Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/15/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor 100 Jahren wurden 37 Frauen als Abgeordnete in die Nationalversammlung gewählt. Das war ein Anteil von 8,7 Prozent. Heute liegt der Frauenanteil bei 30,7 Prozent. Wenn es in diesem Tempo weitergeht, dann brauchen wir bei 22 Prozentpunkten in 100 Jahren weitere 100 Jahre bis zur Parität. Ich muss Ihnen sagen: Mir dauert das, ehrlich gesagt, ein bisschen zu lange. ({0}) Deshalb finde ich es richtig, dass jetzt ein bisschen Bewegung in die Sache kommt und Frauen aus den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, der Grünen, der Linken und der FDP sich zu einer Initiative zusammenschließen, die für etwas eintritt, was eigentlich logisch ist, nämlich dass, wenn 50 Prozent der Bevölkerung aus Frauen bestehen, dann auch 50 Prozent der Volksvertretung aus Frauen bestehen sollte. ({1}) Das ist eine gute Initiative, und ich möchte Sie ausdrücklich dabei unterstützen. ({2}) Es geht um viele Themen. Wir haben am nächsten Montag den Equal Pay Day, den Tag, an dem, immer wieder aufs Neue, seit mehreren Jahren daran erinnert wird, dass wir eben keine Lohngerechtigkeit von Männern und Frauen haben. Die Lohnlücke liegt bei 21 Prozent und die daraus folgende Rentenlücke bei 53 Prozent. Das ist nicht akzeptabel. Deshalb ist es gut, wenn für die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen gestritten wird und dafür, dass die sozialen Berufe aufgewertet werden. 80 Prozent derjenigen, die in sozialen Berufen arbeiten, sind Frauen. Wenn das Gehalt nicht stimmt, gibt es eben weniger Männer, die in diese Berufe gehen. Wenn wir wollen, dass sich das ändert, dann müssen wir die sozialen Berufe aufwerten. ({3}) Es geht aber genauso um die Frage von Frauen in Führungspositionen. Nach wie vor gibt es da einen erheblichen Unterschied. Seit das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen gilt, finden Unternehmen qualifizierte Frauen für die Aufsichtsräte; es sind immerhin 31 Prozent. Die feste Quote wirkt. In den Vorständen sieht es ganz anders aus. Da sehen wir 94 Prozent Männer und 6 Prozent Frauen. Es wäre schön, wenn dies anders wäre. Wir haben mehr Thomasse und Michaels in den Vorständen der deutschen Unternehmen als Frauen. Das ist schon bemerkenswert. Die Frage ist: Wie kann man das ändern? Es geht darum, dass wir eben nicht nur unverbindliche Empfehlungen aussprechen, sondern auch sagen: Unternehmen, die sich nicht auf den Weg machen und eine Zielgröße 0 für Frauen in Vorständen nicht einmal begründen, müssen vielleicht auch mal damit rechnen, dass es dafür eine Sanktion gibt. Da sind wir dran; das werden wir entsprechend auf den Weg bringen. ({4}) Wenn wir über die Chancen von Frauen, in Führungspositionen zu kommen, sprechen, ist mir wichtig, auch darüber zu reden, wie Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren sind. Es geht hier um das Thema Vereinbarkeit. Es geht um Rollenbilder und auch um die Frage, wie die Kinderbetreuung partnerschaftlich aufgeteilt werden kann und wie die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf möglich ist. Da wollen wir etwas tun. Wir haben mit dem Gute-Kita-Gesetz, mit der Stärkung der Kinderbetreuung entscheidende Schritte gemacht, um überhaupt zu ermöglichen, dass Frauen Familie und Beruf miteinander vereinbaren können. Das ist die Voraussetzung dafür, dass sie einen gleichberechtigten Weg und gleichberechtigte Bezahlung erreichen können. ({5}) Ein letztes Thema, das mir sehr wichtig ist: Wir dürfen nicht nur über Frauen in Führungspositionen reden. Wir müssen auch über die Frauen reden, die sich in einer schwierigen Lage befinden. Dazu gehören vor allen Dingen diejenigen, die von häuslicher Gewalt, von Zwangsheirat, von Zwangsprostitution, vielleicht sogar von Menschenhandel betroffen sind. Das sind genauso frauenpolitische Themen. Deshalb ist es richtig, dass wir als Bundesregierung in diesem Jahr das Aktionsprogramm gegen Gewalt an Frauen starten. Denn Frauen, die sich in einer solchen Lage befinden, können eben nicht gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben und auch nicht am Arbeitsleben teilhaben. Deswegen müssen wir uns dafür starkmachen. ({6}) Unser Leitsatz im Frauenministerium ist: Frauen können alles, und da, wo sie es noch nicht können, müssen wir dafür sorgen, dass sie es können. Wir müssen die Rahmenbedingungen schaffen. Die Geschichte lehrt, dass Frauenrechte niemals vom Himmel fallen. Sie sind nie von allein gekommen. Sie sind immer erkämpft worden. Wenn wir heute 100 Prozent Gleichstellung wollen, dann müssen wir auch etwas dafür tun. Unverbindliche Empfehlungen reichen nicht. Ich finde es supergut, dass so viele in diesem Parlament genau für diese Themen streiten, dass sie für bessere Löhne, für bessere Auf­stiegschancen, für mehr Frauen in Parlamenten und für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kämpfen. Dafür eine herzliche Ermutigung von meiner Seite! Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Beatrix von Storch, AfD. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei allem, was schlecht läuft in diesem Land, können wir heute aus Anlass des Internationalen Frauentages etwas Positives sagen: Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ist in Deutschland tatsächlich erreicht, und das schon seit Jahrzehnten. ({0}) Es ist heute selbstverständlich, dass Frauen und Männer das gleiche Wahlrecht haben, dass sie die freie Berufswahl haben und dass Frauen und Männer vor dem Gesetz gleich behandelt werden. ({1}) Und weil das so selbstverständlich ist, sollten wir darüber überhaupt nicht mehr sprechen. Deswegen brauchen wir eigentlich auch keinen Internationalen Frauentag. ({2}) Dem Mainstream-Feminismus geht es aber nicht um Gleichberechtigung, sondern um Gleichstellung. Gleichstellungspolitik zerstört Gleichberechtigung. Die Geschlechterparität im Wahlrecht zerstört die freie und geheime Wahl, vor allen Dingen die gleiche Wahl. Die Quote behindert die freie Berufswahl und die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. Wir müssen heute aktiv die Gleichstellungspolitik bekämpfen, um die Gleichberechtigung zu bewahren. ({3}) Gleichberechtigung heißt: Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, unabhängig von ihrem Geschlecht. Auf der Grundlage dieser Rechtsgleichheit können die Frauen und Männer dann freie Entscheidungen treffen. Wenn die Menschen sich frei entscheiden, dann können wir die Ergebnisse politisch nicht bestimmen. Genau das macht eine freie Entscheidung aus. Schon Goethe hat gewusst: Gesetzgeber, die Gleichheit und Freiheit versprechen, sind Fantasten oder Scharlatane. ({4}) Gleichberechtigung bedeutet nicht, dass in allen Gremien, in allen Vorständen, in allen Parlamenten eine paritätische Besetzung vorhanden ist, und auch nicht, dass in allen Berufen und in allen Branchen gleich viele Männer und Frauen arbeiten müssen. Für die Politik muss gelten: Freie Bürger treffen freie Entscheidungen, und die Politik respektiert das Ergebnis – das ist Gleichberechtigung –, ({5}) nicht: Die Politik zwingt, manipuliert, fordert, bevormundet und indoktriniert so lange, bis das politisch gewünschte Ergebnis eintritt. Das ist Gleichstellung. Und das ist genau Ihr Ansatz, der Ansatz von Ihnen allen hier. Ihr real existierender Staatsfeminismus will Vorgaben machen, und die Bürger sollen sich danach richten. Diese Vorgaben sind: Beruf und Karriere – gut, Hausfrau und Mutter – schlecht; staatliche Kinderbetreuung – gut, Eigenbetreuung – schlecht; Frauen weg von den sozialen Berufen, rein in die MINT-Fächer und Männer weg von den MINT-Fächern, rein in die sozialen Berufe; ({6}) Frauen in die Produktion und Männer an den Wickeltisch. Das ist Ihre geschlechterpolitische staatsfeministische Planwirtschaft. ({7}) Es steht dem Staat überhaupt nicht zu, irgendwelche Vorgaben zu machen. Die Bürger entscheiden ganz alleine, was sie wollen. Wir brauchen auch keine Supernanny, die uns sagt, was wir mit unserem Leben anfangen sollen. Wenn bei gleichen Rechten und Pflichten Männer und Frauen sich unterschiedlich entscheiden, dann hat der Staat das zu respektieren. Und wenn die Folge davon ist, dass eben nicht in allen Lebensbereichen oder Berufen eine 50-Prozent-Quote herrscht, dann ist das so. Wenn mehr Frauen Automechaniker werden wollen, dann ist das gut; wenn sie es nicht werden wollen, dann ist das auch gut. Wir sind für die Freiheit und gegen die Bevormundung, für die Chancengleichheit und deswegen gegen Paritäts- und Quotenwahn. Ob Sie es hören wollen oder nicht: Die einzige Partei in diesem Haus, die die Gleichberechtigung verteidigt, ist die AfD. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Abgeordneten Annette Widmann-Mauz, CDU/CSU. ({0})

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kanzlerin, Professorin, Unternehmerin – ja, das kommt uns ohne Zögern über die Lippen. Wir haben viel erreicht. Und Frau von Storch, das macht den Unterschied: Wir sind ambitionierter als Sie; ({0}) denn wir geben uns nicht damit zufrieden, wenn es noch Frauen gibt, die trotz Arbeit kein auskömmliches Einkommen haben, wenn es noch Frauen gibt, die vor häuslicher Gewalt in Frauenhäuser fliehen müssen, und wenn es noch Frauen gibt, die aus Ländern zu uns kommen, in denen Gleichberechtigung und Selbstbestimmung keineswegs selbstverständlich sind. ({1}) Dass wir viel erreicht haben, ist vor allen Dingen ein Erfolg des Wirkens von Frauen für Frauen und ihre Rechte. Ein Meilenstein war die Einführung des Frauenwahlrechts vor 100 Jahren; denn seither können Frauen nicht nur wählen, sondern auch ihre Themen setzen. Glaubt denn jemand ernsthaft, dass die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe ohne das Wahlrecht von Frauen durchgesetzt worden wäre? ({2}) Dennoch: Gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Prägungen sind hartnäckig. Familien- und Hausarbeit ist nach wie vor überwiegend Frauensache. Soziale Arbeit wird geringer entlohnt als die Arbeit am Band. Das Prinzip der „homosozialen Reproduktion“, wie es in der Wissenschaft heißt, oder, einfacher gesagt, „Herr Schmidt sucht Herrn Schmidtchen“ bei der Nachfolge in Führungspositionen, ändert sich eben auch nicht von heute auf morgen. Und leider gibt es in diesem Haus noch eine Partei, die Gleichberechtigung und Frauenrechte als lächerlich abtut. ({3}) Als Staatsministerin für Integration geht es mir auch um die Frauen, die aus Regionen der Welt zu uns kommen, in denen Unterdrückung und Gewalt zum Alltag gehören. Ich sage ganz klar: Für Gewalt gegen Mädchen und Frauen gibt es null Toleranz! ({4}) Deshalb haben wir in diesem Haus das Sexualstrafrecht reformiert, die Kinderehe verboten und die Genitalverstümmelung auch im Ausland unter Strafe gestellt. ({5}) Lassen Sie mich an diesem Morgen, an dem wir so schreckliche Nachrichten aus Neuseeland gehört haben, noch einmal klar sagen: Auch jede Form von Gewalt und Terror gegenüber Andersgläubigen muss von uns aufs Schärfste verurteilt werden. Ich trauere am heutigen Morgen um die Menschen, die in Christchurch zum Freitagsgebet gekommen sind und so bestialisch und grausam ermordet worden sind. ({6}) Was wir jetzt brauchen, ist eine Integrationsoffensive. Wussten Sie zum Beispiel, dass es unter den Frauen mit Migrationshintergrund mehr Abiturientinnen gibt als unter den Frauen ohne Migrationshintergrund? Wenn es uns jetzt gelingt, dass die Frauen, die zu uns kommen, frühzeitig an Integrationskursen teilnehmen, die Sprache erlernen und den Berufseinstieg schaffen, dann wird auch die Integration ihrer Kinder gelingen. Und darin liegt eine große Chance für uns. ({7}) Wir haben in Deutschland Strukturen, um die uns andere beneiden: Elterngeld Plus, Rechtsanspruch auf einen Krippen- und einen Kitaplatz, Brückenteilzeit, das Gute-Kita-Gesetz. Und mit der Mütterrente haben wir die Rentenlücke von Frauen verringert. Dennoch gibt es gerade bei der Rente nach wie vor deutliche Unterschiede. Auch deshalb diskutieren wir über die Grundrente. Aber, liebe SPD, Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Hälfte der Rentnerinnen nicht auf die geforderten 35 Jahre in der Rentenversicherung kommt. Darauf müssen wir eine Antwort geben. Eine Grundrente muss gezielt helfen; sie darf nicht neue Ungerechtigkeiten schaffen. ({8}) Politik hat eine Schlüsselfunktion. In 70 Jahren ist es nicht annähernd gelungen, dass die Hälfte der Abgeordneten im Bundestag Frauen sind. Vor 25 Jahren hat der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit die Ergänzung von Artikel 3 des Grundgesetzes um den Auftrag zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung beschlossen. ({9}) Wie glaubwürdig sind wir denn, wenn wir Gleichberechtigung mit Fördermaßnahmen, mit Gleichstellungsplänen und Quoten im öffentlichen Dienst und in der Wirtschaft gesetzlich fordern, bei uns selbst hier im Parlament und in den Parteien aber nicht handeln? Eine Wahlrechtsreform jedenfalls, die ausschließlich die Begrenzung der Mandate zum Ziel hat, greift hier doch ganz klar zu kurz. ({10}) Es ist jetzt an der Zeit, uns als Parlament an unserem eigenen Anspruch zu messen und uns selbst in die Pflicht zu nehmen. ({11}) Und was anderes als halbe-halbe kann ein realistisches und angemessenes Ziel sein? Wir müssen jetzt die konkreten Schritte festlegen, um neue Instrumente für die gleiche Teilhabe von Frauen im Bundestag zu entwickeln. Das ist unsere Verantwortung. Aber vor allen Dingen ist es eine Frage der Glaubwürdigkeit dieses Hauses. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Nicole Bauer, FDP. ({0})

Nicole Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Besuchertribüne! So oft habe ich in letzter Zeit gehört, dass 2019 das Jahr der Frauen werden kann. Beflügelt vom Jubiläum des Frauenwahlrechts und befeuert von der Diskussion zu § 219a, sind Frauenrechte endlich wieder ganz weit oben auf der politischen Agenda, und das ist auch gut so. ({0}) Wir haben in Sachen Gleichberechtigung viel erreicht – formal –, aber eben noch nicht genug. Ein Feiertag als Symbolpolitik reicht nun wirklich nicht aus, meine Damen und Herren! ({1}) Wir müssen stattdessen ran an die gelebte Wirklichkeit und veraltete Rollenbilder aufbrechen. Für mich liegt die Lösung in zwei Dingen: Diversity und Digitalisierung. Unsere Welt wird immer vielfältiger und digitaler. Diversity und Digitalisierung begegnen uns überall. Sie begleiten uns im Alltag, und sie eröffnen neue Chancen, vor allem und gerade wenn es um Gleichberechtigung geht. ({2}) Durch die Digitalisierung verändert sich unsere komplette Arbeitswelt. In der Pflege beispielsweise werden Roboter die beschwerlichen Aufgaben übernehmen. So bleibt mehr Zeit für die Arbeit mit den Menschen. Pflege wird noch überwiegend von Frauen gemeistert. Ihre Bedeutung wird aus meiner Sicht immer größer. Pflege muss damit einhergehend besser bezahlt werden. Für viele andere Berufe eröffnet die Digitalisierung viel mehr Flexibilität, wenn es darum geht, wie man zeitlich arbeitet und wo man arbeitet. So kann man die Vereinbarkeit von Familie und Beruf tatsächlich meistern. ({3}) Außerdem wird bei der Digitalisierung auch die digitale Kompetenz immer wichtiger. Genau deshalb ist es so wichtig, dass wir unsere Kinder fit für die Zukunft machen, völlig egal, ob Mädchen oder Junge. Beide gleichermaßen für das Programmieren oder die MINT-Fächer zu begeistern, das ist der Schlüssel, liebe Kolleginnen und Kollegen, darin liegt die Chance. Damit erreichen wir tatsächliche Vielfalt. ({4}) Das bringt mich unmittelbar zu Diversity. Wir wissen doch alle: Gemischte Teams sind erfolgreicher und innovativer. Deshalb können wir es uns gar nicht mehr leisten, auf Frauen zu verzichten, egal in welcher Branche, egal in welchem Beruf. Sie werden auf allen Ebenen wichtig sein. Gleiches gilt für Männer in sozialen Berufen. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass sich Familien anders organisieren werden. Die Aufteilung zwischen Sorge- und Erwerbsarbeit wird vielfältiger, ja partnerschaftlicher werden. Da brauchen wir nun wirklich keine Angst zu haben, meine Damen und Herren. Es ist wichtig, Digitalisierung und Diversity als Chance zu begreifen, als Chance für echte, gelebte Gleichberechtigung. Frauen sind gleichberechtigt. Sie sind stark und mit Männern auf Augenhöhe. ({5}) So wollen wir miteinander reden, arbeiten und uns vernetzen. So wollen wir aber auch behandelt, gefördert und bezahlt werden. Das sollten wir jeden Tag leben, Frauen und Männer, und damit ein Vorbild sein. So stellen wir uns das vor. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sabine Zimmermann, Die Linke, ist die nächste Rednerin. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit fast 30 Jahren bin ich in der Politik aktiv. Jedes Jahr höre ich am Internationalen Frauentag warme Worte der Bundesregierung, aber geändert hat sich wenig. Wir sagen: zu wenig bei den Arbeits- und Lebensbedingungen. Um die geht es nämlich, meine Damen und Herren, wenn wir am Internationalen Frauentag eine Debatte führen. ({0}) Es geht um die Verkäuferin im Einzelhandel, die einfach keine Vollzeitstelle bekommt. Aber in Teilzeit reicht der Lohn nicht. Also muss sie einen Zweitjob annehmen. Bei der nächsten Änderung des Schichtplanes muss sie aber zittern, ob die neuen Arbeitszeiten mit ihrem Zweitjob vereinbar sind. Es geht um die Pflegerinnen, die miserable Arbeitsbedingungen haben und mit niedrigen Löhnen abgespeist werden. Schaffen Sie endlich den Niedriglohnsektor ab! Das ist Ausbeutung und nichts anderes, meine Damen und Herren! ({1}) Unfreiwillige Teilzeit, Minijobs, Niedriglohn, Arbeiten ohne Sozialversicherung, davon sind Frauen doch besonders betroffen. Die Linke fordert klare Regeln für gute Arbeit, die für Frauen spürbar etwas bewirken. ({2}) Und niedrige Löhne ziehen immer niedrige Renten nach sich. Altersarmut ist da vorprogrammiert. Sorgen Sie endlich dafür, dass Frauen im Alter eben nicht auf die Tafeln angewiesen sind. ({3}) Die Linke sagt: Rauf mit dem Rentenniveau auf 53 Prozent! Und eine solidarische Mindestrente von 1 050 Euro, damit ein Leben in Würde machbar ist! ({4}) Frauen wie auch Männer müssen ihre Arbeitskraft verkaufen, oft zu miserablen Bedingungen. Aber die Arbeit von Frauen wird schlechter bezahlt, und Frauen leisten den größten Teil der Fürsorgearbeit in der Familie. Beides hängt zusammen. Um das zu ändern, reichen weder Ihre Sonntagsreden noch die Gesetze mit den schönen Namen. Da ist Mut für grundlegende Veränderungen gefordert, und den haben Sie nicht. ({5}) Die letzte Bundesregierung kümmerte sich lieber um 20 Aufsichtsrätinnen statt um 20 Millionen erwerbstätige Frauen. Die neue Bundesregierung hat das Recht auf Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit eingeführt, aber ein Großteil der Beschäftigten geht leer aus. Gleichstellung für einige wenige ist eine Alibiveranstaltung, aber keine Politik, meine Damen und Herren. ({6}) Ich will es mit den Worten von Clara Zetkin sagen: Der Kampf um die Gleichstellung der Frau ist kein Kampf zwischen den Geschlechtern, sondern ein Kampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten. – Es geht nicht um den steigenden Anteil von Frauen in Aufsichtsräten. Es geht darum, die Interessen der Menschen durchzusetzen, die in der Gesellschaft benachteiligt sind. Dafür steht Die Linke. ({7}) Die Linke fordert: Frauen gehört die Hälfte der Sitze in den Parlamenten! Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, gute und selbstbestimmte Arbeitsbedingungen, starke Betriebsräte und Gewerkschaften und eine verlässliche soziale Sicherung, und das nicht nur am Internationalen Frauentag, nein, 365 Tage im Jahr! Danke schön. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Frauentag ist Feier- wie Kampftag. Wir feiern all die Frauen, die das Leben unserer Töchter, unserer Schwiegertöchter, unserer Enkelinnen und unser eigenes besser gemacht haben: die Parlamentarierinnen, die vor 100 Jahren da waren, die Mut und Stärke bewiesen haben, diejenigen, die später für das eigene Konto und den eigenen Arbeitsvertrag für Frauen gekämpft haben, oder die Macherinnen der Quote in Aufsichtsräten; denn es macht wenig Sinn, die einen gegen die anderen auszuspielen, meine Damen und Herren. ({0}) Wir feiern so mutige Ärztinnen wie Kristina ­Hänel. Ich weiß übrigens, dass Kompromisse manchmal schmerzhaft sind. Schmerzhafter ist es aber, so zu tun, als würden Kompromisse das Problem lösen. Nein, das Problem ist nicht gelöst. Nach wie vor leben die Ärztinnen und die betroffenen Frauen in Rechtsunsicherheit; das muss man sagen. Deswegen bleibt die Streichung des § 219a StGB auf der Agenda, auf der Tagesordnung – bei uns jedenfalls, meine Damen und Herren. ({1}) Ich bin froh: Frau Nahles, Frau Giffey und Frau Barley wollen die Parität. Auch Frau Kramp-Karrenbauer sagt, das könne man ja im Kontext der Wahlrechtsreform überlegen. Komisch, in der Kommission dazu waren wir dann mit diesem Thema allein. Das ist sehr bedauerlich. Aber das schafft auch Klarheit: Dann lassen wir halt die Verknüpfung. Dann machen wir das eben parallel. Dann werden wir gleichzeitig, von mir aus sogar früher, damit fertig. Zeigen Sie jetzt bitte, dass Sie das wirklich wollen. Dann geht es schnell mit den Eckpunkten. Dann geht es schnell mit einem Zeitplan. Die nächsten Termine stehen ja schon fest. Wenn wir uns ranhalten, haben wir bald ein Ergebnis. Das Hohe Haus kann sich auf ein wirksames Gesetz freuen. Denn wie heißt es so schön im Grundgesetz? Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Aber eben auch: Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. Also, los mit der Parität! ({2}) Aber wir waren beim Feiern. Ich feiere auch die nächste Generation, Greta Thunberg, Luisa Neubauer, ({3}) die heute zusammen mit anderen in über 180 Städten bei „Fridays for Future“ demonstrieren. ({4}) Ich sage all den Kollegen und offenbar auch ein paar Kolleginnen hier und draußen, die über diese Frauen gespottet haben und weiter spotten: Es ist immer ein großer Fehler, eine kluge Frau nicht ernst zu nehmen. Manchmal ist das der letzte Fehler, den man macht, meine Damen und Herren. ({5}) Wir feiern übrigens auch Männer, progressive Männer, die wegen Wörtern wie „Gleichberechtigung“, „Equal Pay“ oder „Teilzeit“ nicht gleich ihre Männlichkeit in Gefahr sehen, sondern darin eine Chance sehen oder gar Normalität. ({6}) Ich feiere aber nicht Sie von der AfD. Warum? Beispielsweise weil Sie die Familienministerin, statt sie zu ihrer Politik zu befragen, lieber wegen eines Fotos in einer Arbeitsuniform verspotten. Wird Ihnen Ihr geringer Frauenanteil im Parlament vorgerechnet, reden Sie hier in diesem Haus von „natürlicher Auslese“. Dann meinen Sie noch, dass jemand, der keine männlichen Geschlechtsteile habe – nein, ich zitiere nicht, was Sie wirklich gesagt haben –, nicht regieren dürfe. ({7}) Das ist nur eine kleine Auswahl Ihrer hier protokollierten Ausfälle. Kein Respekt, kein Stil, kein Anstand! Sie von der AfD sind so etwas wie der parlamentarische Arm der Hater im Netz, meine Damen und Herren. Deswegen: Der Frauentag bleibt ein Kampftag, gerade Ihretwegen, meine Damen und Herren. ({8}) Zu kämpfen haben wir wahrlich genug. Der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern beträgt noch immer 21 Prozent. Nein, wir können das nicht hinnehmen. Was auch furchtbar ist – meine Vorrednerinnen haben darauf hingewiesen –, ist die Gewalt gegen Frauen, egal wo und in welcher Konstellation. Lassen Sie mich zwei Zahlen nennen: 147 Frauen sind 2017 von ihrem Partner ermordet worden, 114 000 erleben Gewalt von ihrem Partner. ({9}) Und nein, das sind keine Beziehungsdramen, wie manche gerne bagatellisieren, das ist Mord, und das ist Gewalt, und so müssen wir das auch nennen, meine Damen und Herren. ({10}) Ein Wort, liebe Frau Giffey, muss sein: Fairness herstellen, ohne Väter gegen Mütter und umgekehrt auszuspielen, geht wirklich anders. Nach Ihrem Interview machen sich Alleinerziehende in diesem Land viele Sorgen, dass sie noch weniger haben werden, obwohl es eh schon kaum zum Leben mit den Kindern reicht. Das können wir nicht akzeptieren, das können wir nicht wollen. Ja, es gibt Mittel, Fairness herzustellen: Nehmen wir die Kindergrundsicherung, nehmen wir die Möglichkeit, Mehrbedarfe im Steuerrecht anzuerkennen, nehmen wir all die Punkte, die tatsächlich helfen, Kinderarmut zu bekämpfen und Fairness herzustellen, ohne das eine oder andere dann doch zu lassen. Bitte verunsichern Sie gerade die Alleinerziehenden in unserem Land nicht weiter. Die haben etwas anderes verdient: Unterstützung, Support, dass wir ihnen den Rücken stärken. ({11}) Zum Schluss. Auch international gibt es viel zu tun. Wir brauchen – wir haben hier darüber diskutiert – eine feministische Außenpolitik. Frieden halten länger mit Frauen. Wenn sie am Verhandlungstisch sitzen, dann bedeutet das, dass die Konflikte tatsächlich dauerhafter gelöst werden. Wie gut ist es doch, dass Frauen an die Verhandlungstische kommen und gleichzeitig natürlich auch in die Botschaften. Meine Damen und Herren, verschaffen wir Frauen eine stärkere Stimme, nicht nur am Frauentag, sondern an allen Tagen im Jahr. Ja, natürlich, die Frauen bilden Banden. Das tun sie schon längst, das wird so bleiben. Es geht darum, gleich berechtigt zu sein und nicht später. Danke schön. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Leni Breymaier, SPD. ({0})

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Am Montag begehen wir zusammen den Equal Pay Day. Der Equal Pay Day ist der Tag, bis zu dem Frauen arbeiten müssen, um dasselbe Gehalt zu haben wie die Männer im ganzen Vorjahr, bis zum 31. Dezember. Das ist dieses Jahr der 18. März, es war letztes Jahr der 18. März, es war vorletztes Jahr der 18. März. Nächstes Jahr wird es wahrscheinlich der 17. März sein, weil dann Schaltjahr ist. ({0}) Erstmals hat sich das Datum nach vorne verschoben, als der Mindestlohn seine Wirkung entfaltet hat. Vorher war der Tag irgendwann nach dem 20. März erreicht. Das zeigt ganz konkret: Der Staat kann auch hier steuern. ({1}) Der Staat steuert auch, er muss auch steuern. Wir steuern mit der Brückenteilzeit. Wir steuern mit der Unterstützung von Flächentarifverträgen für Altenpflegerinnen. Wir steuern mit dem Gute-Kita-Gesetz. ({2}) Wir steuern auch zum Beispiel bei der Grundrente, aber da leider hinterher. Sehr geehrte Frau Widmann-Mauz, natürlich erreichen auch die Frauen im Westen die 35 Jahre, weil wir nicht allein die Jahre der Erwerbsarbeit dazuzählen, sondern auch die Jahre der Kindererziehung und die Jahre der Pflege. ({3}) Insofern lassen Sie uns gemeinsam für die Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung kämpfen. Es ist so: Es geht immer mal ein Stück vorwärts, aber wir müssen auch aufpassen, dass es nicht rückwärtsgeht. Wir haben zum Beispiel zurzeit eine Auseinandersetzung in einer typischen Frauenbranche, im Einzelhandel, bei Kaufhof. Die Beschäftigten bei Kaufhof streiten um den Erhalt ihrer Tarifbindung. Damit streiten sie auch um den Erhalt des Flächentarifvertrages, und sie fordern ganz zu Recht eine Allgemeinverbindlichkeit. Ich wünsche den Kaufhof-Beschäftigten hier viel Glück, weil es da um eine Auseinandersetzung in einer Frauenbranche geht. ({4}) Es ist aber auch klar: Die eigentliche Auseinandersetzung, die wir zu führen haben, ist eine Auseinandersetzung, bei der nicht die Frauen auf dem Spielfeld und die Männer auf der Zuschauerbank sind. Wir haben hier eine Auseinandersetzung mit den Männern zu führen. Die Männer müssen von der bezahlten Arbeit abgeben. Die Männer müssen von ihrem Vermögen abgeben. Die Männer müssen Macht abgeben, ({5}) und sie müssen Verantwortung abgeben. Sonst kommen wir nicht weiter, sonst werden wir jedes Jahr hier stehen und salbungsvolle Worte sprechen und nicht nach vorne kommen. ({6}) Ich habe meine Rede mit der Anrede begonnen, die Marie Juchacz bei der ersten Rede einer Frau in der Nationalversammlung verwendet hat, mit der Anrede „Meine Herren und Damen!“. Ich habe das sehr bewusst gemacht, weil es auch eine Verneigung vor den Frauen ist, die vor über 100 Jahren für das Frauenwahlrecht gekämpft haben. Sie wurden dafür geächtet, sie wurden bespuckt, sie wurden geschmäht, und sie wurden belächelt. Ich finde, das, was diese Frauen auszuhalten hatten, ist etwas, was wir nicht im Ansatz aushalten müssen. Ich sage trotzdem: Nett sein, meine lieben Kolleginnen, liebe Frauen, bringt uns nicht weiter. Wir müssen auch den Willen zum Streit haben, zum Beispiel auch für ein Parité-Gesetz. ({7}) Wir sind heute beieinander, weil wir über den Internationalen Frauentag sprechen. Deshalb möchte ich einen internationalen Aspekt in meine Ausführungen aufnehmen. Vor wenigen Tagen wurde im Iran Nasrin Sotude zu 33 Jahren Haft verurteilt. Es kommen noch fünf Jahre Haft aus einer anderen Verurteilung dazu – 38 Jahre Haft und 149 Peitschenhiebe, weil sie als Menschenrechtsanwältin Frauen verteidigt hat, die sich gegen die Zwangsverschleierung gewehrt haben. Meine Solidarität gilt heute Nasrin Sotude. Ich fordere alle, die hier Verantwortung haben, auf, sich dafür einzusetzen, dass diese Frau freigelassen wird. ({8}) In diesem Sinne bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit und wünsche allen Mitstreiterinnen und Mitstreitern einen tollen Equal Pay Day. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nicole Höchst, AfD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Werte Kollegen! 2019 – nächster Weltfrauentag, nächste Runde Heuchelei, nächste Runde lauwarmes Anfassen, nächste Runde AfD-Ba­shing! Heute stellt sich doch die Frage: Brauchen wir den klassischen Feminismus noch? Weg damit! Sie alle – außer der AfD – sind in der Fläche nicht willens und in der Lage, den Elefanten anzusprechen, der im Raume steht. Sie sind nicht willens und in der Lage, die islamische Unterwerfung der Frau deutlich anzuprangern. ({0}) Ganz im Gegenteil dazu fällt diese islamische Besonderheit bei Ihnen unter eine Art Bestandsschutz einer falschen, liberalen Auslegung unseres Grundgesetzes. Sie setzen unter dem Deckmäntelchen von totaler Toleranz ({1}) und Multikulti-Ekstase Artikel 4 Grundgesetz absolut und akzeptieren unter der Freiheit des Glaubens und ungestörter Religionsausübung stillschweigend, dass Frauen im Islam eben nicht gleichberechtigt sind. Ihre Politik ist untauglich. Wir verzeichnen zum Teil großen zahlenmäßigen Zuwachs im Bereich Kopftuchzwang schon bei jungen Mädchen, Mehrehekinder, Zwangsehen – Cousins und Cousinen heiraten –, religiös und kulturell nicht sanktionierte Gewalt in der Ehe, Genitalverstümmelung und sogenannte Ehrenmorde und Massenvergewaltigung. Sie lassen als Volksvertreter seit Jahrzehnten Frauen, muslimische Frauen, in Deutschland und Deutschland durch Wegsehen und lautes Schweigen im Stich. ({2}) Diese Frauen und Mädchen in Deutschland hatten Vertrauen in unsere Gesetze und in unseren Staat. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass Sie damit sexistisch, rassistisch und diskriminierend gegenüber den betroffenen Frauen handeln ({3}) und dass Sie Deutschland verraten. Sie alle hier schauen gerne – auch heute – in ferne Länder und wollen dort die Dinge verbessern. Schauen Sie sich lieber hier in Deutschland um. Recherchieren Sie einmal im Internet „Die Leine des Grauens“. Stellen Sie sich darüber hinaus die Frage, besonders die sogenannten frauenbewegten Politikerinnen unter Ihnen: Wollen Sie das so? Wollen Sie Frauenrechte zurück in die Steinzeit katapultieren? Echt jetzt? ({4}) Ja, Vergewaltigung und Mord gab es immer schon in Deutschland. Das galt und gilt es mit aller Härte zu bekämpfen. Das heißt aber auch, dass wir nicht ohne Not zusätzliche Horden testosterongesteuerter junger Männer aus islamisch geprägten Kulturkreisen en masse importieren und uns mit Messern oder sonst wie abschlachten lassen. ({5}) Diese Leute sagen uns zum Hohn vor deutschen Gerichten aus, dass die vorangegangenen Konflikte in ihrer Kultur eben mit dem Messer gelöst werden. Das können Sie nachlesen. ({6}) Dafür bekamen und bekommen sie leider noch allzu oft einen strafmildernden Kulturbonus vor deutschen Gerichten. Sie, deutsche Volksvertreter, schützen Sie nicht mehr durch Ihr lautes Schweigen, Ihr Relativieren, Beschönigen, Nicht-wahrhaben-Wollen und Ihr Schattenboxen im Rahmen von – für Sie ungefährlichen – Me-too-Kampagnen unsere Schlächter. Schützen Sie nicht mehr unsere Frauenrechteabschaffer in spe! Und: Schützen Sie unsere Frauen und Mädchen! Schützen Sie Deutschland! Können Sie überhaupt noch in den Spiegel schauen? Ich appelliere an Sie – noch lauter als im letzten Jahr –: Hören Sie endlich auf, Busen in Parlamenten zu zählen! Hören Sie endlich auf, zu feiern und sich dafür feiern zu lassen, dass Sie es Gott sei Dank endlich geschafft haben, die Werbung für straffrei gestellte Tötung von Kindern im Mutterleib zu legalisieren! Schützen Sie endlich wirksam Frauen und Mädchen und Deutschland! Setzen Sie unsere grundgesetzlich verbrieften Rechte mit aller gebotenen Härte und aller gebotenen Konsequenz endlich durch, für alle! ({7}) Wahrheit kann in einer Demokratie niemals Hetze sein. Gewalt und gesellschaftliche Spaltung kann nie eine Lösung sein. Es wird allerhöchste Zeit für Frauenpolitik, die den Namen auch verdient hat, Zeit für die AfD. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Silvia Breher, CDU/CSU. ({0})

