
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Zitat:
Deutschland wird … auch künftig seinen angemessenen Teil der Lasten im … Bündnis verlässlich übernehmen und somit seiner gewachsenen Verantwortung gerecht werden.
Meine Damen und Herren, die komische Tante nervt nicht nur; sie leidet an Schizophrenie.
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Die NATO ist für Deutschland von zentraler Bedeutung.
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Wir organisieren die Verteidigung unseres Landes in diesem Bündnis – die wichtigste Aufgabe des Staates. Bis 1989 war die Bundeswehr eine tragende Säule dafür, hochgeachtet und verlässlich. Das ist lange vorbei. Die Regierung Merkel hat unsere Streitkräfte so weit heruntergewirtschaftet, dass sie als Ganzes nicht mehr einsatzbereit sind.
Noch schlimmer ist aber die Zukunft: Der neue Finanzplan ist der verteidigungspolitische Offenbarungseid dieser Regierung.
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Damit brechen Sie alle Zusagen, die Sie gegenüber der NATO eingegangen sind.
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Wenn Sie hier das Gegenteil behaupten, dann lügen Sie.
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Die AfD will eine starke und einsatzbereite Bundeswehr für ein starkes Verteidigungsbündnis. Wir wollen ein Bündnis selbstbestimmter Staaten mit national geführten Armeen. Ineffektive Doppelstrukturen, eine EU-Armee lehnen wir ab. Wir wollen auch keine Zweckentfremdung der NATO als weltweites Interventionsbündnis. Die Erfahrung der letzten zwei Jahrzehnte hat gezeigt, dass das nicht funktioniert und die Verteidigungsfähigkeit der Allianz insgesamt leidet.
70 Jahre NATO – für die AfD heißt das: vorwärts zum Kern der Allianz, vorwärts zu Abwehrbereitschaft und Verlässlichkeit, vorwärts zu einer Bundeswehr als starke Verteidigungsarmee.
Danke.
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Vielen Dank.- Nächster Redner ist für die Bundesregierung der Staatsminister Niels Annen.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es steht außer Frage: Die Geschichte der NATO ist eine Erfolgsgeschichte. Wenn die Außenminister der NATO heute in Washington zusammenkommen, haben sie in der Tat Grund, zu feiern – sie feiern den historischen Beitrag, den diese Allianz zum Frieden, zur Freiheit und zur Stabilität geleistet hat.
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Ich glaube aber, dass es auch der Wahrheit entspricht, dass viele unserer Bürgerinnen und Bürger nach dem Ende des Kalten Krieges die NATO ein bisschen aus dem Blick verloren haben. Einige hielten sie schlicht für überflüssig,
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andere hielten sie für eine Selbstverständlichkeit. Heute wird klar: Beides ist falsch. Seit die regelbasierte Ordnung auch international unter Druck gekommen ist und die zunehmend aggressive russische Politik die Lage in unserer Nachbarschaft, der europäischen Nachbarschaft, beeinträchtigt, wird stärker die Frage gestellt: Wofür brauchen wir dieses Bündnis? Ich glaube, viele Bürgerinnen und Bürger beantworten die Frage heute sehr klar: Wir brauchen die NATO dringender denn je.
Gemeinsam mit der Europäischen Union ist und bleibt die NATO die Grundlage für das friedliche Zusammenleben in Europa. Auch heute, meine Damen und Herren, ist die NATO das zentrale Forum für den Austausch, die transatlantische Debatte, für dieses wichtige Gespräch. Dieses Gespräch ist auch aufgrund der manchmal – ich sage es einmal diplomatisch – ambivalenten Haltung des amerikanischen Präsidenten wichtiger denn je. Das erinnert uns daran, dass die NATO nicht nur ein militärisches, sondern eben auch ein politisches Bündnis ist. Ich glaube, es liegt an uns allen, es liegt auch an diesem Parlament, am Deutschen Bundestag, dieses Bündnis mit Leben zu füllen.
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Der amerikanische Kongress hat ja mit einer bemerkenswerten Initiative seinen Beitrag geleistet, mit Beschlüssen, die klarmachen: Amerika steht zur NATO. – Diese Botschaft war ganz offensichtlich auch an die amerikanischen Bürgerinnen und Bürger gerichtet. Diese Botschaft war aber auch an uns gerichtet. Die amerikanische Kongressdelegation auf der Münchner Sicherheitskonferenz war größer als je zuvor. Ich bin dankbar für die Gelegenheit, hier heute sprechen zu dürfen, weil ich auch glaube, dass diese Debatte eine gute Gelegenheit ist, dass der Deutsche Bundestag sein Bekenntnis zur NATO bekräftigt und damit in gewisser Weise auch eine Antwort auf die wichtigen Beschlüsse der amerikanischen Kolleginnen und Kollegen geben kann.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe über das Ende des Kalten Krieges geredet. Ich glaube, man muss auch darauf hinweisen, dass es in der Geschichte der NATO eine Phase gab, gerade in diesen Jahren, in der es sehr umstrittene Planungen gab. Es wurde darüber diskutiert, ob die NATO ein globales Bündnis werden soll. Ich habe den Eindruck: Die NATO ist in den letzten Jahren und Monaten wieder ganz bei sich. Die NATO ist unter der Führung von Generalsekretär Stoltenberg, dem ich zur Verlängerung seines Mandates herzlich gratulieren möchte, wieder zu der Kernfunktion, Artikel 5, zurückgekehrt. Das ist ein wichtiges Verdienst. Ich glaube, das stärkt den Zusammenhalt.
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Denn es war nicht zuletzt das russische Verhalten, das dazu beigetragen hat, diese Politik möglich zu machen. Die NATO hat ihre Verteidigungsstrategie in den letzten Jahren anpassen müssen. Ich will an dieser Stelle nur zwei Beispiele nennen. Mit den multinationalen Einheiten der Enhanced Forward Presence zeigen wir für alle sichtbar, dass die Sicherheit der baltischen Staaten und Polens ein untrennbarer Bestandteil unserer eigenen Sicherheit in der Allianz ist,
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und mit der Schnellen Eingreiftruppe, in der wir uns jetzt erneut engagieren, zeigen wir auch, dass die NATO bereit und in der Lage ist, auf jede Krise schnell zu reagieren.
Es war aber vor allem die Bundesregierung, die trotz der Spannungen mit Russland und der Politik, die ich hier eben kurz skizziert habe, ein umfassendes System kollektiver Sicherheit gerade auch mit Russland niemals aus dem Blick verloren hat. Mit der Partnerschaft für den Frieden, mit der NATO-Russland-Grundakte aus dem Jahr 1997 und mit dem NATO-Russland-Rat wurden wichtige Foren zur Diskussion über gemeinsame Sicherheit und Stabilität geschaffen.
Russland hat sich leider – so will ich hier sagen – spätestens mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 und natürlich dem laufenden Krieg im Osten der Ukraine von diesem kooperativen Ansatz abgewandt. Gleichwohl stehen wir weiterhin bereit, an unserer früheren Kooperation anzuknüpfen. Aber entscheidend hierfür ist, dass sich die russische Politik bewegen muss, dass dort entsprechend gehandelt werden muss; denn es gilt, einiges hier miteinander zu besprechen, kritisch auf den Tisch zu legen. Ich nenne nur die Cyberattacken – nicht nur auf uns, sondern auch auf wichtige Verbündete.
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Deswegen, meine Damen und Herren: Der deutsche Beitrag bleibt zentral, und er hat sich auch in den letzten Jahren gewandelt. Die Bundeswehr beteiligt sich aktiv an allen Maßnahmen, die das Bündnis seit 2014 ergriffen oder verstärkt hat. Natürlich ist es kein Geheimnis, dass das Geld kostet. Es ist eine Binsenweisheit, dass es Sicherheit nicht zum Nulltarif gibt. Aber – und das ist mir an der Stelle besonders wichtig – Sicherheit ist mehr, als zusätzliche Milliardenbeträge in Rüstung zu stecken.
Die Reduzierung auf eine abstrakte Prozentzahl wird der Komplexität der Aufgabe, Frieden zu sichern, nicht gerecht; denn zur Sicherheit gehören auch Investitionen in humanitäre Hilfe, zivile Krisenprävention sowie Konfliktvor- und -nachsorge. Es gehören ebenso die nachhaltigen Stabilisierungs- und Wiederaufbaumaßnahmen in den betroffenen Ländern dazu. Gerade in diesem Bereich – das muss ich hier leider auch ansprechen – mussten wir gemeinsam in den letzten Jahren zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen,
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auch weil die amerikanische Seite einseitig die Finanzierung beendet oder gekürzt hat.
Die Bundesregierung hat zusammen mit dem Bundestag – dafür sind wir sehr dankbar – in den vergangenen Jahren konsequent die Ausgaben für Verteidigung erhöht. Wir sind bereit – damit hier auch gar kein Zweifel aufkommt! –, einen größeren Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit zu leisten, und dabei steht die Schärfung des sicherheitspolitischen Profils der EU nicht in Konkurrenz zur NATO.
Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wenn sich die Ministerinnen und Minister jetzt in Washington treffen, werden sie den Blick in die Zukunft richten. Ich bin froh darüber, dass der Generalsekretär Jens Stoltenberg gestern die Gelegenheit hatte, zu beiden Kammern des amerikanischen Kongresses zu sprechen, mit einer starken, klaren Botschaft. Das sind wichtige Zeichen gerade in Zeiten, wo wir, wie in den letzten Monaten, leider häufiger über Streit im transatlantischen Bündnis reden mussten als über das, was uns verbindet. Es verbindet uns aber mehr, und deswegen, glaube ich, hat dieses Bündnis eine große Zukunft.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der FDP der Kollege Bijan Djir-Sarai.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was Staatsminister Annen soeben hier gesagt hat, ist völlig richtig: Wenn wir heute über 70 Jahre NATO sprechen, dann sprechen wir über eine Erfolgsgeschichte, und die NATO ist eine wahre Erfolgsgeschichte.
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Wenn es die NATO nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Das ist an dieser Stelle völlig richtig.
Die Aufnahme Deutschlands im Mai 1955 war ein Glücksfall für die junge Bundesrepublik; denn schnell entwickelte sich die NATO zum erfolgreichsten sicherheitspolitischen Bündnis der Welt.
Nach dem Ende des Kalten Krieges wähnte man sich in Deutschland und Europa in großer Sicherheit: noch nie so wohlhabend, so sicher und so frei. „Umzingelt von Freunden“ wurde zum Mantra der folgenden zwei Jahrzehnte.
Meine Damen und Herren, heute müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Welt sich verändert hat. Spätestens seit der Annexion der Krim durch Russland sind die ursprünglichen Hoffnungen auf friedliche Einbindung Moskaus geplatzt. Spätestens seit dem syrischen Bürgerkrieg und den Gräueltaten des IS ist der Nahe Osten in unsere Nachbarschaft gerückt. Spätestens seitdem Cyberangriffe auf der Tagesordnung stehen, ist klar, dass wir vor ganz neuen Bedrohungsszenarien stehen und es an Antworten mangelt.
Diese Aufzählung ließe sich noch ewig fortsetzen. Die Welt, in der wir heute leben, hat sich grundlegend verändert.
Meine Damen und Herren, eine der wichtigsten Säulen dieses Bündnisses – wenn nicht sogar die wichtigste Säule – gerade in Zeiten der Veränderung ist die Verlässlichkeit. Die Mitgliedstaaten müssen sich jederzeit zu 100 Prozent auf die Solidarität ihrer Partner verlassen können. Das liegt in der Natur eines stabilen Bündnisses.
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Das ist der Kern eines stabilen Bündnisses. Das ist die Grundvoraussetzung eines stabilen Bündnisses.
Verlässlichkeit bedeutet vor allem, dass sich Partner an Abmachungen halten, und das ist genau das Gegenteil von dem, was die Bundesregierung hier gerade macht.
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Diese Bundesregierung riskiert den Ruf Deutschlands bei den Bündnispartnern. Sie verschließt die Augen davor, dass wir eben nicht mehr von Freunden umzingelt sind. Sie setzt die Sicherheit dieses Landes aufs Spiel.
Noch im Weißbuch 2016 stellte man fest, dass die Bundeswehr noch nicht optimal aufgestellt ist. Man erklärte sich willens, die NATO-Kriterien von Wales zu erfüllen. So schrieb die Bundeskanzlerin damals im Vorwort – ich zitiere –:
Deutschlands wirtschaftliches und politisches Gewicht verpflichtet uns, im Verbund mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern Verantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen, um gemeinsam Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht zu verteidigen.
So die Bundeskanzlerin. – Die Verteidigungsministerin, Frau von der Leyen, schrieb ebenfalls:
Deutschland steht für Verlässlichkeit und Bündnistreue …
Meine Damen und Herren, der aktuelle Finanzplan der Bundesregierung demonstriert aber weder Bündnissolidarität noch sicherheitspolitische Verlässlichkeit. Auch das gehört an dieser Stelle zur Ehrlichkeit in dieser Debatte;
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denn sonst geht diese Debatte an der Realität vorbei. Auch wenn die deutschen Ausgaben in den vergangenen Jahren angewachsen sind, so hat sich Deutschland zu mehr Verantwortung verpflichtet.
Für uns Freien Demokraten geht es um mehr als ein Lippenbekenntnis. Wir wollen den Bundeshaushalt in den Bereichen Außenpolitik, Entwicklung und Verteidigung schrittweise stärken, und wir fordern, dass alle NATO-Verpflichtungen – alle! – eingehalten werden, meine Damen und Herren.
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Der Unmut über die deutschen Verteidigungsausgaben besteht nicht erst seit der Trump-Administration. Den hat es auch schon im Vorfeld bei der Obama-Administration gegeben.
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Es geht hier nicht darum, den Amerikanern oder der US-Administration einen Gefallen zu tun, sondern hier geht es um unsere Interessen, um deutsche Interessen, um deutsche Sicherheitsinteressen, und diese werden von dieser Bundesregierung vernachlässigt, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion Die Linke die Kollegin Heike Hänsel.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Wir sehen keinen Grund, heute zu feiern. 70 Jahre NATO sind genug.
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Die NATO ist ein Relikt des Kalten Krieges und hätte, wie der Warschauer Pakt, aufgelöst werden sollen.
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Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation erhofften sich viele Menschen hier in Europa eine Friedensdividende. Man sprach von mehr Entspannungspolitik und einem gemeinsamen Haus Europa. Gorbatschow hat es immer wieder vorgeschlagen. Und auch 2002 gab es hier Angebote vom damaligen Präsidenten Putin für eine Kooperation in Europa.
Doch leider kam es ganz anders. Die NATO blieb als alleiniges Militärbündnis bestehen und wurde nun zu einem global agierenden Kriegsbündnis umgebaut. Wir halten das für eine katastrophale Fehlentwicklung, die dringend geändert werden muss.
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Wir müssen uns schon entscheiden: Wollen wir uns von den USA in eine neue Aufrüstungsspirale und neue Kriege treiben lassen oder aus diesem obsoleten Bündnis austreten und auf Basis des Völkerrechts ein kollektives Sicherheitsbündnis unter Einschluss Russlands aufbauen? Ich finde, die Antwort darauf ist relativ klar.
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Das sehen übrigens auch immer mehr Menschen in Europa so. Laut jüngsten Umfragen ist der Rückhalt der NATO in der Bevölkerung weiter gesunken, in Deutschland auf mittlerweile 54 Prozent.
Die Bilanz der NATO ist nämlich verheerend. Seit dem Angriffskrieg der NATO 1999 gegen Jugoslawien
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nimmt sich die NATO selbst heraus, in völkerrechtswidrigen Kriegen außerhalb des Bündnisgebiets militärisch einzugreifen. Das dient weder dem Frieden in der Welt, noch verstärkt es die Sicherheit vor Terror hierzulande; ganz im Gegenteil.
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Man braucht sich ja nur Afghanistan, Libyen, Irak, Syrien anzuschauen.
Deshalb fordern wir ganz klar den Austritt Deutschlands aus den militärischen Strukturen dieses Kriegspakts.
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Das Grundgesetz – daran möchte ich Sie hier erinnern – kennt keinen Militäreinsatz zur globalen Machtprojektion. Was die NATO seit 1999 treibt, hat mit dem Friedensgebot des Grundgesetzes nichts zu tun.
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Eine der großen Fiktionen der NATO, die auch Staatsminister Annen hier angesprochen hat, ist die transatlantische Wertegemeinschaft. Da frage ich mich doch: Welche Werte teilen wir eigentlich mit dem NATO-Partner Erdogan, der völkerrechtswidrig Teile Syriens besetzt hält? Diese Fiktion ist angesichts der Realität von Erdogan, Orban und Trump völlig unglaubwürdig.
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Da hilft es auch nicht, dass Sie es hier gebetsmühlenartig immer wieder erwähnen.
Am besorgniserregendsten für uns ist aber der Aufmarsch der NATO gegen Russland in den letzten Jahren.
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Das Versprechen im Zuge des deutschen Vereinigungsprozesses, keine Osterweiterung vorzunehmen, wurde gebrochen
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und die NATO bis an die Westgrenze Russlands ausgedehnt.
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Mittlerweile sind 13 osteuropäische Staaten in die NATO eingetreten. Deutschland sendet Soldaten ins Baltikum, beteiligt sich regelmäßig an großen Militärmanövern direkt an der Grenze Russlands, was die Gefahr einer militärischen Konfrontation verstetigt.
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Wir finden es unfassbar, dass sich die Bundesregierung an den Provokationen Donald Trumps auch noch aktiv beteiligt. Ist das allen Ernstes eine verantwortliche Außenpolitik
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– auch, möchte ich sagen, vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte –,
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deutsche Soldaten im Rahmen der NATO an die russische Grenze zu schicken? Wir meinen klar: Nein.
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Eine dauerhafte friedliche Ordnung in Europa kann nämlich nur auf gegenseitigem Vertrauen aufgebaut werden. Das heißt: Sicherheit in Europa kann es nur mit und nicht gegen Russland geben.
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Dafür brauchen wir auch nicht, wie Sie alle es praktizieren, neue Feindbilder, keinen Kalten Krieg 2.0, sondern es ist jetzt an der Zeit für eine neue Entspannungspolitik,
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für vertrauensbildende Maßnahmen, die ein Klima schaffen für Initiativen zur atomaren und konventionellen Abrüstung.
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Durch die Kündigung des INF-Vertrags durch die USA und im Anschluss auch durch Russland droht Europa wieder zum potenziellen atomaren Schlachtfeld zu werden. Das kann nicht in unserem Interesse sein. Genau deswegen wollen wir eine neue Entspannung.
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Wir halten es auch für fatal, dass die Bundesregierung regelmäßig einseitige US-Positionen übernimmt. Wir fragen uns: Warum fordern Sie nicht, im Gegenteil, endlich den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland?
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Die nukleare Teilhabe in der NATO durch die Bundeswehr muss endlich beendet werden! Es kann doch nicht sein, dass Deutschland mit der Zustimmung des US-Präsidenten sogar Atomwaffen einsetzen könnte. Wir finden das einen Wahnsinn. Das betrifft auch die Rüstungspolitik, die Hochrüstung, die wir jetzt erleben.
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Trump will Deutschland in diese neue Hochrüstungspolitik drängen. Wir halten davon gar nichts.
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Wir wollen, dass die deutsch-amerikanischen Beziehungen entmilitarisiert werden, dass die US-Basen in Deutschland, wie Ramstein, von denen teilweise völkerrechtswidrige Aktionen wie Drohnenmorde ausgehen, endlich geschlossen werden
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und dass die 35 000 US-Soldaten abgezogen werden. Das sind, finde ich, vertrauensbildende Maßnahmen.
In der Koalition gibt es einen Disput darüber, ob man 1,5 Prozent für Rüstung ausgeben soll oder 1,3 Prozent. Eigentlich ist das Ziel der NATO ja 2 Prozent. Das hieße, Deutschland würde auch noch die größte Militärmacht in Europa. Wir halten weder etwas von 1,5 noch von 1,3 Prozent. Wir glauben, das ist alles viel zu viel. Jetzt ist die Zeit für Abrüstung, nicht für Aufrüstung!
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Die Ostermärsche haben sich das auf die Fahnen geschrieben: Abrüsten statt Aufrüsten! Frieden statt NATO! – Sie werden dafür mobilisieren. Wir Linke sind natürlich mit dabei.
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Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Ja. – Einen letzten Satz. Sie alle unterstützen die Schüler und Schülerinnen im Hinblick auf Fridays for Future. Wenn Sie das ernst meinen, dann rüsten Sie ab, und investieren Sie in Klimaschutz und in den Sozialstaat, statt weiter aufzurüsten.
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Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Jürgen Trittin.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manche Feindbilder halten länger als manche Verteidigungsbündnisse. Wenn Sie zurückblicken auf die Zeit vom 16. Jahrhundert bis heute, dann stellen Sie fest, dass die durchschnittliche Dauer von solchen Verteidigungsbündnissen 15 Jahre beträgt. Gemessen daran ist die NATO mehr als viermal so alt. Das ist unzweifelhaft ein Erfolg.
Am Beginn der NATO stand der berühmte Satz des späteren ersten Generalsekretärs: To keep the Russians out, to keep the Americans in and to keep the Germans down. – Gemessen daran hat die NATO unzweifelhaft etwas erreicht.
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Wenn der Sowjet gewollt hätte – er ist nicht gekommen; wir haben ihn erfolgreich rausgehalten.
Es ist richtig, dass im Rückblick die Chance vertan wurde, nach dem Wegfall des Warschauer Paktes die NATO in ein System kollektiver Sicherheit ganz Europas zu überführen. Wir müssen hinzufügen, dass 2014 ausgerechnet die Außenpolitik von Wladimir Putin die NATO relegitimiert hat. Die Annexion der Krim, der anhaltende Konflikt in der Ostukraine – das alles hat jene europäische Friedensordnung infrage gestellt, und zwar durch Russland, das einst die Sowjetunion mitgeschaffen hat. Mit diesem Konflikt, mit dieser Krise ist die Kernfähigkeit dessen, was die NATO kann, wieder gefordert worden, nämlich kollektive Selbstverteidigung.
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Man muss feststellen, dass die Situation der anderen Anforderungen dieses Satzes schwieriger geworden ist. Im 70. Jahr seit ihrer Gründung befindet sich die NATO in einer existenziellen Krise. Es stellt sich offen die Frage, ob es noch gelingt, „the Americans in“ zu halten. Der Bundesaußenminister hat gesagt: Das hat Trump gar nicht so gemeint. – Aber andere haben das sehr viel ernster genommen. Das ist der Grund, warum Nancy Pelosi und Lindsey Graham parteiübergreifend – die sind sich sonst in keiner Frage einig – im US-Kongress die Mehrheit für einen Beschluss gefunden haben, der es Donald Trump verbietet, einfach aus der NATO auszutreten. Dem Tweet „Raus aus der NATO, rein ins Vergnügen“ ist ein Riegel vorgeschoben worden.
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Die Kolleginnen und Kollegen im US-Kongress haben aber mit etwas ganz anderem bezogen auf „Germans down“ ein Problem. Sie glauben nämlich, dass wir zu wenig fürs Militär ausgeben. CDU, FDP und AfD sehen das ebenso. Die Kollegen von der SPD wissen das nicht so recht. Partei und Fraktion weisen die Bezugnahme auf 2 Prozent zurück. Heiko Maas hat gestern und heute lauthals versichert: Wir stehen zu unseren Zusagen. – Olaf Scholz gewährt Ursula von der Leyen 1 Milliarde Euro mehr in der Finanzplanung. Aber er streicht dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und dem Außenministerium 1,5 Milliarden Euro. Während CSU-Müller dagegen auf die Barrikaden geht, sagt Heiko Maas artig Danke. Ich sage Ihnen: Man schafft keine Sicherheit, indem man bloß aufrüstet und gleichzeitig die Mittel für Diplomatie und Entwicklung zusammenstreicht.
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Das solltest du eigentlich wissen, Niels Annen.
Ich finde, es ist nötig, in einer solchen Situation Klartext zu reden. Es gibt keine Beiträge zur NATO. Es gibt nicht einmal eine Beitragsordnung in der NATO. Die Wahrheit ist: Europas NATO-Mitglieder investieren in die Sicherheit heute dreimal so viel wie Russland – ohne die USA, ohne Kanada. Nicht jede Militärausgabe erhöht die Sicherheit, auch das ist richtig. Denken Sie einmal an den weltweiten Drohnenkrieg der USA. Denken Sie an die Ausgaben der Türkei für einen völkerrechtswidrigen Krieg in Syrien. All das erhöht unsere Sicherheit nicht.
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Die Bezugnahme auf das Bruttoinlandsprodukt ist bedeutungslos. Estland zum Beispiel ist viel zu klein, um sich alleine verteidigen zu können. Deswegen sind sie im Bündnis, und wir ergreifen Maßnahmen, um Estland mit zu schützen. Aber von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von Estland können Sie vielleicht die „Gorch Fock“ reparieren, aber nicht Annegrets neuen Flugzeugträger bezahlen.
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Ich sage Ihnen: Es ist gefährlich, dass deutsche Soldaten in Mali von Hubschraubern aus Mittelamerika abhängig sind. Und es ist peinlich, wenn es in internationalen Missionen an Nachtsichtgeräten und Hubschraubern fehlt. Aber wenn Sie all diese Ausrüstungsdefizite beseitigt haben, dann werden Sie immer noch um Milliarden Euro von den 2 Prozent entfernt sein.
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Deswegen sollte der 70. Jahrestag ein Anlass sein, dass Sie sich ehrlich machen. Deutschland wird die 2 Prozent nicht erfüllen. Es gibt dafür keine militärische Notwendigkeit, und ich sage Ihnen auch: Es gibt dafür keine politische Mehrheit und erst recht nicht nach Neuwahlen.
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Das NATO-Bündnis ist im deutschen Interesse: Kollektive Verteidigung schafft Sicherheit. Aber es geht um noch etwas mehr: Es geht auch um Selbsteinbindung. Wir mit unserer Geschichte haben gute Gründe, unser Militär in Bündnisse einzubinden. Wir wollen keine militärischen Alleingänge. Dafür bleibt die NATO weiterhin wichtig.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Jürgen Hardt.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser doch ausgesprochen dialektischen Rede von meinem geschätzten Kollegen Jürgen Trittin
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weiß ich nicht, ob er nur Außenminister oder vielleicht doch Verteidigungsminister werden will. Die Dialektik, dass wir einerseits mehr Hubschrauber brauchen und andererseits aber kein Geld dafür ausgeben dürfen, fand ich schon etwas steil.
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Aber es war auf jeden Fall eine bemerkenswerte Rede, und ich habe an einer Stelle klatschen können: als Sie gesagt haben, dass wir die Bündnisverteidigung auch in Zukunft brauchen.
Bevor ich in meine Rede einsteige, möchte ich einen Satz zur Kollegin Hänsel sagen: Die Absurdität Ihrer Argumentation bezüglich der sogenannten NATO-Osterweiterung ist intellektuell für jeden leicht nachvollziehbar. Warum soll an der Behauptung, man habe der Sowjetunion zugesagt, die NATO nicht zu erweitern, etwas dran sein, wenn die Sowjetunion selbst wenige Wochen nach der Unterschrift unter den Zwei-plus-Vier-Vertrag, nämlich im November 1990, die Charta von Paris der KSZE unterschrieben hat, in der steht: „Jeder Staat hat das Recht, sein Bündnis frei zu wählen“?
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Das ist total absurd und beweist, dass diese Gerüchte von Petersburger Trollen und Ex-SED-Trollen und Maduro-Freunden nun wirklich jeder Realität entbehren.
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Das behauptet außer Ihnen nur die AfD.
Anlässlich des heutigen Geburtstags der NATO – Deutschland ist einige Jahre nach der Gründung beigetreten – möchte ich sagen: Die Entscheidung Deutschlands, der NATO beizutreten, war eine der, wie ich finde, vier wichtigsten Entscheidungen, die in der Bundesrepublik Deutschland jemals getroffen wurden. Die erste Entscheidung war die Entscheidung für die Marktwirtschaft, Stichwort „Leitsätzegesetz 1948“.
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Die zweite Entscheidung war die Unterzeichnung der Römischen Verträge, der Gründungsakte der heutigen Europäischen Union. Die dritte zentrale Entscheidung war der Einheitsvertrag 1990. Und die vierte wirklich fundamental bedeutende Entscheidung war der Beitritt zur NATO 1955. Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik steht auf diesen beiden granitenen Säulen, nämlich der Säule der Europäischen Union und der Säule der NATO, ausgesprochen gut, und das muss so bleiben.
Herr Hardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Diether Dehm?
Ja.
Bitte sehr.
Vielen Dank. – Herr Hardt, in einem haben Sie recht, auch ich hatte einen Punkt in der Rede Jürgen Trittins, bei dem ich klatschen konnte.
Wahrscheinlich ein anderer.
Sie sehen: Ein großer Politiker zeichnet sich eben wohl durch seine Breite aus.
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Also jeder hatte hier ja die Möglichkeit, Beifall zu klatschen. Ich habe das sogar da drüben rechts an einer Stelle gesehen. – Ich war engagiert bei den Künstlerinnen und Künstlern für den Frieden; ich erinnere an das Plakat des großen Karikaturisten Arno Funke, der dazu eine Karikatur angefertigt hat. Denn es gibt doch augenscheinlich eine Diskrepanz, was die Rüstungsausgaben Russlands und der NATO betrifft. Ich weiß, dass Sie ein nachdenklicher Kollege sind und auch andere zur Nachdenklichkeit anstiften. Dieser Punkt müsste doch auch Sie zur Nachdenklichkeit bringen. 940 Milliarden Dollar umfasst der Militäretat der NATO, davon kommen round about 600 Milliarden Dollar von den USA, 340 Milliarden von den anderen Staaten, inklusive der EU. Dagegen steht der Militäretat Russlands in Höhe von 65 Milliarden. Dann sagt Trump, wir sollen round about 40 Milliarden aus den deutschen Geldern, die wir für Schulen und Krankenhäuser brauchen, drauflegen. Wie können Sie das einer immer geringer werdenden Bevölkerungszahl verständlich machen, wo die Akzeptanz für die NATO auch aus diesem Grund permanent nachlässt? Bei dieser Zahlendiskrepanz ist es doch unverständlich, die NATO weiter aufzurüsten.
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Ich brauche gar nicht Donald Trump zu bemühen, sondern ich bemühe den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, der uns jedes Jahr darauf hinweist, welchen Ausrüstungsnachholbedarf wir bei der Bundeswehr haben. Sogar mein Kollege Trittin hat darauf hingewiesen, dass es gut wäre, wenn wir zum Beispiel für den Mali-Einsatz mehr deutsche Hubschrauber hätten.
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Insofern ist eine angemessene Steigerung des deutschen Verteidigungsetats keine Aufrüstung, sondern lediglich die Sicherstellung, dass unsere Soldatinnen und Soldaten einen guten und sicheren Job im Dienst machen können. In diesem Sinne verstehen wir das auch.
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Ich möchte gerne auf die aktuelle Diskussion über das Budget eingehen. Ich finde, wir hätten uns die Diskussion über die mittelfristige Finanzplanung, die ja unsere massiven Anstrengungen, mehr Geld für die Bundeswehr zu mobilisieren, konterkariert, wirklich sparen können. Ein Blick auf die Haushaltszahlen der letzten Jahre – zumindest seit Ursula von der Leyen Verteidigungsministerin ist – zeigt: Wir haben einen stetigen Anstieg der Verteidigungsausgaben, klar über dem durchschnittlichen Anstieg des Haushalts und überdurchschnittlich über dem Anstieg des Bruttosozialprodukts. In diesem Jahr haben wir von 2018 auf 2019 sogar einen zweistelligen prozentualen Sprung. Und auch für das Jahr 2020 planen wir einen weiteren Anstieg auf 1,37 Prozent BIP-Anteil, das entspricht einer Größenordnung von 50 Milliarden Euro, wenn man das in NATO-Terms rechnet.
Ich finde, es hätte uns gut angestanden, wenn wir mit dieser Botschaft nach Washington zum 70. Geburtstag der NATO gegangen wären und nicht über Zahlen diskutiert hätten, die dieser Deutsche Bundestag weder beschlossen hat noch beschließen wird. Wir als Koalition werden im Deutschen Bundestag dafür sorgen, dass wir selbstverständlich unsere Zusagen gegenüber der NATO und gegenüber der Europäischen Union – im PESCO-Vertrag haben wir diese Zusage auch gemacht –, unsere Verteidigungsausgaben zu steigern, einhalten werden.
Zum Schluss möchte ich noch auf einen Punkt eingehen, der heute hier noch nicht angesprochen worden ist. Er geht vielleicht ein klein bisschen auch in die Richtung dessen, was Kollege Dehm gesagt hat. Russland gibt Geld für Verteidigung aus; aber Russland investiert auch in Waffentechnologien, die gemäß internationalen Verträgen, gemäß dem INF-Vertrag verboten sind. Das ist für die NATO eine ernsthafte Bewährungsprobe; denn es geht darum, dass wir es im 70. Jahr unserer Existenz schaffen, eine geschlossene, einmütige Antwort auf die Frage „Was ist die richtige Antwort auf die Verletzung des INF-Vertrags durch Russland?“ zu geben. Ich finde, da wird sich die NATO in den nächsten Monaten beweisen können, ob sie diese Geschlossenheit zeigt. Ich glaube im Übrigen, dass das auch der Test Putins ist, ob wir in der Lage sind, diese Geschlossenheit zu zeigen.
Ich möchte die Bundesregierung ermutigen, sich aktiv an diesem Dialog zu der Frage „Was ist die richtige Antwort auf die Verletzung des INF-Vertrags durch Russland?“ zu beteiligen und sich entsprechend einzubringen, damit die Lösung nicht wieder eine Lösung ist, die zwischen Russland und den USA verhandelt wird, sondern eine, die von der gesamten NATO gut mitgetragen werden kann.
In diesem Sinne, herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Armin-Paul Hampel.
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Danke schön. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste im Deutschen Bundestag und auch liebe Zuschauer an den Bildschirmen! Ja, das, was Lord Ismay als erster NATO-Generalsekretär damals formulierte, Herr Kollege Trittin, dass es notwendig sei, die Amerikaner drin, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten, war die erste Perspektive der NATO, als wir noch gar kein Mitglied waren. Es hat bis in die 50er-, 60er-Jahre gedauert, bis sich gedanklich da etwas verändert hat.
Seitdem war unter der Perspektive der Bedrohung des Warschauer Paktes das Bündnis nicht nur ein starkes, es war ein geschlossenes Bündnis. Jeder, der in den 60er-, 70er- oder noch in den 80er-Jahren in der Bundeswehr gedient hat, weiß, dass wir damals zutiefst davon überzeugt waren, dass dieses Bündnis zu diesem Zeitpunkt nicht nur richtig war, sondern dass wir dem damaligen potenziellen Gegner, dem Warschauer Pakt, hätten standhalten können und, meine Damen und Herren, auch wollen.
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Was wir heute aus dieser Bundeswehr gemacht haben – von meiner Fraktion ist es oft genug benannt worden –, ist ein Trauerspiel. Wir haben aus dem kollektiven Verteidigungsbündnis ein bisschen Interventionsarmee gemacht. Ich erinnere mich, Volker Rühe 1994, glaube ich, nach Kambodscha begleitet zu haben. UNTAC war einer unserer ersten Auslandseinsätze. Ich erinnere auch an den Einsatz, den wir in Somalia hatten, wo wir ein Feldlager für die Inder aufgebaut haben, die übrigens nie gekommen sind, und an die Schlappe von Erhac, als es gegen den Irak ging, und folgende sowie an den Einsatz am Hindukusch, der nun schon 18 Jahre dauert, kein Ende findet und zu keinem Erfolg führt.
Meine Damen und Herren, alle Auslandsinterventionen der Bundeswehr gemeinsam mit NATO-Partnern sind gescheitert und haben nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt. Das muss uns zu der Überlegung zurückführen, dass wir die Grundidee der NATO, nämlich die Idee eines kollektiven Verteidigungsbündnisses in Europa, und zwar aus dem kollektiven Sicherheitsinteresse Europas heraus, neu schaffen oder wieder stärken.
Genau da sitzt der Ansatzpunkt, den meine Fraktion kritisiert: Wenn unsere amerikanischen Freunde meinen, in der Welt intervenieren zu müssen – ich erinnere nur an den entsetzlichen Irakkrieg, der das Land völlig kaputtgemacht hat, und an andere Kriegszüge –, dann müssen wir doch zu der Erkenntnis kommen, dass wir dieses kollektive Sicherheits- und Verteidigungsbündnis als Europäer erhalten wollen, und mit unseren amerikanischen Freunden auch einmal Klartext sprechen und sagen: Wenn ihr in der Welt intervenieren wollt, dann tut das – aber bitte ohne uns Deutsche, ohne uns Europäer und ohne die NATO; dazu ist sie nicht gegründet worden.
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Dazu gehört natürlich dann, dass der Wille gerade auch in der Bundesrepublik Deutschland vorhanden ist, dieses Bündnis mit Leben und mit Kraft zu erfüllen. Mein Kollege Jens Kestner hat hier mehrfach angemahnt, dass die innere Ordnung in der Bundeswehr verloren gegangen ist. Sie können Militärausgaben steigern, Rüstung nachliefern, Sie können auch die Ausbildungspläne verändern und aktivieren, aber wenn der Wille, das innere Gefüge der Truppe, das Kämpfen-Wollen – eine Armee ist dazu da, im Verteidigungsfall kämpfen zu wollen – nicht mehr vorhanden ist, dann ist alles andere Makulatur.
Wir Deutsche müssen uns an die eigene Nase packen und sagen: Jawohl, wir wollen das Rüstungsziel von 2 Prozent erreichen, wie wir es versprochen haben. Wir wollen die Bundeswehr wieder so stark machen, dass sie für keinen Gegner eine kalkulierbare Armee ist, von der er weiß, dass sie sofort besiegbar ist. Dahin müssen wir zurückkommen.
Zur inneren Haltung und zur Inneren Führung gehören auch die Worte des großen August Neidhardt von Gneisenau aus den Freiheitskriegen, dass nämlich jeder männliche Bürger eines Landes automatisch sein natürlicher Verteidiger ist. Deswegen wissen wir: Als erster Reformschritt muss die Wiedereinführung der Wehrpflicht erfolgen.
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– Ja, natürlich kostet das. Das kostet deswegen, weil Sie so lange gepennt haben, Herr Hardt. Das ist Klartext.
Meine Damen und Herren, ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir gemeinsam mit den europäischen Ländern manchmal auch gegen die Amerikaner eine neue Perspektive für die NATO schaffen können, indem wir zu der alten Perspektive zurückkehren. Wir wollen ein kollektives Bündnis der Verteidigung europäischer Staaten und unseres Landes. Dafür müssen wir stark sein. Dafür müssen wir gerüstet sein. Si vis pacem, para bellum – wer den Frieden will, muss für den Krieg gerüstet sein.
Danke schön, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Fritz Felgentreu.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Hampel, Ihre diskriminierende Äußerung über die Dienstauffassung der deutschen Soldaten weise ich mit aller Entschiedenheit zurück.
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Ich kenne die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr als entschlossene, gewissenhafte, loyale Kräfte,
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die diese Geringschätzung von Ihnen nicht verdient haben.
Meine Damen und Herren, 70 Jahre NATO feiern wir in diesen Tagen leiser als vor zehn Jahren, als das 60-jährige Bündnisjubiläum begangen wurde. Dafür gibt es auch Gründe; denn bei allem Stolz auf das Erreichte steht die NATO heute unter Druck. Wir erleben, dass die Türkei ihre regionalen Machtinteressen über das Bündnis stellt und sich im Konflikt mit den USA auch auf Kosten der NATO durchsetzen will. Das ist bemerkenswert und gefährlich. Die Türkei ist ein älteres NATO-Mitglied als Deutschland. Wegen ihrer Größe, ihrer geografischen Lage und ihrer historischen Hinwendung zu westlichen Werten ist sie von großer Bedeutung für das Bündnis. Eine Abwendung der Türkei rührt an die Substanz der NATO.
Das Ende des INF-Vertrages führt auch den Letzten vor Augen, dass die Sicherheitsordnung, die nach dem Ende des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung Europas aufgebaut worden ist, heute keinen Bestand mehr hat. Neue Bedrohungen verlangen der NATO viel ab: politisch, organisatorisch und finanziell. Wir stehen zusammen mit unseren Bündnispartnern in einer Bewährungsprobe, die wir noch nicht erfolgreich überstanden haben.
Am deutlichsten zeigt sich das in dem offenen Streit über eine angemessene Lastenteilung unter den Mitgliedsländern. Mit welchen Maßnahmen sie zu gestalten ist, darüber gibt es weiterhin erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Dieser Streit rührt auch deshalb an die Substanz, weil die NATO ein Bündnis freier Mitgliedstaaten ist. Es gibt hier kein Vasallentum.
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Als Bündnis von Demokratien westlicher Prägung beruht auch die NATO auf Grundlagen,
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die sie selbst nicht garantieren kann. Es kommt auf uns alle an.
Eine immer noch schockierende Konsequenz aus diesen Zusammenhängen ist die neue Haltung der USA. Zum ersten Mal in der Geschichte der Allianz hat ein Präsident dieses Kernlandes mit Rückzug gedroht. Schon diese angedrohte Entgrätung der NATO stellt ihren Fortbestand infrage: Ein Fisch ohne Gräten ist wenig mehr als eine Qualle. Einer ähnlichen Logik, wenn auch auf niedrigerer Ebene, folgt der Präsident der Vereinigten Staaten, wenn er einseitige Entscheidungen, zum Beispiel zum Rückzug aus Afghanistan, ankündigt oder wenn er die Beistandsgarantie des Artikels 5 relativiert. Aber diese Krisensymptome haben vielleicht auch ein Gutes. Nach 70 Jahren machen sie uns den Wert der NATO erneut bewusst und verhindern, dass wir in sicherheitspolitische Lethargie verfallen.
Meine Damen und Herren, als wichtigste Erkenntnis kann diese dabei nicht oft genug betont werden: Wir leben in einer historisch einmaligen Situation. Seit fast 75 Jahren halten die großen Nationen Europas Frieden miteinander. Das hat es in der Geschichte des Kontinents seit dem Ende der Pax Romana nicht gegeben. Den Frieden nach innen verdankt dieses Europa zweifellos ganz wesentlich auch der Europäischen Union. Nach außen aber war es die NATO, ihre Glaubwürdigkeit in Schutz und Abschreckung, die eine stabile Friedensperiode möglich gemacht hat. Dass wir Europäer auch ohne sie in der Lage sind, Frieden zu halten – der Beweis steht noch aus.
Es ist deshalb keine übertriebene Panegyrik, die NATO als das erfolgreichste Verteidigungsbündnis in der Geschichte der Menschheit zu beschreiben. Fehler, die in den langen Jahren nicht ausbleiben konnten, schmälern diese Leistung nicht. Die größte Errungenschaft der NATO ist das gewaltfreie Ende des Kalten Krieges. Ob es in der Phase danach möglich gewesen wäre, Russland einzubeziehen, wird eine Preisfrage für Historiker bleiben. Unumstritten ist demgegenüber, dass die Länder des früheren Warschauer Vertrags, vor allem die Balten, heilfroh sind, dass sie heute unter dem Schutzschirm der NATO stehen.
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Die Anziehungskraft des Bündnisses ist ungebrochen. Auf dem Westbalkan hat Montenegro sich angeschlossen, und es war die NATO-Perspektive, die Griechenland und Nordmazedonien die politische Kraft verliehen hat, ihren Namensstreit beizulegen. Die NATO hat sich nicht nur bewährt, sie wird gebraucht – so dringend wie eh und je.
In dieser Lage ist es unsere Aufgabe, die NATO zu bewahren und weiterzuentwickeln. Im Koalitionsvertrag halten wir dazu unsere Vorstellungen fest. Eine wichtige Grundlage ist das Bekenntnis zu einer fairen Lastenteilung. Wir bekräftigen unsere Selbstverpflichtung. Die Koalition steht zu ihren Zusagen. Sie hat das durch die kontinuierliche Steigerung der Ausgaben für Verteidigung unter Beweis gestellt und wird auch in Zukunft im Zielkorridor bleiben. Die jährlich wiederkehrende Aufregung über die Zahlen der mittelfristigen Finanzplanung wird durch die politische Praxis der letzten fünf Jahre sattsam widerlegt:
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Wir arbeiten Schritt für Schritt an der Vollausstattung unserer nach wie vor kleinen Armee.
Deutschland ist ein zuverlässiger NATO-Partner, und das bleiben wir auch. Zugleich haben wir den Anspruch, dem Bündnis in bewegter Zeit neue Impulse zu geben. Es war immer eine Stärke der NATO, sich an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Diese Stärke ist gerade jetzt wieder gefordert. Wo die NATO mit anderen Ländern zusammenarbeitet, muss sie ihren Blick und ihre Methode über das Militärische hinaus weiten. Sicherheit braucht auch eine funktionierende Gesellschaft, die sie trägt, und wirtschaftliche Entwicklung – das gehört alles zusammen.
Und gerade in dem Jahr, in dem der INF-Vertrag abgewickelt wird, bekennt die Koalition sich zu dem Ziel einer Welt ohne Nuklearwaffen.
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Wir werden uns deshalb in der NATO weiter und verstärkt für Vertrauensbildung, Rüstungskontrolle und Abrüstung einsetzen und dabei nicht nur die Schrecken der Vergangenheit in den Blick nehmen, sondern auch moderne Zerstörungspotenziale einbeziehen: die Gefahren aus dem Cyberraum, von Weltraumwaffen oder von Letalen Autonomen Waffensystemen. Mit der Berliner Konferenz vom vorvergangenen Wochenende ist ein Anfang gemacht. Den Dialog mit Russland wollen wir fortsetzen; denn eine stabile Friedensordnung für Europa setzt voraus, dass auch dieser größte und stärkste Nachbar der NATO seinen Teil der Verantwortung übernimmt.
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Und so wünschen wir der NATO zum Jubiläum Geschlossenheit und vertrauensvolle Kooperation nach innen und Stärke, Friedfertigkeit und Dialogbereitschaft nach außen. Wir sind bereit, unseren Beitrag dafür zu leisten, damit die NATO auch in den kommenden 70 Jahren ein Garant für Frieden und Sicherheit
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auf unserem konfliktreichen Kontinent bleiben möge.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die FDP der Kollege Dr. Marcus Faber.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir feiern heute 70 Jahre NATO. Das ist in der Tat ein Grund zur Freude. Es ist auch ein Grund zur Dankbarkeit für 70 Jahre Sicherheit und Stabilität in Europa. In diese Dankbarkeit mischt sich bei mir auch die Hoffnung, dass wir noch viele Geburtstage der NATO feiern können. Diese Hoffnung ist heute leider keine Selbstverständlichkeit; denn wir haben im Oval Office einen Präsidenten, der offen über den Austritt aus der NATO nachdenkt. Wir haben eine Russische Föderation, die in ihre Nachbarländer Georgien und Ukraine einmarschiert. Und in diese Liste gehört leider auch: Wir haben eine Bundesregierung, die zu ihren Zusagen in der NATO nicht steht. Und das ist sehr bedenklich.
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In so einem angespannten sicherheitspolitischen Umfeld brauchen wir Menschen, die bereit sind, für unsere Freiheit, für unsere Sicherheit, für unsere Art zu leben einzustehen. Und die brauchen das Gerät, mit dem sie das auch tun können. Beides kostet Geld. Das ist banal; aber so ist es. Deswegen haben sich die 29 NATO-Staaten vor fünf Jahren darauf verständigt, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Sie wollen dieses Ziel in fünf Jahren, also 2024, erreichen. Wir haben also heute Halbzeit. Fast alle Staaten haben dieses Ziel erreicht oder sind auf einem sehr guten Weg dahin – Deutschland nicht.
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Deutschland will 2020 1,37 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben, und in den Folgejahren soll dieser Beitrag sogar noch sinken. Ich sage Ihnen: Das ist zu wenig.
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Es ist zu wenig für eine Bundeswehr, die gut ausgestattet ist,
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für eine Bundeswehr, die funktioniert, die die Hubschrauber, von denen Sie gerade gesprochen haben, auch tatsächlich vor Ort hat. Es ist zu wenig für die internationale Glaubwürdigkeit dieser Bundesregierung. Die Zeiten, in denen Deutschland sich von anderen hat verteidigen lassen, von anderen hat schützen lassen, müssen vorbei sein. Der Kalte Krieg ist vorbei. Heute ist es unsere Aufgabe, dass wir für unsere eigene Sicherheit Verantwortung übernehmen und auch für die unserer Partner. Deutschland ist eines der wohlhabendsten Länder in der NATO. Eines der wohlhabendsten Länder darf nicht das unzuverlässigste Land in der NATO sein.
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Wenn wir nicht zu unseren Verpflichtungen stehen, wie können wir das denn von anderen Ländern erwarten, denen es lange nicht so gut geht, wie etwa den Griechen oder den Rumänen? Wir haben hier auch eine Vorbildrolle. Während andere den Gürtel immer enger schnallen, um ihre Verpflichtungen zu erfüllen, können wir uns keinen schlanken Fuß machen. Das tun wir aber an vielen Stellen. Wir sind die größte Nation bezogen auf die Bevölkerung in Europa. Wir haben eine Verantwortung als Garant für Sicherheit in Europa. Diese Funktion nehmen wir derzeit nicht wahr, sondern wir stellen sie infrage. Wir müssen für den Zusammenhalt und für die Leistungsfähigkeit der NATO stehen und dürfen sie nicht unterlaufen. Das ist unsere Aufgabe. Deshalb sage ich Ihnen: Freiheit hat nicht nur ihren Wert, sie hat auch ihren Preis, und wir müssen bereit sein, diesen Preis zu zahlen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Henning Otte.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 70 Jahre NATO: Das ist doch wahrlich ein Grund, zu feiern, ein Grund zur Dankbarkeit, ein Grund, darauf hinzuweisen, dass wir in Frieden und Freiheit leben dürfen. Es gilt für uns, jeden Tag dafür zu arbeiten, politische Gestaltungskraft wahrzunehmen, dass dies so bleibt und dass wir auch in Zukunft in Frieden und Freiheit leben dürfen. „One for all and all for one“, so sagte es NATO-Generalsekretär Stoltenberg anlässlich der Feierlichkeiten – einer für alle, alle für einen.
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Ich erinnere gerade heute einmal daran, dass in die Amtszeit von Manfred Wörner, der von 1988 bis 1994 NATO-Generalsekretär war, der Fall der Mauer fiel. Ich sage sehr deutlich: Die NATO ist als transatlantisches Bündnis eine Erfolgsgeschichte, der Garant für Frieden und Freiheit in Deutschland und auch in Europa.
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Ich sage allen 28 Partnern der NATO zu, dass wir zu unseren Werten stehen. Auch in der Parlamentarischen Versammlung der NATO – die deutsche Delegation wird seit Jahren von Professor Karl Lamers und von Ulla Schmidt geführt – wird immer wieder deutlich gemacht, dass wir zu unseren Werten stehen; denn die NATO ist notwendiger denn je. Die Welt ist in Unruhe. Schauen wir in den Nahen Osten, schauen wir auf den afrikanischen Kontinent, und schauen wir vor allem – und da bitte ich auch die Linken, dies einmal wahrzunehmen – nach Russland. Russland ist mit einem Aggressionskurs unterwegs, will seine Machtsphäre ausweiten. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim hat einen Klimawechsel herbeigeführt, und es ist Russland, das den INF-Vertrag gebrochen hat. Das werden wir immer wieder betonen, und ich bitte Sie, Frau Hänsel, das bei Diskussionen aufzunehmen und hier nicht die Unwahrheit bzw. Halbwahrheiten zu sagen. Die Kündigung des INF-Vertrages beruht auf der Verletzung durch Russland, meine Damen und Herren.
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Wir sind zweitgrößter Truppensteller, wir sind zweitgrößter Beitragszahler, wir erfüllen unsere Verpflichtungen aus voller Überzeugung: für unsere baltischen Freunde, bei der Vornestationierung, bei Air Policing, bei VJTF und seit Jahren auch in Afghanistan. Wir haben ein elementares Interesse an Frieden und Freiheit, und deswegen sagen wir: Wir müssen investieren in die Modernisierung, in die Ausrüstung und auch in die Ausbildung. Wir investieren viel, aber noch nicht genug. 1,5 Prozent sind angemeldet für das Jahr 2024, und wir haben das 2-Prozent-Ziel klar im Auge, stellen aber fest, dass die mittelfristige Finanzplanung dies noch nicht abbildet. Da müssen wir ganz klar nachbessern; denn es geht um nicht weniger als um die Sicherheit unseres Landes.
Wir wollen dabei den europäischen Pfeiler innerhalb der NATO stärken, und wir wollen einen 360-Grad-Blick haben: für Land, für See, für Luft, für Space und auch für den Cyberraum. Es geht nicht um Aufrüstung, sondern es geht um Ausrüstung. Wir brauchen noch den schweren Transporthubschrauber, die U-Boot-Kooperation, das Luftverteidigungssystem. Es geht nicht um einen Rüstungswettlauf – den wollen wir verhindern –, sondern es geht darum, unsere Truppe zu stärken.
Der AfD kann ich nur sagen: Wer der Bundeswehr suggeriert, sie sei nicht handlungsfähig,
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der versucht bewusst, den Dienst eines jeden Soldaten in den Schmutz zu ziehen, und das lassen wir nicht zu, meine Damen und Herren!
Die Bundeswehr ist ein Part der NATO, ein Garant für Frieden und Freiheit. Wir werden dieses Bündnis weiter stützen. Wir stehen als CDU/CSU in der Koalition für dieses Bündnis als Garant für Frieden und Freiheit, von dem selbst die Linken mit ihrer Frechheit profitieren.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der fraktionslose Abgeordnete Mario Mieruch.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn die europäische Sicherheit ein Haus ist, dann ist die NATO ihr Fundament; denn seit der Gründung hat das Nordatlantische Bündnis die Freiheit im Angesicht einer kommunistischen Bedrohung verteidigt. Die Abschreckung in Form des Kräftegleichgewichtes war dabei nur das eine Mittel, das andere war die Aufnahme von Mitgliedstaaten, die sich bis dahin auch mit gegenläufigen Interessen gegenüberstanden und sich zuvor noch säbelrasselnd traktierten. Das Paradebeispiel ist die gleichzeitige Aufnahme von Griechenland und der Türkei im Jahre 1952 – zwei Länder, die vorher eine innige Feindschaft pflegten und die sich bis heute immer noch ganz gerne ein wenig beharken. Die NATO hat damit zu diesem Zeitpunkt durch ihre reine Existenz Kriege verhindert. Das gilt ebenso für Großbritannien, Italien und zuletzt auch für uns, Deutschland.
Vergessen wir nicht, dass unsere Bundesrepublik nicht von Anfang an Mitglied der NATO war. Stattdessen wurde die NATO ein wichtiger Teil der Westintegration unter Bundeskanzler Konrad Adenauer, der Deutschland damit nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ein Stück zurück in die Völkergemeinschaft geführt hat. Der einstige Feindstaat Deutschland wurde plötzlich zum Verbündeten, nur zehn Jahre, nachdem die Wehrmacht kapitulierte. Der Eintritt Deutschlands in das westliche Bündnis ist daher eine besondere Wegmarke in unserer deutschen Geschichte, auf die wir durchaus stolz sein dürfen.
Die Geschichte der NATO beinhaltet aber auch zwei existenzielle Wahrheiten. Die erste ist: Das Abschreckungsgleichgewicht hat den Frieden in Europa bewahrt. Nicht die wirtschaftlichen Verflechtungen, nicht die EWG, schon gar nicht die EU sind dafür verantwortlich, dass wir heute ohne Krieg in der Mitte unseres Kontinentes leben,
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sondern es ist in allererster Linie Artikel 5 der NATO-Charta: Wenn ein Land der Vertragsstaaten angegriffen wird, ist es so, als würde das gesamte Bündnis angegriffen. – Das verunmöglicht militärische Konflikte nicht nur von außen, sondern auch innerhalb der NATO. Und das hielt natürlich auch den Warschauer Pakt auf Abstand.
Wir leben nicht in Frieden, weil wir die EU haben, sondern die EU konnte sich entwickeln und zum Frieden beitragen, weil wir die NATO haben. Wer das anders darstellt, verbiegt die Geschichte.
Die zweite, diesmal unangenehme Wahrheit lautet: Wir vernachlässigen unsere Bündnispflichten. Die Mitgliedstaaten haben sich selbst verpflichtet, 2 Prozent des Haushaltes für den Verteidigungsetat aufzubringen. Wir reden über 1,5 Prozent oder weniger. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen die Solidarität innerhalb des Bündnisses und auch eine Herausforderung gegenüber Washington. Trump hat es mehrmals deutlich gesagt, wie die Konsequenzen ausschauen: Wenn die Verpflichtungen nicht erfüllt werden, dann zieht er ab.
Das deutsche moralische hohe Ross wird bei unseren Partnern nur noch einmal mehr als Arroganz wahrgenommen, gerade auch, weil wir militärisch nicht gerade in der ersten Liga spielen. Ohne die Amerikaner wird die europäische Sicherheitsarchitektur wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Diese NATO ist existenziell für unseren Kontinent und auch für uns. In diesem Sinne erinnere ich an den Kernsatz der amerikanischen Vandenberg-Resolution, die der Gründung der NATO voranging: Jedes Land, das von den USA verteidigt werden will, muss vorher zusagen, auch die USA zu verteidigen. Sollten wir machen.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Christian Schmidt für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Glückwunsch für 70 Jahre NATO! Glückwunsch an wen? An uns, weil wir diejenigen sind, die die NATO tragen. Wir, das sind nicht nur Staats- und Regierungschefs – ich sehe auch nicht nur die Generalsekretäre –, sondern das sind die Bürger. Ohne die Existenz von offenen Gesellschaften in den wesentlichen Ländern der NATO-Staaten hätte es eine solche Substanz für die NATO auch nicht gegeben.
Das ist übrigens auch der große Unterschied zu Ihren Fantastereien, Frau Hänsel. Ich habe immer gedacht, Sie kommen jetzt mit der Agitprop-Nummer von Frau Margot Honecker.
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Die DDR war eine militaristische Gesellschaft, die schon die Kinder zum Militarismus und zur NATO-Feindschaft erzogen hat.
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Deswegen lernen Sie einmal, wie es in einer freien Gesellschaft funktioniert, wo man demonstrieren kann.
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– Hören Sie doch auf. – Große Demonstrationen am 1. Mai und am Tag der Gründung, am 7. Oktober, wo man den Waffen hinterherwinken durfte – das soll es gewesen sein? Nein. Hier haben Sie eine freie Gesellschaft, aber auch einen Auftrag. Einen Auftrag an uns,
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dass wir denjenigen, die uns und die NATO mit der kommunistischen Propaganda jahrelang quasi in eine gefühlte Aggression hineinreden wollten,
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klarmachen, dass das nicht der Fall ist und der Fall war,
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sondern dass erstens die Sicherheit im Bündnis der NATO gut aufgehoben ist
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und dass wir zweitens deswegen auch dafür arbeiten müssen, dass es auch um eine politische Struktur geht und nicht nur um eine militärische. Deswegen bedarf es eines New Deal, auch innerhalb der NATO, der stärker das Politische in den Vordergrund rückt.
Zur Frage der Finanzierung ist genügend gesagt worden. Ich kann mich im Wesentlichen dem anschließen, was Kollege Hardt und andere sowie die Frau Ministerin gesagt haben.
Wir müssen jetzt den New Deal einer neuen transatlantischen Charta, wie es Henry Kissinger vor einigen Jahren beschrieben hat, in den Vordergrund rücken. Und wir müssen unsere Bürgerinnen und Bürger mitnehmen, überzeugen. Das ist ja gerade der Unterschied zu dem, was mit Propaganda in anderen Machtblöcken gemacht wurde. Hier geht es darum, zu überzeugen und mitzunehmen.
Ja, Verteidigung, Sicherheit und Militär werden nicht per se positiv gesehen. Schon Konrad Adenauer hatte, als im Jahre 1955 die Wiederbewaffnung eine große Thematik war, festgestellt, dass die Meinungsumfragen nicht eine hundertprozentige Zustimmung gegeben haben zu dieser nüchternen und richtigen Entscheidung von ihm, dass sich Westdeutschland in das westliche Bündnis einbindet. Übrigens war die NATO die Voraussetzung dafür, dass es überhaupt einen deutschen Verteidigungsbeitrag geben konnte. Ein eigenständiger wäre – man denke noch einmal an Lord Ismay – nie akzeptiert worden. Dabei lag Ismay übrigens falsch. Es ging nicht darum: to keep the Germans down, but to put the Germans in the structure, also uns zu integrieren. – Das haben wir erreicht, und das muss jetzt fortgesetzt werden im Sinne eines politischen Dialogs.
Es müssen insbesondere bei denen, die Skepsis haben, die Argumente stärker in den Vordergrund geschoben werden. Ich höre, dass zum Beispiel in Serbien unmittelbar nach den NATO-Maßnahmen, die nach dem Krieg, der um den Kosovo ging, die Zustimmung zur NATO höher war, als sie jetzt ist. Ich kann mir vorstellen, dass Serbien genauso wie der Kriegsgegner Kosovo und andere ehemalige jugoslawische Staaten wie Montenegro,
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bald Nordmazedonien dann im Sinne einer gemeinsamen Friedensordnung in einem gemeinsamen Friedensbündnis sein können, das eben nicht nur ein Militärbündnis ist mit rollenden Ketten, sondern ein politisches Wertebündnis, bei dem der Frieden im Vordergrund steht. Deswegen hat es 70 Jahre gehalten – nicht weil die Propaganda so groß war, sondern weil die Substanz das Entscheidende ist.
Glückwunsch an die NATO und Glückwunsch an uns alle!
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die großen Herausforderungen, die auf uns zukommen – Klimakrise, globale Gerechtigkeit, Digitalisierung, Globalisierung –, werden wir nur durch eine starke Europäische Union meistern können.
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Deswegen brauchen wir nicht mehr Nationalismus, sondern mehr Europa. Wir brauchen mehr Zusammenhalt in der EU; denn nur gemeinsam sind wir stark.
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Leider ist der Zusammenhalt in der EU bedroht. Mit dem Brexit bricht jetzt sogar ein ganzes Land weg. Aber auch in den anderen Ländern gibt es nationalistische Bestrebungen, nationalistische Parteien, die die EU schwächen wollen. Diesen nationalistischen Parteien müssen wir uns gemeinsam entgegenstellen und für ein starkes Europa kämpfen.
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Ein starkes Europa geht nur mit einem stärkeren sozialen Zusammenhalt. Wir müssen die Herzen der Menschen erreichen. Deswegen muss deutlicher werden, dass dieses großartige Projekt Europäische Union nicht nur eine Wirtschaftsunion ist, sondern auch und gerade für die Menschen da ist. Wir müssen das soziale Europa stärken und weiter ausbauen.
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Auch die Bundesregierung oder die Mitglieder der Regierungskoalition reden in Sonntagsreden immer mal wieder über das soziale Europa – und wahrscheinlich auch gleich in dieser Debatte. Schöne Reden reichen aber nicht. Die Regierung muss sich an ihren Taten messen lassen. Von den positiven Punkten, die es im Koalitionsvertrag ja zum sozialen Europa gibt, hat sie allerdings so gut wie nichts umgesetzt. Die CDU, allen voran ihre Vorsitzende, hat sich jetzt sogar explizit gegen weitere Schritte in Richtung soziales Europa ausgesprochen.
Aber es ist noch schlimmer: Immer dann, wenn es um die Einschränkung von Sozialleistungen für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger geht, ist die Große Koalition vorne mit dabei – nicht nur CDU und CSU, sondern auch die SPD. Sie haben sich auf EU-Ebene dafür eingesetzt – zum Glück erfolglos. Aber national hat die Große Koalition in den letzten Jahren den Sozialleistungsbezug von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern eingeschränkt. Und just heute Morgen hat sie einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, mit dem sogar Kindern das Kindergeld verweigert werden soll. Das ist nicht mehr, sondern weniger soziales Europa.
Wir brauchen aber mehr soziales Europa.
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Und das fängt hier bei uns an. Wir Grünen schlagen hier und heute elf Punkte vor, wie wir das soziale Europa stärken können.
Uns Grünen ist besonders wichtig, die Armut in der Europäischen Union zu verringern. Dazu braucht es auf EU-Ebene eine gemeinsame Strategie und gemeinsame Ziele. Wir haben uns alle im Rahmen der Agenda 2030 dazu verpflichtet, die Armut in allen Staaten der Welt bis 2030 zu halbieren. Wie wäre es, wenn wir uns dieses Ziel auch auf EU-Ebene setzen würden und mit gemeinsamen Maßnahmen hinterlegen würden? Das wäre doch mal ein starkes Zeichen an die Bevölkerung in der EU.
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Ein zentraler Vorschlag, den wir Grüne dazu machen, ist, uns in der EU darauf zu verständigen, dass es in allen Mitgliedstaaten eine Grundsicherung gibt, die vor Armut schützt. Eine Grundsicherung überall in der EU – das wäre eine wichtige Basis für ein soziales Europa.
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Um Beschäftigte besser abzusichern, fordern wir, uns in der EU auf Mindestlöhne zu verständigen, die vor Armut schützen, das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Arbeitsplatz“ überall durchzusetzen und außerdem dafür zu sorgen, dass Frauen für gleiche und gleichwertige Arbeit endlich auch den gleichen Lohn erhalten.
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Um die Absicherung von Arbeitslosen zu verbessern, schlagen wir eine Rückversicherung der Arbeitslosenversicherungen vor, die mit Mindeststandards für die nationalen Systeme verbunden werden kann. Dadurch werden Arbeitslose besser abgesichert. Gleichzeitig stabilisiert das die Wirtschafts- und Währungsunion. Hier können wir zwei Ziele mit einem Mittel gut erreichen.
Wir müssen mehr gegen Jugendarbeitslosigkeit in Europa machen und dafür sorgen, dass alle jungen Menschen in der EU einen Ausbildungsplatz bekommen. Europäische Betriebsräte müssen gestärkt werden, und wir können auch für Gesundheitssysteme und Alterssicherung Mindeststandards verabschieden. Und: Wir sollten uns für eine bessere soziale Absicherung der Freizügigkeit einsetzen und damit bei uns anfangen.
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All diese Maßnahmen sind jetzt schon möglich. Wir sollten aber auch darüber hinausdenken. So schlagen wir Grüne wie viele andere Initiativen, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften und andere eine Ergänzung der Europäischen Verträge vor, die darauf abzielt, dass soziale und wirtschaftspolitische Ziele gleichwertig sind, also eine soziale Fortschrittsklausel.
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Mittelfristig ist es darüber hinaus aber auch wichtig, die sozialen Sicherungssysteme stärker zu europäisieren, zum Beispiel durch eine europäische Arbeitslosenversicherung oder ein europäisches Kindergeld, um zu verdeutlichen: Wir sind alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, überall in der EU, und wir stehen füreinander ein.
2017 hat die Europäische Union die Europäische Säule sozialer Rechte proklamiert. Es ist jetzt an uns, diese sozialen Rechte zu konkretisieren und verbindlicher zu machen – für mehr sozialen Zusammenhalt, für ein starkes Europa.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Katja Leikert das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir diskutieren heute über einen Antrag, mit dem die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert, mehr soziale Absicherung von europäischer Seite zu garantieren. Die in dem Antrag genannten Forderungen sind – wir haben es gerade von Dr. Strengmann-Kuhn gehört – wirklich sehr weitreichend: EU-Vorgaben für die Grundsicherungssysteme, für Mindestlöhne, für die Gesundheits- und Altersvorsorgesysteme und sogar eine europäische Rückversicherung der nationalen Arbeitslosenversicherungen, womit wir auf dem Weg in eine Transferunion wären. Wenn man den Antrag liest, gewinnt man den Eindruck, in sozialer Hinsicht in der Europäischen Union quasi im Wilden Westen zu leben.
Heute ist kein Sonntag, und wir halten keine Sonntagsreden, aber wir sehen es Ihnen nach, dass Sie in Wahlkampfzeiten hier eine kleine Wahlkampfrede halten. Uns von der CDU/CSU-Fraktion ist aber auch in Wahlkampfzeiten wichtig, dass wir uns mit den Realitäten beschäftigen. Wie sehen die aus?
Erstens enthält das europäische Regelwerk bereits sehr hohe Sozialstandards.
Zweitens werden wir uns in einem wichtigen Punkt immer von Ihnen unterscheiden: Für uns geht Solidarität immer einher mit Eigenverantwortung. Wenn man den Antrag liest, stellt man fest, dass darin kein einziges Wort davon zu lesen ist.
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Drittens. Wenn es um europäische Sozialpolitik geht, dann ist klar: Wir haben von Anfang an für eine soziale Marktwirtschaft in Europa gekämpft. Wir stehen für einen starken Sozialstaat, der die Schwächeren mitnimmt und unterstützt. Das ist unser Anspruch, national und in der Europäischen Union. Dafür setzen wir uns ein.
Erst heute Morgen haben wir über den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Zolls gesprochen. Ziel ist, illegale Arbeit zu bekämpfen und Mindeststandards bei den Unterkünften einzuführen, was insbesondere die Situation von osteuropäischen Arbeitskräften in unserem Land verbessert. Wir haben aber auch zu diskutieren über den Missbrauch von Sozialleistungen – darüber können Sie nicht immer hinwegsehen –; denn das birgt Sprengkraft für Europa. Wir konnten das an der Debatte in Großbritannien über den Brexit erkennen. Zusammenhalt in der Europäischen Union erreichen wir nur, wenn Recht durchgesetzt wird. Sie können sich ganz sicher sein: Wir schauen ganz genau hin, wenn es um illegale Beschäftigung und Arbeitsausbeutung in Europa geht; das haben wir in der Debatte heute Morgen bewiesen. Während Sie das in Ihrem Antrag noch fordern, handeln wir schon.
Lassen Sie mich noch auf andere Aspekte in Ihrem Antrag eingehen, die eher grundsätzlicher Natur sind. Der Sozialstaat hat in Europa eine Tradition von über 100 Jahren. Alle europäischen Staaten setzen unterschiedliche sozialpolitische Schwerpunkte. Die Schweden beispielsweise betonen stärker den Bereich Arbeitsschutz, andere die Arbeitssicherung, andere wiederum die Familienpolitik. Die Forderungen, die Sie in den elf Punkten Ihres Antrags benennen, bedeuten – das ist wirklich wichtig – sehr tiefe Einschnitte und Eingriffe in die ureigenste Verantwortung und die Befindlichkeiten der Staaten. Sie wollen mit Transfersystemen vorpreschen. Das kann aus unserer Sicht nicht der richtige Ansatz sein. Dafür gibt es kein Verständnis bei den Bürgerinnen und Bürgern.
Wir gehen in der Europäischen Union einen besseren Weg: Wir sorgen dort für Konvergenz, wo wir einen Mehrwert für die Bürgerinnen und Bürger erzielen können, aber die einzelnen Staaten nicht überfordern. Es ist historische Realität, dass bereits mit den Römischen Verträgen die Koordinierung im Sozialbereich begonnen wurde. Wir haben bereits jetzt ein hohes Maß an Harmonisierung in den Bereichen Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz. Wir haben beispielsweise europaweit einheitliche Grenzen für Nachtarbeit und Ruhepausen, und wenn wir als EU-Bürger in einem anderen Land krank werden, dann werden wir dank der Europäischen Krankenversicherungskarte überall behandelt. Und wir haben den Europäischen Sozialfonds.
Es ist also nicht so, dass wir nichts tun würden. Fast 90 Milliarden Euro werden in der Europäischen Union für die Themen „Beschäftigung“ und „soziale Eingliederung“ ausgegeben, um die sozialen Unterschiede, die in den 28 Staaten der Europäischen Union natürlich groß sind, abzubauen. Darüber hinaus zielt die Strategie „Europa 2020“ mit konkreten Maßnahmen auf die Armutsbekämpfung, und das ist gut. Auch das fordern Sie in Ihrem Antrag ein. Aber auch das ist, wie gesagt, schon längst auf dem Weg der Umsetzung.
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Die Grunderkenntnis der Sozialpolitik ist und bleibt aber, dass die beste Absicherung ist, dass die Wirtschaft läuft und die Menschen Arbeit haben. Nehmen Sie abschließend das Beispiel Polen: Polen ist 2004 der Europäischen Union beigetreten und hat nicht einmal zehn Jahre später das Pro-Kopf-Einkommen verdoppelt und die Arbeitslosenquote halbiert.
Wenn wir von der CDU/CSU über die europäische Sozialpolitik sprechen, dann ist für uns klar, dass wir uns in erster Linie für einen starken Binnenmarkt einsetzen, für globale Wettbewerbsfähigkeit und für Innovationskraft. Das ist unser Konzept, wenn es um Europa geht.
Kollegin Leikert, Sie können gerne weitersprechen, tun das aber auf Kosten Ihrer Fraktionskollegen.
Ich habe das schon antizipiert. – Dafür kämpfen wir. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Martin Hebner für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Soziale Absicherung europaweit garantieren“ – ja, natürlich. Und warum den Weltfrieden nicht gleich mit garantieren oder E‑Mercedes und Strom aus der Steckdose für alle Menschen! Der Titel des Antrags hört sich so gut an, so gut wie ein Versprechen von Finanzdienstleistern. Bei diesem Antrag der Grünen gilt: Je schöner der Titel, desto apokalyptischer der Inhalt.
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Der Inhalt des grünen Antrags ist eine europaweite Verschleuderung von Rücklagen der deutschen Arbeitnehmer. Das steht, wie auch bei Versicherungsverträgen üblich, im Kleingedruckten:
Bei der Schaffung und Umsetzung ... sollen die ökonomisch schwächeren Mitgliedstaaten durch die stärkeren Mitgliedstaaten ... unterstützt werden.
Kurz und klar: Die Sozialbeiträge der deutschen Arbeitnehmer wollen Sie an alle in der EU verteilen. Wir nicht!
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Die Grünen wollen neben der Übernahme der Schulden für Euro-Pleite-Staaten, den Target2-Salden, den Kohäsionsfonds und vielen weiteren Transfers die deutschen Arbeitnehmer auch noch zur Ader lassen. Das ist eine sozialistische Verteilungsidee, mit der wir in keiner Weise übereinstimmen. Als ein mit den höchsten Abgaben und Steuern belastetes Land hat Deutschland laut OECD gar nicht für den anstehenden demografischen Wandel – die geburtenstarken Jahrgänge gehen jetzt in Rente – vorgesorgt. Wir haben bereits heute europaweit die geringsten Rentenzahlungen im Alter. Die deutschen Privathaushalte sind erwiesenermaßen – erwiesen durch eine Studie der Europäischen Zentralbank – fast die ärmsten in Europa.
Der Reichtum der Deutschen besteht in der Leistungsfähigkeit, spiegelt sich aber leider nicht in ihrem Vermögen wider. Und jetzt wollen Sie Grüne auch noch Sozialabgaben der Arbeitnehmer in Deutschland verschleudern. Ist es nicht genug, dass seit 2015 laut statistischer Erhebung dieser Regierung – Quelle: Destatis – über 5 Millionen Menschen ins Land eingewandert sind, darunter in weiten Teilen unberechtigte Asylanten – plus noch kommender Familiennachzug –, und laut Aussage von Herrn Weise, ehemals BAMF, 80 Prozent der Asylmigranten auf dem Arbeitsmarkt weder einsetzbar noch vermittelbar sind? Und jetzt sollen die Bürger in unserem Lande noch weiter, EU-weit, zur Kasse gebeten werden. Sie nennen das Solidarität; wir nennen das Enteignung.
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Solidarität ist gerade keine einseitige Sache. Solidarität setzt im Wesentlichen Leistungsbereitschaft, Leistungswillen und auch Leistungsgerechtigkeit voraus. Ansonsten ist es keine Solidarität, sondern es ist ein „verlorener Zuschuss“, wie es im Subventionsbetrieb sprachlich korrekt bezeichnet wird. Sie wollen Menschen, die in Deutschland ihre Beiträge im Vertrauen auf spätere Sicherheit bereits im Voraus leisteten, zu bloßen Zahlmeistern für jedermann degradieren. Das geht gegen jede Leistungsgerechtigkeit. Das ist bloßes Ausbluten dieses Staates. Es erfolgt aus Ihrer Sicht so lange, solange wir in Deutschland noch zahlungsfähig sind, und daran arbeiten Sie.
Wir Deutsche sollten schon heute viel mehr aus der Rentenkasse der älteren Generation bekommen, als eingezahlt wird. Das heißt in dem Falle: Wir haben momentan definitiv im Alter eine riesige Problematik der Altersarmut, und der Lebensabend ist bereits heute nicht ausreichend ausgestattet. Unsere Bürger verarmen, was immer weniger kaschiert werden kann, genauso wie die Infrastruktur Deutschlands immer mehr vernachlässigt wird, ja geradezu verkommt. Das müssen wir ändern, und da sollten wir herangehen.
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Was Ihren Antrag betrifft, so nehmen Sie ihn einfach, stecken Sie ihn in den Papierkorb, und recyceln Sie ihn bitte nicht. Denn wir sollten mal zur Abwechslung gemeinsam an die hiesige arbeitende Bevölkerung denken.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Glöckner für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute reden wir über einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen für bessere Sozialstandards in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union – ein gutes Thema. Der Koalitionsvertrag sieht vieles vor – was wir auch schon umgesetzt haben –, um sozialen Verwerfungen in Europa entgegenzutreten. Dass wir vieles umgesetzt haben, hat, Herr Strengmann-Kuhn, uns die Europäische Kommission in ihrem Länderbericht bestätigt.
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Wenn ich beispielsweise an Brückenteilzeit oder an Mindestlohn oder auch an viele Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf denke, dann komme ich zu dem Ergebnis: Es wirkt bei den Menschen ganz konkret und verbessert ihre Lebenslagen,
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aber eben nur in Deutschland und nicht in der Europäischen Union, also nicht EU-weit. Hier sage ich ganz klar: Uns als SPD-Fraktion geht vieles zu langsam und auch nicht weit genug.
Ich möchte Ihren Antrag nutzen, um auch mal auf einige Punkte hinzuweisen, die uns wichtig sind und die wir eben nicht nur in Sonntagsreden vertreten, sondern die wir auch stringent verfolgen, zuletzt in unserem Europawahlprogramm.
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Ich sage ganz deutlich: Es gibt die Europäische Sozialcharta, die verkündet wurde. Hiermit stehen wir für eine soziale Agenda mit verbindlichen Mindeststandards für alle europäischen Mitgliedstaaten, und zwar im Bereich der Mindestlöhne, auch im Bereich der Grundsicherungssysteme. Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat schon vor längerem ein kluges Modell vorgeschlagen, mit dem er sagt, er möchte einen europäischen Fonds einrichten, in den die Mitgliedstaaten in Zeiten, in denen es ihnen wirtschaftlich gut geht, einzahlen können und aus dem sie, wenn Beschäftigungskrisen kommen, finanzielle Unterstützung für ihre nationalen Arbeitslosenversicherungen abrufen können. Es ist ein großer Vorteil für die Menschen; denn es trägt dazu bei, dass in Zeiten, wo es ohnehin schwierig ist und es ihnen nicht gut geht, nicht noch zusätzlich Sozialleistungen gekürzt werden müssen. Das Modell von Olaf Scholz ist ein guter Vorschlag, und den unterstützen wir.
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Aber wir wollen auch im Bereich der Arbeitsbedingungen und im Bereich des Arbeitsschutzes viel verbessern, und deswegen brauchen wir starke Betriebsräte in den Betrieben. Wir brauchen eine Stärkung der Tariftreue, und wir wollen die Unternehmen belohnen, die sich tariftreu zeigen, beispielsweise ganz konkret durch eine verstärkte Berücksichtigung in Vergabeverfahren. Das ist ein wichtiger Punkt; denn damit verhindern wir innerhalb Europas, innerhalb der Europäischen Union, Tarifflucht und Mitbestimmungsflucht.
Lassen Sie mich über Digitalisierung sprechen. Wir sehen die Digitalisierung als Chance. Aber wir sagen auch: Digitalisierung muss allen nutzen – den Unternehmen und den Beschäftigten. Deshalb sagen wir Ja zu modernen Arbeitszeitmodellen. Aber wir sagen Nein dazu, dass immer mehr Beschäftigte quasi wie Tagelöhner auf Abruf für ihre Arbeit bereitstehen müssen.
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Und wir sagen Nein dazu, dass Beschäftigte 24 Stunden lang online für ihre Unternehmen verfügbar sein müssen. Da sagen und fordern wir: Wir brauchen europäische Regeln.
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Genauso überfällig sind Regelungen für Onlineplattformen. Solche Plattformen gilt es einfach vom Markt auszuschalten, wenn ihr Geschäftsmodell darin besteht, dass sie sich Wettbewerbsvorteile verschaffen, indem sie permanent Mindeststandards unterlaufen. Das sind klare Positionen von uns, und sie sind keinesfalls nur in Sonntagsreden zu finden.
Bei allem, was wir sagen, muss ich auch ganz klar darauf hinweisen: Wir müssen immer an die Menschen mit Behinderungen denken. Das Thema Inklusion begleitet alle Themen, auch europaweit.
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Deswegen fordert die SPD einen Masterplan für europäische Inklusion, um das Leben, die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen europaweit zu verbessern. Davon habe ich in Ihrem Antrag, ehrlich gesagt, nichts gelesen.
Ich sage auch, Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns auf das konzentrieren, was wesentlich ist. Es wurde vielfach gesagt: Armut und Ausbeutung entgegenzuwirken, das macht die Akzeptanz bei den Menschen in der Europäischen Union größer, das verstärkt das Vertrauen, weil sie die Vorteile einer Europäischen Union spüren.
Kommen Sie bitte zum Punkt.
Mein letzter Satz. – Abschließend will ich sagen: Es geht nicht nur darum, mit einem sozialeren Europa nationalistische und populistische Tendenzen zu verhindern. Schauen Sie nach draußen, und sehen Sie, was sich in der Welt tut. Wir brauchen eigene europäische Antworten in Bezug auf die neuen Haltungen in der Welt, und das bekommen wir nur mit einem sozialeren Europa, mit verbindlichen Mindeststandards, die den Menschen zugutekommen, und darüber wollen wir von der SPD mit Ihnen reden.
Vielen Dank.
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Für den weiteren Verlauf der Debatte: Die Ankündigung des Abschlusses des Redebeitrages ersetzt diesen Punkt nicht. Wir gehen mit allen Fraktionen gleich um. Das heißt, Sie sprechen nach meiner Ermahnung in jedem Fall auf Kosten der nachfolgenden Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion.
Das Wort hat der Abgeordnete Carl-Julius Cronenberg für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen eröffnete den Europawahlkampf – Katja Leikert hat darauf hingewiesen – mit einem Antrag mit dem schönen Titel „Für ein Europa, das schützt“. Wie könnte man dagegen sein? Nach der Einführung habe ich verstanden, was die Grünen eigentlich wollen: mehr Deutschland in Europa. Meine Damen und Herren, wir Freie Demokraten wollen kein deutsches Europa; wir wollen ein europäisches Deutschland. Das macht den Unterschied.
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Ich erahne schon die Reaktion unserer europäischen Partner, wenn sie in Fragen der Sozial- und Arbeitspolitik ihr Heil in den Vorstellungen der deutschen Grünen finden sollen. Mehr Zusammenhalt in Europa erwarte ich davon jedenfalls nicht. Was meinen Sie eigentlich genau mit dem Satz – ich zitiere –: „... Arbeits- und Sozialstandards sind … unterentwickelt.“ Finden Sie, sie sind in China, in den USA oder in Indien weiter entwickelt? Europa erwirtschaftet mit 7 Prozent der Weltbevölkerung 23 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts und steht für 40 Prozent der weltweiten Sozialausgaben. Meine Damen und Herren, das ist nicht unterentwickelt; das ist der Erfolg von sozialer Marktwirtschaft.
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Ist deswegen alles in Ordnung? Nein, natürlich nicht. Arbeits- und Sozialstandards sind immer weiterzuentwickeln – die Vorredner sind darauf eingegangen –, allein schon deswegen, weil sich Technologien und Märkte stetig ändern. Allerdings haben wir uns in der EU entschieden, die Ausgestaltung der sozialen Sicherung in der Souveränität der Mitgliedstaaten zu belassen, und zwar aus gutem Grund: Sozialleistungen sind der größte Posten im Haushalt, beitrags- oder steuerfinanziert, und immer extrem eng miteinander verwoben. Da aber die EU keine Steuern erhebt, fehlt ihr schlichtweg die demokratische Legitimation, in die Arbeits- und Sozialsysteme einzugreifen. Einzige Ausnahme ist die Koordinierung grenzüberschreitender Tatbestände. Wer also einen europäischen Sozialstaat fordert, der verletzt das Prinzip der Subsidiarität und delegitimiert damit Europa. Das schafft keinen Zusammenhalt; das spaltet.
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Wie wollen Sie beispielsweise unseren Nachbarn in Tschechien erklären, dass sie jetzt so etwas wie das französische Revenu de solidarité active einführen sollen? Tschechien hat 2,3 Prozent Arbeitslosigkeit, Frankreich 9 Prozent. Tschechien hat 34 Prozent Staatsverschuldung, Frankreich 100 Prozent. Tschechiens Wirtschaft wächst um 3 Prozent, Frankreichs gerade einmal um die Hälfte. Tschechien befindet sich mitten in der Aufwärtskonvergenz, genau wie viele andere Länder in Ost-, Nordost- und Südosteuropa. Wir sollten sie nicht dabei stören.
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Nehmen wir die Forderung nach einem europäischen Mindestlohnrahmen. In Österreich gibt es keinen gesetzlichen Mindestlohn. Wollen Sie die zwingen, obwohl Österreich hohe Sozialtransfers und -standards, eine niedrige Arbeitslosigkeit und ein großzügiges Rentensystem hat? Oder geht es in Wahrheit darum, durch die politische Hintertür den deutschen Mindestlohn auf über 12 Euro zu hieven und die unabhängige Mindestlohnkommission zu entmachten? Da finde ich die Linken schon ehrlicher, die die 12 Euro direkt fordern.
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Sie fordern den gleichen Stellenwert für soziale Rechte von Arbeitnehmern und wirtschaftliche Freiheit des Binnenmarktes. Da geht der Vertrag über die Europäische Union doch heute schon deutlich weiter. In Artikel 3 steht, dass die soziale Marktwirtschaft den Zielen des sozialen Fortschritts zu dienen hat. Was wollen Sie denn noch mehr? Entscheidend ist doch, dass wir die Sozialtransfers erst dann auszahlen können, wenn vorher etwas erwirtschaftet wurde. Solide Finanzen im Staatshaushalt und in den sozialen Sicherungssystemen sind Voraussetzung für soziale Sicherheit. Schauen Sie nach Italien, schauen Sie nach Griechenland. Die haben hohe Schulden und hohe Arbeitslosigkeit. Das taugt doch auch nichts.
Der Zusammenhalt in Europa ist uns wichtig. Ich rate, auf Bevormundung und Besserwisserei zu verzichten und stattdessen auf Mehrwert und Aufwärtskonvergenz zu setzen. Respektieren wir die Souveränität in der Arbeits- und Sozialpolitik, und nutzen wir die Chancen des größten Binnenmarktes der Welt! So stärken wir den Zusammenhalt in Europa, den wir uns alle wünschen.
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Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Alexander Ulrich das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! CDU/CSU, FDP und AfD haben mit der heutigen Debatte dem sozialen Europa eine Absage erteilt. Insoweit ist die heutige Debatte schon mal gut; denn so können wir mit diesen Klarheiten in die nächsten Wochen gehen.
Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise befindet sich die Europäische Union in einer Dauerkrise. Die Krisenbewältigung hat auch dazu geführt, dass dieses Europa nicht sozialer geworden ist, sondern unsozialer. Denn in den betroffenen Mitgliedsländern ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, und der soziale Abstieg hat sich verstärkt. Und diese europäische Realität für die Menschen, diese Verschlechterung ist durch die Europäische Union, durch die Troika verordnet worden.
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Sie empfinden diese Art der europäischen Politik nicht als Lösung ihrer Probleme, sondern mit als Ursache ihrer Probleme,
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und sie verlieren durch diese Art der Politik auch das Vertrauen in die EU.
Als Herr Juncker damals seine Kommission vorgestellt hat, hat er gesagt, das wäre die Kommission der letzten Chance. Er hat gesagt: Wir haben nur dann Erfolg, wenn wir die Europäerinnen und Europäer näher an Europa heranbringen. – Er sagte sogar, er wolle ein Europa mit einem sozialen Triple-A-Rating; das sei genauso wichtig wie ein wirtschaftliches und finanzielles Triple-A-Rating. Das war zu Beginn der Juncker-Kommission. Heute müssen wir leider feststellen: Diese letzte Chance hat die EU bisher nicht genutzt.
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Mit einer Politik der Privatisierung, des Sozialabbaus und der Marktradikalisierung haben die Armut und die soziale Spaltung in den letzten Jahren noch mehr zugenommen. Schuld daran hat auch die Bundesregierung in Deutschland, die in persona Merkel und Schäuble diese unsoziale Politik nach Europa getragen hat.
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Die Troika hat in die Tarifautonomie verschiedener Länder eingegriffen, damit das Lohnniveau gesenkt wird. Sie hat den Wettbewerb nach unten in der ganzen EU verschärft. Was „Flexicurity“ genannt wird, zielt darauf, Tarif- und Sozialstandards abzusenken. So wie diese EU aufgestellt ist und so wie auch diese Bundesregierung in der EU-Politik agiert, kommen dabei nur mehr Niedriglöhne, prekäre Arbeit und die Zunahme von Armut und Umverteilung von unten nach oben zustande. Diese Politik muss am Tag der Europawahlen am 26. Mai 2019 abgewählt werden.
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Die Folgen sind sehr gravierend. Wenn man sich die Zahlen anschaut, sieht man, dass inzwischen jeder fünfte EU-Bürger von Armut bedroht oder arm ist. Der größte Skandal ist: 25 Millionen Kinder leben in einkommensschwachen Haushalten. Wer da davon redet, dass diese EU Wohlstand für alle bringt, verkennt diese Realitäten. Deshalb muss klar sein: Wir müssen aufhören mit einer Politik, die nur die Banken, die Großwirtschaft und die Kapitalseite in den Mittelpunkt rückt. Wir müssen die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt rücken.
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Der Antrag der Grünen geht in die richtige Richtung. Man könnte auch sagen: Es steht vieles aus unserem Wahlprogramm drin. – Deshalb können wir diesen Antrag auch unterstützen. Aber, Herr Strengmann-Kuhn, eine Frage müssen Sie natürlich trotzdem irgendwann beantworten. Ihre Parteiführung robbt sich fast täglich an die CDU/CSU für eine große Koalition ran. Wir haben heute aber wieder gemerkt: Mit der CDU/CSU kriegen Sie diese Politik nicht umgesetzt. Deshalb wäre es gut, wenn wir vom sozialen Europa nicht nur in Wahlkämpfen reden, sondern auch in den fünf Jahren dazwischen, wie es meine Partei und Fraktion Die Linke macht.
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Dass diese Politik, diese Spaltung, auch schlimme Auswirkungen hat, sieht man daran, dass immer mehr Menschen abgehängt werden. Das führt genau dazu, dass Rechtspopulisten so erfolgreich sind – auch in Deutschland. Deshalb sage ich ganz deutlich: Wenn wir den Rechtspopulisten in Europa und Deutschland das Wasser abgraben wollen, brauchen wir eine Politik für mehr soziale Gerechtigkeit.
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Wer das nicht unterstützt, wird den Rechtspopulisten im Prinzip zu weiteren Wahlerfolgen verhelfen. Deshalb müssen endlich auch die CDU/CSU und die FDP erkennen, was hier in Europa schiefläuft.
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Herr Strengmann-Kuhn, natürlich brauchen wir eine soziale Fortschrittsklausel, damit die sozialen Rechte der Arbeitnehmer dann auch den wirtschaftlichen Freiheiten des Binnenmarktes gleichgestellt wird. Natürlich brauchen wir einen europäischen Mindestlohn, der von 60 Prozent des Durchschnittslohnes ausgeht. Natürlich brauchen wir Grundsicherungen in den Bereichen Pflege, Gesundheit und Arbeitslosigkeit. Ja, wir wollen auch eine europäische Arbeitslosenversicherung, aus der sich die Länder in Krisenfällen bedienen können. Das brauchen wir für ein soziales Europa; da haben Sie unsere volle Unterstützung. Wir diskutieren das ja auch immer im Europaausschuss.
Was Sie aber in Ihrem Antrag vergessen, ist: Wir brauchen für eine soziale Gerechtigkeit auch Umverteilungen.
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Ich möchte, damit die AfD mit ihrer Rhetorik keinen Erfolg hat, indem sie sagt, der deutsche Arbeitnehmer müsste bezahlen, was Sie fordern, einmal deutlich machen: Soziale Gerechtigkeit und Umverteilung sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Wir müssen Reichtum, hohe Einkommen und Vermögen in Europa endlich stärker besteuern, damit das auch vernünftig finanziert werden kann.
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Es wäre wünschenswert, wenn wir vielleicht in den Ausschussberatungen noch ergänzen könnten, wie die Finanzierung aussieht. Denn noch einmal: Ich glaube, dass diese fehlende Umverteilungspolitik mit dazu führt, dass die sozialen Gräben in Europa und auch in Deutschland immer größer werden.
Wir müssen darüber hinaus die Gewerkschaften auf europäischer Ebene stärken. Wir brauchen mehr europäische Tarifverträge. Wir brauchen mehr Mitbestimmung und einen Ausbau der Europäischen Betriebsräte. All das ist dringend notwendig und müsste auf europäischer Ebene umgesetzt werden.
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Ich komme zum Schluss. Wir haben am 26. Mai 2019 alle die Chance, einem sozialen Europa Rückenwind zu geben. Das bedeutet natürlich auch, dass man CDU/CSU, FDP und AfD nicht wählen sollte. Denn ein soziales Europa ist mit diesen Parteien nicht möglich. Bei SPD und Grünen ist es aber auch so. Wir müssen endlich davon wegkommen, nur kurz vor Wahlen darüber zu reden. Wir müssen diese soziale Politik auch nach den Wahlen endlich umsetzen. Denn noch ist es nicht zu spät, diesem Europa eine letzte Chance zu geben. Wir als Linke machen klar: Wir streiten für die Millionen und nicht für die Millionäre.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen werben in ihrem Antrag für ein Europa, das schützt, und damit mit dem Leitgedanken aus der Rede von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zur Lage der Europäischen Union im September 2016. Dieses Motiv wurde später auch vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz für die österreichische Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018 übernommen. Nun also auch die Grünen.
Der vollständige Titel der damaligen Juncker-Rede lautete übrigens: „Hin zu einem besseren Europa – einem Europa, das schützt, stärkt und verteidigt“. Das ist richtig. Wir müssen uns aber auch dem sozialen Frieden in Europa widmen; denn dieser ist momentan in erheblichem Maße bedroht. Es ist die grassierende Jugendarbeitslosigkeit insbesondere in den südeuropäischen Ländern, die uns Sorgen machen muss. Ausgebildete junge Leute stoßen in ihrer Heimat auf einen Arbeitsmarkt, der ihnen keine Perspektive bietet. Ursachen hierfür sind fehlendes Wachstum und fehlende nationale Wirtschafts- und Innovationspolitik.
Ein gutes Beispiel dafür ist aktuell Italien. Die OECD stellt in ihrem jüngsten Bericht vom Anfang dieses Monats fest, dass Italien wirtschaftlich stillsteht. Das BIP wird 2019 schrumpfen. Die Neuverschuldung steigt stärker als geplant um 2,5 Prozent und die Gesamtverschuldung auf einen neuen Rekordwert von 134 Prozent. Matteo Salvini, übrigens ein Freund der AfD, wird zum gefährlichsten Schuldenmacher Europas.
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Im Europawahlprogramm der AfD ist zu lesen, sie wolle die Bürger vor der Euro-Krise schützen. Das ist angesichts solcher Freunde einmal mehr völlig unglaubwürdig.
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Die Arbeitslosigkeit wird in Italien voraussichtlich weiter steigen. Völlig zu Recht mahnt die OECD deshalb Italien zu Strukturreformen und zur Einhaltung des europäischen Stabilitätspaktes.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Arbeitsplätze entstehen nur dort, wo Wirtschaft wächst. Deshalb ist klar: Das soziale Europa fängt damit an, dass jedes Land seine wirtschaftspolitischen Hausaufgaben erledigt. Dazu bedarf es einer verantwortungsvollen Politik, die Wachstumsimpulse setzt, die Wettbewerbsfähigkeit stärkt und neue Arbeitsplätze schafft – gerade für die junge Generation. Was macht stattdessen die italienische Regierung? Sie gönnt ihrer Klientel soziale Wohltaten: einen üppigen Bürgerlohn, eine kostspielige Rentenreform. Sie zeigt der OECD die kalte Schulter und denkt nicht an Umkehr. Das ist eine ungeheuerliche Verantwortungslosigkeit, insbesondere im Umgang mit dem Schicksal der jüngeren Bürgerinnen und Bürger, die heute arbeitslos sind und morgen die italienischen Staatsschulden bedienen dürfen.
Nun komme ich zum Antrag der Grünen.
Kollege Hahn, bevor Sie das tun, muss ich Sie fragen, ob Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Kleinwächter aus der AfD-Fraktion zulassen.
Ja, bitte.
Frau Präsidentin! Vielen Dank, sehr geehrter Herr Hahn, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben in Ihren Ausführungen gerade eine Quasiidentität hergestellt aus Herrn Salvini und der AfD. Gerade haben wir in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates die Diskussion – ausgerechnet insbesondere die EVP verfolgt diese Strategie –, dass alle Parteien, die in dieser großen Versammlung vertreten sind, in eine europäische Parteienfamilie gezwungen werden sollen bzw. dass Fraktionsbildungen nur dann zugelassen werden, wenn die Parteien einer europäischen Parteienfamilie angehören. Dagegen sind wir.
Ist es überhaupt Teil Ihres Gedankenkonstrukts oder Ihrer Vorstellungskraft, dass Parteien in Europa mit anderen Parteien reden, ohne deren Inhalte zu teilen, dass man Unterschiede hat und dass man auch das ganze Konzept europäischer Parteienfamilien ablehnen könnte? Wir stehen gerade nicht dafür, dass alle das Gleiche vertreten sollen, sondern dafür, dass jede Partei in jedem einzelnen Land versuchen muss, für jeden einzelnen ihrer Bürger das Beste herauszuholen. Das ist doch die Position echter souveräner Zusammenarbeit in Europa und nicht, dass von oben nach unten Dinge vorgegeben werden, was dann zu Quasiidentitäten zwischen unterschiedlichen Parteien in unterschiedlichen Ländern führt, wie Sie das gerade angedacht und insinuiert haben. Ist das im Rahmen Ihrer Vorstellungskraft?
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Herr Kollege Kleinwächter, ich weiß nicht, was Ihre Zwischenfrage mit dem Antrag zur europaweiten sozialen Absicherung – so dessen Überschrift – zu tun hat. Ich will Ihnen aber trotzdem antworten; denn tatsächlich ist sozusagen innere Substanz von Demokratie, dass man sich miteinander auseinandersetzt und miteinander redet, dass selbstverständlich auch verschiedene Parteien miteinander reden. Das ist gar keine Frage. Aber es ist natürlich schon auffällig, dass Sie am liebsten mit denjenigen reden, die Europa rückabwickeln wollen, die Europa wieder zurück zu den Nationalstaaten bringen wollen, die den Frieden, die Freiheit und den Wohlstand Europas gefährden. Das wollen wir Ihnen und den Bürgerinnen und Bürgern Europas jedes Mal deutlich machen. Bei dieser Europawahl geht es darum, genau dagegen anzukämpfen.
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Aber nun zum Antrag der Grünen. Die Gedanken – das hat die Kollegin Katja Leikert schon ausgeführt – der Subsidiarität und der Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten für ihre Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik kommen in Ihrem Antrag praktisch nicht vor. Sie wollen stattdessen alles harmonisieren und einen neuen Topf schaffen, eine neue europäische Arbeitslosenversicherung. Also wieder neue Umverteilung statt Innovation! Dabei müsste die Eigenverantwortung doch der Ausgangspunkt sein, insbesondere in der Arbeits- und Sozialpolitik. Wenn die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten im Sinne der Subsidiarität verneint wird, haben die Populisten auf beiden Seiten des politischen Spektrums leichtes Spiel, die Schuld für die wirtschaftliche Misere in den Ländern auf Brüssel zu schieben und die Axt an den Zusammenhalt Europas zu legen. Das wäre grob fahrlässig.
Es ist ein gutes politisches Prinzip der EU, nach dem Subsidiaritätsgedanken die Verantwortung dort zu verorten, wo die Probleme am besten gelöst werden können. Deshalb ist klar: Die Mitgliedstaaten bleiben für die sozialen Sicherungssysteme, Regulierungen zum Mindestlohn oder der Altersvorsorge selbst verantwortlich. Eine europäische Arbeitslosenversicherung kommt für CDU und CSU deshalb nicht in Frage, genauso wenig wie eine unverantwortliche Erleichterung beim Zugang in unsere sozialen Sicherungssysteme. Die europäische Ebene muss sich auf Grundstandards bei Arbeitnehmerrechten konzentrieren. Zudem müssen wir die Mobilität von Arbeitnehmern in der EU weiter verbessern, möglichst unbürokratisch gestalten und besser koordinieren. Dabei gilt es auch, den Missbrauch der Sozialsysteme zu bekämpfen, insbesondere beim Kindergeld.
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Die europäische Erfolgsgeschichte wollen CDU und CSU fortschreiben: mit soliden Finanzen, mit verlässlichen sozialen Sicherungssystemen, mit Förderung von privaten Investitionen und Reformen für Wachstum und Beschäftigung. In den kommenden fünf Jahren sollen so 5 Millionen neue Arbeitsplätze in ganz Europa entstehen. Das ist unser Europa, das schützt und den Zusammenhalt in Europa stärkt.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Jörg Schneider für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Soziale Absicherung EU-weit, das möchten die Grünen. Nun, ich denke, wenn es üblich wäre, dass man in Frankreich und Spanien studiert, danach in Deutschland und Italien arbeitet und seine Rente dann vielleicht abwechselnd in Finnland und in Griechenland genießt, würde das vielleicht noch Sinn machen. Aber so ist es doch nicht. Gerade einmal 2 Prozent der Bürger der Bundesrepublik Deutschland leben im EU-Ausland. Die wenigen, die tatsächlich solche internationalen Biografien haben, sind doch in aller Regel sehr gut ausgebildete Menschen, die auch gut verdienen und deswegen gar nicht auf Sozialleistungen angewiesen sind.
Ja, für wen brauchen wir dann Sozialsysteme? Nun, zum Beispiel für die Menschen, die schon in ihrem Heimatland Probleme haben, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Deren Probleme sollten wir bitte schön nicht zentral lösen, sondern in den Heimatländern.
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Deswegen sagen wir ganz klar Nein zu einer europäischen Sozialversicherung. Sozialversicherung und letztendlich auch Sozialgesetzgebung müssen weiter eine nationale Aufgabe bleiben.
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Die Grünen wünschen sich Mindeststandards im Gesundheitssystem. Aber es ist sozusagen eine Errungenschaft der EU, die daran gerade die Axt anlegt. Ich spreche von der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Diese hat katastrophale Folgen. Ärzte verlassen in Scharen zum Beispiel Rumänien. Rumänien hat mittlerweile die geringste Ärztedichte in der EU. Nutzt uns das? Ich sage es einmal so: Wenn ein Arzt aus Rumänien nach Deutschland auswandert, dann hat Rumänien einen Arzt weniger, und wir haben einen Hilfskrankenpfleger mehr; denn dieser Arzt ist auf Jahre hinaus alleine aufgrund sprachlicher Defizite hier als Arzt nicht einsetzbar.
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Es ist letztendlich die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die unsere Standards gefährdet: in Rumänien dadurch, dass dort Ärzte fehlen, und hier bei uns dadurch, dass wir immer mehr Ärzte haben, die nicht vernünftig Deutsch sprechen können. Die EU ist hier nicht Teil der Lösung, die EU ist hier ganz klar das Problem, meine Damen und Herren.
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Dann sagen Sie, die EU solle zur Garantin sozialer Rechte werden. Wenn ein Staat Mitglied der EU werden will, dann muss er die sogenannten Kopenhagener Kriterien erfüllen. Dazu gehört auch eine demokratische Ordnung. Jetzt gibt es mehrere Möglichkeiten: Hat ein Staat diese demokratische Ordnung nicht, dann hat er in der EU nichts verloren. Hat ein Staat diese demokratische Ordnung, dann sollen die Menschen bitte schön in diesem Land darüber entscheiden, wie viel Sozialstaat sie möchten.
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Vermutlich gibt es noch eine dritte Möglichkeit: Am grün-sozialistischen Wesen soll die EU genesen! Ihnen ist es vollkommen egal, was die Menschen in den einzelnen Mitgliedsländern wollen. Sie wollen per EU-Verordnung Ihre Vorstellung von Sozialpolitik in allen 28 EU-Ländern durchpeitschen, egal ob die Menschen das wollen oder nicht.
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Das ist das grün-sozialistische Europa: Es ist zentralistisch, es ist bürgerfern, und es ist vor allen Dingen undemokratisch. Wir von der AfD stehen für ein Europa, das bürgernah ist. Wir stehen für ein Europa der freien Vaterländer.
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Wir stehen vor allen Dingen für eine demokratische EU. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat die parlamentarische Staatssekretärin Bettina Hagedorn.
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Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ein Europa, das schützt – das ist eine Überschrift, die wir uns – Kollege Hahn hat schon darauf hingewiesen – in der Großen Koalition gerne zu eigen machen. Dies wird durch unseren Koalitionsvertrag bestärkt, in dem wir uns im ersten Kapitel, also an prominenter Stelle, mit Europa befassen. Das gab es noch nie zuvor so in einem Koalitionsvertrag in der Bundesrepublik Deutschland. Dort bekennen wir uns zu diesem starken Europa mit ehrgeizigen Reformzielen. Diese Bundesregierung ist jetzt seit gut einem Jahr im Amt, und wir haben vor, noch eine Weile im Amt zu bleiben.
({0})
Darum kann ich Ihnen versichern, dass wir gewillt sind, diesen Koalitionsvertrag und auch die Punkte im ersten Kapitel glaubwürdig und konsequent Schritt für Schritt umzusetzen.
Lieber Kollege Dr. Strengmann-Kuhn, Sie haben vorhin von Sonntagsreden gesprochen. Mit Verlaub, das wird dieser Bundesregierung mit ihrer Europapolitik nun wirklich nicht gerecht.
({1})
Denn ein Koalitionsvertrag ist ein Vertrag und keine Sonntagsrede.
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Wir arbeiten seit zwölf Monaten gemeinsam in enger Abstimmung zwischen Kanzlerin Merkel und Vizekanzler Scholz und – das ist ganz wichtig – im permanenten Dialog mit unseren französischen Freunden daran, die Widerstandsfähigkeit unserer Volkswirtschaften und damit auch die Finanzkraft für ein soziales und solidarisches Europa durch die nötigen Reformen zu stärken. Wir befinden uns damit auch auf der Basis des Beschlusses zur europäischen Säule sozialer Rechte vom 17. November 2017. Dies ist für uns eine Art Kompass.
Ich möchte für all diejenigen, die das nicht mehr so im Kopf haben, aus dem Koalitionsvertrag zitieren:
Soziale Grundrechte, insbesondere das Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Ort in der EU, wollen wir in einem Sozialpakt stärken. Wir wollen faire Rahmenbedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und eine bessere Koordinierung der Arbeitsmarktpolitik.
Weiter heißt es – auch Zitat –:
Wir wollen einen Rahmen für Mindestlohnregelungen sowie für nationale Grundsicherungssysteme in den EU-Staaten entwickeln.
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– Einen Rahmen, wohlgemerkt.
Wer konsequent gegen Lohndumping und soziale Ungleichheiten in wirtschaftlich schwächeren Ländern in Europa kämpft, sichert auch den Sozialstaat und die soziale Marktwirtschaft in Deutschland.
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Wir haben uns in intensiven Verhandlungen mit Präsident Macron und Minister Le Maire schon im Juni 2018 in Meseberg – das war nur wenige Monate, nachdem diese Regierung ins Amt kam – verbindlich auf wichtige Schritte verständigt, zum Beispiel auf einen Fahrplan für einen eigenen Euro-Zonenhaushalt. Wir haben uns auf Pläne zur weiteren Stabilisierung des europäischen Bankensektors, der Bankenunion verständigt. Wir haben Vorschläge zur Fortentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM, gemacht.
Es gab in Meseberg auch einen Prüfauftrag für eine Arbeitslosenrückversicherung als EU-Fonds. Das war ein Vorschlag von Finanzminister Olaf Scholz, der in der Bundesregierung bislang zwar noch nicht einhellig geteilt wird – das ist richtig – und der auch nicht – wie die anderen Dinge – im Dezember auf dem Euro-Gipfel verabredet worden ist, der aber auch nicht in der Versenkung verschwunden ist. Wie gesagt, wir wollen ja noch ein bisschen länger miteinander regieren. Auch wenn die Grünen jetzt in Punkt 8 ihres Antrags diesen Vorschlag quasi abgeschrieben haben, bleibt das Urheberrecht beim Finanzminister.
Ich möchte Folgendes festhalten – das hatte ich nicht vor, aber jetzt muss ich es sagen, Frau Kollegin Leikert, weil hier wieder fälschlicherweise gesagt wurde, dass eine Arbeitslosenrückversicherung angeblich ein Weg in die Transferunion ist –:
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Klar ist, dass es kein Transfersystem ist, sondern ein Rückversicherungssystem mit klaren Regeln als Basis.
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Klar ist auch, dass es keine Umverteilung – zuhören, Herr Amthor! – zulasten deutscher Steuer- oder Beitragszahler ist. Klar ist, dass ein Anspruch auf ein Darlehen nur diejenigen Länder haben, die selbst in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben.
Kollegin Hagedorn.
Es soll einen Anreiz bilden, dass in den Ländern, in denen es noch keine eigene nationale Arbeitslosenversicherung gibt, diese in nationaler Souveränität aufgebaut wird. Damit ist es ein System, das den Respekt vor nationalen Werten gewährleistet.
Kollegin Hagedorn, ich habe die Uhr angehalten, aber ich muss auch die Chance haben, Ihnen die Frage zu stellen, ob Sie eine Frage oder Bemerkung von den Grünen zulassen.
Von wem? Ich habe es akustisch nicht verstanden.
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– Von den Grünen, ja.
Vielen Dank für die Gelegenheit, die Zwischenfrage zu stellen. – Frau Staatssekretärin, da Sie uns ermutigen, einfach darauf zu vertrauen, dass diese Regierung noch lange arbeiten will und die Punkte schon abgearbeitet werden, möchte ich jetzt auf das zu sprechen kommen, was Sie gerade zu einer europäischen Arbeitslosenversicherung gesagt haben. Uns ist sehr wohl bekannt, dass Finanzminister Scholz und die Sozialdemokraten Sympathien für diese Idee haben, aber mir ist bisher nicht bekannt oder bestätigt worden, dass dieses Vorhaben auch konsequent im Rahmen Ihrer Regierung weiterverfolgt wird. Wenn Sie das hier jetzt so vortragen, möchte ich fragen: Ist es so, dass die Idee einer Arbeitslosenrückversicherung, wie wir sie im Antrag skizziert haben, durch Ihr Regierungshandeln in dieser Legislaturperiode weiter vorangetrieben wird? Können Sie das für die Große Koalition sagen?
Liebe Kollegin Hajduk, ich habe das, glaube ich, eigentlich schon beantwortet, aber ich will es gerne noch einmal betonen. Ich habe gesagt, dass das in Meseberg vorgebracht worden ist und dort gemeinsam in der Großen Koalition ein Prüfauftrag gestellt wurde. Ich habe auch gesagt, dass dieser Vorschlag im Moment nicht Gegenstand von Regierungshandeln ist, er aber trotzdem nicht in der Schublade verschwunden ist.
Ich will Ihnen auch erklären, warum ich das so gesagt habe, Kollegin Hajduk. Letzten Endes befinden wir uns in vielen Bereichen auf europäischer Ebene immer noch mitten in Verhandlungen. Ich habe ja schon einige Stichworte genannt: die Fortentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion, der ESM, die Bankenunion, auch der Aufbau eines Euro-Zonenbudgets. Das alles sind Dinge, die wir uns gemeinsam mit Frankreich vorgenommen haben und die natürlich nicht über Nacht vervollkommnet werden.
Ich will darauf hinweisen – das habe ich gestern im Haushaltsausschuss schon getan –, dass Deutschland in der zweiten Jahreshälfte 2020 die EU-Ratspräsidentschaft innehaben wird. Das ist nach der Europawahl. Das ist nach der Amtsübernahme einer neuen Kommission. Dann wird es in Europa darauf ankommen, diese Dinge gemeinsam zusammenzuführen. Wir werden uns dann auf Augenhöhe mit allen anderen 26 Partnern auf ein Gesamtpaket verständigen müssen.
Ob das dann da eine Rolle spielt oder nicht – ich würde mir das wünschen, die Kollegen von der Union vielleicht nicht –, weiß ich nicht. Aber wir müssen am Ende zu guten Lösungen für Europa kommen. Dazu mag das ein Baustein sein. Denn – dieser Satz sei mir noch gestattet – ich glaube, es ist für jeden erkennbar gewesen, dass Emmanuel Macron in seinem Artikel, den er im März veröffentlicht hat, das Soziale eindeutig stärker betont als in der Rede in der Sorbonne. Insofern weckt das bei uns die Hoffnung, dass da mehr geht, als man am Anfang vermutet hat.
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Frau Staatssekretärin, ich habe jetzt die Situation, dass Sie es geschafft haben, noch zwei weitere Wortmeldungen zu generieren. Gleichzeitig bin ich gehalten, dafür zu sorgen, dass sich die Redebeiträge hier nicht verdoppeln oder verdreifachen. Es haben sich gemeldet: der Abgeordnete Hebner aus der AfD-Fraktion und die Abgeordnete Brantner aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wenn Sie die Wortmeldungen überhaupt zulassen, dann würde ich dafür plädieren, dass sich beide jeweils maximal auf eine Minute beschränken. Wenn die Antwort, wenn es irgendwie geht, dann auch in einer Minute möglich ist, wäre das wunderbar. Dann können Sie zum sicherlich auch absehbaren Ende Ihres Beitrages kommen, und wir kommen in der Debatte voran.
Ich glaube, dass ich jetzt die Mehrheit des Parlamentes auf meiner Seite habe, wenn ich sage: Mit Blick auf den langen Debattentag
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und da ich die Frage von Frau Hajduk beantwortet habe, haben vielleicht alle Kollegen dafür Verständnis, wenn ich jetzt einfach fortfahre. Ich habe auch nur noch gut eine halbe Minute Redezeit. In dieser möchte ich meinen Gedanken zu Ende führen.
Ich hatte ja gerade dargestellt, was eine Arbeitslosenrückversicherung ist. Nur die Länder, die eine Arbeitslosenversicherung haben und in diese Rückversicherung eingezahlt haben, haben überhaupt die Chance, etwas herauszubekommen. Das soll dazu beitragen bzw. einen Anreiz bieten, dass Länder, die keine Arbeitslosenversicherung haben, diese aufbauen. Eines ist auch richtig: Es ist kein Geschenk, sondern ein Darlehen.
Eine abschließende Bemerkung sei mir noch gestattet. Die Große Koalition – es war allerdings eine frühere – hat in einer großen Krise 2008/2009 gute Erfahrungen damit gemacht, dass wir das Geld hatten, um das Kurzarbeitergeld zu implementieren, übrigens unter einem Arbeits- und Sozialminister Olaf Scholz. Das hat uns, der Großen Koalition, und Deutschland damals geholfen, gut durch die Krise zu kommen, und das sollten wir doch auch unseren europäischen Nachbarn gönnen.
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Das Wort hat Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, fordern Sie die Harmonisierung der sozialen Sicherungssysteme in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Beispielsweise fordern Sie die Einführung einer europäischen Rückversicherung für die nationalen Arbeitslosenversicherungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, gut gemeinte Umverteilung kann auch dazu führen,
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dass man soziale Probleme zementiert, und das darf nicht geschehen.
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Richtig ist, dass Europa stark ist, wenn wir soziale Probleme verhindern und ihnen vorbeugen. Richtig ist, dass Europa stark darin ist, soziale Probleme zu überwinden.
Die sozialen Probleme sind in den Ländern unterschiedlich. Auch der Arbeitsmarkt ist unterschiedlich. Schon in Deutschland ist er zwischen Norden und Süden und Ost und West an vielen Stellen unterschiedlich. Der Arbeitsmarkt in Portugal ist nicht vergleichbar mit dem in Deutschland, Luxemburg oder Rumänien.
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Deshalb müssen wir Lösungen zulassen und in Lösungen investieren, die passgenau sind für die konkreten lokalen Herausforderungen. Das ist schon seit 1957 mit dem Europäischen Sozialfonds gelungen. Passgenaue Lösungen sind das, was wir brauchen und was den Menschen am meisten hilft.
Richtig wäre es auch, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen – in diese Richtung argumentieren Sie auch; das ist der Teil Ihres Antrags, den ich unterstütze –, wenn wir beispielsweise in einen gemeinsamen Berufsausbildungsmarkt investieren würden. Dieser würde es den Schulabgängerinnen und Schulabgängern, den Abgängern aus Ausbildungen und Hochschulen ermöglichen, leicht in einen gemeinsamen Arbeitsmarkt einzutreten und leicht in den unterschiedlichsten Mitgliedstaaten Fuß zu fassen. Das wäre richtig. Es darf schließlich nicht sein, dass in manchen europäischen Ländern die Jugendarbeitslosigkeit grassiert und in anderen Ländern die Entwicklung wegen des Fachkräftemangels gehemmt ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Richtig wäre es auch, in die Zukunft zu investieren, zum Beispiel in den Glasfaserausbau, in den Infrastrukturausbau. Mithilfe dieser Investitionen würden wir soziale Probleme erst gar nicht entstehen lassen oder sie überwinden. Das wäre kluge europäische Politik. Darin sollten wir unsere soziale Politik für Europa sehen. Europapolitik muss Europa stark machen, aber nicht gleich machen. Das wäre nicht der richtige Weg.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun die Kollegin Katrin Staffler.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in der Diskussion heute viele Vorschläge dafür gehört, wie wir es schaffen, ein sozialeres Europa, eine sozialere Europäische Union zu gestalten. Manchem kann ich zustimmen, anderem definitiv nicht. Aber je länger ich mir diese Debatte anhöre, desto mehr bekomme ich das Gefühl, dass wir bei all diesen Vorschlägen, bei all den Maßnahmen, die hier heute auf den Tisch gelegt worden sind, das aus dem Blick verlieren, was eigentlich die zentrale Fragestellung sein sollte: Wie können wir die Europäische Union so weiterentwickeln, dass unsere Bürgerinnen und Bürger in Freiheit, in Wohlstand und in Sicherheit leben können?
Der Antrag, den wir hier heute beraten, versucht, eine Antwort auf die Frage zu geben. Aber um das zu Beginn dieser Rede auch schon vorwegzunehmen: In der Unionsfraktion haben wir eine andere Vorstellung davon, mit welchen Reformen es uns gelingen wird, das Ziel, das ich formuliert habe, zu erreichen.
Wir sind davon überzeugt, dass wir ein modernes und nachhaltiges soziales Europa brauchen, damit wir die heutigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen bewältigen können und damit wir sicherstellen, dass allen EU-Bürgern die gleichen Ausgangsbedingungen geboten werden können.
Wir glauben aber auch, dass die Weiterentwicklung der sozialen Dimension der EU eben nicht dem Ziel dienen soll, dass man nationale Sozialsysteme harmonisiert und angleicht. Vielmehr muss es uns gelingen, die einzelnen Systeme auf Basis von gemeinsamen Prinzipien besser aufeinander abzustimmen. Dabei müssen wir den Menschen in den europäischen Mitgliedstaaten in Bezug auf die sozialen Fragen Minimalstandards garantieren. Das alles muss dann unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips passieren.
Warum habe ich das Subsidiaritätsprinzip genannt? Weil die Sozialmodelle der Mitgliedstaaten über die Jahre und Jahrzehnte hinweg unabhängig voneinander und individuell entstanden sind. Wenn wir jetzt versuchen, einzelne Teile vollständig zu verändern, dann wäre es so, als ob wir versuchen würden, einem komplexen Bauwerk eine tragende Säule zu entnehmen und durch eine Säule aus einem völlig anderen Haus zu ersetzen. Mir persönlich wäre die Gefahr, dass dann beide Häuser zusammenbrechen könnten, ehrlich gesagt zu groß.
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Deshalb glaube ich nicht, dass ein einheitlicher europäischer Sozialstaat die richtige Antwort für Europa ist. Ich wünsche mir aber, dass das Modell der sozialen Marktwirtschaft europaweit greift, dass alle EU-Staaten in Eigenverantwortung ihre Hausaufgaben machen, um am Schluss das Ziel zu erreichen, das wir in Artikel 3 Absatz 3 des Vertrags über die EU beschrieben haben, nämlich eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt.
Was heißt das konkret? Konkret heißt das zum Beispiel, dass die Freizügigkeit des Binnenmarkts dazugehört. In dem Rahmen muss man beispielswiese die Mobilität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer EU-weit verbessern. Wir müssen sie unbürokratisch gestalten, und wir müssen sie besser koordinieren, damit wir überall in der EU zu fairen Bedingungen arbeiten können.
Was wir außerdem brauchen, sind gemeinsame Grundstandards bei den Arbeitnehmerrechten. Für die sozialen Sicherungssysteme, für den Mindestlohn, für die Altersvorsorge sind am Ende des Tages allerdings die Mitgliedstaaten selbst verantwortlich, und ich bin der Meinung, dass sie dies auch bleiben sollen.
Wir müssen darüber hinaus sicherstellen, dass die Freizügigkeit nicht zum Missbrauch der Sozialsysteme von einzelnen Mitgliedstaaten führt; Herr Kollege Hahn hat das schon ausgeführt. Dies bedarf aber einer engeren Zusammenarbeit aller Mitgliedstaaten.
Ich möchte zum Schluss auf einen Punkt zu sprechen kommen, den ich, ehrlich gesagt, für viel, viel wichtiger halte als die Sozialsysteme, die die Menschen auffangen. Jetzt verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Natürlich brauchen wir die soziale Absicherung; diese ist ohne Frage wichtig. Aus meiner Sicht gibt es aber noch etwas, was viel wichtiger ist. Ich meine, dass wir uns erfolgreich darum kümmern müssen, dass die Menschen diese Sicherungssysteme erst gar nicht benötigen. Was wir dringend brauchen, sind Investitionen in die Zukunft der Menschen. Deswegen ist es richtig, dass wir in den vergangenen Jahren mehr Geld in Bildung, in Ausbildung und in Qualifizierung gesteckt haben. Erasmus+, Europäischer Sozialfonds, Beschäftigungsinitiative für junge Menschen – all das sind Beispiele dafür.
Die Initiativen sind es aus meiner Sicht, die den jungen Menschen tatsächlich mehr Sicherheit für ihre Zukunft geben. Deswegen müssen wir diese Projekte nicht nur fortschreiben, sondern wir müssen uns, wenn wir in die Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen eintreten, auch dafür einsetzen, dass künftig mehr Mittel für den Bereich Bildung zur Verfügung stehen.
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Wenn es uns dann auch noch gelingt, dass in allen Mitgliedstaaten auch ältere Menschen, Menschen mit Behinderung und alle, die es schwer auf den Arbeitsmärkten haben und die unsere Unterstützung brauchen, von den genannten Förderungen profitieren können, dann ist genau das das soziale Europa, das ich mir wünsche; denn dann hat jeder eine Chance auf Teilhabe am Wohlstand und kann sein Leben eigenverantwortlich selbst bestimmen. Ich glaube, das ist es, wofür wir gemeinsam kämpfen müssen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Metin Hakverdi für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir heute beraten, wird mit Artikel 3 des EU-Vertrages eingeleitet. Das hat mich sehr gefreut; denn Artikel 3 des EU-Vertrages erinnert uns daran, worum es in Europa und in der Europäischen Union geht. Die Union fördert den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen der Völker. Wenn wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Europa und die europäische Integration in den Mittelpunkt unserer Politik stellen, dann meinen wir genau diese Ziele.
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Es geht uns darum, dass die Menschen bei uns in Deutschland, in Ihren Wahlkreisen, in meinem Wahlkreis Hamburg-Bergedorf, Harburg und Wilhelmsburg ein gutes Leben führen können. Ich meine ein Leben in Freiheit, ein Leben in Frieden und ein Leben in Sicherheit – auch in sozialer Sicherheit. Darum ging es uns, als wir im Koalitionsvertrag mit der Union das Kapitel zu Europa an die erste Stelle setzten und dem Koalitionsvertrag die Überschrift „Ein neuer Aufbruch für Europa“ gaben.
Wir assoziieren mit Europa keine Geldpipeline, die in irgendwelche Länder verlegt wird, so wie das Herr Lindner und die FDP tun. Bei solchen Bildern wie „Geldpipeline“ geht es nicht um Frieden, Freiheit und Sicherheit. Mit solchen Bildern fördert man Nationalismus und Ausgrenzung.
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Mit solchen Bildern will man keine Verantwortung für unseren Kontinent und für die Menschen in unserem Land übernehmen. Und dass Herr Lindner keine Verantwortung für unser Land übernehmen will, ist uns ja hinlänglich bekannt; wir durften das am Anfang der Legislaturperiode erfahren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa ist mehr als eine Wettbewerbsgemeinschaft. Es ist mehr als die Organisation eines international wettbewerbsfähigen Wirtschaftsraums. Es muss auch mehr sein; denn nicht immer profitieren alle gleichermaßen von den Errungenschaften Europas und den Entwicklungen in Europa.
Ich begrüße den Antrag der Grünen ausdrücklich, finde ihn aber einseitig begründet. Klar, die Finanzkrise hat zu großen sozialen Verwerfungen geführt, für die sich alle Mitgliedstaaten verantwortlich fühlen müssen; da bin ich ganz bei Ihnen. Aber was ist mit dem ganz normalen Strukturwandel? Der Werftenkrise? Der Kohlekrise? Der Krise im Automobilsektor in den letzten Jahrzehnten? Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind der festen Überzeugung, dass diese Krisen unter dem Dach Europas gelöst werden müssen.
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Wir sind der festen Überzeugung, dass Europa mehr ist als eine reine Wettbewerbsgemeinschaft. Wir sind der Überzeugung, dass Europa eine Werte- und eine soziale Gemeinschaft ist. Es kann uns nicht egal sein, dass die Jugendarbeitslosigkeit im Süden unseres Kontinents besonders hoch ist, nur weil sie in Deutschland niedriger ist.
Und wir sehen in die Zukunft: Was passiert im Strukturwandel der Zukunft? Ja, wir sind positiv gestimmt in Bezug auf die Digitalisierung. Die Digitalisierung hat das Potenzial, unser Leben besser zu machen. Aber auch in Zukunft wird es Menschen in Europa geben, die den schnellen Anpassungsprozessen auf dem Arbeitsmarkt nicht so schnell hinterherkommen oder die sich in einer regional bestimmten Strukturkrise wiederfinden. Für diese Menschen – egal ob Bürgerinnen und Bürger Deutschlands, Spaniens, Frankreichs, Portugals usw. – muss Europa da sein.
Viele Menschen fragen sich und zweifeln, ob sie wirklich jede Entwicklung der Zukunft mitmachen können, ob sie das schaffen. Wir sehen überall in Europa, dass diese Verunsicherung Menschen auf die Straßen treibt. Diese Unsicherheit kann das europäische Projekt als Ganzes gefährden. Frau Kramp-Karrenbauer – die CDU/CSU insgesamt – tut sich schwer mit dieser Herausforderung. Aber Sie können doch nicht allen Ernstes als erste Antwort auf den französischen Präsidenten den Vorschlag unterbreiten, einen Flugzeugträger zu bauen.
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Zum Antrag der Bündnisgrünen. Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wer soziale Sicherheit anstrebt, sollte die Menschen nicht verunsichern. Ihre Vorschläge zum Zugang zu den nationalen sozialen Sicherungssystemen sind meines Erachtens nach weltfremd und überfordern alle. Ich freue mich allerdings, dass Sie den Vorschlag von Olaf Scholz, eine Arbeitslosenrückversicherung einzuführen, aufgenommen haben. Eine Arbeitslosenrückversicherung ist nicht nur solidarisch – das ist hier in unserer Runde heute vielleicht etwas untergegangen –, sie leistet vor allem einen Beitrag zur Finanzmarktstabilität. Ich freue mich auf die weiteren Debatten im Ausschuss.
Vielen Dank.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es freut uns sehr, dass Sie schon so zahlreich zur Abwicklung der folgenden Tagesordnungspunkte, unter anderem elf Abstimmungen, erschienen sind. Ich bitte Sie, Platz zu nehmen und den beiden folgenden Rednern in dieser Debatte auch noch zu folgen. – Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Frauke Petry.
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Kurz vor der Europawahl präsentieren Sie, liebe Grüne, Ihr sozialistisches Wunschkonzert. Sie beseitigen darin nicht nur die Erfolgsrezepte dieses Kontinents, nämlich Freiheit, Leistungsbereitschaft und Wettbewerb, sondern auch die nationale Souveränität der Bürger gleich mit. Sie erfinden neue angebliche Rechte von Arbeitnehmern und zerstören dabei vor allem im Mittelstand gut funktionierende Partnerschaften zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten, ganz ohne Gewerkschaften.
Was meinen Sie eigentlich mit der Demokratisierung der Wirtschaft? Gleiche Bezahlung für Akademiker und Arbeiter, für Erzieher und Professoren, weitere Quoten, von denen Sie ja offenbar nie genug bekommen?
Ihre Ideen lesen sich in weiten Teilen wie der Gründungsmythos der Deutschen Demokratischen Republik. Erst demokratisieren, dann verstaatlichen. Später verfolgen Sie dann EU-Kritiker so wie einst die DDR ihre Staatsfeinde und Dissidenten. Dabei haben Sie mit Manfred Weber, dem Spitzenkandidaten der Union, schon jetzt einen eifrigen Helfer. Herr Hahn von der CSU, Sie haben sich heute für ein freiheitliches Europa der demokratischen Kontroverse ausgesprochen. Dafür genießen Sie offenbar noch nicht einmal Rückhalt in Ihrer eigenen Partei.
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Es ist erschreckend, wie nur 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, nach Mauertoten, vertriebenen Familien und Unternehmern, nach einer indoktrinierten und ideologisch gleichgeschalteten Gesellschaft die menschenfeindlichen, sozialistischen Ideen in Deutschland und Europa Raum gewinnen. Ebenso erschreckend ist, dass ehemalige Christ- und Sozialdemokraten diesen Utopien mindestens in Teilen selbst auf den Leim gegangen sind und immer noch glauben, dass sie linke Ideologen dadurch zähmen können, dass sie auf allen politischen Themenfeldern vor ihren sozialistischen Blütenträumen zurückweichen.
Und auch die Methoden der Durchsetzung sind die alten. Sie wollen den deutschen Steuerzahlern weitere finanzielle Lasten aufbürden: Sie sollen für mehr Europäer in die Grundsicherung zahlen, für eine europäische Arbeitslosenversicherung und für die Unterstützung der Sozialsysteme anderer EU-Länder. Ich bin gespannt, wie Sie dies auf Dauer finanzieren wollen.
Der Euro zeigt leider, wie es nicht funktioniert. Gemeinschaftliche Haftung, 1 Billion Euro an Target2-Forderungen deutscher Steuerzahler, Griechenland-Kredite, Bargeldabschaffung und Negativzinsen sind die Symptome einer sichtbar kollabierenden Finanzpolitik, am Ende zulasten all derer, die privat und gesellschaftlich der Verlockung billigen Geldes widerstanden und schlicht nach den Maßstäben der schwäbischen Hausfrau gewirtschaftet haben.
Sie versprechen mit ihren sozialistischen Ideen eine europaweite Absicherung und vollführen ein groß angelegtes Täuschungsmanöver, indem Sie sagen, dass der Staat besser für die Bürger sorgen kann, als mündige Bürger und stabile Familien das selbst können. Wenn Sie Sozialismus und staatliche Kontrolle so schön finden, dann wandern Sie nach China oder Nordkorea aus; dort bekommen Sie die praktischen Erfahrungen im real existierenden Sozialismus, die Ihnen offenbar fehlen.
Um Europa zurück auf den Erfolgsweg zu führen, braucht es mehr regionale und nationale Autonomie und vor allem finanzielle Eigenverantwortung, zum Beispiel in Form einer deutschen Parallelwährung für Löhne, Gehälter, Renten und Spareinlagen. Wir Blauen stehen für ein tolerantes Europa der demokratischen Eigenverantwortung, für wirtschaftlichen Erfolg und Innovation, für kulturelle Vielfalt statt Harmonisierung –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– und für sozialen Frieden, ganz ohne grünen Sozialismus.
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Das Wort hat der Kollege Philipp Amthor für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, zumindest in einem Punkt können wir uns am Ende der Debatte einig sein – das haben die Grünen gesagt –: Ja, ein soziales Ungleichgewicht innerhalb der Europäischen Union ist durchaus dazu geeignet, den Zusammenhalt innerhalb der Europäischen Union zu gefährden.
Jenseits dieser Erkenntnis fordern Sie mit Ihrem Antrag aus unserer Sicht – das haben wir deutlich gemacht – zuallererst Widerspruch heraus. Denn aus unserer Sicht wird darin ein inkohärentes Bild der europäischen Sozialpolitik gezeichnet, außerdem gehen Sie aus meiner Sicht von einer völlig inkohärenten Auslegung des europäischen Unionsrechts aus.
Aber zunächst zu der Frage: Wie macht man in Europa eine gute Sozialpolitik? Sie verweisen in Ihrem Antrag auf die Finanzkrise und auf die Lehre, die man aus der Finanz- und Währungskrise ziehen müsste. Das ist sicherlich der richtige Ausgangspunkt, aber Sie ziehen daraus die völlig falschen Rückschlüsse. Sie sagen, das Ziel müsse mehr Umverteilung, mehr staatliche Leistungen und das soziale Füllhorn sein. Wir können Ihnen sagen: Das ist aus unserer Sicht der falsche Ansatz.
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Denn immer mehr soziale Verteilung im Rahmen der Sozialpolitik in Europa bekämpft in aller Regel nur die Symptome und nicht die Ursachen. Eine gute Sozialpolitik ist eine Politik, die bei der Bekämpfung der Ursachen ansetzt. Das tut man mit einer vernünftigen Wirtschaftspolitik. Uns muss es im Wesentlichen darum gehen, nicht auf mehr soziale Verteilung zu setzen, sondern auf solide Finanzen, auf eine Förderung von Investitionen, auf Reformen und Wachstum sowie auf Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit in den Mitgliedstaaten.
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Man kann sagen: Europaverdrossenheit löst man nicht durch Sozialgeschenke; ganz im Gegenteil.
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All diese Vorschläge, die hier auf dem Tisch liegen – europäischer Mindestlohn, weitere Verschärfung der Entsenderichtlinie oder auch eine ausgreifende Diskussion über eine europäische Arbeitslosenversicherung –, untergraben geradezu die Subsidiarität und das Prinzip der Eigenverantwortung. Wir lassen uns nicht von Sozialromantik leiten, sondern von Subsidiarität und Eigenverantwortung; das ist unser Konzept.
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Wir wollen eine Politik, die nicht Arbeitslosigkeit fördert, sondern Arbeit. Wir setzen auf ein System von Subsidiarität, Eigenverantwortung und Haftung. So geht eine kohärente Sozialpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Jenseits dieser groben Fehlvorstellung, wie man Sozialpolitik in Europa macht, will ich auch darauf hinweisen, dass ich in keiner Weise damit einverstanden bin, wie Sie die europäischen Verträge in rechtlicher Hinsicht auslegen. Das tun Sie nämlich viel zu extensiv, viel zu weitgehend, und Sie wollen dann auch noch Leistungsrechte aus der Grundrechtecharta konstruieren. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Das ist unionsrechtlich einfach schief. Schauen wir uns einmal an, welche Kompetenzen die Europäische Union hat. Ich zitiere aus Ihrem Antrag, wie Sie diese ganzen Sozialgeschenke kompetenziell begründen wollen:
Gemäß den Artikeln 9, 151 und 153 des Vertrags über die Arbeitsweise der Union und in vielen weiteren Artikeln
– man merke auf: in vielen weiteren Artikeln –
in diesem Vertrag hat die EU die Möglichkeit, dies mit verschiedenen Maßnahmen … umzusetzen.
Ich sage Ihnen eines: Das, was Sie hier in der Auslegung von Unionsrecht produzieren, ist ein Wünsch-dir-Was und nicht das, was wir unter dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verstehen. So läuft nämlich die Europäische Union. Für uns ist hinsichtlich der Kompetenzen wichtig: Die Sozialpolitik ist und bleibt ein Reservat der Nationalstaaten. Das soll im Kern auch so bleiben. Das ist die richtige Auslegung des Geistes der europäischen Verträge zur Sozialpolitik.
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Ich möchte auch davor warnen – das klingt ja immer toll –, die europäische Grundrechtecharta zu sozialen Leistungsrechten auszulegen. Wozu soll das führen? Sie sagen: Die Grundrechtecharta und die Versprechen der Grundrechte, die sozialen Leistungsrechte sollen vor dem Europäischen Gerichtshof einklagbar sein. Ich kann Ihnen sagen: Das ist doch eine offensichtlich falsche Vorstellung. Wenn abstrakte Grundrechte von einem Gericht konkretisiert werden sollen und nicht vom Gesetzgeber, dann beschneiden Sie sich selbst. Wie man soziale Grundrechte auslegt, ist vor allem Aufgabe des Gesetzgebers, und die werden wir wahrnehmen. Wir werden sie nicht sozusagen losgelöst in Europa wahrnehmen, sondern zuallererst hier. Das ist auch die Antwort, die die anderen europäischen Länder brauchen: Reformen, kohärente Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik im Rahmen der nationalen Möglichkeiten. Nur so kann ein wettbewerbsfähiges Europa gelingen, nicht durch Ihre Sozialgeschenke. Wir treten dem entgegen. Wir setzen auf Eigenverantwortung. Das ist unser Prinzip für ein sicheres und starkes Europa.
Herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8287 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ein kleiner Hinweis an die interfraktionellen Versammlungen auf beiden Seiten des Saales: Wir haben jetzt noch elf Abstimmungen vorzunehmen. Helfen Sie uns als Sitzungsvorstand bitte, die Abstimmungsergebnisse zweifelsfrei festzustellen, das heißt, sie ihren Fraktionen zuzuordnen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor fast genau 20 Jahren, am 1. April 1999, ist in Deutschland das Stromsteuergesetz in Kraft getreten, etwa ein Jahr später das rot-grüne Erneuerbare-Energien-Gesetz.
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– Hören Sie genau zu!
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Jürgen Trittin hat damals gesagt, die Energiewende kostet einen normalen Haushalt so viel wie eine Kugel Eis im Monat. Eis ist in Deutschland seitdem nicht dramatisch teurer geworden, sondern die deutsche Energiepolitik ist teuer geworden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich will Ihnen konkrete Zahlen der Bundesregierung nennen: Bis zum Jahr 2020 wird diese Energiewende die Menschen in Deutschland eine halbe Billion Euro kosten, und sie ist, was den Klimaschutz betrifft, nicht erfolgreich.
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Zwei Zahlen dazu. Seit Beginn der Energiewende im Jahr 2000 wurde im Stromsektor der CO 2 -Ausstoß von etwa 350 Millionen Tonnen auf lediglich 320 Millionen Tonnen im Jahr reduziert. Wir sind in Deutschland keine Klimaschutzvorreiter. Kein anderes Land der Welt gibt so viel Geld für Klimaschutz aus und erreicht dabei so wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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1998 hat eine schwarz-gelbe Bundesregierung den Strommarkt in Deutschland liberalisiert, mit sehr großem Erfolg: niedrige wettbewerbsfähige Strompreise für die Industrie, wettbewerbsfähige Strompreise und niedrige Strompreise für die privaten Haushalte in Deutschland. Stand heute, Große Koalition: Deutschland trägt bei den Strompreisen gemeinsam mit Dänemark in Europa die rote Laterne. Über 50 Prozent des Strompreises sind Steuern und Abgaben. – Der große Profiteur davon, meine Damen und Herren, ist nicht der Klimaschutz. Es ist der Bundesfinanzminister, der von dieser Politik profitiert, und nicht das Weltklima.
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Deswegen sage ich sehr deutlich in Richtung der Kollegen von CDU/CSU, auch vor dem Hintergrund des zu erwartenden Rückgangs beim Wirtschaftswachstum in Deutschland: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen, um die Stromsteuer für die Unternehmen und die privaten Haushalte in Deutschland endlich zu senken. Fangen Sie es endlich an!
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Die Grünen sind schon seit 2005 nicht mehr an der Bundesregierung beteiligt.
({7})
Sie regieren seit dem Jahr 2005 und machen einen riesigen Fehler, indem Sie als Union die grüne Energiepolitik in Deutschland eins zu eins fortsetzen. Das ist das historische Versagen von CDU/CSU. Auch das muss deutlich gesagt werden.
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Stattdessen streben Sie einen superteuren Kohleausstieg an; über 80 Milliarden Euro für einen symbolischen Kohleausstieg, der dem Klima überhaupt nichts bringt. Richtig wäre es an dieser Stelle, als Staat die Verschmutzungsrechte aus dem Emissionshandel zurückzukaufen. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Diese nationalen deutschen Alleingänge haben bisher überhaupt gar nichts gebracht. Sie waren schlicht und einfach nur teuer. Deswegen ist es kein Wunder, dass die Überschriften in deutschen Zeitungen in den letzten Wochen gelautet haben: „Deutschland versagt beim Klimaschutz“, „Planwirtschaftlicher Irrweg“, massive Kritik des Bundesrechnungshofs an der deutschen Energiepolitik. Der Chef der Wirtschaftsweisen kritisiert Sie sowie das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Es ist jetzt der richtige Zeitpunkt, in Deutschland bei der Energiepolitik umzusteuern. Fangen Sie endlich an!
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Zudem – es wurde schon erwähnt –: Dieser historisch lange Aufschwung geht langsam, aber sicher zu Ende – wir haben heute Morgen das Frühjahrsgutachten zur Kenntnis nehmen müssen –: von 1,9 auf 0,8 Prozent. Deswegen will ich in aller Klarheit sagen: Die Menschen und die Unternehmen zahlen historisch und im Vergleich zu vielen anderen Ländern hohe Strompreise. Das ist – das sage ich in Richtung der Kollegen der SPD – vor allem eines, es ist sozial ungerecht. Haushalte mit kleinen Einkommen zahlen Ihre Energiepolitik, und das hat mit sozialer Gerechtigkeit nichts zu tun. Das ist das Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit.
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Deswegen: Wir brauchen weniger Stromsteuer und mehr Emissionshandel. Wir brauchen weniger Klimanationalismus und mehr Energiebinnenmarkt in Europa. Wir brauchen, um es deutlich zu sagen, weniger Jürgen Trittin und mehr Ludwig Erhard, auch bei der Strompolitik in der Bundesrepublik.
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Zum Schluss. Mich ärgert in diesen Tagen wirklich, dass von der Linkspartei bis hin zur Union in Sonntagsreden die Demonstration vom Freitag gelobt wird, aber ab Montag wird dann eine Klimaschutzpolitik gemacht, die dem Klima auf der Welt einen Bärendienst erweist. Das ist Ihr Versagen. Sie nehmen die Schüler nicht ernst, die am Freitag sagen: Wir müssen das Klima retten. – Sie erweisen der ganzen Sache einen historischen Bärendienst. Die Energiepolitik ist nicht ökologisch, sie ist nicht sozial, sie schadet unserem Standort, und am Ende zahlen es die Verbraucher. Hier muss umgesteuert werden, und das ist auch die Aufgabe der Union.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner: der Kollege Mark Helfrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der Katastrophe von Fukushima im Jahr 2011 war der gesellschaftliche Konsens in Deutschland für die Energiewende groß.
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Es gab dafür eine breite Mehrheit in Politik und Gesellschaft. Deshalb haben wir dann auch den Atomausstieg bis Ende 2022 beschlossen und die Energiewende noch intensiver vorangetrieben.
Seitdem sind acht Jahre vergangen. Aktuelle Umfragen zeigen uns zweierlei: Erstens. Eine große Mehrheit der Bevölkerung, nämlich 90 Prozent, steht weiterhin hinter der Energiewende, und zwar quer durch alle Bildungs-, Alters- und Einkommensgruppen. Zweitens. Eine große Mehrheit der Verbraucher, nämlich 73 Prozent, ist sogar bereit, höhere Strompreise zu zahlen, wenn der Strom aus erneuerbarer Energie stammt.
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Damit sind wir beim Thema dieser Aktuellen Stunde, nämlich dem Anstieg der Strompreise. Zunächst einmal muss gesagt werden, dass der Strompreis in den vergangenen Jahren vergleichsweise stabil geblieben ist.
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2013 betrug der amtlich ermittelte durchschnittliche Strompreis für private Haushalte 29,24 Cent je Kilowattstunde. Fünf Jahre später, also 2018, lag er dann bei 29,88 Cent. Das ist ein Anstieg von durchschnittlich 0,43 Prozent pro Jahr; er liegt damit deutlich unter der Inflationsrate.
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Das ist die Ausgangslage der Diskussion, die wir gerade führen.
Nichtsdestotrotz sind die Schlagzeilen der letzten Tage nicht gänzlich falsch. Wenn wir uns anschauen, wo wir herkommen, dann sehen wir, dass sich die Stromkosten privater Haushalte im Vergleich zum Jahr 2000 mehr als verdoppelt haben. Aber – und das ist ein sehr großes Aber – Deutschland hat es in dieser Zeit geschafft, den Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttostromverbrauch auf über 38 Prozent zu erhöhen und damit zu versechsfachen. Allerdings liegt noch ein ganzes Stück Arbeit vor uns, um das Ziel eines Anteils von 65 Prozent bis 2030 zu erreichen.
Wo liegen nun aber die Gründe für diese Preissteigerung? Ein Grund sind die gestiegenen Einkaufspreise der Energieversorger. Man könnte auch sagen, liebe Freunde von der FDP, der Markt war’s.
({4})
Die Beschaffungskosten befinden sich nicht nur auf einem Rekordniveau, sondern haben nach Angaben der Bundesnetzagentur im vergangenen Jahr um knapp ein Drittel zugelegt. Das hat vor allem zwei Ursachen: Zum einen ist der Marktpreis für den Rohstoff Kohle gestiegen, zum anderen hat sich der Preis für CO 2 -Zertifikate im Jahr 2018 verdreifacht;
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denn die EU-Kommission hatte beschlossen, die Zahl der Zertifikate zu verknappen. Damit stieg dann auch deren Preis.
Wenn ich mich richtig entsinne, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, dann steht in Ihrem Wahlprogramm, dass Sie den Emissionshandel stärken wollen.
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Sie haben ja auch, Kollege Dürr, diese Forderung hier heute als einen von zwei legendären Vorschlägen, die Sie uns präsentiert haben, wiederholt.
Natürlich sorgt nicht nur der Einkaufspreis für den aktuell hohen Strompreis; ein großer Brocken sind in der Tat auch Abgaben und Umlagen, die rund 30 Prozent des Strompreises ausmachen.
({7})
Die EEG-Umlage, über die der Ausbau der erneuerbaren Energien finanziert wird, ist dabei der größte Posten. Zu den harten Fakten der Energiewende gehört, dass die EEG-Umlage über viele Jahre stark gestiegen ist.
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Beginnend mit dem Jahr 2014 bzw. dem EEG 2014 haben wir dem entgegengewirkt und von der Festvergütung für erneuerbaren Strom auf ein marktorientiertes Ausschreibungsmodell umgestellt. Die Wirkung dieser Umstellung lässt sich direkt beobachten: Die Vergütungssätze sinken, und auch die EEG-Umlage ist mittlerweile rückläufig. Diesen Erfolg wollen wir mit einer stärkeren Marktorientierung der erneuerbaren Energien fortsetzen, um die System- und EEG-Kosten so gering wie möglich zu halten.
Meine Damen und Herren, die Investitionen in die Energiewende, die von Bürgern und Betrieben über die EEG-Umlage getragen werden, sind sehr hoch. Wir sind uns dessen und unserer Verantwortung für bezahlbare Energiepreise sehr bewusst. Deshalb werden Sie auch von der Union keine so dümmlichen Eiskugelpreisvergleiche hören, die man von einigen in der Vergangenheit gehört hat.
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Aber die Frage ist doch ehrlicherweise: Gibt es denn günstigere Alternativen? Dass von Ihnen von der FDP in dieser Debatte die Forderung nach Steuersenkungen kommt, war jetzt nicht ganz überraschend.
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Die Kosten, die auf uns zukämen, wenn wir nicht in Maßnahmen gegen den Klimawandel investieren würden, wären mit Sicherheit höher. Damit meine ich nicht nur Klimafolgekosten, sondern vor allem auch drohende milliardenschwere Strafen, wenn wir unsere Klimaziele verfehlen.
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Sehr verehrte Damen und Herren, die Energiewende ist nicht zum Nulltarif zu haben. Wir müssen sie so effizient und marktwirtschaftlich wie möglich umsetzen. Es ist allemal besser, jetzt in Klimaschutz zu investieren, als später zu reparieren.
Vielen Dank.
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Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Bruno Hollnagel.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei der letzten Anhörung im Finanzausschuss beklagte sich praktisch jeder Sachverständige über bestimmte Begriffe, die nicht klar definiert worden sind. Es wurde auch der ausufernde Bürokratismus beklagt. Wir erwarten von der Regierung entsprechende Reaktionen.
Der Staat ist der größte Strompreistreiber in Deutschland. 54 Prozent des Strompreises, das heißt mehr als die Hälfte, resultieren alleine aus Abgaben und Umlagen. Das ist ein unhaltbarer Zustand.
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Schon deswegen sollten die Stromsteuern auf ein Minimum gesenkt, wenn nicht gar ganz abgeschafft werden.
Erheblicher Preistreiber sind vor allem die erneuerbaren Energien. Wenn Sie den Anteil der erneuerbaren Energien von 38 Prozent so feiern, dann sage ich: Damit treiben Sie den Preis für Energie in die Höhe.
({1})
Sie sind nur wegen der Subventionen wirtschaftlich wettbewerbsfähig.
Die staatlich verursachte Preistreiberei hat für vielen Menschen ganz erhebliche Nachteile gebracht.
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Alleine im Jahr 2018 wurde 344 000 deutschen Haushalten der Strom gesperrt, weil sie ihn nicht bezahlen konnten, und 4,8 Millionen drohte die Sperrung. Das muss sich ändern; da haben Sie einen Handlungsbedarf zu erfüllen.
({3})
Ursprünglich sollten Einsparungseffekte erzielt werden. Was für ein Ziel verfolgen Sie eigentlich heute? Welches Ziel auch immer Sie verfolgen, Sie wollen es in jedem Fall über den Preis erreichen. Da gibt es Leute, die sagen: Wir müssen den Strom aus regenerativen Quellen verteuern,
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weil damit Sozialleistungen finanziert werden müssen. – Sie wollen also über diese Abgaben Sozialleistungen finanzieren.
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Sie wollen durch den höheren Preis aber auch den Stromverbrauch drosseln. Trotz Preissteigerungen ist in der Vergangenheit aber keine Reduzierung der verbrauchten Strommengen erzielt worden. Warum? Weil wir alle von Strom abhängig sind. Ob wir damit kochen, ob wir damit produzieren, ob wir damit unsere Handys oder Computer betreiben – wir brauchen den Strom. Der Strombedarf wird steigen. Strom dient der Deckung von Grundbedürfnissen.
Hohe Strompreise, meine Damen und Herren, machen natürlich auch die E-Mobilität uninteressant, sie stehen ihr sogar entgegen. Sie schaden natürlich auch dem Wirtschaftsstandort Deutschland.
({6})
Andere wollen Strom billiger machen, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und auch die E-Mobilität zu fördern. Doch die E-Mobilität hat ein ganz anderes Problem, nämlich das Problem der Batterien.
Wenn nun auch CO 2 -Emissionen, die durch die Stromerzeugung verursacht werden, direkt oder indirekt besteuert werden, so hat der Staat ein Interesse daran, dass CO 2 emittiert wird; denn dann generiert er Einnahmen. Er will offiziell die CO 2 -Emissionen reduzieren, braucht aber die Einnahmen aus dem Verkauf von CO 2 -Emissionszertifikaten für seinen Haushalt. Das Prinzip ist widersprüchlich und deswegen grundsätzlich falsch.
({7})
Sie haben keine Konzepte. Das ist Ihr Problem.
({8})
Was wäre der richtige Ansatz? Richtig wäre, Abgaben auf Umweltverschmutzungen zu erheben und die Gelder, die man darüber einnimmt, für die Reinigung der Umwelt auszugeben. Das wäre logisch, und das wäre konsequent. Sie sind aber nicht in der Lage, daran auch nur zu denken.
Die Sachverständigen erkannten, dass die Stromsteuer ein Lenkungsinstrument ist. Wir alle wissen, was es bedeutet, wenn der Staat lenken will. Das ist Planwirtschaft, und wir sind gegen jede Art von Planwirtschaft, weil sie ineffektiv und auch unsozial ist.
({9})
Wir wollen eine Marktwirtschaft und keine Planwirtschaft. Wir wollen Realismus statt Ideologie. Wir wollen freie Bürger statt Bürokratie.
Danke schön.
({10})
Für die SPD-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Bernd Westphal.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu meinem Vorredner will ich mich gar nicht äußern, da kommt energiepolitisch wenig Konstruktives. Ich war gestern zusammen mit dem Wirtschaftsausschuss dieses Hauses auf der Hannover Messe. Dort sieht man: Es geht nicht um Planwirtschaft, sondern um Innovationen und Investitionen in Zukunftstechnologie.