Silvia Breher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004681, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich war Anfang der Woche in New York zur Eröffnung der 63. Sitzung der Frauenrechtskommission der Vereinten Nationen. Das ist immerhin die zweitgrößte Veranstaltung nach der Generalversammlung der Vereinten Nationen überhaupt: mit 10 000 Teilnehmerinnen über zwei Wochen. Bis Ende nächster Woche geht es dort noch um die sozialen Sicherungssysteme, Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und nachhaltiger Infrastruktur, die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung von Frauen und Mädchen. Vieles von dem, was dort besprochen wird und was dort auf der Tagesordnung steht, ist für uns schon selbstverständlich; aber für die Frauen und Mädchen an vielen Orten auf der Welt noch in ganz weiter Ferne. Wenn ich mit Frauen ins Gespräch komme, zum Beispiel mit Frauen aus Afrika, dann kommt in der Regel immer dieselbe Reaktion: Sie kommen aus Deutschland? In Deutschland ist alles gut, Sie haben die Gleichberechtigung, bei Ihnen sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Wie habt Ihr das geschafft? – Sie schauen eben neidvoll nach Deutschland. Ja, wir haben viel erreicht, vielmehr unsere Mütter und unsere Omas für uns. Wir haben gerade 100 Jahre Frauenwahlrecht gefeiert, und in unserem Grundgesetz ist die Gleichberechtigung verankert. Trotzdem ist bei uns noch lange nicht alles in Ordnung. ({0}) Es macht mich immer wieder fassungslos – das ist schon angesprochen worden –, dass hier bei uns in Deutschland alle zwei bis drei Tage eine Frau von ihrem Partner oder ihrem Ex-Partner umgebracht wird. An jedem Tag des Jahres gibt es den Versuch einer Tötung. Jede vierte Frau in Deutschland hat im Laufe ihres Lebens schon einmal partnerschaftliche Gewalt oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft erlebt. Solange das in Deutschland so ist, sind wir von Gleichberechtigung weit entfernt. Das müssen wir an einem Tag wie heute immer wieder ansprechen. ({1}) Aber auch sonst können wir uns noch lange nicht zufrieden zurücklehnen, obwohl wir in den letzten Jahren vieles auf den Weg gebracht haben hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und auch in Sachen Chancengleichheit. Frauen verdienen eben immer noch 21 Prozent weniger, unter anderem, weil sie in anderen Branchen tätig sind und andere Berufe haben. Aber auch in den MINT-Fächern haben wir bislang nur einen ganz kleinen Anteil Frauen. Auch in den Parteien und hier im Haus müssen wir uns nur umschauen: Wir sind einfach nur wenige. Wenn dann die Familienphase ansteht, dann ist das Argument: „Na ja, du verdienst ja auch weniger“ ziemlich stark. Dann sind es eben die Frauen, die in die Familienphase gehen, die Elternzeit nehmen und die Hausarbeit übernehmen. Aber ist ja nicht so schlimm, dafür arbeiten zwei Drittel der Frauen dann ja auch nur noch Teilzeit. Von den Männern oder Vätern sind es nur 10 Prozent. Was dann mit den Renten passiert, das wissen wir alle. Über all das wundern wir uns ernsthaft, während wir zu unseren Töchtern sagen: „Sei mal brav“, und zu unseren Söhnen: „Setz dich mal durch“? Wir wundern uns darüber, wo doch das Spielzeug und die Püppchen für die Mädchen rosa sind und die Techniksachen ausschließlich in blau verpackt werden? Wir wundern uns darüber, obwohl die Vorbilder unserer Töchter Prinzessin Elsa und Co sind und die Vorbilder der Jungs Superhelden der Welt? „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Dieser Satz in unserem Grundgesetz ist eben keine Tatsache, sondern ein ständiger Auftrag an uns alle; denn alleine durch Gesetze, durch Verbote und am Ende auch durch Quote erreichen wir keine Gleichberechtigung. Gleichberechtigung muss eine Grundüberzeugung sein. Sie muss in Fleisch und Blut übergehen, bei Männern und bei Frauen. ({2}) Und ja, die gesetzliche Quote in den Aufsichtsräten hat am Ende bewirkt, dass dort jetzt 30 bis 31 Prozent Frauen sitzen. Aber funktioniert die Quote? Ich finde, sie funktioniert nicht; denn in den Vorständen wirkt sie nicht, und in den Führungsetagen wirkt sie auch nicht. Was ist passiert? Die Unternehmer setzen sich hin und sagen: Ich soll die 30-Prozent-Quote erfüllen, das mache ich. Darüber hinaus denke ich aber nicht nach. Was muss ich verändern? Was muss ich in meinem Unternehmen verändern? Wie muss ich Führungskultur verändern? Was wollen Frauen? Was brauchen Frauen in Führungspositionen? Brauchen Sie vielleicht eher ein Au-pair-Mädchen, eine persönliche Assistentin und keinen großen Dienstwagen? – Darüber müssen wir nachdenken. Dieses Umdenken fehlt. ({3}) Männer und Frauen sind nicht gleich, sie ticken nicht gleich – und genau das ist gut so. Darauf müssen wir eingehen. Darauf muss die Gesellschaft eingehen. Wenn sich aber nichts ändert, dann ist es doch völlig klar, dass Frauen unzufrieden sind, dass sie unzufrieden bleiben und dass der Schrei, der Ruf nach Quoten überall stärker wird. Wir alle sind aufgefordert, die Frauen genauso wie die Männer, nicht nur hier im Plenum, sondern auch im alltäglichen Leben die Gleichberechtigung in unserem Land und in unserem Leben zu erreichen. Nur dann können wir Vorbild für andere Länder sein. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Gyde Jensen, FDP, ist die nächste Rednerin. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Feministin, weil es immer noch Menschen auf der Welt und auch in Deutschland gibt, die Frauen kleinmachen wollen, und ich in einer Gesellschaft leben will, in der Emanzipation als eine Aufgabe begriffen wird, der sich Männer und Frauen gemeinsam verschreiben. ({0}) Ich bin Feministin, weil Gleichberechtigung nicht nur ein ökonomischer Anreiz sein kann, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit ist und es unsere Pflicht ist als Politiker mit Vorbildfunktion, genau diese einzufordern. Ich bin Feministin, weil ich nicht für andere nur nett lächeln will und als hysterisch bezeichnet werden will, nur weil ich als Frau meine Meinung sage, ({1}) und ich in der Politik für eine Gesellschaft kämpfe, in der Frauen und Mädchen ermutigt werden, Chancen zu ergreifen. Ich bin Feministin, weil es immer noch Menschen gibt, die Frauen bei gleicher Qualifikation und gleicher Leistung immer noch 6 Prozent weniger bezahlen, und ich in einer Gesellschaft leben will, in der es faire und gerechte Löhne gibt. Ich bin Feministin, weil es in Deutschland den § 219a StGB leider immer noch gibt, der davon ausgeht, dass Frauen nicht selbstständig denken können, und eine konservative Große Koalition in Deutschland Politik nach Gefühl macht, ohne erkennbaren Willen, den Betroffenen wirklich zu helfen. ({2}) Ich bin Feministin, weil eine Schwangerschaft bei einigen Arbeitgebern leider immer noch als Nachteil gilt und ich in einer liberalen Gesellschaft leben möchte, in der umfangreiche Betreuungsangebote zur Verfügung stehen, ({3}) das Midlife-BAföG existiert, mehr Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung vorhanden ist und dies dazu führt, dass Selbstbestimmung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf keine Fremdwörter mehr sind. ({4}) Ich bin Feministin, weil eine knappe Mehrheit in den EU-Mitgliedstaaten laut einer Studie immer noch Frauen am liebsten in der Rolle der Hausfrau sehen möchte und ich in einem Europa leben will, das ein Vorbild beim Thema Gleichberechtigung ist – ohne Rollenbilder und mit Chancengerechtigkeit. ({5}) Ich bin Feministin, weil der Frauenanteil in europäischen Parlamenten leider immer noch bei nur 29 Prozent liegt und ich in einer Gesellschaft leben will, in der Politik Vielfalt vorlebt und in der Flexibilität das politische Engagement, vor allen Dingen auch von jungen Frauen, sei es ehrenamtlich oder im Hauptberuf, belohnt. Ich bin Feministin, weil es weltweit leider nur 2 Prozent Frauen in der Position von Friedensmediatoren gibt, Frauen aber nachweislich von bewaffneten Konflikten ganz besonders betroffen sind und ich im Ausland gerne sagen können möchte, dass Deutschland vor allen Dingen ab April dieses Jahres mit der Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat die Aufgabe einnimmt, als Stimme Europas für eine gleichberechtigte Welt zu streiten. ({6}) Ich bin Feministin, weil Frauenrechte Menschenrechte und Menschenrechte Frauenrechte sind, es aber immer noch Länder auf der Welt gibt, in denen Frauen ihre Kleidung nicht frei wählen können, sie Männer als Vormünder ertragen müssen und zum Teil nicht einmal von ihren Menschenrechten wissen. ({7}) Es gibt leider viel zu viele Gründe, heute Feministin zu sein. Aber es gibt für mich keinen wirklichen Grund, keine Feministin zu sein. ({8}) Politik sollte sich genau dieser Realität annehmen, und zwar nicht für uns Frauen, die hier in den Parlamenten sind, sondern genau für die Frauen, die es vielleicht noch nicht sind und die weltweit für Gleichberechtigung streiten. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Doris Achelwilm, Die Linke. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, Kollegen und Gäste! Der Internationale Frauentag ist heute so zeitgemäß wie vor 100 Jahren; wir haben es gehört. Das ist aber nicht nur traurig: Wir haben am 8. März auch sehr viel gefeiert. Wir haben gefeiert, dass wir uns in vielen Städten neu verbinden, dass Frauen sich neu gegen ihre Benachteiligung und gegen die Abwertung ihrer Arbeit organisieren, und wir feiern, dass wir uns gemeinsam dafür einsetzen, Parität durchzusetzen, und das auch hier im Bundestag. Das war auch ein Anlass, den 8. März nicht nur negativ zu sehen. ({0}) Am meisten hat aber die Frauenstreikdemos dieses Jahr wohl bewegt – das muss man sagen –, dass der § 219a weiter im Strafgesetzbuch steht. Die beispiellos teure und unnötige Studie von Herrn Spahn legte noch eins obendrauf: Das ist eine Geldverschwendung sondergleichen und eine frauenfeindliche dazu. Wir sind sehr dagegen! ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute findet am Amtsgericht Hamburg eine wichtige Verhandlung statt. Meine Fraktionskollegin Cornelia Möhring ist als Prozessbeobachterin vor Ort. Ein bekannter Abtreibungsgegner verklagt Kersten Artus, Journalistin und Vorsitzende von pro familia Hamburg, weil sie seinen Namen öffentlich machte und damit seiner Meinung nach gegen Persönlichkeitsrechte verstößt. Dieser Abtreibungsgegner, der gerne anonym sein will, hat seine Mission mehrfach in Interviews dargelegt. In einem „taz“-Interview vom 10. April 2018 berichtet er über sein Vorgehen. ({2}) Er suchte im Internet nach Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen. Wenn er bei Arztpraxen dann fündig geworden ist, erstattet er gleich online die Strafanzeige und sagt – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: Ich mache das jetzt seit gut drei Jahren und habe, würde ich mal schätzen, 60 bis 70 Anzeigen erstattet. Das ist halt so mein Hobby. ({3}) Dieser Hobbydenunziant ist seit 2015 aktiv und hinterlässt in der Statistik des Bundeskriminalamts deutliche Spuren. In den Jahren 2012 bis 2014, also vor seiner Zeit, gab es insgesamt 16 Strafanzeigen gegen Ärztinnen und Ärzte in dieser Sache. In den Jahren 2015 bis 2017 waren es 83 Ermittlungen wegen § 219a; das sind fünfmal so viele. Auf sein Konto gehen auch Anzeigen unter anderem gegen Kristina Hänel. Neuerdings ist er außerdem im Abmahnwesen und mit Unterlassungsklagen unterwegs. Das Nachrichtenportal BuzzFeed wurde von ihm verklagt, weil es aus seinem Namen – mit Recht – kein Geheimnis machte, der – ich zitiere – Yannic Hendricks ist. ({4}) Die Redaktion von BuzzFeed hat den Prozess im Januar am Landgericht Düsseldorf gewonnen, weil es eben zur Pressefreiheit gehört, den Namen politischer Aktivisten von öffentlicher Bedeutung zu nennen. Für die Linksfraktion kann ich sagen, dass wir auch Kersten Artus ein erfolgreiches Verfahren wünschen und solidarische Grüße nach Hamburg senden. ({5}) Eine bessere Situation wäre natürlich – das ist längst überfällig –, es gäbe solche Verfahren und Strafbezüge überhaupt nicht. Die Große Koalition hat an dieser Stelle schwer versagt, als es darum ging, hier Rechtssicherheit zu schaffen. Ich hoffe, das ist Ihnen am Fall Yannic Hendricks noch mal klar geworden. § 219a stellt sich auch in seiner geänderten Fassung gegen die Selbstbestimmungsrechte von Frauen und die Berufsfreiheit von Ärztinnen und Ärzten. Er gehört ersatzlos gestrichen. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Melanie Bernstein, CDU/CSU, ist die nächste Rednerin. ({0})

Melanie Bernstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004670, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der vergangenen Woche ist in Gütersloh ein Mann mit dem Titel „Spitzenvater des Jahres“ ausgezeichnet worden. Dieser Preis unter der Schirmherrschaft von Bundesministerin Franziska Giffey wird vergeben, um – ich zitiere – „die wichtige Rolle des Vaters für die Entwicklung von Kindern ins Bewusstsein zu rufen“. Der Vater bekam ihn, weil seine Frau als erste deutsche Astronautin im kommenden Jahr für zehn Tage zur Internationalen Raumstation ISS fliegen soll. Der Preis ist mit 5 000 Euro dotiert. ({0}) 5 000 Euro für zehn Tage Kinderbetreuung. Wir sehen also: Über die Frage, wie normal es ist, dass Väter sich um ihre Kinder kümmern, gibt es in Deutschland noch einigen Gesprächsbedarf. ({1}) Wo steht die öffentliche Debatte? Wir diskutieren leidenschaftlich, wie man Frauen in Vorstände großer Unternehmen bekommt. Wir sprechen über Toiletten für das dritte Geschlecht, gendergerechte Sprache und darüber, ob ein weiblicher Hauptmann in der Bundeswehr künftig vielleicht Hauptfrau heißen sollte. ({2}) Was mir fehlt, ist die Lebenswirklichkeit der ganz normalen Leute. ({3}) Ich sage das ganz bewusst; denn ich habe den Eindruck, wir bewegen uns oft irgendwo zwischen Elitendiskussion und Irrelevanz. ({4}) Die übergroße Mehrheit der Frauen hat ganz andere Sorgen als Gendersternchen und geschlechtergerechte Verkehrsschilder. ({5}) Aber zunächst zum Positiven. Unternehmen und Headhunter suchen händeringend nach weiblichen Führungskräften, und zwar nicht nur als Alibi. Männer gehen viel selbstverständlicher in Elternzeit als noch vor einigen Jahren. Das ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Natürlich gibt es hier Luft nach oben. Derzeit nehmen rund 80 Prozent der Männer eine Elternzeit von zwei Monaten und gehen anschließend wieder in Vollzeit arbeiten. Frauen arbeiten, nachdem sie Kinder bekommen haben, mehrheitlich in Teilzeit. Das hat erhebliche Auswirkungen: auf die weitere Karriere, auf Rentenansprüche und soziale Sicherheit. Trotzdem ist die Einführung des Elterngeldes durch Ursula von der Leyen ein Meilenstein gewesen. Gesellschaftliche Prozesse brauchen Anstöße, und das war einer. ({6}) Heute reden wir über die „gläserne Decke“, über Quoten in Politik und Wirtschaft. Wir sollten aber auch über die Frau sprechen, die als Bankangestellte arbeitet, als Buchhalterin in einem mittelständischen Unternehmen, als Landwirtin im Familienbetrieb oder Polizeimeisterin im Streifendienst. Das sind nämlich die wirklichen Leistungsträgerinnen unserer Gesellschaft. ({7}) Das ist die Ärztin, die nach zwei Kindern eine Karrierepause einlegt und es dann schwer hat, den Anschluss zu finden, die keine Oberärztin wird, weil der männliche Kollege eben keine Auszeit genommen hat. Der hilft man auch nicht mit einer Quote. Sie braucht eine gute, verfügbare und hochwertige Kinderbetreuung, gern auch nach 16 Uhr, Verständnis beim Arbeitgeber, wenn das Kind mal krank ist, einen Partner, der sein Ego überwindet und zugunsten seiner Familie vielleicht auf den nächsten Karriereschritt verzichtet. Das ist ein gesellschaftlicher Prozess des Umdenkens, der lange dauert – zu lange, auch für mich. Schließlich stehe ich hier vor Ihnen als berufstätige Mutter zweier schulpflichtiger Kinder, und als solche erlebe ich noch etwas anderes, das ich ansprechen möchte. Frauen erleben einen erheblichen gesellschaftlichen Druck, wenn sie ihre Karriere trotz Familie konsequent verfolgen. Da gibt es viele Menschen, oft auch Frauen, die ihnen genau das vorwerfen: ({8}) Sie seien Rabenmütter, hätten zu wenig Zeit für ihre Kinder und würden ihr familiäres Glück dem Beruf opfern. Das ist kein Problem der fehlenden Quote oder der Männergesellschaft; das ist ein Punkt, bei dem wir Frauen uns auch mal an die eigene Nase fassen müssen. ({9}) Wir können in dieser Debatte auf Erreichtes verweisen; wir können noch nicht Erreichtes beklagen. Aber wir müssen Lösungen aufzeigen; denn dafür sind wir in dieses Parlament gewählt worden. Auf meiner persönlichen To-do-Liste als Mitglied im Familienausschuss und als Mutter stehen hier zwei wichtige Punkte. Erstens. Wir müssen weiter daran arbeiten, dass sich das Betreuungsangebot für Kinder verbessert. Darauf sind, jenseits der Debatte, wie Partner sich Erziehung besser teilen, vor allem alleinerziehende Elternteile angewiesen; das betrifft übrigens Frauen und Männer gleichermaßen. Zweitens. Wir müssen dafür sorgen, dass es auch der Regelfall für Männer wird, nach der Geburt von Kindern mal in Teilzeit arbeiten zu gehen. Das größte Hindernis für die Karriere von Frauen ist doch, dass Personalchefs bei der Besetzung einer Führungsposition im Hinterkopf haben: Die Frau macht irgendwann Teilzeit, der Mann arbeitet immer voll. – Das ist doch die eigentliche „gläserne Decke“. Aber das kann keine Quote ändern, sondern nur ein gesamtgesellschaftlicher Prozess des Umdenkens. Das braucht Zeit und Anreize. Lassen Sie uns diese Anreize gemeinsam setzen! Lassen Sie uns nicht vergessen, dass auch Väter ihre Kinder super versorgen können! Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass Alleinerziehenden das Leben leichter gemacht wird, dass schon erkämpfte Frauenrechte nicht durch eine falsch verstandene Toleranz gegenüber religiösen Extremisten gefährdet werden! Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten, dass unsere Töchter und Söhne in keiner geschlechterbasierten Konkurrenz zueinander stehen! Danke sehr. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Uwe Kamann.

Uwe Kamann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004772, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich verneige mich vor allen Frauen, die einen langen Kampf unter großem persönlichem Einsatz geführt haben. Mehrere Generationen haben nicht nur das Wahlrecht oder die Berufsfreiheit, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht der Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen in Deutschland ermöglicht. Das heißt nicht, dass es hierzulande in allen Lebensbereichen paradiesische Zustände gibt. Wir müssen noch vieles dafür tun, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern, wir müssen § 219a abschaffen, und wir müssen vor allem die Leistung von Frauen in allen Bereichen angemessen anerkennen und honorieren. ({0}) Gleichwohl leben wir in einem Land, in dem Gleichberechtigung von Frauen und Männern bereits Realität ist. Sie ist grundgesetzlich verbrieft, auch wenn die linken Parteien SPD, Linke und Grüne mit Scheingefechten und gendergerechter Sprache und Quotenzwang uns etwas anderes weiszumachen versuchen. Wir brauchen keine zwanghaften Quoten, weder in der Privatwirtschaft noch in den Parlamenten. Was wir ebenfalls nicht brauchen, ist eine linksgrüne Bevormundung. ({1}) Erst recht brauchen wir kein sogenanntes Paritätsgesetz. Der Vorstoß Ihrer Kollegen in Brandenburg, sehr geehrte Abgeordnete der SPD, Linken und Grünen, ermöglicht keine echte Parität. Wer echte Parität mit statischer Gleichmacherei gleichsetzt, zementiert eine nicht nur verfassungsmäßige Ungleichheit. Wenn Sie glauben, dass Sie zum Beispiel durch Quoten mehr Frauen für die Politik begeistern können, werte Kollegen von der SPD, dann frage ich mich, warum zwei Drittel Ihrer Mitglieder immer noch Männer sind, ({2}) obwohl Sie doch bereits 1988 eine Quotenregelung in Ihrer Partei eingeführt haben, gerade um Frauen in Ihre Partei zu locken. Auch Sie kriegen das mit: Anscheinend ist das Instrument Frauenquote nach über 25 Jahren erfolgloser Quotenvorgabe zumindest in der SPD mehr als deutlich gescheitert. ({3}) Was Sie geschafft haben, ist, eine Parteiminderheit, nämlich knapp 30 Prozent, überproportional in Führungsgremien zu hieven. Was Sie dabei übersehen oder nicht wahrhaben wollen, ist die Tatsache, dass die Quote kein Garant für erstklassige Politik oder Arbeit ist. ({4}) Kompetente und fähige Frauen setzen sich auch ohne Quoten durch – auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen. Erzwungene Geschlechterquoten nutzen also niemandem. Erweisen wir deshalb den Frauen, rund hundert Jahre nachdem sie zum ersten Mal in Deutschland wählen durften, den Respekt, echte, zielführende Instrumentarien zu entwickeln, die dazu führen, dass es am Ende des Tages vollkommen irrelevant ist, welches Geschlecht jemand hat. ({5}) Ob weiblich, männlich oder sogar divers, das darf in Zukunft keine Rolle mehr spielen, weder in der Wirtschaft noch in der Politik noch in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben. Haben Sie den Mut, diesen neuen Evolutionsschritt zu gehen, gemeinsam! Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sönke Rix, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Bernstein hat gerade eben angesprochen, wie Männer gefeiert werden, wenn sie Selbstverständlichkeiten nachgehen. Dass der Mann einer Astronautin, weil er, sage ich mal, zehn Tage lang die Erziehung der Kinder übernimmt, einen Preis bekommt, ist eigentlich der Beweis, warum wir den Internationalen Frauentag tatsächlich immer noch sehr dringend brauchen. ({0}) Die Tatsache, dass es immer noch zu Verwunderung oder Respekt oder Anerkennung kommt, wenn sich Männer in gleichstellungspolitische Debatten einmischen und dort Positionen beziehen, die von Feministen auch bezogen werden, ist der zweite Grund, warum klar ist, dass wir den Internationalen Frauentag auf jeden Fall brauchen. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir vieles feiern, wie Frau Göring-Eckardt das gesagt hat, diese Selbstverständlichkeit gibt es nicht; denn es gibt immer noch von mehreren Seiten, sowohl hier in diesem Hause als auch in der Gesellschaft insgesamt, sehr viel Druck, Gleichberechtigung wieder zurückzudrehen, Gleichstellung wieder zurückzudrehen. Die Kollegin Zimmermann hat es gesagt: Hier sind viele warme Worte gesprochen worden. – Aber es stimmt nicht, dass keine Maßnahmen getroffen worden sind. Das fängt an beim Mindestlohn und geht weiter über die Rentenpolitik und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, all diese ganzen Themen. ({1}) Da ist über die Jahre sehr viel erreicht worden. Ich will damit auch würdigen: Es waren vor allen Dingen auch die Frauen, die an der Spitze dort gekämpft haben. ({2}) Deshalb ist es auch nicht einzusehen, wenn jemand sagt, dass nichts passiert; denn das ist nicht wahr. ({3}) Salbungsvolle Worte habe ich insbesondere von Frau Bauer und Gyde Jensen gehört. Toll – das Bekenntnis, Feministin zu sein. Toll – das Bekenntnis: Wir brauchen auf allen Ebenen genauso viele Frauen wie Männer. „Wir müssen da Vorbild sein“, haben Sie gesagt, Frau Bauer. Das finde ich genau richtig. Ich konnte jedes Wort Ihrer Rede mit unterstreichen. ({4}) Aber glauben Sie wirklich, dass das von alleine passiert? Wir brauchen dafür gesetzliche Maßnahmen. ({5}) Dazu sollte sich auch die FDP durchringen, meine Damen und Herren! Insbesondere dann, wenn es um Vorbildfunktion in diesem Parlament geht, nützt es nichts, zu sagen, dass man Feministin ist, und dann nützt es nichts, zu sagen, dass man Vorbild ist. Der Markt, liebe FDP, regelt diese Frage nämlich nicht. ({6}) Dann haben wir gerade eben gehört, wie bedauerlich und wie schrecklich es ist – das teile ich auch –, dass es Frauen gibt, die außerhalb der Bundesrepublik und außerhalb Europas aufgrund auch von religiösem Druck Gewalt ausgesetzt sind und Unterdrückung erleben müssen. Aber dass das ausgerechnet von einer Person einer Fraktion gesagt wird, die am liebsten diesen Frauen hier gar keine Zuflucht bieten will, das ist eine große Frechheit. ({7}) Frau Bernstein hat angesprochen, dass wir nicht immer nur über Gendersternchen und all diese Dinge sprechen sollen. Ich will Ihnen sagen: Das eine tun und das andere nicht lassen. ({8}) Ich glaube, wir sollten beides machen. Das tun wir auch. Ich glaube, man sollte nicht sagen, dass die Große Koalition nichts unternommen hat beim Thema Lohngerechtigkeit, beim Thema „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, beim Thema Rente. Wir haben genau für die arbeitnehmenden Frauen etwas getan, und wir werden auch weiterhin etwas tun. Man muss, glaube ich, beides tun: Man muss in der Sprache aufpassen, man muss die Quoten auch haben. Man muss auch deutlich sagen, dass es im Kopf anfängt. Wie heißt es so schön? Der Fisch fängt vom Kopf an zu stinken. – Man muss beides tun, und das tun wir auch als Große Koalition, meine Damen und Herren. ({9}) Ich will noch einen letzten Satz sagen, weil ich diese Aktion ganz nett finde: Wir haben demnächst den Equal Pay Day; mehrere Rednerinnen haben schon darauf hingewiesen. Die BVG, die Berliner Verkehrsbetriebe – in Berlin kennen die alle – werden am Equal Pay Day den Frauen anbieten, dass sie mit einem 21 Prozent günstigeren Ticket fahren können, um damit deutlich zu machen: Wir haben verstanden, dass die Frauen tatsächlich für ihre Leistung zu wenig bekommen. – Ich finde diese Aktion gut. Solange solche Aktionen leider noch notwendig sind, brauchen wir den Internationalen Frauentag. Wir haben noch viel zu tun – packen wir es an! Danke schön. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Anja Weisgerber, CDU/CSU, ist die voraussichtlich letzte Rednerin in dieser Debatte. ({0})

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind zwar in der Gegenwart angekommen, aber noch nicht in einer zufriedenstellenden Gegenwart. Diesen bemerkenswerten Satz hat unsere Bundestagspräsidentin a. D. Rita Süssmuth bei der Feier zu 100 Jahren Frauenwahlrecht hier gesagt. In vielen Bereichen haben wir schon ganz viel geschafft, und dafür bin ich allen Frauen und auch den Männern, die dafür gekämpft haben, sehr dankbar. Bis in die 70er-Jahre mussten Frauen ihre Männer noch um Erlaubnis fragen, ob sie arbeiten dürfen. Heute ist es selbstverständlich, dass eine Bundeskanzler in Deutschland regiert. Meine Kinder, sechs und acht Jahre alt, haben mich kürzlich gefragt, ob es denn möglich ist, dass auch ein Mann Bundeskanzler wird. Frauen gehen heutzutage ganz selbstverständlich ihren Weg. Sie stehen ihre Frau. Sie machen Karriere. Das ist die Realität in der heutigen Zeit, und das ist auch gut so, meine Damen und Herren. ({0}) Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir den Ansporn haben, noch mehr zu erreichen. Wir wollen mehr Frauen in Führungspositionen. Wir wollen eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf – eine noch bessere Vereinbarkeit. Wir wollen Teilzeitmodelle auch in Führungsebenen. Wir wollen einen besseren Schutz von Frauen bei häuslicher Gewalt und die Aufwertung der sozialen Berufe – und vieles mehr. Zum Thema „bessere Alterssicherung von Frauen“. Ich bin wirklich stolz darauf, dass wir mit der Mütterrente schon viel erreicht haben. Beim Thema „Altersarmut von Frauen“ geht es aber auch generell darum, Kindererziehungszeiten und auch die Zeiten für die Pflege von Angehörigen noch besser anzurechnen, und dafür kämpfen wir auch, meine Damen und Herren. ({1}) Wenn man sich zum Beispiel die Häufigkeit von Vornamen in Handelsregistern anschaut, stellt man fest, dass man auf die unterschiedlichsten Vornamen trifft: Michael, Hans, Thomas, Peter. Erst auf Platz 61 folgt der erste weibliche Vorname, nämlich Katja. Ähnlich ist es bei Staatssekretären in der Politik oder bei börsennotierten Unternehmen. Es gab in der Geschichte mehr Staatssekretäre mit dem Namen Hans als Staatssekretärinnen insgesamt. Es gibt also noch eine gläserne Decke, und diese gläserne Decke wollen wir endgültig durchbrechen. Wir haben heute schon viel darüber gesprochen, welche Rechte die Generationen vor uns erkämpft haben. Lassen Sie uns auch einen Blick auf die Gegenwart und die Zukunft werfen. Für mich ist es wichtig, dass meine Tochter, aber auch mein Sohn in einer Gesellschaft aufwachsen, die ihnen die gleichen Rechte ohne Widerspruch zuspricht. Wir müssen bestehende Rollenmuster aufbrechen und Frauen in ihren jeweiligen Lebenswegen immer unterstützen. Frauen entscheiden sich nämlich für die unterschiedlichsten Lebensentwürfe, und das ist auch gut so. Wir als Gesellschaft sollten uns davon freimachen, diese Entscheidungen zu bewerten oder zu beurteilen. Auch aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es sich die Frauen manchmal gegenseitig schwer machen und sich als Rabenmutter oder als Heimchen am Herd bezeichnen. Jeder Weg ist gut. Das ist wahre Wahlfreiheit, und dafür stehen wir. ({2}) Meine Damen und Herren, wir brauchen nicht darüber zu diskutieren, dass ein Frauenanteil im Bundestag von rund 30 Prozent zu gering ist. Das ist kein Spiegelbild des Volkes, und das muss besser werden. Hier sind wir uns fraktionsübergreifend – auf jeden Fall in dieser Grundaussage – einig. ({3}) Unser Ziel ist es, dass wir mehr Frauen in Direktmandate bringen. Dabei müssen wir die Frauen auf ihrem Weg in aller Form unterstützen. Deshalb setzen wir uns von der Gruppe der Frauen dafür ein, dass dieses Thema auch bei der Wahlrechtsreform aufgerufen wird, dass es überhaupt ein Thema ist und dass es auch ein Umdenken in unseren Parteien auslöst. ({4}) Mir persönlich ist es ein großes Anliegen, dass wir mehr Frauen in die politische Arbeit bringen und sie dafür gewinnen. Dafür ist es notwendig, sie zu ermutigen. Wir in der Frauen-Union Bayern haben eine Quote in Bezirksvorständen und im Parteivorstand, und wir haben ein Mentoringprogramm, mit dem wir Frauen ermutigen, sich für Mandate in der Politik zu bewerben – mit großem Erfolg: Viele sind Bürgermeisterin geworden. Viele haben sich für Mandate beworben. Uns in Unterfranken macht keiner etwas vor; denn drei von fünf Bundestagsabgeordneten – drei von fünf! – sind Frauen. Meine Damen und Herren, der Weltfrauentag ist und bleibt ein wichtiger Tag. Für mich ist es aber wichtiger, dass wir, Männer und Frauen, uns nicht nur am Weltfrauentag für die Gleichberechtigung einsetzen, sondern an jedem Tag; denn ohne Frauen ist kein Staat zu machen. Danke schön. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Michael Roth (Gast)

Politiker ID: 11003213

Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank für die Möglichkeit, heute mit Ihnen ein paar Gedanken über den Aachener Vertrag zu teilen. Der Aachener Vertrag ist unsere Antwort auf Sie: auf Nationalisten und Populisten in der Europäischen Union. Wir wollen anhand des Aachener Vertrages deutlich machen, dass der Abbau von Grenzen, dass mehr Zusammenarbeit, mehr Integration in Europa einen konkreten Mehrwert im Alltag der Bürgerinnen und Bürger erbringen. ({0}) Es ist traurig, dass Sie das immer noch nicht verstanden haben. ({1}) Das zeigt mir auch, dass Sie Lichtjahre von den Interessen der Bürgerinnen und Bürger entfernt sind. Wenn Sie an den Bürgerinnen und Bürgern nah dran wären, dann würden Sie mal mit Menschen in der sogenannten Grenzregion reden. Wenn Sie mal mit Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern sprechen würden, mit Auszubildenden oder auch mit Mittelständlerinnen und Mittelständlern, dann würden Sie klare Antworten erhalten, die deutlich machen, warum dieser Aachener Vertrag so mutmachend ist für ganz Europa. ({2}) Es geht um die gemeinsame Anerkennung von Berufsabschlüssen und Schulabschlüssen. Es geht darum, dass wir in der Grenzregion gemeinsame Gewerbezonen schaffen. Es geht darum, dass wir Vereine, zivilgesellschaftliches Engagement durch einen neuen Bürgerfonds stärken und dass wir Mut machen, dass es sich lohnt, Grenzen zu überwinden, gemeinsam Bewährungsproben in Angriff zu nehmen. Nun könnte man Ihren Antrag und Ihre Preisgabe des vereinten Europas vielleicht als dumm und töricht bezeichnen. Aber es ist viel mehr als das. Es ist eine Infragestellung dessen, was wir aus der tragischen Geschichte Europas und aus der tragischen Geschichte Deutschlands und Frankreichs gelernt haben. Sie spielen wieder auf der Klaviatur der Ressentiments. ({3}) Sie arbeiten mit Vorurteilen. Sie arbeiten mit Ängsten. Sie wollen uns einreden, dass Französinnen und Franzosen nicht unsere engsten Freundinnen und Freunde in Europa sind, sondern dass es potenzielle Gegner sind, die nur ihre eigenen nationalen Interessen in den Vordergrund stellen. Wer so etwas behauptet, der zerstört die Grundlage eines friedlichen und eines solidarischen Europas. ({4}) Ich höre immer wieder, dass der Aachener Vertrag die deutsch-französische Zusammenarbeit in Europa zu stark betont. Das Gegenteil ist der Fall: Deutschland und Frankreich wollen mit ihrer engen Zusammenarbeit auch den Skeptikern, auch den Verängstigten deutlich machen, dass es sich lohnt, enger zu kooperieren. Deshalb ist dieses ganze Geschwafel, wir gäben irgendetwas – nationale Souveränität, Zuständigkeiten – von Berlin, von den Regionen, von den Ländern, von den Kommunen nach Brüssel ab, völliger Irrsinn. ({5}) Wir verlieren nichts. Wir gewinnen Handlungsfähigkeit zurück, über die in einer globalisierten Welt der Nationalstaat alter Prägung schon längst nicht mehr verfügt. ({6}) Es ist eine Gewinnerdebatte; es ist keine Verlustdebatte. Deswegen: Reden Sie das den Menschen nicht ein! Wir können das Klima nicht schützen, wir können dieses Europa nicht sozialer und gerechter machen, wir können uns nicht wehren gegen globale Bewährungsproben, wenn wir nicht enger zusammenstehen ({7}) und wenn wir nicht auch immer wieder lernen, uns in den anderen, in den Partner hineinzuversetzen. Europa wird natürlich nicht alleine von Deutschland und Frankreich getragen – mitnichten. Aber wir machen immer wieder im Konkreten, auch in diesen Tagen und Wochen, deutlich, warum es sich lohnt, an einem Strang zu ziehen. Deutschland und Frankreich arbeiten derzeit sehr intensiv an einem Grundwerte-Check. Wir müssen anerkennen, dass die bisherigen Regelungen nicht ausreichen, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der EU zu verteidigen. Wir wollen deshalb mit neuen Mechanismen daran mitwirken, dass deutlich wird: Die Europäische Union ist nicht in erster Linie nur ein Binnenmarkt, sondern sie ist in erster Linie eine Wertegemeinschaft. ({8}) Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz, respektvoller Umgang – das ist es, was uns im Kern ausmacht. Wir brauchen hier mehr Verbindlichkeit und Verlässlichkeit. Ich würde mich freuen, wenn es auch hier im Deutschen Bundestag einen Konsens gäbe, dass eine Politik der Abschottung, eine Politik, die neue Mauern zu ziehen beabsichtigt, nicht die Unterstützung des Deutschen Bundestags und der Bundesrepublik Deutschland hat. Hier brauchen wir ein klares Signal. ({9}) Ich würde mich freuen, wenn wir da einen Konsens erzielen könnten. Wir arbeiten derzeit im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sehr eng zusammen. Wann hat es das schon mal gegeben, dass Deutschland und Frankreich – zwei Staaten – gemeinsam den Vorsitz im Sicherheitsrat ausüben und das klare Signal setzen: „Wir wollen die globalen Bewährungsproben gemeinsam in Angriff nehmen“? Auch das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit nicht auf Abwehr ausgerichtet ist in einer immer heterogener gewordenen Europäischen Union. Nein, sie macht deutlich, dass es nur etwas bringt, wenn Deutschland und Frankreich zusammenarbeiten und wir auch mit anderen Partnern in der Europäischen Union Kompromisse schmieden können. Wir reden immer sehr gerne über „Europe United“. „Europe United“ ist aber nicht nur dann gut, wenn es genau den Beschlüssen des CDU-Bundesparteitages oder des SPD-Bundesparteitages entspricht. „Europe United“ bedeutet immer auch, Kompromisse auf den Weg zu bringen. Und da können wir aus der deutsch-französischen Zusammenarbeit viel lernen; das ist wichtig. Denn die deutsch-französische Zusammenarbeit ist ja nicht deshalb so stark und erfolgreich, weil wir immer von Anfang an einer Meinung waren. Nein, wir waren deshalb gut und überzeugend, weil es uns am Ende immer gelungen ist, aus ganz unterschiedlichen Richtungen zusammenzukommen und einen Kompromiss zu schmieden, der so attraktiv war, dass er Europa nicht gespalten, sondern Europa geeint hat. Das müssen wir fortsetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) Es geht natürlich auch um das soziale Europa. Genau das steht im Koalitionsvertrag, der diese Bundesregierung bindet. Europa braucht überall Mindestlohnregelungen. Europa braucht überall eine soziale Grundsicherung. ({11}) Man darf sich den Prinzipien der sozialen Grundsicherung nicht verschließen. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir alles harmonisieren; aber wir brauchen Mindeststandards, auch in der Steuerpolitik. Hier sind Deutschland und Frankreich sehr eng beieinander. Ich möchte mich zum Schluss bei den Kolleginnen und Kollegen ganz herzlich bedanken, die auch mit dem Parlamentsabkommen deutlich machen, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit schon lange nicht mehr alleine eine Aufgabe und Verpflichtung für Regierungen ist. Sie ist eine selbstverständliche Aufgabe von Abgeordneten, von Parlamentarierinnen und Parlamentariern. Was mich so hoffnungsvoll stimmt, trotz der ganzen Schwierigkeiten: Es gibt inzwischen viele Menschen, auch aus der Zivilgesellschaft, die uns Mut machen, ({12}) die uns unterstützen, die uns kritisieren. Denn sie wissen: Europa war, ist und bleibt unsere Lebensversicherung in den Zeiten der Krise – aber nur dann, wenn Deutschland und Frankreich freundschaftlich und solidarisch zusammenarbeiten. Vielen Dank. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Norbert Kleinwächter, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Liebe Bürger der 28 Nationen in der Europäischen Union! Sehr geehrter Herr Roth, lassen Sie mich dazu beitragen, Ihre Vorurteile gegenüber der AfD zu überwinden, und darstellen, wie eine bessere Europäische Union aussehen kann. Wir betrachten ja den Brexit. Der Brexit ist eine Scheidung, eine bewusste, eine schmerzhafte Lösung aus einer toxischen Beziehung mit einem übergriffigen Partner. ({0}) Aber wir sollten nicht nur den Scheidungsprozess selbst beleuchten, sondern auch den Partner analysieren; denn er ist auch unserer. Warum gehen die Briten? Warum protestieren und wählen die Menschen so? Nicht etwa, weil sie Angst haben, Herr Roth, oder weil ihnen das jemand einredet – ganz im Gegenteil: sie sind ganz besonders mutig –, sondern weil ihnen in der Europäischen Union ihr eigenes Leben, ihre eigene Kultur, ihre Heimat unheimlich werden. ({1}) Sie wird ihnen unheimlich, weil die Europäische Union immer mehr Lebensbereiche bestimmt und sich in nationale Angelegenheiten einmischt: Wie stark unser Staubsauger sein soll, wie lang unser Führerschein gültig sein soll, wie viele Schadstoffe in der Luft sein sollen, wie viele Kinder in die Kita gehen sollen, wer demnächst bei uns leben und zu uns einwandern soll – all das will sie regeln, kontrollieren, vergleichen und den Bürger unmündig machen. ({2}) Und bei alldem macht sie das Vertraute fremd. ({3}) Meine Damen und Herren, die Menschen rufen nach Freiheit, sie rufen nach Sicherheit, sie rufen nach einem guten Leben, aber all das verwehrt die Europäische Union. ({4}) Die EU steht in Wirklichkeit für Armut statt Wohlstand. Sie steht – gerade Sie als Sozialisten sollten sich das anhören – für eine grenzenlose Finanzglobalisierung. ({5}) Sie schickt die Menschen in die Arbeitslosigkeit, in eine halsbrecherische Konkurrenz mit Asien und in mies bezahlte Jobs, während sich die oberen 1 Prozent woanders ihre Pfründe sichern. Nehmen Sie das doch zur Kenntnis. ({6}) Der Euro fördert zudem auch noch die Armut. Er wertet seit Jahren ab. In den letzten zehn Jahren hat der Euro gegenüber jeder Leitwährung der Welt deutliche Einbußen gehabt: Er verlor gegenüber dem Schweizer Franken circa 35 Prozent, gegenüber dem US-Dollar und dem chinesischen Yuan circa 15 Prozent – egal welche Währung Sie nehmen. ({7}) Die Sparguthaben werden immer weniger wert. Gleichzeitig druckt die EZB eine halbe Billion Euro pro Jahr und pumpt sie in die Märkte. Dadurch wird natürlich alles teurer und immer unfinanzierbarer für den normalen Bürger. Aber das sagen Sie denen ja nicht. Dem Bürger in der Europäischen Union wird ein Porsche versprochen, und er bekommt eine Ente. ({8}) Meine Damen und Herren, die Menschen rufen auch nach Sicherheit; aber die ständig offenen Grenzen bringen illegale Einwanderer ins Land. ({9}) Und statt die Bundeswehr oder die Polizei mit unseren finanziellen Mitteln zu stärken, blickt man auf die EU, träumt von gemeinsamen wunderschönen Projekten, schafft Doppelstrukturen, die die Verantwortung vernebeln. Das bringt nicht nur eine faktische, sondern auch eine politische Unsicherheit. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, die Verantwortung für Sicherheit liegt in Ihrem Feld, und das ist ein wahres Desaster in unserem Land. ({10}) Die Menschen rufen auch nach Freiheit, aber die EU verbietet Glühlampen, Bleigießen, demnächst Strohhalme und, wenn es nach der EU-Kommission geht, demnächst auch den Diesel und Facebook-Posts, die der Regierung missfallen. ({11}) Macron plant ja schon eine europäische Agentur für den Schutz der Demokratie. Diese ist gefährlich nah dran an Orwells Version eines Ministeriums für Wahrheit. Man muss jetzt offensichtlich die Wahrheit verbieten; denn die ist wahrlich bitter. Der Euro und die Europäische Union bestehen nur, weil Deutschland haftet und zahlt. Über 870 Milliarden Euro Target2-Forderungen haben wir, die Deutschland von der EZB eigentlich erhalten müsste. Über 400 Milliarden Euro beträgt die Haftung für die Fehler anderer Staaten. ({12}) Sie opfern die Zukunft dieses Landes. Sie opfern die Zukunft meiner Generation, die für ein ideologisches Scheitern des Projekts in Armut und Aussichtslosigkeit geschickt werden wird. ({13}) Und dabei hat die EU nicht mal einen wirtschaftlichen Vorteil. Die EU-Mitgliedschaft bringt kein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts; das hat eine Studie der Universität Süddänemark ergeben. Der Euro schafft durch Billiglöhne und Arbeitslosigkeit auch Altersarmut. ({14}) Und nicht trotz, sondern dank der ganzen Subventionstöpfe liegen wir bei Infrastruktur und moderner Technologie unaufholbar hinten. ({15}) Diese EU ist ein einziger Misserfolg. ({16}) Lassen Sie mich deswegen hervorheben, was gut ist an der europäischen Zusammenarbeit, um wenigstens das zu retten. Wir wollen den Frieden erhalten. Wir wollen den Binnenmarkt und den freien Handel; denn das schafft Wachstum und Wohlstand. ({17}) Wir wollen die Möglichkeit, zu reisen und in ein anderes Land zu gehen, natürlich erhalten, aber mit der nötigen Sicherheit für Land und Sozialsysteme versehen. Wir brauchen eine grundlegende Reform der heutigen Europäischen Union, einen Ausweg aus dieser selbstverschuldeten Unmündigkeit. Wir müssen die Kompetenzen zurückfahren auf die der Binnenmarktkontrolle, die ganzen Töpfe abschaffen; denn sie halten den Fortschritt auf und fördern ihn nicht. Wir brauchen ein klares Nein zur europäischen Migrationspolitik. Wir müssen gezielt und geplant den Euro auflösen und unseren Wohlstand sichern. ({18}) Wir brauchen eine europäische Gemeinschaft der echten Zusammenarbeit souveräner Nationen. Da gibt es dann Polen, und das ist großartig. Und dann gibt es Spanier, die sind Spanier – und das ist großartig. Und wir sind Deutsche, und das ist großartig. Die Europäische Union raubt den Menschen Wohlstand, Sicherheit und Identität. Sie macht ihnen ihre Heimat unheimlich. ({19}) Geben wir den Menschen die Freiheit und die Heimat zurück. Vielen Dank. ({20})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Gunther Krichbaum, CDU/CSU. ({0})

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kleinwächter, ich glaube, Sie haben gerade die wahre Intention Ihres Antrages gezeigt. Ihnen geht es nicht um Europa, Ihnen geht es auch überhaupt nicht um den Élysée-Vertrag als Vorbild für Europa. Für Sie wurde heute der Wahlkampf eröffnet. Das ist es, und das zeigt Ihre ganze Hetze und Rhetorik heute Morgen. ({0}) Ihnen geht es nur darum, Angst und Verunsicherung in der deutschen Bevölkerung zu schüren. Das ist Ihr Narrativ. Aber glauben Sie mir: Das wird in der deutschen Bevölkerung nicht verfangen – überhaupt gar nicht. ({1}) Es geht Ihnen nicht um Deutschland, es geht Ihnen nicht um Frankreich, es geht Ihnen vielmehr darum, Europa zu schleifen. Es geht Ihnen darum, europäische Institutionen abzuschaffen, zu entkernen – egal, ob das das Europäisches Parlament ist, von dem Sie in Ihrem Wahlprogramm sagen, dass es abgeschafft gehört, oder ob es die Europäische Kommission ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden über die Institutionen, die die Bürger auf diesem Kontinent schützen. Es sind die Institutionen, die als Garant dafür standen, dass sich bis heute ein Kontinent entwickeln konnte, in dem Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie selbstverständlich geworden sind. Die Kommission, an der Sie sich gerade abgearbeitet haben, ist nebenbei jene Kommission, die beispielsweise auf die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit in Europa achtet. Es ist jene Kommission, die Rechtsstaatsverfahren eingeleitet hat gegen Polen, Ungarn und hoffentlich bald auch gegen Rumänien, ({2}) wo mit brennender Sorge zu beobachten ist, dass Gerichtsurteile gegen jene annulliert werden sollen, die gegen Korruptionstatbestände und dergleichen mehr verstoßen haben. Sie sagen in Ihrem Antrag, es geht Ihnen darum, zu dem Europa der Römischen Verträge zurückzukehren. Die Römischen Verträge wurden vor knapp 62 Jahren unterzeichnet. Damals gab es noch kein Farbfernsehen, die erste Mondlandung war noch Fiktion. Aber es hatte auch sein Gutes: Es gab noch keine AfD. ({3}) Ja, meine Damen und Herren, die Zeit ist nicht stehen geblieben, und die Welt ist nicht stehen geblieben. Sie übersehen einen fundamentalen Aspekt, warum wir Souveränität an die nächste Ebene, an die Europäische Union abgegeben haben. Wir geben die Souveränität im eigenen Interesse ab, weil wir der Überzeugung sind, dass 28 Mitgliedstaaten handlungsfähiger, kraftvoller, stärker sind, als wenn 28 Staaten für sich versuchen, ihre eigene Suppe zu kochen. ({4}) Wenn es eines Beweises dafür bedurft hätte, dann wurde er im letzten Jahr erbracht, als Donald Trump versuchte, mit Strafzöllen gegen die Europäische Union seine eigene Wirtschaft zu privilegieren und unserer zu schaden. Jean-Claude Juncker reiste im Juli letzten Jahres nach Washington und hatte als Verhandlungsargument 500 Millionen Verbraucher im Rucksack. 500 Millionen Menschen, die eben auch für eine US-amerikanische Administration eine kritische Größe sind. Das zeigt, worauf es ankommt: Wir müssen im Zeitalter der Globalisierung zusammen handeln, zusammenstehen; denn nur, wenn wir zusammenbleiben, sind wir stark. ({5}) Es geht um Herausforderungen, für die jeder Mitgliedstaat alleine zu klein ist, und sei er auch noch so groß – das gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland –: wenn es beispielsweise um die Bekämpfung des internationalen Terrorismus geht, wenn es um Fragen des Klimaschutzes geht, was Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt, gerade richtigerweise angesprochen hat, wenn es um die Herausforderungen der Zukunft geht, um künstliche Intelligenz, um Forschung, um Entwicklung. Hier müssen wir deswegen zusammen agieren. Lassen Sie sich gesagt sein – ich zitiere ein afrikanisches Sprichwort –: Wenn du schnell gehen willst, dann gehe allein. Aber wenn du weit gehen willst, dann gehe zusammen und bleibe zusammen. ({6}) Nein, mit diesem Antrag heute – ich hatte es schon ausformuliert – wird nur Angst geschürt für Wahlkampfzwecke. Ich sage Ihnen aber auch: Nur die Herausforderungen anzupacken, wird nicht reichen. In der Präambel unseres Grundgesetzes heißt es sehr richtig: Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, … haben wir uns – abgekürzt – dieses Grundgesetz gegeben. Dem Frieden der Welt zu dienen als ein gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa – genau darum geht es. Wir werden zusammenbleiben und uns nicht auf etwas reduzieren lassen. Schauen Sie mal in Ihren eigenen Antrag hinein: 30 Milliarden Euro ist die Summe, die Sie in Zukunft der Europäischen Union noch zur Verfügung stellen wollen. 30 Milliarden Euro! Man muss nur nachrechnen. Das ist ungefähr der Haushalt des Landes Hessen. Wenn Sie glauben, mit Hessen alleine – bei aller Wertschätzung für unsere Kollegen aus diesem Bundesland – könnte man Europa retten, kann man Ihnen nur sagen: Darin besteht der Trugschluss und der Fehlschluss Ihrer gesamten Argumentation. ({7}) Sie gehen fehl; Sie gestehen es sich nicht ein. Herr Kleinwächter, wir sind hier eben nicht in der Wahlkampfarena. Ich sage Ihnen: Mit Ihrer Strategie werden Sie scheitern. Es verfängt nicht bei den Bürgern, die ein tiefes Verständnis für Seriosität und dafür haben, wofür wir Europa brauchen. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Michael Link, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie so oft lebt die AfD in ihrer ganz eigenen Welt. Der Antrag, den wir heute debattieren, spiegelt genau das wider. Der Titel könnte lauten: Sechs Wege, Frieden und Wohlstand in Europa abzuschaffen. Insofern lohnt es sich, diesen Antrag zu lesen. Man könnte denken, das Datum ist falsch gewählt und liegt etwa 100 Jahre daneben. Wir haben 2019, nicht 1919. ({0}) Es ist gut, dass wir die Lehren aus der Geschichte gezogen haben. Wie so oft – das machen Sie gerne – wird der große Staatsmann Charles de Gaulle von Ihnen als vorgebliche Gallionsfigur einer rückwärtsdenkenden Anti-EU-Bewegung vereinnahmt, ({1}) obwohl de Gaulle genau das, wofür die Antragsteller stehen, überwinden wollte: das Verharren in althergebrachten gegenseitigen Feindbildern, die Enthemmung zunächst des Denkens und Sprechens und später auch des Handelns, einen sich über andere erhebenden aggressiven Nationalismus. Aber nutzen wir doch diese Debatte dafür, um de Gaulle – nein, nicht ins rechte – ins richtige Licht zu rücken. Er wusste: Beim Zusammenwachsen Europas muss man einen langen Atem haben. Für de Gaulle war schon 1964 klar, dass man durchaus hoffen könnte – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –, daß einmal der Tag kommt, an dem die Völker unseres Alten Kontinents ein einziges bilden werden ({2}) und es dann vielleicht eine Regierung Europas geben kann. Ein einziges europäisches Volk, eine Regierung Europas – meine Damen und Herren, so und nicht anders dachte, sprach und handelte Charles de Gaulle. ({3}) Er war ein Vordenker der europäischen Zusammenarbeit, jemand, der wusste, dass Europa über die Zeit eng zusammenwachsen wird und dass es so etwas wie die heile Welt des Nationalstaats nie gegeben hat, jemand, der gerade nicht in die Zeit der Nachbar- und Bruderkriege zurückwollte, wo sich Nationalstaaten misstrauisch belauerten und Millionen Menschen dafür mit dem Leben bezahlten. Ihr Antrag ist leider voll von Verschwörungstheorien und Schreckensszenarien. Statt Charles de Gaulle scheinen Sie sich einen anderen Franzosen zum Vorbild genommen zu haben: Das hört sich alles nach Nostradamus und Prophezeiungen vom Weltuntergang an. ({4}) Ich will deshalb viel mehr über zukunftsgewandte Initiativen reden. Sprechen wir über Politik von Deutschen und Franzosen von heute. Im Januar haben die deutsche und französische Regierung den Vertrag von Aachen unterzeichnet; Staatsminister Roth hat gerade dazu gesprochen. Nächste Woche verabschieden wir hier im Bundestag – ein ganz wichtiger Tag für uns – das deutsch-französische Parlamentsabkommen. Und in gut zehn Tagen wird in Paris zum ersten Mal die neue Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung zusammentreten. In diesem einzigartigen Forum – ich jedenfalls kenne keinen anderen Fall, in dem zwei Parlamente ein solches gemeinsames Forum geschaffen haben – werden wir über konkrete Probleme und Sorgen der Menschen in Deutschland, Frankreich und Europa sprechen, und wir werden echte Politiklösungen erarbeiten. Das ist jedenfalls unser Anspruch. ({5}) Wenn wir aber wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger wirklich von der deutsch-französischen Zusammenarbeit profitieren, dann müssen die Parlamente dabei eine größere Rolle spielen, als ihnen jetzt in diesen durchaus stiefmütterlichen Passagen im Aachener Vertrag zukommt, in dem sie nämlich nur als Randnotiz erwähnt werden. Hier sollten wir, Kolleginnen und Kollegen, als Bundestag, der den Aachener Vertrag schließlich im April ratifizieren soll, unsere Mitwirkungsrechte nochmals nachjustieren. ({6}) Daher die klare Botschaft an die Bundesregierung: Die im Aachener Vertrag begründete Vorhabenliste muss in den Parlamenten und insbesondere in der neuen Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung behandelt und weiterentwickelt werden – hier, nicht in geheimen Kabinetten im Kanzleramt und im Élysée-Palast. Wenn Parlamente und Regierungen auf Augenhöhe zusammenarbeiten, dann können wir echte Verbesserungen für Deutschland, Frankreich und die ganze Europäische Union erarbeiten. Das wird noch viel gegenseitige Lernbereitschaft erfordern, aber ich bin sicher, dass der stets neugierig gebliebene, nie rückwärtsgewandte de Gaulle bei diesem Prozess des Zusammenwachsens heute in der allerersten Reihe mitarbeiten würde. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Andrej Hunko, Die Linke, ist der nächste Redner. ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Wir diskutieren hier über einen Antrag der AfD mit dem Titel „Élysée als Vorbild“. Ja, der historische Élysée-Vertrag war ein ganz wichtiger Beitrag zur deutsch-französischen Aussöhnung, vielleicht eine der größten Leistungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich kann das persönlich beschreiben. Als Junge im Alter von elf Jahren bin ich als Mitglied eines Aachener Fußballvereins nach Paris gefahren, habe dort in einer Gastfamilie übernachtet und weiß noch sehr genau, mit welcher feierlichen Überwindung diese Gastfamilie mich damals aufgenommen hat. Erst später habe ich erfahren, dass dies mit dem Élysée-Vertrag und dem zivilgesellschaftlichen Austausch, der damit verbunden war, zusammenhing. Das war eine ganz große Leistung, und das sollte auch niemand infrage stellen. ({0}) Was aber mit diesem Antrag der AfD ausgesagt wird, ist, dass wir die Geschichte 60 Jahre zurückdrehen sollten, dass wir zu einem Europa Adenauers und de Gaulles zurückkehren sollten. Das kann nicht funktionieren. Das ist im klassischen Sinne des Wortes reaktionär. ({1}) Auch wir haben viele Kritikpunkte an der Europäischen Union – das ist auch bekannt –, aber eines unterscheidet uns fundamental von Ihrem Ansatz: Wir wollen die Widersprüche der Europäischen Union und die Kritikpunkte, die wir haben, nach vorne auflösen, zukunftsgewandt auflösen, europäisch-internationalistisch auflösen und nicht zurückkehren zu einem Europa der 60er-Jahre. ({2}) Der eben schon angesprochene neue Aachener Vertrag – dieser hieß zuerst Élysée-Vertrag 2.0 – steht leider nicht in der Tradition des historischen Élysée-Vertrags. ({3}) Wenn man sich den Aachener Vertrag anschaut, Herr Staatsminister Roth, stellt man fest, dass der Kern dieses neuen Élysée-Vertrags, dieses neuen deutsch-französischen Vertrags die Aufrüstung ist. Es sind Militärprojekte. Das ist der einzige Bereich im Aachener Vertrag, der im Unterschied zu vielen anderen schönen Worten sozusagen eine Konkretionstiefe hat, ({4}) und das kritisieren wir. Das lehnen wir ab. Wenn man dann noch lesen muss, dass es ein geheimes Zusatzprotokoll zu diesem Aachener Vertrag gibt, ({5}) das sozusagen Rüstungsexporte bei gemeinsamen deutsch-französischen Rüstungsprojekten ermöglicht, die nicht den nationalen Rüstungsexportrichtlinien unterliegen, dann ist das nicht anders als skandalös zu nennen, ({6}) und ich finde, das schafft kein Vertrauen in eine deutsch-französische Zusammenarbeit. ({7}) Der Antrag der AfD enthält unter anderem die Forderung, den Euro aufzulösen. Es ist bekannt, dass wir als Linke – damals noch eine der Vorgängerparteien, die PDS – die Einführung des Euros abgelehnt haben, mit der Begründung, dass die Einführung einer gemeinsamen Währung das Ende eines europäischen Einigungsprozesses markieren könne, aber nicht am Beginn stehen könne. Unser damaliger Fraktionsvorsitzende Gysi sagte in seiner damaligen Rede dazu: Da ist eine richtige, eine die Menschen mitnehmende, an ihre sozialen Interessen anknüpfende europäische Integrationspolitik entscheidend. Wenn man sie unter falschen Voraussetzungen betreibt, dann wird sie der Keim zu einem neuen Nationalismus und damit auch zu steigendem Rassismus sein. ({8}) Das ist ja genau das, was wir gegenwärtig erleben, und deswegen fordern wir eine europäische Integrationspolitik, die wirklich an den sozialen Interessen der Menschen in Europa ansetzt. ({9}) Was aber nicht funktionieren wird, ist, einfach alles rückabzuwickeln. Das ist ungefähr so, als ob man versuchen würde, ein Rührei zurück in die Eierschale zu bekommen. Wenn Sie das vorhaben, dann wünsche ich Ihnen sehr viel Spaß dabei. Das wird nicht funktionieren. ({10}) Man muss all das, was die Euro-Frage angeht, ganz konkret nach vorne auflösen. Hier geht es aktuell darum, die Leistungsbilanzunterschiede abzubauen, um die negativen Auswirkungen in einigen südeuropäischen Ländern zu begrenzen. ({11}) Wir erleben in diesen Stunden eine phänomenale internationale Bewegung, nämlich die Bewegung „Fridays for Future“. Gerade demonstrieren in 100 Staaten auf 1 700 Kundgebungen – davon alleine 200 in Deutschland – vor allen Dingen Schüler und Schülerinnen, aber auch Wissenschaftler und Eltern für eine zukunftsfähige Klima- und Energiepolitik. Hier muss man sagen, dass die bestehenden Strukturen der Europäischen Union nicht darauf ausgerichtet sind, eine solche zukunftsfähige Politik zu schaffen. Wir haben immer noch die Euratom-Verträge, wir haben keine Agentur für erneuerbare Energien. Hier würde es wirklich Sinn machen, Kompetenzen auch auf die europäische und internationale Ebene zu übertagen. Das findet leider nicht statt. Wir als Linke fordern in unserem Europawahlprogramm den europaweiten Braunkohleausstieg bis 2030. Ich glaube, das ist ein Beispiel dafür, wo man wirklich europäisch voranschreiten müsste, wo man tatsächlich mehr europäische Initiativen bräuchte. Dazu haben wir von Ihnen, Herr Staatsminister, konkret leider nichts gehört. Das wäre ein Beispiel für eine zukunftsweisende Politik. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wohin es führt, wenn die Nationalisten und Spalter nicht nur etwas fordern, sondern dafür auch noch Mehrheiten bekommen, erleben wir gerade auf der britischen Insel: Das Ergebnis ist Kontrollverlust pur. Das Ergebnis ist Chaos, weil die Brexit-Fans ihre Forderung nicht zu Ende gedacht haben. Sie hatten keinen Plan. Sie haben keinen Plan. Und die Konsequenzen sind ihnen offensichtlich egal. ({0}) Das Gleiche in Blau haben wir nun hier im Bundestag – mit dem Antrag der AfD, einem billigen Versuch, die EU schlechtzumachen. ({1}) Und wie bei den Brexit-Fans wird Souveränität so verstanden, als wären wir noch im 19. Jahrhundert. ({2}) Das deckt sich dann zwar gut mit Ihrem Frauenbild, aber es ist ein intellektuelles Armutszeugnis. ({3}) In unserer vernetzten Welt bringt das Einigeln ins Nationale gar nichts. Ganz im Gegenteil: Mit einem Austritt aus der EU verlieren die Briten Kontrolle, und sie gefährden ihren Wohlstand. Liebe AfD, Sie sind die deutsche Wohlstandsvernichterpartei. Das ist Ihr Ziel, und das ist Ihr Inhalt. ({4}) Hier und heute können Sie uns das Blaue vom Himmel erzählen. Sie brauchen keine Beweise, Sie ignorieren alle Fakten. Aber wissen Sie, was? Wenn es ernst wird, dann sind die Spalter, dann sind die Hasser die Ersten, die sich vom Acker machen und den anderen die Verantwortung überlassen. ({5}) Sie wollen nur zerstören. ({6}) Das zeigt Ihr Antrag auch sehr deutlich. Ich lese einmal daraus vor: Ist eine Auflösung der Eurozone auf europäischer Ebene nicht durchsetzbar, ist die Bundesregierung aufgefordert, dem Deutschen Bundestag … ein eigenes, vollständiges Konzept zum Austritt Deutschlands aus der Eurozone vorzulegen … ({7}) Das ist an sich schon absurd, aber jetzt kommt das Beste: Bis wann soll die Bundesregierung das Konzept vorlegen? ({8}) Bis zum 31. März 2019. Das zeigt, wie absurd Sie denken, wenn Sie glauben, dass man die Euro-Zone auf europäischer Ebene bis zum 31. März 2019 auflösen kann und man von der Bundesregierung für den Fall, dass das nicht durchsetzbar ist, ein eigenes vollständiges Konzept vorgelegt bekommen kann. ({9}) Sie haben kein Interesse an ernsthafter Politik. Sie wollen einfach nur spalten und Europa kaputtmachen. Das werden wir aber nicht zulassen. ({10}) Das von Ihnen hier geforderte Weniger an Europa ist doch in Wahrheit ein Weniger an Wohlstand, ein Weniger an Sicherheit, ein Weniger an Mitsprache in der Welt, ein Weniger an Demokratie und auch ein Weniger an Lebensfreude. Anders als Sie lieben wir nämlich Europa. ({11}) Natürlich sehen wir auch, dass Sie und Ihre rechten Freunde in anderen Ländern lieber im Team Putin und im Team Bannon spielen als bei uns in der Demokratie. Das ist bekannt. Russland versucht schon länger, Europa zu spalten. Mit viel Geld und mit seinen Trollen unterstützt Putin die nationalistischen Kräfte. Sie spielen dabei mit. ({12}) Was hat denn das mit Patriotismus zu tun? Ausgerechnet in dieser Situation nehmen Sie Hunderttausende von Euro aus dem Ausland an und können noch nicht einmal sagen, woher das Geld kommt. ({13}) Das ist unerhört. Schämen Sie sich dafür, dass Sie immer noch nicht offenlegen können, woher aus dem Ausland Sie das Geld bekommen! ({14}) Wissen Sie: Europa ist die beste Idee, die wir jemals hatten, und die werden wir uns von Ihnen nicht kaputtmachen lassen. Deutschland ist und bleibt ein Land im Herzen Europas, und Europa bleibt im Herzen Deutschlands. ({15}) Wir wissen aber auch, dass die EU in einer schwierigen Situation ist. Da dürfen wir uns auch nichts vormachen. Einiges wird noch immer nicht in Angriff genommen. Stichwort „Klimakrise“. Während wir hier debattieren, streiken nicht weit von hier, im Invalidenpark, Schülerinnen und Schüler für ihre Zukunft. Auch wir wollen, dass Europa beim Klimaschutz endlich stärker gemeinsam vorangeht, beispielsweise durch eine CO 2 -Steuer. Hier müsste die Bundesregierung wesentlich vehementer endlich die Konzepte aufgreifen, die auf dem Tisch liegen, und für einen konsequenten Klimaschutz eintreten. Stichwort „Digitalsteuer“. Wer Milliarden mit unseren Daten verdient, muss auch seinen Beitrag zu unserem Gemeinwohl leisten. Jetzt geht Frankreich bei der Digitalsteuer mit anderen europäischen Staaten voran. Was werden Sie, liebe Bundesregierung, machen? Machen Sie doch mit! Da können Sie sich dann auch nicht mehr hinter Irland oder Schweden verstecken. Es ist Ihre Regierung; das können Sie entscheiden. Gehen Sie zusammen mit anderen Ländern voran, die jetzt endlich die richtigen Weichen stellen. ({16}) Klimaschutz, Digitalsteuer, Reformen für einen stabilen Euro oder Schritte zur Stärkung eines sozialen Europas – alle diese Punkte haben eines gemeinsam: Die Bundesregierung bremst, wo sie nur kann. Mit einer handlungsunfähigen EU machen Sie es der AfD leichter, gegen die EU zu polemisieren. Deswegen muss die EU beweisen, dass sie die großen Probleme unserer Zeit angehen kann und sie auch angeht. Diese Probleme werden nicht kleiner, sondern sie werden drängender. Man kann Europa, liebe Bundesregierung, auch durch Nichtstun kaputtmachen. ({17}) Daher: Nutzen Sie die Zeit, die noch bleibt! Handeln Sie! Machen Sie das nächste Jahr zum europäischen Jahr! Zum Schluss komme ich zum Aachener Vertrag, den wir gemeinsam diskutieren wollen. Sie, Herr Staatsminister Roth, haben die Parlamentarische Versammlung erwähnt und diese gelobt. Das ist absolut richtig. Wir müssen sie dann aber auch im Aachener Vertrag verankern und ihr wichtige Aufgaben übertragen. ({18}) Herr Roth, ich nehme Ihre Rede heute mal als Zustimmung dafür, dass es die Regierung begrüßen würde, wenn die Parlamente diese parlamentarische Kontrolle noch einführen würden. ({19}) Ich freue mich darauf, die parlamentarische Kontrolle zu stärken. Ich danke Ihnen. ({20})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer, SPD. ({0})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch schlechte Anträge wie der von der AfD können gute Debatten befördern. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass wir, die proeuropäischen Parteien in diesem Hause, heute so diskutieren, wie wir diskutieren. Allein das ist an diesem Tag schon ein Gewinn. ({0}) Es ist auch ein Gewinn, dass wir in Deutschland im Gegensatz zu manchen Schwarzrednern oder falschen Prognosen heute eine außergewöhnlich hohe Zustimmung zum europäischen Integrationsprozess, das heißt auch zu dieser EU, haben. Das ist zum Teil ein Ergebnis deutscher Europapolitik. Auch daran sind dieser Bundestag und diese Bundesregierung an wichtiger Stelle beteiligt. Das sollten wir gerade heute hier einmal ganz deutlich aussprechen. ({1}) Aber lassen Sie uns dabei auch über die konkreten Punkte reden. Ad eins: der Euro, den die AfD abschaffen will. Wir haben in der großen Bankenkrise seit 2008 gesehen, dass ein Währungssystem, das überwiegend auf deutsche Modelle zurückgreift und dessen Zentralbank in Frankfurt sitzt, funktioniert und Stabilität schafft, bzw., wie Mario Draghi zu Recht gesagt hat: „Whatever it takes.“ Die Alternative dazu, was passiert, wenn es nicht mehr funktioniert, sehen wir jetzt beim Brexit und bei dem unverantwortlichen Handeln der britischen Regierung. Hier sehen wir den Unterschied zu einem funktionierenden Europa. ({2}) Der zweite Punkt betrifft die Agrar- und Strukturfonds. ({3}) Die AfD hat noch nicht einmal realisiert, was die Vergemeinschaftungen in Europa, die wir haben, bedeuten. Sie will nun die in der Agrarpolitik abschaffen. Fragen Sie mal in anderen europäischen Staaten, fragen Sie auch mal in Deutschland, was wir – bei allen Schwierigkeiten, bei allen Veränderungsnotwendigkeiten – machen würden, wenn es ebendiese gemeinsame Agrarpolitik nicht mehr gäbe! ({4}) Fragen Sie vor allen Dingen mal zu Strukturfonds auf kommunaler und auf Landesebene! Da kennt man eben nicht nur den Preis, sondern weiß auch den Mehrwert zu schätzen, der eben auch zum Reichtum unseres Landes beiträgt. ({5}) Der dritte wichtige Punkt, der hier angesprochen worden ist, betrifft die Frage unserer nationalen Souveränität. Wir haben in unsere Verfassung ausdrücklich aufgenommen, dass unser Land internationalen zwischenstaatlichen Institutionen beitreten kann, mehr noch, dass es sich zum Beispiel auch in ein System kollektiver Sicherheit einbinden lassen kann, um damit in der Gemeinschaft stärker zu sein. Schauen wir mal genau darauf, was nationale Souveränität bedeutet. Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes haben den Begriff „souverän“ bewusst vermieden. Sie wollten nie mehr, wie der konservative Staatsrechtler Carl Schmitt – er war in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und in der Bundesrepublik Deutschland aktiv – formuliert hat, so souverän sein, dass man über den Ausnahmezustand gebieten kann. Diese Souveränität, unseren Nachbarn noch einmal den Krieg erklären zu können, haben wir freiwillig aus Erfahrung wie Überzeugung abgegeben. Und das war gut und richtig so. Das ist eine der wichtigsten historischen Entscheidungen in diesem Land. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will an dieser Stelle noch einmal deutlich machen: Wir Europäerinnen und Europäer – ({7}) die Parteien FDP, CDU, CSU, Grüne, SPD und Linke – lieben unser Land. Die Antieuropäer hassen die anderen Länder. Das ist der Unterschied. Es wird im Europawahlkampf darauf ankommen – – ({8}) Es wird im Europawahlkampf darauf ankommen, dass die europäischen Parteien, auch wenn sie über die richtigen Konzepte, auch über die Unterschiede streiten, dafür werben und dafür eintreten, Europa, diese Errungenschaft, gemeinsam gegen die zu verteidigen, die es zerstören wollen. Und die sitzen hier ganz rechts in diesem Hause. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Harald Weyel, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kollegen! Zuschauer draußen im Lande! Der Staatsminister brachte das Bild vom engen Zusammenstehen. Zu engem Zusammenstehen fällt mir eines ein: Wenn im Wald die Bäume zu eng zusammenstehen, dann ist der Windbruch vorprogrammiert. Dann haben der Förster und die Waldarbeiter danach was zu spalten. ({0}) Das enge Zusammenstehen ist also ein völlig schiefes Bild. Gute Nachbarschaft besteht eventuell auch aus einer richtigen Mischung von Nähe und Distanz, die hier gröblich und sträflich vernachlässigt wird. Im Autoverkehr steht ein zu nahes Auffahren unter Strafe. Insofern möchte ich an Sloterdijk erinnern, der in „Theorie der Nachkriegszeiten“ das deutsch-französische Verhältnis beleuchtete und in dem Zusammenhang von der guten Nachbarschaft spricht, die darin besteht, dass man sich auch mal in Ruhe lässt. Und er bringt einen weiteren Begriff ein, nämlich den der Metanoia. Eben wurde beispielsweise das Jahr 1919 erwähnt. „Metanoia“ heißt: die Abkehr, die Einsicht, die neue Welt, in die man tritt, die neue Gesinnung usw. ({1}) Da muss man doch feststellen, dass Deutschland ziemlich alleine dasteht, weil die anderen sich in ihrer nationalen Interessenvertretung treu geblieben sind. ({2}) Dass man jetzt neue Institutionen schafft, die den alten ähneln, kann darüber nicht hinwegtäuschen. Was ist eigentlich aus dem ersten Élysée-Vertrag geworden? Er ist doch in weiterer Hinsicht eine leere Hülle, die nicht mehr mit wirklichem Leben gefüllt ist. Wenn man da jetzt noch eins draufsetzen und ihn erneuern will, kann ich nur sagen: Der Grundgedanke von zwei Parlamenten und einer Parlamentarischen Versammlung – ob es mehr oder weniger als 100 Vertreter sein müssen, kann man ja dahingestellt sein lassen –, steht im Widerspruch zu dem, was wir in diesem sogenannten EU-Parlament veranstalten wollen. ({3}) Das ist also eine Parallelveranstaltung, eine Dopplung. Man könnte das sinnvoll aufgreifen, indem man die Parlamentarische Versammlung für ganz Europa einführt und somit das ganze Brüsseler bzw. Straßburger Scheinparlament zu dem Zustand von 1979 oder vor 1979 zurückführt, ansonsten bleibt es, was es ist, nämlich ein Einfallstor für internationalisierten Lobbyismus aller Art. ({4}) Das ist Ihr Parlament. Zwei Wochen nach Unterzeichnung des Aachener Vertrags am 22. Januar dieses Jahres inklusive Geheimvertrag, wie er schon richtigerweise erwähnt wurde – so was sollte man nicht unter den Tisch fallen lassen – grätscht Freund oder Freundin Frankreich bei Nord Stream 2 dazwischen, erscheint nicht auf der Münchner Sicherheitskonferenz usw. usf. und denkt gar nicht daran, irgendwelche Atomschirme für andere Leute aufzuspannen. Das hat schon nicht geklappt im Gespann Schmidt-Giscard, Kohl-Mitterrand oder Schröder-Chirac und wird jetzt erst recht nicht gelingen. Vielleicht ist es sinnvoll, wenn wir uns im europäischen Zusammenhang mal ein Bonmot von Talleyrand vor Augen führen: Niemand vermag zu sagen, wie viele politische Dummheiten aus Mangel an Geld schon verhindert worden sind. Dies ist unser und der EU Schicksal. ({5}) Es ist offenbar viel zu viel Geld da für allen möglichen Blödsinn, der dann auch prompt gemacht wird. Lassen Sie uns da ansetzen und das verhindern.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Weyel, das können Sie jetzt nicht mehr. Kommen Sie bitte zum Schluss.

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke, ich bin fertig. – Ich bedanke mich bei den Steuerzahlern und Wählern, die diesen Spuk vielleicht beenden werden, mit uns zusammen. Danke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Katrin Staffler für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja gerade Fastenzeit. Wie in jedem Jahr habe ich mir auch in diesem Jahr wieder vorgenommen, auf bestimmte Dinge zu verzichten. Dazu gehören bestimmte Lebensmittel. ({0}) Ich habe mir in diesem Jahr aber auch vorgenommen, Populisten zu fasten, ({1}) also populistische Aussagen zu ignorieren, statt sie zu kommentieren, weil ich der Meinung bin, dass Populisten hier schon viel zu viel Stage haben. Leider ist mir jetzt dieser Antrag der AfD dazwischengekommen. Der Antrag trieft ja geradezu vor populistischen Aussagen und vor alternativen Fakten. ({2}) Deswegen werde ich an dieser Stelle eine kurze Pause in meiner Fastenzeit einlegen und versuchen, den Ausführungen aus dem Antrag mal ein paar korrekte Fakten entgegenzustellen. Leider wird meine Redezeit trotzdem nicht ausreichen, um all die irreführenden und falschen Thesen aus dem Antrag richtigzustellen. Aber ich habe jetzt mal drei rausgegriffen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der AfD, vielleicht lohnt es sich, die Notizbücher zu zücken für einen kurzen Faktencheck in Sachen EU. Zur ersten These, die ich rausgegriffen habe. Ich zitiere aus dem Antrag: Das Vertrauen der Menschen … in die Institutionen und die Regelwerke der EU schwand und ist teilweise irreparabel zerstört. Schauen wir uns mal den Eurobarometer-Bericht vom November 2018, der noch gar nicht so alt ist, an. Demnach geben mehr als vier von zehn Europäern, 42 Prozent in Zahlen, an, dass sie der EU eher vertrauen, das höchste Ergebnis seit Herbst 2010. Außerdem haben mehr als doppelt so viele Europäer, 43 Prozent, eher ein positives Bild von der EU als ein negatives. Das ist wiederum der höchste Stand seit 2009. Die Zahlen zeigen uns doch geradezu, dass alles andere als ein Vertrauensverlust in die EU stattfindet. Sie zeigen, dass sich die Frage eines Für oder Gegen hinsichtlich der Europäischen Union für die meisten Bürgerinnen und Bürger in unserem Land eben nicht stellt. Die Frage ist doch nicht das Ob, sondern die Frage ist vielmehr das Wie. Unsere Antwort darauf ist ganz klar: Wir müssen die EU wieder näher zu den Bürgerinnen und Bürgern bringen und sie für die Menschen konkret erfahrbar machen. Ich komme zur zweiten These. Ich zitiere wieder: Eine demokratische Legitimation – gemeint ist die der EU – ist nicht in ausreichendem Maße gegeben. Denn die nationalen Parlamente, so kann man im Antrag lesen, werden im Gesetzgebungsprozess nicht in ausreichendem Maße angehört. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben seit 1979 ein direkt gewähltes Europäisches Parlament, das seit dem Lissabonner Vertrag, also seit mittlerweile fast zehn Jahren, volle Gesetzgebungskompetenz hat. Es wird in Brüssel heute kein Gesetz mehr beschlossen und kein Pfennig Geld mehr ausgegeben ohne die Zustimmung des Europäischen Parlaments. ({3}) Darüber hinaus werden im Ministerrat die Gesetze durch die Mitgliedstaaten beschlossen. Außerdem haben die nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten, im Übrigen auch seit dem Lissabonner Vertrag, weitreichende Mitwirkungs- und Kontrollrechte erhalten. Ich nenne an der Stelle nur das Stichwort „Subsidiaritätskontrolle“. ({4}) Damit sind sie direkt in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden. Wenn alles das, was ich aufgezählt habe, nicht mehr als demokratische Legitimation gelten soll, dann weiß ich auch nicht mehr, was noch als solche gelten soll. ({5}) Was wir in Europa brauchen, sind selbstbewusste Parlamente, und zwar auf europäischer Ebene genauso wie auf nationaler und regionaler Ebene. Deswegen müssen wir die nationalen Parlamente in ihrer Kontrollfunktion stärken, und genauso müssen wir dem Europäischen Parlament ein legislatives Initiativrecht zukommen lassen. Dritte These. Ich zitiere wieder: Der Euro ist gescheitert. ({6}) Und weiter: Der Euro ist auch eine volkswirtschaftliche Katastrophe für Deutschland und alle anderen Euroländer. Der Euro bringt nach den Ausführungen im Antrag Arbeitslosigkeit, hohe Verschuldung, niedriges Wirtschaftswachstum usw. usf. ({7}) Ich erspare Ihnen den Rest. Die Realität, liebe Kolleginnen und Kollegen, schaut doch aber ganz anders aus: Seit der Einführung des Euro im Jahr 1999 sind in der Euro-Zone mehr als 8,7 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen worden. ({8}) Auch der Handel innerhalb der Euro-Zone ist seit der Einführung des Euro um 4 bis 10 Prozent gestiegen, und der Warenhandel mit den Ländern außerhalb der Euro-Zone ist um 3 Prozent gestiegen. Dass Deutschland als Exportland von einer einheitlichen Währung profitiert, ist, glaube ich, gar kein Geheimnis, zumindest für uns Kollegen aus der Unionsfraktion nicht. ({9}) Außerdem hat der Euro den Bürgerinnen und Bürgern in der Euro-Zone mehr Wohlstand und Stabilität gebracht. Damit wir weiter von diesen Vorteilen aus dem Euro profitieren können, müssen wir die Wirtschafts- und Währungsunion weiter stabilisieren. Wir müssen sie krisenfester machen. ({10}) Sehr geehrte Damen und Herren, die Europäische Union ist mehr als nur ein Binnenmarkt. Sie ist auch mehr als nur, so wie es hier suggeriert wird, ein Zusammenschluss von Staaten. Die Europäische Union ist für mich an allererster Stelle das erfolgreichste Friedensprojekt überhaupt. ({11}) Sie ist auch eine Wertegemeinschaft mit gemeinsamen demokratischen Grundwerten und dem Willen zu Kompromiss und zu Partnerschaft. Sie ermöglicht mehr als 513 Millionen Bürgerinnen und Bürgern in der Europäischen Union Frieden, Wohlstand und Sicherheit. Für mich – ich glaube, das gilt auch für eine breite Mehrheit in diesem Haus – ist die EU eine echte Erfolgsgeschichte. Natürlich gehört zur Wahrheit auch, dass die EU Reformen braucht. Das steht ja außer Frage. Und selbstverständlich können wir wie auch schon vor 50 Jahren mit deutsch-französischen Initiativen wichtige Impulse für die Weiterentwicklung der EU geben. Aus unserer Sicht ist dabei wichtig, dass wir keine Rückschritte im Integrationsprozess machen und dass wir die EU weiter stärken, statt sie dadurch zu schwächen, dass wir nur – so wird es ja in dem Antrag vorgeschlagen – auf eine Zusammenarbeit souveräner Staaten auf dem europäischen Kontinent bauen. Wir wollen eine bürgernahe Europäische Union der Souveränität, die ihre Interessen geschlossen vertritt und mit anderen Regionen der Welt auf Augenhöhe agieren kann, eine Europäische Union, die mit ihren Unternehmen, mit ihren Innovationen, mit ihrer Forschung an der Weltspitze stehen kann, eine Europäische Union der Stabilität, die ihre Bürgerinnen und Bürger beschützt und ihre Vielfalt in Einheit bewahrt. Für genau dieses Europa müssen wir bei der Europawahl im Mai kämpfen. Ich sage als Unionspolitikerin und als CSUlerin im Besonderen mit großer Überzeugung: Wir müssen gemeinsam mit unserem Spitzenkandidaten Manfred Weber für diese Vision von Europa kämpfen. ({12}) Ich möchte zum Schluss, meine Damen und Herren, zum Ausdruck bringen: Deutscher Patriot und stolzer Europäer zu sein, sind für mich zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wir brauchen kein einsam kämpfendes Deutschland innerhalb einer schwachen Europäischen Union, weil wir in einer immer unsicheren globalen Welt nur in einem starken Europa unseren European Way of Life ausleben können. Dafür müssen wir uns auch all denjenigen entgegenstellen, die die Europäische Union immer wieder infrage stellen, so wie das heute leider wieder passiert ist. Wir brauchen ein starkes Deutschland in einer starken Europäischen Union. Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Alexander Graf Lambsdorff für die FDP-Fraktion. ({0})