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Das hat viel mit Energie zu tun. Dort werden Projekte vorgestellt, die zeigen, wohin die Entwicklung in Zukunft gehen wird. Viele Unternehmen forschen und investieren in diesem Bereich.
Herr Dürr, Sie beschweren sich über zu hohe Energiepreise. Ich kann nur sagen: Wenn die FDP mitregiert, wird es richtig teuer. Sie haben in der Zeit regiert, in der der Wechsel hin zum Ausstieg aus der Kernenergie vollzogen worden ist. Dieser Wechsel hat zu hohen Kosten geführt, und nicht das, was wir mit konstruktiver Politik auf den Weg bringen.
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Sie behaupten, wir bezahlen europaweit die höchsten Preise für Energie. Ich glaube, in der Debatte muss man fairerweise darauf hinweisen, dass die Kaufkraft und die Wirtschaftsleistung eines Landes in die Berechnung einbezogen werden müssen. Sie können das Durchschnittseinkommen in Prozent in Deutschland nicht mit dem in Ländern wie Litauen oder anderen vergleichen. Man muss zum Beispiel auch anführen, dass in Frankreich mit Strom geheizt wird. All das muss man mit anführen, wenn man Vergleiche anstellt. Deshalb ist das, was Sie vorgetragen haben, nicht ganz richtig.
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Ein weiterer Punkt ist: Nicht jeder Strompreisanstieg ist zwingend auf die Energiewende zurückzuführen. Auch die Kosten für die Rohstoffe Kohle, Öl und Gas, die wir importieren müssen, sind ausschlaggebend dafür, wie sich die Strompreise an der Börse entwickeln. Deshalb darf man sich nicht nur darauf fokussieren, was energiepolitisch auf den Weg gebracht worden ist.
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Die Rohstoffkosten sind immerhin für 20 Prozent der Strompreise verantwortlich. Aber es gibt natürlich auch noch Steuern, Abgaben und Umlagen, und wir müssen an die Abgabensystematik ran, weil es in diesem Bereich Fehlsteuerungen gibt.
Mit der Energiewende und der Einführung des EEG geht eine Technologieförderung einher. Mit diesem Instrument fördern wir Innovation und Entwicklung in Unternehmen. Die Lernkurve der letzten 20 Jahre zeigt, dass dieses Instrument dazu führt, dass wir heute zu den gleichen Kosten, teilweise geringer, Strom erzeugen können als mit fossilen Energien, auf jeden Fall geringer als mit Kernenergie, weil die Folgekosten eben nicht eingepreist waren. Die Endlagerfrage ist noch nicht geklärt, und es ist nicht klar, welche Kosten auf uns zukommen werden. Deshalb ist es der richtige Weg, jetzt in erneuerbare Energien zu investieren.
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Mit der Einführung von Ausschreibungen haben wir ein marktwirtschaftliches Instrument etabliert, das dazu führt, dass zum Beispiel hohe Pachtpreise, die Landwirte teilweise für Flächen nehmen, nicht mehr zusätzlich in die Kalkulation von Windanlagen einfließen. Das hat in der Produktion, in der Planung und in der Projektion großer Windparks dazu geführt, dass Kosten reduziert werden können. Damit wird dem neuen Weg, zukünftig Energieversorgung sicherzustellen, Rechnung getragen.
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Zukünftig müssen wir ein Preisschild daran kleben, was wir durch hohe Preise verhindern wollen, nämlich die CO 2 -Emissionen. Deshalb bitte ich darum – der Wirtschaftsminister sitzt dort –, dass wir versuchen, in einer Gruppe darüber zu diskutieren, inwieweit es möglich ist, die soziale Balance, die wir jetzt durch das EEG eben nicht haben, durch eine Bepreisung der CO 2 -Emissionen und durch Sektorkopplung zu fördern, neue Entwicklungen und Planungssicherheit zu etablieren und damit dafür zu sorgen, dass die Energiewende zusätzlich an Dynamik gewinnt.
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Wenn wir jetzt nicht investieren, um ein zukünftiges Energiesystem für die nächsten Generationen aufrechtzuerhalten, wird es noch teurer. Von daher sind die Investitionen absolut richtig und gerechtfertigt.
Herzlichen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis über den dritten Wahlgang einer Stellvertreterin des Präsidenten des Deutschen Bundestages bekannt: abgegebene Stimmzettel 665. Mit Ja haben gestimmt 199 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 423 Abgeordnete, Enthaltungen 43.
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Die Abgeordnete Mariana Iris Harder-Kühnel hat die erforderliche Mehrheit nicht erreicht und ist damit nicht zur Stellvertreterin des Präsidenten gewählt.
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Ich möchte darauf hinweisen, dass nach § 2 Absatz 3 unserer Geschäftsordnung kein weiterer Wahlgang mit einer im dritten Wahlgang erfolglosen Bewerberin stattfindet; es sei denn, es wird ein weiterer Wahlgang im Ältestenrat vereinbart. Wird hingegen eine neue Bewerberin oder ein neuer Bewerber vorgeschlagen, so ist in einem neuen Wahlverfahren wieder die entsprechende Mehrheit erforderlich. In jedem Fall aber ist zu vereinbaren, an welchem Tag die Wahlen stattfinden.
Wir fahren in der Aktuellen Stunde fort. Ich rufe den Kollegen Lorenz Gösta Beutin für die Fraktion Die Linke auf.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Ja, die steigenden Strompreise sind ein Problem. Sie sind ein Problem für die Kindergärtnerin genauso wie für den Durchschnittsrentner. 2018 gab es 344 000 Stromsperren, das heißt, 344 000 Haushalten ist der Strom abgestellt worden. Wir als Linke sagen: Das muss ein Ende haben. Stromsperren müssen verboten werden.
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Aber schauen wir uns die Problematik genauer an. Woran liegt es, dass die Strompreise steigen? Da hilft vielleicht ein Blick auf Ihre Stromrechnung. Auf Ihrer Stromrechnung finden Sie beispielsweise die Kosten für den Einkauf an der Strombörse und auch die Kosten für die Gewinne, die die Unternehmen machen.
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An der Strombörse sind die Strompreise seit 2010 teilweise gesunken, aber die Stromkonzerne haben nicht den Schritt gemacht, die Strompreise für die Endverbraucherinnen und -verbraucher zu senken. Ganz im Gegenteil: Nur wenn die Strompreise an der Börse steigen, legen die Konzerne das auf die Verbraucherinnen und Verbraucher um. Wir Linke sagen: Es ist ein Unding, dass auf dem Rücken der Verbraucherinnen und Verbraucher die Gewinne der Konzerne finanziert werden.
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25 Prozent der Kosten machen die Netzentgelte aus. Die Netzentgelte sind die Kosten, die anfallen, damit Strom durch die Stromnetze geschickt werden kann. Hier haben wir ein weiteres Ungleichgewicht. Im Osten der Bundesrepublik sind die Netzentgelte 5 Cent pro Kilowattstunde teurer als im Westen der Republik.
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Das heißt, in den Gebieten, in denen es sowieso schon ein Lohngefälle gibt, in denen niedrigere Löhne gezahlt werden, müssen die Menschen noch viel mehr für ihren Strom ausgeben als im Westen der Republik. Das ist eine Ungerechtigkeit, die abgeschafft gehört.
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In meinem Heimatland Schleswig-Holstein wird rechnerisch ein Anteil an erneuerbaren Energien von 150 Prozent erzeugt. Trotzdem müssen die Stromkundinnen und -kunden in Schleswig-Holstein verglichen mit den Stromkundinnen und -kunden im Saarland jährlich 200 Euro mehr an Netzentgelten bezahlen. Das heißt, die Stromkundinnen und -kunden in Schleswig-Holstein werden dafür bestraft, dass die erneuerbaren Energien ausgebaut werden.
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Auch das gehört beendet, und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt und vollständig.
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Zudem bezahlen einkommensschwache Haushalte über die EEG-Umlage Subventionen für die Großkonzerne. Wie funktioniert das? Sie alle haben auf Ihrer Stromrechnung den Anteil für die Förderung der erneuerbaren Energien ausgewiesen, die sogenannte EEG-Umlage. Die EEG-Umlage bezahlen aber nur 75 Prozent der Stromkunden. Mehr als 2 000 Unternehmen sind von der EEG-Umlage ausgenommen. Das heißt, 6,5 Milliarden Euro – so viel sparen die Großkonzerne durch die Ausnahme – werden über die Strompreise auf uns alle umgelegt. Das heißt, durch höhere Strompreise werden die Gewinne der Konzerne finanziert.
Auch das muss beendet werden. Die Industrierabatte können zu einem großen Teil gestrichen werden. Dafür setzen wir uns ein.
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Es war eine gesellschaftliche Entscheidung, zu sagen: Wir wollen die Energiewende. Wir wollen raus aus der Atomkraft. Und ja, wir müssen möglichst schnell raus aus der Kohle. – Deswegen bildet sich über die EEG-Umlage die Energiewende direkt in den Strompreisen ab. Das heißt, man könnte den Eindruck gewinnen, Kohle und Atom würden nicht gefördert. Aber weit gefehlt! Die Subventionen sind direkt staatlich, und sie sind versteckt. Sie bilden sich eben nicht in den Strompreisen ab.
Hinzu kommen zusätzliche Kosten für Gesundheit, für Umwelt, für Nachsorge und selbstverständlich auch für die sogenannte Endlagerung der Abfälle der Atomstromproduktion, wo wir wissen: Es gibt keine sichere Endlagerung. – All das wird auf uns Stromkunden umgelegt.
Und wir müssen ganz klar sagen: Die wahren Preistreiber sind nicht die Erneuerbaren; die wahren Preistreiber sind die fossilen Energien.
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Wir als Linke schlagen ein Konzept für sozial gerechte Energiepreise vor. Wir sagen: Kohleausstieg machen, erneuerbare Energien fördern, die Subventionen für die fossilen Energien streichen, die Stromsteuer abschaffen. Wir sagen auch: CO 2 besteuern, um deutlich zu machen, wo das Problem liegt,
({9})
nämlich bei den CO 2 -Emissionen.
Das muss sozial gerecht vonstattengehen.
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Die einkommensschwachen Haushalte müssen durch Sockeltarife bei den Stadtwerken entlastet werden. Mit unserem Konzept hat die Kindergärtnerin, hat die Pflegekraft, hat die Rentnerin schließlich mehr am Ende des Jahres. Das sind gerechte Strompreise – und nicht das, was hier von der FDP vorgeschlagen wird.
Vielen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es liegt ein Antrag der AfD-Fraktion zur Geschäftsordnung vor, nämlich die Sitzung für eine Stunde zu unterbrechen. Wenn Sie damit einverstanden sind, bitte ich um das Handzeichen.
({0})
– Der Antrag lautet: jetzt, nach diesem Redner.
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Wollen Sie den Antrag modifizieren? Sonst muss ich darüber abstimmen lassen. – Dann lasse ich darüber abstimmen. Der Antrag lautet: jetzt sofort eine Unterbrechung von 60 Minuten. Ich bitte um das Handzeichen, wer dafür ist. –
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Die AfD-Fraktion ist dafür. Wer ist dagegen? – Dann ist dieser Antrag so abgelehnt.
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Ich rufe den Kollegen Oliver Krischer auf.
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Lieber Kollege Krischer, bitte.
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Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gar nicht schlecht, wenn es da leer ist.
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Aber gut. Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen. Schauen wir mal, was dann passiert.
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Herr Dürr, Sie haben hier das Thema Strompreise – jetzt telefoniert er; es gibt offensichtlich Wichtigeres zu regeln – auf die Tagesordnung gesetzt und ungefähr jedem in diesem Haus, der in der Vergangenheit mal Verantwortung getragen hat, einen mitgegeben. Nur: Wenn man sich die Strompreisentwicklung der letzten 20 Jahre anschaut, dann sieht man etwas Interessantes. In den Jahren 2010 bis 2014 sind die Strompreise nämlich in der Tat regelrecht explodiert. Und welche Partei hat da die Verantwortung getragen? Es war die FDP, meine Damen und Herren, mit den Wirtschaftsministern Brüderle und Rösler.
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Wenn irgendeiner bei diesem Thema Strompreise mal piano machen sollte, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dann sollten das eigentlich Sie sein. Sie haben hier schon bewiesen, dass Sie es nicht können – um das mal klar zu sagen.
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Ich frage mich, wenn Sie hier andere angreifen – man kann die GroKo ja an vielen Stellen angreifen; darüber, dass sie den Klimaschutz nicht hinbekommt,
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kann man viel reden –: Wo ist eigentlich das energie- und klimapolitische Konzept der FDP?
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Da habe ich, ehrlich gesagt, bisher überhaupt nichts gehört. Insofern ist es schon ein Witz, wenn Sie das hier machen.
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Dann gehört es auch dazu, dass man sich vielleicht mal mit den Fakten auseinandersetzt.
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Das scheint bei einigen hier nicht der Fall zu sein. Schauen wir uns einmal an: Wieso sind im letzten Jahr die Strompreise gestiegen? Die EEG-Umlage, die Sie hier so problematisiert haben, und die Netzentgelte, das heißt die staatlichen Bestandteile, sind gesunken. Was gestiegen ist, ist der Börsenpreis. Und das sind die Kohle- und Gaskraftwerke. Die haben deutlich getrieben. Fossile Energien sind der Treiber für den Strompreis, meine Damen und Herren.
Gibt es denn überhaupt noch eine bessere Begründung für die Energiewende? Erneuerbare machen den Strom billiger. Genau das ist passiert.
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Deshalb muss es eine Konsequenz geben, die wir anpacken müssen. Wir müssen nämlich die Erneuerbaren konsequent ausbauen. Denn wenn wir auch die Folgekosten der Fossilen als CO 2 -Preis einrechnen, dann werden die Kosten noch mehr steigen. Deshalb brauchen wir auch einen CO 2 -Preis. Mit ihm können wir dann sogar Strompreisbestandteile wie die EEG-Umlage oder die Stromsteuer senken.
Das wären die Maßnahmen. Alles das lehnen Sie von der FDP aber ab, meine Damen und Herren.
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Das ist, ehrlich gesagt, nicht zukunftsfähig.
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Zur Wahrheit gehört auch, dass man eines sagt. Wenn man sich beispielsweise anguckt: „Wer zahlt denn hier die hohen Strompreise?“, dann sieht man, dass die von den Umlagen und Entgelten befreite Industrie heute, im Jahr 2019, die niedrigsten Strompreise aller Zeiten hat.
({11})
Und wer zahlt das? Das zahlen die privaten Haushalte, meine Damen und Herren. 17 Milliarden Euro – 17 Milliarden! – werden von den privaten Haushalten auf die Industrie umverteilt.
Herr Pfeiffer, man kann ja durchaus für die eine oder andere Sache sein. Aber welche Ausmaße das angenommen hat, muss hier diskutiert werden. Das ist die größte Umverteilung und Subvention in unserem Land, und das kann so nicht weitergehen, meine Damen und Herren.
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Dann komme ich zu dem Punkt, dass die Ärmsten in unserem Land in der Tat die höchsten Strompreise zahlen. Wir haben ein Konzept der Grundversorgung. Das bedeutet, dass die Ärmsten das Höchste zahlen. Ich sage klipp und klar: Damit haben schon mal Kanzlerkandidaten der SPD – sie hießen Steinbrück und Schulz – Wahlkampf gemacht. Die SPD trägt seit Jahren Verantwortung für das Thema, macht aber in dem Bereich überhaupt nichts.
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Da können Sie sich auch nicht hinter der Union verstecken.
Es muss endlich Schluss sein mit dem Konzept der Grundversorgung. Wir dürfen es nicht mehr zulassen, dass die Ärmsten in unserem Land die höchsten Strompreise zahlen, meine Damen und Herren. Auch sie müssen von der Energiewende profitieren, nicht nur die befreite Industrie. Das ist ganz wichtig.
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Nun komme ich zum Thema Stromsperren. Das ist ja eben schon angesprochen worden. Es ist in der Tat ein Skandal, dass 300 000 Menschen im Jahr der Strom abgestellt wird. In vielen Städten unseres Landes gibt es hervorragende Modellprojekte, wie man das vermeiden kann. Sorgen Sie endlich dafür, dass im Gesetz die Verpflichtung verankert wird, dass Stadtwerke, Verbraucherzentrale und Jobcenter sich um diese Menschen kümmern. Dann kann man Stromsperren vermeiden. Das machen Sie nicht. Dies wäre Aufgabe einer Großen Koalition – aber da hört man von Ihnen gar nichts –, um Strompreise zu senken.
Wir brauchen den Ausbau der Erneuerbaren. Wir brauchen einen CO 2 -Preis. Das macht in Zukunft Stromkosten günstiger. Das macht es auch erschwinglich. Das wird am Ende dazu führen, dass die Menschen auch von der Energiewende profitieren – noch mehr, als das bisher der Fall war.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Der nächste Redner: der Kollege Carsten Müller, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Blick auf die FDP: Der Titel der heutigen Aktuellen Stunde ist leider deutlich zu kurz gesprungen. Denn wenn wir uns über Energiepolitik unterhalten, dann spielt Strom eine Rolle;
({0})
aber Wärme spielt eine weitere Rolle. Ich bedaure sehr, dass dieser Punkt bisher noch gar nicht angesprochen worden ist.
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Der Union ist sehr wichtig, dass wir eines nicht aus dem Auge verlieren: Wenn wir uns über Energiepolitik unterhalten, müssen wir uns nämlich daran erinnern, dass es hierbei gilt, ein Zieldreieck zu verfolgen, nämlich: Wirtschaftlichkeit, Umweltverträglichkeit und – ganz wichtig – Versorgungssicherheit.
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Meine Damen und Herren, dabei ist eines allerdings klar: Die Energiewende ist nicht zum Nulltarif zu haben. Das ist auch in weiteren Teilen der Gesellschaft akzeptiert. Mein Kollege Helfrich hat das schon mit einigen Zahlen untermalt. Im Jahr 2002 haben 61 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung gesagt, sie seien bereit, Strompreisaufschläge für eine Klima- und Umweltschutzpolitik, für einen Ausbau der Erneuerbaren zu akzeptieren. Dieser Anteil hat sich bis zum Jahr 2017 nicht wesentlich verändert; er ist sogar geringfügig angestiegen. Das ist im Übrigen auch Maßgabe für unsere Politik. Interessant hierbei ist, dass eine überdurchschnittliche Bereitschaft, so etwas zu akzeptieren, bei Anhängern der FDP vorhanden war, und – meine Damen und Herren, man glaubt es kaum; die Kolleginnen und Kollegen von der AfD können es jetzt nicht verfolgen – selbst bei 50 Prozent der Anhänger der sogenannten AfD – Sie wissen ja selbst, dass 50 Prozent eine magische Größenordnung sind – besteht die Bereitschaft, solche Investitionen in Klima- und Umweltschutz zu akzeptieren.
Meine Damen und Herren, wir reden hier auch über eine soziale Dimension. Dieser sozialen Dimension begegnet man aus unserer Sicht am besten, wenn man marktwirtschaftliche Werkzeuge bei der Energie- und Klimapolitik einsetzt. Wir machen das.
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Wir haben einen Großteil der Fördersätze bei den Erneuerbaren auf ausschreibungsbasierte Vergaben umgestaltet. Das zeitigt Erfolg: Der Strompreis für private Haushaltskunden konnte stabilisiert werden. Wenn wir uns die Zahlen zum Stichtag 1. April ansehen, stellen wir fest, dass wir es in den vergangenen zwei Jahren mit einem Anstieg um lediglich 0,08 Cent pro Kilowattstunde zu tun haben. Wenn wir uns die Strompreise in den letzten fünf Jahren ansehen, stellen wir fest, dass der Anstieg mit 0,64 Cent pro Kilowattstunde für Haushaltskunden deutlich unter der allgemeinen Preissteigerung liegt. Woran liegt das? Die EEG-Umlage ist im Jahr 2019 abermals gesunken. Das war keine Kleinigkeit.
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Wir reden hier über ein Absinken um 6 Prozent, und das in einem Zeitraum – seit 2014 –, in dem wir den Anteil des Stroms aus erneuerbaren Energien um über 50 Prozent gesteigert haben.
Wir arbeiten an diesem Thema rund um die Uhr. Ende letzten Jahres haben wir das sogenannte Energiesammelgesetz verabschiedet. Die Union hat sich für Innovationsausschreibungen starkgemacht, weil wir die feste Überzeugung haben, dass wir den Herausforderungen einer klugen Energie- und Umweltpolitik nur dann begegnen können, wenn wir ganz neu denken. Wir arbeiten auch an der Akzeptanz. Aus Sicht der Union ist es nicht dauerhaft hinnehmbar, dass wir Milliardenbeträge für Redispatch aufwenden. Das ist den Stromkunden nicht zu vermitteln. Deswegen setzen wir hier an.
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Ziel unserer Umwelt- und Energiepolitik ist eine sichere, bezahlbare und umweltverträgliche Energieerzeugung. Meine Damen und Herren, dazu gehören für uns – lassen Sie mich das im Vorgriff auf eine heute noch anstehende Debatte sagen – auch der Strom und die Wärme aus Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Wir als Union hätten uns gewünscht, dass wir bei diesem Thema hier sehr schnell zu einem Entschluss gekommen wären, dass wir im Rahmen der NABEG-Beratungen der KWK-Branche Sicherheit gegeben hätten. Ich appelliere an dieser Stelle an unseren Koalitionspartner, dieses Thema im Auge zu behalten; der Kollege Saathoff hat aufmerksam zugehört. Das ist Politik für die Menschen, und das ist Klima- und Umweltschutzpolitik, und das ist auch Wirtschaftspolitik.
Lassen Sie mich in den wenigen Sekunden Redezeit, die mir noch verbleiben, noch einen wichtigen Gesichtspunkt ansprechen. Wir haben mit großer Zufriedenheit das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 28. März dieses Jahres zur Kenntnis genommen. Beihilferechtliche Fesseln in Bezug auf das EEG-System wurden gelöst. Wir von der Union wollen diesen Urteilsspruch nutzen, um ganz wesentlich zum Bürokratieabbau im Bereich der Energiepolitik und der Energieerzeugungspolitik beizutragen.
Was ist für den Verbraucher wichtig zu wissen? Häufiger mal den Anbieter wechseln, also das nutzen, was wir unter Unionsführung eingeführt haben, nämlich den Wettbewerb auf dem Strommarkt! Wichtig ist energieeffizientes Verhalten. So kann man am sinnvollsten die Umwelt entlasten und den eigenen Geldbeutel. Wir begrüßen sehr, dass Peter Altmaier einen Strompreisgipfel angekündigt hat; das halten wir für richtig. Er wird in Kürze stattfinden. Das ist vertretbare, gute, ausgewogene Energiepolitik mit der Union.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Karsten Hilse.
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Kein Problem, wenn es ruhig ist. Aber es wird gleich laut. Das verspreche ich Ihnen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Mit Ihrer Genehmigung beginne ich mit einem Zitat aus einem Tweet eines offensichtlichen Spezialexperten für Energieversorgung und Stromrationierung, des ehemaligen Präsidenten des NABU, Staatssekretär Flasbarth. Auf die Frage „Welche Energieform soll nach der Abschaltung der Kohle- und Kernkraftwerke die Grundlast sichern bzw. diese Kraftwerke ersetzen?“ antwortete er – Zitat –:
Grundlast wird es im klassischen Sinne nicht mehr geben. Wir werden ein System von Erneuerbaren, Speichern, intelligenten Netzen und Lastmanagement haben.
Ein wahrer Experte.
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Offensichtlich ist Herr Flasbarth bei Annalena Baerbock in die Lehre gegangen, die behauptete, dass man Strom in Netzen speichern kann, was zeigt, dass nicht nur bei den Grünen, sondern auch bei den Spezialdemokraten Spezialexperten am Werk sind.
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Das Wirken dieser Spezialexperten gemeinsam mit der ehemals konservativen CDU hat nicht nur für die höchsten Strompreise in Europa gesorgt und Hunderttausende wertschöpfende Arbeitsplätze gefährdet; dieses Wirken führt auch dazu, dass die Gefahr eines großflächigen mehrtägigen Stromausfalls mit all seinen katastrophalen Folgen, wie in der Bundestagsdrucksache 17/5672 eindringlich beschrieben, mit jedem abgeschalteten Grundlastkraftwerk exponentiell steigt.
Laut „Manager Magazin“ sind wir am 10. Januar dieses Jahres nur knapp an einem europaweiten Blackout vorbeigeschrammt – mit sogenannten Lastabwürfen; auf Deutsch: Mit Abschaltungen und dem schnellen Hochfahren von zwei Kraftwerken wurde das Schlimmste verhindert. Die Anzahl der Eingriffe in die Netze, sogenannte Redispatch-Maßnahmen – wir haben gerade davon gehört –, stieg in Deutschland von 3 bis 4 pro Jahr im Jahre 2006 auf fast 8 000 allein in den ersten drei Quartalen des Jahres 2018. Im Jahr 2017 kosteten allein solche Maßnahmen 1,4 Milliarden Euro.
Aber was passiert, wenn wir unsere Grundlastkraftwerke nach und nach abschalten, nur noch Zappelstrom produzieren und der Wind dann gerade nicht weht? Stellen Sie sich bitte vor Ihrem geistigen Auge vor: Sieben Tage lang fällt in Deutschland der Strom aus. – Für die Ideologen hier, die sich als Experten für alles bezeichnen, aber wenig Ahnung von Stromproduktion und Netzstabilität haben: Bei einem großflächigen Stromausfall können Sie nicht einfach einen Hebel umlegen. Sie können nur langsam einen Erzeuger nach dem anderen und dementsprechend auch die Verbraucher wieder zuschalten. – Jetzt noch einmal: Sieben Tage ohne Strom, ohne Wasser, ohne Benzin, ohne frische Lebensmittel, ohne ausreichende medizinische Versorgung, da tritt die Gesetzestreue unserer Bürger sehr schnell hinter den Selbsterhaltungstrieb zurück; das kann ich Ihnen versprechen. Kommunen, Gemeinden, Krankenhäuser, medizinische Einrichtungen und Pflegeeinrichtungen sind nicht im Mindesten auf einen solchen Fall vorbereitet. Notstromaggregate können in den meisten Krankenhäusern zwischen 24 und 48 Stunden lang Intensivstationen und Operationssäle mit Strom versorgen. Was kommt danach?
In der schon erwähnten Drucksache werden auch die Kosten geschätzt. Die Berechnungen des Hamburgischen WeltWirtschaftsinstituts fallen etwas höher aus. Nach deren Berechnung kostet ein deutschlandweiter einstündiger Stromausfall durchschnittlich 400 Millionen Euro. Das wären fast 10 Milliarden Euro pro Tag.
Kommen wir zurück zu den Menschen. In Deutschland gibt es 60 000 bis 80 000 Dialysepatienten, 280 000 Schlaganfälle pro Jahr.
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Laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes werden täglich durchschnittlich 50 000 teilweise lebensnotwendige Operationen durchgeführt. Dazu kommen pflegebedürftige Menschen in Pflegeheimen, aber auch zu Hause, die dann nicht mehr im erforderlichen Maß versorgt werden können.
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Jeder hier kann sich ausrechnen, sofern er es denn will, wie viele Todesopfer ein solcher Blackout fordert. Ich hoffe sehr, dass wir nie einen solchen Blackout erleben werden; aber wenn Sie Ihre Energiepolitik nicht ändern, ist er unausweichlich. Und Sie alle werden dann die Verantwortung für jeden einzelnen Toten tragen.
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Und wofür das Ganze? Wenn Deutschland nicht 1 Gramm CO 2 mehr ausstieße und die Theorie vom menschengemachten Klimawandel stimmte, könnten wir die hypothetische Erderwärmung um 0,000653 Grad Celsius verringern. Für diesen aberwitzig geringen Wert auch nur 1 Cent auszugeben, auch nur einen Arbeitsplatz zu vernichten oder auch nur ein einziges Menschenleben zu gefährden, ist rein ideologischer Irrsinn.
Ich schließe mit einem Zitat aus dem genannten Bericht:
Die Folgeanalysen haben gezeigt, dass bereits nach wenigen Tagen im betroffenen Gebiet die flächendeckende und bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit (lebens)notwendigen Gütern und Dienstleistungen nicht mehr sicherzustellen ist. Die öffentliche Sicherheit ist gefährdet, der grundgesetzlich verankerten Schutzpflicht für Leib und Leben seiner Bürger kann der Staat nicht mehr gerecht werden.
Damit verlöre er auch eine seiner wichtigsten Ressourcen: das Vertrauen seiner Bürger. Dieses Vertrauen, werte Regierung, haben Sie bereits verloren, zumindest bei einem ziemlich großen Teil der Bevölkerung.
Danke schön.
Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Johann Saathoff.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hilse, es ist wie immer: eine Politik des Angstmachens – den Leuten Angst indoktrinieren wollen –,
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antieuropäischer Blickwinkel. Mit verantwortungsvoller Energiepolitik hat das so gut wie gar nichts zu tun, und deswegen gehört das letzten Endes in die Ecke, in die Sie es gestellt haben.
({1})
Es wird der Eindruck vermittelt – auch von Ihnen –, dass die erneuerbaren Energien schuld seien an der Höhe der Strompreise. Das ist eine sehr, sehr verkürzte Darstellung, die wir hier immer wieder mitkriegen; denn der Strompreis setzt sich aus vielen unterschiedlichen Bestandteilen zusammen.
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Die EEG-Umlage – das haben wir heute schon zwei-, dreimal gehört – ist im letzten Jahr sogar leicht gesunken.
Die gute Botschaft ist, Herr Dürr: Sie wird auch in den kommenden Jahren sinken.
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Die ersten Anlagen fallen nämlich aus der 20-jährigen Förderung heraus; das sind die Anlagen, die wir ganz besonders stark gefördert haben. Das heißt, es ist eindeutig zu erwarten, dass die EEG-Umlage sinken wird. Der ein oder andere weiß, dass ich nicht Präsident des Fanklubs für Ausschreibungen bin; aber das muss man ja sagen: Die Einführung von Ausschreibungen hat zu deutlichen Kostenreduktionen geführt. Im Offshorebereich hat sie sogar dazu geführt, dass wir 0-Cent-Gebote gehabt haben. Damit haben wir die Erneuerbaren noch viel kostengünstiger gemacht, als sie ohnehin schon waren.
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Der Börsenstrompreis selbst ist wegen der erneuerbaren Energien und der damit verbundenen Überkapazitäten in den letzten Jahren deutlich gesunken und etabliert sich auf niedrigstem Niveau. Diese Entlastung der Börsenstrompreise muss man eigentlich bei der Belastung der Haushalte durch die EEG-Umlage gegenrechnen.
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Ich höre immer die Diskussion über die Frage: Welche Energieerzeugung ist am günstigsten? Sie trauen sich ja nicht, zu sagen, dass Sie vielleicht doch lieber die Kernenergie behalten wollen. Aber wenn man Zehntausende von Jahren Kernenergiebrennelemente lagern muss – keine Nation auf der Welt weiß, wie das zu machen ist –, dann können Sie mir nicht erzählen, dass das eine günstige Energieform ist.
({6})
Wenn Sie mit der Kohleenergie weitermachen, wenn Sie die Kosten durch die CO 2 -Emissionen bei der Berechnung einfach außen vor lassen, dann berücksichtigen Sie nicht die Folgekosten, die tatsächlich entstehen und die lebensgefährlich sind, zum Beispiel, wenn man direkt am Deich wohnt. Deichbaukosten, Entschädigung für Landwirte aufgrund von Klimaschäden und drohende Strafzahlungen bei Verfehlung unserer Klimaziele, all das ist teuer. Also, glauben Sie mal nicht, dass Kohleenergie billig ist.
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Eine sichere, saubere und langfristig günstige Energieversorgung muss das Ziel unserer Energiepolitik sein, und langfristig günstige Energieversorgung gibt es nur mit Erneuerbaren.
Den entscheidenden Anteil am Strompreis machen die Netzentgelte aus. Wir haben Fortschritte beim Bau und beim Betrieb gemacht. Einen Baustein beschließen wir heute mit der Änderung des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes. Damit sorgen wir für Maßnahmen zur Vereinfachung und Beschleunigung des Netzausbaus. Darüber hinaus brauchen wir auch noch ergänzende Regeln zum Netzbetrieb. Wir brauchen ein Netzbetriebsoptimierungsgesetz, damit Digitalisierung und Intelligenz endlich auch im Netzbetrieb Einzug finden. Wir müssen dafür sorgen, dass mehr Erneuerbare in den Süden Deutschlands kommen.
({8})
Der Kohleausstieg ist für 2038 avisiert. Ein Großteil der Erzeugung im Süden wird aber wegfallen. Wir haben zwei Möglichkeiten: entweder Stromnetze ausbauen oder die Erneuerbaren, vor allen Dingen Windenergie, in den Süden bringen. Leider wird beides notwendig sein; nur Stromnetze ausbauen wird nicht reichen. Wenn man eine einheitliche Preiszone in Deutschland behalten will, dann muss man hier wesentlich mehr Erneuerbare ausbauen. Also, Herr Minister – er ist nicht mehr da, schade; es möge ihm jemand ausrichten –, müssen wir neue Windenergieanlagen im Süden bauen. Deswegen brauchen wir keine 10H-Regelung mehr.
({9})
Also müssen wir mehr PV ausbauen. Deswegen muss der 52-GW-Deckel weg, und die von Minister Altmaier versprochene Südquote muss dringend her.
Darüber hinaus werden wir grundsätzlich über die Frage der Finanzierung der Energiewende diskutieren müssen. Um die in Paris vereinbarten Klimaziele zu erreichen, werden wir uns damit beschäftigen müssen, dass CO 2 auch einen Preis hat,
({10})
und dabei dürfen wir die Belange der Menschen mit kleinem Geldbeutel und die Belange der Menschen, die in den ländlichen Räumen wohnen, nicht vergessen. Diese können zum Beispiel auch den Stromanbieter wechseln. Sie könnten durch einen Wechsel des Stromanbieters sogar günstiger grünen Strom bekommen können.
({11})
Aber es gibt das Problem der Haushaltskunden – Olli Krischer hat darauf hingewiesen –, die nicht wechseln können, weil sie negative Schufa-Einträge haben. Das ist in höchstem Maße ungerecht; das ist überhaupt keine Frage.
({12})
Darum wollen und werden wir uns kümmern.
„Dat Een unnerschkett de Tat van’t Drööm“, sagt man in Ostfriesland, oder: Das Ende unterscheidet die Tat vom Traum. Darum wollen wir kämpfen: dass diesen Menschen künftig geholfen wird, ihren Stromanbieter zu wechseln.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Martin Neumann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich komme auf das Ziel zurück: Das Ziel der Energiewende ist, CO 2 -Emissionen zu senken.
({0})
Heute wurde schon mehrfach gesagt, dass wir nicht nur die höchsten Strompreise in Europa haben, sondern vor allen Dingen auch – das macht Sorge – die höchsten CO 2 -Vermeidungskosten.
({1})
Das ist meiner Ansicht nach der Punkt. Diese Preise haben wir bei einer nur marginalen Reduzierung der CO 2 -Emissionen.
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Herr Westphal und auch Herr Krischer haben es ja angesprochen.
Ich will darauf zurückkommen. Sie ergötzen sich daran, dass Sie sich über die Installation von Erneuerbaren hier loben lassen wollen.
({3})
Es kommt aber darauf an – das ist für die Wirtschaft und für die Verbraucher wichtig –, dass rund um die Uhr, 8 760 Stunden im Jahr, Energie zur Verfügung steht; das ist das entscheidende Kriterium. Sie können dann den Faktor fünf oder den Faktor zehn nehmen – mal unabhängig von der Akzeptanz, inwieweit Sie Onshoreanlagen tatsächlich aufstellen können.
Ich finde es einfach dreist – ich sage es noch mal so –, wenn Sie hier versuchen, den Menschen weiszumachen, dass hohe Strompreise für einen guten Zweck stehen.
({4})
In Wirklichkeit, meine Damen und Herren, stehen die hohen Energiekosten für den falschen Weg.
({5})
Sie stehen für ein ineffizientes System und – das ist das Schlimme – für ein katastrophales Management. Das ist, glaube ich, der wichtige Punkt an dieser Stelle.
Mehrfach angesprochen wurde das Thema der Verdopplung.
({6})
Das will ich alles nicht wiederholen. Wichtig ist im Prinzip auch – das müssen wir zur Kenntnis nehmen –, dass Energiepolitik – Stichwort „Strom“ – ein ganz wichtiger Standortfaktor ist. Bei solchen Strompreisen leidet die Wettbewerbsfähigkeit, meine Damen und Herren. Ich glaube, das müssen wir in den Vordergrund rücken.
({7})
Es geht mir da nicht um die große Industrie, die im Zweifelsfall weggeht, sondern es geht mir um die mittelständischen Unternehmen, es geht mir um die Familienunternehmen, die darunter leiden. Das muss man hier tatsächlich noch einmal betonen.
({8})
Jetzt noch ein weiterer Punkt. Die Preise, die wir aktuell haben, schaden der Energiewende; ich sage Ihnen das
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Herr Müller hat das Thema Wärme angesprochen. Wenn wir teuren Strom haben: Denken Sie an die Wärmepumpen! Wenn die Wärmepumpe effizient laufen soll, braucht sie, wenn sie Umweltenergie ins Gebäude bringen soll, günstigen Strom. Genau das untergraben wir, wenn wir so weitermachen. Darum geht es.
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Wie gesagt, wir haben einen Antrag zur Senkung der Stromsteuer auf das EU-Mindestmaß eingebracht. Das kann aber nur – das betone ich – ein erster grundlegender Schritt sein.
Bei der CO 2 -Bepreisung – mehrfach angesprochen; ich will es nur noch mal deutlich machen – geht es nicht um eine willkürliche Festlegung, sondern man muss auf ein Maß kommen, damit Wettbewerb tatsächlich auch funktionieren kann. Es könnte zum Beispiel sein, dass man sich darüber Gedanken macht, den C-Gehalt, also den Kohlenstoffgehalt, eines Energieträgers in den Wettbewerb zu stellen. Wir haben es mehrfach gesagt: Wir sind dafür, einen Wettbewerb emissionsarmer Energieträger zu organisieren. Und: Wir brauchen – das ist, glaube ich, jedem klar, der sich mit dem Thema beschäftigt – deutlich mehr Forschung für emissionsarme Energieträger, insbesondere für Wasserstoff. Das ist ja auch mehrfach angesprochen worden.
({11})
Ein letzter Punkt – mit Blick auf die Uhr –: Wir brauchen stärkere Anreize für Investitionen in intelligente Netztechnik; das wissen wir alle. Wir können mit der Symbolpolitik einfach aufhören. Wir brauchen diese 7 700 Kilometer Stromleitungen, und davon ist bisher nur ein Bruchteil, nämlich 950 Kilometer, fertiggestellt. Das reicht nicht. Auch Sie, Herr Müller, haben das Thema Netzstabilität angesprochen: Die Netzstabilität macht das Ganze teuer; denn die Redispatch-Kosten treten immer wieder auf, und wir müssen sie auf die Rechnungen der Verbraucher umlegen.
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Das macht das Ganze teuer und letztendlich nicht effizient.
Ein allerletzter Punkt; ich komme zum Schluss. Ich will an der Stelle mal mit Tabus aufräumen. Aussichtsreiche Lösungen, die wir diskutiert haben, die auch global oder international eine große Rolle spielen, wie zum Beispiel CCU – das steht übrigens im Koalitionsvertrag –, kommen nicht voran. Vor allen Dingen unter den Energie- und Umweltpopulisten gibt es immer wieder Widerstand, indem man etwa fragt: Warum öffnen wir das Ganze nicht, um zu einer Lösung zu kommen?
Noch ein letzter Satz dazu. 95 Prozent – oder 80 Prozent; wir reden ja über verschiedene Zahlen – weniger Treibhausgase bis 2050 werden ohne Technologien im Bereich CCU oder CCS nicht erreichbar sein.
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Ich denke, wir müssen raus aus Wolkenkuckucksheim und ehrlich zu den Menschen sein. Ich glaube, dann schaffen wir Akzeptanz und auch den Erfolg der Energiewende.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute den von der FDP beantragten Punkt „Steigende Strompreise stoppen – Energie bezahlbar machen“. Da werden im Titel schon zwei unterschiedliche Dinge sozusagen zusammengeworfen: Das eine ist die Strompreisentwicklung, und das andere ist die Energiepreisentwicklung.
Ja, Deutschland hat relativ hohe Strompreise, auch im internationalen Vergleich; keine Frage. Aber wir haben trotzdem eine wettbewerbsfähige Wirtschaft, weil unsere Wirtschaft innovativ ist und eben auch kreativ ist und ihre Chancen auf dem Weltmarkt zu nutzen weiß.
Was noch dazukommt: Wir haben es die letzten Jahre geschafft, das Wirtschaftswachstum vom Energiebedarf zu entkoppeln. Das spricht eben auch für die Effizienz der deutschen Wirtschaft.
Die Energiepreise in Deutschland für andere Energieträger, gerade wenn man an Heizöl, an Gas, an andere fossile Energieträger denkt, sind im moderaten Bereich, eher sogar im mittleren, im unteren Bereich, wenn man auch die europäische Perspektive hier bemüht.
Wenn man jetzt sagt: „Das macht alles gar keinen Sinn, wenn es um den Gesichtspunkt der Einsparung von CO 2 geht“, dann möchte ich nur betonen: Wir haben im letzten Jahr 4,2 Prozent CO 2 eingespart. Es ist also nicht so, dass nichts passiert. Wenn man an der einen oder anderen Schraube noch drehen kann, dann machen wir das. Es ist natürlich auch so, dass wir die Strompreise weiter stabilisieren wollen und die Bürger und die Unternehmen entlasten wollen. Aber wenn man sich anschaut, was die letzten Jahre passiert ist, dann muss man feststellen: Das haben wir gemacht. Wir haben es geschafft, dass die Strompreise sich auf einem konstanten Niveau entwickelt haben und dass das System der erneuerbaren Energien insgesamt effizienter wurde.
Wenn man sich die Ausschreibungsergebnisse anschaut, stellt man fest: Wir sind jetzt im Bereich der Photovoltaik bei unter 5 Cent pro Kilowattstunde und bei Wind onshore bei knapp über 5 Cent pro Kilowattstunde. Und Sie kennen ja auch die Ergebnisse der Offshore-Ausschreibung, wo Gebote zu 0 Cent einen Zuschlag bekommen haben. Das ist ein großer Erfolg, meine sehr geehrten Damen und Herren, und das ist unser Erfolg, das ist mehr Markt, das haben wir gemacht, das haben nicht Sie von der FDP gemacht.
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Auch die EEG-Umlage konnte so über die letzten Jahre stabilisiert werden. Wenn man sich anschaut, woher sozusagen der Rucksack im EEG-Konto, in der EEG-Umlage kommt, dann stellt man fest: Das war die Zeit, wo die FDP Verantwortung in der Regierung übernommen hat. Ich gebe Herrn Krischer ungern recht; aber in diesem Punkt hat er recht.
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– Ich widerspreche dann auch noch mal. – Aber wenn man schaut, wer für die Stabilität verantwortlich war: Das sind wir. Für die Lasten, den Mühlstein aus der Vergangenheit sozusagen, den wir noch tragen müssen, haben auch Sie verantwortlich gezeichnet.
Bezüglich der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft war es uns, der Union, immer wichtig, dass wir bei der Besonderen Ausgleichsregelung für die energieintensiven Industrien im Kontext der Europäischen Union Lösungen angeboten haben. Wir haben hier Lösungen gefunden. Wenn diese Entlastung der energieintensiven Industrien, die im internationalen Wettbewerb stehen, kritisiert wird, dann will ich nur ein Beispiel geben: Durch Abschaffung der Besonderen Ausgleichsregelung könnte man eine durchschnittliche Familie im Jahr um circa 50 Euro entlasten – der volkswirtschaftliche Schaden würde aber circa 500 Euro betragen. Also ist die Entlastung der energieintensiven Industrien ein wichtiger Schritt gewesen, und den haben auch wir rechtssicher ausgestaltet.
Wir brauchen hier natürlich ein Mehr an Planungssicherheit. Spricht man mit Mittelständlern, spricht man mit der Industrie, dann ist es so, dass nicht unbedingt nur die absolute Höhe des Strompreises entscheidend ist – es ist die Planungssicherheit.
Wir haben durch das Urteil des EuGH aus der letzten Woche Spielraum, um eben auch hier mehr Planungssicherheit auszugestalten. Dem Urteil zufolge stellt die EEG-Umlage definitiv keine staatliche Beihilfe dar. Wir wollen so noch mehr Planungssicherheit für die Verbraucher erzielen, auch für die Unternehmen und für die Wirtschaft insgesamt.
Außerdem eröffnet uns das Urteil die Möglichkeit, gezielt Anreize zur Energieeffizienz zu setzen. Bis dato war es so, dass viele Unternehmen gar nicht den Anreiz hatten, tatsächlich Energie einzusparen, weil sie über gewisse Grenzen gestoßen wären, die dann die Besondere Ausgleichsregelung wiederum verhindert hätten. Jetzt haben wir wirklich die Möglichkeit, Energieeffizienz zu belohnen, auch die Besondere Ausgleichsregelung entsprechend umzugestalten. Der billigste Strom – auch der billigste Strom für die Unternehmen – ist natürlich immer noch der Strom, der erst gar nicht verbraucht wird.
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Natürlich ist auch die Stromsteuer oder vielmehr das gesamte Abgabensystem insgesamt ein Thema. Die Abgaben im Strombereich betragen mittlerweile tatsächlich rund 50 Prozent des Strompreises. Wir brauchen also eine Abgaben- und Gebührenreform. Diese muss mehr auf CO 2 -Gesichtspunkten basieren und sektorübergreifend erfolgen. Am Ende kann bei einem solchen Prozess natürlich auch ein CO 2 -Preis stehen; aber wir dürfen hier nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, wir müssen das Richtige vielmehr auch richtig machen und auch darauf aufpassen, dass es in einzelnen Sektoren nicht zu negativen Effekten kommt, die wir nicht wollen.
Diese Konzepte müssen wir zusammen diskutieren; dazu lade ich Sie ein. Ich bitte Sie aber auch, den Industriestandort Deutschland gleichzeitig nicht schlechtzureden. Und ich bitte auch, dass wir die Chancen der Energiewende für Mittelstand und Wirtschaft, aber auch für die Gesellschaft insgesamt weiterhin nutzen.
In dem Sinne: Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner: der Kollege Timon Gremmels für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP versucht, sich hier als Kämpferin, als Kämpfer für die soziale Gerechtigkeit zu inszenieren; sie will dafür kämpfen, dass die Energiepreise, die Strompreise sinken. Ich finde, etwas mehr Demut, liebe Kollegen der FDP, täte Ihnen in dieser Frage gut.
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Man muss sich einfach einmal anschauen, wie die EEG-Umlage sich entwickelt hat: Von 2010 bis 2014 hat sich die EEG-Umlage von 2,5 Cent auf 6,24 Cent fast verdreifacht.
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Und welche beiden Wirtschaftsminister der FDP waren damals im Amt? Es waren Herr Brüderle und Herr Rösler; sie tragen die Verantwortung dafür, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Es hätte sich gehört, dass Sie hier für Ihre eigene Politik wenigstens auch die Verantwortung übernehmen und nicht versuchen, das anderen Leuten in die Schuhe zu schieben.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die FDP war Treiber der steigenden Energiekosten; so viel Zeit für die Wahrheit muss sein.
Übrigens: Was auch noch dazu geführt hat, dass die Energiekosten gestiegen sind, ist das ganze Hickhack um den Atomausstieg. Wären wir bei dem rot-grünen Atomausstieg geblieben, wären den Menschen viele Kosten erspart geblieben.
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Auch dafür tragen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der FDP, die Verantwortung.
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Im Unterschied dazu handelt die SPD: Wir machen den Kohleausstieg. Wir stehen dazu, dass der Kohleausstieg kommt, und zwar ohne Strompreisanstieg, so wie das von der Kommission vereinbart worden ist.
Eine aktuelle Studie von Energy Brainpool belegt, dass erneuerbare Energien sogar einen dämpfenden Effekt auf den Strompreis haben, wenn wir jetzt gleichzeitig aus der Kohle aussteigen: weil wir weniger vergleichsweise teures Gas benötigen.
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Wenn die FDP die Abschaffung des EEG fordert, dann konterkariert sie ihre eigene Forderung nach niedrigen Strompreisen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, ist absurd.
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Ja, wir entlasten auch die Menschen. Im Abschlussbericht der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ steht, dass als Ausgleich für Unternehmen und private Haushalte bei einem Strompreisanstieg eine Entlastung bei den Netzentgelten folgen soll. Das ist Beschlusslage,
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ist Kommissionsbeschluss.
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Wir, die SPD, stehen zu dieser Empfehlung der Kommission, und ich habe nicht gehört, was Sie von der FDP dazu sagen. Wir stehen zu diesen Empfehlungen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Wir wollen, dass der Strompreis sinkt.
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Wir könnten uns auch vorstellen, die Stromsteuer auf das europäische Mindestmaß zu senken.
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Natürlich könnte man auch darüber reden, die Industrierabatte aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren. Das ist aber eine größere Operation,
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das würde 10 Milliarden Euro kosten, und das kann man sich nicht einfach so aus den Rippen schneiden. Deswegen müssen wir über eine CO 2 -Bepreisung als Gegenfinanzierung diskutieren, und zwar aufkommensneutral und sozial gerecht. Dafür steht die SPD, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Wir müssen auch mal fragen, was die FDP als Sofortprogramm fordert.
Ich habe hier einen Antrag von der FDP, Drucksache 19/8268.
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Darin steht auch die Forderung, die Stromsteuer zu reduzieren – ab dem Jahr 2021. Auch Sie schieben dieses Thema auf die lange Bank, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das haben Sie in Ihrer Rede nicht gesagt. Das ist schon dreist; das muss an dieser Stelle auch gesagt werden.
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Lassen Sie mich noch deutlich machen: Die EEG-Umlage wird in den nächsten Jahren sinken. Sehr geehrter Herr Dürr, ich biete Ihnen jetzt hier eine Wette an. Ich wette mit Ihnen um eine Kugel Eis,
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dass die EEG-Umlage in den nächsten Jahren sinkt. Weil ich mich von der SPD nicht knauserig zeigen will, nehme ich sogar Herrn Trittin mit. Dann bezahle ich für Sie und Herrn Trittin die Kugel Eis.
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Wenn die EEG-Umlage steigt, Herr Dürr, dann bezahlen Sie das Eis.
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Ich bin gespannt. Ich freue mich auf jeden Fall auf das Eisessen mit Ihnen. Dabei können wir uns ein bisschen über Energiepolitik unterhalten. Vielleicht ist das für Sie auch eine Fortbildung. Das würde mich freuen.
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– Mein Kollege Saathoff hat gerade dazwischengerufen. Wir nehmen auch gerne Mövenpick-Eis. Das schmeckt ebenfalls ganz gut.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir, die SPD, handeln, und zwar sofort. Wir sind sofort bereit, den Bürgerinnen und Bürgern, den Mieterinnen und Mietern durch preiswerten Strom zu helfen.
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– Ich sage Ihnen genau, wie. Ich nenne zum Beispiel das Mietstrommodell. Wir werden in der AG Akzeptanz/Energiewende genau da Konzepte vorlegen,
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damit die Mieterinnen und Mieter von preiswertem Solarstrom auf den Dächern ihrer Häuser profitieren. Das geht schnell. Das kriegen wir, wenn wir es wollen und unser Koalitionspartner mitmacht, noch dieses Jahr hin.
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Wir wollen die Menschen entlasten. Wir wollen es denen, die in der Nähe von Windkraftanlagen leben, ermöglichen, von dem preiswerten und auf den Dächern produzierten Windstrom zu profitieren. Auch so können wir Strom preiswert machen.
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Herr Kollege, die Zeit ist um.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Mein letzter Punkt ist ein Lob an die Verbraucherschutzzentralen. Am besten hilft es, wenn wir vom teuren Grundtarif wegkommen. Da leisten die Verbraucherschutzzentralen eine gute Arbeit. Wir müssen aber auch zusehen, dass denen, deren Stromanschluss gesperrt wurde, geholfen wird. Dafür sind die Sozialdemokraten Partner der Menschen mit geringerem Einkommen.
({0})
Wir stehen dazu. Wir handeln, während die FDP nur redet.
Ich danke Ihnen.
({1})
Der nächste Redner: Jens Koeppen, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der FDP-Fraktion für diese Aktuelle Stunde sehr dankbar,
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und zwar deswegen, weil ich Ihnen so mein und auch unser Hauptanliegen noch einmal näherbringen kann. Das ist – das sage ich auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen – der gesamtgesellschaftliche Konsens des Zieldreiecks, mit dem wir einmal begonnen haben.
Dieses Zieldreieck besagt, dass wir die Energiewende nur mit Versorgungssicherheit, mit Wirtschaftlichkeit und mit Umweltverträglichkeit ausgestalten können. Wenn wir zu diesen Vorhaben noch die notwendige Akzeptanz für die Energiewende dazutun, dann, glaube ich, kann die Energiewende gelingen. Ansonsten könnte es sein, dass die Energiewende scheitert. Das alles gehört zusammen.
({1})
Meine Damen und Herren, wir brauchen auch kein Schwarze-Peter-Spiel. Es wurde immer vom gesamtgesellschaftlichen Konsens geredet. Übrigens waren bis auf die Neuen bei diesen Entscheidungen fast alle immer mit dabei. Also schauen wir uns an, ob wir diesen gesamtgesellschaftlichen Konsens des Zieldreiecks nicht verlassen. Er ist aus meiner Sicht ganz wichtig.
Jetzt beklagen Sie, übrigens völlig zu Recht, dass in Deutschland europaweit der höchste Strompreis gezahlt wird. Nun wissen wir aber alle, dass die sogenannte Energiewende, der Umbau der Energieversorgung, nicht zum Nulltarif zu haben ist. Wenn man aber, was ich persönlich sehr kritisch sehe – das wissen Sie –, aus allen fossilen Brennstoffen gleichzeitig aussteigen will, dabei auf heimische verfügbare Ressourcen verzichtet, nur auf Gasimporte setzt, für die Erneuerbaren immer mehr Fläche ohne verfügbare Netze beansprucht und deren Verfügbarkeit und Schwankungen völlig vernachlässigt, meine Damen und Herren, dann wird man sowohl bei der Versorgungssicherheit als auch bei der Wirtschaftlichkeit – zwei wichtige Teile des Zieldreiecks – scheitern.
({2})
Plötzlich scheinen alle überrascht zu sein, dass die Energiepreise steigen. Die Preisanstiege bei den Energiekosten haben aber Ursachen, die jedem bekannt sein sollten. Circa 30 Milliarden Euro im Jahr – das ist wahrscheinlich die Kugel Eis pro Stunde – als EEG-Umlage zahlen die Stromkunden.
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Der politisch motivierte Ausstieg aus der Stromerzeugung aus Kernenergie – die Kameraden waren dabei und haben mit auf der Bank gesessen, also keinen Schwarzen Peter! –,
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dann der geplante vorgezogene Kohleausstieg, auch wieder nur in Deutschland,
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der leistungsbezogene Zubau von Windenergieanlagen und Solaranlagen – nur leistungsbezogen, ohne zu schauen, ob am Ende eine Nutzbarkeit vorhanden ist –, dann natürlich der europäische Emissionshandel und die Einführung der Ökosteuer durch Rot-Grün 1999: Diese Kosten sind da. Die können wir so schnell nicht zurücknehmen.
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Dabei sind die Rohstoffkosten, meine Damen und Herren, nicht das Hauptproblem. 18 Prozent des gesamten Strompreises sind die Brennstoffkosten – 18 Prozent! 25 Prozent kosten die Stromnetze.
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55 Prozent kosten Steuern, kosten Abgaben und kostet die Ökostromförderung. Also, dafür sind wir in allen bisherigen Regierungskonstellationen des Deutschen Bundestages zuständig. Entweder wir stehen dazu, oder wir sagen: Wir machen es grundsätzlich anders, mit einem Systemwechsel im Bereich der EEG-Förderung.
Nun kommen zu diesen genannten Dingen noch ganz extreme Akzeptanzprobleme. Der Zubau von hohen Windenergieanlagen in unmittelbarer Nähe von Wohnbebauung ist das eine. Der Bau von Energieleitungstrassen, zum Teil – das wird immer häufiger – ohne ausreichende Abstände zur Wohnbebauung, ist das andere.
Meine Damen und Herren, die Menschen wollen in der Tat eine saubere Energieversorgung. Aber sie zweifeln daran, dass die gegenwärtigen Umbaumaßnahmen wirklich zu einer sauberen, zu einer bezahlbaren und zu einer sicheren Energieversorgung führen. Sie zweifeln auch an einem systemischen Ansatz unserer Energie- und damit auch der Klimapolitik, weil am Ende des Tages mit Aktionismus wenig CO 2 eingespart wird.
Die Energiewende gelingt nur mit systemdienlichen Innovationen, mit denen die erneuerbaren Energien endlich einen verlässlichen Beitrag zur Energieversorgung leisten. Wer von der EEG-Branche keine Innovationen verlangt und die staatliche Zusicherung von Zubauraten fordert, der riskiert steigende Strompreise und macht Strom zu einem Luxusgut.
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Ich will eine bezahlbare, eine sichere und eine saubere Energieversorgung – für und mit den Menschen. Dazu gehören akzeptable Abstandskriterien.
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Dazu gehört eine verlässliche und bedarfsgerechte Stromlieferung. Dazu gehört eine bezahlbare Stromrechnung am Ende des Monats.
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Vielen Dank, Herr Kollege Koeppen. – Die Rede von Mario Mieruch geht zu Protokoll. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Mir liegt eine Wortmeldung zu einem Geschäftsordnungsantrag des Kollegen Grund, CDU/CSU-Fraktion, vor.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der AfD hatte in der laufenden Aktuellen Stunde eine sofortige Unterbrechung der Debatte für eine Stunde beantragt, um eine Fraktionssitzung durchführen zu können. Die Mehrheit im Haus konnte diesem Antrag nicht folgen.
Ich bitte darum, dass wir jetzt die Debatte für eine halbe Stunde unterbrechen, damit die AfD-Fraktion ihre Fraktionssitzung geordnet zu Ende bringen kann und wir dann wieder gemeinsam in die Tagesordnung einsteigen können.
Sind Sie damit einverstanden – darf ich Sie dazu um das Handzeichen bitten? – Das ist der Fall. Dann unterbreche ich die Sitzung bis 16.45 Uhr.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen wunderschönen Nachmittag! Sie sehen: Die Sitzungsleitung hat gewechselt.
Wir setzen die Sitzung des Deutschen Bundestages fort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich freue mich, dass ich Ihnen heute namens der Bundesregierung den Entwurf für das Zweite Datenaustauschverbesserungsgesetz vorlegen kann. Bevor ich auf den Inhalt des Zweiten Datenaustauschverbesserungsgesetzes eingehe, erlauben Sie mir bitte, kurz auf das erste Datenaustauschverbesserungsgesetz zurückzublicken. Dieses Gesetz steht mit Sicherheit nicht im Brennpunkt der breiten Öffentlichkeit. Es ist im Jahr 2016, in der Hochphase der Flüchtlings- und Migrationskrise, in Kraft getreten. Ich bin gerade auch im Rückblick der festen Überzeugung, dass dieses erste Datenaustauschverbesserungsgesetz eines der zentralen Gesetze war und ist, das die Behörden in ganz Deutschland, sowohl auf kommunaler als auch auf Landes- und Bundesebene, in die Lage versetzt hat, mit der Migrations- und Flüchtlingskrise besser und effektiver umzugehen. Dieses Gesetz war eines der wichtigsten Gesetze bei der Bewältigung der Flüchtlings- und Migrationskrise. Es hat sich bewährt.
Zentraler Bestandteil dieses Gesetzes war es – das wäre vor vier oder fünf Jahren noch undenkbar gewesen –, dass alle Behörden, die mit einem Asylbewerber zu tun haben, alle Daten zentral im Ausländerzentralregister erfassen und dann auch auf diese Daten zugreifen können. Jetzt, nach drei Jahren, novellieren wir dieses Gesetz, bauen es weiter aus. Mit dem Zweiten Datenaustauschverbesserungsgesetz soll insbesondere das Ausländerzentralregister noch aussagefähiger bzw. aussagekräftiger gemacht werden. Wir wollen jetzt insbesondere auch die Jugendämter, die Staatsangehörigkeitsbehörden und auch die deutschen Auslandsvertretungen in die Lage versetzen, in Echtzeit auf das Ausländerzentralregister zuzugreifen.
({0})
Das ist ein wichtiger Aspekt, der mit dazu beitragen soll, dass die im Ausländerzentralregister gespeicherten Personen auch wirklich klar identifiziert werden. Viele haben nach wie vor keine Identitätspapiere dabei. Häufig gibt es auch unterschiedliche Schreibweisen der einzelnen Namen. Deshalb ist ein weiterer Bestandteil, dass nicht nur bei den Auskunftsnachweisen wie bisher die AZR-Nummer fortgeschrieben wird, sondern beispielsweise auch bei Bescheinigungen zur Duldung oder bei Bescheinigungen zur Aufenthaltsgestattung oder bei Fiktionsbescheinigungen.
Darüber hinaus ist es uns mit diesem Gesetz ein wichtiges Anliegen, dass wir den Sicherheitsabgleich, insbesondere auch vor dem Hintergrund der terroristischen Gefahr, effektivieren. In Zukunft soll auch die Bundespolizei in den Sicherheitsabgleich einbezogen werden sowie bei anderen Verfahren ein Sicherheitsabgleich stattfinden, beispielsweise bei asylrechtlichen Rücknahme- und Widerrufsverfahren, aber auch bei Übernahmeersuchen von anderen EU-Mitgliedstaaten.
({1})
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass zukünftig auch die Steuerung zur freiwilligen Ausreise von ausreisepflichtigen Personen bzw. zur Rückführung effektiviert werden soll. Wir haben vor, dass wir in Zukunft bei ausreisepflichtigen Personen, deren Daten im Ausländerzentralregister gespeichert werden, auch biometrische Daten mitspeichern, beispielsweise die Fingerabdrücke, aber auch die Körpergröße sowie die Augenfarbe.
Darüber hinaus ist ein weiterer wichtiger Bestandteil, dass in Zukunft nach Inkrafttreten dieses Gesetzes auch die Bundespolizei in die Lage versetzt werden soll, außerhalb des 30-Kilometer-Korridors nach dem Bundespolizeigesetz erkennungsdienstliche Maßnahmen durchzuführen. Wir wollen insbesondere auch die Steuerung von ausreisepflichtigen Personen dahin gehend effektivieren, dass in Zukunft auch Daten über staatlich geförderte Ausreisen im Ausländerzentralregister erfasst werden, insbesondere staatlich geförderte Maßnahmen, die nicht vom Bund, sondern beispielsweise von den Kommunen oder den Ländern gefördert werden.
Wir wollen aber auch, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, unbegleitete Minderjährige besser schützen, indem beispielsweise in Zukunft die erkennungsdienstliche Behandlung von unter 14-Jährigen ermöglicht wird. Wir wollen das Mindestalter von 14 Jahren auf 6 Jahre reduzieren. Was ist der konkrete Hintergrund? Wir haben mit Stichtag zum 1. März dieses Jahres bei 2 562 minderjährigen Personen keine Kenntnis vom Aufenthaltsort. Darunter befinden sich 865 unter 14-Jährige. Wir sind also der Überzeugung, dass durch eine effektivere erkennungsdienstliche Behandlung von unter 14-Jährigen diesem Umstand besser und effektiver entgegengetreten werden kann. Wir wollen in Zukunft die Jugendämter verpflichten, dass sie Minderjährige erkennungsdienstlich behandeln, und wir wollen auch, dass diese erkennungsdienstliche Behandlung von Minderjährigen in Aufnahmeeinrichtungen bzw. in Außenstellen des BAMF durchgeführt werden kann.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, insgesamt bin ich der festen Überzeugung, dass dieses Zweite Datenaustauschverbesserungsgesetz nach dem schon bewährten ersten Datenaustauschverbesserungsgesetz eine weitere Effektivierung und bessere Steuerung der Verwaltungsverfahren ermöglichen wird und – das ist mir auch wichtig – dazu beitragen wird, die Asylverfahren weiter zu beschleunigen. Wir haben jetzt bei den Neuanträgen eine durchschnittliche Verfahrensdauer von 3,2 Monaten. Ich bin der Überzeugung, mit diesem Zweiten Datenaustauschverbesserungsgesetz wird auch eine weitere Effektivierung und Beschleunigung der Asylverfahren möglich sein.
Ich bitte Sie deshalb, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, um eine seriöse, um eine inhaltsreiche, vor allem aber um eine zügige Behandlung dieses aus unserer Sicht sehr wichtigen Gesetzentwurfes.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Als nächster Redner hat für die AfD-Fraktion der Kollege Lars Herrmann das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Opposition ist es natürlich immer einfach, die Bundesregierung zu kritisieren, wenn diese nicht handelt, nicht richtige oder gar falsche Entscheidungen trifft oder Maßnahmen viel zu spät ergreift. Schließlich ist das eine wesentliche Aufgabe der Opposition in unserer Kontrollfunktion gegenüber der Regierung. Jedoch gehört es nach meiner Auffassung ebenfalls dazu, als Opposition auch mal für etwas zu sein, unabhängig davon, wer einen Gesetzentwurf einbringt. Wichtig ist, dass der Regelungsinhalt sinnvoll ist und eine Verbesserung für die Bürger darstellt.
Bei dem hier vorgelegten Entwurf eines Zweiten Datenaustauschverbesserungsgesetzes werden diese Kriterien tatsächlich erfüllt.
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Er bringt einen wesentlichen Sicherheitsgewinn in Bezug auf die Sicherung der Identität von Asylbewerbern sowie Ausländern, die unerlaubt nach Deutschland einreisen oder sich hier unerlaubt aufhalten. Keine Angst, Herr Mayer, ich werde jetzt nicht zu toll und zu sehr loben – nicht dass Sie in die Verlegenheit kommen, Ihren eigenen Gesetzentwurf ablehnen zu müssen.
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Ich möchte als Beispiel herausgreifen, dass die Bundespolizei künftig als zuständige Behörde zur Durchführung der erkennungsdienstlichen Behandlung nach dem Asylgesetz mit aufgenommen werden soll. Genau das hat die AfD bereits 2018 gefordert.
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Aber umso mehr freue ich mich darüber, dass die Bundesregierung ebenfalls erkannt hat, dass diese Maßnahme mehr als nur sinnvoll ist, und unsere Forderungen nun übernommen hat. Bisher darf die Bundespolizei einen Ausländer, der ein Asylersuchen vorbringt, nur dann nach § 16 Asylgesetz erkennungsdienstlich behandeln, wenn dieser an der Grenze bzw. im 30‑Kilometer-Bereich festgestellt wird. Weil es bekanntermaßen aufgrund des Schengener Abkommens keine Grenzen und Grenzkontrollen mehr gibt, läuft diese Regelung ins Leere. Das Gleiche gilt natürlich auch für Flughäfen, wenn die Asylantragsteller beispielsweise mit dem Flugzeug aus Schengen-Staaten wie Griechenland, Spanien oder Italien nach Deutschland einreisen.
Stellen Sie sich bitte einmal folgende absurde Situation vor: In Leipzig landet ein Flieger aus Griechenland mit zwei türkischen Staatsangehörigen, die sich bei der Bundespolizei melden und dort um Asyl nachsuchen. Die Beamten müssen nun die Landespolizei um Hilfe bitten, da es sich um eine Inlandsfeststellung handelt. Die bestehenden Regelungen gehen also vollkommen an der Realität vorbei, weil die Bundespolizei bisher keine rechtliche Möglichkeit besitzt, diese Personen nach dem Asylgesetz erkennungsdienstlich zu behandeln. Sie muss jedes Mal die Landespolizei um Unterstützung bitten, und das, obwohl bei der Bundespolizei die entsprechende Technik, fachliche Kenntnisse und fast immer die besseren Ressourcen vorhanden sind.
Weiterhin darf die Bundespolizei nach der derzeitigen Rechtslage noch nicht einmal die Asylbewerber verbindlich dazu auffordern, sich zur zuständigen Erstaufnahmeeinrichtung oder Ausländerbehörde zu begeben. Stattdessen wird sich mit umständlichen und oftmals auffälligen Amtshilfeersuchen beholfen und improvisiert. Das heißt, Flickschusterei in einem Bereich, wo exaktes, genaues und rechtlich einwandfreies Arbeiten zwingend erforderlich ist. Kein Wunder also, wenn bisher die Asylantragsteller schon vor dem ersten Gespräch mit einem BAMF-Mitarbeiter bereits drei Alias-Identitäten und zwei verschiedene Fluchtgeschichten vorweisen können.
Es ist gut, dass die Bundesregierung diese Sicherheitslücke erkannt hat, auch wenn es ein bisschen gedauert hat, und diese nun geschlossen wird. Jedoch sollten wir im Ausschuss noch einmal dringend über die derzeitige Qualität der erkennungsdienstlichen Behandlung nach dem Asylgesetz sprechen. Derzeit dürfen von den Asylbewerbern nämlich nur Lichtbilder gefertigt und die Abdrücke der zehn Finger genommen werden. Zu einer vollständigen erkennungsdienstlichen Behandlung gehören aber immer auch die Abnahme der Handflächenabdrücke, eine vernünftige Personenbeschreibung, die Erfassung körperlicher Merkmale wie Tätowierungen usw. Auch das wäre eine enorme Steigerung der Identifizierungsmöglichkeit von Asylantragstellern und damit die Gewährleistung einer gesicherten Identitätsfeststellung.
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Ich freue mich auf eine konstruktive Beratung im Ausschuss und bin im Übrigen der Meinung, dass auch der AfD-Fraktion ein Bundestagsvizepräsident zusteht.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Herrmann. – Als nächste Rednerin spricht für die SPD-Fraktion die Kollegin Gabriela Heinrich.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Register mit Daten über bestimmte Bevölkerungsgruppen wie das Ausländerzentralregister kann man durchaus kritisch sehen. Allerdings: Es kommt auch immer darauf an, um welche Daten es sich handelt. Zum Beispiel können Angaben durchaus sinnvoll sein, um die notwendige Unterstützung des Einzelnen für die Integration herauszuarbeiten.
Hierfür ist das Ausländerzentralregister eine wichtige und letztlich auch unverzichtbare Grundlage. Für Asylbewerberinnen und Asylbewerber sind Daten wie Schulbildung, Studium, Ausbildung, Beruf, Sprachkenntnisse und die Teilnahme an Integrationskursen hinterlegt. Das Ausländerzentralregister hat dabei jedoch das Zeug, zu polarisieren. Es gibt das Interesse von Behörden, möglichst viele Daten zu sammeln, um darauf schnell und unbürokratisch zugreifen zu können, und es gibt den Datenschutz.
Der Bundesrat hat Stellung genommen. Und es ist klar, dass unser Gesetzentwurf zwar nicht alle Wünsche der Länder erfüllt, aber er kommt dem Anliegen der Länder entgegen. Künftig sollen auch andere Behörden die für sie notwendigen Daten ohne Umwege einsehen können: zum Beispiel Jugendämter, die Träger der Deutschen Rentenversicherung, das Auswärtige Amt und seine Vertretungen.
Darüber hinaus fordert der Bundesrat unter anderem eine Ausweitung des automatisierten Verfahrens. Alle für Integrationsmaßnahmen zuständigen Stellen der Länder und Kommunen sollen direkt zugreifen können. Damit soll die Integrationsarbeit auf kommunaler Ebene und besonders die Sozialarbeit gestärkt werden. Das ist sicherlich ein Punkt, über den wir im weiteren parlamentarischen Verfahren noch reden werden.
Aber: Der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung hat zu Recht darauf hingewiesen, dass keine Personenkennzahl entstehen darf. Eine solche Entwicklung würde auch vom Bundesverfassungsgericht nicht akzeptiert. Das Ausländerzentralregister darf Informationen speichern und zur Verfügung stellen, aber eben nicht allumfassend, nicht unbegrenzt, und es darf auch nicht jeder Zugriff darauf haben. Es geht um persönliche Informationen, die geschützt werden müssen.
Bei dem Gesetzentwurf geht es aber nicht nur um eine solide Grundlage für die Flüchtlings- und Integrationspolitik, sondern, wie erwähnt, auch um das Thema Sicherheit. Ein Sicherheitsabgleichsverfahren wurde bereits mit dem letzten Datenaustauschverbesserungsgesetz eingeführt. Terrorismusrelevante Erkenntnisse oder sonstige schwerwiegende Sicherheitsbedenken sollen damit frühzeitig weitergegeben werden. Jetzt soll unter anderem die Bundespolizei mehr Befugnisse erhalten.
Wir haben in den anstehenden Beratungen also noch einigen Gesprächsbedarf. Es wird um die Forderungen der Länder gehen und um die Hinweise des Datenschutzbeauftragten – und um Verfahren, die die besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern berücksichtigen.
Für die SPD-Bundestagsfraktion ist eines klar: Wir wollen Daten für eine funktionierende Flüchtlings- und Integrationspolitik, Datenschutz und Sicherheit für die Bevölkerung im Land. Und wir sind davon überzeugt, dass es möglich ist, diese drei Punkte miteinander zu vereinbaren. Dafür setzen wir uns in den Beratungen ein.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Heinrich. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Linda Teuteberg, FDP-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich könnte es mir jetzt hier leicht machen und mich daran abarbeiten, wie viele Aufgaben die Große Koalition nach bald vier Jahren, seit dem Sommer 2015, noch nicht erledigt hat. Denn die Begründung zu diesem Gesetzentwurf könnte man insoweit auch als Mängelliste bisheriger Regierungsarbeit lesen. Aber als Freie Demokratin will ich die Sache positiv sehen: Es ist gut, dass mit diesem Gesetzentwurf endlich Bewegung in die Sache kommt – besser spät als nie –; denn die Grundrichtung dieses Gesetzentwurfes stimmt immerhin.
Die Nutzung von Mehrfachidentitäten zu verhindern oder zumindest zu erschweren, ist dringend notwendig und eine wichtige, ja eine überfällige Lehre aus dem Fall Amri. Auch bei den technischen Verbesserungen in der Behördenkommunikation, der Weiterentwicklung der Datenbanken und der Vereinheitlichung von Schnittstellen gehen Sie in die richtige Richtung. Grundsätzlich vernünftig ist auch die geplante Speicherung von Fingerabdruckdaten Minderjähriger. Da geht es nicht nur um Kontrolle, sondern auch darum, etwa alleinreisende Minderjährige zu identifizieren und mit ihren Angehörigen zusammenzubringen.
Über die konkrete Ausgestaltung dieser und anderer Maßnahmen werden wir noch im Detail sprechen müssen. Gerade auch im Hinblick auf datenschutzrechtliche Regelungen stehen hier noch viele Fragen im Raum, zum Beispiel, was den Kreis der Berechtigten anbelangt, die in den Behörden Zugriff auf diese Informationen bekommen sollen. Da kann ich eine Sorge, die der Kollege de Maizière heute Morgen in einer anderen Debatte geäußert hat, nämlich dass wir Liberalen immer gegen Datenaustausch seien, ganz gelassen entkräften. Wir sind aber immer für die rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe, und das müssen wir hier auch prüfen.
Wir sollten auch die Gelegenheit nutzen, um über weitere Verbesserungen zu sprechen. Der Bundesrat hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir nicht nur bei ausländer- und aufenthaltsrechtlichen Fragen einen besseren Datenaustausch benötigen, sondern auch die Sozialämter und die kommunalen Behörden besser mit dem System vernetzen müssen. Dabei geht es nicht nur um die Bekämpfung von Sozialbetrug, sondern vor allem auch um den Ausbau des Ausländerzentralregisters zu einer Integrationsdatenbank. Auch darum müssen wir uns jetzt kümmern, wenn wir nicht in den nächsten Jahren Integrationspolitik im partiellen Blindflug machen wollen.
Zu guter Letzt dürfen wir auch die technische Dimension nicht aus dem Auge verlieren. Ein guter Gesetzestext ist das eine; die vernünftige technische Ausstattung und Vernetzung von Behörden, der Schutz und die Pflege der Datenbanken und die Weiterbildung der Mitarbeiter sind das andere. Hier erwarten wir von der Bundesregierung einen klaren Fahrplan und auch eine transparente, regelmäßige Berichterstattung über den Gesetzesvollzug in der Praxis. Auch dabei werden wir Freien Demokraten der Bundesregierung ganz genau auf die Finger schauen und uns konstruktiv in die weitere Debatte einbringen.
Vielen Dank.
Es kann von der FDP-Fraktion noch jemand klatschen. Vielen Dank.
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Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke, Die Linke, das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung legt heute den Entwurf eines Zweiten Datenaustauschverbesserungsgesetzes vor. Schon dieser Name führt in die Irre; denn es geht hier nicht um Verbesserungen, sondern um Verschlechterungen,
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nämlich darum, den Datenschutz vor allem für Menschen in diesem Land ohne deutschen Pass zu verschlechtern. Das lehnen wir ganz entschieden ab.
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Im Ausländerzentralregister werden 26 Millionen Datensätze über Ausländer gespeichert, auf die 14 000 Ämter einschließlich der Geheimdienste zugreifen können.
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Zu den Daten, die über Asylsuchende gespeichert werden, gehören besonders sensible Informationen, zum Beispiel der Gesundheitszustand oder die obligatorisch erhobenen Fingerabdrücke, der Bildungsstand usw. usf. Die Bundesregierung will diese Daten sogar noch erweitern.
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Ich nenne ein Beispiel. Die Altersgrenze für die Abgabe von Fingerabdrücken bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen soll von 14 auf 6 Jahre abgesenkt werden. Gleichzeitig sieht der Gesetzentwurf keine Nutzungseinschränkungen hinsichtlich der erhobenen Daten vor.
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So laufen Kinder trotz Strafunmündigkeit in polizeiliche Ermittlungsverfahren hinein. Vor allen Dingen muss man hier sagen: Dass schon Sechsjährige als mutmaßliche Verbrecher behandelt werden können,
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ist mit dem Schutz des Kindeswohls und der Achtung der Kinderschutzrechte unvereinbar, meine Damen und Herren.
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Außerdem soll der Zugriff auf diese Daten noch ausgeweitet werden. Bislang brauchen einzelne Behördenmitarbeiter eigens eine Erlaubnis dafür, Zugriff auf diese Daten zu nehmen. Jetzt können ganze Verwaltungseinheiten die Befugnis bekommen,
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und es muss dann auch nicht mehr akribisch dokumentiert werden, wer wann auf diese Daten zugreift.
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Das führt zu einem riesengroßen Datenmissbrauchsrisiko. Schon wegen des erhöhten Risikos des Missbrauchs der Daten muss man das ablehnen.
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Des Weiteren sind erhebliche Verschlechterungen im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen geplant. Ihre Identifizierung und Erstunterbringung soll nicht mehr länger über die Jugendämter erfolgen, sondern über das BAMF. Ganz besonders schlimm finde ich, dass sie in Erstaufnahmeeinrichtungen für Erwachsene untergebracht werden sollen. Mit Kinderschutz hat das wirklich wenig zu tun; er wird hier immer weiter ausgehöhlt, und das lehnen wir ab.
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Meine Damen und Herren, die Erfassung der Daten von Ausländern wird ständig ausgeweitet. Zugleich fragt man sich aber: Wann wird eigentlich mal überprüft, ob die erhobenen Daten nicht eigentlich bereinigt werden müssten? Beispielsweise hat meine Anfrage an die Bundesregierung ergeben, dass 37 000 Geduldete, die im AZR als ausreisepflichtig erfasst sind, ein laufendes Asylverfahren haben. Rechtlich können sie gar nicht ausgewiesen werden.
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Von den angeblich mehr als 50 000 Ausreisepflichtigen ohne Duldung sind viele längst ausgereist. Das gibt die Bundesregierung selbst zu. Die Zahlen stimmen also schon lange nicht mehr. Deswegen finden wir: Statt dafür zu sorgen, dass das AZR um Karteileichen bereinigt wird, betreibt die Bundesregierung mit falschen Zahlen Stimmungsmache, indem in einer Dauerschleife die angeblich zu lasche Durchsetzung der Ausreisepflicht beklagt wird.
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Mit dem Gesetz treibt die Bundesregierung das Projekt „Gläserner Ausländer“ voran. Das Gegenteil wäre richtig, nämlich mit der Diskriminierung von Menschen – vor allen Dingen jener, die auf die Staatsangehörigkeit zurückgeht – endlich aufzuhören.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Jelpke. – Nun spricht zu uns die Kollegin Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir Grünen – um das gleich vorab klarzustellen – haben nichts gegen verbesserte Verwaltungsabläufe oder ressourcenschonende Neuerungen, wir haben nichts gegen schnellere und bessere Asylverfahren und auch nichts gegen das Optimieren behördlicher Abläufe, sodass Schutzsuchende schneller integriert werden können. Wogegen wir aber schon was haben, sind Gesetzentwürfe, die vorgeben, diesen Zielen Rechnung zu tragen, aber an anderer Stelle rechtsstaatliche Grundsätze verletzen.
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Genau das passiert mit Ihrem Gesetzentwurf, meine Damen und Herren.
So soll das Ausländerzentralregister um Angaben zum Asylverfahren, Identifizierungsdaten zur Erleichterung der Abschiebung vollziehbar Ausreisepflichtiger sowie Daten zu Programmen zur Förderung der freiwilligen Ausreise erweitert werden. Für diesen Zweck sollen künftig sogar private Träger, Beratungsstellen, Wohlfahrtsverbände zur Speicherung und Weitergabe von Daten verpflichtet werden. Ich möchte Ihnen einfach mal einen anderen Blick auf diese Sache eröffnen, meine Damen und Herren: Solche Vorgaben gefährden das Vertrauen zwischen Rückkehrberatungen und Geflüchteten erheblich und machen eine Beratung in einem geschützten Raum quasi unmöglich. Gerade den privaten Trägern wird der nötige Freiraum für eine unabhängige Rückkehrberatung genommen.
Darüber hinaus – es wurde schon erwähnt – ist die Herabsetzung des Mindestalters zur Abnahme von Fingerabdrücken von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen geplant. Dieses soll künftig von 14 auf 6 Jahre herabgesetzt werden. Sie müssen sich das einmal vorstellen: Ein Kind mit, sagen wir mal, sieben Jahren ist aus welchen Gründen auch immer allein nach Deutschland geflohen. Eines der ersten Erlebnisse dieses Kindes wird, nachdem es sicherlich schon eine ganze Reihe schwerer Momente in seinem Leben erlebt hat, die Abnahme von Fingerabdrücken sein, möglicherweise bei der Polizei.
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– Die AfD hat gerade hereingerufen und gefragt, was daran so schlimm ist. – Die Altersgrenze von 14 Jahren ist nicht aus blauem Dunst entstanden. Sie richtet sich nach der Verfahrensfähigkeit des Kindes; denn der Schutz der Rechte von Kindern orientiert sich auch daran, dass das Kind in der Lage ist, zu verstehen und einzuordnen, was mit ihm passiert. Das wäre in diesem Fall dann nicht mehr gegeben.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Anfang der Beratungen. Trotzdem möchte ich etwas grundsätzlicher werden. Es geht bei dem vorliegenden Gesetzentwurf um das Ausländerzentralregister, eines der größten automatisierten Register der öffentlichen Verwaltung in Deutschland. Die Daten von über 10 Millionen Menschen sind dort erfasst, 26 Millionen persönliche Datensätze. Zugreifen auf diese Daten dürfen über 100 000 Personen. Diese Zahlen machen einem Sorgen, vor allen Dingen, wenn man weiß, dass die ohnehin schon sehr weitreichende Erfassung, Speicherung und Weitergabe von Daten nun auch noch ausgeweitet werden soll. Dieses Gesetz beschneidet das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht klargemacht, dass in Bezug auf die Datenerfassung von Ausländern der Schutz der Persönlichkeitsrechte zu achten ist. Hinzu kommt – das finde ich wirklich mit den schärfsten Punkt –, dass sich trotz der erheblichen Ausweitung der Zugriffs- und Nutzungsrechte im gesamten Gesetzentwurf keine Regelung findet, die dem Schutz der Betroffenen und ihrer Daten dient. Ich finde, Sie haben wirklich noch Hausaufgaben zu machen.
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Eine wesentliche datenschutzrechtliche Bestimmung ist aber auch, dass man nicht blind sammelt, sondern dass man anlassbezogen Daten erhebt. Davon ist der vorliegende Gesetzentwurf weit entfernt. Und dann kommt noch hinzu, dass die Grundlage, nämlich das Ausländerzentralregister selbst, ohnehin schon an vielen Stellen rechtsstaatliche Fragen aufwirft. Das Ausländerzentralregister – man muss der Linkenfraktion wirklich dankbar sein, dass sie das durch Kleine Anfragen immer wieder herausarbeitet – ist eher von Chaos denn von validen Daten geprägt. 230 000 Menschen sind nach dem AZR angeblich ausreisepflichtig. Diese Zahlen hat sich, glaube ich, jeder in der Union gemerkt – ich werde sehr häufig damit konfrontiert –, hinterfragt haben Sie sie aber nie. Dass eine hohe Zahl derer, die als ausreisepflichtig gelten, nicht mehr in Deutschland ist, ein anderer großer Teil sich noch im Asylverfahren befindet und überhaupt nicht ausreisepflichtig sein kann, ist genauso absurd wie der Umstand, dass das Register noch Personen führt, die verstorben sind, mittlerweile eingebürgert wurden oder gar nicht mehr in Deutschland leben. Das ist die Grundlage, auf der Sie Politik machen. Sie nutzen die Zahlen, um Maßnahmen daraus abzuleiten. Ich finde das unseriös. Genauso unseriös ist es aber, diesen Missstand nicht zu beenden.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Amtsberg.
Nur ein letzter Satz.
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Herr Präsident, vielen Dank für die Toleranz.
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Danke schön. – Als nächster Redner erhält der Kollege Thorsten Frei das Wort. Bevor er erscheint: Wir sind, liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt in der Zeit bei knapp 4 Uhr morgens. Ich bin gebeten worden, in der mir eigenen zurückhaltenden Art dafür Sorge zu tragen, dass die Redezeiten eingehalten werden.
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Dafür werde ich auch sorgen.
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Herr Kollege Frei, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war 2016 wirklich ein großer Erfolg, als das erste Datenaustauschverbesserungsgesetz den Bundestag passiert hat. Man muss sich vorstellen: Das war in der Hochphase der Migrationskrise. In dieser Situation mehr Ordnung und mehr Steuerung in das Asylverfahren zu bringen, war eine große Leistung und eine klare Verbesserung, weil es gelungen ist, frühzeitig zu registrieren und die erfassten Daten allen relevanten Behörden zur Verfügung zu stellen. Vor diesem Hintergrund muss man sagen: Damit war eine neue, sehr komplexe und anspruchsvolle IT-Infrastruktur verbunden, mit der es gelungen ist, sehr heterogene Daten und Systeme über die föderalen Grenzen hinweg miteinander zu vernetzen. Das war ein großer Erfolg, den man anerkennen muss.
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Es stimmt, dass wir ein gutes Stück weit auf dem Weg vorangekommen sind. Das erste Datenaustauschverbesserungsgesetz ist eine gute Grundlage für all das, was wir jetzt regeln werden. Wenn wir uns jetzt mit dem Zweiten Datenaustauschverbesserungsgesetz beschäftigen, dann können wir das vor dem Hintergrund der Erfahrungen der letzten drei Jahre machen.
Aber es ist tatsächlich so, dass wir von unterschiedlichen Vorstellungen ausgehen. Wir wollen, dass die Behörden digital kommunizieren, und wir wollen das unter dem Gesichtspunkt von weniger Bürokratie, besserer Datenqualität und vor allen Dingen mehr Sicherheit erledigen. Deswegen gibt es drei große Bereiche, die beim vorliegenden Gesetzentwurf entscheidend sind:
Erstens. Das Ausländerzentralregister und die damit vergebene Nummer muss so ausgebaut und gestärkt werden, dass möglichst viele Behörden, die betroffen sind, Zugriff haben. Das gilt beispielsweise für die Polizeien von Bund und Ländern, das gilt für die Jugendämter, und das gilt auch für die Auslandsvertretungen. Es geht darum, dass man klare Zuordnungen vornehmen kann.
Zweitens. Es geht darum, dass wir klare Identitätsfeststellungen ermöglichen, dass wir es beenden, dass es Mehrfachidentitäten gibt, die nicht nur im Bereich der Sicherheit missbraucht werden, sondern beispielsweise auch, wenn es darum geht, dass Verwaltungen Leistungen erbringen, die nicht zulässig sind, weil sich jemand zweite, dritte oder noch mehr Leistungen erschleicht. Das werden wir mit diesem Gesetz beenden können.
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Das wird auch bedeuten, dass eine Person, egal ob er Asylbewerber, ob er anerkannter Flüchtling oder ob er ausreisepflichtig ist, von den Behörden zweifelsfrei identifizierbar ist und deshalb klar ist, mit wem man es zu tun hat.
Drittens. Es geht um mehr Sicherheit. Ich glaube schon, dass wir den Menschen die Frage beantworten müssen, was wir eigentlich tun, damit unter dem Deckmantel der Asylsuche nicht auch Verbrecher und Terroristen nach Deutschland kommen. Was tun wir dagegen? Durch das erste Datenaustauschverbesserungsgesetz wurden wichtige Grundlagen gelegt. Durch einen Abgleich von Datenbanken der Sicherheitsbehörden und der Nachrichtendienste kann man, wenn jemand unerlaubt nach Deutschland kommt, umfassend feststellen, ob irgendwo erkennungsdienstliche Erkenntnisse vorliegen. Genau auf dieser Basis sorgen wir jetzt für Verbesserungen: dass ein Abgleich frühzeitiger möglich ist, dass es eine breitere Datengrundlage gibt und dass es mehr Anlässe gibt, die zugrunde gelegt werden. Es geht darum, dass die Bundespolizei auch außerhalb des 30‑Kilometer-Grenzraumes tätig werden kann.
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Es geht darum, dass wir zusätzliche Möglichkeiten für weitere Behörden schaffen, tätig zu werden. Deshalb ist es das ein guter Gesetzentwurf. Wir werden ihn beraten. Ich kann für unsere Fraktion volle Zustimmung signalisieren.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Frei. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Saskia Esken, SPD-Fraktion, das Wort.
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Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Stellen Sie sich vor, es gäbe eine eindeutige Kennziffer, die Sie identifiziert und mit deren Hilfe jede staatliche Institution auf jede über Sie verfügbare Information zugreifen könnte: auf Ihren Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihre Adresse, aber auch auf Ihre Steuer- und Rentendaten, Gesundheitsdaten, all Ihre Jugendsünden und Verkehrsstrafen, Säumnisse und Offenbarungseide. – Keine angenehme Vorstellung, oder?
Wir haben in Deutschland gegenüber einem Staat, der alles über uns wissen will, ein eher zurückhaltendes Verhältnis. Vielleicht hat das mit unseren Erfahrungen mit Diktaturen zu tun. Der Staat soll uns Nischen lassen, in denen wir ganz privat sein können, er soll ein bisschen vergesslich sein, nicht in alles hinein- und nicht alles überblicken. Was ich da beschreibe, das sieht auch unsere Verfassung so. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Volkszählungsurteil im Jahr 1983 die Nutzung einheitlicher Identifikationsnummern zur offenen Kennzeichnung personenbezogener Daten untersagt.
Natürlich gibt es Identifikationsnummern, und es darf sie auch geben. Wir haben eine Personalausweisnummer, eine Steuernummer und eine Rentenversicherungsnummer. Aber sie sind verschieden, und unter jeder dieser Nummern dürfen jeweils nur spezifische Daten gespeichert sein, und es ist eben nicht alles, was die Behörden über einen Menschen wissen, an einem zentralen Ort gespeichert.
Warum erzähle ich Ihnen das? Ich erzähle Ihnen das, weil wir hier über genau so ein zentrales Register debattieren, das Ausländerzentralregister. In diesem Register sind alle Bürgerinnen und Bürger registriert, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und sich nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhalten.
Dennoch haben wir der Einrichtung eines solchen zentralen Registers in der vergangenen Legislaturperiode zugestimmt, weil es in den Jahren der großen Zugangszahlen von geflüchteten Menschen im Zusammenspiel von BAMF und Ausländerbehörden notwendig geworden ist, mehr Überblick herzustellen.
Das Ausländerzentralregister oder AZR enthält allerdings eine ziemliche Bandbreite von Daten über diese Menschen. Natürlich gibt es eine Kennziffer, mit der jeder, der in diesem Register gespeichert ist, eindeutig identifiziert werden kann. Diese Ziffer darf aus gutem Grund nur für die Datenübermittlung zwischen dem BAMF und den Ausländerbehörden verwendet werden. Unter dieser Maßgabe haben wir auch zugestimmt.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen jetzt die Verwendung der AZR-Nummer und der Datenaustausch auf weitere Behörden ausgeweitet werden. Dabei geht es nicht nur um weitere Verwaltungsbehörden, sondern auch um Behörden, die mit der Ermittlung bei und der Verfolgung von Straftaten befasst sind. Diese Ausweitung erhöht allerdings die Gefahr, dass die AZR-Nummer zu einer Personenkennzahl wird, also gerade zu dem, was das Bundesverfassungsgericht aus gutem Grund untersagt hat. Die Zusammenführung dieser teils durchaus sensiblen Daten kann zu einer umfassenden Katalogisierung der Persönlichkeit und zur Erstellung von Persönlichkeitsprofilen dienen.
Ich muss es einfach so sagen, wie es ist: Unsere in der Verfassung verankerten Grundrechte, liebe Kolleginnen und Kollegen, gelten für alle Menschen und nicht nur für diejenigen mit deutscher Staatsbürgerschaft. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit hat eine ziemlich kritische Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf abgegeben. Er hat unter anderem auf genau diesen Punkt abgehoben.
In der Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfs muss es uns deshalb zum einen darauf ankommen, das Ausländerzentralregister und vor allem seine Verwendung so auszugestalten, dass es den Grundrechten und dem Datenschutz entspricht. Es kann doch niemand wollen, dass die Gerichte diese Aufgabe für uns übernehmen müssen.
Zum anderen haben wir, um die Qualität unserer Gesetzgebung zu verbessern, die Evaluation von Gesetzen eingeführt. Das ist eine wirklich sehr kluge Vorgehensweise. Denn wie oft müssen wir feststellen, dass sich die Wirkungen unserer Gesetze nicht ganz so einstellen, wie wir es uns gewünscht haben, und unerwünschte Nebenwirkungen aufgetreten sind? Auch das Datenaustauschverbesserungsgesetz soll evaluiert werden.
Die Redezeit.
Ich bin fertig.
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Leider beraten wir schon heute über eine Weiterentwicklung des Gesetzes, obwohl die Evaluation erst zum Jahresende vorgelegt wird. Diese Fragen müssen wir in der Ausschussberatung beantworten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält der Kollege Alexander Throm, CDU/CSU-Fraktion, das Wort für einen Dreiminutenbeitrag.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir alle sagen immer wieder, dass wir die Migration nach Deutschland, aber auch das Migrationsgeschehen in Deutschland besser steuern wollen, freilich immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Und gerade das Ausländerzentralregister ist das zentrale Instrument, mit dem wir die Verfahrensabläufe hier in Deutschland auch steuern können.
Der erste Schritt ist 2016 mit dem ersten Gesetz gemacht worden. Wir entwickeln es jetzt weiter, weil die Praxis gezeigt hat, dass wir uns mit manchen Regelungen auch ein Stück weit selbst behindern. Wie soll man erklären, dass wir beispielsweise beim Jugendamt, bei den Staatsangehörigkeitsbehörden oder bei den Auslandsvertretungen nicht auch automatisiert auf die vorhandenen Daten zugreifen können und sollen?
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Der Normenkontrollrat, der uns begleitet und unsere Gesetzgebung kritisch verfolgt, stellt hierzu fest: Das Gesetz leistet einen wichtigen Beitrag zur Verwaltungsvereinfachung und entspricht den Anforderungen der Praxis. – Das ist auch ein Lob und eine Aussage, die wir mit in die Beratungen einbeziehen sollten.
Frau Kollegin Jelpke sagt, wir wollten den gläsernen Ausländer. Das stimmt nicht. Es ist übertrieben. Wir wollen allerdings wissen, wer sich bei uns in Deutschland aufhält. Wir wollen anhand der Daten auch ein geordnetes, schnelles und zügiges Verfahren durchführen. Das ist auch im Interesse des gutwilligen Ausländers, der ein schnelles Verfahren will und sich möglichst schnell integrieren möchte.
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Sie, Frau Kollegin Jelpke, mit Ihrer Fraktion stellen immer wieder Große Anfragen, mit denen Sie viele Daten gerade über das Migrationsgeschehen abfragen. Hin und wieder muss die Bundesregierung mal sagen: Dazu liegen uns leider keine Daten vor. – Sie sind es, die das dann am heftigsten kritisieren.
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Das Zweite Datenaustauschverbesserungsgesetz dient auch dazu, die Daten dann besser zu erheben und Ihnen auch bei Anfragen zur Verfügung stellen zu können.
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Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist das Abnehmen von Fingerabdrücken bei Minderjährigen zwischen 6 und 14 Jahren. Ja, wenn man sich das anschaut, ist es auf den ersten Blick überraschend, dass wir auch von Kindern unter 14 Jahren Fingerabdrücke erheben wollen. Aber eine bestimmte Situation haben wir alle in den letzten Jahren mehrfach zu Recht kritisiert. Wir wissen von knapp 3 000 unbegleiteten Minderjährigen, die in Deutschland waren und vielleicht noch sind; jedenfalls wissen wir heute nicht, wo sie sind. Darunter sind knapp 900 Minderjährige unter 14 Jahren. Insofern dient das Abnehmen der Fingerabdrücke gerade auch dem Schutz dieser Minderjährigen, damit wir besser auf sie aufpassen können,
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zukünftig wissen, wo sie sind, und sie gegebenenfalls auch in Obhut nehmen können.
Gehen Sie bitte nicht davon aus, dass das heute noch irgendwo in einem schummrigen Hinterzimmer mit Tinte und blauen Fingern passiert. Vielmehr muss man einfach die Hand auf eine Glasscheibe legen. Selbstverständlich ist auch eine fachliche Betreuung vom Jugendamt dabei. Ich glaube, wir tun damit etwas im Interesse der Minderjährigen – und keinesfalls gegen sie.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Throm. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/8752 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist erkennbar nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Türkei ist bisher ein zuverlässiger Partner im Rahmen der NATO. Es existieren funktionierende Strukturen im Rahmen der Zollunion. Die Türkei ist eine große Nation im Nahen Osten, eine stolze Nation, die souverän agiert und schon deshalb schwer in das derzeitige Brüsseler Regime integrierbar wäre.
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In der Türkei herrscht ein traditionell anderes Politikverständnis, das mit unserer Wertearchitektur nicht kompatibel ist.
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Die AfD-Fraktion lehnt den EU-Beitritt der Türkei ab, respektiert aber, dass die Türkei unter Erdogan gedenkt, an ihrer Identität und orientalischen Traditionslinie festzuhalten. Dessen ungeachtet fehlen der Türkei fundamentale Voraussetzungen, um Mitglied der EU zu werden. Ich komme auf einige zu sprechen.
Die Türkei müsste die eigenen Regeln den EU-Vorgaben anpassen. Von den 35 Kapiteln, die jeder Beitrittskandidat bearbeiten und abschließen muss, ist bisher lediglich eins vorläufig abgeschlossen. Eine ganze Reihe von Kapiteln wurden seit der Verleihung des Status als Beitrittskandidat 1999 gar nicht erst eröffnet, weil einige Mitgliedstaaten Einwände dagegen hatten bzw. gar keine Aussicht auf Erfolg sahen.
Die Türkei gehört nicht zu Europa. 1987 wurde noch Marokkos Beitrittsgesuch mit der Begründung abgelehnt, dass nur ein europäisches Land Mitglied der EU werden könne. Die AfD-Fraktion möchte Europa als europäischen Geschichts- und Kulturraum erhalten.
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Die Türkei unter Erdogan missachtet Menschenrechte. Seit dem versuchten Militärputsch im Jahr 2016 sind mehr als 55 000 Menschen verhaftet worden, darunter Anwälte, Richter, Lehrer, Professoren, Universitätsmitarbeiter und einige Journalisten. Presse- und Meinungsfreiheit sind eingeschränkt. Kollegen des Bundestages wurde verweigert, deutsche Soldaten in der Türkei zu besuchen.
Die EU wird von Erdogan als „Christenclub“ abgewertet. Er mischt sich in den deutschen Wahlkampf ein und hetzt seine hier lebenden Landsleute auf. Selbst die EU-Kommission hält in einem Fortschrittsbericht fest – Zitat –:
Die Türkei hat sich in großen Schritten von der EU wegbewegt.
Ein weiterer Punkt. Der Beitritt der Türkei würde den heute schon uneffektiven EU-Außengrenzschutz vor unlösbare Probleme stellen. Die EU hätte dann einen Grenzverlauf mit einer der zentralen Konfliktregionen des Nahen Ostens. Damit läge der Syrien- und Irak-Konflikt direkt vor unserer Haustür.
Man könnte noch die Zypern-Frage anbringen und die enormen Kosten für die EU, die ein Beitritt der Türkei mit sich brächte, oder weitere Punkte ansprechen. Aber ich möchte Ihnen, verehrte Kollegen, gerne auch noch ein paar Ansatzpunkte lassen. Bedenken Sie dabei bitte: Der deutsche Wähler wird die Debatte über unseren Antrag sicher recht aufmerksam verfolgen.
Die AfD-Fraktion fordert mit ihrem Antrag die Bundesregierung auf, sich innerhalb der EU gegenüber anderen Mitgliedstaaten dafür einzusetzen, die Verhandlungen zum EU-Beitritt der Türkei umgehend zu beenden, weitere Vorbeitrittshilfen komplett zu streichen,
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die von der Türkei geforderte Visafreiheit abzulehnen und sicherzustellen – das ist eine sehr wichtige Forderung –, dass kein deutsches Steuergeld zur Stabilisierung der türkischen Politik unter Erdogan bereitgestellt wird.
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Wie wir alle wissen, lehnte die AfD schon in ihrem Grundsatzprogramm den Beitritt der Türkei ab. Wir erkennen dennoch an, dass auch Vertreter der übrigen Parteien des Hohen Hauses in der Zwischenzeit eine Neubewertung der Türkei-Frage vorgenommen haben. So war von Manfred Weber, CSU, zu vernehmen – ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten –:
Die Türkei passt nicht in die EU.
Kollege Schulz, SPD, ergänzt – ich zitiere –: Es macht keinen Sinn, Beitrittsverhandlungen fortzusetzen. Zitat Ende. Meine Damen und Herren, die Türkei in ihrem heutigen Zustand passt nicht in die EU. Die EU muss dies jetzt der Türkei in aller Deutlichkeit sagen. Das ist auch eine Frage der Ehrlichkeit gegenüber dem NATO-Partner Türkei. Ich lade Sie ein, gemeinsam mit uns heute, am 4. April 2019, ein Signal der Geschlossenheit des Deutschen Bundestages in der Türkei-Frage zu senden.
Ich möchte mich zum Abschluss bei meiner Kollegin Miazga für die Zusammenarbeit, was den Antrag betrifft, bedanken. Ich freue mich nun auf die Debatte und bin selbstverständlich der Meinung, dass der AfD-Fraktion nach guter demokratischer Sitte und nach der Geschäftsordnung auch ein Bundestagsvizepräsident zusteht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Droese. – Als nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Matern von Marschall das Wort.
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Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der AfD ist, würde ich mal sagen, vor allen Dingen überholt. Der Europäische Rat hat im Juni vergangenen Jahres beschlossen, die Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union auf Eis zu legen. Es werden keine neuen Kapitel eröffnet, und es werden keine abgeschlossen. Das ist im Übrigen auch die Position der Bundesregierung. Das ist auch die Position, die wir gemeinsam im Koalitionsvertrag niedergelegt haben. Insofern besteht gar kein Handlungsbedarf.
({0})
Offensichtlich ist Ihr Antrag im Wesentlichen ein Wahlkampfmanöver vor der Europawahl.
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Von der Fundiertheit des knapp anderthalbseitigen Antrags will ich jetzt gar nicht sprechen.
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Ich will Folgendes sagen:
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Wir haben in vielen Berichten der Europäischen Kommission in den vergangenen Jahren die sukzessiven Verschlechterungen im Rechtsstaatsbereich zur Kenntnis genommen. Diese Berichte sind natürlich deswegen geschrieben worden, weil wir nicht endgültig die Verhandlungen abgebrochen haben, sondern sie nur auf Eis gelegt haben. Es ist also gut, dass wir regelmäßig diese Berichte erhalten.
Zum Zweiten. Wenn ich auf die Kommunalwahlen zurückschaue, bei denen wir erlebt haben, dass die Demokratie in der Türkei weiterhin lebendig ist, bei denen wir gesehen haben, dass sich trotz erheblicher Behinderungen der Demokratie, der Meinungsbildung und der Pressefreiheit,
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auch andere Stimmen Bahn brechen, dann bin ich ganz sicher, dass wir diejenigen unterstützen sollten, die sich auf europäische Werte beziehen. Deswegen halte ich es für richtig, dass wir die sogenannten IPA-Mittel, die Vorbeitrittshilfen, zwar deutlich reduzieren, aber eben nicht in den Bereichen, in denen wir diejenigen, die sich in der Türkei für Demokratie und für Rechtsstaatlichkeit einsetzen, unterstützen können.
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Deswegen finde ich es sehr gut, dass wir Programme wie Erasmus und Austauschprogramme im Rahmen von Horizon 2020 weiterhin fördern, aber die Förderung in allen anderen Bereichen selbstverständlich reduzieren. Diese Reduktion um 60 Prozent entspricht im Zeitraum 2018 bis 2020 über 1 Milliarde Euro.
Ich bin ganz sicher – das ist von Ihnen ja auch anerkannt worden –, dass wir in der Türkei nicht nur einen wichtigen NATO-Partner haben, sondern dass wir in der Türkei auch weiterhin einen wichtigen Partner bei der Unterstützung von über 3 Millionen Flüchtlingen haben, die in der Türkei weiterhin Zuflucht finden. Die diesbezügliche Vereinbarung der Europäischen Union mit der Türkei ist gut. Wir sind der Türkei dankbar, dass sie diese wertvolle und wichtige Arbeit macht. Wir haben jetzt die zweite Tranche zur Auszahlung gebracht. Ich glaube, dass alle Fraktionen in diesem Hause, einschließlich der AfD, froh sind, dass diese Vereinbarung ihre Wirkung zeitigt.
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Ich sehe überhaupt nicht, auch nicht in dem, was Sie in den vergangenen Monaten hier suggeriert haben, was auch andernorts in diesem Hause schon suggeriert worden ist, dass es irgendeinen Zusammenhang zwischen den auf Eis gelegten Beitrittsverhandlungen auf der einen Seite und den Vereinbarungen zur Unterstützung der Flüchtlinge auf der anderen Seite gebe.
Mit anderen Worten: Ich bin ganz sicher, dass trotz aller Schwierigkeiten und trotz aller Defizite im Rechtsstaatsbereich die lange und gute Freundschaft, die Deutschland und die Türkei verbindet und die insofern auch eine wichtige Brückenfunktion innerhalb der Europäischen Union zu diesem Land besitzt, langfristig tragfähig sein wird. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir wieder in andere Zeiten gelangen werden. Im Übrigen bin ich zuversichtlich, dass die vielen türkischstämmigen Menschen, die hier bei uns im Land leben, ob deutscher oder türkischer Staatsbürgerschaft, eine ganz wichtige Brückenfunktion für den Austausch zwischen unseren beiden Ländern haben. Das möchte ich erhalten, und deswegen bin ich dafür, dass wir in der Sache klar und deutlich reden, dass wir die vielen Defizite im Rechtsstaatsbereich weiterhin anprangern, dass wir die Gespräche hinsichtlich der Visaliberalisierung und der Zollunion nicht voranbringen, solange wir keine Fortschritte sehen, aber insgesamt unsere Freundschaft zur Türkei nicht infrage stellen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Gyde Jensen, FDP-Fraktion.
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Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Türkei steht an einem Scheideweg: Möchte sie als Teil Europas anerkannt sein, oder möchte sie ein unfreies Land sein, ein Sultanat, das freie Medien und freie Meinungen mit Staatsgewalt unterdrückt?
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Die Türkei von Präsident Erdogan hat alle Eigenschaften einer illiberalen Demokratie: Mehr als 150 Journalisten sind in Haft, ebenso der Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtas von der HDP; die Medienlandschaft ist weitestgehend unter der Kontrolle von Präsident Erdogan und der AKP. Die Zensur freier Berichterstattung ist Ausdruck von Diktatur. Und die Ausweisungen von Korrespondenten von ZDF und „Tagesspiegel“ zeigen nur eines, und zwar die Schwäche von Präsident Erdogan, sich Kritik nicht offen stellen zu können. Und nicht nur das: Präsident Erdogan tut alles, um unter dem Vorwand des Terrorverdachts andere Meinungen mundtot zu machen.
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Da sind zum Beispiel die Veröffentlichung pauschaler Terrorlisten mit Namen oppositioneller Politiker und die Androhung von Strafverfolgung gegenüber Parlamentariern, gar der Ausschluss von HDP-Abgeordneten aus der türkischen Delegation im Europarat. Das alles sind weitere Indizien dafür, wie feindselig der türkische Präsident gegenüber freier, kritischer Meinung eingestellt ist.
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Es ist deshalb umso schöner, zu sehen – Herr von Marschall hat es gesagt –, dass der Machtwechsel bei den Kommunalwahlen, zum Beispiel in Istanbul und in Ankara, ein klares Signal der Wähler für mehr Pluralität in der Türkei ist. Es ist ein Zeichen an Präsident Erdogan, dass das Aushöhlen der Demokratie und das Einsperren von Politikern und Journalisten nicht im Interesse der Mehrheit der Menschen in Ankara und Istanbul sind. In Europa dürfen wir aber nicht naiv sein und glauben, dass es jemals eine freie Wahl unter Erdogan geben wird; es nährt dennoch die Hoffnung, dass sich die aktive Zivilgesellschaft nicht einschüchtern lässt und trotz ununterbrochener Unterdrückungskampagne friedlich demonstrierend den Weg in dieses Sultanat, das er plant, ablehnt.
Meine Damen und Herren, es geht hier nicht mehr darum, den Beitritt der Türkei zur EU noch zu realisieren; aber es geht um Reformen, um einen Weg in ein freieres und besseres Leben in der Türkei. Deutschland und die EU müssen deshalb mit Nachdruck unterstreichen, dass die Aushöhlung des Rechtsstaats, das Einkerkern von Journalisten und die Unterdrückung politischer Meinungsäußerungen allen Standards, nicht nur den europäischen, sondern allen internationalen Standards, klar widersprechen, allen Standards, zu deren Einhaltung sich die Türkei im Übrigen selbst verpflichtet hat. Mit europäischen Werten verträgt sich dieses Vorgehen der Türkei nicht, mit einem Status als EU-Beitrittskandidat schon gar nicht. Die Türkei dokumentiert selbst, den Beitritt gar nicht mehr zu wollen. Hier geht es im Übrigen auch nicht darum, dass wir über Möglichkeiten verhandeln, wie die Türkei EU-Beitrittskandidat bleiben kann. Es geht einzig und allein um die Frage: Erfüllt die Türkei die notwendigen Standards, die ein europäisches Land, ein Land in der Europäischen Union laut Vertragswerk erfüllen muss? Das können wir ganz klar verneinen.
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Wir müssen uns als Europäer in die Lage versetzen, gemeinsam universelle Werte zu verteidigen. Dafür sind die Europäische Union und ihr Wertekompass enorm wichtig. Gute Beziehungen müssen immer an die Einhaltung von Menschenrechten und die Werte der Demokratie geknüpft sein.
Meine Damen und Herren, Europa ist für viele Türken weiterhin ein Kontinent jener Regeln, die in der Türkei mit Füßen getreten werden, der Kontinent, der für Pressefreiheit, Bürgerbeteiligung, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und auch für Säkularisierung steht.
Den Dialog und die Gespräche über gemeinsame Herausforderungen muss es allerdings weiterhin geben. Einen Kuschelkurs oder gar das Aussparen von Kritik darf es hier auf gar keinen Fall geben. Die Türkei muss die rechtlichen Standards einhalten, zu denen sie sich als OSZE-, als Europarats- und auch als NATO-Mitglied verpflichtet hat. Erst dann kann es überhaupt Gespräche über die Erweiterung der Zollunion, Rüstungskooperationen und Visafreiheit geben. Nur mit dieser Kooperation kommt gleichzeitig auch die Verantwortung, für unsere Werte einzustehen. Wir müssen deshalb viel stärker bereit sein, Kooperation an die Einhaltung menschenrechtlicher Standards zu knüpfen, die ein nachhaltiges Monitoring sicherstellen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Jensen. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Markus Töns, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Droese, es ist schon abenteuerlich; das muss man ja sagen. Wie ist denn Ihre Haltung zu den Identitären?
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Sie sollten mal ein bisschen bei sich selber aufräumen.
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Aber ich kann Ihnen sagen, Herr Droese: Es gibt hervorragende Aussteigerprogramme, wenn man da rauswill. Herr Kleinwächter, Sie müssen sich nur an die Leute in Ihrem Bundesland wenden, sie werden Ihnen Angebote machen, aus diesem Teufelskreis herauszukommen. Das wird Ihnen helfen; das macht Sie auch glücklicher. Glauben Sie mir.
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Schauen wir uns doch mal den Antrag an, den Sie auf den Weg gebracht haben. Da heißt es zum Beispiel unter „I. Der Deutsche Bundestag stellt fest“:
Die jüngsten Restriktionen gegen deutsche Journalisten sind nun nach Auffassung der EU der Tiefpunkt der Beziehungen.
Ich will noch etwas zitieren. Ihre Fraktionsvorsitzende Weidel hat noch im letzten Jahr in einem Facebook-Post erklärt: Deniz Yücel ist ein antideutscher Hassprediger. „Yücel ist weder Journalist noch Deutscher!“ – Ich finde schon, Sie haben eine merkwürdige Umgangsweise mit deutschen Journalisten.
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Sie müssen sich mal festlegen, was Sie an dieser Stelle eigentlich wollen.
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Sie fordern dann – auch das ist spannend – den Abbruch der Verhandlungen. Ich zitiere weiter aus Ihrem Antrag:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf … die Verhandlungen zum EU-Beitritt der Türkei umgehend zu beenden …
Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung alleine werden das nicht machen können – sie können das für sich nicht entscheiden –, sondern das müssen die 28 bzw. künftig wahrscheinlich 27 EU-Mitgliedstaaten entscheiden. Also, vielleicht mal ein bisschen genauer lesen.
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Das hilft Ihnen auch.
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Noch etwas will ich Ihnen sagen; das ist noch viel abenteuerlicher. Unter Punkt 4 Ihres Antrages steht:
… sicherzustellen, dass kein deutsches Steuergeld zur Stabilisierung der türkischen Politik unter Präsident Erdogan eingesetzt wird.
Ja, kein deutsches Steuergeld soll da eingesetzt werden. Lassen Sie uns darüber doch mal reden. Deutsches Steuergeld fließt dahin nicht zur Stabilisierung der Regierung; denn deutsches Steuergeld fließt in die Türkei – EU-Fazilität für Flüchtlinge in der Türkei –, um Flüchtlinge und auch Gemeinden, die von Flucht betroffen sind, zu unterstützen. Darum geht es in dieser Frage und nicht darum, mit Steuergeld einen Staatspräsidenten zu unterstützen.
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Da verwechseln Sie wirklich alles; da verwechseln Sie Birnen mit Äpfeln. Vielleicht sollten Sie das noch mal bedenken.
Meine Damen und Herren, eines ist klar: Die Türkei ist in dem Zustand, in dem sie sich derzeit befindet, nicht beitrittsfähig. Das kann man eindeutig so sagen. Das Vorgehen gegen Minderheiten, das Vorgehen gegen die Kurden, das Vorgehen gegen Andersdenkende, gegen die Opposition und ganz besonders gegen Journalisten ist nicht hinnehmbar.
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Deshalb ist es richtig, dass diese Verhandlungen auf Eis gelegt werden. Ich will nur noch mal auf die Proteste im Gezi-Park in Istanbul hinweisen. Sie wissen alle miteinander, dass die Vorgehensweise der türkischen Politik, des türkischen Staates an dieser Stelle falsch war, weil sie Proteste in Zweifel gezogen hat. Vor dem Hintergrund gilt es zu urteilen.
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Was wir brauchen und wollen, ist eine europäische Bindung der Türkei, weil wir nämlich die Entwicklung zu Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei unterstützen wollen. Die Türkei ist übrigens an die Verpflichtungen ihres Kandidatenstatus gebunden, und deshalb wäre ein Abbrechen der Verhandlungen falsch. Demokratische Kräfte stärken, das ist wichtig.
Ich will Ihnen zum Abschluss nur noch mal etwas sagen. Die Annahme Ihres Antrages würde Folgendes bedeuten – ich fasse zusammen –:
Erstens: die Schwächung der demokratischen Kräfte. Zweitens. Die Sicherheitslage in der Region würde sich erheblich verschlechtern. Drittens. Wirtschaftliche Beziehungen zur Europäischen Union würden sich erheblich verschlechtern.
Das kann nun wirklich nicht im Interesse der Bundesrepublik Deutschland sein.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Töns. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Dr. Diether Dehm, Fraktion Die Linke.
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Vielen Dank. – Hochverehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die AfD sollte nicht nur nicht vergessen, Herr Droese, was Frau Weidel hier gesagt hat, als sie Deniz Yücel hier abgesprochen hat, Journalist und deutscher Staatsbürger zu sein, sondern auch nicht das, was draußen im Lande erzählt worden ist. Wir haben das nicht vergessen.
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Die AKP Erdogans und die AfD von Höcke, ihr seid doch Brüder im Ungeist mit eurer Verachtung für die demokratische Gewaltenteilung im Staat, für soziale Grundrechte, mit eurer brutalen Verfolgung von allem, was links und freiheitsliebend klingt.
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Die AfD will dem Erdogan-Regime die Finanz- und Kredithilfen abdrehen. Aber zugleich verschweigt ihr in eurem Antrag die deutschen Waffenexporte in die Türkei – vielleicht aus Rücksicht auf eure Spender und deren Rüstungsdividenden. Das könnte ja ein Grund sein.
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Die AfD steht so eisern wie Erdogans AKP zu den Finanzspekulanten. Die AfD klingt genauso völkisch-rassistisch wie Erdogan,
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nur, der hat noch mehr Macht – noch!
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Zehntausende Oppositionelle – es wurde schon gesagt – sind inhaftiert; über 100 000 wurden aus dem Staatsdienst entlassen.
Ich stand in einem Gewerkschaftshaus in Istanbul. Die zerschlagenen Fenster stammten noch aus dem April; die Blutflecken an der Wand waren vom Ersten Mai. In drei Wochen könnte es wieder so weit sein. Verfolgte Gewerkschafterinnen müssen uns hier genauso wichtig sein wie Wissenschaftlerinnen, Journalisten und Künstler im Knast.
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Erdogan hat vor der Kommunalwahl alle Andersdenkenden als Terroristen gebrandmarkt.
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Dennoch haben die Oppositionsparteien, die großartige prokurdische HDP und die CHP, jetzt überraschend gute Erfolge erkämpft, in Istanbul, Ankara und anderen Städten, und dies trotz Manipulation, gleichgeschalteter Medien und den brutalen Folterspitzeln Erdogans. Frau Merkel und Herr Maas, anstatt der peinlichen NATO-Waffenbrüderschaft mit Erdogan können wir der demokratischen Opposition in der Türkei gar nicht genug gratulieren.
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Beitrittsverhandlungen dürfen nicht fortgesetzt werden und die Finanz- und Kredithilfen auch nicht. Deswegen müssen, Kollege Töns, die Verhandlungen offiziell auf Eis gelegt werden – offiziell! –, auch wegen der Finanzen.
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Die Bilder sind doch zu bitter, wie mit deutschen Panzern die türkische Armee Syrien überfällt und dort die hinmordet, die uns vom IS zu befreien geholfen haben.
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Den tapferen Kurdinnen und Kurden gebühren nicht deutsche Kriminalisierung der PKK auf der deutschen Terrorliste, nicht deutsche Granaten aus Erdogans Panzerrohren; denen gebührt Dank vom Deutschen Bundestag.
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– Genau das. Jetzt halten Sie mal ein bisschen inne, und versuchen Sie mal, wenn Sie schon dazwischenreden, so zu rufen, dass man das hier auch verstehen kann.
Welche Werte machen denn NATO und EU zu einer Wertegemeinschaft? Bruch von Völkerrecht? Verfolgung von Gewerkschafterinnen? Rüstungsexport und Bombenterror? Dann ernennen Sie doch gleich Trump und Erdogan zur doppelt quotierten NATO-Spitze. Mit 70 hat immerhin auch die NATO das Recht auf ein Gesicht, das sie verdient.
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Die AfD verschweigt, dass die Bundeswehr immer noch im Rahmen einer NATO-Mission in der Türkei stationiert ist
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und dass seit zehn Jahren nicht ein einziger türkischer Geheimdienstspitzel aus Deutschland ausgewiesen worden ist, obwohl die hier infiltrieren, schikanieren und terrorisieren. Das ist der Skandal!
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Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Ich komme zum Schluss. – Andersdenkende dieses Bundestages wie meine Kollegin Dağdelen und der Kollege Özdemir sowie ihre Familien können seit langem nur noch mit Polizeischutz in die Öffentlichkeit. Die Linke sagt: Raus mit diesen – –
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Herr Kollege, ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen, weil Sie Ihre Redezeit um 40 Sekunden überschritten hatten.
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Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Cem Özdemir.
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– Herr Kollege Brandner, das entscheide immer noch ich. Ich brauche Ihre Belehrung in dieser Frage nicht, und eine Wiederholung wird einen Ordnungsruf auslösen.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einem Kompliment anfangen, nämlich mit einem Kompliment an die mutigen Menschen in der Türkei, die sich am vergangenen Sonntag trotz aller Repression,
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trotz aller Zensur und trotz aller Gefängnisandrohung für die Demokratie entschieden haben – von Istanbul über Ankara bis nach Diyarbakir. Dazu gehört Mut; das sind europäische Werte. Diesen Menschen fühlt sich der Deutsche Bundestag verbunden und nahe.
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Sie haben eines gezeigt: Es gibt die andere Türkei, die Türkei, die sich für Demokratie, für Toleranz, für Menschenrechte, für Minderheitenrechte, für Gleichberechtigung, also für die Werte Europas, einsetzt. Ihr gilt unsere Solidarität.
Ich sage aber auch: Solange Erdogan Präsident der Türkei ist, solange müssen die Beitrittsverhandlungen genau dort bleiben, wo sie gegenwärtig sind, nämlich im Tiefkühlregal ganz hinten. Mit Erdogan wird diese Türkei ganz sicher nicht Mitglied der Europäischen Union werden können. Das weiß jeder hier im Haus – offensichtlich alle außer Ihnen.
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Unsere Kritik – und das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns –
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richtet sich gegen Erdogan; sie richtet sich nicht gegen die Menschen in der Türkei. Wir sind weder antitürkisch noch antimuslimisch, sondern wir sind antidiktatorisch. Das ist es, was die Mehrheit dieses Hauses von Ihnen unterscheidet.
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Genau das ist mal wieder die Trennlinie zwischen der AfD und dem Rest dieses Hauses.
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Was immer Ihr Anliegen ist: Es ist ganz sicherlich nicht das Anliegen, die Situation der Journalisten, der Frauen, der Christen, der Schwulen und der Lesben in der Türkei zu verbessern; denn genau diesen Menschen schlagen Sie die Tür vor der Nase zu. Damit erweisen Sie Erdogan übrigens den größtmöglichen Dienst.
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Wissen Sie, was mich an Ihrem Antrag am meisten verwundert?
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Sie zielen auf Erdogan – so sagen Sie es zumindest –, dabei ist er doch in Wirklichkeit Ihr Bruder im Geiste – ebenso wie Putin, ebenso wie Trump, ebenso wie Viktor Orban.
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Sie sind alle Mitglieder im selben Machoklub, in dem man als AfDler Ehrenmitglied wird.
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Machen Sie sich doch mal ehrlich!
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Ich versuche gerade, mir vorzustellen, Sie, die Sie hier sitzen, würden in der Türkei ein Wahlrecht besitzen. Eines wissen wir, glaube ich, alle: Sie hätten weder die CHP noch die HDP gewählt, sondern Sie hätten die AKP oder die MHP gewählt, weil die genauso ticken wie Sie.
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Die AKP ist eine Partei, die sich der Aufarbeitung der dunklen Kapitel der Geschichte ihres Landes genauso wenig stellt wie die Partei hier vorne rechts, die das Jahrtausendverbrechen des Nationalsozialismus als „Vogelschiss“ bezeichnet,
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eine Partei, die sich lieber an Moskau statt an Brüssel orientiert, eine Partei, die Anstand und Moral tagtäglich mit Füßen tritt.
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Ich muss nach dieser Debatte nur in meinen Twitter-Account schauen; dann sehe ich: Es gibt zwischen AKP- und AfD-Anhängern einen Unterschied, nämlich die Sprache. Die Inhalte sind genau gleich. Ich kann Ihnen das genau übersetzen und zeigen.
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Ihnen geht es um vieles, aber es geht Ihnen garantiert nicht um eine demokratische Zukunft für die Menschen in der Türkei. – Übrigens: Ihr Schreien zeigt mir, dass ich recht habe.
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Ihnen geht es darum, die Tür zu Europa für alle zuzumachen, die muslimischen Glaubens sind. Sie machen sich zum Handlanger Erdogans.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Özdemir. – Herr Kollege Brandner, für den Zwischenruf „Sie sind ein Hetzer“ erteile ich Ihnen einen Ordnungsruf.
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Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Andreas Nick, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Niemand geht aktuell davon aus, dass eine türkische Vollmitgliedschaft in der EU auf absehbare Zeit eine realistische Perspektive ist. Die Beitrittsgespräche sind faktisch zum Erliegen gekommen. Dafür gibt es vielfältige Gründe, und das ist natürlich vor allem eine Folge der innenpolitischen Entwicklung in der Türkei selbst.
Es ist klar: Derzeit dürfte es der Türkei wohl kaum gelingen, die Kopenhagener Kriterien der EU zu erfüllen. Dies gilt insbesondere für die Stabilität als Garantie für rechtsstaatliche Ordnung, die Wahrung von Menschenrechten und die Achtung und den Schutz von Minderheiten. Die Schlussfolgerung ist klar: Die innere Verfasstheit der Türkei darf nicht immer stärker in einen Gegensatz zu ihren eigenen strategischen Interessen geraten. Dazu gehören zweifelsohne gute Beziehungen mit dem Westen – politisch wie wirtschaftlich. Wir im Westen haben umgekehrt weiterhin ein vitales Interesse an einer prosperierenden Türkei mit einer stabilen Demokratie und einer lebendigen Zivilgesellschaft.
Die Kommunalwahlen in der Türkei am vergangenen Wochenende mit einer Wahlbeteiligung von 85 Prozent und den Wahlsiegen der Opposition in großen Städten wie Ankara, Istanbul und Izmir zeigen die Wertschätzung der türkischen Bevölkerung für pluralistische Demokratie und politischen Wettbewerb.
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Wenn aber der Beitritt zur Europäischen Union keine realistische Perspektive ist, ist es an der Zeit, die Beziehungen zur Türkei neu zu vermessen. Aber statt die Tür einseitig zuzuschlagen und die Beitrittsgespräche einseitig zu beenden, sollten wir gemeinsam mit der Türkei eine Perspektive jenseits der EU-Vollmitgliedschaft auf der Grundlage realistischer Erwartungen entwickeln. Dabei sollten wir uns vorrangig auf die Themen konzentrieren, bei denen konkrete Verbesserungen der Beziehungen auch kurzfristig erreichbar sind. Ich nenne die Erweiterung der Zollunion, schrittweise Maßnahmen zur Visaliberalisierung, zum Beispiel für Wissenschaftler und Studenten, die Verstärkung des Jugendaustausches und vermehrte kulturelle Begegnungen. Das alles sind nicht zuletzt Maßnahmen, die sich ganz vorrangig an die Zivilgesellschaft richten.
Der Schlüssel zur Intensivierung der Beziehungen in diesen Bereichen liegt aber in der Türkei selbst. Der Kollege von Marschall hat das vorhin angesprochen: Ohne Fortschritte bei den zentralen Fragen des Schutzes der Menschenrechte, der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der pluralistischen Demokratie sind einer Intensivierung der Zusammenarbeit enge Grenzen gesetzt.
Jüngst haben uns Meldungen über die Nichtakkreditierung deutscher Journalisten oder die Androhung, deutsche Staatsbürger wegen freier Meinungsäußerung in Deutschland bei der Einreise in die Türkei festzunehmen oder zurückzuweisen, beunruhigt. Die Türkei muss auch den Verpflichtungen nachkommen, die sich aus ihrer Mitgliedschaft im Europarat ergeben. Dort ist sie de facto Gründungsmitglied. Hier wird es eine entscheidende Nagelprobe geben, nämlich den Umgang mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Freilassung von Selahattin Demirtas, sofern dieses Urteil rechtskräftig wird. Das wird ein entscheidender Testfall werden.
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Denn, meine Damen und Herren, die Türkei ist und bleibt ein wichtiger Nachbar und Partner. Sie hat das Potenzial, eine lebendige Brücke zwischen dem Westen und der islamischen Welt zu sein. Um aber dauerhaft stabil und tragfähig zu sein, muss eine Brücke an beiden Ufern gleichermaßen fest verankert sein.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Nick. – Bevor wir fortfahren, muss ich mich korrigieren; ich möchte den Kollegen Brandner nicht zu Unrecht beschuldigen.
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Der Zwischenruf „Sie sind ein Hetzer“ kam nicht von ihm. Insofern nehme ich den Ordnungsruf zurück.
Der Ordnungsruf für diesen Zwischenruf ereilt vielmehr Herrn Kollegen Udo Hemmelgarn, AfD-Fraktion.
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– Herr Schulz, wir sind in einem Rechtsstaat. Es ist nicht egal, wen der Ordnungsruf trifft. Er darf nur Schuldige treffen und nicht Unschuldige.
Als nächster Redner erhält der Kollege Christian Petry, SPD-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Sinn des Antrages ist ja vom ersten Redner schon genannt worden. Es geht nicht um die Debatte und den Austausch hier, sondern es geht um Wahlkampf.
Der Antrag ist schlecht gemacht, und für den Beginn wurde auch noch schlecht gegoogelt. Trotzdem kann man natürlich seriös über das Thema reden.
Wir haben schon einiges gehört. Ein großer Punkt – Cem Özdemir und Matern von Marschall haben ihn genannt – ist die große Leistung der Türkinnen und Türken bei der Kommunalwahl.
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Das ist doch etwas, was wir sehr schätzen müssen und was uns, sage ich mal, in dem Bemühen bestärken sollte, die Zivilgesellschaft und die demokratischen Kräfte zu stärken.
Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016, in der Putschnacht, in Istanbul zu sein. Ich kann euch sagen: Das ist wirklich ein Erlebnis, das keiner braucht. Aber es stimmt nachdenklich, dass so etwas in dieser Form bei uns in der Nachbarschaft möglich ist.
Wenn wir etwas dazu beitragen können, die Kräfte, die jetzt unterdrückt werden – das ist alles genannt worden; ich möchte es nicht wiederholen –, zu stärken, sei es mit Vorbeitrittshilfen oder sonstigen Mitteln, dann wäre ich persönlich dazu bereit. Ich würde mir wünschen, diese Unterstützung zu intensivieren in einem Beitrittsprozess, der sowieso auf Eis liegt. Formal gesehen müsste der Europäische Rat einstimmig beschließen, diesen Prozess auf Eis zu legen. Das ist recht schwierig. Das Europäische Parlament hat das mehrfach beschlossen. Die Kommission sollte sich daran halten; das ist meine feste Überzeugung. Wenn es darum geht, diese Mittel für die demokratische Unterstützung der Zivilgesellschaft einzusetzen, dann sollten wir dies auch tun. Insofern wäre ein Abbruch wirklich das falsche Signal, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es geht hier um eine schwierige Frage: Macht man die Tür zu und bestraft damit nicht nur einen Despoten, der Menschen verhaftet und die Demokratie abschaffen will, sondern auch den Rest des Volkes, oder lässt man sie offen für die Möglichkeit, mit bescheidenen Mitteln diejenigen zu unterstützen, die es in der Türkei sehr schwer haben? Ich denke, es ist unsere Aufgabe, sie zu unterstützen.
Ein Wort noch zu den Waffen bzw. zum Konflikt. Ich halte es natürlich für nicht richtig, dass die Türkei im Irak
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gegen diejenigen vorgeht, die uns dort mit unserer Unterstützung gegen die Kämpfer des IS und andere verteidigt haben. Diese Kritik muss aus diesem Hause deutlich zu hören sein. Diese Entwicklung müssen wir im Auge behalten; das ist eine ganz schwierige Sache.
Ich bin wirklich der Auffassung, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir die Tür für die proeuropäischen Kräfte in der Türkei offenlassen müssen, dass wir die Unterstützung der Europäischen Union darauf fokussieren sollten, die Rechtsstaatlichkeit, den Schutz der Menschenrechte und die Demokratisierung in der Türkei zu stärken. Insoweit geht der Antrag der AfD in die völlig falsche Richtung. Entlarvt wurden Sie heute bereits mehrfach; das muss man nicht wiederholen. Das wäre für Sie zu viel der Ehre.
In diesem Sinne hoffe ich in einem langen Prozess auf deutliche Verbesserungen in der Türkei, darauf, dass dort wieder die Zivilgesellschaft, die Demokratie und der Schutz der Menschenrechte im Vordergrund stehen und wir einen weiteren Annäherungsprozess der Türkei an die Europäische Union starten können.
Herzlichen Dank und Glück auf.
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Vielen Dank, Herr Kollege Petry. – Als letzter Redner spricht nunmehr zu uns der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Europäische Union und die Türkei haben seit vielen Jahrzehnten gemeinsame Anknüpfungspunkte. Im Europarat ist die Türkei seit 1949 Mitglied. Seit 1952 ist sie Mitglied der NATO. Und im Jahr 2005 sind Beitrittsverhandlungen eröffnet worden. Die Wahrheit ist aber auch, dass nur sehr wenige Kapitel eröffnet werden konnten und es seitdem ständige Debatten darüber gibt, ob die Beitrittsreife der Türkei überhaupt in irgendeiner Art und Weise vorliegt. Auch der Fortschrittsbericht 2018 hat kein Nach-vorne-Gehen, sondern einen Rückschritt konstatiert.
Ja, wir sorgen uns um die Rechtsstaatlichkeit, um die Situation der Grund- und Menschenrechte und um die Gewaltenteilung in der Türkei. Die Situation elementarer Grundrechte und der Zustand des Rechtsstaats sind unter den absoluten Mindestanforderungen, die wir für einen EU-Beitritt voraussetzen. Deswegen kann und darf es einen solchen EU-Beitritt auch nicht geben. Dennoch müssen wir inständig darauf hinwirken, dass sich die Situation verbessert, aus der Verpflichtung der Mitgliedschaft des Europarats heraus, aber auch weil es uns nicht egal sein kann, wenn viele Hunderttausend junge Menschen in der Türkei eine Verbesserung ihrer Situation erwarten. Das haben auch die Wahlen am letzten Wochenende gezeigt. Deswegen ist unser Appell von hier in die Türkei, dass das Ergebnis dieser Wahlen akzeptiert werden muss; denn die Akzeptanz von demokratischen Wahlen ist eine Grundvoraussetzung für die Geltung von Demokratie und Gewaltenteilung.
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Ich weiß auch, meine Damen und Herren, dass viele in der Zivilgesellschaft in der Türkei für eine stärkere Anbindung an Europa werben und sich für Demokratie und einen säkularen Rechtsstaat aussprechen. Aber zu einem ehrlichen Umgang gehört auch, dass die Türkei derzeit eben keine Beitrittsperspektive hat. Wir müssen das im Umgang mit der Türkei auch ehrlich kommunizieren, und deswegen müssen wir über die Vorbeitrittshilfen sprechen. Sie sind bereits gekürzt worden. Aber sie werden nicht Jahr für Jahr vergeben, sondern immer für sechs Jahre. Sie sind jetzt bis 2020 festgeschrieben. Vieles von dem, was in diesen Vorbeitrittshilfen vereinbart wurde, kommt auch der Zivilgesellschaft zugute, insbesondere jungen Menschen, die durch die Teilnahme am Erasmus-Programm näher an Europa herangeführt werden.
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Es wird niemals die Situation geben, dass wir der jungen Generation in der Türkei nicht die Hand reichen; denn es ist wichtig, dass wir durch die Handreichung eine Brücke zwischen Europa und der Türkei bilden.
Wir brauchen auch vor dem Hintergrund, dass in unserem Land viele Menschen leben, die ihre Wurzeln in der Türkei haben und bei uns eine neue Heimat gefunden haben, einen fairen, offenen und partnerschaftlichen Dialog mit der Türkei. Das kann eine Privilegierte Partnerschaft sein. Das kann aber auch ein Brückenbauen im Rahmen der Institutionen sein, bei denen wir gemeinsam Mitglied sind: in der OSZE, in der NATO und im Europarat. Hier geht es um gemeinsame Werte, auf die wir bauen und die wir einfordern. Diese Werte zu leben – Pluralität, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, aber auch der Schutz der Minderheiten, auch der Schutz der christlichen Minderheit in der Türkei –, ist ein wichtiges Anliegen, das wir nicht aus den Augen verlieren dürfen. Deswegen sind diese Beziehungen wichtiger, als dass man dies auf einer halben Seite abhandeln könnte, wie Sie von der AfD das getan haben.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Ullrich. – Damit beende ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8987 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Die Ziele des Abkommens sind die politische Annäherung und die Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik, also mit den Ländern der Östlichen Partnerschaft. Wir beschließen heute den dazugehörigen Gesetzentwurf der Bundesregierung, damit das Abkommen bei uns Rechtskraft erlangen kann. Das Abkommen soll zudem unterstreichen, dass eine intensivierte Zusammenarbeit der EU auch mit den Ländern möglich ist, die wirtschaftlich und politisch auch mit der Russischen Föderation verbunden sind.
Deutschland ist für Armenien übrigens der wichtigste Handelspartner innerhalb der EU. Weltweit steht Deutschland als Exporteur nach Armenien hinter Russland und China an dritter Stelle.
Wie Sie wissen, wurde schon in den Jahren bis 2013 über ein Assoziierungsabkommen verhandelt. Dieses wurde dann zurückgestellt. Im Jahr 2015 aber ist es dann tatsächlich gelungen, sich wieder anzunähern. Nach einem Jahr Sondierung gab es dann von Dezember 2015 bis März 2017 erneute Verhandlungen. Diese führten zu einem positiven Abschluss im Jahr 2017.
Die Inhalte dieses europäischen Abkommens sind auf Armenien geradezu maßgeschneidert. Große Teile entsprechen dem schon früher ausgehandelten Assoziierungsabkommen. Durch die Mitgliedschaft in der EAWU wird keine Vereinbarung abgelehnt, außer der Mitgliedschaft in einer Freihandelszone. Wirtschaftlich bedeutsam sind die Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen, die größere Transparenz im öffentlichen Auftragswesen, der Schutz geistigen Eigentums und eine unabhängige Wettbewerbsaufsicht. Die politischen Inhalte sind allerdings auch von hoher Bedeutung. Dazu gehören die Achtung der demokratischen Grundsätze, der Menschenrechte und der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit; diese sind in der Präambel des Vertrages aufgeführt.
Es liegt also durchaus in unserem gemeinsamen Interesse, Armenien beim Aufbau der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen. Gleichzeitig ist es zu begrüßen, wenn die Staaten der Östlichen Partnerschaft auch zu ihren Nachbarn enge wirtschaftliche Beziehungen unterhalten.
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Wesentliche politische Inhalte sind darüber hinaus die Bekämpfung des Terrorismus, die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Abrüstung und nukleare Sicherheit, der Kampf gegen internationale Kriminalität und Menschenhandel, die Bekämpfung des Klimawandels und die Konsolidierung der in den letzten zehn Jahren entstandenen Verkehrskorridore.
Wie Sie wissen, hat Armenien im vergangenen Jahr die sogenannte Samtene Revolution erlebt. Die neue Regierung hat sich hohe Ziele gesetzt: Korruptionsbekämpfung, Unabhängigkeit der Justiz, freier wirtschaftlicher Wettbewerb, Auflösung von Monopolen und fairer Parteienwettbewerb. Auf der Basis von CEPA kann die Europäische Union Armenien durchaus dabei unterstützen, voranzukommen. Wir bringen also gute Perspektiven in dieses Land.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Hendricks. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Dr. Anton Friesen, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Zuhörer! Ende Februar bis Anfang März habe ich als erster Bundestagsabgeordneter nach den Parlamentswahlen im Dezember 2018 Armenien besucht und mir vor Ort ein Bild von der Aufbruchsstimmung nach dem demokratischen und friedlichen Machtwechsel zu Paschinjan machen können.
Das Dreiecksverhältnis zwischen der Europäischen Union, Armenien und Russland kann – vor allem im Vergleich zu anderen Staaten im postsowjetischen Raum, zum Beispiel zur Ukraine – als vorbildlich gelten. Armenien ist Mitglied in der Eurasischen Wirtschaftsunion, gleichzeitig aber eng an die Europäische Union angebunden.
Ich will in der Kürze der Zeit auf zwei wichtige Aspekte eingehen: zum einen auf die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität und zum anderen auf die Rückführung vollziehbar Ausreisepflichtiger.
Besonders relevant ist das Thema Mafia leider in Thüringen. Bei uns im Freistaat Thüringen treiben verschiedene mafiöse Gruppierungen ihr Unwesen, darunter auch die sogenannte armenisch geprägte Mafia.
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Die Landesregierungen Thüringens, egal ob schwarz oder dunkelrot, haben bei der Mafiabekämpfung seit Jahrzehnten mindestens ein Auge zugedrückt. Umso wichtiger sollte es sein, gemeinsam mit Armenien bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität zusammenzuarbeiten. Stattdessen haben der MDR Thüringen und „Der Spiegel“ sogar den armenischen Botschafter in Deutschland verdächtigt, selbst über Mafiakontakte zu verfügen. Dies ist eine ungeheure Verleumdung, die kein Diplomat so über sich ergehen lassen muss.
Es ist daher richtig, dass im Partnerschaftsabkommen die Kooperation bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität und Korruption in Artikel 16 explizit erwähnt wird. Hier spielt auch die Bekämpfung der Veruntreuung bei von internationalen Gebern finanzierten Projekten eine Rolle, auch bei Projekten der Europäischen Union. In einer Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik heißt es dazu – ich zitiere –:
Die EU sollte durch eine umsichtige Auswahl auch Vorwürfen im Land begegnen, sie habe in der Vergangenheit mit ihrem Geld staatlich organisierte Pseudo-Nichtregierungsorganisationen … unterstützt.
Wichtig ist auch die Rückführung illegaler Migranten. Bereits seit dem 1. Januar 2014 existiert zwischen der EU und Armenien ein Rückübernahmeabkommen. Zwischen 2014 und 2018 stieg die Anzahl der vollziehbar ausreisepflichtigen armenischen Asylbewerber in Deutschland von 371 auf 1 655. Vor etwaigen Fortschritten im Hinblick auf die Visaliberalisierung muss das Rückführungsabkommen effektiv umgesetzt werden. Es ist schön und gut, dass das in Artikel 15 Absatz 2 des Partnerschaftsabkommens betont wird. Allein auf die Taten kommt es an!
Die Europäische Union gewährt Armenien zwischen 2017 und 2020 160 Millionen Euro an finanzieller Unterstützung, orientiert wiederum am Partnerschaftsabkommen und den Partnerschafsprioritäten aus dem Jahr 2018. Umgerechnet auf die knapp unter 3 Millionen Einwohner des Landes, sind es ungefähr 55 Euro pro Person. Klar ist, dass diese Unterstützung transparent und konditional erfolgen muss. Ob dies allerdings bei der real existierenden Europäischen Union der Fall sein wird, da haben wir unsere Zweifel.
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Deswegen werden wir uns bei dieser Abstimmung enthalten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat der Kollege Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Vielen Dank. – Es gibt mindestens zweierlei, das wir uns nicht aussuchen können: in der Familie die Geschwister, den großen Bruder, die große Schwester, oder als Staaten unsere Nachbarn; auch die kann man sich nicht aussuchen. Genau darüber, meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Präsident, liebe Zuschauer vor den Fernsehern, will ich heute reden.
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs vollzogen sich im Osten und Südosten Europas tiefgreifende politische und wirtschaftliche Veränderungen. Viele der früheren sowjetischen Satellitenstaaten sind inzwischen Mitglieder der Europäischen Union geworden. Mit anderen Worten: Völker und Staaten sind in die europäische Staatengemeinschaft, in die europäische Familie zurückgekommen, welche seit Jahrhunderten Teil des europäischen Kulturraums sind. Nicht nur Warschau, Riga und Bukarest sind europäische Metropolen, sondern auch Moskau, Kiew und Jerewan. Diese Städte sind Teil Europas. Diese Länder sind nicht Nachbarn von Europa, sondern unsere Nachbarn in Europa. Auch deswegen kann es keine abschließende, keine ausschließende Antwort nach den Grenzen von EU-Europa geben. Es ist ein offenes Projekt, aber mit Werten und Prinzipien und einer besonderen Verantwortung, nicht nur für die eigenen Bürger, sondern auch für die Nachbarstaaten und die dort lebenden Menschen.
Seit nunmehr zehn Jahren rücken die Nachbarstaaten in Osteuropa, also Ukraine, Georgien, die Republik Moldau, Belarus, Aserbaidschan und Armenien, durch die Politik der Östlichen Partnerschaft näher an die Europäische Union heran. Für die Europäische Union stellt sich jedoch mit Blick auf die Länder der Östlichen Partnerschaft keine Beitrittsfrage. Wir wollen keine falschen Hoffnungen machen, die später nicht erfüllt werden können. Und es muss auch klargestellt werden, dass sich das Programm der Östlichen Partnerschaft nicht gegen andere richtet, auch nicht gegen Russland.
Das Ziel der Nachbarschaftspolitik besteht darin, einen Ring befreundeter Staaten um die Europäische Union zu schaffen, Staaten, die sich an unserem Entwicklungsmodell ausrichten, also an Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Demokratie. Damit wollen wir vor allem wirtschaftliche Entwicklung, Stabilität und Sicherheit an den eigenen Grenzen gewährleisten. Somit geht Nachbarschaftspolitik über den Freihandel und die wirtschaftliche Integration hinaus; denn leider stagniert die Entwicklung in diesen Ländern seit Jahrzehnten. Noch gravierender ist: Diese Länder verlieren ihre Zukunft, da die jungen, gut ausgebildeten Menschen diese in immer größerer Zahl verlassen.
Die rund 70 Millionen Menschen in den Ländern der Östlichen Partnerschaft verbinden mit der EU-Annäherung ein Leben in Freiheit, Frieden und Sicherheit und die Chance, eine eigene Entwicklungsperspektive zu gewinnen. Dies wird aber nur gelingen, indem wir ihnen den Zugang zu europäischen Integrationsprozessen öffnen und die bestehenden Kooperationsformen auf europäischer Ebene vertiefen.
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Dabei ist die Annäherung an die Europäische Union für die Länder der Östlichen Nachbarschaft keineswegs ohne Alternative. Das Gegenteil ist der Fall: Alle sechs Staaten suchen nach passenden Entwicklungsmodellen für ihre Gesellschaften und ihre modernisierungsbedürftigen Wirtschaften. Für manche ist die Integration in die russisch dominierte Eurasische Wirtschaftsunion eine Priorität, für andere die Annäherung an die Europäische Union. Wir unterstützen das souveräne Recht der Staaten, selbstständig zu entscheiden, Teil welchen Integrationsraums sie werden wollen.
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Meine Damen und Herren, wenn kleine Staaten gezwungen werden, sich zwischen ihren größeren Nachbarn zu entscheiden, können sie dabei eigentlich nur verlieren. Das gilt insbesondere dann, wenn geopolitische Konkurrenz an die Stelle einer Modernisierungsperspektive, einer Modernisierungsagenda tritt. Genau das trifft auch auf die Entscheidung zu, die Armenien 2013 zu fällen hatte. Ein damals mit Armenien ausverhandeltes Assoziierungs- und Freihandelsabkommen der Europäischen Union wurde nicht unterschrieben, nachdem der damalige Präsident Armeniens, Sersch Sargsjan, nach seiner Moskau-Reise und Gesprächen mit Präsident Putin ankündigte, Armenien beabsichtige, demnächst der russisch dominierten Zollunion beizutreten. Seine Entscheidung begründete er mit der regionalen Sicherheitslage und Stabilitätsfragen Armeniens.
Das ist von uns zu respektieren. Auch für uns sind Sicherheit und Stabilität in der Region von entscheidender Bedeutung; denn die seit Anfang der 90er-Jahre verhängte türkisch-aserbaidschanische Wirtschaftsblockade gegen Armenien, der gescheiterte Versuch einer türkisch-armenischen Versöhnung von 2009 und der schwelende Konflikt um die international nicht anerkannte Republik Berg-Karabach stellen große Hindernisse für eine effektive Zusammenarbeit in der Region dar.
Für Auswege aus dieser geopolitischen Blockade zwischen der Türkei und Aserbaidschan braucht Armenien die Europäische Union genauso, wie es Russland braucht. Trotz des Beitritts zur Eurasischen Wirtschaftsunion hatte es weiterhin Interesse an einer vertieften Zusammenarbeit mit der Europäischen Union und begann erneute Verhandlungen, die mit der Unterzeichnung dieses umfassenden und vertieften Partnerschaftsabkommens endeten. Dieses Abkommen ist ein sehr komplexes Dokument. Es gleicht in großen Teilen dem vorher verhandelten Assoziierungsabkommen, mit Ausnahme einer Freihandelszone, welche wegen des Beitritts Armeniens zur Eurasischen Wirtschaftsunion, die eher eine Zollunion ist, nicht mehr möglich ist. Dennoch soll eine stärkere Annäherung an das Normen- und Regulierungssystem der Europäischen Union erfolgen, um Handel und Investitionen zu begünstigen.
Mit großem Interesse, meine Damen und Herren, haben wir wahrgenommen, wie sich die außenpolitische Linie Armeniens nach dem politischen Umbruch vom April/Mai 2018 entwickelt; mein Kollege Volker Ullrich wird darauf näher eingehen. Das Gute daran ist: Armenien verfolgt weiterhin seine außenpolitischen Prioritäten und bleibt auch bei der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union. Insbesondere unter wirtschaftlichen Aspekten betrachtet wäre die armenische Regierung gut beraten, Strategien zu entwickeln, um mithilfe der Europäischen Union ihre Wirtschaft zu modernisieren; denn die Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion beinhaltet dazu bisher keine hinreichenden Perspektiven.
Meine Damen und Herren, bei einer erfolgreichen Umsetzung des Partnerschaftsabkommens zwischen Jerewan und Brüssel kann Armenien ein Beispiel setzen, wie eine Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion und die Beteiligung an Nachbarschaftskonzepten der Europäischen Union in eine kooperative Beziehung gebracht werden. Eine erfolgreiche Umsetzung des Abkommens mit Armenien kann dabei sogar über das Land hinaus Wirkung entfalten; denn die Hand, die wir den sechs Partnerstaaten reichen, ist zugleich in Richtung Russland und der fünf Zentralasienstaaten ausgestreckt. Wir tragen mit unseren Nachbarn und gemeinsam mit Russland Verantwortung für Frieden, Stabilität und Wohlstand auf unserem Kontinent. Die Republik Armenien als Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion einerseits und der Östlichen Partnerschaft der EU andererseits könnte also ein mögliches Kooperationselement bei der Annäherung dieser beiden Wirtschaftsblöcke sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte auf den Anfang meine Rede zurückkommen. Wenn man sich seine Geschwister und seine Nachbarn nicht aussuchen kann, muss man alles für ein gutes Miteinander tun. Dieses Abkommen soll dazu beitragen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Grund. – Als nächste Rednerin erhält für die FDP-Fraktion die Kollegin Renata Alt das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 300 Seiten CEPA haben einen langen Weg hinter sich. Frau Hendricks hat es angesprochen: 2013 wäre noch viel mehr möglich gewesen. Ein Assoziierungsabkommen mit Einrichtung einer Freihandelszone stand kurz vor dem Abschluss. Aber dann trat Armenien unter russischem Druck der Eurasischen Wirtschaftsunion bei. Deshalb bin ich froh, dass das Abkommen mit Armenien doch noch geklappt hat.
Der Südkaukasus ist eine geopolitisch wichtige und umkämpfte Region. Armenien ist ein zerrissenes Land, zerrissen zwischen Russland und Europa. Auf der einen Seite ist Russland ein enger strategischer Partner in der Sicherheits-, Wirtschafts- und Energiepolitik Armeniens. Auf der anderen Seite ist die EU für Armenien genauso wichtig.
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Ich bin mir sicher, dass die EU der einzige Partner ist, der die richtigen Impulse für eine Modernisierung Armeniens geben kann.
Armenien durchläuft seit seiner Unabhängigkeit einen schwierigen Transformationsprozess. Die Samtene Revolution und der Regierungswechsel zu Nikol Paschinjan haben eine neue Dynamik entfacht. Die Bevölkerung hofft auf spürbare Reformen. Im Korruptionsindex 2018 von Transparency International steht Armenien auf Rang 105 von 180 Staaten. Einen fairen politischen Wettbewerb, rechtsstaatliche Institutionen, freie Marktwirtschaft sowie eine moderne Sozialpolitik – das sind die Reformen, die Armenien braucht.