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Damen und Herren! In gewisser Weise ist diese Debatte eine Zeitreise in die Anfangszeit der AfD, die Zeit der Euro-Kritiker Lucke, Henkel und Starbatty, die Zeit, in der Volkswirte der Meinung waren, man bräuchte eine politische Kraft, die den Euro ein bisschen kritisiert. Diese Leute haben diese Partei längst verlassen, weil Sie sich nicht mehr im demokratischen Konsens befinden. ({0}) Sie sind nach rechts abgedriftet. Was wir heute haben, ist also die zweite Generation der AfD. Die Thesen der zweiten Generation sind Inhalt im vorliegenden Antrag. Wir wollen uns aber sachlich mit diesen Thesen und mit diesem Antrag auseinandersetzen; denn es ist richtig und wichtig, über Europa zu debattieren. Ich zitiere aus dem Antrag: Weder der deutsch-französische Freundschaftsvertrag – der Élysée-Vertrag, also der Anlass für diese Debatte – noch die EWG sahen Eingriffe in die Souveränität der Länder vor. Seit 1951 gab es die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Es gab eine Hohe Behörde, die ermächtigt war, gemeinsame Entscheidungen für alle Mitgliedsländer zu treffen. Die Kommission von heute ist nichts anderes als die Fortsetzung der Hohen Behörde. Meine Damen und Herren, es ist einfach sachlich falsch, was Sie hier aufschreiben. ({1}) Zweiter Punkt. Ich zitiere noch einmal: Die Hauptaufgaben der neuen EU sollten in der gemeinsamen Zoll- und Handelspolitik … liegen, wobei politische Beschlüsse stets nur auf nationaler Ebene erfolgen können. Eine neue EU, so schreiben Sie, soll freien Verkehr von Gütern ermöglichen. Wie stellen Sie sich denn bitte schön eine gemeinsame Zoll- und Handelspolitik vor, wenn wir keine gemeinsame Entscheidung treffen können, sondern das jeweils national gemacht wird? Wir haben dann also einen Zoll auf Textilien, auf Lebensmittel, Maschinen und Anlagen in Deutschland von 10 Prozent, in Frankreich von 20 Prozent, in Polen von 30 Prozent, gleichzeitig aber freien Güterverkehr. Das ist wirtschaftspolitisch völlig unmöglich. Auch hier, meine Damen und Herren: Die AfD liegt sachlich einfach voll neben der Spur. ({2}) Drittens schreiben Sie: Der Euro ist auch eine volkswirtschaftliche Katastrophe für Deutschland … Das nicht gerade euromantische Centrum für Europäische Politik in Freiburg, das CEP, hat vor kurzem eine Studie veröffentlicht, in der es nachgewiesen hat, dass zwischen 1999 und 2017 kein Land mehr vom Euro profitierte als die Bundesrepublik Deutschland; ein Reingewinn für die deutsche Volkswirtschaft von 1,9 Billionen Euro. ({3}) Sie wollen den Euro abwickeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo finden Sie einen einzigen Verband der deutschen Wirtschaft, der Ihnen da folgt? Es gibt keinen Verband und kein Unternehmen, die den Euro rückabwickeln wollen. Das ist eine unsinnige Forderung, für die Sie überhaupt keinen Rückhalt mehr in der Bevölkerung oder in der Wirtschaft haben. ({4}) Mein letzter Punkt. Sie schreiben weiterhin: Eine demokratische Legitimation – der Europäischen Union – ist nicht in ausreichendem Maße gegeben. Sie schlagen gleichzeitig vor, das Europäische Parlament abzuschaffen, stellen aber dennoch Kandidaten für die Wahl zum Europäischen Parlament auf. ({5}) Meine Damen und Herren, das ist an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten. ({6}) Deswegen an alle, die uns jetzt von außen zuschauen: Tun Sie das den armen Kandidaten von der AfD bitte nicht an. Geben Sie ihnen keine Stimme, damit sie in ein Parlament einziehen müssen, das sie abschaffen wollen. ({7}) Verschonen Sie die AfD vor dem harten Schicksal, in Brüssel Entscheidungen für unseren Kontinent treffen zu müssen. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Ursula Groden-Kranich das Wort. ({0})

Ursula Groden-Kranich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Ich freue mich, dass bei dieser Debatte zu Europa so viele junge Menschen da sind. ({0}) Wir reden heute über einen Antrag zu Europa der antieuropäischen Partei dieses Hauses. Ich korrigiere: der Anti-EU-Partei; denn gegen den Kontinent haben Sie ja nichts. ({1}) Sie machen sich gerade schon wieder lächerlich; denn für Sie besteht der Kontinent, so wie Sie es in Ihrem Antrag formulieren, zusätzlich aus der Schweiz – da haben Sie ganz persönliche finanzielle Interessen; es ist völlig klar, dass die Schweiz genannt wird – ({2}) und aus Norwegen. Dass vielleicht Länder wie die Türkei und die Ukraine auch zum Kontinent gehören, entgeht Ihrer Wahrnehmung. Ihr Antrag strotzt nur so vor Zumutungen und falschen Behauptungen und scheint der Mottenkiste des 19. Jahrhunderts entnommen zu sein. Es ist uns allen echt schwergefallen, den Antrag ernst zu nehmen. Ihre Redner haben diesen Antrag auch nicht ernster machen können. Der eine liefert eine diffuse Performance, der andere sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht. Ich muss mich fragen: Was wollen Sie eigentlich? ({3}) Ihr Antrag ist total geschichtsvergessend. Zwar weisen Sie auf die EWG, ({4}) die Römischen Verträge und auf den Élysée-Vertrag von 1963 hin. Aber Sie haben anscheinend dem Vorredner nicht zugehört, wenn Sie sagen: „Das waren noch Zeiten!“ Sie sind mindestens 50 Jahre davor stehen geblieben. ({5}) Die Geschichte der Europäischen Union ist älter. Sie beginnt nämlich nicht erst mit der Versöhnung, sondern mit der nationalistischen Politik, die zu zwei Weltkriegen führte. Das verschweigen Sie immer gerne, weil Sie die Gefahren von nationalistischer Propaganda und dieser Politik unter den Teppich kehren. Wer von der Schreckensherrschaft der Nazis nichts wissen will, der hat die Bedeutung der EU für Europa auch nicht kapiert. ({6}) Herr Kleinwächter, fühlen Sie sich eigentlich gut bei dieser Debatte? ({7}) Sie entblöden sich nicht, in Paris und in Aachen überall dabei zu sein, mit zu debattieren. Dann tun Sie so, als hätten Sie nirgendwo auch nur einen Hauch mitdiskutiert. Sie tun so, als wären Sie nie Teil gewesen und sind doch immer dabei. Ich kann Graf Lambsdorff nur recht geben. Wie schizophren muss man eigentlich sein? ({8}) – Meine Mutter hat immer gesagt: Wer schreit, hat unrecht. – Das merken wir gerade. Die EU schafft Frieden. 70 Jahre und länger hat sie es bewiesen. Zu Ihrer Vorstellung von Europa: Auf dem europäischen Kontinent gab es in diesen 70 Jahren sehr wohl Kriege, bis heute. Wenn Sie weiter mit Ihren Halbwahrheiten arbeiten – halbe Wahrheiten sind bekanntlich ganze Lügen –, zeigt es uns, dass Sie überhaupt nicht an einer echten Debatte interessiert sind. Aber was beschäftige ich mich eigentlich mit dieser rückgewandten Politik der AfD? Lassen Sie uns einmal nach vorne schauen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Entschuldigung, Kollegin Groden-Kranich. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Herrn Kleinwächter?

Ursula Groden-Kranich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) Jetzt zu den wichtigen Dingen. Die EU und das, was wir hier im Vorfeld diskutiert haben, empfinden die meisten Menschen in Deutschland und Europa als echte Erfolgsgeschichte. Gerade die jungen Menschen – das ist für uns die Zukunft – empfinden Europa als positiv; und das ist für uns Ansporn, Politik zu machen. Wir freuen uns, wenn junge Menschen mit agieren, wenn ihnen die Probleme unseres Kontinents und unserer Zeit am Herzen liegen. Deswegen müssen wir unsere Arbeit auch darauf ausrichten – sei es bei der Zusammenarbeit mit Afrika, sei es bei der Zusammenarbeit in der Klimapolitik. Denn das Klima kennt weder Innen- noch Außengrenzen, und deswegen ist es ganz wichtig, dass wir diese Themen europäisch regeln. ({1}) Erasmus und Erasmus+, die Jugendwerke und Airbus: Das sind europäische Erfolgsgeschichten. Hier liegt die Zukunft, in der Menschen miteinander ins Gespräch kommen, in der Menschen miteinander arbeiten und die wir stetig weiterentwickeln. ({2}) Wir stabilisieren Europa, das seine innere und äußere Sicherheit in die eigenen Hände nehmen muss, gerade in einer Zeit, in der sich die Zusammenarbeit mit unseren amerikanischen Partnern eintrübt. Wir wollen auch die Einmischung in unsere Angelegenheiten beispielsweise von der russischen Seite gemeinsam bekämpfen. Wo bleiben da Ihre Anträge zum Thema Hackerangriffe oder zum Thema Souveränität – dieses Thema betonen Sie doch immer –, wenn es um die Ukraine geht? Hierzu könnten Sie doch mal einen Antrag stellen. ({3}) Ich freue mich, wenn wir weiterhin die Zukunft unseres gemeinsamen EU-Europas in die Hände nehmen. Wir bauen an dem europäischen Haus weiter. Wir bitten Sie herzlich, bei der Europawahl für Europa zu stimmen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Norbert Kleinwächter das Wort.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke, werte Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Frau Groden-Kranich, ich danke Ihnen sehr herzlich, dass Sie in dieser Plenardebatte richtiggestellt haben, was Philipp Amthor am 17. Januar 2019 fälschlicherweise über mich behauptet hat. Sie haben jetzt bestätigt, dass ich in der Deutsch-Französischen Arbeitsgruppe sehr aktiv mitgearbeitet habe. Das hatte Ihr Kollege nämlich verleugnet, der selbst gar nicht drin war. Insofern danke ich Ihnen für dieses Kompliment. Ich möchte Ihnen gerne sagen: Ja, ich fühle mich gut in dieser Position. Ich glaube auch, dass es wichtig ist, dass gerade diejenigen, die die Europäische Union kritisieren und vor einem Zuviel der Europäischen Kommission und vor einem sozusagen wachsenden EU-Dach über die Bedürfnisse der Bürger und der jeweiligen Nationalstaaten warnen, an diesem europäischen Diskurs und auch am deutsch-französischen Diskurs teilnehmen. Denn das, was wir immer gesagt haben und was ich auch an dieser Stelle noch einmal betonen möchte, ist, dass es natürlich ein wesentliches Ziel von Außenpolitik sein muss, dass die bilaterale und multilaterale freiwillige Zusammenarbeit vom Souverän, den wir als Abgeordnete repräsentieren, dann auch gebilligt und kontrolliert wird. Insofern ist auch die deutsch-französische Freundschaft eine bedeutsame, eine wichtige und eine friedenssichernde. Aber wenn diese deutsch-französische Freundschaft allein nur noch darauf abzielen soll, die EU zu stärken und die etwas kranken – verzeihen Sie diese Einschätzung – Ideen von Emmanuel Macron umzusetzen, dann müssen wir hier auch ein deutliches Gegensignal setzen. Ich bitte Sie, das einfach zu respektieren und für die Zukunft mitzunehmen, und dann freue ich mich auf eine weitere gute Zusammenarbeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort zur Erwiderung hat die Kollegin Groden-­Kranich.

Ursula Groden-Kranich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Kleinwächter, ich glaube, Sie verwechseln Aktivität mit destruktivem Handeln. ({0}) Wenn ich Ihren Ausführungen folge, warte ich auf den Antrag, in dem Sie bitten, den Bundestag feststellen zu lassen, dass die Erde eine Scheibe ist. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Elysée als Vorbild – Für ein Europa der Zusammenarbeit souveräner Nationen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/6560, den Antrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/2534 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der AfD-Fraktion angenommen.

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Endlich ist es so weit: Nach langen und intensiven Vorberatungen können wir heute das Stiftungsgesetz für das Forum Recht erstmals beraten, nächste Woche dann in zweiter und dritter Lesung beschließen und damit einen ganz besonders wichtigen Schritt für diese wichtige Einrichtung gehen. Ich freue mich sehr, dass wir heute mit dem Stiftungsgesetz einen entscheidenden Schritt vorankommen für die Einrichtung dieses wichtigen Forums Recht in Karlsruhe und in Leipzig. Heute ist ein sehr guter Tag für unseren Rechtsstaat, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Besonders freue ich mich, dass wir diese Einrichtung überparteilich schaffen und dass es sich um einen interfraktionellen Antrag handelt. Ausdrücklich möchte ich mich deshalb bei den Kolleginnen und Kollegen von der Union, den Linken, den Grünen und auch der FDP für die konstruktive und sehr gute Zusammenarbeit bedanken. Ich glaube, es ist ein ganz starkes Zeichen, dass wir diese wichtige Einrichtung mit diesem interfraktionellen Antrag überparteilich schaffen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Ich glaube, dass diese Einrichtung auch dringend notwendig ist. Denn nicht nur in den USA, in der Türkei, in Polen oder in Ungarn gibt es antirechtsstaatliche Tendenzen. Nein, auch bei uns in Deutschland gibt es Bürgerinnen und Bürger, deren Vertrauen in unseren Rechtsstaat durchaus gefährdet ist. ({2}) Deshalb ist es gut, dass wir mit dem Forum Recht in Karlsruhe und in Leipzig zwei Einrichtungen schaffen, deren Ziel es sein wird, für einen modernen Rechtsstaat zu werben, seine Vorteile anschaulich darzustellen und ihn im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern. ({3}) Das Spannende und Bemerkenswerte an diesem Projekt sowohl in Karlsruhe als auch in Leipzig ist die Entstehungsgeschichte: dass sich so viele Bürgerinnen und Bürger aus den verschiedensten Einrichtungen und Vereinigungen aus der Zivilgesellschaft engagiert haben, sich für dieses Projekt begeistert und es weiter vorangetrieben haben. Das war wirklich bemerkenswert. Ich glaube, es kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, wie viel ehrenamtliches Engagement sowohl in Karlsruhe als auch in Leipzig hinter dieser wichtigen Initiative steckt. Deshalb von hier aus ein ganz herzliches Dankeschön an alle, die sich in Leipzig und vor allem auch in Karlsruhe für dieses wichtige Projekt „Forum Recht“ eingesetzt haben. ({4}) Weil es in den letzten Wochen Irritationen gab, was den ostdeutschen Standort angeht, will ich ausdrücklich darauf verweisen, dass im Stiftungsgesetz explizit steht, dass es einen zweiten Standort in Leipzig geben wird. Es kann also überhaupt keine Rede davon sein, dass wir Ostdeutschland vernachlässigen würden. Nein, Ost und West sind uns gleich wichtig. Auch in Ostdeutschland werden wir deshalb eine Einrichtung des Forums Recht schaffen. Das ist für uns in der SPD ein ganz wichtiger Punkt, meine Damen und Herren. ({5}) Was die Finanzierung angeht, so gibt es die ganz klare Zusage – das ist gesetzlich geregelt –, dass die Stiftung einen jährlichen Zuschuss des Bundes bekommt, sodass die Finanzierung gesichert ist. Mit der Zusammensetzung sowohl des Kuratoriums als auch des Stiftungsbeirates mit Vertretern der Zivilgesellschaft sichern wir, dass der zivilgesellschaftliche Ansatz, den wir aus der Entwicklungsgeschichte des Forums Recht kennen, fortgesetzt werden kann. Es ist wichtig, dass die Vertreter der Zivilgesellschaft hier auch weiterhin Mitspracherechte haben. Wenn die Planungen weiterhin so gut laufen, dann halte ich es durchaus für realistisch, dass das Projekt, wie wir es in der Gesetzesbegründung genannt haben, im Jahr 2026 eröffnet werden kann. Ich glaube, es wäre ein lohnenswertes Ziel, wenn wir uns alle dafür engagieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Rechtsstaat ist kein Selbstläufer. Gerade in Zeiten, in denen er nicht nur international infrage gestellt wird, ist es wichtig, sich ohne Wenn und Aber zu den unbestreitbaren Vorteilen eines liberalen und doch starken Rechtsstaates zu bekennen und für ihn zu werben. Genau das machen wir mit dem Forum Recht. Ich bedanke mich deshalb bei allen Kolleginnen und Kollegen, die hier zugearbeitet haben. Ein ganz besonderes Dankeschön geht an Justizministerin Katarina Barley, die sich hier sehr gut eingesetzt hat. Herzlichen Dank für die gute Zusammenarbeit! ({6}) Dass Sie das zu Ihrem Projekt gemacht haben, zeigt, wie wichtig Ihnen ein moderner, ein starker Rechtsstaat ist. Deswegen ganz herzlichen Dank dafür. Ich freue mich, dass wir überparteilich diese Beschlussfassung heute so treffen können, und bitte um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Stephan Brandner für die AfD-Fraktion. ({0})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren! Nachdem am 18. Oktober des letzten Jahres der Bundestag mit der ganz großen Merkel-Koalition, also unter Einschluss der Grünen und der FDP, die Gründung dieses sogenannten Forums Recht beschlossen hat, geht es heute und auch in der nächsten Woche – die Sache scheint also offenbar sehr eilig zu sein – um die dazugehörige Stiftung, die sehr viele Pöstchen schafft, die von Ihnen besetzt werden können. Herr Fechner, Sie haben angesprochen, das alles sei überparteilich. Da muss ich ein bisschen Wasser in Ihren Wein kippen. Die AfD ist auch in dieser Hinsicht nicht Bestandteil der nationalen Front. Ich muss Ihnen sagen: Wir scheren da aus und haben eine dezidiert andere Meinung dazu. Zu dem geplanten Museum in Karlsruhe hatte Thomas Seitz vor einiger Zeit hier Ausführungen gemacht. Herr Seitz ist heute leider krank; Thomas, von hier aus gute Besserung. Ich wiederhole kurz, was Herr Seitz zu dem Museum gesagt hatte. Er sagte: Der Rechtsstaat gehört in kein Museum. Der Rechtsstaat ist kein Ausstellungsobjekt. Der Rechtsstaat muss jeden Tag aufs Neue gelebt und mit Inhalt gefüllt werden. ({0}) Dazu gehört nun einmal die unangreifbare Berufung von Verfassungsrichtern. Da geht es nun einmal nicht, dass der stellvertretende Fraktionsvorsitzende einer Regierungsfraktion, also Herr Harbarth, von heute auf morgen zum Richter am Verfassungsgericht und demnächst zum Präsidenten mutiert. ({1}) Auch von den Vertretern der Exekutive, also von der Regierung, wird rechtsstaatliches Handeln gefordert. Deren Aufgabe ist es, das Recht nach den Prinzipien des Grundgesetzes und dem einfachgesetzlich geregelten Willen des Gesetzgebers umzusetzen. Auch eine Bundeskanzlerin gehört zu denjenigen, die dem Gesetz unterworfen sind. ({2}) Schließlich verlangt der Rechtsstaat von der Judikative, von den Gerichten, dass sie unabhängig von jeder Ideologie und politischer Anschauung gleiches Recht für alle sprechen. Das, meine Damen und Herren, ist die berühmte Augenbinde der Justitia. Sie kennen die Bilder alle. ({3}) Ein gutes Gegenbeispiel ist die Verfassungsrichterin Baer, die sich selbst als Feministin – was immer das sein mag – definiert ({4}) und sich vor ihrer Berufung bereits intensiv damit beschäftigte, wie man ihre und andere krude Gender- und Quotenideologien in die deutsche Rechtspraxis einfließen lassen könnte. ({5}) Diese Frau Baer ist nun die Beauftragte des Bundesverfassungsgerichts für dieses Museumsprojekt. ({6}) Dies lässt aus unserer Sicht Schlimmes erahnen. Man – oder frau – macht damit doch den Bock zum Gärtner oder – wie man gendert – das Mutterschaf zur Gärtnerin, ({7}) wenn eine exponierte Vertreterin dieses ideologischen Rechtspositivismus – manche sagen auch einfach schlicht: dieses Unsinns – an der Gestaltung eines solchen Projekts, zumal an wichtiger Position, beteiligt wird. ({8}) Meine Damen und Herren, aber auch einige Vereine, aus denen die Mitglieder des Stiftungsbeirates kommen sollen – ich nenne da exemplarisch nur den Deutschen Anwaltverein unter seinem mehr als seltsam agierenden Präsidenten –, ({9}) die da Pöstchen abgreifen sollen, sind nicht alle erste Wahl, wenn es darum geht, den Rechtsstaat im Sinne des Grundgesetzes, mit Ewigkeitsgarantie ausgestattet und Bestandteil unserer Grundordnung, zu präsentieren, nämlich als Rechtsstaat ohne Gender und überhaupt irgendwelche Quoten, ohne Diskriminierung politisch Abweichender und ohne Einschränkung der Grundrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit durch ­Orwell’sche Konstruktionen wie Hate-Speech-Projekte. Wie die Schwerpunktsetzung dieses Stiftungsprojektes sein soll, wird auch daran sichtbar, dass im Stiftungsbeirat letztendlich ein Mehrfaches an Nichtjuristen wie an Juristen sitzen soll. Diese nichtjuristischen Beiratsmitglieder werden dann vom Kuratorium aus gesellschaftlichen und kulturellen Initiativen und Institutionen ausgewählt. „Aus gesellschaftlichen und kulturellen Initiativen und Institutionen“ – wer denkt da nicht gleich an im „Krampf“ gegen rechts gestählte, hyperaktive, Antifa-nahe, staatlich alimentierte Gruppen und Grüppchen? Diese werden da zum Tragen kommen. ({10}) Das macht deutlich: Es geht Ihnen nicht darum, den Rechtsstaat so mit Ewigkeitsgarantie darzustellen, wie ihn unsere Verfassung vorsieht, sondern es geht Ihnen darum, Interpretationen vom Stapel zu lassen und Utopien zu leben, Utopien auszuleben, was der Rechtsstaat nach Auffassung dieser seltsam berufenen Personen sein soll. Wenn Sie da noch ein bisschen weiterdenken, dann würde es mich persönlich nicht wundern, wenn wir im Stiftungsbeirat oder in irgendwelchen Gremien dann auf solche Gestalten wie den GEZ-Clown Böhmermann oder auf ehemalige Stasi- und heutige zivilgesellschaftliche Spitzel wie Frau Kahane treffen werden. ({11}) Meine Damen und Herren, es bleibt dabei: Wir als AfD-Fraktion lehnen sowohl das Museum als auch diese komische Stiftung ab. Der Rechtsstaat gehört nicht ins Museum, der Rechtsstaat muss gelebt werden. Und eine Stiftung, die dazu dienen wird, Versorgungsposten zu schaffen, und missbraucht werden wird, um Multikulti- und Genderpropaganda zu machen, die braucht kein Mensch. Vielen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Thorsten Frei das Wort. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will das Ganze wieder vom Kopf auf die Füße stellen und deutlich machen, dass heute wirklich ein Tag der Freude ist. Es ist ein schöner Tag für all diejenigen, die in der Vergangenheit dazu beigetragen haben, dass wir heute die erste Lesung dieses Stiftungsgesetzes hier im Bundestag haben. Damit bringen wir das Forum Recht wieder eine Stufe näher an seine Realisierung. Es ist auch ein wirklich schöner Tag, weil wir über eine so große Einigkeit hier im Hause verfügen, dass es wichtig ist, Rechtsstaat nicht als eine Selbstverständlichkeit anzusehen, sondern letztlich auch als Grundlage dafür, dass wir in Sicherheit bei hoher Lebensqualität und wirtschaftlicher Prosperität in unserem Land leben können. ({0}) Deswegen ist es richtig, auch an diejenigen zu denken, von denen die Initiative für dieses Projekt ausgegangen ist. Wie der Kollege Fechner gesagt hat: Es ist ein zutiefst zivilgesellschaftliches Projekt von Menschen, die sich in Karlsruhe und dann auch in Leipzig mit dem Thema Rechtsstaatlichkeit auseinandergesetzt haben und denen klar war, dass man immer wieder deutlich machen muss, was Rechtsstaatlichkeit eigentlich bedeutet, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, in einem Rechtsstaat zu leben – da muss man sich nur umschauen –, ({1}) sondern dass man dafür auch jeden Tag etwas tun muss, im Zweifel auch dafür streiten muss. Deswegen finde ich es richtig, dass man Themen in den Mittelpunkt rückt, wo sich Rechtsstaatlichkeit eben auch im täglichen Leben der Menschen widerspiegelt, dass man einen Blick auf die Geschichte der Rechtsstaatlichkeit wirft, auf die Entwicklung Deutschlands zu einem modernen Rechtsstaat, dass man sich mit den Menschen und Institutionen auseinandersetzt, die Rechtsstaatlichkeit und den Rechtsstaat ausmachen, mit den Symbolen, die das im täglichen Leben der Menschen zeigen, und vielem anderen mehr. Das Ganze passiert nicht in einem Museum, wie Sie sagen, das Ganze passiert in einem Diskursraum, in einem Austausch. Darin soll Rechtsstaat erlebbar, greifbar, konkret für die Menschen gemacht werden. Deswegen sind wir vom Konzept des Forums Recht auch zutiefst überzeugt, weil das eine gute Möglichkeit ist, genau das für die Menschen plastisch darzustellen. ({2}) Ich würde das gerne in einen etwas größeren Zusammenhang einordnen. Es ist nicht nur das Forum Recht, mit dem wir uns in dieser Legislaturperiode und diesen Monaten ganz intensiv auseinandersetzen, wir haben mit den Ländern Ende Januar auch den Pakt für den Rechtsstaat beschlossen. Dabei ging es um zusätzliches Personal: 2 000 zusätzliche Stellen bei Richtern und Staatsanwälten, in dieser Legislaturperiode 15 000 zusätzliche Stellen bei der Polizei und den Sicherheitsbehörden. Deutschland ist ein starker Rechtsstaat bei hoher Lebensqualität und Sicherheit für die Menschen. Das zeigt sich auch daran, dass im vergangenen Jahr die Zahl der Straftaten in Deutschland unter das Niveau von 1992 zurückgegangen ist. Das ist ein Pfund, mit dem man wuchern kann, und das sollten wir auch tun. ({3}) Als Außenpolitiker habe ich mich in der letzten Wahlperiode sehr intensiv mit den Ländern des westlichen Balkans auseinandergesetzt. Wenn man das tut, dann sieht man eben, warum Länder entweder nicht auf die Füße kommen oder sehr lange brauchen, um diesen Weg zu beschreiten, warum es keine Investitionen in dem Land gibt und warum Menschen ein Land verlassen. Weil es an Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit fehlt. Das ist letztlich die Grundlage von allem. Das müssen wir, glaube ich, immer wieder deutlich machen. Dafür braucht es Menschen. Dafür braucht es Personal. Dafür braucht es Ausstattung. Dafür braucht es aber auch die entsprechenden Verfahrensordnungen. Deswegen ist es als weiterer Bestandteil wichtig, dass wir die Strafprozessordnung so organisieren, dass es nicht billiges Recht, sondern effizientes Recht gibt, dass die Menschen zeitnah eine klare Antwort des Rechtsstaates bekommen. Dafür tun wir das. Neben Personal und neben Verfahren kommt es auf die Bürger an, kommt es darauf an, dass der Rechtsstaat auch als solcher gelebt wird, dass wir ihn als einen Wert an sich betrachten. Das kann man nicht allein staatlich verordnen, sondern dafür braucht man Menschen, die das auch leben. Deswegen bin ich davon überzeugt, dass wir hier den richtigen Weg einschlagen, bei dem es nicht um museale Betrachtung geht, sondern bei dem es ähnlich wie etwa beim Haus der Geschichte in Bonn nicht um ein Museum als solches geht, sondern darum, zentrale Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Mittelpunkt zu rücken. Dafür haben wir den richtigen Rahmen geschaffen. Deswegen bin ich dankbar, dass wir heute darüber sprechen können und der Bundestag nächste Woche ganz sicher mit sehr großer Mehrheit zustimmen wird. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Stefan Ruppert das Wort. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben ein Gespräch mit dem Vertreter der AfD im Haushaltsausschuss über die Frage geführt, ob es denkbar wäre, dass sich die AfD an einem Diskussionsprozess beteiligt. Es war interessant, zu sehen, wie der Mann reagierte. Erst sagte er: Rechtsstaat? Dafür sind wir auch. – Aber jetzt merken wir anhand der gerade gehaltenen Rede, dass Ihnen ja daran gelegen ist, dass die Fiebrigkeit in unserem Land, der Vertrauensverlust in Institutionen, der sich zeigt, aber auch die Zweifel manches Bürgers und mancher Bürgerin, ob nicht mitunter die Macht das Recht etwas zu sehr verdrängt hat, dass dieser angstvolle und angstmachende Zustand verstärkt und nicht ausgeräumt wird, dass Ihr Interesse ist, die Eigenständigkeit des Rechtsstaates gerade nicht nach vorne zu stellen. Genau diesem Anliegen von Ihnen tritt ein Forum Recht entschieden entgegen. ({0}) Ich kann Ihnen sagen: Es ist natürlich immer einfacher, nicht an Symposien, an Veranstaltungen teilzunehmen, sich nicht damit auseinanderzusetzen, wie Ausstellungsmacher, wie Zeithistoriker, wie aber auch Akteure der Zivilgesellschaft mit der Frage umgehen, wie man das Recht darstellen kann. Sie arbeiten lieber gegen als im System. Deswegen haben Sie an all diesen Veranstaltungen nicht teilgenommen. Sie hätten Ihnen gezeigt, dass es nicht um ein Museum geht, sondern darum, das Recht erfahrbar zu machen, zu zeigen, dass es eine Grundkon­stante in der Gewaltenteilung ist, die unverzichtbar ist und die auch der Macht nicht weichen darf, ({1}) insofern ein Eigenstand der Rechtsstaatlichkeit. ({2}) Ich danke an dieser Stelle all den Akteuren, die dabei geholfen haben. Es waren bereichernde Termine. Ich danke Katarina Barley, die dann, wenn es manchmal hakte, einen Anstoß gegeben hat, damit es vorangeht. ({3}) Ich danke aber auch Frau Baer vom Verfassungsgericht oder Frau Limperg vom Bundesgerichtshof, dem Oberbürgermeister der Stadt und den vielen Menschen in Karlsruhe. Erfreulich ist auch, dass sich nun auch die Menschen in Leipzig dafür zu interessieren beginnen, dass sie ein solches Projekt von unten, also aus der Mitte der Gesellschaft heraus, möglich gemacht haben. Insofern, glaube ich, stärken wir den Rechtsstaat. Daran haben Sie kein Interesse. Das verstehe ich aus Ihrer Perspektive sogar; das ist politisch-taktisch. Aber wir wollen dem entgegentreten. ({4}) Anwälte und Richter schreiben uns an, sie wären gerne jenseits der Organe, die dort sozusagen hoheitlich vertreten sind, vertreten. Man muss ins Gespräch darüber kommen, wo dafür der richtige Ort ist. Jedenfalls ist mir persönlich wichtig, dass natürlich auch die Anwalt- und Richterschaft in den entsprechenden Gremien vertreten sind. Ich glaube aber, dass wir dafür eine gute Lösung finden können, vielleicht sogar schon gefunden haben. Lassen Sie mich nun zum Vollzug kommen. Ich glaube, es wird in den nächsten Wochen und Monaten wichtig sein, etwas zügiger voranzukommen. Wir hatten doch das eine oder andere Sandkorn im Getriebe. Da hatte man den Eindruck, da entsteht Misstrauen oder auf den anderen wird zu wenig zugegangen. Wir freuen uns über eine Finanzierungszusage. Ich freue mich auch ausdrücklich darüber, dass es in Leipzig einen zweiten Standort geben wird. Ich freue mich darüber, dass sich auch dort Menschen Gedanken machen. Aber wir sollten deswegen das Vorgehen in Karlsruhe nicht in irgendeiner Weise bremsen oder gar aufschieben oder auf andere Dinge warten. Beides können wir voranbringen: Leipzig auf der einen Seite und Karlsruhe auf der anderen Seite. Ich muss schon sagen: Es ist immer wieder ein gutes Zeichen für ein Parlament, wenn es ihm gelingt, im Dissens, aber mit der gemeinsamen Wertebasis, ein solches Projekt auf den Weg zu bringen, auch für eine Große Koalition, die sich darum bemüht, die Oppositionsfraktionen im Gespräch einzubinden. Dass Sie daran kein Interesse haben, wurde sehr schnell augenfällig. Aber ich glaube, wir können als Parlament stolz sein. Wir sind uns nicht über jeden Spiegelstrich einig. Aber das Anliegen insgesamt, das tolle Fundament des Rechtsstaates in Deutschland für diese Republik zu stärken, das eint eben in diesem Hause alle Fraktionen – bis auf eine. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Niema Movassat für die Fraktion Die Linke. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Oktober letzten Jahres haben wir hier über die Gründung des Forums Recht, einem Informations- und Dokumentationszentrum, einem „Erlebnispark des Rechts“, debattiert. Damals wie heute sind wir als Linke nicht Miteinbringer des Gesetzentwurfes. Das liegt nicht an den Inhalten, das liegt auch nicht an uns. Wir als Linke sind für die Gründung des Forums Recht. Wir sind für diesen Gesetzentwurf. Wir waren sogar an seiner Erstellung mitbeteiligt. Wir waren nämlich bei den Berichterstattergesprächen mit dabei. Wir haben uns für den zweiten Standort Leipzig starkgemacht, der jetzt im Gesetzentwurf steht. Wir durften aber nicht Miteinbringer des Gesetzentwurfes sein, ({0}) weil das die CDU/CSU nicht will. Dabei dachte ich, es sollte hier um Inhalte gehen. ({1}) Werte Kolleginnen und Kollegen von der Unionsfraktion, geben Sie doch endlich Ihre bornierte Haltung auf. Lassen Sie uns doch in der Sache gemeinsam für dieses Projekt arbeiten. ({2}) Ich sage aber auch in Richtung Grüne und SPD: Indem Sie sich immer wieder bei Themen, bei denen sich alle demokratischen Fraktionen im Haus einig sind, dem Willen der Union beugen, Die Linke auszugrenzen, machen Sie es denen leicht, immer so weiterzumachen. Zeigen Sie da vielleicht ein bisschen mehr Widerstand. ({3}) Meine Damen und Herren, ich will Ihnen, aber vor allem auch der Öffentlichkeit, drei Gründe nennen, warum wir als Linke das Forum Recht für eine gute Idee halten. Erstens. Das Forum Recht soll dazu beitragen, sich ständig über den Zustand des Rechtsstaates Gedanken zu machen. Man liest ja allerorten, Strafurteile seien zu lasch. Es gibt Politiker, die selbst für Bagatelldelikte drakonische Strafen fordern. Die Forderung nach einer Law-and-Order-Politik hat Konjunktur. Als Begründung dient das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung. Aber dieses ungute Sicherheitsgefühl wird ja erst durch Populisten geschaffen. ({4}) – Schön, dass Sie sich angesprochen fühlen, Herr Brandner. – Menschen werden verunsichert und die Gesellschaft gespalten. Die, die mehr Härte fordern, berufen sich auf den Rechtsstaat, aber genau das meint der Begriff des Rechtsstaates nicht. Rechtsstaat bedeutet nicht, immer mehr Befugnisse für die Sicherheitsbehörden zu schaffen. ({5}) Der Rechtsstaat soll vielmehr vor rechtswidrigen Handlungen der Exekutive schützen. Der Rechtsstaat verbietet auch unverhältnismäßig hohe Strafen. ({6}) Das Forum Recht kann einen Beitrag dazu leisten, deutlich zu machen, was Rechtsstaatlichkeit eigentlich heißt. Es heißt nicht, immer mehr schärfere Gesetze zu schaffen, sondern es heißt „Schutz der Bürgerrechte“. ({7}) Zweitens. Das Forum Recht soll das Recht erfahrbarer machen. Es sind die vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die dafür sorgen, dass Recht erfahrbar wird, oder die auf Defizite im Rechtssystem aufmerksam machen. Für uns als Linke ist es ein großes Anliegen, dass auch die Zivilgesellschaft in die Arbeit des Forums einbezogen wird. Es sind Nichtregierungsorganisationen wie beispielsweise Amnesty International, Pro Asyl, Attac, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband, der DGB, Sea-Watch, welche für die Menschenrechte und die Bewahrung von Freiheits- und sozialen Rechten kämpfen. Ich finde, solche Organisationen gehören auch in den Stiftungsbeirat. ({8}) Drittens. Das Forum Recht soll deutlich machen, dass demokratische und verfassungsrechtliche Errungenschaften leider keine Selbstverständlichkeit sind. Seit einigen Jahren wird der Rechtsstaat und werden die Grundrechte von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten in Deutschland und Europa wieder angegriffen. Wir müssen vor allem junge Menschen für die Werte des Grundgesetzes – Gleichheit, Freiheit und Demokratie – gewinnen. Wir müssen darüber aufklären, wohin der braune Sumpf am Ende führt ({9}) und welche Gefahr er für den demokratischen und liberalen Verfassungsstaat darstellt. ({10}) Ich möchte an dieser Stelle abschließend allen danken, die sich für das Projekt „Forum Recht“ eingesetzt haben und es vorangetrieben haben, gerade auch den Menschen aus der Zivilgesellschaft, die das Projekt vorangetrieben haben. Das Forum Recht wird einen wichtigen Beitrag zur Stärkung von Menschenrechten, Rechtsstaat und Demokratie leisten. Lassen Sie uns das Projekt gemeinsam voranbringen. Danke schön. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ein guter Tag, weil wir hier jetzt gemeinsam das Forum Recht diskutieren können, das seinen Sitz in Karlsruhe haben wird. Ich danke insbesondere denen – sehen Sie es mir nach, liebe Stadt Leipzig –, die in Karlsruhe angefangen haben, es von ganz unten aufzubauen. ({0}) Das ist zivilgesellschaftliches Engagement in einem demokratischen Land. ({1}) Ich bin froh, dass wir es geschafft haben, Karlsruhe als Sitz festzulegen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass es auch einen Sitz in Leipzig geben wird, wobei ich darauf hinweisen will: Es geht nicht darum, dass einer für den Osten und der andere für den Westen zuständig ist, sondern alle sind für alle zuständig. ({2}) Ich will ein paar Worte zu diesem Projekt sagen. Was ist eigentlich unsere Erwartung? Ich meine, dies soll kein Projekt von oben nach unten sein. Es soll kein Bundesbildungsinstitut werden – so heißt es auch nicht –, es soll auch nicht nur Beiträge zu weiteren Broschüren und Seminaren herausgeben, sondern es heißt ganz bewusst „Forum Recht“. Wenn Sie sich mal angucken, wofür das Wort „Forum“ steht – es kommt übrigens aus dem Lateinischen –, dann sehen Sie, dass es ursprünglich „länglicher, viereckiger freier Raum“ bedeutete, also für einen freien Raum steht – das finde ich am schönsten; später wurde daraus „Versammlungsort, Marktplatz“ –, in dem sowohl Gerichtsbarkeit als auch Volksversammlungen stattfanden. Das muss dieses Forum leisten. Deshalb heißt es nicht „Institut“ oder „Amt“. Es ist ein Forum, ein freier Raum, in dem sich Menschen in diesem Land treffen, Fragen stellen, Meinungen austauschen und versuchen, Antworten zu finden – nicht mehr oder weniger muss dieses Forum Recht leisten, meine Damen und Herren. ({3}) Es muss dann auch von den Fragen der Menschen getrieben sein. Auch wenn da viele Gerichtsvertreterinnen und -vertreter sein werden, können sie – das ist für sie auch eine Herausforderung – nicht nur sagen: „Wir erklären jetzt mal die rechtsstaatlichen Verfahrensprinzipien und unsere Beweisregeln“, sondern müssen sich auch der Herausforderung stellen, dass an dieser Stelle auf eine ganz andere und neue Art und Weise und in einer neuen Zusammensetzung über die Frage diskutiert wird, was Rechtsstaat und Demokratie bedeuten. Es geht also um beides. Der berühmteste Satz zum Rechtsstaat ist der von Bärbel Bohley, die mal gesagt hat: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“ Sie hat damit gesagt: Gerechtigkeit ist nicht nur das individuelle Empfinden, was gerecht und ungerecht ist, sondern es gibt einen Rechtsstaat mit Verfahrens- und Beweisregeln, mit dem wir leben, damit es zu keinen Fehlurteilen kommt. Der andere Begriff ist der Begriff der Demokratie, also der Herrschaft des Volkes. Ich finde, dass dieses Forum genau das zusammenbringen muss: Rechtsstaat und Demokratie. Dann wird daraus das Bild eines demokratischen Verfassungsstaates, den im Übrigen wir alle tragen. Da gerade Herr Böckenförde, der ehemalige Verfassungsrichter, gestorben ist, muss ich an dieser Stelle das sogenannte Böckenförde-Diktum zitieren. Er hat nämlich gesagt: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben … Nichts drückt besser aus, dass man andere Menschen braucht, die den demokratischen Verfassungsstaat tragen. Es wird die Aufgabe des Forums Recht sein, hier die Fragen der Menschen aufzunehmen, meine Damen und Herren. ({4}) Da geht es dann um Gerechtigkeit, um Würde für jedermann und jede Frau, um die Gleichstellung von Frauen und Männern, um die Frage von Kopftüchern, um die Situation von Kindern. Dieser längliche freie Raum muss entsprechend mit allen Fragen gefüllt werden, die zu stellen sind. Natürlich wird es dort auch feministische Fragen geben. Eines kann ich sagen: Das wird ein wirklich partizipativer Ort, an dem viele Menschen mitmachen und diskutieren, an dem sich alle möglichen Gruppen – von Menschenrechtsgruppen über Frauengruppen bis hin zu Kinderrechtsverteidigerinnen und Menschen, die sich mit Natur und Zukunft auseinandersetzen – finden und die Grundlage dieses Staates mit weiterentwickeln, meine Damen und Herren.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Künast, kommen Sie bitte zum Punkt.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dieses Forum Recht wird eines aushalten, Herr Brandner: dass ein Vertreter der ersten Gewalt, der zudem – mir kommen fast die Tränen – auch noch Vorsitzender des Rechtsausschusses ist, derartig perfide und peinlich ({0}) eine Vertreterin der dritten Gewalt diffamiert, weil sie nichts anderes tut, als eine Meinung zu haben. ({1}) Wir werden das aushalten und werden Ihnen nicht den Gefallen tun, auf gleicher, niveauloser Ebene darauf zu antworten. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Künast, bitte!