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CEPA greift genau diese Reformbereiche auf und erweitert den Radius der Zusammenarbeit. Wichtige sicherheitspolitische Themen wie die Bekämpfung von Terrorismus und internationaler Kriminalität, Rüstungskontrolle und die regionale Stabilität stehen im Fokus. CEPA kann Armenien an die Standards der EU heranführen. Entscheidend, meine Damen und Herren, ist aber die Umsetzung von CEPA. Jetzt muss die armenische Regierung den politischen Willen zeigen, sich der EU anzunähern.
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Die Entwicklungen unserer östlichen Nachbarn müssen in unserem Interesse sein. Seit 2009 fördern wir mit der Östlichen Partnerschaft Stabilität und politische Reformen vor Ort. Zehn Jahre später müssen wir leider feststellen, dass demokratische Strukturen und Rechtsstaatlichkeit in Ländern wie Armenien instabil sind. Deshalb setzen wir Freie Demokraten uns, Herr Grund, für eine Evaluation und Erneuerung der Östlichen Partnerschaft ein.
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Meine Damen und Herren, der Südkaukasus scheint vielen in weiter Ferne. Wir wollen diese Region nicht Russland überlassen. Wir wollen Armenien an die EU heranführen. Armenien ist im Aufbruch. Nutzen wir diese Chance! Dafür ist CEPA ein sinnvolles Instrument. Es zeigt, wie multilaterale Zusammenarbeit funktionieren kann.
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Dem Gesetzentwurf stimmen wir deshalb zu.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin Alt. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Andrej Hunko, Fraktion Die Linke.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Am 7. Mai begehen wir den 10. Jahrestag der Politik der Östlichen Partnerschaft der EU. Das war ein neues Politikkonzept, das sich auf diejenigen Länder bezieht, die keine Beitrittsperspektive für die EU haben, aber in denen der Einfluss der EU gelten sollte. Das waren Belarus, Ukraine, Moldawien, Armenien, Aserbaidschan und Georgien. Drei dieser Länder haben ein sogenanntes tiefes Freihandelsabkommen abgeschlossen: Ukraine, Moldawien, Georgien.
Ich glaube, wenn man die Entwicklung insbesondere in der Ukraine anschaut, stellt man fest: Was damals mit diesen Freihandelsabkommen ausgelöst wurde, ist ein Scherbenhaufen. Wir haben es aus zwei Gründen abgelehnt: erstens, weil es geopolitisch gegen Russland gerichtet war, und zweitens, weil es ein Freihandelsabkommen mit neoliberalen Instrumenten für Konzerne usw. ist.
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Drei Länder – Belarus, Aserbaidschan und Armenien – haben es nicht unterzeichnet. Armenien hat, ähnlich wie die Ukraine, im September 2013 nicht unterzeichnet. Es hatte damals darauf gedrungen, nur den politischen Teil zu unterzeichnen, aber eben nicht den wirtschaftspolitischen Teil, der zu einer Alternative zwischen Russland und der EU geführt hätte. Das ist damals von der EU abgelehnt worden.
Seit 2015 gab es erneut Verhandlungen. Dieses neue Abkommen, das CEPA, steht jetzt hier zur Ratifizierung an. Wir sagen: Das ist in der Tat ein deutlicher Fortschritt, weil dieses Abkommen Armenien nicht vor die Alternative stellt, sich zwischen Russland und der EU entscheiden zu müssen, und weil es nicht die tiefen Freihandelselemente enthält. Deswegen werden wir das Abkommen nicht ablehnen.
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Es ist sehr interessant, was sich in den letzten Jahren, insbesondere im letzten Jahr, in Armenien getan hat. Es gab die sogenannte Samtene Revolution, Hunderttausende sind gegen Korruption, gegen Oligarchisierung auf die Straße gegangen, über Wahlen hat es dann eine komplette Auswechselung der politischen Regierung gegeben, und das Ganze ohne Einmischung von außen und ohne geopolitische Überlagerung. Das war der große Unterschied zu den Protesten 2013 auf dem Maidan. Wir denken, dass die Entwicklung in Armenien Hoffnung macht. Es gibt eine sehr aktive Zivilgesellschaft. Ich glaube, dass man diese Entwicklungen unbedingt unterstützen sollte.
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Es gibt in dem Abkommen auch Elemente, die wir kritisch sehen. Wir wären unter diesen Bedingungen für mehr Visaerleichterungen. Wir wären für eine stärkere Betonung der sozialen Dimension in dem Abkommen. Aber insgesamt sehen wir es, verglichen mit den anderen Abkommen, positiver. Deswegen werden wir uns enthalten.
Ich glaube, die Politik der Östlichen Partnerschaft – es ist zum Teil hier in der Debatte schon angedeutet worden – braucht eine Neuausrichtung. Die Östliche Partnerschaft sollte so gestaltet sein, dass sich die Länder, die zwischen Russland und der Europäischen Union liegen, nicht zwischen beiden entscheiden müssen, dass sie eine Perspektive auf gute Kooperation mit beiden Ländern haben. Deswegen begrüßen wir, dass das im Gesetzentwurf der Bundesregierung sogar explizit im zweiten Satz erwähnt wird. Ich glaube, es kann auch für die anderen Länder der Östlichen Partnerschaft ein Vorbild sein.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner: Manuel Sarrazin für Bündnis 90/Die Grünen.
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Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit 2009 – es ist schon genannt worden – besteht die Östliche Partnerschaft der Europäischen Union mit Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, der Ukraine und der Republik Moldau. Sie zielt auf Demokratisierung, auf Stabilisierung der Nachbarschaft der Europäischen Union im Osten. Eines der Instrumente sind die genannten Assoziierungs- und Freihandelsabkommen. Die EU hat solche Abkommen mit den drei genannten Staaten – der Ukraine, Georgien und Moldau – geschlossen. Armenien war 2013 ebenfalls im Begriff, ein solches Abkommen abzuschließen, entschied sich nach russischem Druck dann aber für die Zollunion bzw. die Eurasische Wirtschaftsunion.
Es ist relativ klar, dass sich in dieser Situation gezeigt hat: Die Frage des Entweder-oder ist nicht von der Europäischen Union aufgeworfen worden,
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sondern die Eurasische Wirtschaftsunion als Projekt macht es zumindest sehr viel schwieriger bis unmöglich, gleichzeitig bei ihr Mitglied zu sein und Freihandelsabkommen mit Drittstaaten zu schließen. Es gibt Staaten, die das beweisen. Moldau hat weiterhin weitgehenden Freihandel mit Russland, obwohl es Mitglied der DCFTA ist. Wir betreiben Freihandel mit Serbien, das ebenfalls Freihandel mit Russland hat. Die Eurasische Wirtschaftsunion ist das Projekt, das die Staaten zur Entscheidung gezwungen hat. Und sie ist gleichzeitig das Projekt, das Staaten wie Armenien vor die Situation stellt, jetzt eine Kooperation mit uns anzustreben, um progressive Reformen im Sinne von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenrechten, freien Wahlen und Kampf gegen Korruption voranzutreiben.
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Denn offensichtlich reicht die Partnerschaft mit Russland alleine nicht aus, um die Gesellschaft in der Hinsicht zufriedenzustellen, dass man die Reformen angeht, die überall in der Region drängend sind.
Es ist deswegen gut, dass wir im Jubiläumsjahr der Europäischen Union nach Armenien das Signal senden: Auch wenn ihr euch für die Eurasische Wirtschaftsunion entschieden habt, wollen wir in vollem Respekt dieser Entscheidung so eng wie möglich mit euch zusammenarbeiten. Wir stehen als Partner bereit. – Das CEPA-Abkommen unterstreicht dies ebenso wie die Ratifikation im Bundestag. Deswegen stimmen die Grünen heute zu.
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Wichtig ist mit Blick auf den Südkaukasus die Frage – Kollegin Alt und andere haben es angesprochen –: Welche Entwicklungsmodelle stehen in der Region zur Verfügung? Es ist das russische Entwicklungsmodell, es ist die Türkei, es ist der Iran. Man könnte vielleicht auch noch glauben, dass sich ein Land wie Aserbaidschan versucht an den USA zu orientieren. Aber es ist doch klar, dass das Entwicklungsmodell, das tatsächlich für eine positive Entwicklung in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte steht, das der Europäischen Union ist. Deswegen muss sich die EU stärker engagieren, deswegen muss sich aber auch die Bundesregierung aktiver bilateral zur Unterstützung des armenischen Demokratisierungsprozesses einmischen. Wir erwarten, dass die Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und der armenischen Regierung noch intensiver und fruchtvoller wird, als sie nach dem Besuch der Kanzlerin im letzten Jahr angefangen hat. Daran muss weiter gearbeitet werden.
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Dabei sollten wir auch einen besonderen Blick auf die Zusammenarbeit der zivilgesellschaftlichen Institutionen werfen. Die wichtigste Veränderung nach dem Abtritt von Herrn Sersch Sargsjan ist, dass sich die politische Landschaft anders verändert hat, als vorher überhaupt damit zu rechnen war – im Hinblick auf politische Freiheiten, auf Pluralismus, auf das gesellschaftliche Engagement im Land. Wir glauben, dass eine Zusammenarbeit Deutschlands und der Europäischen Union mit Armenien das Ziel haben muss, dass dieses neue armenische Modell einer wirtschaftlichen und strategischen Anlehnung an Russland bei einer Entwicklung von persönlichen Freiheiten nach europäischen Standards erfolgversprechend ist, aber dass es dazu bilateral und europäisch unsere Zusammenarbeit braucht.
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Herr Präsident, es bleibt mir keine Zeit mehr, um die Samtene Revolution noch zu würdigen. Aber ich möchte eines sagen: Das Motto der Samtenen Revolution 2018 war „Mach einen Schritt“. Die Bedeutung des CEPA-Abkommens ist nicht zu überschätzen, dass es gleich die ganze Welt verändern wird. Aber es ist auf jeden Fall ein wichtiger und herausragender Schritt auf dem Weg, den die EU und Armenien gehen können und sollten. Weitere Schritte müssen aber folgen.
Danke sehr.
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Vielen Dank, Herr Kollege Sarrazin. – Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Johannes Schraps.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Für die meisten Länder östlich der EU ist die Europäische Union trotz des elendigen Brexits nach wie vor ein Wohlstandstraum, ein Versprechen von Demokratie, guter Regierung und vor allem von Frieden. Mit der Institutionalisierung der Östlichen Partnerschaft haben diese Länder das Versprechen der Nähe zur EU bekommen. Mehr demokratische und wirtschaftliche Reformen verheißen mehr Nähe, explizit jedoch keinen Beitritt zur EU. Diese theoretische Konstruktion der institutionalisierten EU-Nachbarschaftspolitik muss sich immer wieder im konkreten Fall beweisen. Da ist eben jeder Partner speziell, und jede Partnerschaft muss auch differenziert betrachtet werden. Das gilt auch im Fall von Armenien.
Ist in der Vergangenheit im Umgang mit den Ländern der Östlichen Partnerschaft vielleicht nicht immer alles richtig gemacht worden, so könnte das vorliegende EU-Armenien-Abkommen für ein Beispiel stehen, dass wir aus der Vergangenheit die richtigen Schlüsse gezogen haben. Denn 2013 – es ist schon mehrfach angesprochen worden – sah sich Armenien im Prinzip vor die Wahl gestellt: Annäherung an die EU oder eine weitere Annäherung an Russland. Beides miteinander in Einklang zu bringen, schien damals nicht möglich. Armenien ist deshalb – auch das ist angesprochen worden – der Eurasischen Wirtschaftsunion beigetreten und hat das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnet.
Es war und ist aber auch kein Geheimnis, dass Armenien wirtschaftlich eng mit Russland als wichtigstem Handelspartner verknüpft und verwoben ist. Es ist deshalb natürlich auch stark auf das große Nachbarland angewiesen. Dabei geht es zum einen um die Abhängigkeit von russischem Gas, von Energielieferungen, aber auch um die mindestens 2 Millionen Arbeitsmigranten aus Armenien in Russland, die mit ihren Devisenrücküberweisungen eine wichtige Stütze für viele Familien zu Hause in Armenien sind. Eine engere Verbindung mit der EU – das hat der Kollege Sarrazin gerade richtig angesprochen – hätte in diesen Bereichen möglicherweise Nachteile mit sich gebracht. Armenien sah sich also dem Druck ausgesetzt, sich zwischen den Partnern auf der einen oder der anderen Seite entscheiden zu müssen. Man muss hier vielleicht tatsächlich selbstkritisch anmerken, dass wir damals vonseiten der Europäischen Union auch nicht immer genug Sensibilität für die Befindlichkeiten des Partnerlandes aufgebracht haben.
Das nun ausgehandelte Abkommen ähnelt zwar in großen Teilen dem 2013 verhandelten Assoziierungsabkommen und impliziert – das ist wichtig – das gemeinsame Bekenntnis zu demokratischen Grundsätzen, zu Menschenrechten und auch zu rechtsstaatlichen Prinzipien, es nimmt aber zum Beispiel die Einrichtung einer Freihandelszone explizit aus. Dennoch werden Handel und Investitionen durch die Übernahme praktisch aller maßgeblichen Regelungen des europäischen Binnenmarktes begünstigt und müssten sich dadurch auch verbessern. Mit der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Abrüstung und nuklearer Sicherheit, aber auch mit der Bekämpfung von Terrorismus, internationaler Kriminalität und Menschenhandel greift das Abkommen zudem auch neue Themen auf. Und all das, ohne eine engere Zusammenarbeit Armeniens mit Russland explizit auszuschließen.
Was haben wir also aus dem ersten Versuch von 2013 gelernt? Erstens. Der Kollege Sarrazin hat das gerade schon angesprochen: Es darf kein Entweder-oder in der Frage geben, ob Länder der Östlichen Partnerschaft mit Russland oder mit der Europäischen Union kooperieren. Zweitens. Für ein solches Abkommen brauchen wir ein gutes Gespür für die aktuelle Lage in dem jeweiligen Partnerland
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und eine Sensibilität dafür, was für unsere Nachbarn von essenzieller Bedeutung ist. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wurde dieses Mal ausdrücklich mitgedacht.
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Insofern spielt das vorliegende Abkommen natürlich auch im Kontext des politischen Wandels der Samtenen Revolution eine besondere Rolle, weil es auch eine Unterstützung der Reform- und Transformationsprozesse in Armenien durch die Europäische Union ermöglicht. Aus meiner Sicht könnten in Zukunft vielleicht auch verbesserte Visaregelungen, ähnlich wie bei Georgien und der Ukraine, dazu beitragen, das wechselseitige Verständnis für die jeweiligen Interessen und Positionen des Partners zu erhöhen.
Da für die vollständige Implementierung bei diesem gemischten Abkommen die Zustimmung des Bundestages notwendig ist, bitte ich an dieser Stelle um eine breite Unterstützung für diesen Gesetzentwurf und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste und letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Abkommen zwischen der EU und Armenien dokumentiert den Erfolg der Östlichen Partnerschaft. Im März 2009 hat sich die EU aufgemacht, all den Staaten des Europarates und Weißrussland, die nicht Mitglied der EU sind oder nicht Mitglied der EU werden können, auf den Grundlagen der Werte der Europäischen Union ein Angebot zur engeren Zusammenarbeit und Assoziierung zu machen. Wenn wir heute dieses Abkommen im Bundestag beschließen, wird klar und deutlich gemacht, dass diese Länder die ausgestreckte Hand der Europäischen Union entgegennehmen und damit näher an Europa und unsere Werte heranrücken. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen und ein gutes Abkommen.
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Und ja, wir haben darüber zu sprechen, dass im Jahr 2013 das fertig verhandelte Assoziierungsabkommen nicht in Kraft treten konnte. Armenien hat es vorgezogen, der Eurasischen Wirtschaftsunion beizutreten. Aber ich bin nicht bereit, dass wir daraus einen Gegensatz konstruieren. Das Gegenteil ist der Fall: Zunächst einmal müssen wir klar und deutlich machen, dass der Beitritt zu einer Union, die Freihandel und offene Märkte propagiert, etwas Gutes ist; denn im 21. Jahrhundert kommt es auch auf Zusammenarbeit und Kooperation an und nicht auf Abschottung und Mauern.
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Der Umstand, dass auf der einen Seite ein Abkommen mit der EU zustande kommt und auf der anderen Seite eine Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion möglich ist, zeigt auch, dass es in beiderseitigem Interesse liegt, dass die beiden Regionen, die Europäische Union und die Länder der Östlichen Partnerschaft, näher zusammenrücken, und dass es auch ein Modell für die Zukunft sein kann, das zeigt, wie sich unterschiedliche Wirtschaftsräume verzahnen können. Es geht um Vernetzung, es geht um Zusammenarbeit und nicht um Abschottung.
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Meine Damen und Herren, dieses Abkommen ist auch eine Würdigung der vielen Menschen in Armenien, die sich im Jahr 2018 aufgemacht haben, noch stärker für Demokratie, für Freiheit und für Menschenrechte einzutreten. Die bereits erwähnte Samtene Revolution hat nicht nur zu einem friedlichen Regierungswechsel und zu beeindruckenden friedlichen Massenprotesten geführt, sondern auch deutlich gemacht, dass es in Armenien auch darum geht, die grundlegenden Elemente einer freiheitlichen Gesellschaft zu verwirklichen. Es liegt jetzt an Armenien, mit der neu gewählten Regierung den Weg fortzuschreiten: hin zu Marktwirtschaft, zu demokratischen Reformen und zu einem modernen Staatswesen. Da hat Armenien – da kann es sich sicher sein – die Bundesrepublik Deutschland an seiner Seite.
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Aus unserer Sicht ist diese Kooperation mit Armenien auch notwendig; denn wir haben ein Interesse daran, dass sich diese Region entwickelt und dass durch eine stabile demokratische Regierung auch Stabilität in der gesamten Region einkehrt. Wir haben ein Interesse daran, dass der Berg-Karabach-Konflikt gelöst wird. Wir legen auch ein deutliches Augenmerk auf die Schwierigkeiten, die Armenien hat. Armenien trägt die Bürde der Geografie: eine lange geschlossene Grenze zur Türkei, ein ungelöster Konflikt mit Aserbaidschan, eine südliche Grenze zum Iran. Es ist ein Land, aus dem seit 1990 mehr als 500 000 Menschen emigriert sind, in dem die Einwohnerzahl zurückgegangen ist, ein Land, das dennoch eine reichhaltige Kultur hat und gerade im Bildungssektor auch Vorbild für andere Staaten sein kann.
Wir wollen mit diesem Abkommen Armenien die Hand reichen und ihm ein Stück weit aus dieser geografischen Bürde heraushelfen, um es näher an Europa heranzuführen. Wenn andere Länder diesem Beispiel folgen, dann kann durch dieses Abkommen auch eine starke und intensive Zusammenarbeit zwischen den Staaten der Östlichen Partnerschaft und der Europäischen Union gedeihen, um Frieden, Stabilität und Sicherheit in dieser Region zu garantieren. Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung.
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Vielen Dank, Herr Kollege Ullrich. – Ich schließe die Aussprache zu dem Tagesordnungspunkt 10.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom 24. November 2017 über eine umfassende und verstärkte Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Armenien andererseits. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/9009, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/7835 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen, die Grünen und die FDP. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – AfD und Linke. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute abschließend den Gesetzentwurf zur Beschleunigung des Energieleitungsausbaus. Es ist ein technisches Gesetz. Es ist ein Gesetz, das wir zu später Stunde beraten.
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Es kann zu einem Meilenstein im Gelingen der Energiewende werden, Herr Krischer.
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Sie haben sich in den Zeiten, in denen Sie noch regiert haben, darum überhaupt nicht so intensiv gekümmert. Es reicht eben nicht aus, jedes neue Windrad mit Blumengirlanden zu begrüßen und sich dann bei jedem Leitungsprojekt in die Büsche zu schlagen. Insofern bin ich sehr dankbar, dass wir dieses Thema heute hier aufrufen.
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Darüber, dass wir mit der Energiewende erfreulicherweise vorankommen, dass aber der Leitungsausbau in vielen Bereichen stockt und wir, was den Ausbau der sogenannten Drehstromleitungen im Übertragungsnetzbereich angeht, vier Jahre hinter den ursprünglichen Planungen zurückhängen, sprechen wir nicht zum ersten Mal. Wir haben in einer Debatte zu einer Regierungserklärung vor weniger als einem Jahr darüber geredet, was geschehen muss. Ich habe erklärt: Wir machen den Netzausbau zur Chefsache. Wir machen ihn zur Chefsache, weil dieser Netzausbau nur gelingen kann, wenn der zuständige Minister, aber auch alle beteiligten Ressorts, der Bund, die Länder, die Kommunen und die Bürgerinnen und Bürger vor Ort mit eingebunden sind.
Es ist inzwischen noch kein Jahr vergangen, und wir haben im letzten Herbst den „Aktionsplan Stromnetz“ verabschiedet, einstimmig mit allen 16 Bundesländern. Damit schaffen wir ein Monitoring, damit schaffen wir eine Zusammenarbeit, die es in dieser Form bisher nicht gegeben hat.
Ich habe auf insgesamt drei Netzausbaureisen mit mehreren Tausend Bürgerinnen und Bürgern, die von Projekten betroffen sind, persönlich gesprochen: mit kommunalen Vertretern, mit Landesvertretern, mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag aus den betroffenen Wahlkreisen. Wir haben problematische Punkte angeschaut. Wir haben mit den Beteiligten auch im Bundeswirtschaftsministerium intensiv gesprochen.
Wir verabschieden heute in zweiter und dritter Lesung dieses Netzausbaubeschleunigungsgesetz. Ich möchte Ihnen allen im Deutschen Bundestag, in den zuständigen Ausschüssen, insbesondere im federführenden Wirtschaftsausschuss, aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in meinem Ministerium dafür ein herzliches Dankeschön sagen.
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Wir haben bei diesem Gesetzentwurf etwas geschafft, was uns die wenigsten zugetraut hätten. Wir haben einerseits die Genehmigungsverfahren beschleunigt. Das ist dringend notwendig. Andererseits wird die Öffentlichkeit weiterhin frühzeitig beteiligt, und die materiellen Umweltstandards werden nicht abgesenkt. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir vor Ort einen Konsens schaffen können, der wichtig ist, damit die Bevölkerung diese Vorhaben mitträgt.
Wir tasten zum Beispiel die strengen Grenzwerte zu elektromagnetischen Feldern nicht an. Wir wahren das bestehende hohe Schutz- und Versorgungsniveau, aber wir verzichten in vielen Fällen, wo es um Netzoptimierung und Netzverstärkung geht, auf die Bundesfachplanung. Wir haben für das Freileitungsmonitoring ein schlankes Anzeigeverfahren ermöglicht. Es werden künftig in aller Regel auch Leerrohre verlegt werden können.
Zum Ultranet haben wir auf Wunsch des Deutschen Bundestages und der Koalitionsfraktionen festgestellt, dass auf die Bundesfachplanung nicht verzichtet wird. Auch das ist ein Angebot an die Bürgerinnen und Bürger und zeigt, dass wir Bedenken aufgreifen. Wir haben vorgesehen, dass die Verschwenkung der bestehenden Leitungen bei Ultranetleitungen leichter geprüft werden kann. Das ist mir ausgesprochen wichtig; denn es zeigt, dass der Kontakt mit Bürgerinnen und Bürgern auch dazu führt, dass in politischen Verfahren und in Gesetzen einiges geändert werden kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben lange mit den Land- und Forstwirten über verbesserte Entschädigungszahlungen gesprochen. Wenn jemand eine Leitung über dem Acker oder unter der Scholle im Interesse des Gelingens der Energiewende und des Allgemeinwohls akzeptieren muss, dann ist es wichtig, dass wir schnell vorankommen und die Beteiligten auch angemessen entschädigt werden. Wir haben uns im parlamentarischen Verfahren darauf verständigt, die Beschleunigungszulage von 50 auf 75 Prozent noch einmal anzuheben. Ich sage es ausdrücklich: Wir werden in den kommenden Wochen und Monaten auch daran arbeiten, dass die Bundeskompensationsverordnung es möglich macht, dass für Eingriffe in die Landschaft, die durch den Leitungsbau erfolgen, nicht kompensiert werden muss, sondern dass eine unbürokratische, einfache und vernünftige Regelung gefunden wird.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben Regelungen zum Redispatch und zum Einspeisemanagement. Wir haben ein System, das es uns möglich macht, Netzengpässe effizienter und damit für die Verbraucherinnen und Verbraucher kostengünstiger zu bewirtschaften. Wir haben ein nationales Offshoretestfeld geschaffen, und wir haben darüber hinaus eine ganze Reihe von weiteren wichtigen Beschlüssen gefasst.
Auf dieser Basis werden wir mit den Bundesländern in den nächsten Wochen die endgültigen Trassenverläufe dort klären, wo sie noch umstritten sind. Wir werden uns anschließend die Projekte anschauen, bei denen man über die Aufnahme von Pilotverfahren zum Thema Erdverkabelung aus guten Gründen diskutieren kann, um Akzeptanz vor Ort herzustellen und den Abschluss der Leitungsverlegung zu beschleunigen.
Wir werden bei dem Thema Leitungsausbau ein Monitoring einführen, damit jeder zu jedem Zeitpunkt weiß, wo die Ampel auf Grün, wo sie auf Gelb und wo sie auf Rot steht.
Diese Energiewende – so umstritten sie bei vielen lange Zeit war und zum Teil immer noch ist – ist dann, wenn wir unsere Klimaschutzverpflichtungen ernst nehmen, der einzige Weg, um im Energiebereich unser Wirtschaftsmodell, unser Sozialmodell auch in Zukunft klimafreundlich zu erhalten. Wenn wir wollen, dass die Energiewende gelingt, dann brauchen wir eben nicht nur die erneuerbaren Energien, dann brauchen wir auch die Stromleitungen. Es werden Leitungen sein, die länger sind als früher, weil der Strom in der Energiewende in ländlichen Regionen produziert und in städtischen und Ballungsgebieten verbraucht wird. Das wissen alle Beteiligten. Das ist in der täglichen Praxis nicht immer einfach zu erklären, aber es gehört dazu, damit das große Projekt gelingt. Deshalb bedanke ich mich noch einmal ganz herzlich für Ihre aller Unterstützung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Steffen Kotré.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundesregierung schreibt in ihrem Gesetzentwurf:
Die Stromnetze sind das Rückgrat der Energiewende.
Aber ich sage: Die Bundesregierung ist der Sargnagel unserer gesicherten Stromversorgung.
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Wir brauchen keine Langstreckennetze. Sie, Herr Altmaier, haben es eben gesagt: Es geht darum, die Stromleitungen jetzt länger zu machen. – Das ist etwas völlig Neues.
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– Das haben Sie schon mal gesagt; das brauchen Sie nicht zu wiederholen. – Überall auf der Welt gilt das Prinzip, dass da, wo Strom gebraucht wird, dieser entsprechend produziert wird. Also da, wo Bedarf ist, wird auch produziert. Das ist überall auf der Welt so; das war auch bei uns so. An diesen physikalischen und ökonomischen Grundlagen hat sich nichts geändert. Deswegen brauchen wir hier auch nichts zu ändern.
Mir scheint aber, dass die Bundesregierung, wenn die Energiewende in diesem Sinne vorangetrieben wird, hier den Blackout geradezu herbeisehnt. Anders kann man es, glaube ich, nicht bezeichnen. Darüber hinaus habe ich den Eindruck, als würde die Bundesregierung darauf hinarbeiten, die Stromkunden, die Steuerzahler auszuplündern und mit dem Ausbau von Höchstspannungsübertragungsleitungen durchaus mit der Gesundheit der Menschen zu spielen bzw. hier vorfristig Technologien am Markt zu etablieren, die noch nicht ausgereift sind.
Ich komme vielleicht mal zum Kern des Problems. Instabiler Windstrom ist, wie wir alle wissen, nicht verlässlich und nicht vorhersehbar. Wenn wir nun diese Langstreckenstromnetze haben, dann wird ja automatisch mehr instabiler Strom in die Netze eingespeist. Das bedeutet, dass stabiler Strom aus konventionellen Kraftwerken rausgeht und das Netz insgesamt instabiler wird. Das ist das eigentliche Problem. Wir nähern uns da einer kritischen Grenze. Wir haben ja jetzt schon Stromausfälle im Millisekundenbereich. Die werden zunehmen.
Aber was eben auch zunehmen wird, ist das Risiko eines Blackouts. Über dieses Blackout-Risiko haben wir heute schon einiges gehört. Ich erinnere nur noch mal daran, dass bei einem Blackout über Tage hinweg durchaus auch Todesfälle in Kauf genommen werden müssen, zum Beispiel in Krankenhäusern. Das liegt auf der Hand. Die gesellschaftliche Infrastruktur würde zusammenbrechen etc.
Leider haben wir es bei den Energiewendeverfechtern mit wissenschaftlichen Stümpern zu tun: befreit vom Wissen über physikalische, technische und ökonomische Zusammenhänge. So ist es dann auch kein Wunder, dass zum Beispiel ein Staatssekretär aus dem Bundesumweltministerium sagt: Wir brauchen keine Grundlastsicherung im klassischen Sinne mehr. – Aber genau diese Grundlastsicherung ist die Voraussetzung für unsere Versorgungssicherheit. Das sagt mir, dass auf diese Versorgungssicherheit nicht mehr so viel Wert gelegt wird, und das ist falsch, meine Damen und Herren.
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Wenn wir andere Äußerungen nehmen, auch gerade von den Grünen, dass wir Strom in den Netzen speichern können, dann muss ich sagen: Das ist natürlich völliger Irrsinn.
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Dann lese ich in einem Antrag, dass Kohlestrom die Netze verstopfen soll.
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Da stelle ich mir jetzt vor: Da haben wir die Stromleitungen. Da kommen die Strömlinge durch. Die bleiben dann hängen und verstopfen die Leitungen. Dann muss ein Mitarbeiter des Netzversorgers kommen
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und mit einem Pömpel vielleicht ein bisschen nachdrücken. – Das soll versinnbildlichen, mit was für einem Geschwafel wir es hier manchmal zu tun haben.
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Ich würde mir wirklich wünschen, dass wir hier wieder wissenschaftlich an die Sache rangehen. Aber, liebe Damen und Herren, die Tatsache, dass wir genau das nicht tun, ist das Erschreckende.
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Zum Blackout habe ich schon etwas gesagt. Dass Höchstspannungsübertragungsleitungen keine ausgereifte Technik sind, hatte ich schon erwähnt.
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Wir haben noch nicht richtig geprüft: Was macht das mit der Gesundheit der Menschen? Dann die Umweltverschmutzung: Stromtrassen zerstören die Landschaft,
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und davon haben die Leute vor Ort zu Recht die Nase voll.
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Wenn wir zum monetären Aspekt der ganzen Sache kommen, dann muss ich sagen: Hier werden wieder Milliarden ausgegeben, die dann die Stromkunden und die Steuerzahler bezahlen müssen. Das ist unsozial. Die Energiewende ist eine gigantische Umverteilung von der Bevölkerung, vom kleinen Mann hin nach oben zu den Windparkbetreibern und den Unternehmen. Aber da machen wir nicht mit, meine Damen und Herren.
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Langstreckenstromtrassen in der Landschaft sind so unnötig wie ein Kropf und so unangenehm wie Exkremente am Schuh.
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Meine Damen und Herren, die Energiewende ist purer Luxus für porschefahrende Grüninnen und Grüne mit der Rolex am Handgelenk. Aber wir machen Schluss mit dieser falschen Politik. Das schadet der Bevölkerung. Das schadet der Wirtschaft. Das schadet unserem Land. Nicht mit uns! Nicht mit der AfD!
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Johann Saathoff.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit grood Problemen sall man sük befaaten, wenn se noch heel lüttjet sind. Oder: Mit großen Problemen soll man sich befassen, wenn sie noch ganz klein sind. Man muss zugeben: Wir hätten uns mit diesem Problem, das wir heute lösen wollen, nämlich mit den Verzögerungen beim Netzausbau, schon mal ein bisschen eher befassen können und vielleicht auch müssen, als das Problem noch nicht ganz so groß war, wie es jetzt im Moment ist.
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Wir wollen mit dem NABEG die Synchronisation des Netzausbaus mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien erreichen und die Verzögerung beim Netzausbau aufheben. Ich habe ein gutes Gefühl dabei, dass uns das in diesem Fall auch gelingt. In den Verhandlungen der letzten Wochen war uns aber auch wichtig, dass wir gleichzeitig die vom Netzausbau betroffenen Menschen stärker in Betracht ziehen. Wir haben dem Entwurf des Gesetzes im parlamentarischen Verfahren einiges hinzugefügt, zum Beispiel Verschwenkungsmöglichkeiten von Leitungen zum Schutz der Anwohnerinnen und Anwohner.
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Wir haben dafür gesorgt, dass es in dem Fall, dass die alte Leitung durchs Baugebiet führt und die neue Leitung logischerweise drum herumgelegt werden muss, jetzt möglich ist, die alte Leitung auch aus dem Baugebiet heraus zu verschwenken, und zwar dahin, wo die neue Leitung hingehört.
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Das ist eine gute Botschaft für alle Menschen, die von Leitungsbau betroffen sind. Wir haben erreicht, dass die Bundesnetzagentur ausnahmslos alle Anträge darauf prüfen wird, und wir haben den Katalog von Verschwenkungsmöglichkeiten, also von Tatbeständen, die es möglich machen, Leitungen zum Schutz der Betroffenen zu verschwenken, erweitert. Bestehende Leitungen können im Einvernehmen mit den Ländern ebenfalls verschwenkt werden. Ich glaube, wir können alle miteinander froh sein, dass uns das gelungen ist.
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Wichtig ist auch, dass durch beschleunigende Maßnahmen wie die Umstellung auf ein Anzeigeverfahren für die Einführung von Freileitungsmonitoring die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt nicht in den Hintergrund rücken. Ganz im Gegenteil: Wir haben sichergestellt, dass die Auswirkungen genauestens geprüft werden.
Und: Ich finde es enorm wichtig, dass beim SuedOstLink die Leerrohre nun schon mitverlegt werden dürfen. Die Trasse muss in ein paar Jahren, falls wir dort noch eine zusätzliche Leitung einbauen wollen, nicht noch mal komplett neu aufgebaggert werden. Das würde kein Mensch in Deutschland verstehen, dass wir im Abstand von wenigen Jahren die gleiche Trasse doppelt aufreißen und wieder zubaggern.
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Ebenso sind bauvorbereitende Maßnahmen möglich. Sie müssen allerdings für den Fall, dass später diese Planung nicht genehmigt wird, auch rückgängig zu machen sein. Oft gibt es notwendige bauvorbereitende Maßnahmen, die zum Beispiel in Brut- und Setzzeiten nicht erfolgen können. Das hat zur Folge, dass der Leitungsbau allein deswegen manchmal monatelang, manchmal ein halbes Jahr lang nicht weiter vorankommt, also verzögert wird. Wir haben dafür gesorgt, dass diese bauvorbereitenden Maßnahmen jetzt möglich gemacht werden.
Wir regeln in diesem Gesetz, was eigentlich beim Betrieb von Stromnetzen passiert, wenn ein Übertragungsnetzbetreiber, der die nationalen Netze betreibt, und ein Verteilnetzbetreiber, der die regionalen Netze betreibt, konkurrierende Maßnahmen ergreifen. Was passiert dann eigentlich? Und wir haben geregelt: Im Redispatch sollen die Maßnahmen der regionalen Verteilnetzbetreiber Vorrang haben.
Ich will an dieser Stelle auch noch mal darauf hinweisen, dass uns das Urteil des Europäischen Gerichtshofes zur EEG-Umlage und zum Erneuerbare-Energien-Gesetz insgesamt aus der letzten Woche überrascht hat. Interessant ist, dass die EEG-Umlage nicht als Beihilfe eingestuft wurde. Wir haben in den letzten Jahren zahlreiche Regelungen der Energiegesetzgebung unter Verweis auf Brüssel getroffen. Die Folgen dieses Urteils sind genau auszuwerten, und ich freue mich darauf, dass wir dazu eine konstruktive Debatte haben werden.
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Last, but not least: Wir haben ein Offshoretestfeld miteinander vereinbart in einer Größenordnung von 300 Megawatt. Das ist wichtig für deutsche Offshoreunternehmen. Die Technologie kann und muss weiter in Deutschland entwickelt werden. Ich finde, das ist ein klares Bekenntnis zum Offshorestandort Deutschland.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Saathoff. – Die nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion die Kollegin Sandra Weeser.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir besprechen heute final das NABEG 2.0. Das ist die zentrale Initiative der Bundesregierung zur Beschleunigung des Netzausbaus hier in Deutschland. Wir begrüßen den Gesetzentwurf der Bundesregierung weitestgehend und auch die meisten der Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen, weil darin einige Maßnahmen enthalten sind, die den dringend erforderlichen Netzausbau hier in Deutschland weiter vorantreiben. Allerdings stellt sich auch für uns die Frage, ob diese Maßnahmen, die darin enthalten sind, ausreichen. Aus unserer Sicht hätten diese wesentlich weiter gehen können und auch gehen müssen; denn der Knackpunkt des Gesetzes ist ja das Vorhaben, Planungs- und Genehmigungsverfahren zu verkürzen und damit die Leitungen schneller bauen zu können.
Sie wollen, dass der Verzicht auf die Bundesfachplanung bei der Änderung von Bestandstrassen, bei Parallelneubau und in anderen genannten Fällen zu einer Soll- oder einer Kannvorschrift wird und dass das Ganze im Ermessen der Bundesnetzagentur liegt. Das, meine Damen und Herren, ist für mich jetzt nicht der große Wurf. Mir stellt sich eher die Frage: Wie viele Projekte werden wir denn mit so einer schwammigen Regelung überhaupt in einem verkürzten Verfahren entsprechend vorantreiben können?
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Wir Freien Demokraten haben in unserem Änderungsantrag vorgeschlagen, den Verzicht auf die Bundesfachplanung für die genannten Fälle zur Regel zu machen, wohlgemerkt aber nicht für die bestehenden Planungen für die Ultranet-Trasse. Damit hätten wir einen pragmatischen Ansatz. Wir würden für deutlich mehr Klarheit sorgen, und wir kämen insgesamt viel, viel schneller voran.
Dass Ihre Regelungen nicht weit genug gehen, zeigte auch unsere Anhörung im Ausschuss im März. Leider wurde die Möglichkeit einer Änderung nicht genutzt. Ich stelle hier nochmals die Frage: Wird dieses Gesetz wirklich zu einer Beschleunigung des Netzausbaus führen? Werden Sie den Notstand beim Netzausbau damit überhaupt in den Griff bekommen? Ich will noch mal die Istsituation schildern. Wir haben noch nicht mal 1 000 Kilometer von insgesamt 7 700 Kilometern für die Netze gebaut. Das sind schlappe knappe 13 Prozent Netzausbau, den wir mit den bisherigen Gesetzen erreicht haben. Ich habe, um ehrlich zu sein, erhebliche Zweifel daran, dass wir hier in Deutschland so vorankommen. Ich hätte mir von Ihnen wesentlich mehr Mut gewünscht – nicht nur ein „soll“ oder ein „kann“.
Ein weiterer Punkt, über den wir noch sprechen müssen, ist die kurzfristige Aufnahme von Regelungen zu Großspeichern und Power-to-X-Anlagen. Was hier kurz vor Toresschluss noch in das Gesetz hineingepaukt worden ist, sehen wir zum Beispiel kritisch. Power-to-X-Technologien können für die Energiewende zu einem wichtigen Baustein werden. Dabei dürfen die Prinzipien des Unbundlings, das heißt die Trennung von Netz und Vertrieb, nicht einfach über Bord geworfen werden.
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Elektrolyse und große Batteriespeicher sollten nicht von regulierten Monopolisten, also den Netzbetreibern, errichtet und betrieben werden, sondern dieses Geschäft muss aus unserer Sicht wettbewerblich organisiert und durchgeführt werden. Darüber sollten wir noch einmal in einem gesonderten Verfahren diskutieren.
Damit kommen wir zum eigentlichen Punkt der gesamten Energiewende; denn Ihre Politik missachtet marktwirtschaftliche Prinzipien und macht Energie extrem teuer. Bezahlbarkeit von Energie ist aber für den Wirtschaftsstandort Deutschland entscheidend und übrigens auch für unsere Bürgerinnen und Bürger. Laut einer aktuellen Umfrage ist es einem Drittel der Befragten am wichtigsten, dass die Energiekosten bezahlbar bleiben. Liebe Bundesregierung, so langsam müssten bei Ihnen auch mal die Alarmglocken leuchten.
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Wir haben nicht umsonst heute die Aktuelle Stunde auf die Tagesordnung gebracht, um die Debatte über steigende Strompreise zu führen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Die Antworten in dieser Debatte haben mich persönlich nicht überzeugt. Ich weiß nicht, ob es den Bürgerinnen und Bürgern zu Hause nicht ähnlich geht.
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Ändern Sie bitte Ihren Kurs bei der Energiewende, und steuern Sie um!
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Der nächste Redner ist der Kollege Ralph Lenkert, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat sich beim Netzausbau auf das NOVA-Prinzip festgelegt. „NOVA“ bedeutet: zuerst Netzoptimierung, dann Netzverstärkung und zuletzt Ausbau. Bevor man also neue Stromtrassen baut, sollte man die bestehenden Kapazitäten kennen. Also fragte ich die Bundesregierung nach den Übertragungskapazitäten im Höchstspannungsnetz zwischen den Bundesländern. Die Antwort der Bundesregierung lautete – Zitat –: „Diese werden in der Regel nicht ermittelt.“ Erstaunlich, oder? Dann fragte ich, wie alt die Höchstspannungsübertragungsleitungen sind. Antwort der Bundesregierung: Wir wissen es nicht. – Erstaunlich, oder?
Herr Minister Altmaier, in Ihrem Ministerium sind weder die Kapazitäten noch der Zustand des deutschen Stromnetzes bekannt. Woher stammt Ihr Glaube, dass Ultranet, SuedLink und SuedOstLink und die anderen Trassen notwendig sind?
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Ich fragte weiter: Was ist volkswirtschaftlicher, eine Strompreiszonentrennung in Deutschland oder der Ausbau des geplanten Stromübertragungsnetzes? Die ausweichende Antwort lautete: Eine Preiszonentrennung ist nicht netzausbaudienlich. – Das ist zumindest richtig, bloß es offenbart eines: Diese Bundesregierung hat nicht einmal über Alternativen zu dem exzessiven Stromübertragungsnetzausbau nachgedacht.
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, EU-Kommission und Bundesregierung verlassen sich bei der Netzausbauplanung völlig auf die Netzbetreiber 50Hertz, TenneT, Amprion, TransnetBW und andere. Diese planen dann Neubautrassen, Ausbaumaßnahmen. An jeder Maßnahme verdienen sie garantierte 7 Prozent Rendite. Wer da glaubt, dass die Netze so sparsam wie möglich gebaut werden, kann auch jedes Märchen glauben.
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Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ich muss jetzt mal technisch werden. 2017 fragte ich nach den schwarzstartfähigen Kraftwerken in Deutschland. Die Antwort lautete: In den Kraftwerken, die schwarzstartfähig sind und im Falle eines Blackouts sicherstellen, dass das Stromnetz wieder angefahren werden kann, gibt es 7,8 Gigawatt. – Zufällig hat man das größte deutsche Pumpspeicherwerk in Goldisthal in meinem Heimatland Thüringen vergessen. Also fragte ich nach. Daraufhin mussten die Netzbetreiber die Zahl auf 11,2 Gigawatt korrigieren. Erstaunlich, oder?
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Als Techniker in der Industrie war ich für die Planung von Technologiewechseln zuständig. Zu Beginn analysierte ich den aktuellen Zustand und den zukünftigen Endzustand.
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Dann organisierte ich den schnellstmöglichen Übergang. Herr Minister Altmaier, Ihrem Ministerium fehlen die genauen Daten. Sie kennen nicht die Kapazitäten, und die Planungen des zukünftigen Stromsystems mit 100 Prozent erneuerbaren Energien liegen nicht vor. Wenn Sie, Herr Minister, als Techniker Industrieprojekte so planen würden, wie Ihr Ministerium den Übertragungsnetzausbau plant, dann müssten Sie sich ganz schnell einen neuen Job suchen.
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Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, dieser Gesetzentwurf streicht Planungsschritte und ermöglicht damit deutlich weniger Einsprüche gegen den Trassenausbau. Das ist undemokratisch. Die Stromkundinnen, Handwerker und Unternehmer müssen die 55 Milliarden Euro Stromnetzausbaukosten finanzieren. Das sind 4 Milliarden Euro zusätzliche Netzentgelte jährlich. Das ist unwirtschaftlich und unsozial.
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Die Union sichert mit diesem Gesetz den Übertragungsnetzbetreibern TenneT, 50Hertz, Amprion, TransnetBW jährliche Zusatzprofite von 1,5 Milliarden Euro. Das sagt alles. Die Linke lehnt dieses Übertragungsnetzbetreiberprofitsicherungsgesetz ab.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Ingrid Nestle, Bündnis 90/Die Grünen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Herr Minister! Viele Politiker haben die Jugendlichen von Fridays for Future in den letzten Wochen gelobt. Es sei richtig und gut für die Demokratie, sich zu engagieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die richtige Antwort von uns Parlamentariern ist nicht abstraktes Lob, sondern konkretes Kümmern um die Anliegen der Jugendlichen.
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Und da spielt der heute vorliegende Gesetzentwurf eine wichtige Rolle; denn wir brauchen die Stromnetze für erfolgreichen Klimaschutz.
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Wir Grüne unterstützen den zügigen Ausbau der Stromleitungen. Dabei sind wir überzeugt, dass Naturschutz nicht das Problem ist, und lehnen Absenkungen der Standards klar ab. Dennoch enthält Ihr Gesetzentwurf richtige Ansätze zur Beschleunigung des Netzausbaus. Umso absurder ist es, dass Sie beim Ausbau von Wind- und Sonnenstrom auf der Bremse stehen, angeblich wegen fehlender Leitungen. Minister Altmaier, Sie haben gesagt, die Energiewende komme voran, der Leitungsausbau nicht. Das stimmt doch schon längst nicht mehr. Der Ausbau der Erneuerbaren hat sich halbiert, während die Planungsverfahren von SuedLink und Co Schritt für Schritt sinnvoll abgearbeitet werden.
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Ich sage Ihnen: In 2030 werden wir die Leitungen haben, aber nicht den Ökostrom, um sie zu füllen. Das müssen wir ändern.
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Ich habe davon gesprochen, dass wir junge Menschen für die Demokratie gewinnen wollen. Ja, wir alle wollen, dass junge Menschen die Erfahrung machen, dass wir im Parlament in der Lage sind, Probleme zu lösen. Trauen Sie sich wirklich, den jungen Leuten zuzurufen, unsere Demokratie sei nicht in der Lage, bis 2030, also in über zehn Jahren, für den Zubau notwendiger Stromleitungen zu sorgen? Trauen Sie sich wirklich, weiterhin zu sagen, dass Sie sich wegen der angeblich fehlenden Stromleitungen nicht um den versprochenen Ausbau der erneuerbaren Energien kümmern? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie junge Menschen für die Demokratie gewinnen wollen, dann müssen Sie beweisen, dass wir in der Lage sind, Probleme zu lösen, und dann dürfen Sie nicht schon aufgeben, wenn es um den Bau von Stromleitungen geht.
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Deshalb bitte ich Sie von ganzem Herzen: Fangen Sie heute an, den Zubau bei den Erneuerbaren wieder auf das notwendige Tempo zu bringen.
Und bitte nennen Sie nie mehr dieses alberne Argument, dass man wegen heutiger Engpässe im Stromnetz angeblich nicht den Zubau der Erneuerbaren bis 2030 organisieren könne.
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– Sie können gern eine Zwischenfrage stellen. Dann freue ich mich.
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Übrigens werden sogar schon heute über 97 Prozent des erneuerbaren Stroms vom Netz aufgenommen, und das kann man noch problemlos steigern, zum Beispiel indem man den Strom vor dem Netzengpass nutzt, anstatt die Windräder abzuschalten, oder indem man weniger Kohlestrom in den Netzengpässen hält.
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Aber hier stehen Sie auf der Bremse. Mit diesen schlechten Argumenten haben Sie den Ausbau der Erneuerbaren gebremst und bereits halbiert. Das ist das Problem.
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Ich hätte gerne dem Gesetz zum Netzausbau zugestimmt. Leider haben Sie in letzter Sekunde noch eine Förderung für Erdöl-KWK reingeschoben. Wir werden uns enthalten. Aber ich möchte Sie alle einladen, dass wir gemeinsam wirklich nach Wegen suchen, die Energiewende zum Funktionieren zu bringen – mit Stromnetzen, mit Erneuerbaren, mit Energieeffizienz, mit allem Drum und Dran.
Herr Koeppen, Sie sprachen vorhin vom Zieldreieck aus Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit.
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Genau darum geht es. Ich muss ja zugeben: Ich bin es so leid, von Ihnen immer die gleichen Gassenhauer zu Strompreisen und Versorgungssicherheit zu hören. Wenn wir heute schon ein ernstes Problem mit der Erreichung der Ziele des Zieldreiecks haben, dann ist es doch bei der Umweltverträglichkeit, also beim Klimaschutz, und nicht bei der Versorgungssicherheit.
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Es gibt eine Menge zu tun. Das sollten wir nüchtern und anhand der Fakten gemeinsam tun. Darüber würde ich mich sehr freuen, und das sind wir als Parlament den Menschen schuldig.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner: Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie hier am späten Nachmittag oder am frühen Abend – die Sommerzeit hat ja da einiges geändert – zur Debatte zum schnelleren Netzausbau erschienen sind! Der schnellere Netzausbau ist in der Tat wichtig, und er wurde vom Minister zur Chefsache erklärt. Es gab zahlreiche Netzausbaureisen. Ich möchte schon feststellen: Es wird geliefert, und das auch in kurzer Zeit. Niemand gibt auf. Ganz im Gegenteil: Wir packen die Sache an.
Kann der Windstrom aus dem Norden nicht in den Süden abtransportiert werden, müssen die Windkraftwerke im Norden abgeregelt werden. Das verursacht hohe Kosten, sogenannte Redispatch-Kosten. Das verhält sich übrigens auch bei PV-Strom aus dem Süden so, der in den Norden geliefert werden muss.
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Es geht insgesamt um Netzstabilität und letztlich natürlich auch um Versorgungssicherheit, die wir hier gewährleisten.
Durch das Gesetz werden nun einzelne Verfahrensschritte wesentlich vereinfacht, beispielsweise beim Ausbau oder beim Erweitern von Leitungsseilen auf Bestandsmasten. Auch ein vorzeitiger Baubeginn wird durch das Gesetz möglich. Das schont teilweise den Boden. Aber auch für Voruntersuchungen ist das ein ganz wichtiger Schritt.
Die Verlegung von Leerrohren wird zukünftig im Sinne einer vorausschauenden Planung ebenso möglich sein. Insgesamt wird die Koordinierung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, was die Planung insgesamt betrifft, verbessert werden. Ein hohes Maß an Öffentlichkeitsbeteiligung wird dabei erhalten bleiben, und zwar vom Netzentwicklungsplan bis zur Planfeststellung.
Außerdem werden wir Erneuerbare-Energien-Anlagen, aber auch KWK-Anlagen zukünftig in das sogenannte Redispatch-Management stärker miteinbeziehen. Das wird ein effizienteres Engpassmanagement insgesamt gewährleisten und wiederum Kosten sparen.
Wir haben im Gesetzgebungsverfahren auch noch Sorgen der Verteilnetzbetreiber berücksichtigt, gerade wenn es um den Zeitrahmen für die Umsetzung ging. Das wurde entsprechend adressiert.
Und: Wir erhöhen die Dienstbarkeitsentschädigungen für die Land- und Forstwirtschaft, und zwar auf 25 Prozent des Verkehrswertes bei Freileitungen und auf 35 Prozent bei Erdverkabelungen. Der Beschleunigungszuschlag wurde im parlamentarischen Verfahren von 50 Prozent auf 75 Prozent erhöht. Er gilt für Bewilligungen, die innerhalb von acht Wochen zustande kommen. Dies ist eine zielgerichtete Maßnahme, die einmalig die Beschleunigung des Netzausbaus voranbringt. Frühere Öffnungsklauseln werden auch berücksichtigt werden. Die Zahlungen können dann innerhalb von 30 Jahren an drei Terminen abgerufen werden. Der Schadensersatz für Ernteausfälle, Mindererträge und Forstschäden im Zuge des Baus der Leitungen und auch im Nachgang bleibt davon unberührt. Schäden werden auch zukünftig in voller Höhe ersetzt werden.
Lassen Sie mich ganz klar sagen: Die Verbesserungen bei den Entschädigungen zeigen, dass für uns als Union der Wert des Eigentums wichtiger ist. Auch das adressieren wir mit diesem Gesetz.
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Insgesamt werden die Regelungen helfen, die Akzeptanz zu fördern und damit die Umsetzung zu beschleunigen.
Wir prüfen auch – das will ich betonen – die Möglichkeit der Beteiligung der Grundstückseigentümer an den Netzprojekten. Wir machen zukünftig Betroffene zu Beteiligten. Die Ergebnisse einer Studie, die dazu in Auftrag gegeben wurde, werden Ende des Jahres vorliegen, und wir werden sie entsprechend berücksichtigen.
Die Anpassungen der Bundeskompensationsverordnung wurden angesprochen. Es soll hier zu Vereinfachungen und auch zu anderen Möglichkeiten des Ausgleichs kommen. Lassen Sie es mich ganz offen sagen: Wenn wir im Rahmen der Energiewende, also im Sinne der Ökologie, etwas machen, dann braucht es meiner Meinung nach überhaupt keinen Ausgleich. Wir wollen erreichen, dass es bei solchen Vorhaben zukünftig keiner Ausgleichsmaßnahmen mehr bedarf. Da geht uns der jetzige Regelungsvorschlag des BMU noch nicht weit genug. Wir werden darüber noch mal mit der SPD diskutieren. Ich nehme die Kolleginnen und Kollegen da beim Wort. Das ist für uns ein wichtiger Punkt, und das werden wir entsprechend weiterhin verfolgen.
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Wir hätten im Rahmen dieser Gesetzgebung auch gerne noch mehr für die KWK getan, vor allem für die Anlagen zwischen 1 und 10 MW. Das scheiterte leider am Koalitionspartner. Hier bietet das EuGH-Urteil aus der letzten Woche einen entsprechenden Rahmen. Wir werden zeitnah, vor der Sommerpause, den gegebenen Spielraum nutzen.
Lassen Sie mich einen Satz zum SuedOstLink sagen. Uns als CSU war hier insgesamt wichtig, dass die Trassenbreite durch etwaige Leerrohre nicht vergrößert wird. Das haben wir auch so vereinbart. Ebenso werden die 525‑kV-Leitungen nach der Präqualifizierungsphase schnellstmöglich genehmigt. Das haben wir auch festgehalten. Es freut mich, dass der Minister den Punkt der Erdverkabelung adressiert hat. Auch hierzu werden wir in den nächsten Wochen noch Gespräche führen.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Berichterstattern insgesamt bedanken. Es waren nicht immer ganz einfache Gespräche; aber letzten Endes sind wir doch zu tragfähigen Ergebnissen gekommen, auch unter Einschaltung des Ministeriums. Das Ministerium darf man ja immer nicht zu viel loben; aber an der Stelle sei auch ein Lob an das Ministerium ausgesprochen.
Der Netzausbau ist insgesamt wichtig, wenn es um das Verhindern von unterschiedlichen Stromgebotszonen in Deutschland geht. Hier geht es um den Industriestandort als Ganzes. Mit Blick auf die Zukunft müssen wir natürlich die Netzausbaumaßnahmen stärker mit dem Ausbau der Erneuerbaren synchronisieren, besser koordinieren, gerade auch, um das Erfordernis eines zusätzlichen Netzausbaus zukünftig zu minimieren.
Insgesamt wird das NABEG also helfen, beim Netzausbau voranzukommen. Letzten Endes müssen die Leitungen natürlich trotzdem erst noch gebaut werden, und zwar schnell, also beschleunigt. In diesem Sinne ist das jetzt hier ein erster und auch ein wichtiger Schritt.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Der nächste Redner: Kollege Timon Gremmels, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das hier heute vorliegende Gesetz ist nur eines von vielen Gesetzen, die wir im Rahmen der Energiewende in dieser Wahlperiode auf den Weg bringen. Es hat mit dem Energiesammelgesetz begonnen, und es folgt im Herbst die Umsetzung der Ergebnisse der AG Akzeptanz/Energiewende. Ein Baustein ist heute das NABEG.
Herr Minister, Sie haben gesagt, Sie hätten den Netzausbau zur Chefsache gemacht. Das ist schön; das freut uns. Wir erwarten aber auch, dass Sie die Umsetzung des 65‑Prozent-Ziels bei den Erneuerbaren zur Chefsache machen.
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Wir erwarten – das darf ich Ihnen in koalitionärer Freundschaft sagen –, dass Sie dort endlich die Ausbaupfade aufzeigen, dass Ihr Haus – und da verrate ich kein Geheimnis der AG Akzeptanz/Energiewende der Großen Koalition – endlich die entsprechenden Pläne vorlegt, damit wir vorankommen, damit wir wirklich im Herbst das, was der Kollege Lenz angekündigt hat, hier regeln können. Auch da drängt nämlich die Zeit. Wir wollen bei der Energiewende insgesamt vorankommen, nicht nur beim Netzausbau, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Es würde auch helfen – diese Spitze muss Richtung Süddeutschland und auch gegenüber dem geschätzten Kollegen Lenz erlaubt sein –, dafür zu sorgen, dass wir in Süddeutschland, in Bayern und Baden-Württemberg, etwas mehr Windkraft ausbauen.
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Wenn wir dort in nennenswertem Umfang selber Energie – erneuerbare Energie, Windkraft, Windstrom – erzeugen würden, dann würden wir das eine oder andere Stromnetz nicht ausbauen müssen. Ich glaube, hier müssen wir noch einmal miteinander ins Gespräch kommen.
Ja, wir brauchen den Netzausbau. Aber zur Wahrheit gehört, dass wir den Netzausbau nicht nur wegen der Energiewende brauchen. Wir brauchen ein europäisches Netz von Norden nach Süden, von Osten nach Westen. Die Energiewende ist nicht der einzige Grund, warum wir in Netze investieren müssen. Zur Wahrheit gehört auch, dass die Konzerne in den letzten Jahrzehnten aus den Stromnetzen viele Gewinne gezogen, aber wenig investiert haben. Das muss man an dieser Stelle deutlich sagen.
Wir Sozialdemokraten haben ein wichtiges Augenmerk darauf, dass der Interessenausgleich zwischen Ausbaubeschleunigung auf der einen Seite und den Interessen der Menschen, die entlang der Trassen leben, auf der anderen Seite gewahrt wird. Beides gehört dazu. Wir brauchen für die Energiewende die Akzeptanz der Bevölkerung, und das wird schwierig. Das weiß ich durch die Projekte SuedLink und Ultranet. Ich hatte Gelegenheit, bei Kolleginnen und Kollegen entlang der Ultranet-Trasse vor Ort zu sein. Ich habe mit den Bürgerinitiativen sehr konstruktiv geredet. Deswegen an dieser Stelle ein Dank an die Mehrheit der Bürgerinitiativen. Sie haben profunde Sachkenntnis. Sie haben für ihre Interessen glaubhaft, ernst und mit sehr viel Wissen gekämpft. Wir haben auch einige Punkte übernommen – und zwar genau das, was die BIs gefordert haben –, zum Beispiel bei der Frage, wie es mit der Bundesfachplanung aussieht und dass für die bestehende Projekte dort keine Änderungen vollzogen werden. Wir haben den Wunsch aufgenommen, dass eine Verschwenkung von Trassen möglich ist und dass die Bestandtrassen mit verschwenkt werden, damit es am Ende keine Umzingelung einzelner Ortsteile gibt. Auch das war den Bürgerinitiativen besonders wichtig. Diesen Punkt haben wir umgesetzt.
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Natürlich haben wir nicht alle Wünsche der BIs erfüllen können. Aber wir haben sichergestellt, dass bei den weiteren Planungen auch in Zukunft die Interessen von Naturschutz und Menschen berücksichtigt werden. Hier wird nicht eine Trasse sozusagen par ordre du mufti durch die Landschaft gejagt, sondern Bürgerinnen und Bürger, die Bundesländer und die Kommunen werden in einem geordneten Verfahren beteiligt. Wir haben auch sichergestellt, dass es keine Blockademechanismen mehr gibt; denn das hat in der Vergangenheit immer dazu geführt, dass wir nicht vorangekommen sind. Das haben wir gemeinsam geändert.
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Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Mit dem Gesetz sorgen wir für die richtige Balance zwischen Beschleunigung, Beteiligung der Öffentlichkeit und dem Schutz betroffener Bürgerinnen und Bürger. Dafür steht die SPD. Es gibt noch viel zu tun. Wenn wir Beschleunigung im Netzausbau hinbekommen, dann bekommen wir demnächst die Beschleunigung beim Ausbau von Windkraft und Solar hin. Deswegen: Der 52-GW-Deckel muss weg, und wir müssen in Süddeutschland mehr Windkraft ausbauen. In diesem Sinne: Glück auf!
Danke.
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Vielen Dank, Herr Kollege Gremmels. – Ich schließe die Aussprache zu TOP 11.
Wir kommen zur Abstimmung. Dazu liegt mir eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung des Energieleitungsausbaus. Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 19/8913 und 19/9027, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 19/7375 und 19/7914 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das ist die Koalition. Gegenstimmen? – AfD und Linke. Enthaltungen? – Grüne und FDP. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das ist wieder die Koalition. Wer stimmt dagegen? – Linke und AfD. Enthaltungen? – FDP und Grüne. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 19/8913 und 19/9027 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Koalition. Gegenprobe! – AfD und FDP. Enthaltungen? – Grüne und Linke. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/9025. Wer stimmt dafür? – Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die Koalition, die AfD, die FDP und Die Linke, also alle übrigen Fraktionen. Enthaltungen? – Keine. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren, insbesondere der Koalition! Ich sage Ihnen: Wenn Sie uns nicht hätten, würden Sie vielleicht ruhiger leben, aber wesentlich chancenärmer. Und wir geben Ihnen heute eine exklusive Chance. Als regierungstragende Fraktionen können Sie der Regierung mit Ihrer Zustimmung zu unserem Antrag eine klare Ansage machen, und die heißt: Der Koalitionsvertrag gilt – und Punkt.
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Das heißt weiter: Keine Zustimmung zur Urheberrechtsrichtlinie im Rat der EU, und dafür gibt es starke Gründe.
Erstens. Ich zitiere, nochmals zur Vertiefung, aus dem Koalitionsvertrag. Dort heißt es:
Eine Verpflichtung von Plattformen zum Einsatz von Upload-Filtern, um von Nutzern hochgeladene Inhalte nach urheberrechtsverletzenden Inhalten zu „filtern“, lehnen wir als unverhältnismäßig ab.
Was bitte ist daran nicht zu verstehen? Nix.
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Dennoch enthält nunmehr die EU-Richtlinie eine Verpflichtung zum Einsatz – technischer – Mittel, derer sich Onlineplattformen bedienen sollen, um der Haftung bei Urheberrechtsverletzungen zu entgehen. Nun wurde von Kompetenzzentren wie dem Berichterstatter Herrn Voss und anderen getönt, dass Uploadfilter ja gar nicht drinstünden. Was bitte, frage ich Sie, sind dann „technische Mittel“?
Lassen sie mich ein deftiges Gleichnis ziehen. Wenn eine Kuh recycelt, ist es ein Fladen. Bei einem Hund ist es ein Haufen. Bei dem Kaninchen ist es ein Kötel, und bei Pferden nennt man es Äpfel. Man kann es verschieden bezeichnen, aber es bleibt Kacke.
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Also hören Sie auf, uns für dumm zu verkaufen, und hören Sie vor allem auf, der Welt zu erzählen, dass mit diesen Uploadfiltern Kreative und Urheberinnen zwangsläufig besser vergütet würden.
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Wenn das wirklich so wäre: Wieso wollen Sie die Filter dann in Deutschland nicht einsetzen? Zeitgleich droht nun Herr Oettinger mit Strafen der EU-Kommission, würde Deutschland versuchen, Artikel 13 bzw. 17 (neu) ohne Uploadfilter umzusetzen. Es wird, ehrlich gesagt, immer bizarrer.
Zweiter Grund. Die im EU-Parlament beschlossene Richtlinie hat zu Recht breite Kritik erfahren. Mehr als 5 Millionen Menschen haben eine Petition gegen die Copyright-Reform unterzeichnet. Und fast 200 000 Menschen haben am 23. März europaweit gegen die Reform protestiert. Sie haben also gewaltiges Glück, dass es auf dieser Ebene noch keine unmittelbare Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger gibt, aber Ihr Vorgehen ist ein Beleg dafür, wie dringend notwendig solche Formen direkter Mitbestimmung sind.
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Dritter Grund. Vor der Abstimmung im EU-Parlament hat es einen Antrag gegeben, die Richtlinie für Änderungen zu öffnen. Wie sich später durch offizielle Berichtigung versehentlich falsch abgegebener Stimmen zeigte, hatte dieser Antrag eine Mehrheit. Mit Ihrer Gegenstimme im Rat erhalten Sie die Chance, diesen Fehler korrigieren zu können. Vor allem Ihre Stimme, liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, ist gefragt. Zeigen Sie klare Kante. Ihre Abgeordneten im EU-Parlament haben nahezu vollständig gegen die Reform gestimmt. So ein kleines Rebelliönchen – glauben Sie es mir als alter DDR-Bürgerin – tut unheimlich gut.
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Meine Damen und Herren, es geht um eine gerechte Urheberrechtsreform – gerecht für die Urheber und gerecht für die Nutzer.
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Vielen Dank. – Der nächste Redner: der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es kommt relativ selten vor, dass rechtspolitische Debatten die Straßen, das Netz, den öffentlichen Diskurs und natürlich auch die Diskussion in vielen Schulklassen so bestimmen, wie das der Artikel 13 – jetzt Artikel 17 – der Urheberrechtsrichtlinie getan hat.
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Zunächst einmal finde ich es, wenn ich mir den Antrag der Linken anschaue, schon einigermaßen putzig, dass Sie sich solche Sorgen um die Umsetzung des Koalitionsvertrags von SPD und Union machen.
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Das ist wirklich putzig. Aber ich kann Ihnen sagen: Machen Sie sich keine Sorgen.
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CDU, CSU und SPD werden den Koalitionsvertrag auch ohne Ihre Hilfe umsetzen. Da sollten Sie sich wirklich keine Gedanken machen.
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Ich möchte zu dem Antrag der Linken erst einmal Folgendes sagen: Sie tun ja gerade so, als stünden wir am Anfang eines Prozesses und nicht am Ende. Die Urheberrechtsrichtlinie ist doch nicht etwa vom blauen Himmel gefallen, sondern hat zweieinhalb Jahre heftige Diskussionen in Brüssel hinter sich – mit Kommission, mit Rat, mit Europäischem Parlament. Und wenn man glaubt, dass bestimmte Fragen auf europäischer Ebene besser gelöst werden können, dann muss man auch akzeptieren, dass man in Europa und in Brüssel nicht immer auf der Siegerseite ist,
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sondern dass am Ende ein Kompromiss steht, der vielleicht auch nicht zwingend die Mehrheitsmeinung der deutschen Europaabgeordneten abbildet.
Insofern muss ich Ihnen eines sagen: Wenn man Ihren Antrag ernst nimmt, dann bedeutet er ein gutes Stück weit auch eine Delegitimierung des Europäischen Parlaments. Das finde ich in der Sache schon völlig daneben.
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Deshalb sollten wir uns das Ganze einmal inhaltlich anschauen. Ja, ich habe gesagt, dass es ein Kompromiss ist. Kompromisse sind selten perfekt. Das ist sicherlich so. Aber wenn wir jetzt noch einmal zweieinhalb Jahre in Brüssel darüber diskutieren, dann wird sich daran nichts Grundlegendes verändern, weil, wie wir wissen, in anderen Ländern eine völlig andere Position bezogen wird.
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Daher geht es aus meiner Sicht darum, sich einmal anzuschauen, was denn da eigentlich herausgekommen ist. Ich glaube, dass diese Richtlinie durchaus den schmalen Pfad zwischen der Freiheit des Netzes auf der einen Seite und dem legitimen Schutz von Urheberinteressen auf der anderen Seite gehen kann, sodass diejenigen,
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die als Schriftsteller, als Kreative, als Musiker, als Künstler geistiges Eigentum schaffen, davon auch entsprechend profitieren können.
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Deshalb muss man ganz klar sagen – Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen –: Auch wenn man nicht mit dem zufrieden ist, was da am 26. März 2019 im Europäischen Parlament entschieden wurde, ist es jedenfalls eine deutliche Verbesserung gegenüber dem Status quo.
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Daher sollten wir die Möglichkeiten nutzen, die wir tatsächlich haben. Denn es ist in der Tat eine Verbesserung gegenüber dem Status quo.
({10})
Es ist doch nicht so, dass urheberrechtliche Haftungen im Netz keine Rolle spielen würden. Bisher liegt die Haftung beim User. Wir bringen sie dahin, wo auch das Geld verdient wird, nämlich auf die Ebene der Plattformen, bei denen mit Werbung Milliardenbeträge verdient werden.
({11})
Dort ist sie richtig angesiedelt.
Jetzt ist die Frage zu stellen, wie man das Ganze umsetzt. Wir sprechen nicht über eine Verordnung, sondern über eine Richtlinie. Eine Richtlinie bedarf der nationalstaatlichen Umsetzung. Das werden wir in den nächsten Monaten in Angriff nehmen. Dann werden wir schauen, welche Möglichkeiten wir finden, den schmalen Pfad von Urheberrechtsschutz auf der einen Seite und Freiheit des Netzes auf der anderen Seite zu gewährleisten.
({12})
Ich bin davon überzeugt, dass es uns gelingen wird, eine Lösung zu finden, die nicht auf Blockieren, sondern auf Bezahlen setzt, indem man mit Lizenzrechten arbeitet. Ich bin davon überzeugt, dass die Richtlinie genügend Spielraum eröffnet, um eine solche Lösung tatsächlich zu finden.
Deswegen ist mein Vorschlag, dass wir uns vor allen Dingen damit beschäftigen, wie wir eine gute Lösung dafür entwickeln können, um dieses Ziel zu erreichen. Dabei muss völlig klar sein, dass wir die Befürchtungen, die es in der Bevölkerung gerade bei jungen Menschen gibt, natürlich ernst nehmen und dass wir Lösungen finden, die nicht nur die großen Plattformen im Blick haben, sondern auch die kleineren, sowie das gewährleisten, was auch in der Richtlinie ausdrücklich erwähnt ist: Rezensionen, Kritik, Parodien, Karikaturen müssen selbstverständlich ungeschmälert im Netz verfügbar sein. Da darf es keinen Eingriff in Meinungsrechte geben.
({13})
Ich bin davon überzeugt, dass die Richtlinie die Chance eröffnet, hier eine gute Lösung für uns zu erreichen. Es wäre sicherlich schön, wir könnten das im größeren europäischen Kontext erreichen. Aber wir versuchen, in Deutschland genau das umzusetzen, was wir uns zu Beginn der Legislaturperiode vorgenommen haben.
Herzlichen Dank.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Joana Cotar, AfD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Gestern Abend erreichte mich eine E-Mail von 120 Kulturschaffenden, die an die Bundesregierung appellieren, die neue Urheberrechtsrichtlinie und mit ihr die drohenden Uploadfilter zu verhindern. Sie fordern ein freies Internet und betonen einmal mehr, dass diese neue Richtlinie Künstlern eben nicht hilft. Im Gegenteil: Sie befürchten weniger Einnahmen, eine Eindämmung des kreativen Austausches, Overblocking, Selbstzensur und Verunsicherung. Und sie haben recht, meine Damen und Herren.
Sie, werte Vertreter von CDU, CSU und SPD, wissen auch, dass sie recht haben.
({0})
Anders ist Ihr absurdes Verhalten in den letzten Wochen, das ständige Hin und Her beim Thema Uploadfilter, nicht mehr zu erklären. Zuerst betonen die Vertreter der CDU, vorneweg der mittlerweile wohl unbeliebteste Politiker im Netz, Axel Voss, dass die Urheberrechtsrichtlinie überhaupt keine Uploadfilter enthalte; man wisse gar nicht, worüber sich die Bürger so aufregten; alles Fake News. Kurz darauf stellt sich dieselbe CDU hin und präsentiert ein Papier, das die Uploadfilter, die es ja angeblich gar nicht geben soll, in Deutschland verhindern soll. Ist Ihnen das eigentlich nicht selbst peinlich, liebe Kollegen?
({1})
Ich verstehe ja Ihre Panik. Der Hashtag #niemehrCDU ist in aller Munde. Sie verlieren gerade die jungen Wähler. Aber glauben Sie wirklich, dass Sie es besser machen, indem Sie die Menschen da draußen für dumm verkaufen?
({2})
Sie basteln auf EU-Ebene ein Gesetz zusammen, das das freie Internet so, wie wir es kennen, zerstören kann,
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und gerieren sich dann tatsächlich als die edlen weißen Ritter, die zur Rettung eilen. Diese Vorstellung nimmt Ihnen wirklich niemand ab.
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Wenn Ihr Lösungsvorschlag wenigstens gut wäre, könnte man ja über die Posse, die Sie hier aufführen, irgendwie hinwegsehen.
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Aber das ist er nicht. Er ist vage, er ist unausgegoren, und er ist schnell dahingeschrieben, nur damit man die Demonstranten da vorne beruhigt.
Sie sagen zum Beispiel, unterhalb der zeitlichen Grenze seien Uploads lizenzgebührenfrei. Ich frage Sie: Wie stellen Plattformen denn sicher, dass Uploads oberhalb der Grenze erfasst werden und die Lizenzen dafür vorliegen?
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Genau: mit Uploadfiltern. Eine andere Möglichkeit gibt es gar nicht.
Und wie wollen Sie überhaupt verhindern, dass Plattformen diese Uploadfilter einsetzen, um den Anforderungen der EU gerecht zu werden? Auch das können Sie nicht.
Das größte Problem aber ist: Ihr Vorschlag ist europarechtlich gar nicht machbar. Das sage nicht nur ich; das sagen auch Ihre eigenen Kollegen. Das sagen Ihnen der CDU-Rechtsexperte Heribert Hirte und EU-Kommissar Günther Oettinger. Beide bestätigen, dass Uploadfilter rechtlich nicht mehr zu verhindern sind.
({7})
Dafür haben Sie auf EU-Ebene gesorgt, meine Damen und Herren.
({8})
Sie haben sich vor den Karren der Verlags- und der Medienlobby spannen lassen, und zwar diesmal so offensichtlich, dass Sie nun völlig zu Recht die Quittung dafür bekommen – und mit Ihnen übrigens auch die SPD, die sich ja dafür feiert, im EU-Parlament gegen diese Reform gestimmt zu haben. Dabei vergisst sie zu oft, dass ihre Ministerin Katarina Barley es in der Hand hatte. Ihre Spitzenkandidatin für die EU-Wahl hätte mit einem Nein im Ministerrat diese Reform stoppen können. Aber sie hat zugestimmt, und sie hat diese Zustimmung auch noch verteidigt.
Erst nachdem der Protest immer größer wurde, meldete sie sich plötzlich per Twitter zu Wort und verkündete: Wir halten Uploadfilter für den falschen Weg. – Man könnte meinen: Tolle Sache; die SPD hat es endlich verstanden.
Doch dem ist leider nicht so. Denn direkt nach der Abstimmung im Europaparlament hat Frau Barley erklärt, dass die Bundesregierung die finale Zusage im EU-Ministerrat geben werde und das durchziehen werde. Sie bedaure zwar, dass sich das Parlament nicht gegen die Uploadfilter positioniert habe. Aber nun gehe es eben darum, diese Richtlinie in Deutschland umzusetzen.
Ich bin wirklich gespannt, Frau Barley, wie Sie das den Wählern erklären wollen. Die Spitzenkandidatin der SPD für die EU-Wahl steht zu einer Richtlinie, gegen die ihre eigenen Kollegen im EU-Parlament aufbegehrt und klar dagegengestimmt haben. Das ist eine wirklich spannende Sache.
({9})
Die Bundesregierung wird also der Urheberrechtsreform, so wie sie ist, zustimmen. Über 5 Millionen Unterschriften unter einer Petition für die Freiheit des Internets sind ihr genauso egal wie die vielen Demonstrationen letzte Woche. Sie beweist einmal mehr: Der Wille der Menschen in diesem Land ist ihr völlig egal. Und da wundert es Sie wirklich, dass die Politikverdrossenheit in diesem Land voranschreitet? Ich tue das nicht mehr.
Alle, die wir die Urheberrechtsreform kritisieren und ablehnen, wollen ein starkes Urheberrecht,
({10})
wir wollen, dass die Urheber gerecht entlohnt werden; aber der jetzige Weg ist der falsche.
({11})
Eigentlich haben das alle Parteien hier im Parlament außer CDU und CSU erkannt. Selbst im EU-Parlament haben die Abgeordneten ihre Voten nachträglich noch geändert. Also, warum nicht die Chance nutzen und das Thema noch einmal in Ruhe verhandeln, sodass es einen fairen Ausgleich gibt zwischen dem Schutz der Rechteinhaber und den Interessen der Bürger?
Wir von der AfD stehen für die Meinungsfreiheit
({12})
und für ein freies Internet
({13})
und appellieren an die Regierung: Lehnen Sie die Reform im Rat der Europäischen Union ab; denn dort und nur dort können Sie die Uploadfilter verhindern. Haben Sie den Mut, nach der jetzigen Debatte für die Sofortabstimmung hier im Plenum zu votieren. Alles andere wäre Feigheit, und die Wähler da draußen wissen das.
Vielen Dank.
({14})
Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Martin Rabanus.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will in dieser erneuten Debatte über das Thema Urheberrecht drei Bemerkungen machen:
Die erste Bemerkung ist: Ja, wir haben eine kontroverse Diskussion hinter uns, in der Öffentlichkeit, aber auch, wenn ich das richtig sehe, in allen politischen Lagern, in allen politischen Parteien und Fraktionen. Das dokumentiert ja auch das finale Abstimmungsergebnis im Europäischen Parlament. Ich habe nicht gesehen, dass auch nur eine der dort organisierten Gruppen einheitlich in die eine oder andere Richtung votiert hat. Wir haben also eine kontroverse Diskussion geführt. Ich will an dieser Stelle all denjenigen noch einmal danken, die diese Diskussion mit großer Sachlichkeit geführt haben.
({0})
Diese Diskussion ist nicht immer, aber auch in großer Sachlichkeit geführt worden. Das gehört zum demokratischen Prozess schlicht und ergreifend dazu.
({1})
Natürlich haben wir auch in der eigenen Partei miteinander gerungen, und natürlich werden wir auch im Rahmen der nationalen Umsetzung weiter miteinander ringen, auch in der Koalition; denn es geht um die Abwägung zwischen freiem Internet auf der einen Seite und dem schon genannten Schutz des geistigen Eigentums auf der anderen Seite. Da das so ist, wird es Sie nicht verwundern, weder die Kollegen von der Linksfraktion noch die Kollegen von der FDP-Fraktion, dass wir über Ihr Stöckchen heute Abend nicht springen werden.
({2})
Damit bin ich bei den beiden vorliegenden Anträgen. Dazu will ich eine zweite Bemerkung machen: Das, was Sie hier machen, ist ein durchsichtiges parteitaktisches Manöver. Sie wollen in der Debatte noch ein bisschen Klamauk machen. Wenn sich Die Linke zur Hüterin des Koalitionsvertrages aufschwingt, muss man eigentlich nicht mehr dazu sagen als: Finde den Fehler. – Das wird so nicht funktionieren.
({3})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ein FDP-Redner spricht ja gleich nach mir.
Genauso ist es natürlich mit der FDP. Sie hat ihren Antrag, denke ich, ohne die Kulturpolitiker geschrieben. Man kann das natürlich so machen. Man kann sich mit Macht gegen die Interessen der Urheberinnen und Urheber aussprechen. Das entscheidet jeder für sich selbst.
({0})
Tatsächlich geht es – das ist die dritte Bemerkung – um ein Urheberrecht, das zu modernisieren ist. Diese Modernisierung auf europäischer Ebene ist nötig. Der Richtlinienentwurf ist zweieinhalb Jahre alt – das ist gesagt worden –, und die materiellen Regelungen gehen im Prinzip auf das Jahr 2001 zurück. Hier besteht also wirklich Handlungsbedarf. Die Richtlinie ist im Übrigen viel mehr als Artikel 13/Artikel 17. An vielen Punkten ist eine Modernisierung vorgesehen. Im öffentlichen Interesse sind Schrankenregelungen vorgesehen, Regelungen zur Sicherung des historischen Erbes und zur Sicherung von vergriffenen Werken. Es gibt Ausnahmetatbestände für Enzyklopädien, Messengerdienste, Onlinemarktplätze, Clouddienste. Wir haben eine Stärkung des Leistungsschutzrechtes für Presseverlage.
({1})
Ich finde es richtig, zu sagen, dass Newsaggregatoren wie Google News sich an der Finanzierung von Content zukünftig stärker beteiligen müssen.
({2})
Ich finde das richtig. – Damit habe ich nur einige Punkte genannt.
({3})
Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu dem umstrittenen Artikel 13/Artikel 17 machen.
({4})
– Das haben Sie glücklicherweise nicht zu entscheiden.
({5})
Dieser Artikel, der in Teilen umstritten ist, enthält ein paar wichtige strukturbildende Punkte, die unumstritten sind. Darin wird die Haftung der Plattformen geregelt. Das ist richtig so.
({6})
Darin ist angelegt, dass wir Lizenzpflichten begründen können, und wir haben einige Ausnahmen eingebracht.
({7})
Unterm Strich bleibt für mich festzuhalten: Diese Richtlinie ist kontrovers diskutiert worden – keine Frage –, man hätte sich eine bessere Richtlinie vorstellen können – auch keine Frage –, aber es wäre nicht vernünftig, das Gesamtpaket jetzt zum Scheitern zu bringen.
Herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank. – Der nächste Redner: der Kollege Roman Müller-Böhm, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich fange mal direkt an, liebe SPD: Wie stehen Sie denn jetzt dazu? Sind Sie dafür, oder sind Sie dagegen?
({0})
Aus Ihrer Partei hört man eindeutige Stimmen, dass Sie gegen Uploadfilter sind. Doch im Europäischen Rat und zuvor im Europäischen Parlament haben Sie für diese Richtlinie gestimmt.
({1})
Bekennen Sie doch mal Farbe! Ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Urheberrechte sind wichtig, gar keine Frage.
({2})
Geistiges Eigentum ist wichtig.
({3})
Und dass es Aufgabe des Staates ist, diese Rechte zu schützen, ist unstreitig.
({4})
Aber nicht jeder Zweck heiligt jedes Mittel, meine Damen und Herren. Das gilt auch für Sie.
({5})
Ich will es direkt am Anfang klar und deutlich sagen: Die Freien Demokraten lehnen Uploadfilter ab, und wir lehnen auch diese Urheberrechtsrichtlinie ab.
({6})
Ich brauche keine weiteren Zwischenrufe von Ihnen, wie wir dazu stehen. Unsere Haltung dazu ist klar.
({7})
Eigentlich müssten wir über das Thema heute Abend gar nicht diskutieren, weil in der Debatte zum Ausdruck kam, dass eigentlich niemand Uploadfilter haben will. Da frage ich mich doch, warum diese Bundesregierung sich mitunter im Rat dafür eingesetzt hat und diese Richtlinie so verabschiedet hat. Diese Frage müssen Sie doch mal beantworten.
({8})
Uploadfilter sind der falsche Weg; das wissen Sie. Das haben Sie in Ihrem Koalitionsvertrag netterweise festgehalten. Es gibt auch nichts daran rumzudeuteln, dass das, was vorgesehen ist, Uploadfilter sind. Ihr eigenes Ministerium hat auf Anfrage unserer Fraktion bestätigt, dass es aufgrund der schieren Datenmenge gar nicht anders geht als mit technischen Hilfsmitteln. Ich sage es Ihnen ganz ehrlich, liebe SPD: Das ist einfach verlogen. Sie treten mit einer Spitzenkandidatin zur Europawahl an, die sagt, Sie seien gegen Uploadfilter. Dazu sage ich Ihnen ganz deutlich: Wenn Sie so weitermachen, dann werden wir Sie immer wieder daran erinnern, dass Ihre Spitzenkandidatin und Noch-Justizministerin die Entscheidung im Rat mit zu verantworten hat. Packen Sie sich schön an die eigene Nase. Das können Sie uns nicht weismachen.
({9})
Sie können noch so viele Mitarbeiter aus Ihrer Parteizentrale in das Justizministerium locken und ihnen lebenslange Verbeamtungen verschaffen, das hilft Ihnen nicht weiter. Sie hätten jemanden mit Digitalkompetenz gebraucht.
({10})
Liebe Union, ich werfe Ihnen ja oft vor, dass Sie in Fragen der Digitalisierung komplett untätig bleiben; aber wenn ich mir Ihren Parteifreund und Europaabgeordneten Axel Voss angucke, dann wünsche ich mir, Sie bleiben untätig. Das sage ich Ihnen ganz ehrlich.
({11})
Es bewahrheitet sich ein sehr einfacher Satz: Es ist besser, keine Richtlinie zu verabschieden als eine solch schlechte.
({12})
Das gilt auch inhaltlich. Ihr Generalsekretär, Paul Ziemiak, hat vorgeschlagen, das alles in der nationalen Gesetzgebung zu entschärfen etc. Dazu muss man deutlich sagen: Artikel 13 – jetzt neu Artikel 17 – sieht eben nicht vor, dass Lizenzvereinbarungen gesetzlich vorgeschrieben werden,
({13})
sondern sie müssen frei zwischen den Parteien geschlossen werden. Das wollen Sie jetzt anders darstellen. In Brüssel verzapfen Sie den Mist und erwecken jetzt falsche Erwartungen auf nationaler Ebene. Auch das lassen wir Ihnen nicht durchgehen; denn das wird europarechtlich nicht standhalten.
({14})
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Sie hätten zukunftsweisende Lösungen einbauen können. Man hätte über Blockchainfragen auch im Bereich des Urheberrechts sprechen können.
({15})
All das haben Sie nicht getan.
({16})
Stattdessen gehen Sie jetzt wie mit dem Rasenmäher über die Vielfalt des Internets und mähen alles weg. Ob ein ungerechtfertigter Verstoß gegen urheberrechtliche Bestimmungen vorliegt, eine Parodie oder anderes, das wird bald nicht mehr einwandfrei unterschieden werden. Dabei wären sogar Parodien, Memes oder auch Remixe von urheberrechtlicher Seite aus durchaus legitimiert. Das machen Sie alles kaputt.
Ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Sie öffnen die Büchse der Pandora. Im Grunde ganz nach den Vorstellungen von George Orwell schaffen Sie hier mit Uploadfiltern die potenzielle Gefahr, dass diese irgendwann zu Wahrheitsfiltern werden. Das werden wir garantiert nicht durchlassen.
({17})
Zum Schluss möchte ich noch sagen: Meine sehr geehrten Damen und Herren, werden Sie Ihrer staatspolitischen Verantwortung wirklich gerecht!
Herr Abgeordneter.
Stimmen Sie im Europäischen Rat noch gegen die Richtlinie! Verhindern Sie Uploadfilter und diese unsägliche Richtlinie!
Vielen Dank.
({0})
Die nächste Rednerin: die Kollegin Tabea Rößner, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wissen Sie, woran mich diese ganze Debatte und das Agieren von Union und SPD erinnern? An Irrlichter, die mal hier aufleuchten und mal da, die jeden, der sie sieht, irgendwie komplett verwirren und ganz sicher nicht den gefahrlosen Weg aus dem Moor weisen.
Justizministerin Barley stimmt an einem Tag für Artikel 13 der EU-Urheberrechtsrichtlinie und erklärt am anderen Tag, dass Uploadfilter keine Lösung seien. Andere Mitglieder der Koalition widersprechen sich munter gegenseitig: Die einen befürchten den Einsatz der Uploadfilter und pochen auf den Koalitionsvertrag; die anderen behaupten, diese Filter würden gar nicht kommen, weil sie nicht im Gesetzestext erwähnt würden.
Komplett irre finde ich aber den Vorschlag, bei der nationalen Umsetzung verhindern zu wollen, dass Uploadfilter kommen. Genau das widerspricht dem europäischen Gedanken.
({0})
Wir wollen doch einen einheitlichen europäischen Binnenmarkt und nicht, dass jeder Mitgliedstaat sein eigenes Süppchen kocht.
({1})
Mit diesem Verhalten konterkarieren Sie nicht nur die Europäische Union, sondern Sie zerstören damit auch das Vertrauen in Politik; denn an Irrlichtern kann und will sich niemand orientieren. Das ist auch der Grund, warum so viele junge Menschen so wütend auf Sie sind.
({2})
Einige Plattformen schätzen zurzeit ab, was dann in zwei Jahren auf sie zukommt. So hat der Videostreamingdienst Twitch diese Woche angekündigt, dass er sich wegen der Vorgaben in Artikel 17 – früher Artikel 13 – der EU-Urheberrechtsrichtlinie bereits jetzt um die Implementierung von Uploadfiltern kümmert. Falls Ihnen diese Plattform nichts sagt: Da sind viele junge Leute unterwegs.
Was auch immer Sie von der Koalition beteuern: Diese Richtlinie wird vor allem kleine Plattformen in sehr konkrete Probleme stürzen und erheblichen Einfluss darauf haben, was Nutzerinnen und Nutzer hochladen oder miteinander teilen können. Und das ist eben mehr als eine Lappalie. Das greift in die Kommunikation und in die Meinungsfreiheit ein.
({3})
In der ganzen Debatte über die Reform, aber auch im Antrag der Linken kommt mir zu kurz, worum es eigentlich zentral geht, nämlich um die faire Vergütung der Urheberinnen und Urheber in der digitalen Welt.
({4})
Deren Situation zu verbessern und einen fairen Ausgleich der Interessen zu gewährleisten, ist auch uns ein Herzensanliegen;
({5})
aber leider habe ich wenig Zuversicht, dass durch den vorliegenden Entwurf, der ja auch viele gute Regelungen enthält, auch nur ein Urheber besser vergütet wird.
({6})
Es gab ja neulich ein Berichterstattergespräch mit Axel Voss. Eine Aussage von ihm hat mich wirklich ziemlich erstaunt. Er gab zu, dass die Urheberrechtsreform dazu diene, etwas zu regulieren, was man eigentlich in einem anderen Rahmen hätte regeln müssen, nämlich die Marktmacht der großen Internetkonzerne.
({7})
Da kann ich nur sagen: Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Wir brauchen eine sinnvolle Regulierung, um die Markt- und Meinungsmacht der Internetgiganten zu brechen. Und das ist schon seit Jahren überfällig.
({8})
Also sollten wir genau da ansetzen und nicht die falschen Instrumente – wie das Leistungsschutzrecht –, die sich schon in Deutschland nicht bewährt haben, auch noch auf die europäische Ebene hieven – zum Schaden der kleinen Plattformen, der Urheberinnen und Urheber sowie der Nutzerinnen und Nutzer.
({9})
Um diesen Schaden abzuwenden, ist auch für uns Grüne die Ablehnung im Rat der einzig verbleibende Weg aus der Misere; denn wenn die Bundesregierung jetzt im Rat der Reform zustimmt und die heimliche Hoffnung im Hinterkopf hat, dass man das Ganze bei der Umsetzung in deutsches Recht ja vielleicht noch irgendwie hinbiegen könnte, ist das zutiefst uneuropäisch,
({10})
ganz abgesehen davon, dass der Spielraum eben gar nicht so groß sein dürfte, wie gedacht.
Wir brauchen eine europäische Lösung. Das neue Europaparlament kann nach der Wahl direkt loslegen und für einen gerechten Ausgleich zwischen Kreativen, Plattformen und Nutzern sorgen. Sie haben noch die Möglichkeit, die Reißleine zu ziehen. Zeigen Sie Haltung, und setzen Sie Ihren Koalitionsvertrag um! Wir lassen uns bei dieser Entscheidung gerne von Ihnen überraschen. Das Thema ist einfach zu wichtig, um dabei herumzuirrlichtern.
Vielen Dank.
({11})
Der nächste Redner ist der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Danke. – Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wird Sie nicht überraschen: Die Anträge, die vorliegen, enttäuschen mich, weil sie so einseitig sind.
({0})
Jetzt habe ich zumindest von Ihnen von der FDP gedacht, dass Sie eine Partei des Rechtsstaats sind.
({1})
Doch wenn ich Ihren Antrag lese, fühle ich mich bemüßigt, Sie darauf hinzuweisen, dass in Deutschland Eigentum – Sacheigentum, meine Damen, meine Herren, aber auch geistiges Eigentum – grundgesetzlich geschützt ist.
({2})
Ich verstehe auch nicht, dass Sie heute einen Antrag vorlegen und sagen: „Ja, es ist doch ganz einfach; wir stimmen jetzt im Rat nicht zu“ und Sie keinerlei konkrete, belastbare Vorschläge machen, wie man dann geistiges Eigentum im Internet tatsächlich effektiv schützen kann. Stattdessen suggerieren Sie in den Anträgen – diesen Eindruck erwecken Sie auch draußen bei denjenigen, die demonstrieren –: Hier gibt es jetzt noch eine letzte Hürde. Wir verhindern die Abstimmung im Ministerrat.
({3})
Ich sage Ihnen, dass Sie auch dort den Menschen Sand in die Augen streuen;
({4})
denn in der Konstellation, die vorliegt – das müssten Juristen wissen –, ist die Zustimmung im Ministerrat eigentlich nur noch reine Formsache.
({5})
Wir haben nämlich ein Trilogverfahren, an dem der Ministerrat schon beteiligt war und in dem Deutschland, konkret: Katarina Barley, zugestimmt hat. Wir haben die Zustimmung des EU-Parlaments und die Zustimmung im Ausschuss der Ständigen Vertreter. Da spricht auch die Bundeszentrale für politische Bildung
({6})
von einer – ich zitiere – „Formsache“, die diese Zustimmung darstellt.
({7})
Letztendlich ist es so wie bei uns die dritte Lesung eines Gesetzes. Trotzdem erwecken Sie bei den Menschen den Eindruck: Heute könnte noch etwas gehen, und Sie kämpften für sie.
({8})
Dann gehen wir mal auf die Straße und schauen uns die Demonstrationen an. Sie laden zu Demonstrationen ein, die Aufrufen wie „Save your Internet“ folgen. Sie suggerieren – vorhin ist es wieder geschehen –: Wenn diese Urheberrechtsreform kommt – – Herr Präsident, ich glaube, da drängt es einen Kollegen zu einer Zwischenfrage.
Wenn Sie gestatten, dann würde der Herr Buschmann gerne eine Frage stellen.
Mit Blick auf meine Redezeit mit ganz großem Vergnügen.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben sehr umfangreich zum Thema „Sand in die Augen streuen“
({0})
und zu verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern wie dem Eigentum ausgeführt.
Ich wollte Sie fragen: Was für eine Form von Missachtung gegenüber dem verfassungsrechtlich geschützten Gut der Vertragsfreiheit und was für eine Form von Sand-in-die-Augen-Streuen ist es eigentlich, wenn eine Partei sich in einem Koalitionsvertrag bindet – und es ist die ganze Partei, die sich bindet – und sagt, dass Uploadfilter unverhältnismäßig sind, und dann sehenden Auges diesen Vertrag durch den Kakao zieht, der Öffentlichkeit offenbar Sand in die Augen gestreut haben muss und diese grundgesetzlich geschützte Vertragsfreiheit offenbar missachtet, indem alle Angehörigen dieser Partei im Europäischen Parlament die im Koalitionsvertrag getroffene Vereinbarung mit Füßen treten und dagegenstimmen? Das hätte ich gerne mal von Ihnen erläutert.
({1})
Danke, Herr Kollege, für Ihre Frage. – Auch mich rührt es, dass Sie sich so ernsthaft Sorgen um die Einhaltung des Koalitionsvertrages machen.
({0})
Aber das Entscheidende ist – auch das sagen Sie den Menschen nicht –: Wir reden über eine Richtlinie. Das heißt, wir bekommen jetzt eine Vorgabe aus Brüssel, und dann geht es darum, das in nationales Recht umzusetzen. Im Gegensatz zu Ihnen hat bei uns die Arbeit ja schon angefangen.
({1})
Es hat ja schon in den letzten Wochen Überlegungen und Vorschläge gegeben,
({2})
wie wir ohne Uploadfilter tatsächlich zu einem Ergebnis kommen. Und das unterscheidet uns von Ihnen.
({3})
Ich war bei dem Punkt, dass immer bemüht wird: Das ist das Ende des freien Internets. – Ich will Ihnen sagen: Wenn Sie ehrlich sind, dann müssen wir heute doch alle eingestehen, dass rein tatsächlich das Internet heute schon nicht mehr frei ist; denn es wird beherrscht – und zwar auch im Bereich von geistigen Erzeugnissen, im Bereich von geistigem Eigentum – von Internetriesen wie Google, Facebook, YouTube.
({4})
Die entscheiden, wer wann was wo wie lange sehen darf, und zwar aus wirtschaftlichen Interessen. Und da sind auch plötzlich keine technischen Schwierigkeiten mehr vorhanden. Und mit was, liebe Kolleginnen und Kollegen, entscheiden die das? Mit – jetzt kommt das böse Wort – Filtern.
({5})
– Herr Präsident, eine weitere Frage.
Wenn Sie noch eine zulassen, bitte schön.
Ich schätze den Kollegen Aggelidis; deswegen mit großem Vergnügen.
Vielen Dank, Herr Hoffmann. – Ich habe Ihnen aufmerksam zugehört; das unterscheidet uns von so manchem hier. Jetzt möchte ich Sie fragen: Haben Sie eben allen Ernstes gesagt, dass Sie einer Richtlinie zugestimmt haben, obwohl Sie im Moment noch gar keine Ahnung haben – denn jetzt beginnt ja bei Ihnen erst die Arbeit –, wie Sie diese Richtlinie ohne – –
({0})
– Bitte? Moment, lassen Sie mich bitte aussprechen!
Sie haben eben sehr deutlich gesagt, dass bei Ihnen die Arbeit daran schon begonnen hat, wie Sie diese Richtlinie ohne Uploadfilter – das habe ich vorher schon verstanden, aber Sie nicht – umgesetzt bekommen. Das bedeutet, Sie haben dieser Richtlinie zugestimmt, obwohl Sie noch gar keine Lösung dafür haben, wie Sie diese Richtlinie ohne Uploadfilter umgesetzt bekommen.
({1})
Sonst bräuchten Sie ja gar nicht erst damit zu beginnen, dann hätten Sie die Lösung ja schon.
Herr Kollege, wir können das Spiel jetzt ewig so treiben, dass Sie mir Dinge in den Mund legen, die ich so definitiv nicht gesagt habe.
Es ist vielmehr ein ganz normaler Vorgang, dass die Richtlinie in Brüssel in Form gegossen wird. Daran haben wir uns beteiligt, und da haben wir sehr wohl eingebracht, was am Schluss technisch machbar ist und was nicht. Deswegen sehe ich überhaupt keine Schwierigkeit, diese Richtlinie so ins nationale Recht umzusetzen, dass auch Sie sich um die Umsetzung des Koalitionsvertrages keine Sorgen machen müssen.
Ich würde aber dann gerne an anderer Stelle auch auf Sie zukommen und Ihre Unterstützung für den Koalitionsvertrag einholen, wenn ich so frei sein darf.
({0})
So, Kollege Hoffmann, die letzte Frage würde gern Frau Dr. Sitte stellen. Ist das okay?
Ich würde jetzt vorschlagen, Herr Präsident, –
Gut.
– angesichts des langen Abends wäre das doch im Interesse aller – –
Jawohl, so machen wir es.
({0})
Nein, ich habe auch kein Problem – – Dann machen wir die Frage noch, bevor ich mir jetzt nachsagen lasse, ich hätte Angst.
({0})
Wollen Sie, Frau Sitte, jetzt zusagen, dass Sie den Koalitionsvertrag ab nun mit uns umsetzen?
Nein, nein, den habe ich ja vorhin schon zitiert; das war ja eingängig.
Ich habe die Bundesregierung gefragt, nachdem die CDU, sprich: Herr Ziemiak, überall herumgelaufen ist, Sie hätten Ideen, wie man das alles ohne Uploadfilter machen kann. Wissen Sie, was die Bundesregierung mir geantwortet hat? – Die Bundesregierung wird im Rahmen des anstehenden nationalen Gesetzgebungsverfahrens zur Umsetzung der Richtlinie alle eventuell bestehenden Umsetzungsspielräume sorgfältig prüfen und gegebenenfalls nutzen.
({0})
Das ist null Plan.
({1})
Frau Kollegin, Entschuldigung, Sie liefern die Antwort in Ihrem Zitat:
({0})
weil die Bundesregierung nicht das Parlament ist.
({1})
In Ihrem Kopf herrscht offensichtlich die Vorstellung, dass die Bundesregierung – wer immer das dann sein mag – in einem dunklen Kämmerlein entscheidet, was wir machen.
({2})
Dann muss ich uns mal alle fragen: Warum sitzen wir hier dann eigentlich zusammen und reden uns die Köpfe heiß?
({3})
Wir sollten also unterscheiden, was das Parlament als Aufgabe hat und was die Bundesregierung als Aufgabe hat; das stand ja sehr schön in der Antwort, die Sie bekommen haben, Frau Kollegin.
({4})
Frau Kollegin, die Frage ist jetzt beantwortet.
Ich will noch einmal zu dem Punkt zurück, dass heute schon in diesem Bereich das Netz von den Großen beherrscht wird – mit Filtern. Schauen Sie sich YouTube an: Wir haben das Phänomen, dass über 40 Prozent aller Videostreams im Netz bei YouTube stattfinden. YouTube selbst leistet aber nur 2 bis 3 Prozent der urheberrechtlichen Vergütungen. Wie kann man da, meine Damen, meine Herren, noch von der Freiheit im Netz reden?
({0})
Unterhalten Sie sich mal mit einem Musiker, mit einem Fotografen, mit einem Redakteur, mit irgendeinem Urheber, der bei YouTube oder anderen Großen schon einmal angeklopft und auf die Einhaltung seines Urheberrechts gepocht hat! Wissen Sie, was der als Antwort bekommt? – Wir sind nur die Plattform, dafür sind die User verantwortlich. – Genau das, liebe Kolleginnen und Kollegen, genau das wollen wir ändern.
({1})
Wir wollen, dass diejenigen, die mit dem geistigen Eigentum anderer Geld verdienen, auch sicherstellen, dass urheberrechtliche Vorschriften eingehalten werden.
({2})
Ich komme zum Ende. Wenn Sie Freiheit im Netz wollen, dann müssen Sie auch Sicherheit im Netz gewährleisten.
({3})
Wenn Sie Freiheit für Künstler, für Urheber, für Redakteure im Netz wollen, dann müssen Sie auch gewährleisten, dass deren geistiges Eigentum sicher ist.
({4})
Das wird in Ihren Anträgen vernachlässigt; deswegen lehnen wir sie selbstverständlich ab.
({5})
Der nächste Redner: der Kollege Dr. Jens Zimmermann, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viele, die sich für den Schutz des Internets, gegen Uploadfilter engagiert haben, haben mich in den letzten Tagen angesprochen und gesagt: Wir haben so viel gemacht. – Die Unterschriften sind genannt worden, die Demos sind genannt worden. Sie haben das Gefühl, all das hätte nichts gebracht. Ich kann nur eines sagen: Wer sich diese Debatte hier im Deutschen Bundestag anschaut, der muss zumindest einmal feststellen: Es hat sehr, sehr viel gebracht. Heute hatte ich das Gefühl: Alle sind ein bisschen erschöpft von drei Sitzungswochen, es war relativ ruhig hier im Parlament. Aber dieses Thema bringt den Deutschen Bundestag hier heute Abend richtig zur Wallung.
({0})
Das ist ein Erfolg; nehmen Sie das an dieser Stelle einfach mal zur Kenntnis, Herr Kollege!
({1})
– Natürlich ist es ein Erfolg, weil das Thema normalerweise in einer Nische behandelt würde, heute Abend vielleicht um 0 Uhr behandelt würde. Tun Sie doch nicht so, als wären dann bei Ihnen die Reihen bis nach hinten voll; das ist doch nicht die Realität.
({2})
Es ist ein Erfolg – und ich lobe ausdrücklich die Menschen, die sich hier politisch engagiert haben –, dass es im Europäischen Parlament so große Abstimmungen gab. Da will ich die FDP einmal eines fragen. Sie haben drei Abgeordnete im Europäischen Parlament, und Sie haben es nicht einmal hinbekommen, dass drei Abgeordnete gegen Uploadfilter stimmen.
({3})
Warum machen Sie denn da so eine Welle hier? Das ist doch unglaubwürdig.
({4})
Wenn wir uns anschauen, wie die Diskussion hier gelaufen ist, dann müssen wir feststellen: Das ist der Diskussion, die vor allem von den Aktivisten sehr fundiert geführt wurde, teilweise nicht würdig.
Der Koalitionsvertrag ist mehrfach angesprochen worden. Der Koalitionsvertrag hat zwei Aspekte: Der eine Aspekt ist, dass wir Uploadfilter nach wie vor für das falsche Instrument halten.
({5})
Aber der zweite Aspekt ist, dass wir den Urhebern, den Kreativen zu ihrem Recht verhelfen wollen.
({6})
Mit Ihrem Antrag lassen Sie alles scheitern, die Urheberinnen und Urheber fallen bei Ihnen hinten runter. Das gehört zur Wahrheit dazu.
({7})
Es ist ein kompliziertes Thema, weil all unsere Parteienfamilien
({8})
– nein, die FDP hatte, glaube ich, genug Redezeit – im Europäischen Parlament unterschiedlich abgestimmt haben. Die Sozialisten und die Linken in Frankreich haben auch eine andere Meinung zu dem Thema als ihr.
({9})
Ja, das gehört eben dazu. Und wenn wir über ein lebendiges Europa diskutieren, dann müssen wir auch mal zur Kenntnis nehmen, dass es zwischen Deutschland und Frankreich bei diesem Thema auch unterschiedliche Einschätzungen gibt.
({10})
Das ist kein Nachteil. Es ist in diesem Fall etwas, was uns hier nicht gefällt. Aber das muss man, finde ich, auch einmal zur Kenntnis nehmen.
Was ich schon auch noch sagen will als Sprecher der hessischen Abgeordneten: Heute gab es zum Beispiel auch im Hessischen Landtag mehrere Abstimmungen zu den Themen. Auch das zeigt erneut, dass es durch alle Parteien hindurchgeht. Die Grünen im Hessischen Landtag haben heute eben nicht die Bundesregierung aufgefordert, dagegenzustimmen,
({11})
sondern da gibt es auch einen Kompromiss, der genau das unterstreicht,
({12})
was wir hier auch besprechen: dass wir uns was anderes gewünscht hätten, aber dass man die Richtlinie daran nicht scheitern lassen sollte.
Ganz normal ist doch – da muss man schon sagen, meine Damen und Herren: der Klamauk, der hier teilweise aufgeführt wird, sorgt nicht dafür, dass man mehr Respekt vor dem Parlament hat –, dass bei einer Richtlinie die Umsetzung nach deren Verabschiedung beginnt. Das müssten auch die Kolleginnen und Kollegen der FDP wissen. In diesem Sinne sollte man an dieser Stelle vielleicht ein bisschen verbal abrüsten und die eigenen Europaabgeordneten unter Kontrolle haben.
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Vielleicht haben wir nächste Woche dann noch eine Aktuelle Stunde, in der wir das weiter erläutern können.
Danke schön.
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Der Kollege Uwe Kamann ist der nächste Redner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher! Wollen wir in der Sache die Wallung mal wieder ein bisschen dämpfen: Eines der Ziele der geplanten Urheberrechtsreform ist der Schutz des geistigen Eigentums von Kreativen auch und besonders im Internet. Und es ist höchste Zeit; denn das derzeit geltende Urheberrechtschutzgesetz ist bereits 20 Jahre alt. Damals gab es noch kein Twitter, keine Filmchen auf YouTube und keine Fotos auf Instagram. Rechte von Kreativen, Rechte von Verlagen und Unternehmen der Film- und Musikindustrie können ohne eine Reform in diesem massiv veränderten medialen Umfeld nicht wahrgenommen werden. Ich denke, dass wir einen Konsens darüber haben, dass das geistige Eigentum von Rechteinhabern schutzbedürftig ist.
Ich habe lange mit mir gerungen, was schwerer wiegt: das Urheberrecht oder die Meinungsfreiheit im Netz. Die konträr geführte Debatte hier bestätigt das ja. Trotz aller Bedenken sehe ich derzeit keine andere Möglichkeit, als der Urheberrechtsreform zuzustimmen.
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Uploadfilter sind heute technisch nicht in der Lage, Inhalte sauber zu erkennen und zu bewerten, und selbstverständlich wird es auch Fehlentwicklungen geben. Plattformanbieter werden aus Sorge um Haftungsansprüche Overblocking betreiben, um Strafzahlungen zu vermeiden. Hier können wir sehr gut erkennen, wie komplex es ist, Vorgänge aus der analogen Welt in die digitale Welt zu transformieren, besonders aus rechtlicher Sicht. Datenmassen sind halt in Echtzeit nicht von Menschen kontrollierbar. Dazu braucht es Hightech-Tools.
Derzeit gibt es aber schlicht keine Alternative, die beide Interessen – die Meinungsfreiheit im Internet auf der einen Seite und den Schutz des geistigen Eigentums auf der anderen Seite – gleichberechtigt berücksichtigen könnte. Ja, der Einsatz von Uploadfiltern kann zu einer Zensur führen. Aber genau deshalb müssen wir jetzt vorrangig daran arbeiten, kluge Prozesse zu entwickeln, die es ermöglichen, schnell und einfach zu Unrecht gelöschte Inhalte wieder zu veröffentlichen. Ich glaube, das sollten die nächsten Schritte sein.
Vielen Dank.
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Tankred Schipanski, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen an dieser Stelle nicht zum ersten Mal über die Urheberrechtsrichtlinie. Die unterschiedlichen Sichtweisen sind bekannt, die Argumente sind ausgetauscht, und der Gesetzgebungsprozess auf europäischer Ebene ist mit Mehrheitsentscheidung faktisch abgeschlossen. Somit steht die Umsetzung einer Richtlinie in nationales Recht an. Und am Ende jedes demokratischen Prozesses muss man sich um eine sachliche Lösung bemühen, und das haben wir als Union getan, anders als die Antragsteller von FDP und Linken.
Ich habe in der Aktuellen Stunde am 13. März dieses Jahres hier an dieser Stelle einen klugen Umsetzungsweg für die Richtlinie angekündigt, und zwar ohne die befürchteten Uploadfilter. Und wir halten Wort. Am 15. März hat der CDU-Generalsekretär, Paul Ziemiak, ein entsprechendes Umsetzungsmodell in die Diskussion eingebracht,
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ganz im Sinne des Koalitionsvertrages und somit auch im Sinne des Koalitionspartners. Bereits am 18. März habe ich dieses Modell in Brüssel vorgestellt und mit Vertretern der Kommission und des Parlaments diskutiert. Mit dem Vorschlag von CDU und CSU zeigen wir einen Weg auf, der die Umsetzung dieser Richtlinie ohne Uploadfilter vorsieht und dafür sorgt, dass Urheber vergütet werden, private Nutzer Rechtssicherheit haben, Plattformen in die Pflicht genommen werden und die Meinungsfreiheit nicht gefährdet wird.
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Kern unseres Modells ist, dass Inhalte nach dem Prinzip „Bezahlen statt blockieren“ hochgeladen werden können, also Lizenzen statt Uploadfilter. Konkret sieht das so aus: Unterhalb einer noch festzulegenden zeitlichen Grenze sollen Uploads von Lizenzgebühren frei sein bzw. mit einer Pauschallizenz abgegolten werden können. Ein Upload ist also immer möglich. Oberhalb dieser Bagatellgrenze müssten die Plattformen für urheberrechtlich geschützte Werke Lizenzen erwerben, entweder im Wege von Einzellizenzen oder im Wege einer zwingenden Pauschallizenz.
Damit Werke zweifelsfrei identifiziert und dem Urheber zugeordnet werden können, sollen sie durch einen sogenannten digitalen Fingerprint gekennzeichnet werden. Dieser Fingerabdruck, diese digitale Signatur, wird bei den Plattformbetreibern hinterlegt, kann somit abgeglichen werden und ist Voraussetzung, dass Urheber für ihre Werke von den Plattformen bezahlt werden können.
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Ich denke, private Nutzer erhalten durch diese Regelung mehr Rechtssicherheit. Sie sind von einer Haftung für Urheberrechtsverletzungen bei Uploads befreit, und die Plattformbetreiber müssen mithilfe des digitalen Fingerabdrucks prüfen, ob eine Lizenz vorliegt – und gerade nicht die Nutzer. Auf der Homepage meiner Fraktion, aber auch auf den Seiten von CDU und CSU können Sie sich dieses Modell gerne ansehen und sich konstruktiv an dieser Debatte beteiligen.
Pauschal zu behaupten, dass dieser Vorschlag „rechtlich fragwürdig“ ist, wie die Linken behaupten, oder allenfalls „die zweitbeste Lösung“, wie die FDP in ihrem Antrag schreibt, ist unseriös. Das Modell schöpft den Umsetzungsspielraum, den uns diese Richtlinie gibt, aus und ist unseres Erachtens richtlinienkonform. Der Deutsche Bundestag muss diese Richtlinie umsetzen. Wir als Gesetzgeber haben eine Einschätzungsprärogative. Und ob nationale Regelungen gegen EU-Recht verstoßen oder nicht, entscheidet der Europäische Gerichtshof.
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Das Modell, meine Damen und Herren, ist auch kein Sonderweg, wie es im FDP-Antrag in der sich zu eigen gemachten Formulierung des Haushaltskommissars Günther Oettinger heißt, sondern es stellt ein „Role Model“ für die Umsetzung der Richtlinie in der gesamten Europäischen Union dar.
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Glaubt man den Plattformen, wollen sie die sogenannten Uploadfilter auch nicht. Wir zeigen dazu den richtigen Weg auf. Bringen Sie sich konstruktiv in die Debatte ein, und unterstützen Sie unseren Umsetzungsvorschlag!
Vielen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ich komme gerade aus Münster, und da traf Stadt auf Land: 6 000 Bauern, die im städtischen Umfeld für ihre Zukunftschancen auf dem Land demonstrierten. Einige Städter schauten verdutzt auf die Demonstrationsschilder und irritiert-verwundert auf die Traktoren. Man kennt sich zu wenig; aber man hat ganz genaue Vorstellungen voneinander.
Ich bin den Koalitionsfraktionen sehr dankbar für den wirklich sehr guten Antrag, den sie gemeinsam vorgelegt haben; denn sie werfen einen Blick auf die ländliche Bevölkerung und die ländlichen Räume. Ein Bekenntnis zu ihnen ist mehr, als einmal im Jahr Urlaub auf dem Bauernhof zu machen. Die ländlichen Räume sind Kraftzentren unseres Landes. Das heißt, dass wir für sie aktive Strukturpolitik ohne Gießkannenpolitik machen müssen; wir müssen sie ernst nehmen. Das, was in der Stadt der Wohnraummangel ist, ist auf dem Land der Leerstand. Deshalb brauchen wir passgenaue Antworten. Ich bin dankbar, dass CDU, CSU und SPD sich dieses Problems so konkret annehmen.
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Sehr geehrte Damen und Herren, es sind eigenständige Räume mit Wirtschaftskraft, die am Ende die überhitzten Städte und Ballungszentren entlasten können. Was wir brauchen, um das zu erreichen, ist ein Blick auf die gleichwertigen Lebensverhältnisse. Das Problem in den ländlichen Räumen sind nicht die zu vollen Klassen, es sind nicht die zu vollen Busse, es ist auch nicht die Frage, ob man eine Wohnung findet, sondern es ist genau das Gegenteil: Ganz häufig ist es so, dass die Älteren zurückbleiben, dass Klassen und Schulen geschlossen werden, weil zu wenige Schüler da sind und der letzte Bus auch noch eingestellt wird.
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– Frau Kollegin, das Problem ist, dass die Grünen mit den ländlichen Räumen so wenig zu tun haben.
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Für Sie als Grüne sind die ländlichen Räume doch nur eins: Kompensationsräume für die Wünsche von Großstädtern.
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In den ländlichen Räumen soll am Ende eine nostalgische Landwirtschaft betrieben werden, sollen die Windräder für die erneuerbaren Energien stehen, die Ihre städtische Klientel sich wünscht.
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Wir sagen: Gleichwertige Lebensverhältnisse heißt am Ende, auf gleicher Augenhöhe zu sein und für Digitalisierung einzustehen. Ich bin dankbar, dass diese Bundesregierung so viel für die Kommunen und die Entwicklung in den ländlichen Räumen macht. Davon kann Frau Künast heute noch träumen; denn in ihrer Zeit hat sie nie daran gedacht.
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Frau Ministerin, aus der Fraktion der Grünen gibt es den Wunsch nach einer Frage. Gestatten Sie die Frage?
Sehr gerne.
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– Wegen des Zurufes weiß ich jetzt nicht, ob das eine Frage oder ein Statement wird. Ich stehe gerne für Fragen bereit.
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– Was ist denn los mit Ihnen?
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– Mein Gott, also bitte ein bisschen Kultur in der Auseinandersetzung. Ich würde Ihnen, Frau Stumpp, gern zuhören.
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Frau Ministerin, wenn Sie sagen, wir Grüne hätten nichts mit dem Land zu tun, dann würde mich schon interessieren, ob Sie wissen, wo diese Kollegin herkommt, wo dieser Kollege herkommt und wo ich herkomme.
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Sie haben vorhin gesagt, man glaube, einander zu kennen, man wisse aber nichts voneinander: Sie haben gerade das beste Beispiel dafür geliefert. Ich komme aus dem Wahlkreis Aalen-Heidenheim.
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Sehr geehrte Frau Kollegin, also ich muss Ihnen mal sagen: Es gibt, was ländliche Räume anbelangt, einen ganz klaren Unterschied zwischen Haltung und Herkunft, und das mache ich Ihnen hier gerade klar.
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Wir als Bundesregierung haben das Bundesprogramm Ländliche Entwicklung aufgelegt. Wir geben da so viel rein, um konkret und nicht mit der Gießkanne zu entwickeln. Ehrenamt braucht Hauptamt. Wir sind dabei, die Digitalisierung flächendeckend voranzubringen – und nicht nur an jede Milchkanne; denn die Milchkanne von gestern ist heute der Melkroboter.
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Im ländlichen Raum geht die Post ab. Deshalb sage ich: Die Zukunft liegt in der Landwirtschaft. Und wenn die Landwirtschaft stirbt, dann wird aus der Landschaft nur noch Gegend, und wenn wir nur noch Gegend haben – das kann ich Ihnen sagen –, dann wird das Leben in Deutschland nur noch zwei Geschwindigkeiten kennen. Wir als Große Koalition überwinden aber diese zwei Geschwindigkeiten in unserem Land.
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Insofern ist dieser Antrag Ausdruck einer ganz klaren Priorisierung. Wir haben die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ eingerichtet. Ich halte einen Gesetzescheck für gleichwertige Lebensverhältnisse für angebracht. Ich halte es für richtig, dass wir den Landatlas, den wir entwickelt haben, zu einem Deutschlandatlas weiterentwickeln, um eines zu erreichen: dass wir in den ländlichen Regionen Mobilität neu denken, eben nicht in den alten Strukturen, und dass wir in den ländlichen Räumen Arbeiten neu denken. Wir müssen sehen, dass von der Landwirtschaft und der Ernährungswirtschaft viele Arbeitsplätze in den ländlichen Räumen im vor- und nachgelagerten Bereich abhängen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 90 Prozent der Fläche in Deutschland sind ländlicher Raum. Über die Hälfte unserer Bevölkerung hat ihre Heimat in den ländlichen Räumen. Wir haben in jüngster Zeit zu viel über die Probleme in den Städten gesprochen. Ich bin mir sicher: Wir können die Probleme in den Städten „enthitzen“, wenn wir die ländlichen Räume ernster nehmen.
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Deshalb haben wir zum Beispiel den Sonderrahmenplan mit 150 Millionen Euro aufgelegt, mit digitalen Experimentierfeldern in den ländlichen Räumen, mit Land.Digital, womit wir zeigen, wie wir die Bevölkerung, gerade die ältere Bevölkerung, vernetzen und zusammenhalten. Wir gehen neue Wege. Das ist die Antwort der Bundesregierung.
Wir nehmen für die Kommunen Geld in die Hand. Gerade dort, wo grüne Politiker an den Landesregierungen mitbeteiligt sind – ich kann es für Rheinland-Pfalz sagen –, kann man feststellen: Es wäre schön, wenn das Geld, das der Bund den Kommunen für die Entwicklung gibt, am Ende auch bei den Kommunen ankommt. Es darf nicht passieren, dass dort, wo die Grünen mit den klebrigen Händen beteiligt sind, die Gelder nicht ankommen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Peter Felser für die AfD.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Liebe Gäste! Und vor allem: Liebe Bauern draußen in dem ländlichen Raum, über den wir heute sprechen! Wir reden heute über ein zentrales Thema der Daseinsvorsorge. Der FPD ist grundsätzlich für diesen Antrag und diese Initiative zu danken. Das Thema hat schon heute massive Auswirkungen auf die Arbeitsplätze, auf die Konkurrenzfähigkeit, den Wohnungsmarkt, das Handwerk und alle Strukturen auf dem Land. Vor allem aber hat es ganz konkrete Auswirkungen auf die Landwirtschaft. Frau Ministerin, da fehlt noch einiges, was wir draußen auf dem Land brauchen, um wirklich mit der Digitalisierung voranzukommen.
Ihnen, liebe Kollegen von FDP, ist auch dort zuzustimmen, wo Sie eine Liberalisierung der Regeln fordern. Sie schreiben ganz hemdsärmelig und pragmatisch über die sogenannten Buddelvereine; die seien mit Augenmaß zu fördern. Ja, richtig! Sie schreiben auch: Ganz unbürokratisch müssen die Glasfaserkabel verlegt werden. – Ja, die Kabel müssen jetzt in den Boden kommen, wenn wir es mit der Digitalisierung in der Landwirtschaft ernst meinen.
Aber parallel zum Glasfaserkabelnetz geht es aktuell um die Versteigerung der wesentlichen 5G-Frequenzen. 98 Prozent der Haushalte sollen bis Ende 2022 von diesen Netzen erreicht werden. Klar ist doch – das schreiben Sie in Ihrem Antrag –, dass uns das bei den Landwirten in der Fläche nicht viel und vor allem nicht überall weiterhelfen wird.
Erlauben Sie mir einen kleinen Einschub: Wir wundern uns schon, dass in diesem Hause das Thema „Gesundheitsvorsorge bei 4G oder 5G“ keinerlei Rolle spielt. Uns muss doch klar sein, dass wir noch überhaupt keine Langzeitrisiken dieser Technologien abschätzen können. Wir sind mit diesen Funkstrahlen in einem riesigen Feldexperiment. Daher erwarten und fordern wir, dass die gesundheitlichen Risiken permanent und proaktiv durch wissenschaftliche Studien begleitet werden.
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Dazu steht in der gesamten Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung nur ein einziger Satz, und das ist einfach zu wenig, meine Damen und Herren.
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Aber heute reden wir über die Grundlagen von Smart Farming, und dazu steht in Ihrem Antrag auch einiges Richtiges. Schon seit 10 Jahren, 12 Jahren, 14 Jahren fahren unsere Traktoren GPS-gesteuert und halten die Spur. Sie schreiben auch über Precision Farming, was bedeutet, dass die Pflanzenschutzmittel präzise ausgebracht werden. Das haben wir alles schon, und auch die Sensorik in den Maschinen haben wir schon.
Aber folgende Fragen müssen uns doch leiten: Schaffen wir es mit diesem Smart Farming, auch die kleinen und mittleren Betriebe mitzunehmen? Schaffen wir es mit einer intelligenten Digitalisierung, endlich das Höfesterben in Deutschland zu stoppen? Und gelingt es uns, die Hoheit über die Daten zu behalten, oder werden auch in der Landwirtschaft, wie woanders auch, wenige große Konzerne die Gewinner der Digitalisierung sein?
Wenn wir in der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ über neuronale Netze sprechen, dann haben wir meistens die enormen Chancen im Gesundheitswesen vor Augen oder sehen eine dramatische Effizienzsteigerung in den Kommunen, wenn es denn einmal so weit ist, wenn intelligente Systeme riesige Datenmengen der Ämter zusammenführen.
Heute sollten wir aber die Landwirte nicht vergessen. Dieser enorme Aufwand, den wir jetzt betreiben, nämlich auf der einen Seite mit den Glasfasernetzen und auf der anderen Seite mit der G5-Technologie, macht für den ländlichen Raum doch nur dann Sinn, wenn wir diese Räume damit auch nachhaltig stärken. Es stellt sich schon die Frage, für wen wir eigentlich dieses Smart Farming, das Ihr Antrag enthält, machen.
Wir wissen doch, wo schon heute die Daten unserer landwirtschaftlichen Maschinen, unserer Landtechnik landen.
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Wann habe ich mit welcher Erntemaschine wie viel Getreide eingefahren? Wo landet das? Beim Landtechnikhersteller.
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Bei welchem Wetter habe ich meinen Acker gedüngt? Wann habe ich gegrubbert? Sämtliche Daten dieser smarten Maschinen landen überall, aber nicht beim Landwirt oder zumindest nicht strukturiert beim Landwirt.
Big Data im ländlichen Raum ist eben mehr als Smart Farming. Es ist zwar richtig, dass das in Ihrem Antrag steht, aber wir müssen jetzt weiterschauen. Die Zeit läuft uns schließlich davon. Big Data könnte doch die Chance sein, um Plattformen aufzubauen – Plattformen, die den Landwirten direkt für die Vermarktung ihrer Produkte zur Verfügung stehen; Plattformen, die keine lernenden Maschinen, sondern lernende Betriebe zusammenführen.
Die gute fachliche Praxis, ein Begriff, den jeder gut wirtschaftende Landwirt kennt, könnte eine KI für lernende Betriebe werden. All das gesammelte Wissen, das über Generationen auf einem Hof weitergegeben wird, all diese Erfahrungen könnten dort zusammengefasst werden. Dann hätte das Smart Farming, diese KI für die Landwirtschaft, auch für unsere Bauern eine Zukunft, und vielleicht wäre es der Anfang vom Ende unseres Höfesterbens in Deutschland und in den europäischen Nachbarländern.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Johann Saathoff.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ soll Ende des Jahres einen Bericht vorlegen und Vorschläge machen, wie die Förderstruktur umgestaltet werden soll. Ich glaube, Frau Ministerin, an dieser Stelle sagen zu können, dass das richtig ist; denn die bisherige Förderstruktur – das dürfen wir miteinander so feststellen – ist stark agrarlastig und megakompliziert. Vor allen Dingen ist sie aber im Moment zwischen den Ministerien unabgestimmt und hilft, weil sie so komisch konzipiert ist, nicht wirklich dem ländlichen Raum.
Ich würde mir in dem Kontext was wünschen und Ihnen das auch mit auf den Weg geben wollen, Frau Ministerin. Ich würde mir wünschen, dass wir die vielen tollen Ansätze, die im ländlichen Raum vereinzelt schon vorhanden sind, aufgreifen, dass wir die Förderstruktur so umstellen, dass wir von den Besten lernen, damit diejenigen, die sich noch nicht so gut helfen konnten, auch tatsächlich in die Lage versetzt werden, aus diesen Erfahrungen zu lernen und daraus das Beste für die ländlichen Räume zu machen. Davon hätten wir alle etwas.
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Was brauchen wir in den ländlichen Räumen eigentlich generell und unabhängig davon? Wir brauchen eine Förderung der Infrastruktur. Was bedeutet das? Ich meine natürlich Straßen, Wege, Plätze und den öffentlichen Personennahverkehr. Versuchen Sie einmal, von meinem Wohnort aus samstagnachmittags nach Berlin zu kommen. Dann erfahren Sie von Ihrer App, dass Ihr nächster Bus in 28 Stunden und 32 Minuten fährt. Das ist keine ermunternde Nachricht, die Sie da bekommen. Wir brauchen also Infrastrukturförderung.
Darüber hinaus müssen wir die Schiene, die Straßen und vor allen Dingen auch den Breitbandausbau fördern. Wenn wir wirklich in Precision Farming einsteigen wollen, brauchen wir sofort 5G-Netze im ländlichen Raum und nicht irgendwo anders. Darum müssen wir uns kümmern.
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Außerdem müssen wir uns um die Lebensbedingungen in den ländlichen Räumen kümmern. Das heißt, wir müssen uns beispielsweise mit der Gesundheitsversorgung beschäftigen. Es kann nicht angehen, dass sich immer weniger Ärzte in den ländlichen Räumen ansiedeln und die Menschen sich Sorgen machen müssen, ob sie morgen überhaupt noch einen Hausarzt haben. Es kann nicht angehen, dass es Menschen gibt, die denken, dass eine App auf dem iPad einen Arzt ersetzen könnte.
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Wir müssen uns also dafür einsetzen, dass die Menschen im ländlichen Raum gut versorgt werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich einen anderen Punkt aufgreifen. Wir haben in Deutschland nicht genug Hebammen, und insofern ist auch das ein Thema in den ländlichen Räumen: Auch schwangere Frauen müssen sich trauen können, im ländlichen Raum zu leben, und sich sicher sein, dass ihnen letzten Endes auch Hebammen zur Verfügung stehen.
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Wir wollen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Menschen in ländlichen Räumen leben wollen und die öffentliche Daseinsvorsorge alles Notwendige sicherstellt. Sie müssen dort aber nicht nur leben wollen, sondern sie müssen dort auch wirtschaften wollen. Deswegen müssen wir das Handwerk fördern. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen in ländlichen Räumen auch Arbeitsplätze vorfinden, dass wir nicht nur Milch produzieren, sondern Milch auch veredeln. Dies darf nicht nur in einer Molkerei zentral in Deutschland geschehen, sondern in ganz vielen kleinen Molkereien. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen in ländlichen Räumen Fleisch verarbeiten. Ich frage mich als Ostfriese manchmal, warum es eigentlich keine ostfriesische Butter als Leitmarke gibt. Ich bin mir ganz sicher, Sie alle würden diese sofort kaufen. Daran müssen wir arbeiten. Wie gesagt, wir müssen das Handwerk fördern und die Wertschöpfung ausbauen.
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Und wir brauchen eine ländliche Start-up-Initiative. Ich will nicht „Krummhörn statt Kreuzberg“ sagen, aber Krummhörn und Kreuzberg wären eine gute Lösung.
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Diese Start-up-Satellitenszene, die wir zum Beispiel in Japan erleben – dort merken die Menschen, dass man ein Start-up-Unternehmen supergut in ländlichen Räumen gründen kann, wo es eine gesunde Umwelt gibt und vernünftige Menschen leben –, müssen wir weiter voranbringen. Schließlich sagt man in Ostfriesland: Chancen entstahn dadör, dat wi de Saken in Fraag stellen, de wi doen. – Also: Die Sachen infrage stellen, die wir machen.
Im Übrigen möchte ich an dieser Stelle abschließend noch einmal sagen: Wenn wir den ländlichen Raum ertüchtigen, dann bedeutet das gleichzeitig, dass wir die Städte entlasten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der FDP die Abgeordnete Carina Konrad.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank, Herr Saathoff, für die Sprachvermittlung. Einen solchen Dialekt haben wir im Hunsrück nicht zu bieten, aber auch in meiner Heimat gibt es welche, die dringend eine Stärkung des ländlichen Raums brauchen. Ich meine die Hidden Champions: die Handwerker, die Winzer, die Landwirte, die danach schreien, dass wir die ländlichen Räume endlich so ernst nehmen, wie sie es eigentlich verdienen.
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Frau Ministerin, Sie haben eben das Wort „Kraftzentrum“ benutzt, und dieses Wort ist auch im Antrag der Koalition formuliert, in dem ländliche Räume als Kraftzentren benannt werden. Doch was erzählen Sie denn den Unternehmerinnen und Unternehmern, wenn sie in ihrer täglichen Praxis, in ihrer Realität mit steigenden Strompreisen, mit einer Gängelung durch die Bürokratie, durchs Arbeitszeitgesetz und durch viele andere Dinge konfrontiert werden? In der Praxis passiert nichts, in der Realität kommen diese Dinge nicht an.
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Deshalb fühlen sich die Leute doch veräppelt, wenn hier ein Antrag debattiert wird, der nur weiße Salbe über diese Probleme schmiert. Statt Wertschätzung ernten die Leute, die täglich aufstehen und mit ihrer Hände Arbeit den ländlichen Raum am Leben erhalten und stark machen, nur Misstrauen, und das kann nicht sein.
In dieser Bundesregierung ist bis heute nicht klar, wer wirklich für den ländlichen Raum in welcher Form zuständig ist. Wir haben Herrn Seehofer mit seinem Heimatministerium. Er hat sich damals versprochen und es fälschlicherweise „Heimatmuseum“ genannt, und genau so behandelt er dieses Politikressort seitdem.
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Frau Klöckner, Sie platzieren Heimat und den ländlichen Raum auch heute wieder sehr prominent und sehr geschickt hier. Doch es müssen auch Taten folgen. Wenn dann Frau Karliczek mit ihrer Aussage um die Ecke kommt, dass 5G nicht an jeder Milchkanne benötigt würde, dann zeigt das, wessen Geistes Kind diese Gedanken sind.
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Über die Hälfte der Menschen leben im ländlichen Raum. Wir alle, die auf dem Land wohnen, sind die Milchkanne, von der Frau Karliczek redet. Und wir brauchen dringend das Internet und überall Netzabdeckung; denn wir wollen mit dem Handy telefonieren. Es ist doch peinlich, wenn Herr Seehofer – Entschuldigung: Herr Altmaier –
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in einer Pressemeldung verlautet, dass er mit seinen ausländischen Ministerkollegen lieber vom Festnetz aus telefoniert, weil es ihm peinlich ist, wenn die Funkverbindung unterwegs abreißt.
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Doch was wirklich peinlich ist, ist, dass es 2019 in einem Land wie Deutschland, das so weit entwickelt ist, überhaupt noch passiert, dass die Funkverbindung abbricht. Das ist nicht hinnehmbar.
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Wir brauchen 5G, und zwar an jeder Milchkanne. Dafür müssen die Voraussetzungen geschaffen werden.
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Aber Sie tun genau das Gegenteil. Nach der missglückten 4G-Strategie kommt jetzt eine missglückte 5G-Strategie. Das wird dem ländlichen Raum nicht gerecht.
Es wurde eben gesagt: 5G ist für vieles wichtig. Es ist dafür wichtig, dass Frauen, aber auch Männer Homeoffice machen können, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf dem Land verbessert wird. Aber es ist vor allen Dingen dafür nötig, die Landwirtschaft, die ein Kernelement des ländlichen Raums ist, endlich nach vorne zu bringen; denn Smart Farming ist Realität. Die Betriebe haben lange investiert. Es macht keinen Unterschied zwischen großen und kleinen Betrieben; denn auch kleinere Strukturen wie bei uns in Rheinland-Pfalz haben sich schon lange organisiert über Betriebsgemeinschaften, über Maschinenringe und nutzen moderne Technik. Das ist auch dringend nötig.
Heute – Frau Ministerin, Sie kommen eben aus Münster – ist etwas passiert, was ich in meinen 20 Jahren Berufserfahrung als Landwirtin nie für möglich gehalten hätte: 6 000 bis 8 000 Bauern sind in Münster mobilisiert worden und sind auf die Straße gegangen,
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weil sie sich abgehängt fühlen, weil Politik nur von oben ohne Absprache gemacht wird und weil sie Sorge um ihre Existenz haben. Dagegen etwas zu unternehmen, geht nur gemeinsam.
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Deshalb müssen diese Chancen genutzt werden. Das ist jetzt elementar wichtig. Die Technik muss in der Fläche Anwendung finden. Dafür ist es nötig, dass wir 5G an jeder Milchkanne bekommen, damit aus Land frust wieder Land lust wird, auch bei den Landwirten.
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Wenn Sie mir noch einen Gedanken zum Schluss erlauben.
Einen Satz.
Sie haben schöne Ideen für die Formulierung Ihrer Anträge und für die Überschriften. Wie wäre es, wenn Sie in Kürze mal mit dem besten Mobilfunkgesetz aller Zeiten um die Ecke kämen?
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Heidrun Bluhm für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Frau Ministerin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Koalitionäre! Wie Sie wissen – bei der Einbringung des Antrags habe ich es bereits gesagt – werden wir Ihrem Antrag zustimmen. Vor allem, weil wir wollen, dass wir bei den ländlichen Räumen und ihrer Entwicklung endlich in Gang kommen.
Trotzdem muss ich heute hier auf gewisse Defizite hinweisen, die aus unserer Sicht immer noch bestehen; denn leider haben Sie zwischen der Einbringung und der heutigen Beratung an Ihrem Antrag nicht weitergearbeitet, obwohl wir hinreichend Vorschläge gemacht haben.
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Herr Saathoff, mit Verlaub – ich schätze Sie sehr –, aber Sie haben heute hier eine Rede gehalten, die den Eindruck vermittelt, als würden Sie erst anfangen, über diesen Prozess und darüber nachzudenken, wie Sie Ihre Ideen und Gedanken in diesen Antrag einbringen wollen.
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– Ja, ich habe zeitweise das Gefühl gehabt, er ist in der Opposition.
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Aber Sie hätten gut Gelegenheit gehabt, diesen Antrag so zu verändern, dass er heute mit einem besseren Ergebnis hier vorgelegt werden kann.
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Stichwort: Digitalisierung. Die Koalitionäre formulieren viele Forderungen und Ausbauziele. Aber was tut die Regierung außer reden? Für 2018 wurde der flächendeckende Ausbau mit 50 Mbit versprochen; die Älteren erinnern sich. Heute über 5G an jeder Milchkanne zu reden, soll wohl davon ablenken, dass dieses Ziel komplett verfehlt wurde.
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Ich war letzte Woche mit einer Delegation in Myanmar und in Vietnam. Und was soll ich Ihnen sagen? An jeder Milchkanne gibt es 4G – in Myanmar und Vietnam! Warum können wir das nicht, meine Damen und Herren?
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Wir fordern: Beenden Sie endlich die digitale Spaltung Deutschlands, damit alle Kommunen sich gleichberechtigt entwickeln können!
Ein weiteres Beispiel ist die Förderung der ländlichen Entwicklung durch GAK und BULE. Die Antwort auf unsere jüngste Kleine Anfrage legt einmal mehr die Defizite offen, die dort immer noch bestehen. Viele Millionen Euro in GAK und BULE werden nicht abgerufen oder ausgezahlt. Wir haben eine Anfrage an die Regierung gestellt. Es stellte sich heraus, dass 2018 die BULE-Mittel zu 72,8 Prozent nicht abgerufen worden sind.
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Was machen wir da eigentlich? Strukturelle Probleme der beiden Programme, die Sie seit Jahren kennen, beheben Sie nicht. Zumindest sprechen die Zahlen diese Sprache. Ich hoffe nicht, dass die Vermutung stimmt, dass die Bundesregierung absichtlich Gelder verstreichen lässt nach dem Motto „fett planen, aber mager austeilen“. Bei der trägen Problembewältigung, die die Bundesregierung bei GAK und BULE an den Tag legt, muss man das leider vermuten.
Verehrte Koalitionäre, auch die Grundgesetzänderung samt Reform der Gemeinschaftsaufgabe versprechen Sie seit mindestens sechs Jahren. Der Bundesrat fordert sie ebenfalls erneut. Auch wir wollen sie und mit uns die kommunalen Spitzenverbände. Sogar Ihr eigener Sachverständigenrat hält die Grundgesetzänderung für erforderlich. Im Antrag steht dazu aber nichts.
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Lassen Sie mich auf zwei weitere Punkte kurz zu sprechen kommen. Auch zum Thema Energie findet man ein paar Worte in Ihrem Antrag. Aber hier fehlen ebenfalls die entscheidenden Schlussfolgerungen. Wir alle sind uns einig, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien viel zur Wertschöpfung im ländlichen Raum beitragen kann. Energiedörfer sind ein Beispiel. Doch dazu müssen Sie die Rahmenbedingungen ändern. Leider haben Sie zwei Tagesordnungspunkte vor diesem Punkt mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs zum Netzausbaubeschleunigungsgesetz Übertragungsnetz, NABEG, genau das Gegenteil von dem getan, was Sie im Antrag gefordert haben. Nur noch die großen Netzbetreiber sollen künftig Trassenpolitik bestimmen. Damit stirbt jedes regionale Engagement. Hätten Sie unserem Antrag zur Bürgerenergie zugestimmt, wären Sie konkrete Schritte auf die Bürger und Kommunen zugegangen.
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Einen letzten Punkt möchte ich im Hinblick auf die neue GAP-Förderperiode ansprechen; denn in Ihrem Antrag formulieren Sie, die Bundesregierung werde aufgefordert – ich zitiere –
im Rahmen der Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen der EU … eine angemessene Mittelausstattung des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) … zu berücksichtigen.
Donnerwetter! Was soll das heißen? Stellen Sie sich also gegen die mindestens 25-prozentige Mittelkürzung in der zweiten Säule der neuen GAP? Oder gleichen Sie die Reduktion der Mittel, die von Europa vorgenommen wird, durch Bundesmittel aus? Dazu wären Aussagen in Ihrem Antrag hilfreich gewesen. Aber hier bleibt Ihr Lösungsansatz genauso nebulös wie bei allen anderen Themen dieses Antrages.
Wir fordern: Schaffen Sie endlich Zukunft für die ländliche Entwicklung! Und vor allem: Fangen Sie endlich an!
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Markus Tressel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition! Sie haben mit Ihrem Antrag gezeigt, dass wir kein Erkenntnisproblem haben. Sie haben nämlich das aufgeschrieben, was in den ländlichen Räumen tatsächlich nottut. Wir haben vielmehr ein echtes Umsetzungsdefizit in den letzten Jahren.
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Das haben Sie zu verantworten. Da ist wertvolle Zeit vergeudet worden.
Hätten Sie das 2013, als Sie das schon mal in einen Koalitionsvertrag reingeschrieben haben, tatkräftig umgesetzt, dann wären wir heute deutlich weiter. Sie haben damals reingeschrieben, Sie wollen die GAK weiterentwickeln zur Gemeinschaftsaufgabe „Ländliche Entwicklung“. Das haben Sie aber nicht gemacht, Sie haben allenfalls Kosmetik betrieben.
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Deshalb fehlt es jetzt nach wie vor an einem geeigneten Instrument. Mit runden Tischen, Prüfaufträgen und Modellprojekten, wie Sie das hier in Ihrem Antrag formulieren, entfacht man vielleicht Strohfeuer – damit kennen Sie sich aus, Frau Ministerin –, aber damit erzielt man keine nachhaltige Entwicklung in den ländlichen Räumen.
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Und ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Digitalisierung ist für die Zukunft der ländlichen Räume eines der zentralen Themen. Auch und gerade die Landwirtschaft ist auf eine ordentliche Breitbandversorgung angewiesen. Landwirtschaft geht hier Hand in Hand mit anderen wirtschaftlichen und privaten Akteuren auch außerhalb der Landwirtschaft, die mindestens die gleiche Aufmerksamkeit verdient haben.
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Industrie und Mittelstand, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen auch in ländlichen Räumen wettbewerbsfähig bleiben. Neue Arbeits- und Versorgungsmodelle, beispielsweise Coworking und Telemedizin, müssen dort funktionieren. In Ihrem Antrag: weitgehend Fehlanzeige dazu!
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Dazu brauchen wir eine ordentliche, flächendeckende Breitbandversorgung für alle, die in den ländlichen Räumen leben und arbeiten. Das ist eine Frage der Überlebensfähigkeit. Dazu hätte ich mir in Ihrem Antrag mehr gewünscht. Sie haben ihn ja mit dem Titel „Gutes Leben und Arbeiten auf dem Land gewährleisten“ überschrieben. Nur: Vom „guten Arbeiten auf dem Land“ findet man in diesem Antrag außerordentlich wenig.
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Wir wollen doch nicht, dass in Deutschland die Menschen in Zukunft – wie in Spanien am letzten Sonntag – auf die Straße gehen müssen, um gegen die Entvölkerung auf dem Land zu demonstrieren. Deswegen brauchen wir ein klares Bekenntnis zur Zukunftsfähigkeit der Regionen, in denen diese Menschen leben. Was wir aber nicht brauchen, ist eine Rückbaudebatte, wie sie ja kürzlich eine Studie aus Halle anzetteln wollte. Denn was der gesellschaftliche Zusammenhalt in unserem Land nicht verkraften würde, ist eine verstärkte Landflucht. Deswegen müssen wir Dörfer und Kleinstädte attraktiver für Jung und Alt machen, und dazu müssen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch an das gegenwärtige Fördersystem ran. Das müssen wir überdenken.
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Wir brauchen eine gezielte Förderung für strukturschwache Regionen, die über eine reine Wirtschaftsförderung hinausgeht. Das haben die Ministerpräsidenten der ostdeutschen Bundesländer erkannt. Sie haben sich gestern für ein gesamtdeutsches Förderinstrument für strukturschwache Regionen ausgesprochen. Sie sind da schon weiter als die Große Koalition in diesem Haus.
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Deswegen sagen wir ganz klar: Wir brauchen eine dritte Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Daseinsvorsorge“
({8})
– das könnte hilfreich sein –; denn wir haben gesehen, dass die bestehenden Gemeinschaftsaufgaben an dieser Stelle die Problemlagen nicht abdecken. Auch dazu ist in Ihrem Antrag Fehlanzeige.
Wir brauchen für die ländlichen und strukturschwachen Räume in Deutschland eine Ermöglichungspolitik, die die endogenen Potenziale dieser strukturschwachen ländlichen Räume unterstützt. Denn Zukunft wird tatsächlich von den Menschen vor Ort gestaltet, und Bund und Länder müssen die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen. Da gibt es Handlungsbedarf deutlich über Ihren Antrag hinaus, mit dem Sie ja nur das fortschreiben, was Sie in den vergangenen fünf Jahren nicht gemacht haben.
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Dieser Antrag geht uns nicht weit genug, das haben wir auch in den Ausschussberatungen deutlich gesagt. Es wäre aber vor allem wichtig, dass Sie endlich mit konkreten Maßnahmen anfangen, dass Sie nicht nur aufschreiben, sondern endlich auch das tun, was Sie in Ihren Anträgen niederschreiben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Da haben Sie jetzt sechs Jahre vergeudet. Ich bin gespannt, was jetzt am Ende rauskommen wird, wenn wir diesen Antrag hier verabschieden.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Karl Holmeier.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der ländliche Raum ist ein starkes Stück Deutschland. Der ländliche Raum ist nicht nur Landwirtschaft und gutes Wohnen, sondern ein starker Standort für Handwerk, Industrie und Tourismus. Der ländliche Raum ist Deutschlands Kraftquelle und braucht sich keinesfalls zu verstecken.
({0})
Die Förderung und Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land ist im Grundgesetz ja auch verankert. Wir wollen mit unserem Antrag „Gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken – Gutes Leben und Arbeiten auf dem Land gewährleisten“ diesem Verfassungsauftrag nachkommen. Der ländliche Raum darf gegenüber den Städten nicht benachteiligt werden und muss für junge Menschen wieder attraktiver werden. Dafür haben wir unter anderem die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ gegründet. Mit Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände werden hier Lösungen erarbeitet, um strukturschwache Regionen in Deutschland zu unterstützen. Die Kommission wird nach Wegen suchen, um sowohl die Infrastruktur als auch das Wohlbefinden der Menschen im ländlichen Raum zu verbessern. Es werden im ersten Halbjahr 2019 erste Ergebnisse und konkrete Vorschläge vorgelegt werden.
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Wichtige Voraussetzung für die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist eine gute, flächendeckende Infrastruktur: Straße, Schiene, öffentlicher Personennahverkehr und natürlich Breitbandversorgung und Mobilfunknetz. All das ist Daseinsvorsorge und schafft einen Standortvorteil im nationalen und internationalen Wettbewerb.
Der flächendeckende Breitbandausbau in Deutschland schreitet voran.
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In der vergangenen Legislaturperiode wurden dafür mehr als 4 Milliarden Euro ausgegeben, und in dieser Legislaturperiode sind bis zu 12 Milliarden Euro für den Ausbau der Gigabitnetze bereitgestellt. Im Sommer letzten Jahres haben wir das bestehende Förderprogramm vereinfacht, verschlankt und beschleunigt. Gefördert werden nur noch Glasfaseranschlüsse.
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Seither wurden Anträge mit einem Gesamtvolumen in Höhe von 509 Millionen Euro gestellt. Davon wurden bereits 202 Millionen Euro bewilligt. 104 bereits bewilligte Projekte konnten in den letzten Monaten ihren Antrag auf Förderung umstellen, weg vom Kupferkabel hin zum modernen Glasfaserkabel. Die letzte Meile zu den einzelnen Anschlüssen, ob Privathaushalt, landwirtschaftlicher Betrieb oder Gewerbebetrieb, wird bei diesen Projekten also nur noch mit Glasfaser bewältigt. Seit November letzten Jahres sind alle Schulen, Gewerbegebiete und Krankenhäuser ohne Anschluss an das Gigabitnetz förderfähig. Über 6 400 Schulen haben bereits die Förderung eines Gigabitanschlusses beantragt.
Zudem wird derzeit das „Weiße-Flecken-Programm“ überarbeitet, und es wird ein „Graue-Flecken-Programm“ kommen, das zurzeit mit der Europäischen Union abgestimmt wird. Damit können alle Haushalte und Unternehmen in ganz Deutschland an gigabitfähige Netze angeschlossen werden. Der Ausbau eines Mobilfunknetzes gerade im ländlichen Raum ist Schwerpunkt für die Stärkung des ländlichen Raums. Zurzeit läuft die Ausbauverpflichtung aus der Versteigerung der Digitalen Dividende II aus dem Jahr 2015. Diese Umsetzungsverpflichtung muss bis Ende 2019 abgeschlossen werden. Wenn ich meine Region betrachte, kann ich sagen: Wir werden das schaffen. Wir setzen ständig neue Masten in Betrieb.
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Die Versteigerung der Mobilfunkfrequenzen für 5G neigt sich langsam dem Ende zu. Hohe Versorgungsauflagen waren von Anfang an für die Union wichtig und bedeutend. Die Umsetzung muss schnell erfolgen. Lokales Roaming ist für eine flächendeckende Versorgung notwendig. Wir brauchen aber nicht nur eine Versorgung der Haushalte und Unternehmen, sondern gerade für die Landwirtschaft brauchen wir eine Versorgung in der Fläche oder besser gesagt: der gesamten Fläche. Daran werden wir weiter tatkräftig arbeiten.
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Mit diesem Antrag wird der ländliche Raum noch attraktiver. Der ländliche Raum ist stark. Der ländliche Raum muss selbstbewusst auftreten und braucht sich in keiner Weise zu verstecken.
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Verehrte Damen und Herren, wir haben mit unserem Antrag ein Gesamtkonzept entwickelt, von dem alle im ländlichen Raum profitieren werden. Den Antrag der FDP lehnen wir ab, weil er zu kurz springt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Dirk Wiese.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, die vor nicht allzu langer Zeit veröffentlicht worden ist, hat eine Debatte losgetreten. Mich als jemand, der wirklich aus dem klassischen ländlichen Raum kommt, aus dem Hochsauerlandkreis, hat diese Studie – das muss ich ehrlicherweise sagen – richtig geärgert. Die Schlussfolgerung dieser Studie war, um es kurz auf den Punkt zu bringen: Geld nur noch in die Städte zu geben. Das ist, wenn man dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in dieser Woche folgt, volkswirtschaftlicher Unsinn. Und ich habe, ehrlich gesagt, auch heute hier in dieser Debatte an der einen oder anderen Stelle gehört, dass es nur noch eine Schwarz-Weiß-Diskussion gibt: entweder ländlicher Raum oder die Städte. Ich glaube, ländliche Räume sind viel vielseitiger und auch Stadt-Land-Regionen sind viel vielseitiger.
Wenn wir die Blickrichtung auf den ländlichen Raum lenken, zeigt sich: Ja, wir haben strukturschwache ländliche Gebiete, aber wir haben auch strukturschwache städtische Gebiete. Und wir haben genauso gut prosperierende ländliche Räume und Regionen wie meine Heimatregion Südwestfalen, die mittlerweile das industrielle Herz von Nordrhein-Westfalen ist. Wir haben dort andere Herausforderungen als die eine oder andere Region in den südlichen oder in den neuen Bundesländern. Diesen Herausforderungen, glaube ich, stellt sich dieser Antrag.
Dieser Antrag ist auch deshalb gut – da stimme ich meinem Vorredner zu, und ich finde auch gut, dass Sie das gelobt haben –, weil er größtenteils von der SPD geschrieben worden ist.
({0})
In der Vergangenheit war es oftmals so, dass die Politik der CDU/CSU für den ländlichen Raum nur auf die Agrarpolitik fokussiert gewesen ist. Das ist etwas, das die Debatte in den letzten Jahren etwas verengt hat. Ich bin froh, dass wir den Koalitionspartner von dieser Richtung wegbekommen haben. Das ist ein falscher Ansatz. Ländliche Räume sind viel mehr: Sie sind wirtschaftlich prosperierende Regionen, sie sind erfolgreich. Das zeigen wir mit diesem Antrag Das müssen wir auch betonen; denn nur so können wir auch die politische Fokussierung auf den ländlichen Raum lenken.
({1})
Frau Konrad, ich habe gerade Ihre Anmerkungen vonseiten der FDP gehört. Ich fand das interessant und bemerkenswert und habe einmal auf der Seite der FDP-Bundestagsfraktion gegoogelt, was dort zu „ländlichen Räumen“ und zum „ländlichen Raum“ steht. Ich habe beide Begriffe gegoogelt, nicht dass Sie mir vorwerfen, ich hätte nicht richtig nachgeschaut.