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Natürlich dürfen Sie eine Meinung haben, Herr Brandner; aber das heißt nicht, dass Sie die dritte Gewalt derartig runtermachen dürfen. ({0}) Denn die Akzeptanz, die Sie verlangen, müssen Sie auch anderen gegenüber zeigen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Künast, bitte setzen Sie den Punkt.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Allein deshalb schon weiß ich: Wir brauchen das Forum Recht, und es wird eine gute Arbeit abliefern. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es war doch zu erwarten, dass Frau Künast am Ende ihrer Rede zu alter Hochform aufläuft. ({0}) Es läge mir sehr fern, die Äußerungen der ehemaligen Vorsitzenden des Rechtsausschusses in irgendeiner Weise zu erweitern, zu verbessern oder zu ergänzen. ({1}) Aber wenn man unseren ehemaligen Verfassungsrichter Böckenförde schon zitiert, dann muss man auch darauf eingehen, dass er mit seinem Diktum, dass der Rechtsstaat von etwas zehrt, wofür er selber die Grundlage nicht schaffen kann, auch im weitesten Sinne einen Gottesbezug herstellt. Er sieht den Staat auch in der Pflicht, seine moralisch-spirituelle Grundlage für die Bürger zu erhalten. Das Interessante am Begriff „Forum“ ist, dass er nicht nur für einen freien Platz, einen Raum der Bürger steht, sondern auch ein Synonym für den Gerichtsstand in der Antike ist. Deshalb ist es so entscheidend, dass wir alle im Forum Recht einen Ort erkennen, der etwas symbolisiert, der greifbar macht, was so schwer zu greifen ist. Kaum etwas auf der Welt ist so schwer darzustellen wie der Rechtsstaat. Es ist eine Binsenweisheit, dass man immer erst dann, wenn man etwas verloren hat, weiß, wie man es eigentlich schätzen müsste. Wir sehen das im Augenblick beim Brexit: Jetzt sehen die Leute, was ihnen verloren zu gehen droht. – Wir sehen auch bei den Diskursen in diesem Land, wie schwierig es ist, den Menschen die Errungenschaften, die Sicherheit, die Grundlage, das Sein eines Staates tatsächlich deutlich zu machen, und wie sehr man auch dafür kämpfen muss. Ich komme aus der schönen Stadt Nürnberg – eine Stadt, die, gerade was das Thema „Recht, Rechtsprechung und Gesetze“ anbetrifft, nicht nur eine positive Konnotation hat. Wir denken immer auch an die Nürnberger Rassengesetze. Wir denken aber auch an die Nürnberger Prinzipien. Wir denken auch daran – erlauben Sie mir, dieses Beispiel zu nennen –, dass man sich in dieser Stadt einem sehr sperrigen Thema widmet; denn die Internationale Akademie Nürnberger Prinzipien ermöglicht jetzt den Zugang zum Thema eines modernen Völkerstrafrechts. Das Memorium Nürnberger Prozesse macht deutlich und sichtbar, dass wir uns dem ganz schwierigen Thema widmen sollten, Recht auch als Grundlage eines Weltstrafrechtes greifbar zu machen und zu erklären. Insofern ist es entscheidend, dass wir das Forum Recht nicht nur zu einer Instanz der lehrreichen Verkündigung des Rechtsstaats machen, sondern einen aktiven Diskurs mit allen in dieser Gesellschaft ermöglichen, die sich daran beteiligen wollen. Ein Dank ist mehr als angebracht. Es gibt aber noch Widerstände. An dieser Stelle muss man ehrlich sagen: Manchmal versteht man die Welt nicht mehr. Der Rechtsstaat ist zwar ein schwieriges Thema, das sich ganz schwer bebildern, das sich auch nur ganz schwer diskursiv darstellen lässt; aber eigentlich entzieht er sich doch dem Populismus. Mit so einer dünnen Begründung das Forum Recht dem Populismus zu opfern, ist wirklich abstrus. Das entspricht nicht den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit. Das ist an Flachheit nicht mehr zu überbieten. ({2}) Zu sagen: „Dieser Rechtsstaat existiert nur insoweit, wie wir ihn selbst definieren“, ist ja genau das Gegenteil von Rechtsstaatlichkeit. Das gemeinschaftliche Finden von Regeln, an die sich alle halten sollen, um ein gedeihliches Miteinander auf Dauer zu gewährleisten – das ist die Kunst, das ist der Auftrag. Ich freue mich, dass wir alle daran mitwirken können. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich über den heute vorliegenden Gesetzentwurf und über die breite parlamentarische Mehrheit, die wir dafür erwarten können. In Deutschland gibt es den sprichwörtlichen Gang nach Karlsruhe. Diesem Sprichwort wohnt ein großes Vertrauen inne: dass man dort ein gerechtes und wegweisendes Urteil von Bestand erwarten kann. Deshalb freue ich mich sehr, dass Karlsruhe Hauptsitz der Stiftung Forum Recht sein wird. Ich möchte ganz herzlich der kraftvollen zivilgesellschaftlichen Initiative aus Karlsruhe danken und allen Menschen, die daran mitgewirkt haben; denn ohne sie hätte es diesen Gesetzentwurf nicht gegeben. ({0}) Als Leipzigerin freue ich mich natürlich besonders über den zweiten Standort in Leipzig. Leipzig ist nicht nur Sitz des Bundesverwaltungsgerichts, sondern auch ein authentischer Ort. Im Gebäude des Bundesverwaltungsgerichts war das Reichsgericht untergebracht, auch zur Zeit des Nationalsozialismus. Diese Zeit führt uns vor Augen, unter welchen moralischen und auch realen Druck unsere rechtsstaatlichen Institutionen geraten, wenn sich Diktaturen anbahnen oder wenn man in einer Diktatur lebt. Auch das DDR-Recht bietet viele Anknüpfungspunkte für Auseinandersetzungen. Die DDR-Gesetze waren in manchen Punkten fortschrittlicher als die der BRD – ich möchte die Rechte der Frauen ansprechen oder auch den § 175 Strafgesetzbuch –, in manchen auch deutlich zurück. Die Todesstrafe wurde in der DDR erst 1987 abgeschafft. Wer mit wachem Auge durch die Leipziger Südvorstadt, ein durchaus hippes Wohngebiet, läuft, der findet mitten in diesem Wohngebiet die zentrale Hinrichtungsstätte der DDR. Der letzte Mensch, der dort hingerichtet worden ist, war ein MfS-Mitarbeiter, der Republikflucht begehen wollte. Das war 1981. Er ist hingerichtet worden, ohne dass seine Familie darüber informiert wurde. Sie wusste nicht, was passiert war. Das und viele andere Punkte machen deutlich: Jenseits der realen Gesetze, ohne Zweifel, die DDR war ein Unrechtsstaat. – Auch diese Geschichte lädt zur Auseinandersetzung ein, ich finde, nicht nur in Leipzig, sondern auch in Karlsruhe und in der gesamten Bundesrepublik. ({1}) Wer durch die Leipziger Innenstadt läuft, der findet natürlich überall Zeugnisse der friedlichen Revolution. Zehntausende Menschen haben friedlich diesen Unrechtsstaat DDR zum Einsturz gebracht. ({2}) Dass wir auch heute noch einen Standort in Ostdeutschland brauchen, für die reale Auseinandersetzung, kommt für mich kondensiert in einem Zitat der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley zum Ausdruck – Frau Künast hat es schon genannt –: Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat. Ich höre diesen Satz oft, und zwar nicht in dem Zusammenhang, den Bohley meinte, im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte, sondern im Zusammenhang mit sozialer Gerechtigkeit und sozialen Rechten. „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ – das ist erst einmal eine sachlich richtige Aussage. In einem Rechtsstaat, in einer Demokratie kommt Gerechtigkeit nicht frei Haus. Man muss sie sich erkämpfen, sich dafür einsetzen, Mehrheiten suchen. Es ist aber auch ein sehr, sehr bitterer Ton dabei, so als sei der Rechtsstaat gar nicht das gewesen, was man eigentlich wollte. Da gibt es einiges zu tun: Man muss dafür sensibilisieren, was es für ein Glück ist, in einem Rechtsstaat leben zu können. ({3}) Man muss für seinen Wert sensibilisieren, aber ohne die Fehlbarkeiten auszublenden. Gleichzeitig ist um die Ausgestaltung zu streiten und zu ringen, und zwar auf Augenhöhe. – Das wünsche ich mir für das Forum Recht. Ich freue mich sehr, dass wir das auf den Weg bringen. Die beiden Orte, Karlsruhe als Hauptsitz und Leipzig als zweiter Standort, hätten aus meiner Sicht nicht besser gewählt werden können. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Volker Ullrich das Wort. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Gesetz zur Errichtung der Stiftung „Forum Recht“ wollen wir eine Begegnungs-, Kommunikations- und Erinnerungsstätte in Karlsruhe und Leipzig errichten, um den Rechtsstaat erfahrbar und plastisch greifbar zu machen. Als Vorbild dient das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, welches seit vielen Jahrzehnten ein wichtiger Ort ist, um die jüngere Geschichte unseres Landes begreifbar zu machen. Wir wollen etwas Ähnliches für den Rechtsstaat in Karlsruhe und in Leipzig schaffen. Wir machen das, weil wir wissen, dass der Rechtsstaat, dass unser Grundgesetz eine tragende Säule unserer Demokratie ist, und weil es ohne Rechtsstaat keine Demokratie geben kann. Wenn wir das Forum Recht errichten, setzen wir damit auch ein klares Zeichen für Rechtsstaatlichkeit, für Demokratie und für einen wehrhaften Staat, der die Grundrechte schützt und damit auch die Bürgerrechte garantiert. Meine Damen und Herren, wir tun das in einem Umfeld, in dem es Versuche gibt – das wissen wir –, das Vertrauen in den Rechtsstaat zu schwächen. Angriffe auf das Vertrauen in den Rechtsstaat und Angriffe gegen Recht und Gerechtigkeit passieren nicht immer mit lautem Knall, sondern sie geschehen manchmal auch schleichend. Das sieht man bei vielen Vorkommnissen in anderen Staaten. Wir stellen die Kraft des Rechts dagegen. Wir wollen, dass Menschen sich in diesem Forum treffen und über die verschiedenen Aspekte von Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsbindung diskutieren. Wir wollen den Rechtsstaat damit erfahrbar machen. Ich glaube, eine bessere Werbung für Rechtsstaat und Demokratie kann es nicht geben, als wenn die Menschen, vor allem viele Schulklassen, ab 2026 zum Forum Recht fahren und sich dort wohlfühlen. Karlsruhe ist ein idealer Ort. Karlsruhe ist die Stadt des Rechts mit einer langen rechtsstaatlichen Tradition. Mit dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundesgerichtshof beherbergt es zwei Gerichte, die weltweit einen guten Ruf haben in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und präzise Rechtsprechung. „Karlsruhe“ ist in der Tat ein geflügeltes Wort für Gerechtigkeit und einen guten und gütigen Richter. Die Menschen sagen: „Dann gehe ich nach Karlsruhe“, und verbinden damit die Hoffnung auf einen guten Ausgang ihres Gerichtsverfahrens. Aber Karlsruhe ist noch mehr. Es ist auch der Ort der Badischen Verfassung von 1818 von Karl Friedrich ­Nebenius, eine Verfassung mit Grundrechtsbindung, mit einem liberalen Einschlag. Ja, das ist eine Verfassung, die weit weg ist von unseren heutigen Mindeststandards, die aber aufgezeigt hat, in welche Richtung die Geschichte gehen musste, nämlich in Richtung Grundrechtsbindung, Gerechtigkeit, Legitimität, Gleichheit aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Auch das ging von Karlsruhe aus. Deswegen wollen wir auch daran erinnern. Das Forum Recht ist eine Einrichtung, die insgesamt deutlich macht, dass der Rechtsstaat nichts Selbstverständliches ist, dass wir ihn jeden Tag stärken müssen. Wir machen das mit dem Pakt für den Rechtsstaat. Wir machen deutlich, dass das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in diesen Rechtsstaat ein hohes Gut ist, das wir jeden Tag verteidigen wollen. Die dafür notwendigen Schritte müssen wir unternehmen. Ein wichtiger symbolischer Schritt ist die Errichtung dieses Forums Recht in Karlsruhe. Ich bin froh, dass wir das auf den Weg bringen. Wir sind alle aufgerufen, die erforderlichen Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen, damit wir daraus eine gute Sache machen, in Karlsruhe und in Leipzig. Vielen Dank. ({0}) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/8263 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle hat letzte Woche den Zustand Deutschlands 30 Jahre nach dem Mauerfall analysiert. Über die Schlussfolgerungen, die sie ziehen, kann man streiten; aber an der Analyse kommt keiner vorbei – ich zitiere wörtlich –: ... die Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen des Landes sind noch immer teils erheblich. Ob Wirtschaftsleistung, Löhne, Zuwanderung oder Bildung: In vielerlei Hinsicht zeichnen die regionalen Muster nach wie vor die einstige Teilung zwischen DDR und alter Bundesrepublik nach. So das Institut. ({0}) 16,8 Prozent unserer Bevölkerung stammen aus Ostdeutschland, und in den Spitzenpositionen von Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur sind die Ostdeutschen mit 1,7 Prozent vertreten. Die früheren Versprechen hat die Bundesregierung nie eingehalten. Erstens wurden blühende Landschaften versprochen – das ist ausgefallen –, die gleichwertigen Lebensverhältnisse gibt es nicht, und die innere Einheit ist immer noch nicht verwirklicht. ({1}) Manchmal hat man den Eindruck, als ob die Mauer noch stünde. Ich werde Ihnen ein Beispiel sagen. Ein CDU-Mensch hat zu mir gesagt: Aber, Herr Gysi, Sie vergessen, dass die Mieten und Restaurantpreise im Osten günstiger sind als im Westen. Deshalb ist es gerechtfertigt, geringere Renten und geringere Löhne zu zahlen. – Abgesehen davon, dass man nicht zwei Faktoren nehmen kann, sondern wenn, dann alles, lautete meine Gegenfrage, ob er bestätigen kann, dass in der bayerischen Stadt Hof im Vergleich zur bayerischen Stadt München die Mieten und Gaststättenpreise wesentlich günstiger sind, und ob er je gefordert hat, deshalb dort geringere Löhne und Renten zu zahlen. ({2}) Da er das nie gemacht hat, sage ich Ihnen den Unterschied: In seinem Kopf herrscht noch die Spaltung, während bei mir die Einheit vollzogen ist; deshalb käme ich gar nicht auf eine solche Idee. ({3}) Das Grundgesetz verlangt in Artikel 36 Absatz 1 Satz 1 Folgendes – ich zitiere unsere Verfassung –: Bei den obersten Bundesbehörden sind Beamte aus allen Ländern in angemessenem Verhältnis zu verwenden. Der Bundestag und die Bundesregierung lassen sich von diesem Artikel nicht leiten. Sie verletzen das Grundgesetz. ({4}) In 11 von 14 Bundesministerien gibt es keine einzige Abteilungsleiterin und keinen einzigen Abteilungsleiter aus dem Osten. Es gibt bei 120 leitenden Beamtinnen und Beamten drei Ostdeutsche. Es wird nicht besser, sondern schlechter; denn 2013 waren es noch fünf und 2016 noch vier, jetzt sind es nur noch drei. Wann sind wir bei null? Dieses katastrophale Bild zeichnet sich als Spiegelbild eben auch in den Führungspositionen von Wirtschaft, Hochschulen, Gerichten, Gewerkschaften und Verbänden. Man muss sie mit der Lupe suchen. Und im Osten sieht es auch so aus. Auch dort sind in den Führungen die wenigsten Ostdeutsche; auch das muss man mal erwähnen. ({5}) Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Ralph Brinkhaus, hat sich vor einer Woche in der „Lausitzer Rundschau“ dafür ausgesprochen, die Biografien der Menschen in Ostdeutschland mehr wertzuschätzen und auch ihre Leistungen nach 1990 zu würdigen. Natürlich sagt er das im Landtagswahlkampf um drei ostdeutsche Länder. Trotzdem nehme ich seine Worte ernst und hoffe deshalb, dass er unserem Antrag zustimmt – sonst nimmt er es ja nicht ernst. ({6}) Artikel 36 Absatz 1 des Grundgesetzes ist eine zwingende Norm, der umgehend Geltung verschafft werden muss. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat diesbezüglich eine gesetzliche Regelung für gut befunden, und er hat darauf hingewiesen, dass die neuen Bundesländer dazu vor dem Bundesverfassungsgericht klagen können. Die Frage an Sie lautet: Wollen Sie wirklich eine Entscheidung aus Karlsruhe haben, oder wollen Sie nicht selbst aktiv werden und diese Situation verändern? ({7}) Übrigens hat der Wissenschaftliche Dienst auch die Frage beantwortet, wie man definieren kann, wer Ostdeutscher ist. Also: Auch darum müssen wir nicht streiten. Wir brauchen eine neue Quote – eine Ostquote. Auf Zeit können Sie nicht mehr setzen; denn es sind schon 30 Jahre vergangen. ({8}) Was glauben Sie, welche nicht nur tatsächliche, sondern symbolische Kraft dies im 30. Jahr nach dem Mauerfall und 2020, im 30. Jahr der deutschen Einheit, hätte. Deshalb meine Bitte: Kommen Sie mir jetzt nicht mit demselben Gerede wie damals mit der Frauenquote – das kenne ich alles noch –, bis dahin, dass dadurch das passive Wahlrecht von Männern eingeschränkt würde etc. Unsere Bevölkerung besteht zu mehr als der Hälfte aus Frauen; aber im Bundestag sind nur 30 Prozent weiblich. Das muss verändert werden. ({9}) Es gibt übrigens nur zwei Fraktionen, in denen es mehr Frauen als Männer gibt: Das sind die Grünen, und das ist Die Linke. Diesbezüglich können Sie alle von den beiden Fraktionen lernen; es tut mir leid. ({10}) Mit den Verfassungsgrundsätzen ist es übrigens so: Die Gleichstellung steht eben auch im Grundgesetz. Hier hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass es Vorrang hat. ({11}) Die AfD hat natürlich Schwierigkeiten, gleich viele Frauen aufzustellen. Wissen Sie, woran das liegt? Das liegt daran, dass Frauen nur sehr schwer für Rassismus und Nationalismus zu gewinnen sind. Insofern sage ich dazu gar nichts. ({12}) Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte, der ja nach mir spricht, meint, dass eine solche Ostquote ins Elend führe. Ich bitte Sie! Sie sind doch der Beauftragte der Bundesregierung für und nicht gegen die neuen Bundesländer; deshalb sollten Sie Ihre Einstellung verändern. ({13}) Wer die innere Einheit will, muss endlich gleiche Chancen und gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West, in Nord und Süd, für Frauen und Männer und für alle Bewohnerinnen und Bewohner, das heißt auch für die Menschen in und aus den neuen Bundesländern, schaffen; sonst nimmt man die Einheit nicht ernst. Danke schön. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Christian Hirte. ({0})

Christian Hirte (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003890

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zwei Anträge, die wir hier beraten, beschreiben Zustände und Defizite, die wir auch nicht einfach ignorieren können. Denn: Ja, es gibt zu wenig Ostdeutsche in Führungsverantwortung in diesem Land. Und: Ja, es gibt auch zu wenig Bundesbehörden und Bundesbeschäftigte in den neuen Bundesländern. Beides gehört zusammen; denn es ist logisch, dass in den Behörden in der Regel Menschen aus den jeweiligen Heimatregionen arbeiten. Die Linke fordert in ihrem Antrag die Einführung einer Ostquote in Bundesbehörden und stützt sich dabei – wir haben es gerade gehört – auf Artikel 36 des Grundgesetzes; das ist allerdings der falsche Weg. Der aus der Weimarer Zeit stammende Artikel will nämlich den fairen Einfluss der Länder auf die Bundesverwaltung sichern, und das leistet heute – Gott sei Dank – der Bundesrat. Das ist im Übrigen der wesentliche Unterschied zu Artikel 33 Absatz 2 Grundgesetz, der umso wichtiger ist, weil er dem Einzelnen einen individuellen Anspruch auf gleiche und faire Behandlung schafft, nämlich Zugang nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung zu den Beamtenstellen. Das ist auch gerichtlich durchsetzbar; das sollte der Maßstab sein und auch bleiben. Meine Damen und Herren, stellen wir uns aber vor, es wäre so, wie Sie fordern: Die Rechtslage gäbe eine Bevorzugung aufgrund der Landsmannschaft her. Wie sähe die praktische Handhabung aus?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Matthias Höhn? ({0})

Christian Hirte (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003890

Gerne.

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Herr Hirte, zunächst einmal fordern wir nichts Neues, sondern wir fordern die Einhaltung des Grundgesetzes. Ich weiß gar nicht, warum das hier im Saal so strittig ist. ({0}) Aber da Sie darauf abgehoben haben, dass wir offensichtlich den falschen Weg wählen würden, und wir jetzt noch einmal darüber geredet haben, dass wir uns über „Eignung“ und „Befähigung“ dem Thema nähern, würde ich Sie gerne fragen. Der Kollege Gysi hat eben die aktuellen Zahlen zu den Abteilungsleitern der Bundesregierung angesprochen: 120 Abteilungsleiter, drei ostdeutsche. Meinen Sie, das ist das Ergebnis von Befähigung und Eignung? Und heißt das, dass Sie als Ostbeauftragter den Ostdeutschen sagen: „Tut uns leid, aber bei der Befähigung fallt ihr leider hinten runter“? Ist das Ihre Meinung? ({1})

Christian Hirte (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003890

Herr Kollege Höhn, es hat ja Gründe, warum Ostdeutsche in Führungsverantwortung von Bundesbehörden niedriger vertreten sind. ({0}) Das sind nicht die fachlichen Gründe, sondern das liegt vor allem daran, dass es in der Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung den breiten Willen der Bevölkerung und auch der Politik gab, einen Elitenwechsel herbeizuführen, ({1}) vor allem in Verwaltung und Justiz. Wenn Sie sich mit den Zahlen genauer beschäftigen, werden Sie feststellen, dass in den nächsten gut zehn Jahren ({2}) etwa 60 Prozent aller Richter und Staatsanwälte im Osten – das Gleiche gilt für die Verwaltung – ersetzt werden müssen. Genau dort besteht doch in den nächsten Jahren die Möglichkeit für die Verantwortlichen in ihrer jeweiligen Region, sich dieser Thematik zu stellen. ({3}) Deswegen konzediere ich: Ja, wir brauchen eine Sensibilität, wenn es künftig darum geht, Mitarbeiter in den jeweiligen Regionen auch aus den Regionen heraus anzustellen. Auch bei den Beförderungen ist darauf zu achten. ({4}) Schauen wir einmal nach Thüringen, wo der Ministerpräsident ein Parteigenosse von Ihnen ist. Es ist so, dass dort 8 von 13 Staatssekretären aus den alten Ländern kommen. ({5}) Wenn Sie zunächst einmal dort die Hausaufgaben machen würden, wo Sie selbst regieren, wäre schon viel gelöst. ({6}) Ich will noch eines sagen: Wenn darüber gesprochen wird, dass hier Symbolpolitik betrieben werden soll – etwa 30 Jahre nach der friedlichen Revolution und der deutschen Einheit –, dann will ich sagen: Es wäre doch sinnvoll, nicht Unterschiede auch in Gesetzlichkeiten zu zementieren, sondern im Gegenteil diese zu überwinden. ({7}) Stellen wir uns einmal vor, was Sie sagen, ginge. Dann wäre es ja so, dass man fordern müsste, dass etwa in unserer deutschen Fußballnationalmannschaft eine Ostquote herrschen müsste. Ich glaube nicht, dass das irgendwie sinnvoll wäre. Und wenn sich dann noch andere Gruppen finden würden, die sich selbst in besonderer Weise abgrenzen, dann müsste man auch für diese wieder nach einer Quote suchen und möglicherweise diese mit gesetzlichen Zugriffsmöglichkeiten verankern. ({8}) Also, wenn wir überhaupt darüber reden: „Braucht es eine Ostdeutschenquote?“, dann muss man darüber reden: Was heißt denn überhaupt „ostdeutsch“? Nach einem Definitionsversuch der Uni Leipzig, auf den sich die Linken in Mecklenburg-Vorpommern bezogen haben, soll Ostdeutscher sein, wer vor dem 31.12.1975 auf dem Gebiet der DDR geboren ist und dort bis 1989 gelebt hat, jedenfalls die überwiegende Zeit. Das trifft auf relativ viele nicht zu – wenn ich etwa an unsere Kanzlerin denke, wenn ich an Wolf Biermann denke –, und es trifft im Übrigen auch nicht auf den aktuellen Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer zu. Das zeigt schon, dass es schwierig ist, überhaupt eine solche Abgrenzung vorzunehmen. Der Antrag wird auch dem Anliegen überhaupt nicht gerecht, weil wir darauf schauen müssen, was wirklich vor Ort den Menschen konkret hilft, im Übrigen nicht ein paar wenige Abteilungsleiterposten möglicherweise hier in Berlin – wo wir besser werden müssen; das gebe ich offen zu –, sondern wir müssen besser werden bei der Ansiedelung von Behörden, bei der Schaffung von Beschäftigtenverhältnissen von Bundesbeschäftigten in den neuen Bundesländern. ({9}) Das ist aus meiner Sicht natürlich auch wichtig, um gesellschaftliche Akzeptanz zu schaffen. Gesellschaftliche Akzeptanz besteht nur dann, wenn es den Eindruck gibt, dass Repräsentanz vernünftig funktioniert. Ich gebe zu, da kann man noch besser werden. Bei allen Klagen sollte man, finde ich, aber nicht verhehlen, dass es mittlerweile, 30 Jahre nach der friedlichen Revolution, auch erhebliche Unterschiede gibt, auch innerhalb der neuen Bundesländer. Wir dürfen doch nicht so tun, als wenn es den Osten und die Ossis als homogene Masse gäbe! Es gibt erhebliche Unterschiede. Ich möchte in diesem Zusammenhang gerne auf den früheren Bundespräsidenten Gauck verweisen, der kürzlich, zu einer Ossiquote gefragt, sagte: Geht’s noch? Mindestens ebenso fraglich ist, ob und wie die einheitliche Ostidentität durch spezifische Ostanliegen charakterisiert wird. Sind nicht die neuen Bundesländer mittlerweile genauso heterogen, wie es auch die alten Bundesländer sind? Konsequent weitergedacht bräuchten wir dann also auch nicht nur eine Quote für den Osten, sondern sogar für einzelne Länder. Ich habe gerade schon den Altbundespräsidenten Gauck zitiert. Wir haben aktuell eine Kanzlerin, die ebenso wie der Altbundespräsident aus Mecklenburg-Vorpommern kommt. Da könnte ich als Thüringer sagen: Das ist alles ungerecht, da bräuchten wir jetzt auch eine Thüringerquote. – Also, ich glaube, eine Quote führt, wie mich Herr Gysi richtigerweise zitiert hat, ins Elend.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Staatssekretär, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine weitere Frage oder Bemerkung der Kollegin Dr. Petra Sitte? ({0})

Christian Hirte (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003890

Ja.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich mache aber gleich darauf aufmerksam: Das ist die letzte, die ich während Ihres Beitrages zulasse.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Seit 15 Jahren besteht unser Technologie- und Gründerzen­trum Halle mit seinem Förderkreis. Der Förderkreis hat diese 15 Jahre unlängst gefeiert. Da hat der ehemalige Ministerpräsident, seines Zeichens CDU ursprünglich, einen Vortrag gehalten. Insbesondere hat er darauf hingewiesen, dass im Osten nur 29 Prozent aller Beschäftigten nach der Wende in ihrem Beruf bleiben konnten. Das heißt, für alle anderen hat sich das Leben grundsätzlich geändert. Das ist eine prägende Erfahrung. Meinen Sie nicht, dass es angesichts der gegenwärtigen Diskussion schon der Erwähnung wert wäre, dass es ein Spezifikum des Ostens ist, so etwas erlebt zu haben, und dass Ostdeutsche sich in vielen politischen Entscheidungen gedemütigt gefühlt haben? In vielen Entscheidungen sind eben genau nicht in ostdeutschen Ländern die Schwerpunkte gesetzt worden. Ich wollte nur einmal darauf hinweisen – falls Ihnen als jüngerem Menschen das noch nicht so zu Ohren gekommen ist. ({0})

Christian Hirte (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003890

Frau Kollegin Sitte, man muss ein bisschen weiter zurückblicken, vielleicht bis vor 1990, und sich überlegen, warum wir diesen erheblichen Bruch in den Erwerbsbiografien und auch in der Wirtschaft in den neuen Bundesländern hatten. Das lag doch daran, dass wir eine völlig marode DDR-Kombinatswirtschaft hatten, die von Ihrer Vorgängerpartei, Frau Kollegin Sitte, der SED, zu verantworten ist. ({0}) Und jetzt kommen Sie, diejenigen, die früher die Hütte angezündet haben, und sagen: Die Feuerwehr ist zu langsam. – Also, das ist, glaube ich, der falsche Weg. Ich glaube, Frau Kollegin Sitte, Sie bewegen sich in der falschen Richtung. ({1}) Ich habe es gerade schon einmal gesagt: Wir müssen doch dahin kommen, dass wir 30 Jahre nach der deutschen Einheit die tatsächlichen Probleme aufgreifen, dass wir uns darum kümmern, wo es besondere Benachteiligungen gibt. Aber wenn es um konkrete Dinge geht, dann muss man das auch bis zum Ende durchdeklinieren. Schauen Sie sich die konkrete Situation an: Was wäre, wenn Sie zum Beispiel in der Justiz das tatsächlich durchführen würden, sagen: „Ich vertrete spezifische ostdeutsche Interessen“? ({2}) Heißt das dann, dass ein ostdeutscher Richter im Streit zwischen einem Ostdeutschen und einem Westdeutschen sagen müsste: „Aufgrund meiner ostdeutschen Prägung habe ich jetzt natürlich eine besondere Präferenz für den Ostdeutschen“? Das kann doch nicht sein. Ein Richter muss natürlich nach Recht und Gesetz, unabhängig und frei entscheiden. ({3}) Um noch einmal den Altbundespräsidenten Gauck zu zitieren: Geht’s noch? Zur AfD. Wie so häufig bei der AfD, ist sie zu spät und auch ein kleines bisschen hinterher. Zur Faktenlage: Seit den Beschlüssen – die vorhin schon angesprochen wurden – von 1992 besteht in der Tat der Auftrag an uns in der Politik, Bundesbehörden und -einrichtungen fair und vor allem vorrangig in den neuen Bundesländern anzusiedeln. Nachdem man eine große Verwaltungs- und Behördenreform Anfang der 90er-Jahre auf den Weg gebracht hatte, hat man genau diesen zweiten Passus, nämlich auch künftig Verwaltungsbehörden und Bundesbeschäftigte vorrangig in den neuen Bundesländern anzusiedeln, häufig vergessen – um es freundlich zu formulieren. Ich will deswegen ganz klar sagen: Es gab durchaus Fehler in diesem Bereich. Ich will auch sagen, dass wir Nachholbedarf haben in diesem Bereich. Aber zur Wahrheit gehört doch, dass gerade diese Bundesregierung in dem einen Jahr, wo sie jetzt im Amt ist, mehr auf den Weg gebracht hat ({4}) als vielleicht in den letzten zwanzig Jahren. Schauen Sie sich einmal an, wie viele Neuansiedelungen im letzten Jahr von der Bundesregierung organisiert wurden – um es beispielhaft zu nennen –: das Fernstraßen-Bundesamt in Leipzig; das Kompetenzzentrum Wald und Holz in Mecklenburg-Vorpommern; die Bildung eines weiteren Strafsenats des Bundesgerichtshofes in Leipzig; die Entscheidung zur Ansiedelung der Agentur für Disruptive Innovationen in der Cybersicherheit im Raum Halle-Leipzig; ein Ausbildungszentrum für den Zoll. Und wie Bundesminister Heil es vor wenigen Tagen vorgestellt hat: Alle fünf Zukunftszentren zur Bewältigung der digitalen Transformation sind in den neuen Bundesländern angesiedelt oder jedenfalls auf den Weg gebracht. ({5}) Ich möchte ausdrücklich allen Ministern danken, die daran mitgewirkt haben, und ich bin optimistisch, dass wir genau diesen Weg in den nächsten drei Jahren dieser Regierung fortsetzen werden ({6}) und dass weitere Behörden im Osten angesiedelt werden. Damit eröffnet sich nämlich für die Bürger in den neuen Bundesländern die Chance, durch die neugeschaffenen Stellen einen Job bei einer Bundesbehörde in ihrer Heimat zu finden. Die möglichst vielfältige Präsenz des Staates mit Einrichtungen ist natürlich auch eine Voraussetzung dafür, dass Bürger Vertrauen in den Staat haben, weil der Staat einfach wahrnehmbar ist. Wenn einige Bundesländer die Dezentralisierung selbst nicht so ernst nehmen, dann ist es, glaube ich, wohlfeil, immer nur auf den Bund zu schauen und zu meinen, er solle alles regeln und organisieren. Ich glaube, hier gibt es eine gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern. Mag sich die Quote am Anfang noch als Balsam für manche Ohren im Osten anhören, entpuppt sie sich doch bei genauerem Hinsehen eher als ein Bärendienst. Der Zweck beider hier zu debattierenden Anträge ist doch nichts anderes, als einen Budenzauber zu veranstalten, in der Hoffnung, dass der arme Ossi von seiner eigenen Opferrolle überzeugt wird, was am Ende natürlich nur Herr Gysi, Frau Wagenknecht oder vielleicht Frau Weidel können. Ich glaube, das ist der falsche Weg, insbesondere wenn wir über Symbolik reden. ({7}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ganz herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Anton Friesen für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Anton Friesen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004720, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Zuhörer! Fast 30 Jahre nach der deutschen Einheit, die maßgeblich von den Mutbürgern im Osten erkämpft wurde, ist Ostdeutschland nach wie vor wirtschaftlich abgehängt und politisch benachteiligt. Kommen wir zu den Fakten, Herr Hirte, Herr Ostbeauftragter. Mehr als symbolisch ist doch, dass 90 Prozent aller Bundesbehörden ihren Hauptsitz im Westen haben; das ist nach wie vor der Fall. Nur ganze 10 Prozent verteilen sich auf die ostdeutschen Flächenländer. Durchschnittlich kommen auf 1 000 Einwohner in Deutschland 2,3 Bundesbeschäftigte. In Sachsen sind es dagegen nur 0,9, und bei uns in Thüringen sind es nur 0,7. Damit ist Thüringen auf dem letzten und Sachsen auf dem vorletzten Platz. Dabei beschloss dieses Haus bereits 1992, dass, erstens, bestehende Bundesbehörden in den Osten zu verlagern sind und dass, zweitens, neue Bundesbehörden vorrangig im Osten anzusiedeln sind. Seitdem sind 27 Jahre und sieben Legislaturperioden vergangen. Passiert ist so gut wie nichts. Auch deswegen fordern wir als AfD mit diesem Antrag, endlich das umzusetzen, was die Föderalismuskommission schon damals, im Jahr 1992, gefordert hat. ({0}) Diese Bundesregierung, die von Herrn Hirte so gelobt wurde, macht eben viel zu wenig. In dem aktuellen Koalitionsvertrag ist zum Beispiel gar keine Rede mehr davon, dass neue Bundesbehörden vorrangig im Osten anzusiedeln sind, und es ist auch keine Verlagerung von Bundesbehörden in die neuen Bundesländer geplant, wie aus einer Antwort auf unsere Anfrage hervorgegangen ist. Das sind die Fakten. Das heißt, die Bundesregierung setzt den Beschluss von 1992 nach wie vor nicht um. Sie ignoriert auch das Grundgesetz, in dem die Rede von der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist. ({1}) Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse spiegelt sich doch auch darin wider, dass Bundesbehörden ganz konkret vor Ort Präsenz zeigen. Das würde das Vertrauen der Bürger in unseren demokratischen Rechtsstaat stärken und auch die Identifikation mit diesem Rechtsstaat ermöglichen. ({2}) Ein Beispiel aus meinem Südthüringer Wahlkreis ist die Stadt Suhl. Hier sind nach der Wende Tausende Industriearbeitsplätze weggebrochen. Heute hat die Stadt die älteste Einwohnerschaft Deutschlands. Die einzige Bundesbehörde vor Ort ist die Stasiunterlagenbehörde, die durch das geplante Bundesarchiv auch noch wegzubrechen droht. Wie wäre es denn, wenn man zum Beispiel in Suhl ganz konkret eine Hochschule des Bundes ansiedeln würde? ({3}) Warum sollen nicht auch Nachwuchskräfte für die Bundesbehörden im Osten ausgebildet werden? Das würde für eine Verjüngung der Einwohnerschaft sorgen, für Arbeitsplätze und für eine Belebung der Wirtschaft. Nicht zuletzt würden die Bürger vor Ort spüren, dass sie nicht alleingelassen werden. Es wurde schon zu viel debattiert und zu wenig getan. Deswegen fordern wir als AfD mit dem auf ewig in Weimar wohnhaften Schriftsteller Goethe: Der Worte sind genug gewechselt,  Laßt mich auch endlich Taten sehen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Kaiser für die SPD-Fraktion. ({0})