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Die letzte Meldung zum ländlichen Raum ist vom 22. Februar 2018. Die letzte Meldung zu ländlichen Räumen ist ein Interview mit Ihrem Parlamentarischen Geschäftsführer Buschmann zur Mietpreisbremse vom Anfang des letzten Jahres.
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Wenn das Ihre Politik für ländliche Räume ist, dann brauchen wir uns von Ihnen heute Abend in dieser Debatte nichts erzählen zu lassen.
Ich glaube, ländliche Räume – das macht der Antrag deutlich – müssen gerade auch durch Programme wie BULE und durch Modellvorhaben gefördert werden, die die Menschen im ländlichen Raum dazu ermutigen, Dinge auszuprobieren und auch voranzubringen. Wir feiern zum Beispiel bei uns vor Ort am Wochenende den Tag der Bürgerbusse, weil wir es durch Anschubfinanzierungen mittlerweile geschafft haben, den Bürgerbusverbund Sauerland-Hellweg in Form einer eingetragenen Genossenschaft auf den Weg zu bringen.
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Hier wird Mobilität ermöglicht und Ehrenamt gefördert. Das sind Projekte, bei denen wir dranbleiben müssen.
Ich halte es auch für richtig, dass wir schnellstmöglich für wirtschaftlich erfolgreiche ländliche Regionen das Einwanderungsgesetz auf den Weg bringen.
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Wir haben in einigen Regionen einen massiven Fachkräftemangel. Dort wird der Bedarf nicht mehr gedeckt. Hier brauchen wir eine geregelte und geordnete Zuwanderung in Form eines Einwanderungsgesetzes. Gerade das Handwerk braucht dieses Gesetz.
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Die Politik und die Zwischenrufe von rechts, die wir hören, schaden der Wirtschaft in den ländlichen Räumen. Wenn wir hier nichts voranbringen und auf Abschottung setzen, hilft das nicht. Das geht nicht in die richtige Richtung.
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Lassen Sie mich einen letzten Satz sagen; denn das ärgert mich etwas, Frau Ministerin. Heute fand eine Demonstration statt, auf der zu Recht Sorgen laut geworden sind. Es ist gut gewesen, dass man sich dem auch stellt.
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Es gibt aber Regionen in Deutschland, die intensive Landwirtschaft betrieben und jetzt Probleme mit der Nitratrichtlinie haben. Es gibt Regionen in Deutschland, die genau darunter jetzt leiden. Sie sind nämlich die Leidtragenden einer verfehlten Politik. Sie sind von Gülletourismus betroffen. Sie haben angesichts einer verfehlten Politik die Aufmerksamkeit genauso verdient. Hier kann ich nur dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil zustimmen: Die Unschuldigen dürfen an dieser Stelle nicht die Leidtragenden sein.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alois Gerig von der Fraktion CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe vier Minuten, um das Wesentliche, das hier schon gesagt wurde, noch einmal zusammenzufassen. Ich will aber damit anfangen, unsere Ministerin ausdrücklich zu loben, und ihr für ihren Einsatz und dafür, dass sie sich heute den 8 000 Bauern in Münster gestellt hat, danken.
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Sie war sehr wohl bereit, die Sorgen und Nöte der Bauern vor Ort anzuhören.
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Ich habe nicht gehört, dass andere Bundesminister dort zugegen waren.
Meine Damen und Herren, jeder von meinen Vorrednern hat mehr oder minder positive Aspekte genannt. Deswegen sage ich: Lassen Sie uns diesen Antrag der Koalition gemeinsam beschließen. Jeder kann seinen Teil dort einbringen. Sie finden genug Betätigungsfelder. Der Antrag ist so gut und so umfangreich, dass Sie sich sehr wohl einbringen können. Und, lieber Kollege Dirk Wiese, auf den Seitenhieb: Ich habe Sie bei den Antragsberatungen gar nicht persönlich gesehen.
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der AfD und der FDP – Zurufe von der SPD – Abg. Dirk Wiese [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage]
Wovon reden wir, meine Damen und Herren? Wir reden von 90 Prozent der Fläche unseres Landes, wir reden von 50 Prozent der Bürger in Deutschland,
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und wir reden von einem Drittel unseres Waldes. Die anderen 50 Prozent unserer Bürger leben in den Ballungszentren – mit stark wachsender Tendenz. Das ist unsere Sorge. Die Lösung für die Ballungszentren – das haben mehrere Vorredner gesagt – liegt in den ländlichen Räumen. Wenn wir die Infrastruktur in allen Bereichen schaffen, wenn wir uns um die Daseinsvorsorge kümmern, dann können wir insbesondere jungen Menschen Lust aufs Land machen. Es gibt schon eine neue Lust aufs Land: Die Geburtenraten steigen, und in vielen ländlichen Gebieten Deutschlands gehen auch die Bauplätze weg wie warme Semmeln.
Nie hat ein Koalitionsvertrag den Begriff „ländlicher Raum“ so oft beinhaltet wie der aktuelle. Das will ich Ihnen hier auch sagen: Die Koalition redet nicht; die Koalition handelt und setzt um. Nie wurde so viel Geld mit so hoher Priorität für die Bereiche des ländlichen Raumes ausgegeben. Wir sind seit gut einem Jahr in der Regierung, und ich sehe sehr viele positive Ansätze. Ich sehe viele Dinge, die bereits umgesetzt worden sind. Deswegen lassen Sie uns doch im Sinne der Menschen in den ländlichen Räumen gleichwertige Lebensbedingungen, wie das Grundgesetz sie vorsieht, tatsächlich schaffen.
Das Ehrenamt ist die Stärke des ländlichen Raumes. Die Blaulichtorganisationen würden ohne das ehrenamtliche Engagement gar nicht funktionieren. Es gibt die Handwerker; es gibt den Mittelstand. Wir haben Hidden Champions. Es gibt die Landwirtschaft. Ich fordere Sie auf: Lassen Sie uns doch angesichts des immensen Strukturwandels in der Landwirtschaft eine andere Sprachweise gegenüber unseren Bäuerinnen und Bauern finden.
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Die Bäuerinnen und Bauern, die Landwirte, sind diejenigen, die für die Biodiversität sorgen. Sie sind diejenigen, die ein großer Teil der Lösung und nicht das Problem sind, das wir im Umweltbereich haben.
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Lassen Sie uns das doch gemeinsam erkennen! Betreiben Sie nicht immer Bauern-Bashing nach dem Motto: Der Berufsstand ist nicht mehr unbedingt unsere Wählerklientel. Sie sind ja so klein und so schwach geworden.
Die Digitalisierung ist wichtig; wir arbeiten daran. Wir brauchen den Mobilfunk überall. Das ist die Chance für neue Arbeitsplätze. Das werden wir umsetzen. Die Bauern sind Waldbesitzer. Der Wald ist die grüne Lunge für die städtischen Räume. Ich erwarte mehr Wertschätzung von der Politik, aber auch von der gesamten Gesellschaft. Das schaffen wir am besten, wenn wir gemeinsam zusammenstehen. Dafür werbe ich.
Lebensmittel made in Germany sind ein Prädikatsprodukt. Das muss in den Köpfen der Menschen ankommen. Die Ausgaben für Lebensmittel dürfen nicht nur 10 Prozent der Konsumausgaben ausmachen. Lebensmittel sind ihren Preis wert. 11 Millionen Tonnen Lebensmittel wegzuwerfen, ist unmoralisch. Auch da sage ich: Danke, liebe Bundesministerin, dass wir sehr intensiv an guten Lösungen arbeiten und diese schaffen.
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Jetzt müssen Sie Ihren Schlusssatz sprechen, Herr Kollege, sonst muss ich das Mikrofon abdrehen.
Jawohl. Das habe ich nicht beachtet. Ich bitte um Entschuldigung. – Ich sehe großes Potenzial für den Bereich Tourismus.
Ich wünsche allen noch einen guten Abend.
({0})
Vielen Dank. – Ich will jetzt vor der Abstimmung mal zwei Bemerkungen zur Sitzungsleitung machen: Wir haben mal überschlagen, dass wir noch bis weit nach Mitternacht tagen müssen, obwohl viele Kolleginnen und Kollegen von der Möglichkeit schon Gebrauch gemacht haben, ihre Reden zu Protokoll zu geben. Ich rege an, von dieser Möglichkeit auch weiterhin Gebrauch zu machen. Mit Rücksicht auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werde ich von jetzt ab aber eine strengere Handhabung der Redezeit ankündigen, so wie das mein Kollege Kubicki auch zu tun pflegt. Wenn also jetzt das Signal des Präsidenten kommt, haben Sie noch die Möglichkeit, den Schlusssatz zu sagen. Danach ist der Strom weg. Ich glaube, das ist angemessen. Ich habe deshalb auch keine Zwischenfragen zu dieser späten Stunde mehr zugelassen.
({0})
Ich wollte das nur fairerweise ankündigen, damit Sie sich darauf einstellen können.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung. Tagesordnungspunkt 13 a. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken – Gutes Leben und Arbeiten auf dem Land gewährleisten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7978, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/7028 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Fraktionen Die Linke, der SPD, der CDU/CSU und der AfD. Wer stimmt dagegen? – Das ist die Fraktion der FDP. Wer enthält sich? – Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Tagesordnungspunkt 13 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Smart Farming – Flächendeckende Breitbandversorgung für eine innovative Landwirtschaft in Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7989, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/7029 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD. Gegenprobe! – Das sind die Fraktionen der AfD und der FDP. Enthaltungen? – Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen und der Antrag abgelehnt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte heute erneut eine Lanze brechen für unser bewährtes und funktionierendes System der repräsentativen Demokratie in Deutschland. Wenn man darüber spricht, kommt man ja gar nicht umhin, sich Großbritannien anzuschauen. Das britische Schauspiel der letzten Monate – oder vielleicht besser gesagt: das Trauerspiel – hat doch gezeigt, wozu vermeintlich direkte Demokratie führen kann, wenn man nicht sehr behutsam und gewissenhaft mit den Vorzügen der repräsentativen Demokratie umgeht. Das, was wir mit diesen Entwicklungen in Verbindung bringen, ist politisches Chaos, Unversöhnlichkeit der Personen statt Interessenausgleich, Unfähigkeit und Unwilligkeit, falsche Entscheidungen zu revidieren. Das ist doch ein Lehrbeispiel dafür, wozu Volksabstimmungen im schlechtesten Fall führen können. Was wir in Großbritannien derzeit erleben, ist ein kollektives Versagen der politischen Klasse, die sich in einem Zustand der Angst und politischen Lähmung befindet. Es gibt für keine Handlungsoption im Parlament überhaupt eine Mehrheit, und ich glaube nicht, dass die Leaver, als sie vor zwei Jahren beim Referendum abgestimmt haben, auch nur annähernd eine Vorstellung davon hatten, welche Konsequenzen und Folgen ihr Votum nach sich ziehen würde.
In der Sachverständigenanhörung wurden am Beispiel der Schweiz, das immer wieder genannt wird, die Probleme anschaulich gemacht. Bei einer Volksabstimmung haben sich dort 96 Prozent – so dachten Sie – für eine Begrenzung der Managergehälter entschieden. In Wahrheit haben sie bei der Abstimmung aber nur für eine Reform des Aktienrechts votiert. Am Ende war diese Abstimmung mit vielen Enttäuschungen verbunden.
Wenn wir noch mal auf Großbritannien schauen, muss ich sagen: Ich kann nicht erkennen, dass dieses Referendum dem britischen Volk gesellschaftlich, politisch oder ökonomisch in irgendeiner Weise zum Vorteil ist. Das Gegenteil ist doch der Fall.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, die Debatte über Ihren Antrag ist der richtige Moment, um einmal innezuhalten und die eigene Position zu überdenken. Ich glaube, für plebiszitäre Euphorie gibt es angesichts der Entwicklung, die wir aktuell in Europa erleben, nun wahrlich keinen Grund. Mehr Abschreckung geht doch eigentlich gar nicht.
({0})
Herr Haug, Sie haben ja letztes Mal die Katze aus dem Sack gelassen, als Sie Ihre Vorstellungen konkretisiert haben. Sie haben gesagt, dass Sie erstens keine Änderung des Grundgesetzes mehr ohne Zustimmung des Volkes wollen und zweitens ein Vetorecht gegen Parlamentsbeschlüsse durch sogenannte fakultative Referenden.
({1})
Wenn wir uns das anschauen, dann muss man sagen: Das hat wenig mit einer Ergänzung der repräsentativen Demokratie um direktdemokratische Elemente zu tun. Sie wollen vielmehr unserem bewährten System der parlamentarischen Demokratie an den Kragen, und zwar mit aller Kraft; aber da werden wir mit Sicherheit nicht mitmachen. Ich habe es beim letzten Mal gesagt: Sie führen mit Ihren Plänen gar nichts Gutes im Schilde; denn Ihr Kalkül ist es ja, Mehrheiten zu organisieren und zu schaffen durch Stimmungsmache in der Bevölkerung – Mehrheiten, die Sie hier im Parlament durch allgemeine Wahlen eben nicht haben.
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Da will ich den Appell auch mal an uns als Koalitionsfraktionen richten: Ich glaube, wir sollten den Irrglauben ablegen, dass direkte Demokratie automatisch die bessere Demokratie ist und dass wir uns dafür schämen müssen, die Interessen der Bürger gewissenhaft und sorgfältig wahrzunehmen. Ich glaube, wir können stolz auf unsere repräsentative Demokratie in Deutschland sein, und wir sollten die Vorzüge auch nicht kleinreden.
({3})
Insofern werbe ich heute hier noch mal offensiv dafür, dass wir für unsere repräsentative Demokratie eintreten, dass wir bei Reformen sehr behutsam und sehr weitsichtig vorgehen. Wir sollten auch nicht jeder Vorhaltung auf den Leim gehen. Ich darf das Stichwort „Politikverdrossenheit“ ansprechen. Die Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl ist auf demselben Niveau gewesen wie bei der Wahl nach der Wiedervereinigung 1990.
({4})
– Ja, klopfen Sie sich auf die Schulter. Dann haben Sie auch mal ein Verdienst.
Die Wahlbeteiligung ist auf jeden Fall hoch, und das ist auch gut so. Wenn wir uns mal die Wahlbeteiligung bei Ihren Vorbildern, die Sie nennen – USA, Schweiz –, angucken, dann muss man sagen: Bei den Präsidentschaftswahlen in den USA lag die Wahlbeteiligung bei 58 Prozent, bei den Nationalratswahlen in der Schweiz ist nicht mal jeder Zweite zur Urne gegangen. Man kann also berechtigte Zweifel daran haben, ob direkte Demokratie wirklich geeignet ist, Politikverdrossenheit zu heilen. Ich glaube das nicht.
Die entscheidende Frage ist eigentlich vielmehr: Wie kann man verhindern, dass direktdemokratische Entscheidungen am Ende die Legitimation der Demokratie insgesamt und das Ansehen eines Landes beschädigen? Denn ich glaube, das erleben wir im Moment ja in Großbritannien.
Wir haben im Koalitionsvertrag ein sehr kluges Vorgehen verabredet: Wir wollen eine Expertenkommission unter Führung des BMI einrichten. Da werden wir alle Fragen jenseits des politischen Streits diskutieren. Klar ist aber auch: Erstes Gebot ist Sorgfalt und nicht Eile. Wir werden nicht nur darüber diskutieren, wie wir direktdemokratische Elemente fördern, sondern auch darüber, ob wir das überhaupt wollen.
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Da ist wirklich Sorgfalt geboten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Jochen Haug.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist fast genau ein Jahr her, dass wir unseren Antrag zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Direkte Demokratie auf Bundesebene“ ins Plenum eingebracht haben. Seitdem ist tagespolitisch viel geschehen. Wir erleben zurzeit ein tragisches Brexit-Chaos. Der Brexit, so argumentieren Gegner der direkten Demokratie, zeige doch, was passiert, wenn ein Volk über hochkomplexe Angelegenheiten mit Ja oder Nein zu entscheiden hat. Direkte Demokratie spalte, statt zu einen. Wir haben gerade Herrn de Vries gehört, deswegen bringe ich es auch in meiner Rede am Anfang: Das scheint das neue Totschlagargument gegen direkte Demokratie zu werden.
({0})
Dem muss selbstverständlich widersprochen werden.
({1})
Eine Mehrheit in Großbritannien hat sich für einen Austritt aus der EU entschieden. Die Briten, die für den Brexit gestimmt haben, wollen ihr Land nicht wirtschaftlich abschotten. Sie wollen in Zukunft souverän über die Geschicke ihres Landes bestimmen. Dies gilt es zu respektieren. Das Chaos, das die öffentliche Wahrnehmung zu diesem Thema nunmehr beherrscht, hat nicht das Volk verursacht. Es wurde angerichtet von Politikern, die das Thema im britischen Unterhaus für Machtkämpfe und Ränkespiele missbrauchten.
({2})
Es ist daher unredlich, im Nachgang zum Brexit-Referendum die direkte Demokratie zu diskreditieren. Auch das immer wiederkehrende Argument, die Bürger seien mit der Entscheidung über weitreichende politische Fragen überfordert, ist zurückzuweisen. Ich darf an dieser Stelle den ehemaligen schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme zitieren:
({3})
Es ist eine Irrlehre, dass es Fragen gibt, die für normale Menschen zu groß oder zu kompliziert seien. Akzeptiert man einen solchen Gedanken, so hat man einen ersten Schritt in Richtung Technokratie, Expertenherrschaft, Oligarchie getan … Die Politik ist zugänglich, beeinflussbar für jeden. Das ist der zentrale Punkt der Demokratie.
So Olof Palme.
({4})
Die Brexit-Entscheidung war auch ein Ventil für die Kritik an einer bürgerfernen, abgehobenen EU-Bürokratie. Und mit dieser Kritik stehen die Briten nicht alleine. Die Lehre aus der Brexit-Entscheidung kann daher nicht ein stures „Weiter-so“ oder gar die nun wieder beschworene Parole des „mehr Europa“ sein, was in Wirklichkeit nur mehr EU bedeutet.
({5})
Nein, die Lehre muss „mehr Mitbestimmung“ sein. Der damalige Bundespräsident Gauck sagte im Jahr 2016:
Die Eliten sind gar nicht das Problem, die Bevölkerungen sind im Moment das Problem …
Welch fatale Aussage eines Staatsoberhauptes!
({6})
Dieser Satz symbolisiert alles, was im Moment falsch läuft in Deutschland und in der EU. Die Politiker sehen das Volk nicht mehr als den Souverän, sondern als Problem an, die Bürger als Kleinkinder, die einfach nicht verstehen wollen, was gut für sie ist.
({7})
So funktioniert Demokratie aber nicht.
({8})
Trauen wir den Bürgern mehr zu! Führen wir Volksabstimmungen auf Bundesebene ein! Eine überwältigende Mehrheit der Deutschen spricht sich laut Umfragen seit Jahren dafür aus. Die Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern und den Bundesländern zeigen, dass damit auch keine Schwächung des Parlamentes einherginge, Herr de Vries. Vertreter der Koalitionsfraktionen und gerade auch Herr de Vries erklärten in der Plenardebatte vor einem Jahr, es brauche gar keine Enquete-Kommission, man habe sich im Koalitionsvertrag bereits auf die Einsetzung einer Expertenkommission verständigt. Diese soll Vorschläge zur Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie erarbeiten. Die Expertenkommission ist bis heute nicht eingesetzt, aber nicht nur das. In einer Antwort auf meine Kleine Anfrage erklärte das Bundesinnenministerium vor einigen Wochen, dass man bis heute noch nicht einmal die Kriterien zur Auswahl der Experten bestimmt habe. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Nach einem Jahr bleibt also nichts weiter übrig als vollmundige Versprechen und heiße Luft.
({9})
Weiter weist das Bundesinnenministerium in der Antwort noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass die grundsätzliche Zuständigkeit für die Einführung direkter Demokratie beim Bundestag liege. Das ist so richtig wie selbstverständlich. Aber dann holen wir auch das Thema in den Bundestag, und zwar mit einer Enquete-Kommission.
({10})
Mit ihr ließen sich die Grundlagen für einen fraktionsübergreifenden und mehrheitsfähigen Gesetzentwurf erarbeiten.
Zum Abschluss, meine Damen und Herren, noch eine Anmerkung. Wir haben heute Nachmittag in diesem Parlament wahrlich keine Sternstunde der Demokratie erlebt.
({11})
Das Ausgrenzen der größten Oppositionsfraktion bei der Wahl zum Bundestagspräsidium ist einer parlamentarischen Demokratie unwürdig.
({12})
Zeigen Sie, dass Sie es besser können. Schließen Sie sich unserem Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission an.
Danke.
({13})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Helge Lindh.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schwangerschaften und Demokratien haben eines gemeinsam: Es gibt sie nicht ein bisschen. Ein bisschen Demokratie ist keine Demokratie, und auch der Versuch, mit scheinbar mehr direkter Demokratie von undemokratischer Seite ein bisschen mehr Demokratie zu ermöglichen, ist noch keine Demokratie. Deshalb werde ich gleich noch etwas zu der vermeintlichen Nichtsternstunde, die tatsächlich eine Sternstunde des Parlaments war, sagen.
({0})
Es ist nämlich so, dass zum Wesen der Demokratie der Kompromiss gehört. Die Demokratie, wie wir sie fast alle in diesem Raum schätzen, ist auch sehr rigide; denn sie ist unbedingt und umfassend und bedingt nicht zu haben. Das ist das eine. Deshalb war auch Willy Brandts Appell, mehr Demokratie zu wagen,
({1})
nicht einfach nur ein Hinweis, mehr Wahlen zu machen und mehr direkte Elemente einzuführen, sondern – da komme ich zu meinem zweiten Punkt, was Demokratie sein kann – es war ein gesamtheitlicher Blick auf Demokratie.
Demokratie hängt doch nicht davon ab, dass wir alle paar Jahre in gleichen, geheimen und direkten Wahlen wählen, dass es eine Mehrheit gibt und Mehrheitsentscheidungen dann Demokratie sind. Demokratie ist auch nicht, dass wir sie durch Elemente direkter Demokratie, mit Ja- und Nein-Entscheidungen, ergänzen und dann meinen, wir hätten Demokratie. Demokratie hat zutiefst mit einem Gemeinwesen zu tun, hat damit zu tun, dass es Pressefreiheit gibt, dass es eine Beteiligung sonst nicht beteiligter Gruppen gibt,
({2})
hat damit zu tun, dass man nicht von einer Lügenpresse spricht, sondern sich einen freien Journalismus wünscht,
({3})
hat damit zu tun, dass in Parlamenten die Demokratie nicht geächtet, sondern gewürdigt wird.
({4})
All das ist Kern der Demokratie, meine Damen und Herren.
Deshalb gibt es ein drittes Prinzip, das wichtig ist, nämlich: Wo sind die Grenzen der Demokratie? Die Grenzen der Demokratie liegen in der Demokratie selbst. So einfach ist das.
({5})
Wenn Sie jetzt wieder in guter alter Tradition von 1933 bis 1945 – hier wurde schon einmal höhnisch gelacht in diesem Gebäude, einst im Reichstag – lachen,
({6})
übersehen Sie, dass diese Demokratie Ihnen allen ermöglicht hat, hier sitzen zu können.
({7})
Es ist auch gut, dass Sie hier sitzen können. Es ist eine demokratische Entscheidung.
({8})
Sie ermöglicht Ihnen die Redefreiheit, die wir hier erdulden können. Aber sie ermöglicht auch uns und mir, auch wenn Sie nicht zuhören, obwohl es Ihnen guttäte,
({9})
Ihnen entsprechend deutlich entgegnen zu können.
({10})
Sie weisen immer darauf hin, Sie wären die Repräsentanten des Volkes. Ich will es mir aber nicht so einfach machen, jetzt hier billig zu punkten.
({11})
Ich bekam heute ein Anschreiben, ich sollte Sie abwatschen. Das ist aber nicht nötig. Ich prüfe einfach Ihr Angebot. Sie stellen hier einen Antrag zur Einrichtung einer Enquete-Kommission „Direkte Demokratie auf Bundesebene“.
({12})
Das heißt, Sie erklären, dass Sie sich für die Demokratie einsetzen wollen. Sie haben aber in keiner Sekunde aus meiner Sicht deutlich gemacht, inwieweit Sie etwas mit Demokratie zu tun haben. In den Enquete-Kommissionen, in denen Sie in den Landtagen sitzen, ist aufgefallen, dass Ihre Mitglieder herzlich wenig zur demokratischen Meinungsbildung beigetragen haben. In Sachsen-Anhalt gab es im Jahr 2017 ein Positionspapier der AfD zur Enquete-Kommission zur Stärkung der Demokratie. Dort ist einerseits der Vorschlag gemacht worden, Ministerpräsidenten direkt zu wählen – das ist durchaus ein akzeptabler Vorschlag; man kann ihn teilen, man kann ihn nicht teilen –, andererseits ist vorgeschlagen worden, Legislaturen durch direkte Wahlen abbrechen zu können. Dann kommt der interessanteste Punkt. Der Kernpunkt ist nämlich die Stärkung der Rechte der Bürger, aber die Einschränkung der Rechte der Einwohner. Sie werden definiert als Leute, die hier nicht dauerhaft sind, die keinen festen Bezug zu diesem Land haben. Das ist nämlich der Kernpunkt. So wird aus dem Ganzen eine Geschichte. Wir hatten dank eines Antrags der Linksfraktion eine Anhörung zum Thema „direkte Demokratie“. Wodurch hat sich der von Ihnen eingeladene Sachverständige, Herr Vosgerau, ausgezeichnet?
({13})
Er hat vielleicht 20 Sekunden über das Wesen direkter Demokratie gesprochen. Dann hat er die ganze Restzeit über das Wahlvolk gesprochen und definiert, was dieses Wahlvolk sei, und begründet, dass Ausländer hier bloß nicht wählen sollten. Er verwies auf 1913, das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz und darauf, dass es das Wesen dieser Verfassung sei, dass wir ein Abstammungsprinzip hätten; interessanterweise.
({14})
Demokratie heißt also nach Ihrem Verständnis Abstammungsprinzip. Was heißt denn dann direkte Demokratie in diesem Zusammenhang?
({15})
Wer darf diese direkte Demokratie wahrnehmen?
({16})
Darüber hinaus machte er deutlich, dass diejenigen, die hier als Ausländer hinkommen, selbstverständlich Staatsangehörige werden könnten. Voraussetzung wäre aber – Sie können das im Protokoll nachlesen –, dass sie sich assimilierten. Da wird es doch spannend. Wir sprechen hier nämlich,
({17})
wenn Sie Anträge zur direkten Demokratie stellen, leider nicht über die Möglichkeiten, diese Demokratie zu erweitern, über mögliche Vorteile und Nachteile direkter Demokratie, sondern wir sprechen einfach darüber, wie Sie dieses Instrument instrumentalisieren wollen und die Bevölkerung dieses Landes – nein, nach Ihren Worten: das Volk dieses Landes, das nach Abstammung definiert ist – letztlich als Stimmvieh für die Abschaffung der Demokratie mit den Mitteln der Demokratie benutzen wollen. Das ist der Kern.
({18})
So gut und wichtig es ist, dass wir auch künftig über direkte Demokratie sprechen, können wir doch nicht ernsthaft, wenn die AfD-Fraktion einen Antrag zu direkter Demokratie einbringt, über diesen Grundskandal schweigen, der Grundskandal, der darin besteht, dass ein Kollege von mir bei einer Rede von Herrn Curio in Tränen den Saal verlassen hat,
({19})
weil er sich als schwarzer Deutscher zutiefst von ihm beleidigt gefühlt hat.
({20})
Die Tatsache, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundestages im Rahmen von Petitionen,
({21})
von Ihnen lanciert, bedroht und verängstigt wurden, ist eine Missachtung der Demokratie mit Mitteln der Demokratie.
({22})
Es war immer schon ein Zeichen autoritärer Demokratien, dass sie nicht Demokratien sind, sich aber den Anschein derselbigen geben sollen. Genau das ist der Punkt.
({23})
Die Undemokraten dieser Zeit nennen sich nicht Diktatoren und undemokratisch, nein, sie behaupten, sie seien Demokraten und sind es gerade nicht. Und Sie behaupten, Sie wollten die Rechte des Bürgers stärken, nein, Sie kennen keinen Citoyen. Was Sie kennen, ist nur, die Rechte derer, die Sie nicht als Bürger, nicht als Deutsche, nicht als Volk definieren, zu beschneiden. Das ist nicht mehr Demokratie, das ist Abschaffung von Demokratie.
({24})
Genau aus diesem Grund werden wir künftig selbstverständlich im Ausschuss und hier ernsthaft über direkte Demokratie diskutieren.
({25})
Aber Sie, die jeden Tag dem Herrn oder wem auch immer danken können, dass Sie dank der Demokratie hier sitzen können und dank der Demokratie und der Redefreiheit hier Rassistisches, Demokratiefeindliches verbreiten können, werden uns nicht belehren, was Demokratie ist. Nein, wir werden in der Demokratie nicht die Abschaffung der Demokratie, die Sie betreiben, befördern. Ohne uns!
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Gerald Ullrich.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die letzte Rede war ein klein wenig philosophisch. Ich möchte vielleicht ein kleines bisschen praktischer beginnen. Es wurde über 50-mal – zumindest habe ich bei 50 aufgehört, zu zählen – das Wort „Demokratie“ erwähnt.
({0})
Es ist sehr wichtig, dieses Wort zu erwähnen; aber wir müssen auch mal sehen, wie wir mit der ganzen Sache umgehen.
Ich möchte auch das Wort „Demokratie“ erwähnen. Und zwar möchte ich die grundlegende Frage stellen: Funktioniert eigentlich die Demokratie in unserem Land, oder funktioniert sie nicht? Ich persönlich bin der Meinung, sie funktioniert. Historisch betrachtet muss man die Frage eindeutig mit Ja beantworten; denn die Bürgerinnen und Bürger auf dem deutschen Staatsgebiet hatten noch nie so viele Mitwirkungsmöglichkeiten wie derzeit. In den Kommunen, in den Ländern und auch im Bund sind die Mitwirkungsmöglichkeiten so groß wie nie. Man kann es aber auch geografisch betrachten. Unter den über 200 Ländern, die es auf der Erde gibt, gibt es nur sehr wenige, in denen der Einzelne so viele Einflussmöglichkeiten hat wie hier bei uns. Unsere Botschaft ist deshalb: Wir machen bei der Schwarzmalerei nicht mit. Wir finden unser Staatssystem nicht perfekt, aber wir finden es ziemlich gut.
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Natürlich sind diese erfreulichen Erkenntnisse kein Grund, sich auszuruhen. Die viel besseren Informationsmöglichkeiten heutzutage tragen die gesellschaftlichen und die wirtschaftlichen Probleme viel schneller und viel näher als jemals zuvor an die Menschen heran. Das macht es nötig, neue Formen der Bürgerbeteiligung zu finden.
Was sind hierzu die Vorschläge der FDP? Wir wollen die Beteiligung in den Kommunen und in den Ländern ausbauen. Wir wollen auf Bundesebene die Einführung eines Bürgerplenarverfahrens erreichen. Das heißt, wenn eine Petition an den Deutschen Bundestag innerhalb von zwei Monaten zum Beispiel 100 000 Unterstützer oder mehr erreicht, soll sie als Tagesordnungspunkt im Plenum behandelt werden und in die fachlich zuständigen Ausschüsse überwiesen werden.
({2})
Diese übermitteln dann eine Stellungnahme mit einer Begründung an den Petitionsausschuss, wo die Petition weiter behandelt wird.
Wir wollen auch die Kompetenzen des Petitionsausschusses erweitern und die Beteiligungsmöglichkeiten der Petenten stärken. Es sollte nicht sein, dass die von uns an die Regierung weitergeleiteten Petitionen einfach so verpuffen, obwohl wir sie unter Umständen mit einem sehr hohen Votum versehen.
({3})
Ich will nicht verhehlen, dass ich direkter Demokratie auf Bundesebene nicht uneingeschränkt zustimme. Der Brexit hat uns gezeigt, dass eine falsche Fragestellung ein ganzes Land in ein Chaos stürzen kann. Der ursprüngliche Fehler, der uns in die heutige chaotische Situation gebracht hat, ist für mich die simplizistische Darstellung, die in der Frage beim Brexit-Referendum 2016 nach einem einfachen Bleiben oder Raus zum Ausdruck kam. Am Ende hat sich herausgestellt, dass die Fragestellung viel zu undifferenziert war, weil sie mit keinem Hinweis auf die Auswirkungen der einen oder der anderen Antwort verbunden war. Darunter haben wir heute stark zu leiden.
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Wäre der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU eine Parlamentsentscheidung gewesen, hätte man sie korrigieren können, und wir würden nicht so vor einem Chaos stehen wie jetzt, einem Chaos – ich denke, da geben Sie mir recht –, das mit Blick auf den Nordirland-Konflikt sogar zu Gewalt führen kann.
Zudem halte ich den Minderheitenschutz für eine wichtige Errungenschaft der Demokratie, und sie liegt mir besonders am Herzen.
({5})
In parlamentarische Verfahren fließen die Interessen von Minderheiten ein. Bei einem Volksentscheid besteht immerhin die Gefahr, dass sich die Mehrheit über die Minderheit hinwegsetzt und diese dann keine Möglichkeit mehr hat, ihre Interessen einzubringen oder sich in Kompromissen wiederzufinden, oder – noch schlimmer – dass eine gut organisierte Minderheit es schafft, sich gegen eine passive Mehrheit durchzusetzen.
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Beides führt zu Unzufriedenheit.
Zum Schluss möchte ich an Sie appellieren, im Rahmen der berechtigten Diskussionen über direkte Demokratie unser politisches System nicht schlechtzureden.
({7})
Wir haben in Deutschland keinen Mangel an Meinungsfreiheit. Im Gegenteil: Es gehört sogar zum guten Ton, die Regierung und die da oben in Berlin zu kritisieren. Wir kennen das, und wir sind es gewohnt. Ich wurde in einem Staat geboren, in dem das nicht so war. Das war auch mit ein Grund dafür, dass die DDR zugrunde gegangen ist. Die da oben wussten nicht mehr, was das Volk bewegt. Das ist bei uns nicht so. Jeder Politiker bekommt die Meinung der Bürger täglich über verschiedene Kanäle aufs Brot geschmiert.
({8})
Das macht unser System nicht labil, sondern stabil. Diskutieren wir also über mehr Demokratie. Lassen Sie uns aber bitte nicht unser demokratisches System schlechtreden; denn es funktioniert recht gut, wie wir hier im Parlament sehen.
Danke.
({9})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Straetmanns für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir als Fraktion Die Linke haben bereits mehrfach konkrete Vorschläge zur direkten Demokratie vorgelegt. Sie schlagen nun die Einsetzung einer Enquete-Kommission vor, und das, obwohl bereits die Bildung einer Kommission zu mehr Bürgerinnenbeteiligung angelaufen ist. Sonst schieben Sie so gern die Schonung der Geldbeutel von Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern vor, wenn es etwa um Ausgaben für Soziales geht; hier wollen Sie völlig ohne Not eine Doppelstruktur schaffen. Aber, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, es wird tatsächlich Zeit, dass diese Kommission endlich ans Arbeiten kommt.
({0})
Sie von der AfD wollen mit Ihrem Antrag einfach nur ein populäres Thema anschneiden, ohne sich die Mühe einer detaillierten Ausarbeitung machen zu müssen. Wenn ich mir Ihr Grundsatzprogramm so ansehe, dann können wir darüber eigentlich auch ganz froh sein. Sie zeichnen dort ein Schauerbild, das vorne und hinten nicht zusammenpasst. Den Abgeordneten hier im Haus werfen Sie vor, nur an Macht interessiert zu sein. Gleichzeitig behaupten Sie, der Bundestag würde ständig freiwillig und vor allem grundlos Kompetenzen – in Ihren Worten: Macht – an die EU abtreten. Das passt nicht zusammen.
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Und zu guter Letzt unterstellen Sie in Ihrer üblichen vulgären Litanei, dass wir hier die Interessen der Bevölkerung missachten würden.
Wissen Sie, es gab schon einmal die Ansicht, es gäbe ein organisches, homogenes Interesse eines deutschen Volkes.
({2})
Wo das hingeführt hat, wissen wir alle.
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Das Grundgesetz geht davon aus, dass in einem Willensbildungsprozess wettstreitende Meinungen diskutiert werden und sich so eine tragfähige Lösung entwickelt. Von einem unveränderlichen Volkswillen, der einfach nur festgestellt und implementiert werden muss, ist im Grundgesetz nicht die Rede, und den gibt es auch nicht.
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Ganz klar: Wir wollen eine deutliche Ausweitung direktdemokratischer Instrumente. Eine Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern am demokratischen Willensbildungsprozess, die über Wahlen hinausgeht, steht dabei für uns im Mittelpunkt. Wir wollen das, weil uns ein demokratisches und solidarisches Miteinander sehr am Herzen liegt.
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Das Ergebnis werden nicht immer alle toll finden, es ist aber transparent und nachvollziehbar.
Sie wollen das genaue Gegenteil. Sie wollen ein weiteres Instrument, um das Parlament und seine Arbeit zu torpedieren. Auf diesem Weg werden wir Ihnen nicht folgen.
({6})
Wir wollen Instrumente der direkten Demokratie als Ergänzung zu unseren existierenden Institutionen, nicht als deren Gegenspieler. Dabei muss sichergestellt werden, dass die Verfassungsmäßigkeit der Initiativen frühzeitig geprüft werden kann und dass – wie angesprochen – der Schutz von Minderheitenrechten stets gewährleistet ist.
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Zu guter Letzt möchte ich auf einen Punkt eingehen, der mir persönlich sehr wichtig ist. Besonders in der Phase der politischen Sozialisation werden die Einstellungen und das Verhalten der folgenden Lebensphasen vorgeprägt, und die beginnt nicht erst mit 18 Jahren. Wenn sich in diesem Alter ein Gefühl der Unwirksamkeit verfestigt, dann ist der Weg in die politische Apathie vorgezeichnet. Wir müssen den jungen Menschen endlich die Mitspracherechte geben, die ihnen zustehen.
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Warum Sie das nicht wollen, liegt auf der Hand: Die jungen Leute sind nicht so, wie Sie sie gerne hätten, wie man an den abwertenden Äußerungen aus Ihren Reihen zu den Fridays‑for‑Future-Protesten immer wieder vernehmen kann.
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Die falsche Gesinnung zu haben, ist aber ein schlechtes Argument dafür, jemanden von politischer Teilhabe auszuschließen. Genauso schlecht ist allerdings das von Ihnen stets vorgeschobene Argument, mit 16 sei man noch nicht so weit. Die durchschnittliche 16-Jährige ist wesentlich reifer als so mancher Abgeordneter in Ihren Reihen.
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Den Beweis dafür erbringen Sie mit Ihrem Gejohle und Gefeixe in jeder Sitzung in diesem Hause.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Canan Bayram.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in der Diskussion über den Antrag der AfD, in dem es eigentlich um die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Direkte Demokratie auf Bundesebene“ geht, sehr viele Themen behandelt, sodass man sich schlussendlich fragt: Was will die AfD mit dem vorliegenden Antrag eigentlich erreichen? Der Redner hat hier vorgetragen, dass er das Instrument der Enquete-Kommission spannend fand, das wolle die Koalition sowieso. Darauf hat er sich konzentriert. Weder in seiner Rede zur Einbringung noch heute hat er dargestellt, dass er das Instrument der Enquete-Kommission wirklich will. Wer Mitglied sein soll und wie die Kommission arbeiten soll, das wissen wir immer noch nicht.
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Dann hat der Kollege von der SPD die Vermutung geäußert, dass es der AfD überhaupt nicht um die Enquete-Kommission geht. Vielmehr sei die AfD auf der Suche nach einem Weg, die Demokratie zu benutzen, um sie eigentlich zu bekämpfen, auf die Idee mit der Enquete-Kommission gekommen. Irgendwie leuchtet das ein, aber dennoch müssen wir uns mit dem vorliegenden Antrag beschäftigen.
Ich will herausstellen, dass das Wesen der Enquete-Kommission ein Weg sein kann, aber von der AfD dazu wahrscheinlich kein Beitrag kommen wird. Der AfD-Redner hat deutlich gemacht, ihm gehe es darum, sich gegen die Europäische Union und gegen internationale Vereinbarungen abzusichern, indem das Volk vorher immer befragt werden muss, ob es sie überhaupt will. Es ist so absurd, das auch noch mit der Wahl bzw. mit der, wie ich finde, erfreulichen Nichtwahl der von Ihnen vorgeschlagenen Kandidatin zur Vizepräsidentin in diesem Haus zu verbinden.
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Wenn Sie sich hierhinstellen und so tun, als würden wir nicht verstehen, was Sie wollen, wenn Sie hier reden, wie Sie reden, dann frage ich mich: Ja, was denken Sie eigentlich? Ich sitze im Unterausschuss Europarecht und höre mir ständig an, was Ihr Kollege zu Europa sagt. Es ist doch klar, dass Sie gegen Europa sind.
({2})
Es ist doch klar, dass Sie die Bundesrepublik in der jetzigen Form faktisch so bekämpfen wollen, dass eine europäische Entwicklung nicht erfolgen kann. Ich sage Ihnen für meine Fraktion ganz klar: Wir sind dagegen. Wir bekämpfen nicht nur jeden, der unsere Demokratie bekämpft, wir bekämpfen auch jeden, der Europa bekämpft. Deswegen bekämpfen wir Sie.
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Schlussendlich muss man sagen: Direkte Demokratie ist eine Supersache. Wir sind auch dafür und haben schon mehrere Anträge dazu eingebracht. Wir sind für eine direkte Demokratie zusätzlich zur repräsentativen Demokratie, und wir sind für den Schutz von Minderheiten innerhalb dieses Systems.
({4})
Aber der AfD geht es weder um Demokratie
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noch um direkte Demokratie noch um Menschen, die Deutsche sind und sozusagen in ihrer Ganzheit die Buntheit der Deutschen repräsentieren. Ihnen geht es nur um sich selbst, und deswegen kann Sie hier keiner leiden.
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Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Christoph Bernstiel.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir reden zu recht fortgeschrittener Stunde über das Thema „direkte Demokratie“ und über Möglichkeiten, wie wir unsere Bürger besser an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben lassen können. Das ist grundsätzlich positiv. Doch wenn wir über dieses Thema reden, dann müssen wir eine zentrale Frage ganz am Anfang klären, und zwar: Gibt es überhaupt einen Mehrwert von Volksentscheiden auf Bundesebene? Der vorliegende Antrag der AfD soll suggerieren, dass dem so wäre. Deutschland hätte demnach ein Defizit an Abstimmungs- und Beteiligungsmöglichkeiten. Die Wahlbeteiligung sinkt dadurch, und die Politikverdrossenheit steigt. Dieser Logik kann ich leider nicht ganz folgen; denn wir haben bereits, wie schon erwähnt, zahlreiche Instrumente, die es ermöglichen, sich außerhalb eines Parlaments oder einer Kommunalvertretung in die politischen Prozesse einzubringen. Als Beispiel nenne ich Volksentscheide, Bürgerbegehren, Einwohnerfragestunden, Bürgerinitiativen, das Petitionsrecht oder auch das Einspruchsrecht bei Bebauungsplanverfahren; das sage ich in Richtung der Grünen.
Die soeben genannten Instrumente sind weiß Gott nicht nur graue Theorie, ganz im Gegenteil: Sie erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Prominente Beispiele sind die Abstimmung über die Bebauung des Tempelhofer Flughafens hier in Berlin oder das Volksbegehren „Rettet die Bienen“ in Bayern. In meinem Wahlkreis gab es zur Bundestagswahl 2017 einen Bürgerentscheid über die Erhaltung eines Hochhauses. Man könnte demzufolge stumpf schlussfolgern: Volksentscheide auf Bundesebene sind eine gute Idee. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht; denn kaum eine Entscheidung hier im Deutschen Bundestag ist so einfach, dass sie sich auf eine Ja/Nein-Entscheidung reduzieren ließe. In der Regel geht es doch eher um komplexe Themen mit weitreichenden Auswirkungen.
({0})
Hinzu kommt die Frage: Wie gehen wir eigentlich mit den Interessen von Minderheiten um? Stellen Sie sich vor: Was würde eigentlich passieren, wenn alle alten Menschen gegen alle junge Menschen in diesem Land abstimmen würden? Was würde passieren, wenn sich alle westdeutschen Länder zusammenschließen und gegen alle ostdeutschen Länder abstimmen würden?
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, in der wir leben, geht es nicht darum, das Recht der Stärkeren durchzusetzen, sondern es gilt der Grundsatz des Interessenausgleichs. Wer den Eindruck erweckt, dass man über komplexe Fragen abstimmen kann, ohne über die Konsequenzen nachdenken zu müssen, der hat das Wesen unserer Demokratie nicht verstanden.
({2})
Apropos Wesen unserer Demokratie. Wenn man Ihren Antrag liest, dann stellt man sich die Frage: Welches Ziel verfolgen Sie eigentlich? Geht es Ihnen tatsächlich um mehr Bürgerbeteiligungsmöglichkeiten, oder wollen Sie vielleicht nur ein neues Werkzeug in Ihrem populistischen Werkzeugkoffer haben, um Ihre bevorstehende Dexit-Kampagne vorzubereiten?
({3})
Schon der ehemalige Bundespräsident Theodor Heuss warnte davor – und ich zitiere –, dass die direkte Demokratie „eine Prämie für jeden Demagogen“ ist. Leider zeigt die aktuelle Brexit-Debatte, wie viele meiner Vorredner bereits erwähnt haben, dass diese Warnung nach wie vor mehr als begründet ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir von der Unionsfraktion stehen für direkte Demokratie auf kommunaler Ebene und auf Landesebene. Wir befürworten die repräsentative Demokratie. Die hier vielfach erwähnte Expertenkommission wird dafür sorgen, das Format mit weiteren Beteiligungsmöglichkeiten zu ergänzen. Anträge hingegen, die das Ziel verfolgen, unsere Bevölkerung zu spalten oder sie aufzuhetzen, lehnen wir kategorisch ab. Deshalb werden wir konsequent gegen Ihren Antrag stimmen.
({4})
Zum Schluss noch eine gute Nachricht: Meine verbleibende Redezeit stifte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung.
Herzlichen Dank.
({5})
Das sind genau 25 Sekunden, die aber trotzdem dankend entgegengenommen werden. Beim nächsten Mal sollten Sie großzügiger sein.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich für die Fraktion der CDU/CSU.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stimmen heute formal darüber ab, ob wir auf Antrag der Fraktion der AfD eine sogenannte Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages einsetzen sollen oder nicht. Ein Blick in § 56 der Geschäftsordnung des Bundestages zeigt, dass Enquete-Kommissionen bei umfangreichen und bedeutsamen Sachkomplexen eingesetzt werden können. So weit, so gut.
In Ihrem vorliegenden Antrag fordern Sie von der AfD, dass die Enquete-Kommission zwar unverzüglich eingesetzt werden soll, aber bereits bis zur parlamentarischen Sommerpause 2019, also innerhalb von zwei Monaten, Ergebnisse vorlegen soll. Wie passt denn „umfangreich, bedeutsam und komplex“ mit zwei Monaten zusammen? Entweder Sie nehmen die Einrichtung einer Enquete-Kommission nicht ernst, oder Sie interessieren sich nicht für dieses Thema. Beides belegt mangelnden Respekt vor diesem Parlament.
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Ich bitte Sie, auch zur Kenntnis zu nehmen, dass das System der direkten Demokratie in unserem föderalen Staatsaufbau natürlich unterschiedlich gehandhabt wird. Wir haben zu Recht direktdemokratische Elemente auf kommunaler Ebene und auch auf Ebene der Länder. Auf Bundesebene ist zu Recht mit guten Gründen darauf verzichtet worden. Ein Argument, das uns gerade vor dem Hintergrund des föderalen Staatsaufbaus wichtig ist, ist hier noch nicht gefallen. Das Grundgesetz garantiert die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes, und zwar durch die Vertreter der Länderregierungen im Bundesrat, als Bundesstaatsprinzip in Artikel 79 mit der Ewigkeitsgarantie versehen. Wir müssen also fragen: Wie können wir auf der einen Seite die Mitwirkungsrechte der Länder sichern und gleichzeitig auf der anderen Seite mit direkter Demokratie genau diese Mitwirkungsrechte gegebenenfalls gefährden? Ich glaube, dass der föderale Staatsaufbau ein wichtiger Grund ist, über den wir sprechen sollten.
Außerdem haben Sie das große Problem, dass ein Plebiszit letzten Endes immer in einer Ja-oder-Nein-Entscheidung endet. Das Argument darf nicht allein sein, dass es sich um komplexe Sachverhalte handelt. Ja, wir trauen unseren Bürgern zu, dass sie auch komplexe Sachverhalte verstehen; gar keine Frage. Aber das große Problem besteht darin, dass ein Volksentscheid in einer Ja-oder-Nein-Entscheidung mündet und ein Kompromiss letzten Endes nicht möglich ist. Und wenn ein Kompromiss nicht möglich ist, befinden Sie sich in der Sackgasse. Wie das aussieht, können Sie jeden Tag in Großbritannien beobachten.
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Der Kompromiss ist nicht die Schwäche der Demokratie, sondern ihre Stärke. Der Kompromiss ist deswegen die Stärke, weil er die unterschiedlichen Meinungen zusammenbringt, weil er auf der einen Seite Minderheitenschutz garantiert und auf der anderen Seite unterschiedliche Interessen bündelt. Das bekommen Sie oftmals nicht in eine Ja-oder-Nein-Frage gepresst. Wer das tun möchte, für den ist eine Volksabstimmung auf Bundesebene nichts anderes als ein Vehikel zu einer populistischen Politik, die die Menschen und dieses Land spaltet. Das mag Ihre Politik sein. Unsere Politik ist aber, die Menschen in diesem Land zusammenzuführen. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Dr. Frauke Petry, fraktionslos, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben. Wir sind damit am Ende der Debatte. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat zu dem Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Einsetzung einer Enquete-Kommission ,Direkte Demokratie auf Bundesebene‘“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5946, den Antrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/1699 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Dagegen stimmt die AfD. Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit großer Mehrheit angenommen und der Antrag der AfD abgelehnt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung den Gesetzentwurf für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung. Im Gegensatz zu vielen Projekten, die Gesundheitsminister Jens Spahn schon auf den Weg gebracht hat, verlaufen die Debatten um diesen Gesetzentwurf relativ ruhig und in geordneten Bahnen.
Das hat auch seinen Grund. Wir haben im Bereich der Arzneimittelpolitik und Arzneimittelversorgung eine vernünftige Balance unterschiedlicher Interessen hergestellt. Wir haben es geschafft, dass Patienten schnellstmöglichen Zugang zu Innovationen haben. Wir stellen sicher, dass höhere Preise für Arzneimittel nur gezahlt werden, wenn sie mit einem echten Mehrwert für die Patienten einhergehen, und die Unternehmen haben Planungssicherheit über Jahre hinaus. Gemeinsam mit dem System der Rabattverträge und den Festbeträgen ist das ein solides Fundament. Dennoch haben uns gewisse Vorgänge im Sommer letzten Jahres aufgeschreckt, die deutlich gemacht haben, dass wir am Ball bleiben müssen. Es ging um unsaubere Herstellungsprozesse – der Fall Valsartan –, es ging um Fälschungen, die über Importe nach Deutschland kamen – der Fall Lunapharm –, und es ging schlicht und ergreifend um kriminelle Handlungen, um Machenschaften eines einzelnen Apothekers in Bottrop.
Nun ist es nicht so, dass der gesetzliche Rahmen nicht funktioniert bzw. wir keinen klugen Rahmen haben. Wir haben in den letzten Jahren auch im Bereich der Arzneimittelsicherheit vieles auf den Weg gebracht. Auf der europäischen Ebene haben wir das Pharmakovigilanz-System geschaffen, das es ja erst ermöglicht hat, relativ schnell auf diese Fälle zu reagieren. Vor zwei Jahren haben wir sichergestellt, dass die Rückverfolgbarkeit bis hin zu einzelnen Chargen gewährleistet ist. Außerdem haben wir in den letzten Wochen securPharm auf den Weg gebracht, das noch einmal ein zusätzliches Maß an Sicherheit bringt. Trotzdem spüren wir, dass das nicht ausreicht. Deswegen erweitern wir mit diesem Gesetzentwurf die Handlungsmöglichkeiten der Behörden noch einmal. Wir stärken die Koordinierung zwischen Bund und Ländern. Wir geben den Krankenkassen die Möglichkeit, bei Qualitätsmängeln gegen die Hersteller vorzugehen. Wir schützen auch die Patienten, und zwar sowohl vor ungerechtfertigter finanzieller Inanspruchnahme als auch davor, dass sie mit solchen Arzneimitteln versorgt werden. Da bedarf es einer schnellen Reaktion der Krankenkassen. Wie gesagt, glaube ich, dass wir hier einen vernünftigen Rahmen gesetzt haben.
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Im laufenden Gesetzgebungsverfahren werden wir zwei Themen noch einmal aufgreifen müssen. Zum einen handelt es sich dabei um das Thema „Lieferengpässe, Liefersicherheit“. Zum anderen müssen wir uns mit der Frage der Transparenz auseinandersetzen: Wie können wir auch in Bezug auf die Herstellungsprozesse den Patienten noch besser schützen und ihn in die Lage versetzen, nachzuverfolgen, woher das einzelne Medikament kommt?
Zum Schluss will ich noch ein Thema ansprechen, das viele bewegt, die Hämophilieversorgung,
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bei der wir den Vertriebsweg verändern, weshalb es viel Verunsicherung gibt. Ich glaube, dass wir im Gesetzentwurf eine gute Lösung gefunden haben. Trotzdem möchte ich deutlich machen, dass wir uns in den nächsten Wochen intensiv mit den Argumenten auseinandersetzen werden, die uns von betroffenen Patienten entgegengebracht werden. Es ist ein heikles Thema. Hier geht es um schwerst erkrankte Menschen. Ihnen wollen wir garantieren, dass wir eine gute Versorgung sicherstellen. Ich glaube, dass der Rahmen funktioniert. Wir sind aber für Gespräche offen und werden dieses Thema auch sehr ausführlich und intensiv beraten.
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Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Bevor wir in der Debatte fortfahren, möchte ich mitteilen, dass Bundesminister Jens Spahn sowie die Abgeordneten Martina Stamm-Fibich, Christine Aschenberg-Dugnus, Kordula Schulz-Asche und Bärbel Bas ihre Reden zu Protokoll gegeben haben.
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Nächster Redner ist der Kollege Detlev Spangenberg für die AfD.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die AfD beantragt, alle Arzneimittel auf die krebserregende Verunreinigung mit N-Nitrosodimethylamin, kurz NDMA, zu untersuchen. Mit der Meldung des Arzneimittelherstellers Zhejiang Huahai Pharmaceutical über die Verunreinigung in einem Sartane-Wirkstoff haben wir es mit einem vielleicht noch nicht abschätzbaren Problem zu tun, nämlich der Verunreinigung von blutdrucksenkenden Mitteln durch Nitrosamine, welche in Verdacht stehen, kanzerogen zu wirken, also krebserregend zu sein. Außerdem sollen diese DNA-Mutationen hervorrufen können. Das ist das Problem, was hierbei infrage kommt.
Zutage kam diese Verunreinigung durch eigene, von der Herstellerfirma durchgeführte Untersuchungen. In der Risikobewertung wird auf die Stellungnahme des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM, vom 1. Februar 2019 ausdrücklich hingewiesen, worin festgestellt wird – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:
Im Risikobewertungsverfahren wurde eine konservative Einschätzung zum möglichen Krebsrisiko zugrunde gelegt und kam zu folgendem Schluss: Wenn 100 000 Patienten NDMA verunreinigtes Valsartan von Zhejiang Huahai (Herstellungsstätte, bei der die höchsten Mengen an Verunreinigungen gefunden wurden) jeden Tag für 6 Jahre in der höchsten Dosis eingenommen hätten, könnte dies 22 zusätzliche Krebsfälle über die Lebenszeit dieser 100 000 Patienten bewirken.
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Meine Damen und Herren, diese neuerdings aufgetretene Verunreinigung kam angeblich durch geänderte Herstellungsverfahren bei dem chinesischen Produzenten zustande. Wenn nun gefordert wird, dass die Hersteller strengere Kontrollen durchführen, um Verunreinigungen zu erkennen bzw. zu vermeiden, dann ist natürlich nicht nachvollziehbar, dass den Herstellern eine Übergangsfrist von zwei Jahren eingeräumt wird, um die Auflagen zu erfüllen. Das ist auch insofern unverständlich, da es Medikamente gibt, bei denen diese krebserregenden Stoffe nicht nachgewiesen wurden. Ich beziehe mich auf die Liste der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker. In der letzten Ausgabe der „Apothekerzeitung“ stand, dass jede Menge, auch die kleinste Menge dieses Stoffes schädlich sein kann.
Dieser Fall, meine Damen und Herren, bedeutet, dass grundsätzlich nicht auszuschließen ist, dass auch in anderen Arzneimitteln derartige gefährliche Stoffe vorhanden sind. Daraus folgt, dass es unbedingt notwendig ist, unmittelbar alle Arzneimittel, die sich als Rückstellmuster bei den Herstellern befinden, in diese Richtung noch einmal zu überprüfen.
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Der Fall Lunapharm wurde schon angesprochen. Er hat gezeigt, dass die Patientensicherheit in Deutschland keinesfalls gesichert ist. Dem Unternehmen Lunapharm wird vorgeworfen, in Griechenland gestohlene Arzneimittel in Deutschland weitervertrieben zu haben.
Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung – Entwurf eines Gesetzes für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung – beinhaltet natürlich sinnvolle Vorstöße, keine Frage. Vor allem die Entschädigung von Patienten bzw. Krankenkassen im Falle von zurückgerufenen Arzneimitteln und dass die Rückrufkompetenz in die Verantwortung des Bundes gelegt werden soll, ist ausdrücklich zu begrüßen. Allerdings fehlt in der jetzigen Fassung im Gegensatz zur allerersten Version des Gesetzentwurfs, der nur für auffallend kurze Zeit im Netz veröffentlicht wurde, die Streichung der Importquote für Arzneimittel. Die Linken haben ja einen ähnlichen Antrag eingebracht, in dem das im letzten Satz noch einmal betont wird.
Die Streichung der Importquote für Arzneimittel ist inzwischen allerdings dringend geboten. Wir als AfD-Fraktion haben dieses Problem bereits in Drucksache 19/6419 vom Dezember 2018 angesprochen. Die Importquote schafft mehr Nachteile, als sie Nutzen in Form einer Kosteneinsparung mit sich bringt; auch das wurde festgestellt. Außerdem bedeutet sie eine gesetzlich auferlegte Benachteiligung von deutschen Pharmazeutikaherstellern. Dazu werden internationale kriminelle Machenschaften bezüglich Medikamentenbeschaffung und -handel gefördert. Man denke, wie gesagt, an Lunapharm. Ganz wichtig ist, meine Damen und Herren: Die Importquote führt uns in einem ganz sensiblen Bereich, der Medikamentenversorgung, gesetzlich verordnet und somit systematisch in die Abhängigkeit von Billigproduzenten aus dem Ausland. Damit wird ein Teilboykott gegen die eigene Industrie ausgeübt. Das kann nicht sinnvoll und auch nicht richtig sein.
Außerdem sollen sich aus dem 2011 eingeführten AMNOG-Verfahren Preisreduzierungen ergeben, womit die Billigimporte sowieso an Bedeutung verlieren. Diese Problematik hat dankenswerterweise auch der Bundesrat erkannt. In der Stellungnahme auf Drucksache 53/1/19 zum vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung stellt der Bundesrat diese Importquote ausdrücklich ebenfalls infrage.
Die AfD vertritt den Standpunkt, dass die Sicherheit der Versorgung grundsätzlich zu gewährleisten ist, indem wir unabhängig von Herstellern aus dem Ausland sind und uns selbst versorgen können. Wir fordern die Abschaffung der Importquote. Wir fordern mit unserem Antrag eine gesetzliche Regelung, die sicherstellt, dass pharmazeutische Unternehmen ihre Rückstellmuster auf Verunreinigungen mit Nitrosaminen untersuchen müssen und die Untersuchungsergebnisse den zuständigen Überwachungsbehörden vorzulegen haben.
Recht vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Da inzwischen auch die Kollegen Sylvia Gabelmann und Emmi Zeulner ihre Reden zu Protokoll gegeben haben, war Herr Spangenberg der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. Ich schließe also die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/8753, 19/8988 und 19/8962 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz. Unsere Soldaten und Soldatinnen dienen in Afghanistan, in Mali, am Horn von Afrika, im Mittelmeer, und sie tun das unter Gefahr für Leib und Leben. Die Bundesminister der Verteidigung verleihen ihnen als Dank dafür seit 1996 die Einsatzmedaille der Bundeswehr. Ein Ehrenzeichen wie diese Einsatzmedaille soll nicht nur Dank ausdrücken, sondern auch motivieren.
Beide Zwecke, Dank und Motivation, sollen inhaltlich wie zeitlich in einem inneren Zusammenhang mit dem Stiftungszweck stehen. Deshalb hat die politische und militärische Leitung des Verteidigungsministeriums mit Bedacht den bisher gültigen Stichtag für die Einsatzmedaille gewählt, den 30. Juni 1995, zeitnah zum Stiftungserlass von 1996. An diesem Tag, 30. Juni 1995, hat der Deutsche Bundestag erstmals nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einen Einsatz bewaffneter Kräfte beschlossen – in Bosnien-Herzegowina.
Ich habe dennoch eine gute Nachricht für die Opposition, aber vor allem für die Bundeswehr: Auf Initiative des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages hat die Bundesministerin der Verteidigung entschieden, den Stichtag für die Verleihung der Einsatzmedaille vom 30. Juni 1995 auf den 1. November 1991 vorzuverlegen. Damit können vor allem die Teilnehmer des Einsatzes UNOSOM in Somalia während der 90er-Jahre auf Antrag nachträglich mit einer Einsatzmedaille der Bundeswehr gewürdigt werden. Insofern ist der Antrag der FDP erledigt.
({0})
Vor einem anderen historischen Hintergrund steht die Einsatzmedaille Gefecht. Die Einsatzbedingungen haben sich seit dem 11. September 2001 grundlegend gewandelt. Es gab gefährliche Gefechte, vor allem in Afghanistan. Soldaten sind gefallen oder wurden verwundet. Um diese hohe Gefährdung zu würdigen, hat der damalige Bundesminister der Verteidigung 2010 die Einsatzmedaille Gefecht gestiftet. Der Stichtag dieser Einsatzmedaille Gefecht ist der 28. April 2009. An diesem Tag ist der Hauptgefreite Sergej Motz als erster Soldat der Bundeswehr in einem Gefecht gefallen. Dieser Tag steht für das Andenken an den Tod des Hauptgefreiten Motz und symbolisch für den qualitativen Wandel der Auslandseinsätze, für die gestiegene Gefährdung.
Die FDP hat beantragt, das Verleihungskriterium „Gefecht“ zu definieren. Die Definition im Stiftungserlass von 2010 für die Einsatzmedaille Gefecht wurde aber bewusst auslegungsfähig gewählt. Ich darf zitieren:
Die auszuzeichnende Person hat mindestens einmal aktiv an Gefechtshandlungen teilgenommen oder unter hoher persönlicher Gefährdung terroristische oder militärische Gewalt erlitten.
Damit ist dem vorschlagenden Vorgesetzten bewusst ein Ermessensspielraum eingeräumt worden, weil künftige Lagen, Bedrohungen durch neue Waffen, die Umstände von Gefechten auf See oder in der Luft nicht lückenlos antizipiert werden können. Im Übrigen ist ein Stiftungserlass nach geübter Praxis im Ordensrecht für Jahrzehnte in die Zukunft angelegt. So wurde beispielsweise das Statut des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland seit 1955 bisher nur ein Mal geändert.
Zu guter Letzt möchte die FDP-Fraktion die Verleihung der Einsatzmedaille an Angehörige ausländischer Streitkräfte beschleunigen. Dazu braucht es aber die Mitwirkung nicht nur des Verteidigungs-, sondern auch des Außenministeriums und der Regierungen der Staaten, denen die Auszuzeichnenden angehören. Insofern können wir ihnen nicht vorschreiben, diese Verleihungsvorschläge schneller zu prüfen.
Man kann über Stichtage und Verfahrensbeschleunigungen sicher streiten. Aber wichtiger sollte uns sein, dass wir gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die Soldaten von uns allen, vom Bundestag und von unserer Gesellschaft, die Anerkennung und Aufmerksamkeit erfahren, die sie verdienen.
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Das öffentliche Gelöbnis, das auch in diesem Jahr am 20. Juli wieder stattfinden wird, ist ein guter Anfang. Und ich persönlich würde es sehr begrüßen – persönlich –, wenn dieses Gelöbnis künftig auch wieder vor diesem Reichstagsgebäude stattfinden würde.
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Hier drinnen entscheiden wir über den Einsatz der Bundeswehr. Dort draußen steht auf dem Westportal die Inschrift „Dem deutschen Volke“, aus geschmolzenen Kanonen gegossen. Wo, wenn nicht hier, sollte ein Gelöbnis stattfinden, in dem unsere Rekruten das Versprechen ablegen, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen?
Ich danke Ihnen.
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Nächster Redner ist der Kollege Jan Nolte für die AfD.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich zuerst ein Wort an Sie richten, Herr Staatssekretär: Stichtag für die Gefechtsmedaille ist der 29. April 2009, nicht der 28.
Die Einsatzmedaillen in ihren drei Stufen und die Gefechtsmedaille als eine Sonderform der Einsatzmedaille sollen die Leistungen würdigen, die unsere Soldaten im Einsatz erbracht haben. Wer sich für die Bundeswehr in den Einsatz begibt, der setzt sich nicht nur einer Gefahr aus, sondern erduldet auch Härten. Nicht alle Opfer, die unsere Soldaten für uns erbringen, lassen sich quantifizieren und in plakativen Statistiken darstellen. Wir wissen nicht, wie viele Ehen an Auslandseinsätzen kaputtgegangen sind. Wir wissen nicht, wie viele Soldaten die wichtigsten Momente im Leben ihrer Kinder verpasst haben oder wie vielen Soldaten, während sie im Auslandseinsatz gewesen sind, die Wohnung leergeräumt wurde. Es ist daher das Mindeste, unsere Soldaten für ihre Einsatzzeit zu würdigen.
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Auch die Gefechtsmedaille zu stiften, war vollkommen richtig. Sie würdigt besonders gefährliche Situationen, die für die Betroffenen lebenslange Folgen haben können und die mancher Soldat tragischerweise nicht überlebt hat. Sie kann auch posthum verliehen werden.
Man kann kaum ein konsequenterer Demokrat sein als der Soldat, der im Vertrauen auf dieses Parlament bereit ist, das eigene Leben einzusetzen.
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Dass wir solche Männer und Frauen in Deutschland haben, muss uns stolz machen. Es geht aber auch eine große Verantwortung damit einher, und wer die ernst nimmt, kann doch nicht so kleinlich sein, hier auf solchen Stichtagen zu beharren.
CDU/CSU und SPD sagen ja, der Antrag sei unnötig, weil der Stichtag vorverlegt worden sei – wir haben es eben gehört –, von 1995 auf 1991. Damit haben sie den Somalia-Einsatz jetzt abgedeckt. Aber zum Beispiel die Operation Südflanke, in deren Rahmen wir Seeminen geräumt haben, oder die Operation Ace Guard zum Schutz der Türkei sind immer noch außen vor.
Ein noch deutlicheres Bild ergibt sich ja für die Gefechtsmedaillen, Stichtag 29. April 2009. Es gibt zahlreiche auszeichnungswürdige Vorfälle, die sich vorher ereignet haben. Hier soll derselbe Vorfall unterschiedlich bewertet werden, nur in Abhängigkeit davon, an welchem Datum er sich ereignet hat. Dafür können Sie von unseren Soldaten kein Verständnis erwarten.
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Ich glaube, den Soldaten ist schon klar, dass man nicht jedes Problem, das die Bundeswehr hat, von heute auf morgen lösen kann. Manches braucht einfach Zeit, und manche Flaschenhälse wie die Kapazität der Industrie kann man politisch auch nur bedingt beeinflussen. Aber wenn der Stichtag für die Einsatzmedaille durch das BMVg mal eben vorverlegt, vier Jahre zurückdatiert werden konnte, dann frage ich mich, warum Sie die Chance nicht genutzt haben, die Stichtage gleich ganz abzuschaffen. Das wäre Ihnen möglich gewesen. Sie hätten es tun können, aber Sie wollten es nicht tun. Das ist unseren Soldaten einfach nicht vermittelbar.
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Dem Antrag der FDP stimmen wir zu. Er ist ja sinnvoll. Aber, liebe Kollegen, konsequente Politik im Sinne der Soldaten machen Sie damit noch nicht. Hören Sie auf, regelmäßig für die Teilnahme an gefährlichen Auslandseinsätzen zu stimmen, die kein klares nationales Interesse verfolgen und kein klares Konzept haben. Unsere Soldaten sind keine außenpolitische Verhandlungsmasse, und die Bundeswehr ist kein Weltpolizist.
Um einen Einsatz würde ich die Bundeswehr dann aber schon bitten. Schauen Sie, ob Sie nicht mal ein paar Ihrer Jugendoffiziere in der Hippiekommune der SPD Berlin vorbeischicken können. Erklären Sie denen, was die Bundeswehr ist und was sie tut. Vielleicht bleiben wir dann in Zukunft von peinlichen Parteitagsanträgen verschont.
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Die Abgeordneten Dr. Karl-Heinz Brunner, Matthias Höhn, Dr. Tobias Lindner, Kerstin Vieregge, Wolfgang Hellmich und Eckhard Gnodtke haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
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Der letzte Redner in dieser Debatte ist deshalb Alexander Müller, FDP.
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Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Aber vor allem: Liebe Soldatinnen und Soldaten! An diesem Dienstag jährte sich das Karfreitagsgefecht und damit der Tod von drei Bundeswehrsoldaten zum neunten Mal. Unsere Gedanken sind den Gefallenen, deren Angehörigen, aber auch den überlebenden und auch den aus dem Einsatz zurückgekehrten Kameraden gewidmet.
Seit ihrer Gründung ist die Bundeswehr eine Armee im Einsatz. Der erste Auslandseinsatz fand 1960 statt. Ziel war damals die humanitäre Hilfe für die von einem Erdbeben zerstörte marokkanische Stadt Agadir. Seit diesem ersten Mal nahm die Bundeswehr an über 130 weiteren Einsätzen teil. Unsere Soldatinnen und Soldaten riskieren für die Sicherheit unseres Landes ihr Leben, und dafür verdienen sie unseren Respekt und unseren Dank.
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Als Zeichen der Wertschätzung wurde 1996 die Einsatzmedaille der Bundeswehr gestiftet sowie 2010 die Einsatzmedaille Gefecht. Mit diesen Auszeichnungen werden ihre Leistungen gewürdigt; aber es gibt eine Stichtagsregelung seitens der Bundesregierung – wir haben es schon gehört –, die willkürlich und ungerecht ist. Seit 2014, Herr Staatssekretär, weist der Wehrbeauftragte des Bundestages regelmäßig darauf hin – Sie haben ja so getan, als wäre das eine neue Idee –, dass die Vergabepraxis bei den Medaillen ungerecht ist; denn der Stichtag für die Verleihung der Einsatzmedaille ist der 30. Juni 1995, obwohl auch vor diesem Tag Angehörige der Bundeswehr im Einsatz waren. Um sich dieser Problematik anzunehmen, haben wir als FDP-Fraktion im November 2018 den heute abzustimmenden Antrag auf den parlamentarischen Weg gebracht.
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Vor drei Wochen schließlich erfuhren wir auf der vorletzten Seite eines Lageberichts quasi nebenbei, dass die Verteidigungsministerin in der Stichtagsfrage endlich aktiv geworden ist. Die Koalition verfährt wie vor kurzem bei unserem Antrag, die Invictus Games nach Deutschland zu holen: Zuerst lehnt man unsere Initiative ab, um kurz darauf einen identischen eigenen Antrag der Koalition als tolle Idee feiern zu lassen.
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Der Lösungsvorschlag der Ministerin ist jedoch keine Lösung. Der Stichtag für die Verleihung der Einsatzmedaille soll auf den 1. November 1991 vorverlegt werden. Ein willkürlicher Stichtag wird durch einen anderen willkürlichen Stichtag ersetzt. Damit soll zwar erstmals die Leistung der Teilnehmer des Einsatzes in Somalia gewürdigt werden, allerdings nicht zum Beispiel die Leistung des Kontingents in Namibia Ende der 80er-Jahre. Verdient deren Einsatz weniger Anerkennung?
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Haben die Betroffenen weniger geleistet als diejenigen, die nach 1991 im Einsatz waren?
Schlimmer noch stellt sich die Lage bei der Einsatzmedaille „Gefecht“ dar. Für sie gilt der Stichtag 28. April 2009. Allerdings haben deutsche Soldatinnen und Soldaten auch vor diesem Tag an Gefechten teilgenommen, zum Beispiel am 13. Juni 1999, als deutsche Soldaten in Prizren im Kosovo in ein Feuergefecht verwickelt wurden. Ist denn ein Gefecht, das vor diesem Stichtag stattfindet, wirklich anders zu bewerten als ein später stattfindendes?
Wir Freien Demokraten wollen mit unserem Antrag endlich Gerechtigkeit bei der Verleihung von Einsatzmedaillen der Bundeswehr herstellen.
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Wir fordern erstens die Abschaffung der Stichtage und zweitens, für die Verleihung der Einsatzmedaille Gefecht explizit zu definieren, was denn genau ein Gefecht ist. Bisher ist beispielsweise unklar, ob ein terroristischer Angriff ein Gefecht im Sinne des Erlasses darstellt.
Unsere Soldatinnen und Soldaten riskieren in unserem Auftrag ihr Leben im Dienst für die Sicherheit unseres Landes. Das Mindeste, was wir für sie tun können, ist, ihren Einsatz angemessen zu würdigen.
Ich lade Sie alle ein: Stimmen Sie für diesen Antrag. Verstecken Sie sich nicht länger hinter den Ausreden für willkürliche Stichtage. Lassen Sie auch den Angehörigen unserer Parlamentsarmee die verdiente Ehrung zukommen, die in früheren Jahren alles für uns riskiert haben.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der FDP mit dem Titel „Gerechtigkeit bei Verleihung von Einsatzmedaillen der Bundeswehr herstellen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8588, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/6055 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Fraktionen Die Linke, SPD und CDU/CSU. Gegenprobe! Wer ist gegen diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Fraktionen der AfD, der FDP und der Grünen. Das Erste war die Mehrheit, und deshalb ist die Beschlussempfehlung angenommen und der Antrag abgelehnt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf zur Anpassung der Betreuer- und Vormündervergütung setzen wir die Vorgaben des Koalitionsvertrags um, die Finanzierung der unverzichtbaren Arbeit der Betreuungsvereine in Zusammenarbeit mit den Ländern zu stärken und für eine angemessene Vergütung der Berufsbetreuer zeitnah Sorge zu tragen.
Der Gesetzentwurf sieht hierzu eine Erhöhung der seit mehr als 13 Jahren unveränderten Vergütung der beruflichen Betreuerinnen und Betreuer um durchschnittlich 17 Prozent im Rahmen eines modernen Systems von monatlichen Fallpauschalen vor. Diese Erhöhung gilt entsprechend auch für die Vergütung von Berufsvormündern, Pflegern und Verfahrenspflegern.
Die vorgesehene Vergütungsanpassung hat Auswirkungen auf rund 2 800 Vereinsbetreuer und circa 13 100 selbstständige Berufsbetreuer, die sich täglich um die rechtlichen Angelegenheiten der ihnen von den Betreuungsgerichten anvertrauten Menschen kümmern. Menschen, die aufgrund einer Krankheit oder Beeinträchtigung nicht in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen, brauchen diese Unterstützung der rechtlichen Betreuer, um am Rechtsverkehr teilnehmen und ein möglichst selbstbestimmtes Leben nach ihren eigenen Wünschen führen zu können.
Die rechtlichen Betreuer nehmen in diesem Rahmen eine höchst verantwortungsvolle Aufgabe wahr, und sie haben einen Anspruch auf eine angemessene Vergütung ihrer Tätigkeit. Deshalb will ich ihnen an dieser Stelle auch einmal herzlich für ihre außerordentlich wichtige Arbeit danken.
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Meine Damen und Herren, eine angemessene Vergütung der beruflichen Betreuer ist ein wichtiger Baustein, um eine qualitativ hochwertige Betreuungsarbeit zu gewährleisten. Insbesondere die Betreuungsvereine und die bei ihnen angestellten Vereinsbetreuer sind hierfür ein Garant. Als Orientierungspunkt für den Erhöhungsrahmen von 17 Prozent haben wir daher die Kosten gewählt, die bei den Betreuungsvereinen zur Refinanzierung einer Vollzeit-Vereinsbetreuerstelle im Vergleich zur aktuell durchschnittlichen Vergütung anfallen.