Elisabeth Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! „Ossis in die Behörden, und am besten in deren Spitze“ – ja, das könnte mir auch gefallen. Was Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken in Ihrem Antrag beschreiben, ist auch zutreffend: Ostdeutsche sind im vereinten Deutschland in Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Bundesbehörden leider eklatant unterrepräsentiert. Sie kennen die Zahlen: 4 von 109 Abteilungsleitern in Bundesministerien sind aus Ostdeutschland, und nur 4 von 190 DAX-Vorständen sind Ostdeutsche. Nicht einer der 25 Präsidenten der obersten Gerichte in Ostdeutschland kommt aus dem Osten, und auch kein einziger Unirektor. Was für eine traurige Bilanz im 30. Jahr nach dem Mauerfall! ({0}) An den Zahlen wird leider sehr deutlich: Ostdeutsches Know-how spielt in den zentralen Schaltstellen in Deutschland eine eher untergeordnete Rolle. Leider verschenken wir uns alle so wertvolle Erfahrungen, die Ostdeutsche mit einbringen können. Das ist nicht nur bedauerlich, sondern führt zu ganz konkreten Problemen unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts; denn in Spitzenpositionen nicht vertreten zu sein und sich nicht vertreten zu fühlen, führt bei einigen Ostdeutschen zu Verdruss gegenüber der deutschen Einheit, zu Misstrauen bis Wut gegenüber unserem demokratisch verfassten Staat. ({1}) Das untergräbt die Legitimität unseres Gemeinwesens, und das müssen wir ändern. Aber ist eine Quote die richtige Antwort? Daran habe ich meine Zweifel, insbesondere wenn ich in die Zukunft schaue. Da stelle ich mir schon die Fragen: Wer ist heute noch Ossi? Wer ist Wessi? Wer wäre die Zielgruppe für solch eine Quote? Ich freue mich, derzeit eine Studentin der Uni Erfurt als Praktikantin in Gera und Berlin zu betreuen. Geboren ist sie in Niedersachsen. Sie lebte jetzt einige Jahre als Studentin in Thüringen und geht bald nach Mexiko. Dann kommt sie vielleicht zurück nach Thüringen oder nach Berlin, wie viele in ihrer Altersgruppe. Entscheidet dann der Stadtteil, in dem sie lebt, ob sie West- oder Ostdeutsche ist oder eben doch ihr Geburtsort? Ost und West sind für sie Kategorien der Vergangenheit. Eine Ostquote würde die Vergangenheit, die Trennung in den Köpfen zwischen Ost und West, zementieren. ({2}) Deshalb überzeugt mich die Ostquote eben nicht. ({3}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verstehe durchaus die Debatte dahinter. Sie ist wichtig; denn sie beschäftigt sich mit den Entwicklungen nach der Wiedervereinigung. Ich selbst bin 1987 in Gera in Ostthüringen geboren. Ich wuchs als Wendekind quasi mitten in der Transformationsphase auf. Für mich war es leicht, mich den Gegebenheiten anzupassen, weil ich ja nichts anderes kannte. Allerdings ging es meinen Eltern und denen meiner Freunde und Schulkameradinnen anders, und das prägte auch meine Erziehung. Mit der Wende brachen so manche Biografien und auch Karrieren. Wer zum Zeitpunkt des Mauerfalls als Ostdeutscher im Berufsleben war, wird durchaus gespürt haben, Ossi zu sein und vielleicht einen Wessi vor die Nase gesetzt bekommen zu haben. Nach Kompetenz wurde damals nicht gefragt. Diese Demütigungen wurden nicht vergessen. Die Erfahrung von 30 Jahren Wandel ist vielen Westdeutschen fremd. Deshalb ist es endlich an der Zeit, die Erfahrungen der Ostdeutschen nach der Wende gesamtdeutsch zu diskutieren und so auch endlich ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein zu entwickeln. ({4}) Dann würden Westdeutsche den Unmut ihrer ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger über fehlende Repräsentanz in Führungsetagen sicher besser nachvollziehen und verstehen können. Mit besserem Verständnis füreinander wird es vielleicht endlich gelingen, die mentale Trennung zwischen Ost und West zu überwinden; denn sonst holt uns die Quotenfrage wieder ein. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutige Debatte zeigt, dass es nicht zu spät ist für entschlossenes Handeln. Der anstehende Generationenwechsel in ostdeutschen Führungsetagen muss unbedingt genutzt werden, um Ostdeutsche besser zu repräsentieren. Es ist eine berechtigte Forderung der Menschen zwischen Warnemünde und Hildburghausen, auch von Menschen vertreten zu werden, die eine ähnliche Lebenserfahrung haben. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert deshalb, im „Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit“ detaillierter über die Fortschritte institutioneller Repräsentanz von Ostdeutschen zu berichten und Veränderungen aufzuzeigen. Damit hier ein positiver Trend sichtbar wird, bedarf es handfester Maßnahmen, um die Beteiligung von Ostdeutschen in Spitzpositionen zu erhöhen. Zu den zentralen Punkten gehört für uns Sozialdemokraten natürlich auch die verstärkte Ansiedelung von Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen in Ostdeutschland, da, wo es Sinn macht. Aber auch bei der Berufung in hohe öffentliche Ämter muss eine stärkere Berücksichtigung Ostdeutscher zügig sichtbar werden. Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist eine Aufgabe für das Hier und Jetzt. Die zahlreichen Studien zeigen, dass der Osten in der wirtschaftlichen Entwicklung weiterhin besonderer Förderung bedarf; denn nach der Wende verlor Ostdeutschland dauerhaft seine industrielle Entwicklungsbasis. Aber Digitalisierung und künstliche Intelligenz bieten ja auch Chancen. Warum nicht Ostdeutschland zur Modellregion für Digitalisierung machen? Warum nicht ein Drohnenzentrum am Flughafen Altenburg entwickeln? Das ist nur ein Beispiel. ({6}) Lassen Sie mich noch eines sagen: Neben den nötigen politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen kann auch jeder und jede selbst etwas dazu beitragen, als Ostdeutsche erfolgreich im geeinten Deutschland aufzutreten. Dazu gehören Selbstbewusstsein in Bezug auf die eigene Identität, Leistung und das Zutrauen zu den Aufgaben, die vor uns liegen. Ich bin mir sicher: Wir können das. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun Linda Teuteberg. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Das Grundgesetz zu achten, dafür sind wir Freien Demokraten immer zu haben. Und so suggeriert der Verweis auf unsere Verfassung im Titel dieses Antrages, dass man gar nicht gegen diesen Antrag sein könne. Doch Vorsicht: Artikel 36 Absatz 1 Satz 1 unseres Grundgesetzes trägt das Anliegen dieses Antrages nicht. Vielleicht hat der Kollege Gysi auch deshalb so wenig über diese Verfassungsnorm gesprochen. Lassen Sie mich das kurz anhand eines Stichworts erläutern. Artikel 36 Absatz 1 Satz 1 fordert eine Verwendung in „angemessenem Verhältnis“. Er verlangt gerade keine Quotierung, keine starre zahlenmäßige Bindung. Es genügt eine hinreichende Annäherung an das Verhältnis der Einwohner, und das gilt für alle Bundesländer unserer Republik. ({0}) Dass ich es bei diesem Teilaspekt belasse – man könnte noch viel sagen –, hat einen einfachen Grund: Weder die Nennung eines Artikels unserer Verfassung, wie es Die Linke tut, noch die Beschreibung seiner Details und Grenzen ersetzen eine politische Debatte über eine politische Frage. Über ein Thema, das Menschen umtreibt im 30. Jahr nach Beendigung der deutschen Teilung. Dabei geht es um die Repräsentanz Ostdeutscher in Führungsfunktionen dieser Republik. Das ist eine legitime, eine wichtige Fragestellung, und sie zu diskutieren, ist Teil der Lösung und nicht des Problems. Die Art und Weise, wie diese Frage diskutiert wird und welche Vorschläge gemacht werden, kann allerdings Teil des Problems sein. An dieser Stelle darf ein Hinweis nicht fehlen: Besonders unverfroren finde ich, dass ausgerechnet Die Linke einen Zustand beklagt, ja politisch bewirtschaftet, den sie mit der Bildungs- und Personalpolitik ihres Rechtsvorgängers SED selbst geschaffen hat. Das ist zynisch. ({1}) Sie hat damit übrigens auch die Notwendigkeit eines Elitenwechsels geschaffen. Ich habe mir sagen lassen: Auch der Zugang zum Beruf des Rechtsanwalts war damals nicht ganz leicht, und nicht jeder, der ihn hatte, ist heute der beste Anwalt aller Ostdeutschen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will jetzt gar nicht näher in eine Diskussion darüber einsteigen, wie hilfreich der Begriff „Ostdeutscher“ überhaupt ist. Er ist so erst nach der Wiedervereinigung entstanden. Zuvor haben sich nämlich die allermeisten Ostdeutschen als Deutsche im geteilten Deutschland verstanden und am Zusammengehören festgehalten. ({3}) Aber die Frage, wie sinnvoll bestimmt werden soll, wer Ostdeutscher im Sinne einer solchen Quote ist, muss erlaubt sein, und sie ist nicht trivial. Wie soll damit umgegangen werden? Sind Westdeutsche dann, wenn sie den größeren Teil ihrer Berufstätigkeit im Osten verbracht haben, lebenslang Westdeutsche? Oder haben die mehr als 4 Millionen Ostdeutschen, die seit 1949 die DDR verlassen haben, ihren Status als Ostdeutsche verloren? Wenn sie in den Osten zurückkehrten, dann waren sie plötzlich Westdeutsche. Eine bestechende Logik. Vor allem aber für unsere aktuellen Debatten: Wie will eigentlich jemand glaubwürdig für Vielfalt und Weltoffenheit eintreten, der schon unter den eigenen Landsleuten tatsächliche und vermeintliche Unterschiede betont? ({4}) Entscheidend soll nun die Sozialisation sein. Eine ganz diffuse, rechtlich schwer fassbare Kategorie. Wie viel Schulbesuch oder Berufstätigkeit in einem anderen Teil des Landes soll denn dafür ausreichen? Vielfalt und Durchlässigkeit, Aufstiegsmöglichkeiten nach Befähigung und Eignung sind wichtige Werte in unserer Demokratie und sozialen Marktwirtschaft, für jeden Einzelnen wie für unsere Gesellschaft.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin.

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die reale ostdeutsche Unterrepräsentanz in Führungsfunktionen – übrigens auch im Osten unserer Republik – ist eine Tatsache, die nicht dauerhaft aus historischen Besonderheiten erklärt werden kann.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Teuteberg, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Stefan Liebich?

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, Sie wollen nach Hause, das kann ich mir denken; aber das ist eine Debatte, wo Sie einfach mal hierbleiben und zuhören müssen. Das ist doch absurd. ({0}) Frau Teuteberg, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Sie sind jetzt die Dritte in einer Reihe, die uns erklärt, dass die Analyse, die wir hier vorlegen, eigentlich stimmt, dass Sie aber mit unserem Vorschlag nicht einverstanden sind. Die einfache Frage lautet: Was wollen Sie tun, um das Problem zu lösen? ({1})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dazu komme ich im weiteren Verlauf meiner Rede. Ich teile auch nicht alles an Ihrer Analyse, aber das werden Sie noch merken. Sie vernachlässigen die strukturellen langfristigen Ursachen, die Sie mit Ihrem Rechtsvorgänger gesetzt haben. ({0}) Um dafür zu sorgen, dass die Unterrepräsentanz Ostdeutscher kein Dauerzustand bleibt, hilft uns weder die Opfererzählung von einer strukturellen Benachteiligung noch eine zweifelhafte Quote. Gerade in laufbahnbezogenen Bereichen wie Verwaltung, Wissenschaft und Militär war die Unterrepräsentanz zunächst logisch. Übrigens wurden während des Wiederaufbaus in Ostdeutschland diejenigen, die in der Verwaltung gut einsetzbar waren, in erster Linie in den Kommunal- und Landesbehörden eingesetzt und sind auch deshalb unterdurchschnittlich an Bundesbehörden abgeordnet worden. Das kann uns natürlich nicht dauerhaft zufriedenstellen. Das darf sich nicht verstetigen. ({1}) Die Alternative zu einer gesetzlichen Quote lautet hier wie bei anderen Quotendiskussionen ja nicht, nichts zu tun. Statt Stimmungsmache und Aktionismus brauchen wir eine saubere Analyse des Problems; ich wünsche mir hier auch genauere Zahlen von der Bundesregierung. Ich erwarte aber auch von den Bundesländern, dass sie ihrer Aufgabe nachkommen, geeignete Beamte an die obersten Bundesbehörden abzuordnen. Wie sieht es bei den ostdeutschen Landesregierungen und -behörden eigentlich mit Personalentwicklungs- und Rotationskonzepten aus? Nicht zufällig hat noch kein Bundesland von der Klagemöglichkeit vor dem Bundesverfassungsgericht Gebrauch gemacht. Ich finde, wir haben allen Anlass zu Selbstbewusstsein. Unter den Ostdeutschen sind einige der Besten; aber nicht jede Generation hatte die Chance, das zu zeigen und Laufbahnvoraussetzungen zu erwerben. Doch mit solchen Fragen setzen Sie sich natürlich nicht auseinander, weil es Ihnen nicht um die Sache geht, sondern um Stimmungsmache vor den ostdeutschen Landtagswahlen. Sie wollen die Ostdeutschen als Opfer darstellen und sich selbst als Retter des Ostens in schimmernder roter Rüstung. Das ist ebenso schäbig wie durchschaubar. ({2}) Das gilt in anderer Form auch für Ihre Nachahmer in der blauen Rüstung, für die Kollegen von der AfD. Ihr Antrag, meine Damen und Herren, ist nicht viele Worte wert. Natürlich kann man darüber nachdenken, noch mehr Einrichtungen und Dienststellen im Osten unseres Landes anzusiedeln. Etwa im Zuge des Kohleausstieges in der Lausitz. Oder um regionale Kompetenzen zu stärken, etwa durch zusätzliche Forschungseinrichtungen des DLR. Oder um Behörden besser zu organisieren. ({3}) Denken Sie an den Bundesgerichtshof, dessen Senate trotz Nachrutschgebot immer noch nicht am Standort Leipzig zusammengeführt wurden. Über solche Fragen können und müssen wir reden. Aber man muss daraus kein Problem innerdeutscher Gerechtigkeit machen; vielmehr sollte man Sachfragen diskutieren. ({4}) Das so offen anzusprechen, statt dem Affen noch Zucker zu geben, würde ich mir auch von anderen in diesem Haus wünschen. Zeigen wir ganz deutlich, welche Anstrengungen unsere Gesellschaft bereits unternommen hat, um das Leben im Osten unserer Republik besser zu machen. Wirkliche Antworten auf Probleme anzubieten, die nicht kleinzureden sind, ist die eigentliche Herausforderung. Das wird uns umso besser gelingen, je mehr wir unsere Identität positiv und nicht in Abgrenzung zu anderen definieren. ({5}) Dazu braucht es keine neuen Verschwörungstheorien, sondern ein großes gesamtdeutsches Gespräch auf Augenhöhe. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin Claudia Müller. ({0})

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Dass zu wenige Menschen aus den neuen Bundesländern in Führungspositionen in Verwaltung, Wirtschaft und Forschung sind, ist in den vergangenen Wochen mehrfach thematisiert und in Studien belegt worden. Deswegen ist es gut, dass wir hier heute darüber sprechen; denn es ist tatsächlich bitter nötig. Nicht nur in der Zeit unmittelbar nach der Wiedervereinigung, sondern auch in den Folgejahren sind die meisten Führungspositionen mit Expertinnen sowie Fachleuten aus den alten Bundesländern besetzt worden, und zwar nicht nur in den Bundesbehörden, sondern eben auch – das ist mehrfach angesprochen worden – in den neuen Bundesländern selbst. Das hatte damals zum Teil gute Gründe. Bei der Übernahme des ordnungspolitischen Systems der alten Bundesrepublik im Rahmen der Wiedervereinigung – das passierte ja praktisch von heute auf morgen – brauchte man die damit vertrauten Expertinnen, damit das Rechts- und Verwaltungssystem auch wirklich über Nacht zur Anwendung kommen konnte. Das heißt, man brauchte die damit vertrauten Beamtinnen, Juristinnen sowie Angestellten. Aber, meine Damen und Herren, das ist jetzt 30 Jahre her. Auch heute ist die Situation für gebürtige Ostdeutsche vergleichbar. Dazu zähle ich auch die sogenannte dritte Generation Ostdeutscher, wozu zum Beispiel Herr Hirte und ich zählen, die ab Mitte der 70er- bis Mitte der 80er-Jahre geboren wurden, aber eben auch die nach der Wiedervereinigung Geborenen. Diese Definition entspricht übrigens nicht der Auffassung mancher Teile der Linkspartei. Ich kann Ihnen das leider nicht ersparen: Ihre Kolleginnen haben sich einen echten Fauxpas erlaubt, indem sie hier eine Stichtagsregelung definieren. Herr Hirte ist kurz darauf eingegangen, dass Sie sich hier auf eine Studie der Uni Leipzig beziehen würden. Die Uni Leipzig hat diese Definition so tatsächlich nicht aufgestellt und sagt das auch. ({0}) – Das ist nicht Ihre Definition, aber leider die Definition Ihrer Kollegin Oldenburg aus Mecklenburg-Vorpommern, die selbst auf Nachfrage diese noch einmal bejahte und sagte: Ja, ostdeutsch ist für sie nur, wer tatsächlich das gesamte Schulsystem der DDR durchlaufen hat. – Es tut mir leid, dass ich Ihnen das nicht ersparen kann. Da ist Ihnen an dieser Stelle eindeutig ein Fehler unterlaufen. Ich finde diese Definition übrigens aus mehreren Gründen sehr falsch. Einer davon ist, dass sie im Prinzip einen Grund dafür liefert, warum wir über diese Frage überhaupt nicht mehr reden müssten: Wenn ich diese Definition anlege, dann heißt das, dass sich die Frage der Unterrepräsentanz von Menschen aus den neuen Bundesländern irgendwann demografisch von selbst erledigt, weil es dann offiziell keine Ostdeutschen mehr gibt. Das kann doch nicht in Ihrem Interesse sein. ({1}) 17 Prozent der deutschen Bevölkerung lebt in den neuen Bundesländern. Nur 1,6 Prozent der Spitzenpositionen in der Wirtschaft sind mit Ostdeutschen besetzt. In Verwaltung und Justiz sind es ungefähr 5 Prozent, in den neuen Ländern nur knapp 33 Prozent. Zwei Drittel der Führungspositionen sind mit Menschen mit, ja, man kann sagen, westdeutschem Migrationshintergrund besetzt. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist 30 Jahre nach dem Mauerfall eine wirklich verheerende Botschaft. Deswegen ist es so wichtig, hier darüber zu reden. ({2}) Ob aber das in Ihrem Antrag geforderte Instrument einer Ostquote wirklich das geeignete Mittel ist, daran habe ich meinen Zweifel, zumal Ihr Antrag etwas in der Überschrift suggeriert, was dann nicht kommt; denn Sie sprechen danach über die Bundesbehörden. Sie beziehen sich auf den entsprechenden Artikel im Grundgesetz, der hier auch schon mehrfach zitiert wurde. Es ist tatsächlich schwierig, „ostdeutsch“ abzugrenzen. Ich muss ganz klar sagen: Ich gestehe jedem Menschen dort das Selbstdefinitionsrecht zu. Wenn sich ein Mensch als ostdeutsch definiert, dann werde ich ihm nicht widersprechen. Auch dann, wenn jemand, wie Frau Dr. Merkel, in den alten Bundesländern geboren ist, aber die überwiegende Zeit seines Lebens im Osten verbracht hat oder wenn eine Person erst nach der Wende dorthin gezogen ist oder wenn beide Elternteile aus den alten Bundesländern kommen, das Kind aber im Osten geboren ist, ist dieser Mensch für mich ostdeutsch, wenn er sich selbst so definiert. Das müssen wir auch anerkennen. Sie sprechen Menschen ansonsten einen Teil ihrer Identität ab. Die Frage also, wen man als ostdeutsch definiert, ist formal extrem ausufernd und schwierig zu beantworten. Eine solche Definition ist deswegen an dieser Stelle nicht griffig. Die Frage nach der regionalen Ausgewogenheit ist tatsächlich handhabbarer und auch im Grundgesetz genannt. ({3}) Dieser Grundsatz kommt – auch das ist angesprochen worden – bereits aus der Weimarer Verfassung. Er ist damals übrigens eingeführt worden, um die Dominanz einer Region zu verhindern. Dabei ging es um Preußen. Es geht aber heute darum, dass bei allen Entscheidungen das Wissen um die Verschiedenheit der Regionen und die Erfahrungen aus den Regionen einfließen können und dass die Bedarfe aller Regionen wirklich bei allen Entscheidungen in den Blick genommen werden. Nur das kann zu einer wahren Akzeptanz und zu Vertrauen in Politik und Verwaltung in allen Teilen Deutschlands führen. ({4}) Auch über die Ansiedlung von Institutionen ist hier schon mehrfach etwas gesagt worden. Ich finde, hier kann man wirklich gut nach Bayern gucken. Bayern hat es sehr vorbildlich gemacht und hat Institutionen auch in der Fläche angesiedelt, nämlich außerhalb von Großstädten. Was wir momentan bei der Ansiedlung von Institutionen und Verwaltungen nach Ostdeutschland sehen, ist – es ist mehrfach genannt worden –, dass nur Leipzig in diesem Zusammenhang genannt wird. Aber der Osten ist doch noch viel mehr als Leipzig. Wir sollten stärker darauf achten, auch in die strukturschwächeren Regionen, in andere Bundesländer zu gehen. Das ist eben nicht mit einer einfachen, starren Quote zu machen. ({5}) Ich will, weil mir nicht mehr viel Redezeit bleibt, noch zwei Worte zu dem vorliegenden Antrag der AfD sagen. Sie fordern – ich zitiere –, „bestehende Bundesbehörden in die neuen Länder … zu verlagern“. Also, im Prinzip fordern Sie eine Umsiedlung aller Institutionen. Ganz ehrlich: Das ist in jeder Hinsicht kompletter Unsinn; denn damit sorgen Sie ({6}) – Sie fordern das für bestehende Bundesbehörden – für zusätzliche Zwietracht zwischen den Regionen. Sie tragen damit beim besten Willen nicht zur Einheit Deutschlands bei. Das ist ein einseitiger, unausgegorener Schnellschuss ohne Sinn und Verstand, ({7}) und das bei einem Thema, das Fingerspitzengefühl und ehrliches Interesse an den Menschen vor Ort einfordert. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Marian Wendt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, dass ausgerechnet die ehemalige PDS bzw. SED, Die Linke, einen Antrag zur Belebung ostdeutscher Regionen einbringt, ({0}) also die Partei, die 40 Jahre lang dafür sorgte, dass freie Unternehmer in der DDR enteignet wurden, und die mit ihrer sozialistischen Planwirtschaft für das Herunterwirtschaften der Betriebe und der Regionen verantwortlich ist. ({1}) Noch heute kämpfen wir mit den Auswirkungen dieser Politik. Ohne 40 Jahre Sozialismus bräuchten wir diese Debatte gar nicht zu führen. Vielleicht sollten Sie das einmal bedenken. ({2}) Die positiven Entwicklungen nach 1990 negieren Sie natürlich vollkommen. Aber gerade in Sachsen verdanken wir die Entwicklung unseres Freistaates einer klugen und fördernden Wirtschaftspolitik der CDU seit 1990. Der Vergleich zeigt es. ({3}) In Ihrem heutigen Antrag fordern Sie nun eine Ostquote in Bundesbehörden. Widerspricht eine Quote nicht dem eigenen Ehrgeiz und der Suche nach dem Besten? ({4}) Soll man sich nachsagen lassen, dass man eine bestimmte Position lediglich aufgrund der Herkunft bekommen hat? ({5}) Überhaupt: Woran machen Sie das Merkmal „ostdeutsch“ überhaupt fest? Am Geburtsort? Unsere heutige Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel ist gebürtige Hamburgerin, demnach vielleicht eine Westdeutsche. Ich finde sie unabhängig vom Geburtsort sehr geeignet, dieses Land und viele Behörden zu führen. ({6}) Hingegen ist der Fraktionsvorsitzende der AfD in Chemnitz geboren, ein gebürtiger Ostdeutscher. Ihrem Verlangen nach einer Ostquote folgend, wäre er fähig, Behörden zu führen. Ich sehe das ganz anders und bin froh, dass er keine Verantwortung für dieses Land trägt. ({7}) Vor allen Dingen: Hat ein Ostdeutscher viel weniger oder viel mehr im Leben erreicht als ein Westdeutscher? Eine Quote geht doch an der Praxis des Arbeitsmarktes vorbei. Auch in meinem Wahlkreis reden wir darüber, dass Fachkräftemangel zu beheben ist. Wir debattieren auch hier im Bundestag verstärkt dazu. Wir wollen den ohnehin bestehenden Kampf um die besten Köpfe nicht den Behörden aufdiktieren, indem wir Quoten festlegen, sondern wir wollen die besten Kandidatinnen und Kandidaten für die Verwaltung haben. ({8}) Noch ein Hinweis zu Ihrem Antrag. Sie verweisen darin auf Artikel 36 Absatz 1 Grundgesetz. Sie überlesen, wie so oft, den zweiten Satz in diesem Artikel, der wie folgt lautet: Die bei den übrigen Bundesbehörden beschäftigten Personen sollen in der Regel aus dem Lande genommen werden, in dem sie tätig sind. Das vergessen Sie, aber das entspricht bereits der Realität. Die meisten Bewerbungen für eine Stelle kommen aus der jeweiligen Region. Deswegen ist es wichtiger, Behörden nach Ostdeutschland zu verlegen. Wir haben damit bereits begonnen. Die Agentur für Cybersicherheit wird sich in der Region Leipzig/Halle ansiedeln. Das Fernstraßen-Bundesamt kommt nach Leipzig. Demzufolge kommen wir entsprechend der Logik des Artikels 36 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz zu mehr Bewerbungen aus Ostdeutschland und somit zu mehr ostdeutschen Führungspersonen in Bundesbehörden. ({9}) Einer Quote bedarf es dafür nicht. Ich möchte noch kurz auf den Antrag der AfD eingehen. Wir brauchen mehr Behörden des Bundes in Ostdeutschland. Das erreichen wir aber nur durch eine kluge und sachgerechte Politik, die die Beamtinnen und Beamten, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung mitnimmt. Wir müssen uns überlegen, wie wir Bestandsbehörden im Rahmen von gleichwertigen Lebensverhältnissen nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in Westdeutschland noch weiter in den ländlichen Räumen ansiedeln. ({10}) Das kann man aber nicht mit einem Schnellschuss machen, schon gar nicht mit einem Satz oder einer halben Seite. Das verunsichert nämlich die Beschäftigten in unserem Land, die dafür sorgen, dass wir einen starken Staat bilden und unser Land funktioniert. Sie verdienen eine offene und ehrliche Debatte über die Zukunft der Standorte, aber nicht Hetze oder Populismus. Vielen Dank ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Enrico Komning für die AfD-Fraktion. ({0})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Wir reden hier über einen Missstand, der im Jahr 29 nach der Wiedervereinigung immer noch überproportional viele Westdeutsche in beamteten Spitzenpositionen sieht. Zu Recht weist der Antrag der Linken auf Artikel 36 des Grundgesetzes und den Grundsatz der proportionalen föderalen Parität hin. Was Sie von den Linken aber nicht verstanden, ist, dass es bei diesem Grundsatz gerade nicht um festgeschriebene Zahlen geht – Frau Teuteberg hat schon darauf hingewiesen –, ({0}) sondern um den der deutschen Seele innewohnenden Föderalismus und der Gleichwertigkeit der deutschen Landsmannschaften; ({1}) denn diese prägen seit Jahrhunderten unser Land und unsere Kultur. Es geht um Gerechtigkeit und nicht um Quoten. Quoten schaffen keine Gerechtigkeit. Quoten binden Entscheidungen jenseits von wichtigen Kriterien wie Eignung und Befähigung. Wohin das führt, kann man sehr gut an den Fraktionen auf der linken Seite dieses Hauses sehen. ({2}) Quoten sind undemokratisch. Quoten führen zu Abgrenzung, zu Streit, zu Neid und schließlich zu Hass. Quoten sind das Mittel, mit dem, wie heute, ein unsäglicher Klassenkampf in Form eines Geschlechterkampfes geführt wird. Quoten sind kein Heilmittel, sondern eine selbstverschuldete Krankheit, an der unser Land akut leidet. Nein, meine Damen und Herren, was wir von der AfD mit unserem Antrag erreichen wollen, ist die Stärkung des föderalen Grundgedankens, ist eine gleichwertige Verteilung der Teilhabe in der Gestaltung und Verwaltung Deutschlands. Genau das meint nämlich Artikel 36 Grundgesetz. Föderale Parität erreichen wir aber nicht durch Quotenossis. Wir erreichen sie durch eine sinnvolle Ansiedlung und Verlagerung von Bundesbehörden in die nicht mehr ganz so neuen Bundesländer. ({3}) Herr Hirte, Sie haben auf die Föderalismuskommission von 1992 hingewiesen. Ich finde es sehr beschämend, dass – mein Kollege hat es vorhin ausgeführt – immer noch 90 Prozent der Bundesbehörden im Westen angesiedelt sind. Seit 1992 – ich habe mal nachgesehen – waren Sie in sechs Legislaturen beteiligt. Nun protzen Sie und sagen: Jetzt machen wir es. Im letzten Jahr haben wir mehr geschafft als die anderen Legislaturen vorher. – Wer soll Ihnen denn das noch abnehmen? Ich werde Ihnen das beim nächsten Wahlkampf aufs Brot schmieren. Wenn es wieder um die Förderung der ländlichen Räume geht, werden wir Sie daran messen, wie viele Bundesbehörden tatsächlich in den neuen Bundesländern angesiedelt worden sind. ({4}) Meine Damen und Herren, Staatsverwaltung vor Ort schafft Identifikation mit dem eigenen Staatswesen. Das ist gerade im Osten unseres Landes wichtig; denn – ich glaube, darin sind wir uns alle einig; Herr Gysi hat vorhin darauf hingewiesen – es sind noch einige Schritte zu nehmen, um die innere Einheit unseres Landes zu vollenden. Wenn der Staat Legitimation beanspruchen will, dann muss er auch in der Fläche sichtbar sein und, Herr Hirte, nicht nur in großen Städten wie Halle und Leipzig. Meine Kollegin Müller hat es eben gesagt: Strukturpolitik heißt doch, dass Bundesbehörden auch in Mittelstädten angesiedelt werden können. – In mittelgroße Städte mit 50 000 bis 60 000 Einwohnern, da gehören Bundesbehörden hin; denn dort können Ankerzentren entstehen, ({5}) die nachhaltig zur Wiederbelebung oder mindestens zur Stabilisierung der ländlichen Räume beitragen können. Die dem Heimatministerium unterstehende neue Zentrale Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich wurde kürzlich in München angesiedelt. Ich denke, genau das ist das falsche Zeichen. Unser Antrag ist ein Beitrag zu mehr föderaler Parität, zu mehr Gerechtigkeit. Der Antrag der Linken ist dies mit Sicherheit nicht. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Komning. – Als nächster Redner hat der Kollege Frank Junge, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Frank Junge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004317, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich begrüße diesen Tagesordnungspunkt ausdrücklich, weil er wieder einmal Themen, die den Osten betreffen, aufs Tableau bringt und wir die Gelegenheit haben, über die Dinge zu reden, die den Osten wirklich voranbringen. Herr Wendt, da ist es mir völlig egal, wer den Antrag stellt; denn am Ende geht es darum, für den Osten zu streiten. ({0}) Dennoch halte ich eine Ostquote in den Bundesbehörden, wie sie die Linken fordert, für nicht realisierbar und auch für nicht gut. Ich finde Ihren Antrag oberflächlich und viel zu unkonkret; denn obwohl Sie, Herr Dr. Gysi, sich auf den Wissenschaftlichen Dienst bezogen haben, ist bei weitem völlig unklar, wie eine solcher Ossi definiert werden soll, der zu dieser Quote passt. ({1}) Ist es ein Ossi, der im Osten geboren ist? Ist es ein Ossi, der im Osten lebt? Muss der Ossi eine bestimmte Stichtagsregelung erfüllen, wie lange er im Osten gelebt hat? ({2}) Wie bewerten Sie Berlin? Ist Berlin wieder nach Ost und West eingeteilt? Ist Berlin also eine geteilte Stadt? – Vor dem Hintergrund ist es völlig unklar, wie Sie rechtlich sicher eine solche Regelung umsetzen wollen. ({3}) Das ist aber nicht mein Hauptargument. Mein Hauptargument, weswegen ich gegen diese Quote bin, ist, dass niemand, der wirklich ein Interesse daran hat, dass Ost und West weiter zusammenwachsen, will, dass sich dort Unterschiede manifestieren. Eine Quote manifestiert allerdings Unterschiede und schafft bei den Bürgern im Osten und im Westen keine Offenheit dafür, sich dieser Herausforderung, nämlich die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West voranzubringen, zu stellen. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?

Frank Junge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004317, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bringe meine Rede zu Ende. Vielen Dank. ({0}) – Ich habe nur vier Minuten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, stattdessen sollten wir uns noch einmal vor Augen führen, was die neuen Bundesländer wirklich voranbringt. Wir bringen die neuen Bundesländer voran – ich meine jetzt insbesondere die Anpassung der Lebensverhältnisse –, wenn wir mit unverminderter Kraftanstrengung dafür sorgen, dass wir die strukturschwachen Bereiche entwickeln und keine neuen Unterschiede zulassen. Wir müssen uns darauf konzentrieren, bei der wirtschaftlichen Infrastrukturförderung nicht nachzulassen. Hier sind die GRW-Mittel zu nennen. Seitdem diese im Osten wirken, investieren wir 80 Prozent der jetzt jährlich 600 Millionen Euro in die neuen Bundesländer. Außerdem muss auf das Auslaufen des Solidarpakts II ein gesamtdeutsches Fördersystem folgen. Dabei müssen die ostspezifischen Bedarfe abgebildet und auch umgesetzt werden. Des Weiteren reden wir darüber, dass wir bei der Breitbandversorgung endlich 100 Prozent Flächendeckung absichern und dafür sorgen müssen, dass wir bei der 5G-Mobilfunkabdeckung den Osten nicht vergessen. – Das sind Dinge, die am Ende dazu führen, dass sich Investoren auch im Osten ansiedeln, weil sie dort die gleichen Produktions- und Arbeitsbedingungen vorfinden wie im Westen. Diese Maßnahmen schaffen Arbeitsplätze vor Ort, die gut bezahlt werden und die kommunale Steuerkraft erhöhen. Dadurch wird wiederum die Handlungsfähigkeit der Kommunen im Osten verbessert, was letztlich die Lebensqualität vor Ort steigert. ({1}) Vor dem Hintergrund lassen Sie mich zum Schluss nur noch wenige Worte zu Ihrem Antrag verlieren, liebe AfD. Sie unterschlagen in Ihrem Antrag etwas; einer meiner Vorredner hat das schon zur Sprache gebracht. Sie fordern, die bestehenden Bundesbehörden förmlich abzuwickeln und in den Osten zu schieben. ({2}) – Das steht wörtlich so in Ihrem Antrag. – Sie vernachlässigen dabei völlig, dass durch Bundesbehörden auch in strukturschwachen Regionen im Westen Arbeitsplätze gesichert werden, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dort für sich und ihre Familien den Lebensunterhalt verdienen. So erreichen Sie eines: Sie spielen den Ossi gegen den Wessi aus. Das zeigt, dass Sie für politische Lösungsinkompetenz stehen und erneut nur das tun, was Sie am besten können: die Spaltung in unserer Gesellschaft vorantreiben. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Junge. – Ein Hinweis an Sie, Herr Kollege Junge, und alle anderen Kolleginnen und Kollegen: Wenn Sie eine Zwischenfrage zulassen, dann wird die Zeit für die Frage und Ihre Antwort nicht angerechnet. ({0}) – Jetzt wissen Sie es. Beim nächsten Mal können Sie die Zwischenfrage zulassen. Dann haben Sie mehr Redezeit. Als Nächster redet zu uns der Kollege Philipp Amthor, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, man merkt es: Im Herbst sind Wahlen in Ostdeutschland. Jetzt bemüht man sich wieder von ganz links bis ganz rechts im Parlament, als bester Anwalt für den Osten aufzutreten. Sie auf der linken Seite versuchen es mit einer Ostquote für Bundesbehörden. Sie auf der rechten Seite sagen: Wir müssen mehr Behörden in den Osten verlagern. – Ich kann Ihnen sagen – die Debatte hat es schon gezeigt, aber am Ende der Debatte wird das noch klarer sein –: Sie bringen für Ostdeutschland gar nichts voran. ({0}) Bei den Linken fängt es ja schon wirklich perfide an. Die Kollegin Teuteberg hat richtigerweise darauf hingewiesen: Schon der Titel Ihres Antrags ist eine echte Frechheit. „Ost-Quote in Bundesbehörden durchsetzen – Grundgesetz achten“, ({1}) das insinuiert ja, als ergäbe sich aus dem Grundgesetz eine Ostquote. Ich weiß ja nicht, welches Grundgesetz Sie in der Linksfraktion haben; in unserem steht das nicht. Aus Artikel 36 ergibt sich freilich keine Quote und vor allen Dingen auch keine Quote für Ostdeutschland. Sie müssen sich schon die Frage gefallen lassen: Was soll Ostdeutschland eigentlich sein, und wer ist Ostdeutscher? Ich finde, die Linken setzen dem Unsinn damit wirklich die Krone auf. Die Linke in Mecklenburg-Vorpommern vertritt ja auch die tolle Definition der Uni Leipzig; wir haben das heute schon gehört. Demnach gibt es zwei Voraussetzungen: Ostdeutscher kann man nicht mehr sein, wenn man nach dem 1. Januar 1976 geboren wurde. Ostdeutscher kann man auch nicht sein, wenn man nicht durchgehend im Osten gelebt hat. – Wenn Sie das anhand dieser Kriterien messen, kann ich Ihnen nur sagen: Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer westdeutschen Parteivorsitzenden Katja Kipping, die in Leipzig geboren wurde! ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Amthor, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, das mache ich gerne. – Herr Höhn, jetzt schauen wir mal, wessen Zahlen stimmen. ({0})

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Amthor, Sie sind nicht der erste Redner, der auf die Definitionsfrage eingeht, aber nicht alle Redner sind so freundlich, eine Nachfrage zuzulassen. – Ich will zunächst darauf hinweisen, dass Sie in anderen Bereichen, bei der Rente und den Löhnen, sofort in der Lage sind, zu definieren, wer Ostdeutscher ist. ({0}) Nur bezogen auf die Spitzenfunktionen führen Sie hier die Debatte an, dass das nicht möglich wäre. Ich möchte Sie fragen, ob Sie den letzten, zumindest mir bekannten, Runderlass des Bundesinnenministeriums zur Untersetzung des Artikels 36 kennen, in dem die Bundesregierung selbst eine Definition vornimmt, wer, um Artikel 36 gerecht zu werden, ein Ostdeutscher ist. Zeigt der Runderlass des Bundesinnenministeriums das gleiche grundgesetzwidrige Agieren, das Sie uns unterstellen? Die Definition seitens der Bundesregierung gründet sich auf den Wohnort. Wenn es der Wohnort nicht klärt – das ist der Vorschlag von vorhin –, dann sollen die Personen das selbst definieren. – Ist das nicht ein praktikabler Vorschlag? Warum setzen Sie den nicht um? ({1})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Höhn, ich finde das sehr schön. Als so praktikabel, wie Sie es jetzt vorgetragen haben, können Sie das ja mal Ihren Referenten vortragen. Dann würden die Zahlen der Linken vielleicht mal stimmen. Viele der Definitionen, die Sie vorbringen, sind nämlich willkürlich und stellen auf solche ostdeutschen Begriffe ab, die Sie unseriöserweise an ein Aufwachsen in der DDR und anderes knüpfen. Objektiv wird es natürlich, wenn man am Wohnort anknüpft. Sie müssen sich aber auch mal ehrlich machen und mit Ihren Zahlen daran anknüpfen. Das tun Sie nämlich nicht. Vielmehr rechnen Sie sich die Realität immer so zurecht, wie Sie das für Ihren Populismus brauchen. Das ist eine falsche Grundlage. ({0}) Ich will Ihnen noch etwas sagen: Wenn Sie zu Artikel 36 etwas lesen wollen – es ist ja ein Fortschritt, dass Sie die Rundschreiben des Innenministeriums lesen –, dann nehmen Sie sich doch einen Kommentar zum Grundgesetz zur Hand. Dort lesen Sie dann nämlich, dass aus Artikel 36 keine Quote folgt und die Ansprüche, die sich aus daraus ergeben, allenfalls den Bundesländern zustehen und nicht einer wie auch immer konstruierten Kohorte Ostdeutscher. Da geht es um landsmannschaftliche Fragen und nicht um die Definition, wie Sie sie sich backen wollen. Deswegen kann man nur sagen: Ihre Zahlen sind falsch und werden auch dadurch nicht besser, dass Sie sie hier verteidigen wollen. ({1}) Unabhängig von den Zahlen frage ich mich, wozu eine solche Ostquote führen soll. Braucht man jetzt den Jammerossi, dem man nichts zutrauen kann? Ich kann Ihnen sagen: Ich bin selbst in Ostdeutschland groß geworden. Meine Generation hat es gar nicht nötig, darauf zu schauen, dass sie besonderes Mitleid bekommt. Die Angehörigen der Generationen in Ostdeutschland, meiner und vieler anderer davor, sind schlau genug, um in diesem Land etwas zu erreichen. Dafür brauchen wir nicht Ihr Mitleid. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will auch zu dem Antrag der AfD einiges sagen. Bundesbehörden in den Osten verlagern – ja, das ist eine richtige Zielstellung. Wir nehmen es aber doch ein bisschen genauer mit dem Geld des deutschen Steuerzahlers. Angesichts der Haushaltsdisziplin sollte man Behörden nicht nur nach regionalen Aspekten verlagern; es sollte auch darum gehen, was Sinn macht. Deswegen ist das Innenministerium gerade dabei, die Raumplanung auf einen guten Stand zu bringen. Mit dem Deutschlandatlas wird Horst Seehofer eine evidenzbasierte Grundlage dafür erarbeiten, wie Behördenverlagerungen möglich sind. Das ist der richtige Weg. Herr Komning, Sie haben gesagt, im Wahlkampf werde abgerechnet und danach gefragt, wie viele Behörden denn in den Osten verlagert worden sind. Solch einem Leistungsvergleich mit der AfD stellt sich die CDU-Landesgruppe Mecklenburg-Vorpommern gerne; denn Sie werden am Ende der Legislaturperiode nichts, aber auch gar nichts auf der Pfanne haben – außer flotten Sprüchen. Wir haben bereits nach einem Jahr folgende Bilanz vorzuweisen: Das DLR-Institut ist in Neustrelitz, zwei Fraunhofer-Institute sind in Rostock, und das Holzkompetenzzentrum ist in Güstrow. – So macht man konkrete Politik, nicht durch schlaue Reden hier im Deutschen Bundestag. ({3}) Ich kann Ihnen nur sagen: Wir brauchen Ihre Quoten nicht, wir brauchen Ihre einfachen Pläne nicht. Vielmehr brauchen wir eine Politik, die den Osten nicht schlechtredet, sondern dem Osten etwas zutraut. Genau das machen wir. Deswegen ist in diesem Jahr der Landtagswahlen in Ostdeutschland wichtig: Die umbenannte SED gehört abgewählt, und die AfD verdient kein Vertrauen. Wir sind die Anwälte Ostdeutschlands, und das werden wir auch bleiben. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Amthor. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Dr. Karamba Diaby, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor einigen Jahren erzählte mir eine Lehrerin, dass sie in der Straßenbahn in Halle ein Gespräch zwischen zwei Jugendlichen gehört hat. Der eine sagte zum anderen, als er mein Wahlplakat sah: Was ist das für einer? Wo kommt er denn her? – Der andere antwortete: Warum fragst du so doof? Das ist der Karamba, ein richtiger Ossi, einer von uns. ({0}) Liebe Damen und Herren, Sie sehen, es kann unterschiedliche Meinungen dazu geben – das haben wir gerade gehört –, wer als Ostdeutscher gilt und wer nicht. Vielleicht werden nicht alle Kolleginnen und Kollegen mit mir übereinstimmen, wenn ich jetzt sage: Ich bin ein waschechter Ossi. ({1}) Doch wer entscheidet eigentlich, wer Ostdeutscher ist? In der Öffentlichkeit wird unter anderem folgendes Kriterium diskutiert: Ostdeutscher ist, wer mindestens ein Elternteil hat, das vor dem 9. November 1989 in Ostdeutschland gewohnt hat. Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass ich dieses Kriterium als höchst unvollständig empfinde, im Übrigen nicht nur, weil dann nicht nur ich nicht als Ostdeutscher gezählt würde, obwohl ich seit über 30 Jahren in Halle lebe, sondern auch Zehntausende von Menschen, die als Vertragsarbeitnehmerinnen und Vertragsarbeitnehmer oder als Studierende in die DDR gekommen sind und bis heute mit Kindern und Enkelkindern dort leben. ({2}) Ich frage mich: Was ist mit der ehemaligen Textilarbeiterin Frau Ha aus Magdeburg, die in Vietnam geboren wurde und seit über 30 Jahren in Sachsen-Anhalt lebt? Wozu wird der Hallesche Oberarzt und Chef der Notaufnahme unseres Uniklinikums Mroawan Amoury, der in Israel geboren wurde und seit fast vier Jahrzehnten in Halle lebt, gezählt? Was ist mit dem 80-jährigen Ingenieur Dr. Mohamed Yousif, langjähriger Stadtrat in Halle, der in Ägypten geboren wurde und seit über fünf Jahrzehnten in Halle verwurzelt ist? Es gibt keine Zweifel: Sie alle sind ein Teil Deutschlands. ({3}) Liebe Damen und Herren, meiner Meinung nach sollten wir, bevor wir über Quoten sprechen, eine Diskussion darüber anregen, wen wir eigentlich meinen, wenn wir von Ostdeutschen sprechen. Dann bin ich sehr gerne bereit, über konkrete Maßnahmen zu sprechen, wie der Anteil von „Ostdeutschen“ in den Bundesbehörden gesteigert werden kann. Der Verweis auf Artikel 36 des Grundgesetzes reicht dabei nicht. Da steht – von dem Kollegen Gregor Gysi schon wunderschön genannt –: Bei den obersten Bundesbehörden sind Beamte aus allen Ländern in angemessenem Verhältnis zu verwenden. Daraus lassen sich aber laut Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes keine fixen Ostquoten ableiten. ({4}) Meine Damen und Herren, vielleicht wird eines Tages die Lehrerin wieder zu mir kommen und von einem neuen Gespräch berichten, das sie in der Straßenbahn mitgehört hat. Vielleicht werden dann die beiden Jugendlichen zustimmen und ohne Unterscheidung zwischen Ost- und Westdeutscher, Einwanderer oder nicht Einwanderer sagen: Guck mal, das ist Karamba, ein richtiger Hallenser, einer von hier. Danke schön. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als letzter Redner erhält das Wort der Kollege Christoph Bernstiel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Als letzter Redner in dieser teilweise sehr erfrischenden Debatte hat man die Möglichkeit, das eine oder andere klarzustellen und zusammenzufassen. Ich möchte gerne die Punkte herausgreifen, auf die noch nicht eingegangen wurde. Das Erste ist: Wir merken wieder einmal wunderbar den Unterschied zwischen Regierung und Opposition. Unsere Bundesregierung hat allein in den letzten zwei Jahren über zehn Bundeseinrichtungen in Ostdeutschland angesiedelt. Ich nenne das Fernstraßen-Bundesamt, das Hauptzollamt – mein Kollege Amthor hat mehrere Einrichtungen genannt, die in Mecklenburg-Vorpommern angesiedelt werden – und die Cyberagentur, die, wie erst im Januar dieses Jahres bekannt gegeben wurde, nach Halle kommt. Dann passiert etwas Wundersames: Die Opposition bemerkt, dass Landtagswahlen sind und dass sie ja auch mal wieder etwas für die Ostdeutschen tun müsste. Das merken Sie daran, dass die Linkspartei sogar Gregor Gysi aus der Mottenkiste holt, nachdem wir ihn Monate nicht im Parlament gesehen haben. ({0}) So weit ist das ja auch noch okay und das gute Recht der Oppositionsparteien. Aber man muss schon sagen, liebe AfD: Wenn Sie einen Antrag stellen, der nur aus einem einzigen Satz besteht, dann ist das schon etwas dünn. Bei der Linkspartei ist es auch nicht viel besser. Sie kommen 30 Jahre nach dem Mauerfall auf die innovative Idee, eine Ostquote zu fordern. Das finde ich wirklich etwas spät. Meine Kollegen haben es bereits angesprochen: 40 Jahre haben Sie unser Land heruntergewirtschaftet. ({1}) Jetzt kommen Sie an und kritisieren die Bundesregierung, die dieses Land wieder aufgebaut hat, dafür, dass sie zu wenig tut. Das ist scheinheilig. ({2}) Apropos Quote. Wenn wir schon über eine Quote reden – das wurde hier bereits angesprochen –, dann muss man fragen: Wen meinen Sie überhaupt mit „ostdeutsch“? ({3}) Sie wissen genauso gut wie ich, dass es Kritik am Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes gibt und dass es nicht eindeutig ist. Was Sie verschwiegen haben, ist: Zählen zu den Ostdeutschen für Sie auch die, die nach der Wende nach Ostdeutschland gekommen sind und mittlerweile den größten Teil ihres Lebens in Ostdeutschland verbracht haben? Oder was ist mit meiner Generation? Nach dem Gutachten, auf das Sie sich beziehen, wäre ich kein Ostdeutscher. Ich bin in Ostdeutschland geboren, aber leider nach dem Stichtag. Philipp Amthor hat es gesagt: Ich fühle mich als Deutscher eines gesamten Deutschlands, ({4}) und ich möchte diese Stigmatisierung als Ostdeutscher von Ihnen von links und auch von Ihnen von rechts definitiv nicht mehr hören. ({5}) Wissen Sie, mit Ihrer Quote stigmatisieren Sie eine ganze Generation von Ostdeutschen – warum? –, weil Sie sagen: Die Ostdeutschen schaffen es nicht aus eigener Kraft, die zweifelsfrei noch bestehenden Rückstände aufzuholen. Wir können das nur mit einer Quote schaffen. – Das ist eine Beleidigung für alle Ostdeutschen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Linken und AfD, ich lasse mich von Ihnen nicht als Jammerossi stigmatisieren. ({7}) Und wenn wir schon über Leistungen reden und darüber, wie wir Ostdeutschland voranbringen – das hat keiner meiner Vorredner getan –, dann müssen wir auch über die Unternehmen sprechen; denn es sind die Unternehmen mit innovativen Konzepten und mit guten Wachstumsprognosen, die Jobs schaffen und die dafür sorgen, dass der Steuertopf größer wird. Wenn wir darüber reden, dann möchte ich keine Quote, die privatwirtschaftliche Unternehmen in den Osten zwingt. Vielmehr müssen wir über Leistungen reden, über gute Standortfaktoren und darüber, wie wir Unternehmen von einer freiwilligen Ansiedlung überzeugen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist es, wofür die Union steht, wenn wir vom Aufbau Ost sprechen: mit klugen Ideen, mit Fleiß und mit einem selbstbewussten Auftreten unser Land voranzubringen und nicht mit bittstellerischen Quoten aus dem letzten Jahrhundert, so wie es AfD und Linke fordern. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Bernstiel. – Herr Kollege Dehm, schön, dass Sie wieder bei uns sind. Der Kollege Bernstiel hat niemanden mit einer Motte verglichen. Er hat unzutreffenderweise darauf hingewiesen, dass der Kollege Gregor Gysi aus der Mottenkiste gekommen sei. ({0}) – Quatsch! – Ich kann sicher sagen, dass selbst Gregor Gysi in keine Mottenkiste passt. ({1}) Insofern möchte ich als Norddeutscher jetzt die Aussprache beenden. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/8013 und 19/8279 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Rund alle fünf Minuten fährt ein Personen- oder Güterzug durch das Mittelrheintal. Egal ob 22 Uhr abends, egal ob Mitternacht oder 4 Uhr morgens, egal ob werktags oder am Wochenende: Der Bahnlärm im Mittelrheintal kennt keine Wochenenden, keinen Urlaub. Er ist das ganze Jahr für die Menschen präsent. Diese Züge erreichen einen Lärmpegel von 100 Dezibel. Wer damit nichts anfangen kann: Das entspricht dem Lärm eines Presslufthammers. Diese Mittelrheinstrecke ist eine der wichtigsten Süd-Nord-Verbindungen. Sie ist für unsere gesamte Volkswirtschaft von überragender Bedeutung, und es ist üblich, dass wir bei so großen Verkehrsinfrastrukturprojekten Abwägungen vornehmen zwischen den Gesamtinteressen der Gesellschaft einerseits und den Belastungen für die Betroffenen andererseits. Aber, meine Damen und Herren, wer unter Verweis auf das Gemeinwohl von seinen Mitmenschen erwartet, dass sie mit dem Lärm eines Presslufthammers zu Bett gehen, dass sie mit dem Lärm eines Presslufthammers Tag und Nacht verbringen, der bewegt sich außerhalb der gesellschaftlichen Wertevorstellungen. ({0}) Insofern darf es keine Abwägung zwischen den wirtschaftlichen Interessen und den gesundheitlichen Interessen unzähliger Bürgerinnen und Bürger geben. Die einzige sinnvolle Alternative zur bisherigen Trassenführung ist eine neue Schienenverkehrstrasse. Flüsterbremsen reduzieren den Lärm um 10 Dezibel, aber das reicht nicht. Meine Damen und Herren, wenn diskutiert wird, dass der wirtschaftliche Nutzen sich verstärken müsse, wenn in die Debatte eingeworfen wird, dass es eine Verzehnfachung des Nutzens geben müsse, vielleicht eine Verzehnfachung des Lärms, aber mindestens eine Verdoppelung, dann mag das nicht kaltherzig gemeint sein, aber die Menschen, deren Gesundheit auf der Grundlage der bisherigen Lärmemissionen heute schon gefährdet ist, können berechtigterweise kein Verständnis haben, dass solche Dinge thematisiert werden. ({1}) Wir haben im Mittelrheintal eine einzigartige Kulturlandschaft. Es ist eine wunderbare Region, die UNESCO-­Weltkulturerbe ist. Es ist eine einmalige Landschaft mit beeindruckenden Burgen, Schlössern. Dort wächst auch ein hervorragender Wein. ({2}) Das sind eigentlich die Zutaten, mit denen man im Tourismus richtig gut vorankommen könnte. Aber es fällt den Menschen schwer, Touristen anzuziehen und sie davon zu überzeugen, ihren Urlaub dort zu verbringen, wo man nahezu rund um die Uhr dem Lärm eines Presslufthammers ausgesetzt ist. Meine Damen und Herren, das muss sich ändern. ({3}) Ich freue mich über den Antrag, der hier seitens der FDP-Fraktion zur Debatte gestellt worden ist, und ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen die Sorgen der Menschen im Mittelrheintal vorzutragen. Gegenwärtig stehen die wirtschaftlichen Interessen der Gesellschaft im Vordergrund, unter Inkaufnahme der gesundheitlichen Schäden der Menschen in diesem Tal und unter der Inkaufnahme, sie ihrer wirtschaftlichen Perspektiven zu berauben. Das ist unfair. Ich sage es noch einmal: Das ist keine Abwägung, die sich im Rahmen des Konsenses unserer gesellschaftlichen Wertvorstellungen bewegt. Deswegen muss das so schnell wie möglich geändert werden. Ich bin gekommen, um Sie zu bitten, diesen Antrag zu unterstützen, für die Menschen im Mittelrheintal neue Perspektiven zu eröffnen und auch einen Beitrag zu leisten, damit wir als Verkehrsministerinnen und Verkehrsminister wieder das tun können, worum uns alle in Deutschland bitten, nämlich den Güterverkehr stärker von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Wer das fordert, gleichzeitig aber nicht dafür sorgt, dass wir eine für die Menschen zumutbare Nord-Süd-Achse haben, betreibt unehrliche Politik. Das ist in heutigen Zeiten kein Beitrag, um die Menschen für unsere lebendige Demokratie zu begeistern. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Minister. – Als nächster Redner hat für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Enak Ferlemann das Wort. ({0})

Enak Ferlemann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003525

Geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für einen Landesverkehrsminister war das ein äußerst schwacher Vortrag, ({0}) weil ein Landesverkehrsminister die Regularien der Aufstellung eines Bundesverkehrswegeplanes und der Bereitstellung von Investitionen in Infrastruktur eigentlich kennen müsste. ({1}) Seine Rede zeigte, dass er entweder die Situation nicht kennt, die Auflagen nicht kennt, die Bundeshaushaltsordnung nicht kennt, obwohl er einmal hier im Finanzausschuss war, oder er wider besseres Wissen den Leuten Sand in die Augen streuen will, was er wohl machen könnte. Ich habe in den letzten Wochen viel über das Obere Mittelrheintal gelesen und darüber, was für ein schlimmes Bundesverkehrsministerium es gibt. ({2}) – Ich kenne das, lieber Kollege Jung. Ich kenne Deutschland besser, als Sie glauben. ({3}) – Sie müssen noch viel lernen, auch bei diesem Antrag. ({4}) Ich kann nur sagen: So viel Unfug, wie da geschrieben wurde, so viel Klamauk, wie auf dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger gemacht wurde, spottet jeder Beschreibung. Ich hätte mir einmal gewünscht, dass der Verkehrsminister Wissing, wenn er eine Frage zu einem Schreiben, das ich einem verkehrspolitischen Kollegen geschrieben habe, gehabt hätte, nur einfach durchgerufen hätte und gefragt hätte: Wie ist das gemeint? ({5}) Das wäre innerhalb von fünf Minuten erklärt worden. So macht man Politik, Herr Kollege Dr. Jung, ({6}) aber nicht damit, ein ganzes Land mit Klamauk zu überziehen und eine parteipolitische Arie zu fahren, die jeder Beschreibung spottet. ({7}) Herr Jung, ich will Ihnen einen Kollegen nennen, der das genau richtig gemacht hat. Das war Kollege Peter Bleser. Er hat den Brief gesehen, gelesen und einfach gefragt. Er hat eine Auskunft bekommen und hat sie auch veröffentlicht. So macht man seriöse Politik mit den Bürgern und nicht so wie Sie mit Ihrem Klamauk. ({8}) Zu der Tatsache selber. Richtig ist: Das Obere Mittelrheintal ist eine der schönsten Regionen, die wir in Deutschland haben. Deswegen ist es nicht zu Unrecht unter den Schutz des Weltkulturerbes gestellt worden. ({9}) Das ist überhaupt keine Frage. Wir haben eine der am meisten befahrenen Güterzugstrecken in Europa, wahrscheinlich die meistbefahrene Güterzugstrecke in Europa zwischen Genua und Rotterdam, die durch diese Region führt. Die Menschen leiden darunter. Uns ist das bekannt. Das ist ein großes Problem. Aus diesem Grunde haben wir kurzfristig Maßnahmen für 65 Millionen Euro ergriffen, um den Lärm zu senken. Wir haben lärmbezogene Trassenpreise. Wir haben ein Umrüstprogramm für das Radbremssystem auf den Schienen; K-Sohle, LL-Sohle genannt. Wir werden zum Fahrplanwechsel 2020 nur noch lärmgedämmte Güterzüge in Deutschland haben.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Ferlemann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Jung?

Enak Ferlemann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003525

Ja, immer gerne. Der Kollege kann nur lernen. ({0})

Dr. Christian Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004769, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Staatssekretär Ferlemann, wenn ich so alt wäre wie Sie und diese Arroganz hätte: Man konnte heute wirklich viel von Ihnen lernen. ({0}) Aber es geht um eine wichtige Frage. Die konnten Sie und auch die Deutsche Bahn in den letzten Monaten nicht beantworten. ({1}) Wir brauchen funktionierende Ausweichstrecken. Wir haben, rein theoretisch, auch aus Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg, auf der Mittelrheintalbahn solche funktionierenden Ausweichstrecken. Denken Sie beispielsweise an den Frankfurter Norden. Warum tun Sie nicht alles – auch hier im Bundestag, auch im Ausschuss –, dass Sie auch temporäre Ausweichstrecken haben? Wir hatten zum Beispiel linksrheinisch und rechtsrheinisch das Problem, dass durch Unfälle diese Strecken gesperrt wurden. Das ist temporär für die Menschen toll, aber dies führt dazu, dass Güterzüge zum Beispiel in die Schweiz, nach Nordrhein-Westfalen oder nach Baden-Württemberg mehrere Tage zu spät kommen. So bekommen wir keine moderne Verkehrswende hin. ({2}) Was machen Sie jetzt genau? Ich möchte keine arroganten Bemerkungen haben, sondern ich möchte Lösungen haben, dafür sind Sie noch gewählt. ({3})

Enak Ferlemann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003525

Sehr geehrter Herr Kollege Jung, ich gehe davon aus, dass das so bleiben wird. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Wir haben ein Programm, und das kennen Sie. Sie sind Mitglied des Verkehrsausschusses. Deswegen wissen Sie, dass wir das gesamte Netz nach diesen Ausweichstrecken abscreenen. ({0}) Dazu zählen auch die Ausweichstrecken für die Strecke Rotterdam–Genua, unter anderem die Rhein-Sieg-Strecke, eine Strecke, die wir ertüchtigen müssen, um diesen Verkehr aufnehmen zu können, die im Übrigen auch dazu führen wird, dass die Belastung des Mittelrheintales zurückgeht. Wenn diese Strecke ertüchtigt ist – sie ist derzeit nicht in der Lage, die Verkehre aufzunehmen –, werden wir deutlich weniger Verkehr im Mittelrheintal haben; denn diese Strecke ist kürzer. Damit spart die Wirtschaft Trassenpreise, und deswegen wird sie diese Strecke auch nutzen. Insofern sind wir schon dabei. Sie werden von uns zu dem Elektrifizierungsprogramm eine Liste bekommen, wo noch zusätzliche Strecken unter Fahrdraht genommen werden müssen, um diese Ausweichstrecken ausreichend auszustatten. Wir sind also prima dabei, weil wir zu Recht sagen: Wir brauchen für diese Hauptmagistralen Ausweichstrecken bei steigendem Verkehr und einen größeren Baubedarf, unter anderem zum Erhalt und Ausbau. Zum Thema zurück. ({1}) Beim Mittelrheintal ist die Frage, wie wir die Themen beantworten. Dafür muss man kurzfristige, mittelfristige und langfristige Lösungen in Kauf nehmen. Man muss den Menschen ehrlicherweise sagen, wie es geht, und ihnen nicht mit irgendwelchen theoretischen Diskussionen etwas vorgaukeln. ({2}) Man muss korrekt bleiben. Nach der Bundeshaushaltsordnung ist es so, dass Investitionen dem Wirtschaftlichkeitsgebot unterliegen müssen. Das heißt, 1 Euro eingesetztes öffentliches Geld muss 1 Euro volkswirtschaftlichen Nutzen nach sich ziehen. Wir haben beim Bundesverkehrswegeplan diese Lösungen diskutiert. Deswegen haben wir die Ausweichstrecke, die Rhein-Sieg-Strecke, in Augenschein genommen und gesagt: Die wollen wir ertüchtigen, um den Verkehr zu reduzieren. ({3}) Weitere Lärmschutzmaßnahmen im Mittelrheintal für über 100 Millionen Euro stehen an. Gleichwohl wird man eine langfristige Lösung nur über eine Neubaustrecke haben können. Für diese Neubaustrecke ist ein Tunnel mit über 100 Kilometer Länge vorgeschlagen worden. Dazu muss man wissen, dass der derzeit größte Eisenbahntunnel in Europa, der Gotthardtunnel, 57 Kilometer lang ist. Er hat 12 Milliarden Franken gekostet. Das heißt, wenn wir bei dem Tunnel von geschätzten 15 Milliarden Euro ausgehen, werden Sie die Wirtschaftlichkeit so nicht erreichen können. Trotzdem brauchen wir eine Neubaustrecke. Deswegen prüfen wir eine kombinierte Neubaustrecke, die auch – ja – aus einer erheblichen Tunnellage besteht, aber nicht aus einem durchgängigen Tunnel. Diese Strecke kalkulieren wir mit 8 Milliarden Euro. Wir sind auch bereit, dieses Projekt anzugehen. Es wird das größte Eisenbahnprojekt in Deutschland sein, was wir je gemacht haben, weil wir die Not im Mittelrheintal sehen. Dafür wollen wir eine Machbarkeitsstudie in Auftrag geben, und zwar in nächster Zeit. ({4}) – Ja, so einfach ist das nur nicht, liebe Kollegin, weil diese Strecke wirtschaftlich, eisenbahntechnisch, ökologisch und in Gänze realisierbar sein muss. ({5}) Wenn wir für diese Machbarkeitsstudie – damit Sie wissen, worüber wir reden – ({6}) einen Zeitraum von drei Jahren brauchen, dann müssen wir den Menschen ehrlicherweise sagen: So lange dauert es, dann können wir die Analyse machen. – Aber in dem Zeitraum bis dahin müssen die anderen Maßnahmen greifen. Ich würde mich freuen, wenn Sie uns dabei weiter unterstützen. Wir werden die Menschen im Mittelrheintal nicht alleinlassen. ({7}) Wir kennen die Problematik. Aber eine kurzfristige Lösung, wie sie hier vorgegaukelt wird, gibt es in dieser Frage nicht. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Als nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Wiehle für die AfD-Fraktion das Wort. ({0})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine der schönsten Bahnstrecken, die man mit dem Fernverkehr in Deutschland befahren kann: durch das Mittelrheintal, vorbei an der Loreley. Diese Landschaft gilt heute als Weltkulturerbe und ist zu Recht in die UNESCO-Liste aufgenommen. Die Fernzüge fahren in aller Regel auf der linksrheinischen Seite. Der aufmerksame Fahrgast erkennt, dass auch auf der rechten Flussseite eine Bahnstrecke verläuft. Dort fahren Regionalzüge und – insbesondere nachts – Güterzüge. Durch den Bahnlärm ist die vermeintliche Idylle längst zu einer Problemzone geworden; wir haben es schon gehört. Der Lärm ist die größte Last, aber nicht die einzige. Immer wieder einmal blockiert beispielsweise Geröll von den steilen Hängen rechts und links des Rheins die Gleise, und es wären Umleitungsstrecken nötig – wenn es denn welche gäbe. Ich brauche in diesem Hause nur Rastatt zu erwähnen, damit sich alle daran erinnern, was für ein Drama durch fehlende leistungsfähige Ausweichstrecken ausgelöst werden kann. ({0}) Diese Probleme beschäftigen die Leute vor Ort schon lange. Dass die Bundesregierung jetzt eine schroffe Absage an Alternativprojekte formuliert hat – so wurde es wahrgenommen –, sorgte deshalb für große Empörung. Jetzt findet das Thema aber wenigstens bundesweit Gehör. Kein Schaden ohne Nutzen, möchte man an dieser Stelle sagen. Eine Neubaualternativtrasse ist eine Lösung für die lange Frist, die eigentlich schon seit Jahren in der Planung sein müsste, damit man sie in absehbarer Zeit bekommt. Hier wurde schon viel Zeit verloren. Wir müssen, um bald Besserung zu bekommen, aber zusätzlich weitere Alternativen betrachten, und auch für diese wird sich die AfD-Fraktion einsetzen. Ich meine damit gar nicht einmal die örtlichen Lärmschutzmaßnahmen, die natürlich auch sehr wichtig sind, aber das Problem nicht auf Dauer lösen. Wir wissen: Der Güterverkehr auf der Bahn wird zunehmen. Das ist politisch auch gewollt, und das mindert natürlich die Wirkung des Lärmschutzes wieder. Die Strecke durch das Mittelrheintal ist Teil des europäischen Güterverkehrskorridors zwischen Rotterdam und Genua. Es stellt sich jetzt die Frage: Ist es ein Naturgesetz, dass dieser Korridor ausgerechnet und ausschließlich durch das Rheintal führt? Ich meine, nein. Es ist entscheidend, dass wir schon auf europäischer Ebene in Alternativen denken ({1}) und diesen Korridor so verstehen, dass er aus mehreren Bahnstrecken besteht, und nicht nur aus einer. Der Korridor zwischen Rotterdam und Genua könnte und sollte einen zweiten Schenkel bekommen. ({2}) Dieser könnte über Belgien, Luxemburg und den Nord­osten Frankreichs führen, über Namur und Bettembourg, um zwei wichtige Bahnknotenpunkte zu nennen. Natürlich geht so etwas nicht von heute auf morgen, und es schafft an anderer Stelle Belastungen, die abgemildert werden müssen. Aber eine solche Lösung wird viel schneller helfen als eine Bahnstrecke mit langen Tunneln, die nach deutschem Planungsrecht gebaut werden muss. Und es werden gerade die Grünen sein, die vor Ort das Vorhaben bekämpfen und vielleicht einen „Westerwäldischen Taunuskäfer“ oder was weiß ich finden, dessen Schutz dann viel wichtiger ist als die Entlastung des Mittelrheintals. ({3}) Damit wir uns richtig verstehen: Die AfD fordert die schnellstmögliche Erstellung von Machbarkeitsstudien für eine Alternativtrasse zwischen Troisdorf und Mainz-Bischofsheim und auch für einen Westerwald-Taunus-Tunnel. Wir wollen das eine tun und das andere nicht lassen. Der Spatz in der Hand ist uns genauso wichtig wie die berühmte Taube auf dem Dach. Bestehende Trassen nicht nur als Ausweichstrecken bei Störungen, sondern als Entlastung auf europäischer Ebene zu aktivieren, das kann schon recht schnell helfen, und das müssen wir deshalb auch versuchen. ({4}) Kurzfristig Lärmschutz und leisere Güterzüge, mittelfristig eine Entlastung durch andere Routen im Korridor und langfristig, aber so rasch wie möglich eine neue Alternativtrasse in unserem eigenen Land – das ist der Vorschlag, den die AfD in die Beratungen in den Ausschüssen einbringen wird. ({5}) Das malerisch schöne Mittelrheintal muss ein attraktiver Siedlungsraum sein oder an vielen Stellen erst wieder werden und bleiben. Das ist unser Ziel. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Kirsten Lühmann, SPD-Fraktion. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Sehr verehrte Zuhörende! Wir sprechen hier heute über ein Thema, das wir im Verkehrsausschuss schon oft beraten haben, und zwar das Thema Mobilitätswende. Wir wissen: Die Mobilitätswende ist erforderlich. Wir wissen: Wir sind quasi mittendrin. Und wir wissen: Ein wesentlicher Punkt dieser Mobilitätswende ist, dass wir mehr Verkehre sowohl von Gütern als auch von Menschen auf die Schiene bringen. Darum hat sich – über unsere Grenzen hinaus – auch Europa damit beschäftigt und für den europäischen Raum wichtige Eisenbahnstrecken definiert, die vorrangig auszubauen sind, weil auf diesen Eisenbahnstrecken, den sogenannten transeuropäischen Netzen, die Hauptlast des Verkehres liegen wird. Wir reden hier heute über eine solche Strecke, die jetzt schon erheblich belastet ist, und zwar durch den Verkehr und damit auch durch Lärm. Wir haben auch schon gehört: Das Obere Mittelrheintal ist Weltkulturerbe. Weil wir aber natürlich die Menschen nicht alleine lassen, haben wir – das wurde schon gesagt – kurzfristig 65 Millionen Euro in den Lärmschutz investiert. Es sind außerdem weitere 112 Millionen Euro für Lärmschutzmaßnahmen zugesagt worden, und das ist auch gut so. ({0}) Über diese Maßnahmen und wie sie eingesetzt werden, wird vor Ort mit dem Beirat „Leiseres Mittelrheintal“ gesprochen. Dieser Beirat ist aus Sicht der SPD-Fraktion unheimlich wichtig, und er ist auch beispielgebend für andere Beiräte, die sich in unserer Republik gründen, weil sie nämlich alle an diesem Prozess Beteiligten vereinen: die Menschen, die von dem Lärm betroffen sind, die Politik, das Ministerium, das für das Geld zuständig ist, und auch die Bahn, die das Ganze planen und bauen muss. Wenn wir aber die Menschen vor Ort einbinden, dann müssen wir sie auch in die Lage versetzen, auf Augenhöhe mit den anderen Beteiligten diskutieren zu können; denn es nützt ja nichts, wenn sie da nur sitzen und nur das entgegennehmen, was die anderen ihnen mitteilen. Wir begrüßen sehr, dass das Bundesverkehrsministerium schon im November angekündigt hat, eine Machbarkeitsstudie für den „Korridor Mittelrhein: Zielnetz II“ durchzuführen; denn das Ergebnis wird auch die Bürger und Bürgerinnen in die Lage versetzen, vernünftig mitzudiskutieren. Wir haben uns – auch das wurde schon erwähnt – auch beim Bundesverkehrswegeplan Gedanken dazu gemacht. Darum wurde ja der Ausbau der Ruhr-Sieg-Strecke in den Vordringlichen Bedarf angehoben. Aber wir wissen auch: Um dieses Projekt zu verwirklichen, wird es Jahre dauern. Wir haben das Projekt des Ausbaus der Neubaustrecke – denn darum handelt es sich – im Rahmen des Bundesverkehrswegeplans diskutiert. Ich rufe uns in Erinnerung: Wir reden über ein Invest von 8 Milliarden Euro an Steuergeldern. Bei diesen Diskussionen sind wir darauf gekommen, dass die Wirtschaftlichkeit nach den Zahlen, die uns damals vorlagen, nicht gegeben ist. Das Nutzen-Kosten-Verhältnis lag bei 0,1. Damit es wirtschaftlich ist und gebaut werden kann, muss das Nutzen-Kosten-Verhältnis mindestens 1,0 betragen, also zehnmal mehr. Herr Ferlemann, ich fand es auch nicht glücklich, dass die Aussage, der Verkehr müsse sich dazu verzehnfachen, getätigt wurde. Sie haben eben richtiggestellt, dass Sie die Wirtschaftlichkeit und nicht den Verkehr meinten. Aber bei den Menschen da draußen ist angekommen: zehnmal mehr Verkehr. Und alle wissen, dass diese Strecke schon jetzt überlastet ist und zehnmal mehr Verkehr gar nicht aufnehmen kann. Die fühlten sich doch von uns, von der Politik, in irgendeiner Art und Weise nicht ernst genommen. Das ist das Letzte, was wir gebrauchen können. Darum war es ganz wichtig, dass Sie das heute richtiggestellt haben. ({1}) Wir müssen zur Wahrheit dazusagen, dass wir hier über Naturschutz und über andere Menschen, die betroffen sind, reden. Wir müssen über kurzfristige Maßnahmen reden, die die Deutsche Bahn plant, für die wir aber noch kein Geld haben. Es ist auch ganz wichtig – an das Ministerium gerichtet –, dass diese Machbarkeitsstudie jetzt schnell kommt, und es ist auch wichtig, dass wir den Menschen diese Wirtschaftlichkeitsberechnung zugänglich machen. Die müssen uns ernst nehmen. Dazu müssen Sie wissen, wie wir auf die 0,1 kommen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann können wir sie mitnehmen. Ich freue mich, dass wir im Ausschuss darüber reden können. Erstens. Informieren wir die Menschen richtig! Zweitens. Ziehen wir diese Machbarkeitsstudie vor! Dann tun wir was für die Menschen und die Mobilität in unserem Land. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Sabine Leidig, Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Für alle, die das Mittelrheintal nicht kennen: Das ist dort, wo die Loreley ist und die Berge links und rechts des Rheins aufsteigen. ({0}) Es sieht wunderschön aus. Aber es ist auch ein Schalltrichter. Die Menschen, die dort leben, sind nicht nur durch den Verkehrslärm der Straßen, die dort durchführen, belastet, sondern auch durch den Schienenlärm. Besonders schlimm sind die Güterzüge. Viele Menschen empfinden es inzwischen als ein schlimmes Schicksal, dort leben zu müssen. Viele können dort nicht wegziehen, weil sie ein Häuschen haben. Es ist völlig richtig, dass der Schutz der Menschen, die dort leben, einen sehr hohen Stellenwert hat. ({1}) Ich bin ganz überrascht von Ihrer Aussage, Herr Minister Wissing, dass die Lebensqualität der Menschen bei der Abwägung gegen wirtschaftliche Interessen nicht unter die Räder kommen darf. Das teilen wir hundertprozentig. Ich bin eine solche Rangfolge bei der FDP sonst nicht gewohnt. Für uns ist das selbstverständlich. ({2}) Ich bin der Meinung, dass das als Grundlage für die Politik gelten muss. ({3}) Ich möchte zu dem vorgelegten Antrag sagen, dass wir ihn völlig okay finden. Man muss solche Machbarkeitsstudien durchführen. Man muss untersuchen, was möglich ist. Aber es gibt zwei Punkte, die für uns noch wichtiger sind. Erstens. Man muss viel mehr Lärmschutzmaßnahmen gleich verwirklichen und darf nicht darauf setzen, dass in 10, 20 oder vielleicht in 30 Jahren Ausweichstrecken und Alternativen gebaut sind. Dabei geht es um viel mehr als um leise Bremsen bei den Güterzügen. Wenn man einmal in der Schweiz unterwegs ist und sich dort an einen kleinen Bahnhof stellt, durch den Güterzüge häufig durchfahren – das tun sie dort bei kleinen Bahnhöfen viel häufiger als bei uns –, dann stellt man fest: Ups, die sind ja ganz leise! – Warum? Weil in der Schweiz in die Bahn viel mehr investiert wird, weil nicht nur in die Bremsen, sondern auch in das Gleisbett investiert wird, weil an den Schwellen und an den Fahrzeugkästen viel gemacht wird. Professor Hecht in Berlin kann Ihnen das hervorragend darlegen. Aber für solche Maßnahmen brauchen wir Geld. Wir müssen mehr Geld in die Schiene stecken, mehr Geld in den Lärmschutz. Dann bekommt man viel schneller einen Schutz der Menschen – auch im Mittelrheintal – hin. ({4}) Zweiter Punkt. Wir müssen nicht nur im Mittelrheintal, sondern überall eine Art Ortsumgehung für Güterzüge in Betracht ziehen. Nicht nur im Mittelrheintal – dort ist es am schärfsten –, sondern auch in vielen anderen Ortschaften in der Republik stellen durchfahrende Güterzüge ein Problem dar. Diese werden zunehmend größer, schwerer und lauter. Für Umgehungsstrecken brauchen wir natürlich Geld. ({5}) – Es gibt noch immer Ortsumgehungen. Das Verrückte ist, dass sie gerade zugebaut werden. – Es gibt Umgehungsstrecken für den Güterverkehr rund um Berlin und viele andere Städte. Es gab und gibt sie. ({6}) Wir müssen sie bewahren bzw. wiederherstellen. Dazu muss etwas aufgebrochen werden – das ist mein letzter Punkt –, was uns die FDP eingebrockt hat. Vielleicht erinnern Sie sich daran: ({7}) Sie haben damals für den Finanzierungskreislauf „Straße“ gekämpft. Das heißt, dass die Milliarden, die mit der Lkw-Maut und in Zukunft auch mit der Pkw-Maut eingenommen werden – wir reden hier über künftig 11 Milliarden Euro im Jahr –, ausschließlich in die Straße gesteckt werden. ({8}) Wenn wir das nicht aufbrechen, dann werden wir Milliarden in die Straße stecken. ({9}) Die Milliarden, die wir für die Schiene brauchen, müssen dann jedes Jahr während der Haushaltsberatungen erkämpft werden. Damit wird die Schiene hinten runterfallen, also der Ausbau der Schiene, die Ausweichstrecken und die Ausweichgleise, die wir dringend brauchen. Deshalb fordere ich Sie alle, insbesondere Sie von der Union, auf: Machen Sie mit diesem Unsinn Schluss!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir brauchen das Geld aus der Lkw-Maut, um die Bahn vernünftig auszubauen. Wir brauchen eine Umverteilung im Verkehr, um zu einer Verkehrswende zu kommen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Tabea Rößner, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Lärmgeplagte, die Loreley – sie wurde schon oft erwähnt – hat der Legende nach die Schiffer auf dem Rhein bezirzt, sodass viele Kähne an den Felsen zerschellten. Das Gute nun: Die Schiffer waren nie so sicher wie heute; denn den Gesang der Loreley könnte man vor lauter Bahnlärm nicht mehr hören. ({0}) Die Bahnstrecke durch das Mittelrheintal – das wurde ebenfalls erwähnt – ist die schönste und meistbefahrene Europas. Was das für die Menschen in dem Tal bedeutet, können Sie jeden Tag und jede Nacht spüren. Stellen Sie sich vor: Sie liegen im Bett, und plötzlich steht jemand mit einem Presslufthammer neben Ihnen. Das Haus bebt. Das Geschirr in den Schränken klirrt – Sie würden panik­artig das Haus verlassen –, und das alle drei Minuten für circa 30 bis 40 Sekunden. So fühlt sich das für viele Menschen im Mittelrheintal tagtäglich an. Spitzenwerte von über 100 Dezibel sind dabei keine Seltenheit. Das ist schon heute nicht zumutbar. Lärm macht krank; das zeigen zahlreiche Studien. Selbst wenn man den Lärmpegel mittelt, stellt man fest, dass es nachts noch immer 70 Dezibel sind, also deutlich mehr als die 44 Dezibel, die die Weltgesundheitsorganisation in ihren Leitlinien als Obergrenze empfiehlt. Alles darüber ist gesundheitsschädlich. Hier steht die Politik in der Verantwortung, die Menschen zu schützen. ({1}) Wenn es nach der Bundesregierung geht, soll sich aber nichts ändern, und das, obwohl der Schienenverkehr immer weiter zunimmt. Die Menschen dort verlieren – völlig berechtigt – die Geduld. Denn wer will oder – richtigerweise – wer kann unter diesen Bedingungen noch dort wohnen, und wer dort Urlaub machen? Denn auch der Tourismus, von dem das Weltkulturerbe „Oberes Mittelrheintal“ lebt, leidet massiv unter dem Lärm. Wenn aber das Bundesverkehrsministerium zu dem Schluss kommt, es gebe für eine Alternativtrasse keinen Handlungsbedarf – dafür müsse sich das Verkehrsaufkommen erst noch verdoppeln –, ist das ein Schlag in das Gesicht der Menschen im Mittelrheintal. ({2}) Ich frage Sie, Herr Kollege Ferlemann – das erschließt sich mir nämlich nicht –, warum dann die Strecke Dresden–Prag beispielsweise bei einer deutlich geringeren Auslastung wirtschaftlicher sein soll als eine Alternativtrasse im Mittelrheintal. Zudem pfeift die Mittelrheinstrecke schon jetzt auf dem allerletzten Loch. Regelmäßig kommt es zu Ausfällen auf der Strecke durch Erdrutsche oder durch Unfälle, und das bei Transporten mit Gefahrgut. Erst Anfang Februar brannten drei Waggons. Spraydosen, die geladen waren, flogen durch die Gegend. ({3}) Vor einigen Jahren entgleisten mehrere Waggons. Man konnte von Glück sagen, dass niemand zu Schaden kam. Jedes Mal führen solche Ereignisse zu tagelangen Sperrungen. Wir haben also schon jetzt ein Kapazitätsproblem. Es ist deshalb absolut kurzsichtig, dieser Strecke noch mehr zuzumuten, und zwar sowohl in wirtschaftlicher als auch vor allen Dingen in menschlicher Hinsicht. ({4}) Der Klimaschutz erfordert natürlich, mehr Güterverkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Dafür brauchen wir aber die Akzeptanz der Menschen. Diese erreicht man nur, wenn man ihre Belange ernst nimmt und den Lärmschutz vorantreibt. Wir haben lange auf die Umrüstung lauter Güterwagen auf leisere Bremssohlen gewartet. Ich bin froh, dass wir in der Parlamentsgruppe interfraktionell Druck gemacht haben und dass das Gesetz über Betriebsbeschränkungen für laute Güterwagen dann durchgesetzt werden konnte. Es braucht nämlich gemeinsame Kraftanstrengungen, kurzfristig mehr Lärmschutzmaßnahmen auf den Weg zu bringen, und das viel schneller. Wir haben im Beirat „Leiseres Mittelrheintal“ darüber diskutiert, dass das alles viel zu langsam gekommen ist. Wir brauchen mittelfristig den Ausbau der Rhein-Sieg-Strecke, wie im Bundesverkehrswegeplan vorgesehen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir brauchen eine Alternativtrasse; auch das ist Konsens in der Parlamentsgruppe „Bahnlärm“. Ich bin in den nächsten Tagen –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin!