Die Verteilung dieses Vergütungsrahmens erfolgt zudem nach qualitativen Gesichtspunkten, indem die erste Zeit einer Betreuung proportional höher vergütet wird, um den rechtlichen Betreuern mehr Ressourcen für die Erledigung ihrer Aufgaben zu Beginn einer Betreuung zur Verfügung zu stellen. Damit wollen wir insbesondere erreichen, dass von den Betreuern möglichst frühzeitig die richtigen Weichenstellungen zur Stabilisierung und Verbesserung der Lebenssituation der betreuten Menschen vorgenommen werden können und diese auch die notwendige Unterstützung zur Selbsthilfe bekommen.
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Der Gesetzentwurf setzt damit klare Akzente für eine qualitativ hochwertige Betreuung.
Meine Damen und Herren, wir greifen mit diesem Gesetzentwurf eine Thematik auf, welche uns bereits zum Ende der vergangenen Legislaturperiode beschäftigt hat. Vor knapp zwei Jahren hatte der Bundestag bereits eine Erhöhung der Stundensätze für Berufsbetreuer und -vormünder um 15 Prozent beschlossen, die jedoch mangels Zustimmung des Bundesrates nicht in Kraft gesetzt wurde. Um diesmal eine Zustimmung der Länder im Bundesrat zu erreichen, stand die Bundesregierung vor der Erarbeitung des vorliegenden Gesetzentwurfs in einem intensiven Austausch mit den Ländern. Die qualitätsorientierte Vergütungsanpassung, die Berechnungsgrundlagen für die Betreuervergütung und die Vergütungserhöhung um durchschnittlich 17 Prozent werden von der Mehrheit der Länder mitgetragen.
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Soweit einzelne Aspekte des Gesetzentwurfs, insbesondere die Höhe der Vergütungsanpassung, kritisiert werden, ist zu beachten, dass wir mit dem Gesetzentwurf widerstreitende Interessen in Einklang bringen und zu einem Ausgleich führen wollen. Ich bin davon überzeugt, dass uns dies mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auch gelungen ist und dieser zudem eine qualitätsbezogene Weiterentwicklung der Betreuervergütung darstellt.
Ich füge zum Schluss noch hinzu: Entsprechend dem Koalitionsvertrag wird sich die Bundesregierung für ein zeitnahes Inkrafttreten der Vergütungserhöhung einsetzen. Die Betreuer dürfen nicht länger auf die verdiente Erhöhung ihrer Vergütung warten. Ich bitte deshalb um Unterstützung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Der nächste Redner für die Fraktion der AfD: der Kollege Jens Maier.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Umsetzung des Paktes für den Rechtsstaat lässt auf sich warten, die Überprüfung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes kommt nicht wirklich voran. Bei der Vergütung für Betreuer und Vormünder ist man jetzt einen Schritt weiter. Toll!
Nach beinahe 14 Jahren ohne Gebührenerhöhung für Betreuer nimmt das Ganze jetzt konkretere Formen an. Bei diesem Tempo kann man der Bundesregierung zumindest eines nicht vorwerfen, nämlich dass sie dieses Thema übereilt angegangen wäre – und das bei diesem Personenkreis: Betreuer und Vormünder.
An dieser Stelle sollte man einmal deutlich hervorheben, was diese Leute für uns leisten: Betreuer kümmern sich um die Schwächsten in unserem Land, um Personen, die aufgrund ihres Alters oder einer Krankheit nicht mehr für sich selbst sorgen können. Sie sind eine riesige Stütze für all diejenigen, die ihre Angelegenheiten selbst nicht oder nicht mehr erledigen können. – An dieser Stelle muss man einfach mal ein ganz großes Dankeschön an diesen Personenkreis richten.
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Es ist daher allein schon aus Gründen der Wertschätzung dringend geboten, die Gebühren für Betreuer angemessen anzupassen. Insoweit ist das Ziel des Entwurfs zu begrüßen. Wenn wir uns jetzt anschauen, wie die Bundesregierung dieses Ziel erreichen will, treten bei genauerer Betrachtung jedoch einige Schwachpunkte zutage.
Die anzuwendende Vergütungstabelle und damit die Höhe der Vergütung richten sich danach, ob der Betreuer besondere Kenntnisse für die Führung der Betreuung hat. Dies können eine abgeschlossene Lehre oder ein Studium sein. Es ist nachvollziehbar, die Qualifikation des Betreuers als Faktor für seine Vergütung heranzuziehen. Leider versäumt es der Entwurf aber, zu bestimmen, welche Ausbildung für welche Form der Betreuung nutzbar ist. In der Praxis nehmen Betreute ihren Betreuer nicht selten für alle möglichen Aufgaben des täglichen Lebens in Anspruch.
Stellen Sie sich vor, ein Betreuer hat zuvor eine Lehre zur Fachkraft für Kreislauf- und Abfallwirtschaft erfolgreich abgeschlossen. Verfügt der jetzt über besondere Kenntnisse für die Führung der Betreuung, weil er dem Betreuten am besten erklären kann, wie er seinen Müll trennt? Es gibt im Osten ehemalige SED-Genossen, die als Betreuer arbeiten und meinen, ihnen stünde die höchste Vergütung zu, weil sie in der DDR ein Studium des Marxismus-Leninismus erfolgreich abgeschlossen haben oder Lehrer für Staatsbürgerkunde waren.
Relevant für die Vergütung sollten deshalb nicht allein die Ausbildung eines Betreuers, sondern vor allem auch die Fortbildungen sein. Egal wie viele Weiterbildungen zur Betreuung ein Betreuer abgeschlossen hat: Solange er keine abgeschlossene Lehre hat, bleibt er in der unteren Vergütungstabelle A. Das ist nicht einzusehen, und es ist auch nicht ganz verständlich, warum die SPD so was mitträgt, wo sie doch eigentlich für was anderes steht.
Der Entwurf geht davon aus, dass beruflich geführte Betreuungen nur zu 14 Prozent von Vereinsbetreuern geführt werden. Ebenso ist ihm die Prämisse zu entnehmen, dass sich die Betreuungsvereine im Hinblick auf die Anzahl ihrer Mitarbeiter und deren Tarifbindung sowie im Hinblick auf die kommunale Förderung der Betreuung stark unterscheiden. Dennoch zieht der Entwurf einen durchschnittlichen Vereinsbetreuer als Berechnungsmaßstab für die Vergütung heran. Begründet wird dies damit, dass die Rahmendaten zu Vereinsbetreuern schlicht besser dokumentiert seien und der Gesetzgeber ja einen Gestaltungsspielraum habe. Genauere Untersuchungen hat die Bundesregierung nicht vorgenommen.
Die Faulheit im Ministerium ist jedoch kein tauglicher Grund für eine gesetzgeberische Gleichmacherei.
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Haben Sie sich einmal gefragt, wie viele Personen ein Betreuungsverein in München betreuen muss, um die monatlichen Kosten für die Miete seiner Geschäftsräume decken zu können? Diesem Verein nützt es nichts, dass ein Verein im Burgenlandkreis viel weniger Menschen betreuen muss, weil die Mieten da nur einen Bruchteil betragen. Der tatsächliche Mittelbedarf lässt sich nicht auf einen Durchschnittswert begrenzen.
Es fällt weiterhin negativ auf, dass der Vergütungsunterschied für die Betreuung von Menschen, die länger als zwei Jahre betreut werden, in allen drei Vergütungstabellen bis zu über 50 Prozent ausmacht. Gerade in Gegenden, in denen es nicht genügend Betreuer gibt, droht die Gefahr, dass vorrangig vermögende Personen, die in einer anderen als in einer stationären oder einer ihr gleichgestellten Wohnform leben, zur Betreuung ausgewählt werden. Es darf aber keinen Anreiz geben, mittellose Personen in einer stationären Einrichtung seltener zu betreuen.
Aufgrund dessen ist der Entwurf nachteilig für stationär untergebrachte mittellose Menschen, welche eine Betreuung brauchen, aber in teuren Städten wie München, Frankfurt, Hamburg oder Stuttgart wohnen. Wir sagen: Das Recht auf Betreuung darf nicht vom Geldbeutel abhängen.
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Ich freue mich auf die Beratungen im Rechtsausschuss und hoffe, dass da noch einiges nachgebessert werden kann.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung – und ich sage: endlich – den Gesetzentwurf zur Anpassung der Betreuer-, Vormünder-, Pfleger- und Verfahrenspflegervergütung.
Das hat eine lange Vorgeschichte. Es ist mittlerweile 14 Jahre her, dass die Vergütung der Betreuer zum letzten Mal neu strukturiert und festgesetzt worden ist. Seither ist sie lediglich dadurch verbessert worden, dass die Umsatzsteuer erlassen worden ist. Mittlerweile hat eine umfangreiche Studie des Justizministeriums ergeben, dass wesentliche Teile des Zeitaufwands, den die Betreuer erbringen, gar nicht innerhalb des vergüteten Zeitraums liegen, und das zeigt ganz klar, dass die Vergütung der Betreuer inzwischen wirklich dürftig ist.
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Das hat Folgen. Wir erleben mittlerweile, dass Berufsbetreuer ihre Kosten nicht mehr decken können und ihre Tätigkeit aufgeben. Daneben erleben wir, dass auch Betreuungsvereine, die von Wohlfahrtsträgern unterhalten werden, ihre Arbeit nicht mehr machen können, weil den Wohlfahrtsverbänden nicht mehr zugemutet werden kann, dass sie die Arbeit der Betreuungsvereine aus ihren anderen Bereichen heraus quersubventionieren.
Deshalb ist hier dringender Handlungsbedarf gegeben; denn diese Betreuer werden gebraucht. Es geht darum, die Menschen, die wegen ihres Alters, einer Krankheit oder einer Behinderung nicht mehr in der Lage sind, ihre rechtlichen Angelegenheiten selber zu regeln, in ihrer selbstbestimmten und selbstständigen Lebensführung zu unterstützen. Das tun die Betreuer mit besonderem persönlichen Einsatz häufig über das notwendige Maß hinaus, und deshalb möchte auch ich diesen Menschen, die anderen Menschen, die auf sie angewiesen sind, helfen, hier ganz ausdrücklich Danke sagen.
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Deshalb haben wir in diesem Haus bereits vor zwei Jahren – in der letzten Legislaturperiode – auch fraktionsübergreifend gesagt: Wir müssen da zu einem besseren Vergütungssystem kommen. – Wir haben damals vorgeschlagen, die Vergütungssätze pauschal um 15 Prozent zu erhöhen. Dieses Gesetz ist aber im Bundesrat liegen geblieben; die Länder haben dem nicht zugestimmt. Das hat einen einfachen Grund: Die Länder müssen die Erhöhung bezahlen. Wir sind in der komfortablen Situation, sagen zu können, was wünschenswert ist, aber die Länder müssen das bezahlen.
Die 15 Prozent schienen den Ländern zu hoch zu sein. Umso mehr freue ich mich, dass die Länder sich bereit erklärt haben – das ist jetzt gelungen –, das Volumen für diese Aufgabe sogar um durchschnittlich 17 Prozent zu erhöhen.
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Das ist ein erheblicher Mehraufwand. Allein die Zusatzkosten für die Länder belaufen sich auf über 156 Millionen Euro. Ich weiß, dass die Länder damit an die Grenze dessen gegangen sind, was sie in ihren Haushalten gegenüber den Länderfinanzministern vertreten können. Das war nicht einfach.
Ich bin mir bewusst, dass damit nicht alle Wünsche und alle Anforderungen der Betreuer abgedeckt werden können, und froh, dass die meisten Rückmeldungen zunächst mal positiv sind, weil man eben auch sieht, dass die Länder da doch vieles tun. Ich meine, dass damit aber auch der Rahmen abgesteckt ist. Auch wenn wir uns die Struktur vielleicht noch mal genauer anschauen werden – wir haben ja noch die Anhörung mit den Sachverständigen dazu –, denke ich, dass damit doch das Volumen ausgereizt ist, was für die Erhöhung der Betreuervergütung zur Verfügung steht.
Ich möchte noch ganz kurz speziell auf die Situation der Betreuungsvereine eingehen. Sie sind wichtig, um die ehrenamtlichen Betreuer zu unterstützen, zu qualifizieren und zu beraten. Wenn wir diese Betreuungsvereine nicht hätten, dann würden wir viele ehrenamtliche Betreuer verlieren. Es wäre zu kurz gedacht, da jetzt zu sparen. Das wäre am falschen Ende gespart.
Deshalb auch noch mal mein Appell an die Kommunen und an die Länder, den Vereinen auch eine institutionelle Förderung zuteilwerden zu lassen, damit diese wichtige Aufgabe weiterhin erfüllt werden kann. Darauf sind wir angewiesen, und darauf sind vor allem die angewiesen, die die Betreuer brauchen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Winkelmeier-Becker. – Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Katrin Helling-Plahr, Friedrich Straetmanns, Corinna Rüffer, Axel Müller, Dirk Heidenblut und Volker Ullrich gehen zu Protokoll,
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sodass ich an dieser Stelle die Aussprache zu TOP 17 schließen kann.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/8694 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Keine Waffen mehr zu exportieren, die im Jemen-Krieg verwendet werden können: Das hat die Bundesregierung uns unzählige Male – im Koalitionsvertrag, in Bundestagsdebatten, in Parteitagsreden, zuletzt sogar in der vergangenen Woche, als der Bundessicherheitsrat getagt hat – versprochen.
Um dieses Versprechen zu halten, verweist die Bundesregierung seit eh und je auf die Endverbleibserklärung der Waffenkäufer. Schon lange wird keine deutsche Waffe mehr ohne Endverbleibserklärung verkauft, erst recht nicht an die Länder, die am Jemen-Krieg beteiligt sind. Was aber nun genau die Exporte von Waffen und die Reichweite der sogenannten Endverbleibskontrollen der gelieferten Waffen angeht, hat die Bundesregierung heute die Hosen runtergelassen.
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Am 13. März dieses Jahres hatte die Linksfraktion im Wirtschaftsausschuss anlässlich der Rechercheergebnisse von German Arms einen Bericht der Bundesregierung über deutsche Waffenlieferungen an die am Jemen-Krieg beteiligten Staaten, insbesondere Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, beantragt. Das Bundeswirtschaftsministerium hat die fehlenden Antworten auf unsere Fragen vom 13. März vor einigen Stunden an uns Mitglieder nachgereicht.
Zur Frage der Vereinbarkeit des Einsatzes deutscher Waffen im Jemen-Krieg durch Saudi-Arabien mit der Endverbleibserklärung der Saudis hat die Bundesregierung ihren ganzen brutalen Zynismus, was den Export deutscher Kriegswaffen angeht, offengelegt. In dem Schreiben teilt die Bundesregierung nämlich mit, dass Saudi-Arabien und andere am Jemen-Krieg beteiligte Staaten in keinem Falle gegen die Endverbleibserklärung verstoßen hätten; denn diese sei nicht territorial gebunden, und außerdem würden die Saudis dort – angeblich! – nur einer befreundeten Regierung helfen.
Sprich – und das ist wirklich skandalös –: Die Bundesregierung sagt, dass der Endverbleib der Waffen bei den Saudis schon okay ist, weil die Saudis die Waffen ja letztendlich in den eigenen Händen halten. Ich finde das wirklich abenteuerlich
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angesichts der ungeheuerlichen Verbrechen dieses islamistischen Kopf-ab-Regimes, das im Jemen das Völkerrecht mit Füßen tritt. Das, was die Bundesregierung hier macht, ist ein Riesenskandal.
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Die Bundesregierung übernimmt mit dieser zynischen Erklärung auch die volle Verantwortung für die saudischen Kriegsverbrechen. Frau Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Maas sind damit für die saudischen Massaker und für den Hungertod von 50 000 Kindern im Jemen, die aufgrund der Hungerblockade, die auch mit deutschen Waffen durchgesetzt wird, ums Leben gekommen sind, direkt verantwortlich;
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denn aus Sicht der Bundesregierung ist dieser mörderische Einsatz deutscher Waffen gegen die jemenitische Zivilbevölkerung ja mit den deutschen Endverbleibsbestimmungen vereinbar.
Nach dieser Logik muss in Zukunft kein Diktator dieser Welt die deutsche Endverbleibskontrolle fürchten, wenn er sein Nachbarland überfällt und massenhaft Menschen umbringt. Er bekommt dafür noch den deutschen Behördenstempel. Es macht uns als Linke fassungslos, dass Sie mit Ihren Waffenlieferungen weitermachen, obwohl Sie genau wissen, dass die Waffen in diesem mörderischen Bombenkrieg im Jemen eingesetzt werden, und dass Sie keine Probleme damit haben.
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Deshalb unsere Forderungen: Stoppen Sie endlich diese mörderischen Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien! Hören Sie mit diesem Zynismus auf! Ich finde, das, was Sie hier veranstalten, entspricht wirklich nicht dem Friedensgebot des Grundgesetzes.
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Der nächste Redner: der Kollege Klaus-Peter Willsch, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Bei den Debatten, die wir in diesem Haus ohne irgendeinen Erkenntnisgewinn immer und immer wieder führen, geht es Ihnen von den Linken ja nur deklaratorisch um Exporte in ein bestimmtes Land, auch wenn Sie immer wieder einzelne, neue Facetten vorbringen. Dieses Mal – jetzt neu im Potpourri – ist es zum Beispiel der Wunsch, die britische Urenco-Gruppe zu enteignen.
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Wenn Sie Erkenntnisdefizite haben, empfehle ich Ihnen, sich in der Mediathek des Deutschen Bundestags noch mal die öffentliche Anhörung zum Thema Rüstungsexporte anzuschauen. Machen Sie es doch endlich mal!
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Sie haben alle Möglichkeiten der Information. Wir hatten dort eine sehr gute Zusammensetzung des Experten-Panels.
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Man muss natürlich auch mal bereit sein, zuzuhören und sich ein bisschen was anzunehmen.
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Aber das fällt Ihnen offenkundig schwer.
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Wenn Sie zugehört hätten, hätten Sie zur Kenntnis nehmen können, dass der renommierte Professor Dr. Joachim Krause vom Institut für Sicherheitspolitik in Kiel zum Jemen-Konflikt gesagt hat:
… in Jemen muss man die Sache ganz genau sehen. Es ist ja nicht so, dass Saudi-Arabien in Jemen einfällt, sondern in Jemen haben wir eine sehr komplexe Lage. Wir haben eigentlich dort drei verschiedene Konflikte, einmal zwischen der legitimen Regierung und den Huthi-Milizen, die extrem stark vom Iran unterstützt werden. Wir haben den Kampf dieser Regierung gegen Al‑Qaida und wir haben auch noch eine Separationsbewegung im Süden des Landes. Wir haben Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die dort intervenieren. Es ist eine sehr komplexe Situation und ich würde vor einer vorschnellen Verteilung, wer hier gut und wer hier schlecht ist, warnen …
Es geht Ihnen aber ohnehin nicht um eine ausgewogene Abwägung der Fakten, sondern es geht Ihnen im Kern all dieser Debatten vielmehr um die Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit Deutschlands im 21. Jahrhundert, die Sie zerschlagen wollen.
Ich erinnere all diejenigen, die in diesem Haus zumindest in Sonntagsreden gerne französische Präsidenten zitieren und von europäischer Verteidigungspolitik sprechen, an die Sorbonne-Rede von Emmanuel Macron, der am 26. September 2017 gesagt hat:
Auf dem Gebiet der Verteidigung muss unser Ziel darin bestehen, dass Europa, ergänzend zur NATO, selbstständig handlungsfähig ist … Woran es Europa, diesem Europa der Verteidigung, heute am meisten fehlt, ist eine gemeinsame strategische Kultur. Unsere Unfähigkeit, gemeinsam überzeugend zu handeln, gefährdet unsere Glaubwürdigkeit als Europäer.
Dieser Appell richtet sich, wie wir alle hier im Haus wissen, vor allen Dingen an uns Deutsche; denn mit unserer restriktiven Rüstungsexportpolitik gefährden wir Deutsche massiv unsere eigene Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit und die Westintegration unseres Landes.
Anlässlich der bereits erwähnten Anhörung im Wirtschaftsausschuss warnte uns der Experte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik vor dem enormen Vertrauensverlust aufseiten unseres französischen Partners in Bezug auf die Ernsthaftigkeit der deutschen Absichten. Ich zitiere wörtlich:
Die derzeitige Debatte um Exporte in Deutschland lassen in Paris Zweifel aufkommen, ob Berlin der richtige Partner ist.
Wir reden über FCAS, wir reden über gemeinsame Panzer der nächsten Generation. All das wird nichts werden, wenn wir uns so verhalten, wie sich hier einige gerieren.
Vor wenigen Tagen hat die französische Botschafterin Anne-Marie Descôtes einen beachtenswerten Gastbeitrag für die Bundesakademie für Sicherheitspolitik verfasst. Er trägt den Titel: „Vom ‚German-free‘ zum gegenseitigen Vertrauen“. Zitat:
Die Frage von Waffenexporten wird in Deutschland oft als vor allem innenpolitisches Thema behandelt, dabei hat sie schwerwiegende Folgen für unsere bilaterale Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich und für die Stärkung der europäischen Souveränität.
So mahnt die französische Botschafterin.
Die Europäische Union ist von einer gut funktionierenden deutsch-französischen Achse abhängig; das wissen wir doch, glaube ich, alle miteinander. Das gilt umso mehr nach dem Ausscheiden des Vereinigten Königreiches aus der EU, was wahrscheinlich nun in der einen oder anderen Form kommen wird. Die sicherheitspolitische Eigenständigkeit Europas kann nur erreicht werden, wenn die Abhängigkeit europäischer Streitkräfte von Rüstungsexporten aus den USA, aus Russland, aus China, aus Israel oder woher auch immer auf ein Mindestmaß reduziert wird bzw. bleibt.
Das bedeutet im Umkehrschluss: Wir müssen unsere eigene Rüstungsindustrie erhalten. Mit den lächerlichen Stückzahlen, die wir in Europa abnehmen, geht das eben nicht. Daher muss man die Bereitschaft haben, exportfähig zu sein bzw. zu bleiben; denn sonst findet man keine Partner mehr. Dann gibt es – auf gut Deutsch gesagt – niemanden mehr, der mit uns spielt.
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Für unsere französischen Partner ist es eine Selbstverständlichkeit, dass für die eigenen Streitkräfte entwickelte Rüstungsgüter im Nachgang auch an Verbündete und Drittstaaten exportiert werden können. Das Gleiche gilt für gemeinsam initiierte Rüstungsprojekte.
Klaus-Dieter Frankenberger kommentierte kürzlich in der „FAZ“:
Aber gerade in Frankreich rätselt man verwirrt bis verärgert darüber, was man von einem deutschen Partner halten soll, der bei jeder Gelegenheit das Hohelied von europäischer Zusammenarbeit anstimmt, darunter aber oft nur die Berliner Interpretation meint.
So geht Europa nicht.
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Das müssen wir einfach mal nüchtern zur Kenntnis nehmen, und dann müssen wir die Entscheidungen treffen. Das gilt auch für die, die in Sonntagsreden gerne so tun, als ob sie für eine gemeinsame europäische Verteidigung wären. Es geht nicht allein nach unseren Regeln. Wenn wir meinen, wir könnten die Regeln in diesem Spiel alleine bestimmen, dann werden wir alleine bleiben
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und keine schlagkräftige Rüstungsindustrie mehr haben.
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Die französische Botschafterin verwahrte sich in ihrem Beitrag gegen den immer wieder von deutscher Seite kolportierten Vorwurf, die französische Genehmigungspraxis sei zu lasch. Das Gegenteil sei der Fall, schrieb sie. Doch Paris sei bereit, Verantwortung zu übernehmen. Deutschland dürfe diese nicht einfach auf andere abwälzen, auch nicht auf die Europäische Union. Dafür müssten – ich zitiere erneut –
sensible Informationen zu Ausrüstungen, die auch von unseren Streitkräften benutzt werden, in einem weiten Kreis verbreitet werden – Informationen, die, aus nationalen Sicherheitsgründen, vertraulich sind. Ein solches Szenario ist weder realistisch noch wünschenswert und würde die Unternehmen noch mehr unter Druck setzen, die bereits heute am stärksten von unseren Konkurrenten oder Widersachern ausspioniert werden.
Dass uns die französische Botschafterin noch nicht einmal durch die Blume, sondern ziemlich unverblümt vor einem „German-free“ bei multinationalen Projekten warnt, sollte alle Alarmglocken schrillen lassen.
Wir haben bereits jetzt eines der restriktivsten Rüstungsexportregime weltweit. Wir brauchen keine weiteren Verschärfungen. Wir brauchen vielmehr Mut, um auch nach außen unbequeme, aber in der Sache notwendige Entscheidungen zu treffen. Wir als Union stehen dafür.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion der Kollege Dr. Robby Schlund.
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Herr Präsident! Liebe Kollegen! – Es gibt auch noch zwei Gäste auf den Rängen zu dieser späten Stunde. – Was läge mehr im deutschen Interesse, meine Damen und Herren, als dass der Jemen wieder zu einem funktionierenden und innenpolitisch stabilen Staat würde? Nicht so für die SPD, die laut Koalitionsvertrag Rüstungsexporte an die von Saudi-Arabien geführte Kriegsallianz im Jemen eigentlich verhindern wollte. Mit gespaltener Zunge propagierten Sie Wasser, aber Sie lieben natürlich den Wein, und ich glaube, dass es nicht das erste Mal ist, dass Sie das hier im Hohen Hause zu hören bekommen.
Sie haben es mit Ihrer Haltung zugelassen, dass im Jemen bisher mehr als 80 000 Menschen ihr Leben lassen mussten, darunter viele Kinder. Rüstungsgüter im Wert von 400 Millionen Euro gingen an Ihnen komplett vorbei an die Kriegsallianz unter Saudi-Arabien. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Anfrage des Kollegen Nouripour von den Grünen.
Unsere Fraktion will im Gegensatz zu Ihnen, liebe SPD, derzeit keine Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien. Unser grundlegendes deutsches Interesse muss eine Stabilisierung der Region sein. Deshalb begrüßen wir zum Beispiel auch den Ausstieg von Katar aus dem Konflikt.
Klar ist, dass wir von der AfD Rüstungsexporte ablehnen und Ihrem Forderungspunkt auch zustimmen könnten, liebe Kollegen von den Linken. Allerdings versuchen Sie in Ihrem gutgemeinten Antrag, auch ein Trojanisches Pferd unterzubringen – um die deutsche Verteidigungswirtschaft zusätzlich und auf unnötige Weise zu schwächen –, indem Sie fordern, Uranfabriken in Deutschland stillzulegen.
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Sie können doch nicht allen Ernstes Politik machen, indem Sie unserer Verteidigungsindustrie den kompletten Garaus machen wollen. Dual-Use-Güter und andere elektronische Bauteile aus deutscher Produktion, die an unsere Bündnispartner geliefert werden, können Sie doch nicht pauschal verbieten, nur weil sie eventuell in Rüstungsexportgüter verbaut werden könnten.
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Diese Länder können Sie natürlich verbal angreifen, mehr aber auch nicht. Wir wollen unsere deutsche Wirtschaft stärken und nicht, wie man annehmen könnte, schwächen.
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Ich hoffe, da sind wir uns alle einig.
In meinem Wahlkreis zum Beispiel gibt es kleine und mittelständische Betriebe der Verteidigungsindustrie, bei denen mehr als 1 000 Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, wenn bestimmte Bauteile einfach nicht mehr hergestellt werden können.
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Das müssen Sie den Menschen in unserem Land erklären, die jeden Tag ihre Kraft einsetzen und ihre Familie ernähren müssen, warum das sozial sein soll, meine Damen und Herren.
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Dazu kommt noch etwas ganz anderes, nämlich der Verlust an Leadership. Wo haben wir denn schon überall Schlüsseltechnologien verloren? Zum einen in der Digitalisierung, in Pharmazie, Forschung, Autoindustrie und jetzt auch noch in der Verteidigungsindustrie. Die Hightechentwicklung und -sicherung des Standorts Deutschland muss intensiv und, ja, auch staatlich gefördert werden.
Wir wollen eine politische Lösung für den Jemen intensiv unterstützen und vorantreiben. Die Argumentation des Antrags umfasst aber diese Forderung, liebe Kollegen von den Linken, leider nicht. Bessern Sie also entsprechend nach! Die AfD wird sich bis dahin enthalten. Wir stimmen einer Überweisung an den Ausschuss zu.
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– Ich danke für die Aufmerksamkeit zur späten Stunde und dass Sie sich melden; sind Sie auch wieder munter, das finde ich ganz gut.
Ich möchte dennoch mit einem kleinen deutschen Sprichwort die Rede beenden, und zwar – denken Sie mal darüber nach! –: Der Fuchs beißt am besten im eigenen Loch.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank. – Die Kollegen Frank Junge, Sandra Weeser, Katja Keul und Bernhard Loos geben ihre Reden zu Protokoll. Dort können sie intensiv nachgelesen werden. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8965 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Allerdings ist die Federführung strittig. Die Fraktionen CDU/CSU und SPD wünschen eine Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie, die Fraktion Die Linke hingegen eine Federführung beim Auswärtigen Ausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt dafür? – Die Linke, die Grünen und die AfD. Wer stimmt dagegen? – Die Koalition und die FDP. Enthaltungen? – Keine. Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Wir kommen zum Überweisungsvorschlag der Fraktionen CDU/CSU und SPD: Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Die FDP und die Koalition. Dagegen? – Wieder AfD, Grüne und Linke. Enthaltungen? – Keine. Damit ist der Überweisungsvorschlag angenommen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung bringt heute ein Gesetz ein, auf dessen Grundlage im Jahre 2021 eine neue Volkszählung in unserem Land durchgeführt werden soll. Es ist durchaus ein großes Projekt. Das sieht man schon daran, dass das Gesetz eine Vorgeschichte hat. Wir haben 2017 bereits ein Zensusvorbereitungsgesetz im Bundestag behandelt und beschlossen, um das Ganze angemessen vorzubereiten.
Warum brauchen wir diese Volkszählung? Warum brauchen wir dieses Zensusgesetz? Zunächst eine formale Antwort: Es gibt eine europarechtliche Vorgabe, 2021 wieder eine solche Zählung durchzuführen. Aber wir brauchen es unabhängig davon auch in der Sache. Denn ein solcher allgemeiner Zensus ist das Fundament jeder amtlichen Statistik, und staatliche Statistiken wiederum sind die unverzichtbare Basis für jedes planvolle staatliche Handeln. Man kann zwar auch ohne diese handeln, aber dann halt nicht planvoll. Und nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik gilt der Grundsatz „Nur was ich messen kann, kann ich auch managen“.
Mit dem Zensus gewinnen wir Informationen, die wir für Verkehrsplanung, Landesplanung, Bildungsplanung brauchen, für den Finanzausgleich – kommunal und zwischen den Ländern –, aber zum Beispiel auch für so etwas Wichtiges wie die Anzahl der Stimmen der Länder im Bundesrat – das Gewicht dort hängt von der Bevölkerungszahl ab – oder die Besoldungsstufen von Bürgermeistern.
Meine Damen und Herren, wie wollen wir nun bei diesem Zensus 2021 vorgehen? Zunächst: Es wird zwar stichprobenartig Zählungen geben, konkret aber keine flächendeckende Erhebung an den Haustüren unseres Landes. Ich denke, das ist eine gute Nachricht für alle.
Wie schon beim Zensus 2011 wollen wir eine registergestützte Erhebung durchführen, also die Daten aus vorhandenen Registereinträgen nutzen. Das ist zum einen aus Sicht der Verwaltung, aber auch aus Sicht des Bürgers einfacher und kostengünstiger. Das Gesetz folgt dabei auch dem Gedanken, dass Bürgerinnen und Bürger ein und dieselbe Information möglichst nur einmal dem Staat gegenüber mitteilen sollten, ein durchaus effektives Verfahren. Das Ganze hat sich in der Praxis bewährt, wenn wir auf den Zensus 2011 zurückblicken, und ist anhand dieses Zensus vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden.
Eine weitere gute Nachricht: Wir erfüllen die Vorgaben des Grundgesetzes und der europäischen Datenschutz-Grundverordnung dabei in vollem Umfang. Das ist – das kann man zu Recht sagen – natürlich in einem Rechtsstaat selbstverständlich, aber es ist zudem auch nötig, um die Akzeptanz dieses Zensus bei den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes sicherzustellen.
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– Vielen Dank. Ich wollte eigentlich Zeit sparen. Aber herzlichen Dank.
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Aus all diesen Gründen – damit komme ich auch schon zum Schluss – bitte ich um konstruktive und zügige Beratung in den Gremien des Deutschen Bundestages. Das mögen Sie aus Wohlwollen gegenüber der Bundesregierung tun. Wenn Sie das nicht aus dem Grunde tun wollen, tun Sie es wegen der vorgetragenen Sachargumente, oder tun Sie es auch als Anerkennung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den statistischen Ämtern des Bundes und der Länder; sie arbeiten jetzt schon fleißig an der Vorbereitung dieses Zensus, und sie wollen gern beim eigentlichen Zensus einen Beitrag zu einer guten Zukunftsentwicklung unseres Landes leisten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Der nächste Redner: Dr. Christian Wirth, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Herr Professor Krings, es freut mich, dass Sie die Vorgaben des Grundgesetzes einhalten wollen. Aber ich hätte auch nichts anderes von Ihnen erwartet.
Der Datenschutz wird in Deutschland nicht umsonst großgeschrieben. Generationen von Deutschen wurden Zeugen der Möglichkeiten, die sich gleich zwei Diktaturen durch das Ausforschen und Aushorchen ihrer Bürger eröffneten. Das hat uns vorsichtig gemacht, vielleicht sogar etwas übervorsichtig; aber im Zweifel sollten wir den Staat lieber weniger über uns wissen lassen als mehr. Das gilt übrigens nicht nur für die Bundesregierung, sondern in besonderem Maße auch für die Europäische Union, die wieder einen Schritt weiter von den Bürgern entfernt ist und in der wir nicht alleine Herr über unser Schicksal sind.
Die gebotene Zurückhaltung des Staates bei der Erfassung seiner Bürger und Einwohner treibt die Bundesregierung allerdings mit ihrem Gesetzentwurf auf eine ungewöhnliche Spitze, und zwar beim Thema der Religion. Wo man sonst oft, zum Beispiel in Fällen wie der Vorratsdatenspeicherung oder der geplanten Vollzeitüberwachung der deutschen Autofahrer, die staatliche Gier nach mehr Daten, mehr Wissen, mehr Kontrolle mit aller Macht zurückdrängen musste, gibt sich die Bundesregierung bei diesem Thema auf einmal seltsam uninteressiert. Erfasst werden soll ausschließlich die Zugehörigkeit zu öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften – was der absolute Mindeststandard ist, den die EU uns hier für den Zensus vorgibt.
Wenn die Bundesregierung bloß immer so viel Zurückhaltung bei der Umsetzung von EU-Vorgaben zeigen würde, vielleicht hätten wir dann in zehn Jahren noch eine prosperierende Autoindustrie.
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Die öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften sind die großen Kirchen, viele Synagogengemeinden, die Zeugen Jehovas, in manchen Bundesländern die Humanisten oder die Heilsarmee. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber da fehlt etwas. Das sehen übrigens nicht nur wir so, das sieht auch der Bundesrat so. Deswegen verlangt dieser, absolut nachvollziehbar, dass nicht nur die Mitgliedschaft zu den öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften, sondern auch das „Bekenntnis zu einer Religion, Glaubensrichtung oder Weltanschauung“ erfasst wird, im Rahmen der Haushaltsbefragungen, die ja ausdrücklich auch für die Erkenntnisse vorgesehen sind, die sich nicht aus den Registerdaten ergeben. Hier versprechen sich die Länder einen – ich zitiere – „herausragenden Mehrwert für integrationspolitische Fragestellungen“. Da haben die Länder recht. Ausdrücklich weist ja selbst die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf darauf hin, dass man umfassende Informationen unter anderem zu sozialen Zusammenhängen erfassen will. Wer der Meinung ist, dass das religiöse Bekenntnis in Sachen „Integration und Gesellschaft“ keine Rolle spielt, hat die letzten Jahre tief geschlafen. Natürlich unterstützen wir auch hier die Freiwilligkeit dieser Auskunft. Ein Staat, der seine Bürger zu einem religiösen Bekenntnis zwingt, ist nicht wünschenswert.
Positiv zu sehen ist im Zusammenhang mit der Integration natürlich die Erfassung eben nicht nur der Staatsangehörigkeit, sondern auch des Geburtsortes und gegebenenfalls des Datums des Zuzugs in die Bundesrepublik Deutschland. Auch hier erlauben die erhobenen Daten zuverlässigere Vorhersagen oder Erkenntnisse über den Fortschritt der Integration von Migranten und die Notwendigkeit besonderer Fördermaßnahmen, zum Beispiel sprachlicher Natur, in der Schule.
Aber es gäbe an dieser Stelle vielleicht noch eine weitere, entscheidende Komponente, die in diesem Kontext außerordentlich hilfreich wäre – auch sie könnte im Rahmen der Haushaltsstichproben, erneut vollständig auf freiwilliger Basis, erhoben werden –, nämlich die im Haushalt überwiegend gesprochene Sprache. Eine Staatsangehörigkeit, ein Geburtsland usw. sagen allein zwar ein wenig, aber nicht genug über mögliche Integrationsschwierigkeiten aus. Es ist natürlich das gute Recht eines jeden Einwohners Deutschlands, zu Hause seine Sprache, seinen Dialekt zu sprechen und zu pflegen. Aber die deutsche Sprache ist nun einmal der Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe. Gerade die Länder mit ihrer Bildungshoheit und die Kommunen, denen man die Folgen der Asylkrise aufgehalst hat, könnten zum Beispiel bei Häufungen nichtdeutschsprachiger Haushalte in bestimmten Gebieten entsprechende Ressourcen sinnvoll einsetzen.
Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die Stellungnahme des Normenkontrollrates eingehen, ohne der FDP, wenn sie noch redet, ihre komplette Rede vorwegnehmen zu wollen. In der Tat hätte man hier mit rechtzeitiger Digitalisierung einiges an Zeit und Geld sparen können. Aber auch hier kommt es auf Augenmaß an: Der vollständig und zentral erfasste Bürger ist, gleich ob auf Karteikarten oder Festplatten, in jeder Hinsicht abzulehnen. – Die aber bereits vorhandenen und legal erhobenen Daten sinnvoll zusammenzuführen, ist vernünftig und geboten.
Hören Sie also auf den Bundesrat, auch wenn die AfD derselben Meinung ist! Lassen Sie uns Politik auf der Basis von Fakten und nicht von Anekdoten machen.
Vielen Dank.
({1})
Die Kollegen Saskia Esken, Manuel Höferlin, Dr. André Hahn und Petra Nicolaisen geben ihre Reden zu Protokoll
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– jawohl, Beifall –, sodass der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Grüne, ist.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig: Deutschland führt im Jahr 2021 erneut einen Zensus durch, und es ist aufgrund einer EU-Verordnung auch dazu verpflichtet. Aber trivial ist die Geschichte nicht. Ich möchte zu später Stunde auf drei Punkte eingehen:
Erstens. Schon vor dem anstehenden Zensus 2021 haben Sie, die Bundesregierung, einen Testlauf mit Echtdaten aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger durchgeführt, also eine vollständige Volkszählung zur Übung, und das, obwohl der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit klar und vernehmbar seine Zweifel an der Erforderlichkeit – unter Verweis auf schonendere Vorgehensweisen – geäußert hat. Das ist datenschutzrechtlicher Wahnsinn, und so kann man es leider nicht machen, meine Damen und Herren.
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Das Argument, es gebe keine Alternativen, ist schlicht abwegig; denn Testläufe dieser Art werden selbstverständlich mittels datenschutzschonender Verfahren durchgeführt – um die Risiken für die Rechte von Betroffenen zu minimieren –, nämlich pseudonymisiert oder anonymisiert. Stattdessen gehen Sie achselzuckend das erhebliche Risiko für die Datensicherheit ein, das durch die probeweise Übermittlung des bundesweit größten Datensatzes von Bürgerdaten entsteht. Na gut, dass der Union Datenschutz wurscht ist, weiß man. Aber von der SPD hätte man in diesen Fragen mehr erwartet, meine Damen und Herren.
({1})
Zweitens. Der Zensus 2021 schlägt mittlerweile mit Gesamtkosten von sage und schreibe rund 1 Milliarde Euro zu Buche. Das ist schon bemerkenswert, weil man die Bundesregierung immer davon reden hört, wie sehr die Digitalisierung ein Garant von Einsparungen und Effizienz, ob in Wirtschaft oder Verwaltung, sei. Wenn aber schon das grundlegende statistische Verfahren zur Sicherung einer gerechten Verteilung der Steuermittel zwischen Bund, Ländern und Kommunen die Bürger 1 Milliarde Euro kostet, sollten wir innehalten und dringend überlegen, wie man das effizienter und verhältnismäßiger gestalten kann, meine Damen und Herren.
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Drittens. Die massiven Probleme der Melderegister, qualitativ einwandfreie, fehlerfreie Daten zu erfassen und zu liefern, sind dem BMI, Herr Krings, seit Jahren bekannt. Was wurde eigentlich konkret getan, um die seit 2016 bekannten Vorschläge des Rates für Sozial- und Wirtschaftsdaten zur Verbesserung der Datenqualität umzusetzen? Die Bundesregierung sagt sogar selbst, es sei grob fahrlässig, auf die Qualität der Meldedaten zu vertrauen. Aber das Bundesmeldegesetz liegt doch in Ihrer Zuständigkeit: Es ist Ihre Verantwortung, hier für Impulse zu sorgen und gemeinsam mit den Ländern bessere gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen.
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Seit Jahren behandelt das Innenministerium das bürgerrechtlich hochrelevante Thema Statistikwesen absolut stiefmütterlich. Ihr Desinteresse und Ihre massive Überforderung im Verständnis der zugrunde liegenden technischen Fragen sind mit Händen greifbar, Herr Krings; so leid es mir tut. Aber es kann und darf nicht sein, dass die Volkszählung weiterhin solche gravierenden Defizite aufweist und dass am Ende die Bürgerinnen und Bürger den Preis zahlen, sowohl wortwörtlich, mit den von ihnen entrichteten Steuergeldern, als auch bürgerrechtlich, mit Abstrichen bei den ihnen zustehenden Grundrechten. Das können wir so leider nicht mitmachen, meine Damen und Herren.
Uns allen einen schönen Abend.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/8693 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines eint uns doch alle: Wir wollen unseren Kindern und Enkeln eine intakte Welt hinterlassen. Das ist der Gedanke der Nachhaltigkeit. Wir haben nur diese eine Welt.
Die Zahl der Hungernden steigt. Die landwirtschaftlichen Anbauflächen werden knapper. Der Klimawandel bringt Dürreperioden und Überschwemmungen. Die biologische Vielfalt schwindet und damit auch die Leistung der Natur für die Menschen. Das starke Bevölkerungswachstum in Afrika aber hält an.
Mit der Agenda 2030 haben wir uns zum Erhalt unserer Lebensgrundlagen verpflichtet, und wir haben uns auch zur Beendigung von Hunger und Mangelernährung bekannt; denn eine Welt ohne Hunger ist möglich.
Die entscheidende Frage ist: Wie können die Menschen ausgewogen und ausreichend ernährt werden, und wie können wir gleichzeitig die ökologischen Grenzen unseres Planeten respektieren? Wir haben eine klare Vision, wie eine ausgewogene Ernährung von fast 10 Milliarden Menschen im Jahr 2050 möglich ist: Die Produktion muss innovativ und ressourcenschonend sein. Ein politischer Ordnungsrahmen muss für gerechte Verteilung sorgen und Chancen für alle schaffen. Dafür braucht es gut ausgebildete Bäuerinnen und Bauern und auch eine gerechte Einbeziehung von Frauen bezüglich Landbesitz und unternehmerischen Entscheidungen.
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Die Lösung sind eine an die lokalen Gegebenheiten angepasste Landwirtschaft und Ernährungssysteme, die ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltig sind. Das ist das Konzept der Agrarökologie: die Vielfalt von Kulturen, die Integration der Tierhaltung im Sinne einer Kreislaufwirtschaft, gesunde Böden und ein effizientes Wassermanagement.
Mit der Verwendung von lokalen und an den Standort angepassten ertragreichen Sorten, verbesserter Pflanzenernährung durch passgenaue Düngung, gesunde Böden und effizientes Wassermanagement trägt dieses Konzept auch zur Erhaltung von Biodiversität bei. Ein wichtiger Schlüssel sind moderne Saatgutsysteme; sie ermöglichen die Anpassung an den Klimawandel und eine gesunde Ernährungsvielfalt. Kleinbauern müssen ganz klar den Zugang und die Wahlfreiheit für gesundes und leistungsfähiges Saatgut haben.
Das BMZ begrüßt daher den Antrag der Koalitionsfraktionen, durch die Förderung von Agrarökologie einen Beitrag zur Erreichung der nachhaltigen Entwicklungsziele zu leisten. Im Rahmen der Sonderinitiative „EINEWELT ohne Hunger“ haben wir, wie im Antrag aufgelistet, bereits einiges unternommen. Wir haben Gesprächsformate geschaffen wie den Runden Tisch „Ökologischer Landbau in Afrika“ oder die Fachgespräche zur Agrarökologie. Wir haben das neue Vorhaben Wissenszentrum „Ökolandbau in Afrika“ auf den Weg gebracht. Dort wird traditionelles Wissen mit dem neuesten Forschungsstand verbunden und verbreitert. Gleichzeitig wird die Marktentwicklung für ökologisch produzierte Produkte – und zwar nicht nur für den Export – unterstützt.
Auch die Grünen Innovationszentren unterstützen in 14 Ländern Afrikas und in Indien Kleinbäuerinnen und -bauern durch ressourcenschonende und kostensparende Anbaumethoden dabei, ihre Einkommen zu steigern. Dabei zeigt sich, dass durch Fruchtfolge, Feldrandbewirtschaftung oder effiziente Bewässerung „Dienstleistungen“ der Natur erhöht und gleichzeitig Kosten und Ertragsrisiken gesenkt werden können. Über die Andreas-Hermes-Akademie und den Deutschen Bauernverband unterstützen wir darüber hinaus den Süd-Süd-Austausch von Bauern.
Agrarökologie wird deshalb in Zukunft noch stärker im Fokus unserer Entwicklungszusammenarbeit stehen. Damit tragen wir nicht nur zum Erreichen des SDG-Ziels 2 – den Hunger beenden – bei, sondern berücksichtigen gleichzeitig auch viele andere Ziele der Agenda 2030.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion der Kollege Dietmar Friedhoff.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Es geht um Nachhaltigkeit. Aber mit dem „Nach“ ist das so eine Sache: Man denkt oft nach, wo man besser vor gedacht hätte. Man trifft oft Nach sorge, wo man besser Vor sorge getroffen hätte.
Deswegen sollten wir den Antrag auch mal genau unter diesen Gesichtspunkten untersuchen: Nach haltigkeit oder eben doch Vor haltigkeit? Also nicht nach beugen, sondern doch besser vor beugen. Diese Sichtweise soll uns einen realistischen Blick für die machbare Zukunft öffnen, und zwar jenseits von Technologiefragen im Bereich Anbau, Ernte sowie Lagerung und Logistik.
Der Antrag ist bestimmt gut gemeint. Aber wie so oft werden Worthülsen in langen Zielketten so lange vermischt, bis ein bunter Strauß von undefinierten Zielansprachen herauskommt.
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Dabei ist die wirkliche Frage doch: Welche Potenziale haben wir noch auf der Welt? Wie viel für was? Wie lange? Und für wie viele Menschen bitte genau? Eine Welt ohne Hunger – machbar? Eine Welt, die nicht nur Essen zur Verfügung stellt, sondern ausgewogene Ernährung. Und ich wiederhole: Wenn ja, für wie viele Menschen und Tiere gilt das bitte genau? Gibt es eine Grenze des Machbaren? Und wer bitte trägt bzw. will die Verantwortung tragen?
Was wir im Bereich der Landwirtschaft an Veränderungen erkennen, ist in erster Linie kein Klimaproblem, sondern ein menschengemachtes Umweltproblem: Abholzung, Raubbau an der Natur und damit einhergehende Verschmutzung der Gewässer. Das sind die Schlüsselfaktoren, die wir konsequent benennen müssen. Und wir müssen endlich weg von falschen Sichtweisen, weg vom unscharfen Begriff des Klimawandels hin zum Begriff einer Umwelt im Wandel.
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Dazu kommt: Die Weltbevölkerung wächst jeden Tag um 200 000 Menschen. Jeden Tag! Jedes Jahr kommen 80 Millionen Menschen hinzu – das entspricht einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland –, und davon bis zu 75 Prozent in Regionen von Armut, Hunger, ohne Zugang zu Wasser. Wenn es im Jahr 2050 10 Milliarden Menschen gibt und jeder Mensch ein Recht auf Nahrung hat, dann sagen Sie uns doch bitte einmal – alle, die hier sitzen –: Wie viel Agrarflächen braucht es dafür? Wie viel Weideflächen braucht es dafür? Wie viel Wasser braucht es dafür? Und steht uns das zur Verfügung, gerade auch in Bezug zu Ihrer Energie- und Mobilitätswende, die eben auch Verantwortung dafür trägt, dass es immer mehr Agrarflächen gibt, auf denen Monokulturen wie Mais, Raps, Palmöl und Soja angebaut werden? Waldflächen werden dafür unwiderruflich zerstört. Auch im Bereich der Weidetierhaltung: Immer mehr Weideflächen zerstören immer mehr Wald. Immer mehr Weidetiere bedeuten auch immer mehr Wasserverbrauch und immer mehr Agraranbau für die Ernährung dieser Tiere.
E-Mobilität, liebe Grüne, zerstört die Umwelt durch den Abbau von Lithium und Kobalt. Denn das zwingt die Kleinbauern in die Knie, das verunreinigt das Wasser und trocknet die Böden aus.
Herr Kollege, kommen Sie zum Ende, bitte.
– Jawohl, ich komme zum Schluss. – Das sind die Rahmenbedingungen. Bei der Zielmarke 10 Milliarden Menschen brauchen wir ein vorausgedachtes Konzept.
Bitte beantworten Sie endlich die Frage: Wie viele Menschen verträgt die Welt? Was kann die Welt leisten? Denn nur eine ehrliche Beantwortung dieser Fragen kann zu sinnvollen, machbaren und realistischen Antworten führen. Lassen Sie uns also weit vorausdenken –
So, jetzt ist gut.
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– für eine gesunde, menschliche und friedliche Zukunft.
Danke schön.
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Die Kollegen Dr. Sascha Raabe, Dr. Christoph Hoffmann, Eva-Maria Schreiber, Uwe Kekeritz und Peter Stein geben ihre Reden zu Protokoll und verdienen dafür Beifall,
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sodass ich die Aussprache zu TOP 20 schließen kann.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8941 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer im Deutschland von 1933 als sogenannter „Asozialer“ oder „Berufsverbrecher“ – wie es in der Sprache der Nationalsozialisten hieß – aktenkundig wurde, war im Visier der Verfolgungsbehörden. Es waren Obdachlose, Kleinkriminelle, renitente Fürsorgezöglinge, Frauen mit unehelichen Kindern, Oppositionelle, Streikende oder zum Beispiel Hamburger Swing Kids. Sie galten als gemeinschaftsfremd, arbeitsscheu, erblich minderwertig. Vor ihnen sollte die Volksgemeinschaft der Nationalsozialisten im Sinne der rassischen Generalprävention geschützt werden. Diese Menschen wurden ausgeschlossen aus dem Kreis der Freien, lebenslänglich, sie wurden in Konzentrationslagern interniert und mit dem schwarzen oder grünen Winkel gebrandmarkt.
Die Behörden des NS-Unrechtsstaates nahmen dabei den Tod der Häftlinge jederzeit in Kauf. Etwa 16 000 Menschen wurden direkt nach Verbüßung einer Haftstrafe zur sogenannten unbefristeten Sicherungsverwahrung ins KZ gebracht – ohne richterlichen Beschluss, ohne Rechtsmittel und ohne Beistand. Das war ein Bruch der internationalen Prinzipien eines rechtmäßigen Freiheitsentzugs.
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Auch 74 Jahre nach Kriegsende haben wir Deutsche immer noch Lücken in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Das betrifft den Holocaust, der in seiner monströsen Singularität zu Recht im Zentrum der deutschen Erinnerungskultur steht. Das betrifft auch bislang vergessene Menschen wie die sogenannten „Asozialen“ und die sogenannten „Berufsverbrecher“, die als Opfer des Nationalsozialismus bis heute nicht anerkannt sind. Es ist richtig: Unter den Internierten, Gequälten und im KZ Ermordeten waren auch Kriminelle mit schweren Vorstrafen; zum Teil fungierten sie als Kapos und Funktionshäftlinge. Darf man sie rehabilitieren? Ich sage: Ja,
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man kann und man muss; denn egal, was sie getan haben, sie waren letztendlich Opfer des perfiden Systems der Konzentrationslager, und genau wie alle anderen Häftlinge waren sie der Willkür ihrer Häscher und der Folter, dem Hungertod und der Ermordung ausgesetzt. Niemand saß zu Recht in einem Konzentrationslager!
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Die Betroffenen waren auch nach ihrer Befreiung aus dem KZ stigmatisiert. Viele schwiegen über das, was ihnen angetan worden war, die meisten von ihnen aus Scham. So fehlt ihre Perspektive im Narrativ der Überlebenden bis heute, ihre Schicksale sind die Leerstellen im kollektiven deutschen Gedächtnis.
Meine Damen und Herren, im Koalitionsvertrag heißt es, dass „weniger beachtete Opfergruppen des Nationalsozialismus“ anerkannt werden sollen. Dennoch zögert die Große Koalition seit über einem Jahr, genau das zu tun. Es ist heute an der Zeit, diese Gerechtigkeitslücke endlich zu schließen –
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für die wenigen Überlebenden, für die Nachkommen der Betroffenen und für uns selbst; denn Lücken dieser Art im kollektiven Gedächtnis bleiben nicht ohne Folgen. Lassen Sie uns im Ausschuss noch einmal eine gemeinsame Anstrengung unternehmen für eine interfraktionelle Initiative zur Anerkennung dieser Opfergruppen!
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Stimmen Sie unserem Antrag zu!
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Erlauben Sie mir zum Schluss ein persönliches Wort: Vor circa vier Stunden hat der Nobelpreisträger Bob Dylan in Berlin ein Konzert gegeben. Ich hätte mir dieses Konzert gerne angehört; aber noch lieber habe ich mich auf diese Rede vorbereitet. Wenn Sie sich jetzt, nach diesem letzten Tagesordnungspunkt, nach Hause begeben, hören Sie sich vielleicht Bob Dylans „Chimes of Freedom“ an
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und kommen dann mit mir zu dem Schluss: Niemand saß zu Recht im KZ, und jedes nachgeschobene Aber klänge wie eine erneute Verhöhnung der Geschundenen.
Ich danke Ihnen.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin Melanie Bernstein.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Auseinandersetzung mit Krieg und Gewaltherrschaft, mit Verbrechen und politischem Unrecht, das Gedenken an die Opfer, vor allem des Nationalsozialismus, spielen im Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland eine zentrale Rolle. In kaum einem anderen europäischen Land hat die Erinnerungskultur so starke interdisziplinäre Synergien und so große Medienwirkung wie in der Bundesrepublik. Dadurch gewinnt die deutsche Erinnerungskultur in der Kulturwissenschaft und in der Politik Vorbildcharakter für Europa.
Dabei hat die deutsche Erinnerung an Nationalsozialismus und Weltkriege selbst eine Geschichte: Eine intensive Auseinandersetzung und Aufarbeitung setzten in den ersten Jahren der Bundesrepublik erst sehr zögerlich ein; das Thema wurde zunächst weitgehend totgeschwiegen. Die DDR machte es sich einfach: Als per se antifaschistischer Staat lehnte sie jede Verantwortung für nationalsozialistische Verbrechen von vornherein ab. Erst in den vergangenen Jahrzehnten wandelte sich die Erinnerungskultur – nicht ohne zum Teil bitter geführte Kontroversen. Die Verantwortung, die sich aus der Vergangenheit ableitet, ist aber mittlerweile seit Jahrzehnten zu Recht Teil der deutschen Staatsräson.
Meine Damen und Herren, wir sprechen heute über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Anerkennung der NS-Opfergruppen der damals sogenannten ‚Asozialen‘ und ‚Berufsverbrecher‘“.
In zahlreichen Terminen während der vergangenen Wochen bin ich mit vielen unterschiedlichen Meinungen zu diesem Thema konfrontiert worden. Ich habe hier zwei wichtige Tendenzen für meine eigene Meinungsfindung mitgenommen. Zum einen: Niemand – kein Politiker, kein Historiker und kein Experte – kommt hier zu einem schnellen, einem vielleicht vorschnellen Urteil. Das ist an sich eine gute Nachricht, da die große Bedeutung des Themas „Gedenken an die NS-Zeit“ mir in jedem Gespräch sehr, sehr deutlich wird. Zum anderen merke ich, dass viele Gesprächspartner sich schwertun mit der Differenzierung besonders innerhalb dieser Opfergruppe, mit Einordnung, mit möglichen Konsequenzen für unsere gemeinsame Gedenkkultur. Ich teile nicht die Meinung, dass Letzteres an einem Unwillen liegt, Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ihre verdiente Anerkennung zu geben. Mir erscheinen hingegen drei Punkte bedenkenswert, die ich als persönliches Ergebnis meiner Überlegungen mit Ihnen teilen möchte:
Erstens. In der Betrachtung der historischen Entwicklung von Gedenken und Anerkennung sehen wir, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik einen fundamentalen Wandel in der Anerkennung der NS-Opfer gegeben hat. In den 1950er-Jahren wurden selbst die Verschwörer des 20. Juli von einer großen Zahl der Deutschen noch als Verräter betrachtet. Die Witwen und Kinder der Hingerichteten führten einen zum Teil jahrelangen und entwürdigenden Kampf um ihre Rechte. Viele verzweifelten daran, besonders in einer Zeit, als es den Tätern zu oft gelungen war, wieder in Amt und Würden zu kommen.
Dass damals von Homosexuellen, Sinti, Roma, Deserteuren oder eben sogenannten „Asozialen“ kaum bis gar nicht gesprochen wurde, entsprach einer Kombination aus Verdrängung eigener Schuld und einem unseligen Zeitgeist gegenüber dem, was damals auch im Strafrecht noch als außerhalb der Norm galt. Schließlich war die Idee einer präventiven Verwahrung vermeintlicher Verbrecher schon in der Weimarer Zeit und davor verbreitet. Sozialrassistische Konzepte der Kriminalprävention hatten eine lange Tradition, die zwar im Nationalsozialismus in systematische Gewalt mündete, jedoch auch vorher schon vorhanden gewesen ist.
Der Wandel von der Kriminalisierung der Opfer über ein schrittweises Eingeständnis von Verbrechen und Schuld hin zu der Form der Erinnerung, die wir heute leben und erleben, ist eine nicht unerhebliche gesamtgesellschaftliche Leistung, die wir nicht zu Unrecht positiv hervorheben können. Geprägt wurde sie maßgeblich auch von Zeitzeugen und Persönlichkeiten wie Richard von Weizsäcker, der 1985 in seiner vielbeachteten Rede zum 40. Jahrestag der Kapitulation sagte:
Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft.
Zweitens. Auch Homosexuelle, Juden, Sinti und Roma oder politische Oppositionelle wurden im Justizapparat des NS-Staates oftmals unterschiedslos als „asozial“ bezeichnet und entsprechenden Sanktionsmaßnahmen unterworfen. Ohne Zweifel wirkte auch nach 1945 dieses Stigma weiter. Dass es so lange dauerte, diese Opfer dem Vergessen zu entreißen, liegt eben auch daran, dass bis in die 1970er-Jahre die präventive Kriminalitätsbekämpfung nicht als NS-Unrecht galt, sondern als Fortsetzung von Kriminalpolitik mit anderen Mitteln.
Ich teile jedoch die Einschätzung der Autoren des vorliegenden Antrages nicht, dass auch 74 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz das Schicksal der Betroffenen in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sei. Insbesondere seit den 1990er-Jahren gibt es eine ganze Reihe von hochwertigen Publikationen zum Schicksal der sogenannten „Asozialen“, so zum Beispiel Wolfgang Ayaß’ „,Asoziale‘ im Nationalsozialismus“, Patrick Wagners „Volksgemeinschaft ohne Verbrecher“, oder „,Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘ in den Konzentrationslagern“ von Julia Hörath.
({0})
Der Sozialwissenschaftler Professor Frank Nonnenmacher hat sich bereits im Beirat der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ mit dem Thema befasst. Er tritt unter anderem dafür ein, zu diesem Thema eine Wanderausstellung zu erarbeiten.
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Im Mai 2017 führte der Ausschuss für Kultur und Medien ein Fachgespräch zum Thema „Würdigung aller Opfergruppen“ durch, bei dem auch Professor Nonnenmacher als Experte vortrug. Ein Jahr später führte der Ausschuss erneut ein Gespräch mit Professor Nonnenmacher, explizit zur Frage der Anerkennung von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“. All dies hat die Aufmerksamkeit von Fachkreisen und der Politik auf das Thema gelenkt.
Das führt mich zu meinem dritten Punkt. Natürlich hat niemand zu Recht in einem Konzentrationslager gesessen. Ich kann aber den Automatismus nicht teilen, mit dem offenbar operiert wird, wenn es um die Annahme bzw. Ablehnung des vorliegenden Antrags geht, nachdem man offenbar gegen die Anerkennung der sogenannten „Berufsverbrecher“ und „Asozialen“ sein soll, wenn man die Zielrichtung des Antrages nicht teilt.
Nach meiner Auffassung liegt ein fundamentales Missverständnis vor, was die Mechanismen der Gedenkkultur in Deutschland betrifft. Es gibt doch keine offizielle Erinnerungskultur, die vonseiten der Bundesregierung definiert, vorgegeben oder angeordnet würde. Gedenkstätten und Dokumentationszentren sind grundsätzlich frei in der Gestaltung des Schwerpunktes und des Inhaltes ihrer Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen. Es ist auch nicht so, dass den bundesseitig geförderten NS-Gedenkstätten und Dokumentationszentren diesbezüglich auf die Sprünge geholfen werden muss.
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In zahlreichen Ausstellungen wird das Thema der Verfolgung von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ bereits jetzt eingehend behandelt, und dafür bin ich sehr dankbar.
Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass für die Erarbeitung einer förderfähigen Ausstellung eine wissenschaftliche Fundierung erforderlich wäre. Die Erarbeitung eines eventuell förderfähigen Ausstellungskonzeptes kann aber ebenso wenig vonseiten der Bundesregierung vorgegeben wie angeordnet werden.
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Gegen Bildungsprojekte mit spezifischem Bezug zur genannten Opfergruppe ist überhaupt nichts einzuwenden. Jedoch müsste der Antrieb von den Trägern historisch-politischer Bildung kommen und nicht staatlich verordnet werden.
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Dabei freue ich mich, wenn wir alle gemeinsam die Träger entsprechend ermuntern, derartige Projekte auf die Beine zu stellen.
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Die Gedenkstättenkonzeption schließt in ihrer jetzigen Fassung keine Opfergruppe aus, sondern erstreckt sich vielmehr auf alle Opfer nationalsozialistischer Verbrechen.
Dass bislang im Rahmen der Gedenkstättenkonzeption kein Projekt mit dem spezifischen thematischen Schwerpunkt „Verfolgung von ‚Asozialen‘ und ‚Berufsverbrechern‘“ gefördert wurde, liegt nicht an einer zu engen Definition der NS-Opfergruppen, sondern darin begründet, dass bislang keine Förderanträge für Projekte mit genau diesem speziellen Fokus eingereicht wurden. Unterstützen Sie uns doch, bei den Gedenkstätten dafür zu werben, dass Förderanträge gestellt werden!
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Abschließend würde ich mir wünschen, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, mit der Differenzierung in der Erinnerungskultur bei ihren eigenen Parteifreunden beginnen würden. Dann müssten wir auch nicht verwundert zur Kenntnis nehmen, dass Ihre Landtagsabgeordneten, wie in München geschehen, ein Denkmal für die Trümmerfrauen – deren Aufbauleistung ich sehr viel Respekt entgegenbringe – verhüllen, dies mit der Argumentation,
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diese Frauen seien vor allem Altnazis gewesen. – Gedenkkultur geht über den eigenen ideologischen Tellerrand hinaus.
Danke.
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Der Kollege Thomas Ehrhorn hat das Wort für die AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie so oft in der Politik gibt es anscheinend auch heute wieder das Bedürfnis nach einer möglichst klaren und einfachen Welt, einer Welt, die sich leicht in Schwarz und Weiß – Täter und Opfer – einteilen lässt, weil derartige Verallgemeinerungen ja gut geeignet sind, das eigene Weltbild zu untermauern.
Leider spricht dieses undifferenzierte Bedürfnis nach Einfachheit auch aus den heute hier vorliegenden Anträgen.
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Wer die Täter sind, ist schnell ausgemacht.
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Also müssen doch diejenigen, die ihnen auf der anderen Seite gegenüberstehen, zwangsläufig Opfer sein. Ist das wirklich so einfach?
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Nein, das ist es eben leider nicht.
Wer sich in die Geschichte der Menschen einliest, die im Dritten Reich als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ bezeichnet wurden, stellt sehr schnell fest, dass dieses Bild keine klaren Trennlinien, dafür aber umso mehr Grautöne aufweist.
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Schwarz-Weiß-Malerei verfälscht das Bild und ist mehr als unangemessen.
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Sie ist schon deshalb unangemessen, weil der Begriff „Opfer“ im Zusammenhang mit den Konzentrationslagern des Dritten Reiches ganz bestimmte Assoziationen hervorruft, nämlich die Assoziation der totalen Unschuld, wie sie politisch Verfolgten und erst recht den Menschen zugeschrieben wird, die allein durch ihre vermeintliche Rassenzugehörigkeit vernichtet werden sollten.
Wollen wir uns also in angemessener Weise dem heutigen Thema annähern, dann haben wir über eine Fülle von Einzelschicksalen zu reden, denen wir nur dann gerecht werden können, wenn wir jeden einzelnen Fall auch gesondert betrachten.
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Wir sind uns einig, dass wirklich niemand in ein Konzentrationslager gehört. Wenn es aber darum geht, über welche Personengruppen wir hier heute eigentlich sprechen, dann müssen wir schon einmal etwas genauer hinschauen.
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Dafür, wer nach den Maßstäben dieser Zeit zu den „Asozialen“ gehörte, gibt es kaum konkrete Definitionen. Man zählte dazu Landstreicher, Bettler, Sinti und Roma, Alkoholiker, Kleinkriminelle, Zuhälter und solche, die man als arbeitsscheu einstufte. Und ja: Später wurde das Instrument der kriminalpolizeilichen Vorbeugehaft ohne rechtliche Grundlage immer weiter ausgedehnt; das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass für die Einstufung als Gewohnheitsverbrecher zunächst mindestens drei Straftaten mit mindestens sechs Monaten Haft vorliegen mussten, und dazu gehörten eben auch Totschläger, Betrüger und Vergewaltiger.
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Noch problematischer ist aber die Geschichte der sogenannten Kapos, der sogenannten Grünwinkler, welche die SS mitunter aus eben genau diesen Personengruppen rekrutierte, um sie als Funktionshäftlinge mit Macht und Vergünstigungen auszustatten. Nicht selten schlugen und töteten die Grünwinkler Mithäftlinge. Sie sabotierten den Widerstand im Lager, denunzierten und stahlen. Vorher standen sie am Rande der Gesellschaft, im Lager aber bildeten sie nicht selten die Spitze der Hierarchie der Schinder und Peiniger.
Deshalb ist es eben nicht möglich, allen sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ eine Art Generalamnestie einzuräumen, sie zu Opfern zu erklären, weil ein Teil von ihnen eben durchaus auch Täter war. Deshalb täten Sie gut daran, diese Anträge zu überdenken.
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Überdenken sollten Sie im Übrigen auch die Tatsache, dass in der Nachfolgediktatur, der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik, teilweise die gleichen Konzentrationslager als Speziallager weitergeführt wurden; denn im sozialistischen Unrechtsstaat gab es den § 249 StGB der DDR: „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“.
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Noch 1973 kam es zu 14 000 Verurteilungen.
Ich vermisse also die Forderung nach Anerkennung und Entschädigung der Opfer dieses sozialistischen Unrechtsstaates. Wenn es Ihnen so ernst ist mit der Aufarbeitung des Unrechts in den Diktaturen der jüngeren deutschen Geschichte, dann können Sie diesen Aspekt doch wohl nicht im Ernst ausblenden. Es würde Ihnen jedenfalls definitiv zu etwas mehr Glaubwürdigkeit verhelfen, dies nicht zu tun.
Vielen Dank.
({10}): Das lassen wir uns von Ihnen nicht sagen!)
Der Kollege Helge Lindh gibt seine Rede zu Protokoll. – Der nächste Redner ist der Kollege Thomas Hacker, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde ein ernstes Thema: Vergessene Opfer des Nationalsozialismus. Kann es das heute, also 70 Jahre nach seinem Ende, überhaupt noch geben? Wir wissen viel über die dunkelsten Jahre unserer Geschichte. Zeitzeugen wurden befragt, Fakten zusammengetragen und Dokumente durchforscht. Die Antwort auf die Frage muss uns beschämen; denn sie lautet: Ja.
Es gibt die vergessenen Opfer – vergessen deshalb, weil die Kategorisierung der Nationalsozialisten den betroffenen Menschen eingeimpft wurde. Die mit ihrem eigenen Schicksal verbundene Scham hat ein eigenes öffentliches Bekenntnis nach dem Überleben des Konzentrationslagers häufig verhindert. Die Verachtung durch die Gesellschaft – sie hält offensichtlich bis heute an – hat die Zeiten des Nationalsozialismus überdauert. Wir sprechen von den damals sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“.
Erinnern, Gedenken und die daraus abgeleitete Mahnung „Nie wieder!“ sind Kerne unserer Erinnerungskultur.
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Um zu erinnern, braucht es Orte sowie eine wissenschaftliche und pädagogische Aufbereitung. Nur so können das Unrechtsregime und seine fatalen Folgen für Lebensschicksale verständlich und nahbar gemacht werden.
Es gibt diese Orte in Deutschland, zum Beispiel die Gedenkstätten Flossenbürg und Sachsenhausen. Diese Orte stehen in engem Zusammenhang mit den vergessenen Opfern. Gerade Flossenbürg war ein Ort der Vernichtung durch Arbeit. Sogenannte „Berufsverbrecher“ mussten im Granitsteinbruch bis an und über das menschlich Mögliche hinaus arbeiten.
Um diese Orte enger mit den Schicksalen der Opfer zu verknüpfen, braucht es eine bessere Aufarbeitung und intensivere Forschung. Sichtbarkeit herstellen ist die oberste Prämisse. Dazu gehört selbstverständlich, das auszusprechen, was eigentlich jedem klar sein sollte: Die damals sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ saßen zu Unrecht in Konzentrationslagern, wie alle Menschen zu Unrecht in Konzentrationslagern saßen, und sie sind Opfer des Nationalsozialismus.
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Es gibt keine guten und keine schlechten Opfer. Niemand hatte es verdient, in ein Konzentrationslager verbracht zu werden.
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Wir müssen uns von den Brandmarkungen der Vergangenheit lösen und auf die einzelnen Menschen schauen. Als „Asoziale“ wurden Personen am Rande der Gesellschaft bezeichnet, also Menschen, mit denen es der Staat und die Gesellschaft schon damals nicht gut gemeint hatten. Ganz gleich, ob Obdachlose, Wanderarbeiter oder Bettler: Alle unterfielen der Kategorisierung und wurden im Konzentrationslager mit dem schwarzen Winkel gekennzeichnet.
Als Berufsverbrecher galten Personen, die in der Vergangenheit zu mindestens drei Freiheitsstrafen verurteilt worden waren. Der Nationalsozialismus stufte diese Menschen als „unverbesserlich“ und als „genetisch dazu bestimmt“ ein, Verbrechen zu begehen.
Die doppelte Tragik liegt jedoch darin, dass diese Opfergruppen nach Verbüßung ihrer eigentlichen Haft in ein Konzentrationslager verbracht wurden.
Und schlimmer noch: Auch nach dem Überleben und der Befreiung aus dem Konzentrationslager schämten sich viele Betroffene gerade wegen ihrer Einstufung. Oft wussten nicht einmal die eigenen Kinder oder Enkelkinder, dass der Vater oder die Großmutter im Konzentrationslager litten. Erst Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen aus dem Nachlass haben der eigenen Familie die erlittenen Qualen deutlich gemacht.
Mit unserem Antrag wollen wir die Anerkennung und Entschädigung der vergessenen Opfer erreichen und gleichzeitig die Lebenslinien der Betroffenen sichtbar machen, ihre Qual und innere Zerrissenheit nachempfinden und ihnen einen würdigen Platz in unserer Erinnerungskultur und unseren Gedenkstättenkonzepten geben.
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Schön wäre es gewesen, wenn wir eine breite Zusammenarbeit über die Fraktionsgrenzen hinweg erreicht hätten.
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Mehrere Monate haben wir darüber verhandelt. Übrig blieben zwei Anträge der Grünen und der Freien Demokraten. Wir werden beiden Anträgen zustimmen, und ich hoffe, die anderen Fraktionen tun dies auch.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort die Kollegin Brigitte Freihold.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich daran, wie sie die Würde all ihrer Mitglieder achtet.
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Die Versuche, die damalige Stigmatisierung der als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten nachträglich zu legitimieren, um die Anerkennung verweigern zu können, sind beschämend. Bei der Entschädigung der Zwangsarbeiter spielte der Lebenswandel keine Rolle.
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Den Menschen, die während der NS-Zeit als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ verfolgt wurden und der Willkür der SS in den deutschen Konzentrationslagern ausgesetzt waren, wurde bis auf den heutigen Tag keine öffentliche Anerkennung zuteil. Kein Mensch gelangte zu Recht in das Unrechtssystem Konzentrationslager.
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Die sozial-rassistische Kategorisierung von Menschen wirkt als vielfältiges Stigma weiter. Die Zahl der Attacken auf Obdachlose hat sich in den vergangenen sechs Jahren mehr als verdoppelt. Die Beleidigung „Asi“ findet sich auf nahezu allen Schulhöfen. Dieser Begriff ist Nazijargon.
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Rechtsextremistische Gewalt gegen Obdachlose und Hartz‑IV-Empfänger wird jedoch kaum im Zusammenhang mit den Nachwirkungen der nicht aufgearbeiteten NS-Stigmatisierung gesehen. Die mangelnde Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus traumatisiert auch die Nachkommen der Überlebenden, die vom Gedenken in den Gedenkstätten ausgeschlossen sind.
Die deutschen Nazis verschärften die schon im 19. Jahrhundert entstandenen Instrumente, wie die „korrektionelle Nachhaft“, zur sozialen Disziplinierung mittellos gewordener Gruppen. 1938 wurden im Zuge der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ Tausende Menschen direkt zur Zwangsarbeit und Vernichtung in KZs deportiert. Dies stand im direkten Zusammenhang mit den Kriegsvorbereitungen des NS-Regimes, das dringend mehr Arbeitskräfte brauchte. Der Zusammenhang zwischen NS-rassistischer Verfolgungspolitik und dem Nutzen für die deutsche Wirtschaft wird heute allzu gern ausgeblendet.
Das Stigma der selbstverschuldeten Verfolgung haftet den Verfolgten und ihren Nachkommen bis heute an. Doch ich wiederhole: Diese Menschen waren Opfer eines grausamen Unrechtsregimes.
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Ebenso wie den als „Asoziale“ Verfolgten erging es der Opfergruppe der als „Berufsverbrecher“ Kategorisierten. Menschen, die Vorstrafen aufwiesen, wurde eine kriminelle genetische Veranlagung zugeschrieben, und deshalb sollten sie dauerhaft in den KZs als Arbeitssklaven gehalten werden. Die fehlende Anerkennung beider Opfergruppen hat gravierende erinnerungspolitische Folgen.
Im berüchtigten Zuchthaus Sonnenburg waren Personen, die das Postgeheimnis der Wehrmacht verletzten, oder auch norwegische Widerstandskämpfer, die Juden nach Schweden schmuggelten, inhaftiert. In der Definition der Nazis waren das Berufsverbrecher. In Wahrheit waren sie politische Akteure.
Dass die Betroffenen es in einem sozialen Klima der fortwährenden Stigmatisierung vorzogen, nicht über ihre Haft zu sprechen, ist nur zu verständlich. Zu groß war die Scham, auch nach der Befreiung als kriminell diffamiert zu werden. In ihrer Heimat wurden sie als Widerstandskämpfer anerkannt.
Anita Lasker Wallfisch berichtete hier an dieser Stelle, wie sie der Selektion auf der Rampe in Auschwitz nur durch die Tatsache entkam, als Berufsverbrecherin wegen Urkundenfälschung im KZ interniert zu sein.
Es wäre im Sinne der Betroffenen und der notwendigen politischen Signalwirkung wünschenswert, zu einer einvernehmlichen interfraktionellen Lösung zu kommen. Dies erwarten die Überlebenden und ihre Nachkommen von uns.
Danke.
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