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– ich komme zum Schluss –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Letzter Satz!

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– wieder im Mittelrheintal unterwegs. Welche Botschaft soll ich den Menschen mitbringen: dass wir unsere Verantwortung ernst nehmen und sie entlasten oder ob wir – – ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, ich habe Ihnen das Wort entzogen. ({0})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin damit am Ende meiner Rede. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Peter Bleser, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist mir eine große Freude, dass mein Wahlkreis heute im Mittelpunkt der Debatte steht. ({0}) Mit den Städten St. Goar, Oberwesel und Boppard sowie den Bürgerinitiativen und den kommunalen Vertretern kämpfe ich seit vielen Jahren gegen die Lärmbelästigung durch laute Güterwaggons. Es ist richtig: Fast 400 Züge fahren täglich durch das Mittelrheintal. Insbesondere die nachts vermehrt verkehrenden Güterzüge nehmen den Menschen den Schlaf und sind damit gesundheitsschädigend. Meine Damen und Herren, auch der Tourismus leidet unter dieser Lärmbelastung. Auch die Bedrohung des Weltkulturerbes Oberes Mittelrheintal ist real. Deshalb, um das gleich zu sagen, unterstützen wir mit allem, was wir können, den Neubau einer Strecke über den Westerwald von nahe Köln bis nahe Mainz. ({1}) Meine Damen und Herren, das, was die FDP in ihrem Antrag vorschlägt, nämlich jetzt die Machbarkeitsstudie zu erstellen, ist schon im Herbst letzten Jahres verkündet worden. Also, das ist keine neue Forderung. ({2}) Was Sie mit der Zuspitzung auf diese eine Forderung machen, ist, dass Sie eine ganze Generation von einer Reduzierung des Bahnlärms ausschließen. Das machen wir so nicht mit. ({3}) Meine Damen und Herren, diese Neubaustrecke – da müssen wir mit den Menschen ehrlich sein – wird nicht über Nacht gebaut werden können. Die Kosten: 8 Milliarden Euro. Ich bin kein Pessimist, wenn ich sage: Am Schluss wird eine zweistellige Zahl stehen. – Bauzeiten von 30 Jahren werden mit den Planungsvorläufen sicher nicht unrealistisch sein. Meine Damen und Herren, ich will nicht wissen, wie die Situation ist, wenn der erste Strich auf der Landkarte gezogen wird, ({4}) ob da nicht Bürgerinitiativen kommen, wenn Tunnel und Brücken an der ganzen Strecke gebaut werden. Meine Damen und Herren, deswegen ist es richtig – das habe ich immer verfolgt –, dass wir kurzfristige, mittelfristige und langfristige Lösungen suchen. Für eine kurzfristige Lösung habe ich schon 2012, und zwar parteiübergreifend, einen Projektbeirat initiiert. Peter Ramsauer und Bahnchef Grube haben das damals zugestanden. Die Chefs der Bürgerinitiativen, Frank Groß und Willi Pusch, sind stellvertretende Vorsitzende. Die Bahn führt diesen Projektbeirat. Das Verkehrsministerium und auch die Bundestagsabgeordneten der Region, Klaus-Peter Willsch, Frau Rößner und – damals noch Gustav Herzog – jetzt Detlev Pilger, sind Mitglieder in dem Beirat. Wir haben dort parteiübergreifend versucht, mit den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Hessen und Rheinland-Pfalz Lösungen zu finden. Zu der Machbarkeitsstudie, die erstellt worden ist, wurde für jedes Dorf und für jede Stadt zusammen mit den Bürgern genau definiert, wo welche Lärmschutzmaßnahmen installiert werden können. Die Bundesregierung hat dankenswerterweise 112 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt, um diese Maßnahmen auch zu finanzieren. Die ersten Maßnahmen sind etabliert: 100 Kilometer Schienenstegdämpfer, 32 Kilometer Schallschutzwände, 2,6 Kilometer Geländerausfachungen und auch Schienenschmiereinrichtungen. Das alles ist im Zulauf und wird erst jetzt umgesetzt. Deswegen bin ich so dankbar, dass das erreicht werden konnte. In ein, zwei oder drei Jahren wird man die Wirkung dieser Maßnahmen auch hören können. Darauf sollten wir setzen. Mittelfristig – ich bin sehr dankbar, dass auch die „Bahnlärm“-Gruppe mit Erwin Rüddel und Frau Rößner sich daran beteiligt haben – haben wir es geschafft, 2013 hier auf Bundesebene im Koalitionsvertrag und später auch in einem Gesetz 2016 die Umrüstungspflicht für Waggons festzulegen. 2020, also Ende nächsten Jahres, werden alle in Deutschland verkehrenden Güterwagen leise sein; das werden die Menschen hören. Ich sehe, die Uhr blinkt schon. – Meine Damen und Herren, wir werden dem Antrag auch deswegen nicht zustimmen können, weil er die Gelegenheit nicht nutzt, die Berücksichtigung der Gesundheitsbeeinträchtigungen in der Machbarkeitsstudie zu fordern und die Verkehrsprognosen ab 2030 mit zu berücksichtigen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, auch Sie müssen zum Schluss kommen.

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das gilt auch für die Gefährdung des Weltkulturerbestatus.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Hallo!

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn wir weiter zusammenarbeiten und dann die Finanzierung in einigen Jahren ansteht – – ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, auch Ihnen habe ich jetzt das Wort entzogen. Sie dürfen sich setzen. – Vielen Dank. Als Nächster redet zu uns der Kollege Detlev Pilger, SPD-Fraktion. ({0})

Detlev Pilger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004376, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf den Tribünen! Herr Präsident, ich werde mich beeilen und schneller reden. Das wird eng bei Ihnen; ich merke das. Mein Wahlkreis liegt mitten im Weltkulturerbe, einem wunderschönen Rheintal – das muss man an dieser Stelle sagen – mit vielen tollen Gegebenheiten, mit tollen Weinbergen in Steillagen, mit Burgen und Schlössern. All das ist bei einer Fahrt auf dem Rhein schön zu besichtigen. Es ist eine wunderschöne Landschaft – ich lade Sie herzlich dorthin ein – und ist nicht umsonst Weltkulturerbe. ({0}) Die Landschaft bietet ganz viel. Es ist eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Paradies – aber für die Anwohner die Hölle. Alle – da darf ich Sie etwas verbessern – drei Minuten – man muss im Rheintal beide Seiten einrechnen – fährt ein Zug durchs Rheintal. Alle drei Minuten! Das Rheintal ist sehr eng, sodass alles hin und her schallt. Das ist extrem. Von daher ist der Begriff „Hölle“ gar nicht so verfehlt. Ganze Ortschaften zerfallen – fahren Sie mal durch das Rheintal –, Dörfer werden ausgehöhlt. Die Menschen vor Ort in den Dörfern und Städten engagieren sich enorm. Aber das hilft nichts; denn wer wegziehen kann, zieht weg. Die Immobilienpreise verfallen zusehends. Die Touristenzahlen sind gut, aber nur die der Tagestouristen, weil dort keiner schlafen kann. Sehr geehrter Herr Staatssekretär Ferlemann, wir sind ja alle lernende Menschen. Ich nehme an, Sie auch. Ich lade Sie herzlich ein – ich habe zweimal im Rheintal übernachtet –, im „Nassauer Hof“, einem kleinen netten Hotel, zu übernachten. Ich würde Ihnen sogar empfehlen, mit mir abends ein paar Schoppen Wein zu trinken, damit Sie besser schlafen. Aber ich sage Ihnen: Man schläft nicht. Man wird wachgerüttelt, weil eben alle drei Minuten der Zug durch das Rheintal rasselt. Es ist nicht nur der Lärm, sondern es sind auch die Rütteleffekte im wahrsten Sinne des Wortes, wobei ich in diesem Zusammenhang nicht auf Erwin Rüddel – ich grüße dich! – anspielen will. ({1}) Ich darf an dieser Stelle auch die Kollegin Weeser vom Bahnbeirat kurz erwähnen. Es wurde schon angesprochen: Die gesundheitlichen Schäden – auch die muss man, sehr geehrter Herr Staatssekretär, volkswirtschaftlich bemessen – sind enorm. Die Menschen haben Bluthochdruck, Herzleiden bis hin zu Schlafstörungen existenzieller Art. Das muss unterbunden werden. Die Beeinträchtigungen sind hoch, die Übernachtungszahlen gehen kontinuierlich zurück. Ich kann das verstehen. Wie gesagt, ich habe zweimal im Rheintal übernachtet und wirklich kein Auge zugemacht. Die Erschütterungen sind extrem. Man hält es nicht aus. Eben wurde es gesagt: Es rüttelt am Bett und in den Regalen. Die Menschen im Rheintal, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen dringend eine Perspektive. Das kann an dieser Stelle nur die Alternativtrasse sein, auch wenn das lange dauert. ({2}) Aber das wird den Menschen die Möglichkeit bieten, dort über Generationen zu leben. ({3}) Wir haben noch nicht oder nur kurz die Gefahrguttransporte im Rheintal erwähnt. Unlängst konnte bei Unkel – Gott sei Dank – eine extreme Situation vermieden werden. Aber es gab ein großes Feuer. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie das ausgegangen wäre, wenn so etwas mit hochexplosiven Gütern im engen Rheintal passieren würde, nahe bei Ortschaften. Dieses Szenario möchte ich mir gar nicht vorstellen. Ich möchte dann auch nicht die Frage stellen: Wer ist denn dafür verantwortlich? Wir kennen die Situation. Wir können nicht sagen: Wir haben das nicht gewusst. – Jedes Jahre fahren Tausende Tonnen Gefahrgüter durch das enge Rheintal. Im Rheintal – ich muss auf die Uhr gucken – fühlen sich 45 Prozent der Bevölkerung durch Lärm belästigt. Im Bundesdurchschnitt liegt dieser Wert bei 3,2 Prozent. Wir haben viel gemacht; auch das ist wahr, das darf man auch nicht verschweigen – nicht zuletzt dank der Initiative der Parlamentariergruppe „Bahnlärm“, die mittlerweile – auch daran sieht man, dass dies ein bundesweites Problem ist – die größte im Deutschen Bundestag ist. Auch die Bürgerinitiativen – Peter Bleser hat sie erwähnt – sind ein ganz wichtiger Bestandteil. Die Bahn AG und das Verkehrsministerium haben Mittel für Sofortmaßnahmen in Höhe von noch mal 100 Millionen Euro nachgelegt. Trotz allem – ich komme zum Schluss – wollen wir ja mehr Güter auf die Bahn bringen. Wir wollen ja umweltfreundlicher sein. Aber wir müssen das menschenverträglich machen. Wir können das nicht nur güterverträglich machen, lieber Herr Kollege Ferlemann, sondern wir müssen es auch menschenverträglich machen. Dazu brauchen wir zunächst eine Machbarkeitsstudie.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.

Detlev Pilger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004376, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bevor Sie mir das Mikrofon abschalten, komme ich zum Ende. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Orientieren Sie sich an der Uhr.

Detlev Pilger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004376, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Also erst die Machbarkeitsstudie und dann eine möglichst schnelle Umsetzung der Alternativtrasse! Vielen Dank, Herr Präsident. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schalte das Mikrofon erst ab, wenn die Redezeit um mehr als 10 Prozent überschritten wurde. Nicht dass Sie glauben, das sei hier willkürlich. Man hat genug Zeit, zum Ende zu kommen, wenn die Lampe blinkt. Als letzter Redner hat der Kollege Michael Donth, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, wir sprechen – das wiederhole ich gerne – beim Oberen Mittelrheintal über eine der schönsten Regionen und auch eine der schönsten Bahnstrecken der Republik. Man fährt an wunderschönen alten Städten und Dörfern vorbei, die sich an diese steilen Weinberge schmiegen, rechts und links des majestätischen Rheins. ({0}) Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass diese Region zum Weltkulturerbe der UNESCO zählt und eine der beliebtesten Tourismusdestinationen in Deutschland ist. Aber ohne Zweifel ist es natürlich weitaus angenehmer, in einem dieser bis zu 400 Züge, die am Tag durch das Rheintal fahren, zu sitzen, als eben als Tourist oder gar als Anwohner hauptsächlich den Lärm und die zerschneidende Wirkung dieser Züge zu erleben. Der Güter- und Personenverkehr auf der Schiene wird weiter zunehmen, was wir ja mit Blick auf den Klimaschutz auch alle wollen; da gibt es einen großen Konsens in Politik und Gesellschaft. Allerdings wird dadurch die Lärmbelastung für Anwohner an vielbefahrenen Schienentrassen wahrscheinlich größer, was diese dann – verständlicherweise – nicht hinnehmen werden. Eines ist deshalb klar: Wenn wir mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene bringen möchten, muss ein guter Interessenausgleich her. Wir haben als Verkehrspolitiker ein großes Interesse daran, dass die betroffenen Regionen in Deutschland die Ausweitung des Verkehrs auf der Schiene mittragen. Deshalb haben wir 2017 das Schienenlärmschutzgesetz beschlossen. Dadurch sind ab Dezember nächsten Jahres laute Güterwagen in ganz Deutschland verboten. Damit halbieren wir den Bahnlärm im Verhältnis zu 2015. Das ist eine merkliche Verbesserung. ({1}) Um der besonders herausfordernden Situation im Mittelrheintal zu begegnen, ist im Dezember 2012 – es wurde schon angesprochen – der Beirat „Leiseres Mittelrheintal“ als Dialogforum von Bahn, Politik und Bürgerinitiativen eingerichtet worden. Mit den rund 80 Maßnahmen, die dieser Beirat ganz konkret erarbeitet hat – von Schallschutzwänden, Geländerausfachungen an Brücken und Schienenstegdämpfern bis hin zu Schienenschmiereinrichtungen; Kollege Bleser hat es schon ausführlich dargestellt –, ist im Mittelrheintal heute schon ein Lärmschutz über das gesetzlich übliche Maß hinaus vorgesehen. Ein Großteil der Kosten von 112 Millionen Euro – es wurde auch schon erwähnt – trägt der Bund. Da sind die Fördergelder für die Umrüstung der Güterwaggons in Deutschland zur Halbierung des Bahnlärms noch gar nicht eingerechnet, ebenso wenig wie die Mittel, die die Bahnunternehmen selbst zusätzlich investieren. Ich denke, diese Bemühungen und die Zahlen zeigen, dass uns Politikern und dem Ministerium die Menschen im Mittelrheintal nicht egal sind – ganz im Gegenteil! ({2}) Nun diskutieren wir heute in erster Lesung über den Antrag der FDP zu der auch von der Region gewünschten alternativen Güterzugtrasse, die auch hier – anders als es vielfach dargestellt wird – nicht auf taube Ohren trifft. Aber wir müssen eben auch die gesamtwirtschaftliche Betrachtung berücksichtigen. Wir sprechen hier über Beträge von 8 Milliarden Euro und mehr – je nachdem, was herauskommt. Ich glaube, es ist richtig und wichtig – Herr Ferlemann hat es heute ausführlich dargelegt –, dass die Vorplanungsprozesse bereits begonnen werden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Denn dann haben wir eine Basis – wir, die Region, der Beirat – und wissen, worüber wir reden. Dann können wir auch Entscheidungen treffen. Ich denke, das ist genau der richtige Weg. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Donth. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7984 an den Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe und höre, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute unterschiedliche Vorlagen aus unterschiedlichen Fraktionen zum Thema Wahlrechtsausschlüsse. Im Kern ist man sich in allen Vorlagen darüber einig, dass die Wahlrechtsausschlüsse nach § 13 Nummern 2 und 3 des Bundeswahlgesetzes aufgehoben werden sollen. Es geht hier um den Ausschluss von Menschen, die unter Vollbetreuung stehen, und Menschen, die wegen einer im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen Straftat in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind, von Bundestagswahlen und Europawahlen. – An dieser Stelle hören allerdings die Gemeinsamkeiten auf. Übrigens befassen sich der Gesetzentwurf der FDP und der Gesetzentwurf der Grünen und Linken nicht mit Themen wie „Selbstbestimmung der Wahl“, „Vermeidung von Missbrauch im Rahmen des Wahlvorgangs“ und auch nicht mit verfahrensrechtlichen Maßnahmen zur Sicherung der freien, demokratischen Wahl. ({0}) Das sind aber genau die Punkte, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 29. Januar 2019 angesprochen hat und dem Gesetzgeber ins Aufgabenbuch geschrieben hat. Das Bundesverfassungsgericht hat im Rahmen dieses Beschlusses gesagt: § 13 Nummer 2 des Bundeswahlgesetzes ist verfassungswidrig, § 13 Nummer 3 ist sogar nichtig. Aber das Bundesverfassungsgericht hat auch festgestellt, dass es durchaus Wahlausschlüsse geben kann, nämlich dann, wenn der betroffenen Person die erforderliche Einsichts- und Handlungsfähigkeit fehle und dem selbst durch Assistenzleistungen nicht abgeholfen werden könne. In diesem Fall läge also kein Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes vor. So kann man es im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts lesen. Das Bundesverfassungsgericht hat nun dem Gesetzgeber den Auftrag gegeben, zum einen die Nummern 2 und 3 des § 13 zu streichen und zum anderen die Integrität der Wahl, die Selbstbestimmung der Wahl und vor allen Dingen auch den Schutz vor Missbrauch zu gewährleisten. Hierauf finden die Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen keine Antwort. Um diese Fragen aufzugreifen, sehen wir im gemeinsamen Antrag von CDU/CSU und SPD vor, Konkretisierungen im Wahlrecht vorzunehmen, insbesondere was die Assistenzleistungen betrifft: was die Voraussetzungen dafür sind, dass Assistenzen erfolgen können, müssen oder dürfen. Darüber hinaus werden wir Konkretisierungen im Strafrecht vornehmen, damit Rechtssicherheit und -klarheit darüber besteht, was wirklich erlaubt ist und was nicht. Warum ist das so wichtig? Es ist so wichtig, weil wir beim Thema der Assistenzleistungen im Zusammenhang mit der Ausübung des Wahlrechts auch darauf achten müssen, dass wir die Belange und Interessen der Menschen berücksichtigen, die gewährleisten, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung ihr Wahlrecht ausüben können. Auch die Betreuer brauchen Rechtssicherheit. Ich betone ausdrücklich, dass ich grundsätzlich erst mal von der Redlichkeit eines jeden Betreuers ausgehe; das muss erst mal der Maßstab sein. Weil das der Maßstab ist, müssen wir den Betreuern einen entsprechenden rechtssicheren Rahmen bieten. Ansonsten drohen den Betreuern strafrechtliche und auch berufsrechtliche Konsequenzen. ({1}) Deswegen haben wir von unserer Seite aus vorgeschlagen, einen Zwischenschritt einzubauen ({2}) – das wäre vielleicht ganz gut, aber es kommt jetzt nicht zur Umsetzung –, nämlich vorzusehen, dass ein Betreuungsgericht im konkreten Fall anlassbezogen und nur auf Antrag prüfen kann, ob ein Wahlrecht ausgeübt werden kann. Das war die Idee, die wir hatten. ({3}) – Man sollte vielleicht erst mal zuhören. – Gerade vor dem Hintergrund, dass die strafrechtliche Keule nun wirklich eine sehr harte Keule ist, die insbesondere berufsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann, wäre es sinnvoll gewesen, diesen Zwischenschritt einzuführen. Es kommt nun nicht dazu. Ich hoffe, dass die Maßnahmen, die wir im Rahmen des Wahlrechts und des Strafrechts konkretisieren werden, entsprechend ausreichen, um für alle Seiten – ich betone: für alle Seiten – Rechtssicherheit zu schaffen. ({4}) Warum ist eine solche Rechtssicherheit notwendig? Sie ist deswegen notwendig, weil man auch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur letzten Landtagswahl in Niedersachsen heranziehen muss. Die Wahl wurde angefochten. Jemand sagte: Ich beanstande, dass ein 16-Jähriger wählen kann. – Die Frage, ob er wählen kann oder nicht, lasse ich mal außen vor. Entscheidend ist für mich der Sachverhalt. Es war nicht so, dass jemand, der kein Wahlrecht hatte, gesagt hat: „Ich möchte das Wahlrecht haben“; nein, ein Dritter sagte in diesem Verfahren: Ich bezweifle, dass ein anderer ein Wahlrecht hat; das lasse ich gerichtlich überprüfen. ({5}) Das heißt, diese Fälle gibt es auch, und weil das so ist, müssen alle Betroffenen und Beteiligten in diesem Verfahren geschützt werden. Ich will noch ein Wort zur anstehenden Europawahl sagen. Es wird natürlich bedauert – das wird sicherlich gleich mehrfach erwähnt werden –, dass diese Entscheidungen nicht zur Europawahl umgesetzt werden können. Ich hätte mir, ehrlich gesagt, auch gewünscht, dass wir das Thema schon längst abgeräumt hätten; aber wir haben das im Verfahren nicht schneller hinbekommen. ({6}) Man muss allerdings auch berücksichtigen, dass die Venedig-Kommission, die vom Europarat eingesetzt wurde, rät, das Wahlrecht ein Jahr vor einer Wahl nicht mehr zu ändern. Ich denke, dem muss man im Sinne der Rechtssicherheit Rechnung tragen. Sie können uns glauben, auch wenn Ihnen das vielleicht etwas schwerfällt: Auch wir freuen uns sehr, dass das inklusive Wahlrecht umgesetzt wird und wir eine Lösung gefunden haben, sodass wir hier weiterkommen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Oellers. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Christian Wirth, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Die Ausdehnung des Wahlrechts oder, besser gesagt, die Abschaffung der Einschränkung des Wahlrechts im Sinne der vorliegenden Gesetzentwürfe ist keine Selbstverständlichkeit. Es gibt berechtigte Sorgen, welche den bisherigen gesetzlichen Regelungen zugrunde lagen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom Januar klargestellt, dass es durchaus gerechtfertigt sein kann, das Wahlrecht einzuschränken, wenn die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht. Darüber hinaus besteht die Gefahr der Einflussnahme oder der Verfälschung des eigentlichen Wählerwillens natürlich immer dann, wenn die Wahlhandlung nicht unmittelbar und ohne fremde Hilfe ausgeführt wird. Damit meine ich nicht die spontane Liebe am Wahltag von SPD, CDU und CSU, wenn sie unsere Senioren kaffeefahrt­ähnlich zu den Wahlurnen transportieren, sondern ich meine die tatsächlichen Umstände. ({0}) Der in jedem Fall – nach bisherigem Recht – notwendige Richterspruch und die relativ niedrigen Fallzahlen in Deutschland zeigen darüber hinaus, dass mit diesem scharfen Schwert der Einschränkungen in Deutschland offenbar nicht fahrlässig umgegangen wird. Aber ein so weitreichender Eingriff in die Grundrechte muss durch mehr gerechtfertigt sein als die Sorge um gefälschte Wahlergebnisse. Fälle, in denen zum Beispiel in anderen EU-Ländern unter Ausnutzung von Menschen mit Behinderung eine nachvollziehbare Verzerrung des Wählerwillens stattgefunden hat, sind nicht bekannt. Der geltende grundsätzliche und pauschale Ausschluss von Menschen aufgrund ihrer Betreuungssituation geht, abgewogen gegen das Gleichheitsgebot, einen Schritt zu weit, wie auch das Bundesverfassungsgericht nunmehr entschieden hat. Wir stellen mit diesem grundsätzlichen Misstrauen nämlich auch die Betreuer und Helfer, die teils beruflich, teils ehrenamtlich den schwierigen und nicht oft genug gewürdigten Dienst an ihren Mitmenschen leisten, unter einen Generalverdacht. ({1}) Es gibt keinen Grund, von ihnen weniger Ehrlichkeit zu erwarten als von all den Helfern, die bereits jetzt in der Bundeswahlordnung vorgesehen sind, um zum Beispiel Blinde oder anderweitig körperlich eingeschränkte Wähler beim eigentlichen Wahlvorgang zu unterstützen. Natürlich wird es schwarze Schafe immer geben, doch sollten diese bestraft werden, nicht die Opfer. Auch der Ausschluss der Schuldunfähigen in einem psychiatrischen Krankenhaus steht, so hat das Bundesverfassungsgericht deutlich entschieden, auf sehr unsicherem Boden. Schließlich werden all jene nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen, die zwar ebenso schuldunfähig sind, aber zum Beispiel in eine Entziehungsanstalt statt in ein psychiatrisches Krankenhaus kommen. Nein, rund 80 000 zusätzliche Wahlberechtigte, verteilt über die deutschen Wahlkreise, werden nicht unsere Demokratie gefährden oder zu einer erdrutschartigen Verschiebung der Stimmverhältnisse führen. Aber nur ein einziger unrechtmäßiger Ausschluss vom Wahlrecht ist mehr, als eine Demokratie, die ihren Auftrag und Sinn ernst nimmt, akzeptieren sollte. Die abgegebene Stimme eines jeden Wählers in Deutschland wird durch die Stimmen dieser endlich Wahlberechtigten nicht verdünnt; sie machen sie legitimer in der gemeinsamen Entscheidung, die das souveräne Volk in unserer Demokratie trifft. Die Tatsache, dass die Vereinten Nationen diesen Schritt fordern, ist dabei fast nebensächlich; denn, für unser Land deutlich wichtiger, das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber einen deutlichen Auftrag erteilt. Wichtig ist die Vorgabe der UN-Behindertenrechtskonvention in der Hinsicht, dass die Bundesregierung sich hier außerordentlich viel Zeit gelassen hat. Wo sie sonst ja – vom Migrationspakt bis zum Flugzeugträger – keiner internationalen Idee schnell genug folgen kann, scheint sie hier keine besondere Eile an den Tag zu legen, obwohl sie es sogar schon zweimal in ihren Koalitionsvertrag geschrieben hat. ({2}) Auf den letzten Drücker kam dann eine halbherzige Absichtserklärung, die man zwar inhaltlich gutheißen kann. Aber bitte, liebe GroKo: Sie können doch niemandem erzählen, dass dieser Antrag mehr als panisches Flickwerk oder sogar alibimäßiges Übersprungshandeln ist. Der Wiederherstellung des Wahlrechts für die betroffenen Menschen werden wir als AfD nicht im Wege stehen. Die Bedenken bezüglich der laufenden oder bereits abgeschlossenen Listenaufstellungen zur Europawahl sind allerdings nicht von der Hand zu weisen. Es scheint weder im Sinne der Betroffenen noch im Interesse der Vorlagenverfasser zu sein, dass wir durch die Änderung die Europawahl auf diese Art und Weise torpedieren. Aus diesem Grunde werden wir uns in diesem Falle heute enthalten, werden aber die Bundesregierung nach der Europawahl an ihr Versprechen erinnern, das Wahlrecht zu ändern. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Wirth. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Ulla Schmidt, SPD-Fraktion. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heutige Tag ist nicht nur für mich, sondern, ich glaube, für viele ein guter Tag. Vor zehn Jahren haben wir hier die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Fast genauso lange läuft die Debatte über die Wahlrechtsausschlüsse, die im Grunde immer noch aus dem alten Entmündigungsrecht erwachsen und nach unserer Auffassung, nach Auffassung der SPD, dem Menschenrecht auf Teilhabe, das mit der UN-Behindertenrechtskonvention als unveräußerliches Menschenrecht klassifiziert wurde, widersprechen. Deshalb waren wir sehr froh, dass auch das Bundesverfassungsgericht mit seinem Beschluss ganz klar entschieden hat und damit die Auffassung bestätigt hat, dass die Wahlrechtsausschlüsse von Menschen mit Behinderung, für die in allen Angelegenheiten eine Betreuung eingerichtet wurde, oder von Straftätern, die wegen Schuldunfähigkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind, verfassungswidrig sind und abgeschafft gehören; denn sie verstoßen gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl und das Verbot der Benachteiligung von Menschen mit Behinderung, sind daher nichtig und unanwendbar. ({0}) Deshalb setzt der Antrag der Regierungsfraktionen an dieser Stelle an und fordert die Streichung des § 13 Nummern 2 und 3 des Bundeswahlgesetzes und des § 6a Absatz 1 Nummern 2 und 3 des Europawahlgesetzes. Ich will an dieser Stelle sagen, was für uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten bei diesem Antrag und auch dem kommenden Gesetz sehr wichtig ist. Für uns ist wichtig, dass es die Möglichkeit einer individuellen Wahlfähigkeitsprüfung als Ersatz für die Streichung nicht geben darf, ({1}) und zwar nicht nur, weil niemand sagen kann, wer nach welchen Kriterien überprüfen soll, ob jemand wahlfähig ist oder nicht, sondern auch, weil wir als Parlament gut daran tun, aus historischen Gründen und angesichts der Entwicklung in vielen Ländern um uns herum, wo sich Demokratien schrittweise zu Autokratien entwickeln, nirgendwo gesetzlich etwas zu verankern, das missbraucht werden könnte, um Rechte von Bürgerinnen und Bürgern einzuschränken. ({2}) Deshalb ist die Streichung die einzige Konsequenz. Aber gut ist auch – Herr Oellers hat darauf hingewiesen –, dass nach dem Willen der Koalition Menschen, die unter Vollbetreuung stehen, Assistenz an die Seite gestellt bekommen, und zwar Assistenz, die sie dabei unterstützt, dass sie frei und selbstbestimmt wählen können. Denn die Frage der freien und selbstbestimmten Wahl ist für uns eine ganz wichtige Voraussetzung bei der Streichung der Wahlausschlüsse. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesländer sind aktiv – ich habe das in dieser Woche aus vielen gehört –: Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Niedersachsen sind derzeit dabei, ihre Wahlgesetze ganz schnell zu ändern, damit – das ist deren Ziel – bei den Kommunalwahlen und bei den Landtagswahlen in diesem Jahr alle Menschen ihr Wahlrecht wahrnehmen können. Ich gehe davon aus, dass die anderen folgen. Ich hätte mich gefreut, wir hätten das auch schon für die Europawahl geschafft. ({4}) Die Juristen sagen: Es ist nicht möglich, weil wir mit dem Gesetz eben nicht nur das aktive, sondern auch das passive Wahlrecht ändern. Insofern, glaube ich, können wir ganz gut in die Zukunft schauen. Ich würde mir wünschen, dass wir in diesem Land durch diese Entscheidung mit dazu beitragen, dass wir vom Defizitdenken wegkommen und wirklich dahin kommen, zu sehen, welche Fähigkeiten die Menschen in diesem Land haben, und dass wir alles tun, um deren Fähigkeiten zu heben. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. – Als nächster Redner spricht für die FDP-Fraktion der Kollege Jens Beeck. ({0})

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Hochverehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen im Hause, insbesondere in der Großen Koalition! Zum zehnten Jahrestag des Inkrafttretens der UN-Behindertenrechtskonvention bäumen Sie sich heute ein letztes Mal auf, um nicht weniger zu tun, als Menschenrechte auszubremsen, als Grundwerte der Demokratie nicht umzusetzen. Das ist eigentlich unerträglich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition. ({0}) – Doch, Herr Oellers, das ist so. – Seit der ersten Fassung des Bundeswahlgesetzes im Jahre 1956 stehen die Wahlrechtsausschlüsse in diesem Bundeswahlgesetz, damals noch begründet mit – ich zitiere – Entmündigung und Pflegschaft „wegen geistigen Gebrechens“. Da laufen einem heute Schauer über den Rücken, wenn man diese Formulierungen hört. Spätestens seit 1989/1990, seit der Implementierung des neuen Betreuungsrechts – die Kollegin Schmidt hat das angesprochen –, steht die Abschaffung dieser Wahlrechtsausschlüsse in Rede – seit 30 Jahren! 1994 Ergänzung des Artikels 3 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz um: Menschen mit Behinderung dürfen nicht benachteiligt werden. ({1}) 2006 UN-Behindertenrechtskonvention, seit 2009 in Deutschland in Rechtskraft. Und trotzdem bestehen die Wahlrechtsausschlüsse bis heute. In dieser Wahlperiode haben zunächst die Freien Demokraten, danach auch die Grünen und die Linken einen Entwurf vorgelegt, den Sie so lange verschleppt haben, dass wir Gott sei Dank heute die Möglichkeit haben, die Wahlrechtsausschlüsse sofort und endgültig ad acta zu legen. ({2}) Beide Anträge sind von der Großen Koalition in den Ausschüssen noch in diesem Jahr abgelehnt worden: Am 30. Januar und 13. Februar dieses Jahres im Innenausschuss vertagt; man wolle sich noch mal beraten. Am 20. Februar mit einer flapsigen Bemerkung eines Kollegen der Union im Innenausschuss endgültig abgelehnt – begründet mit rechtlichen Bedenken. Einen Tag später, nach der Ablehnung in diesem Ausschuss, hat das Bundesverfassungsgericht seinen Beschluss vom Januar dieses Jahres veröffentlicht und völlig klargestellt: § 13 Absatz 2 – Menschen unter Vollbetreuung – ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, nicht anzuwenden und – Sie, Herr Kollege Oellers, haben es gesagt – Absatz 3 – Menschen mit Schuldunfähigkeit – sogar nichtig. Im Ergebnis habe ich dann gedacht: Da werden doch jetzt die Politiker der Großen Koalition, nachdem ihnen das Bundesverfassungsgericht klarstellende Hilfe gegeben hat, heute unseren Anträgen zustimmen; anders kann man es ja gar nicht machen. Aber nein – das ist der einzige Kern des Antrags der Großen Koalition heute –, Sie wollen die Menschen bei der nächsten Europawahl im Mai dieses Jahres wieder ausschließen. ({3}) Und das ist eine Frechheit; das sagt ein Kollege, ich zitiere das nur. ({4}) Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, obwohl das klar grundgesetzwidrig ist, obwohl bei einem Ausschluss auch klar ist, dass wir aus der Menge der Betroffenen von 85 000 Menschen berechtigte Wahlprüfungsbeschwerden erwarten dürfen. ({5}) Für wie dumm halten Sie eigentlich die Menschen, wenn Sie den Antrag, der dieses Ziel verfolgt, überschreiben mit „Für die Einführung eines inklusiven Wahlrechts“? Die anderen Anträge, die heute vorliegen, wären für die schnelle Einführung eines inklusiven Wahlrechts sehr geeignet; Ihrer ist das nicht. Wie verschwurbelt ist eigentlich die Argumentation, zu sagen: „Die Wahlrechtsausschlüsse betreffen passives und aktives Wahlrecht. Im Normalfall ist vielleicht jeder Tausendste vom passiven Wahlrecht betroffen; das aktive betrifft alle. Weil wir es beim passiven Wahlrecht nicht mehr umsetzen können, nehmen wir gleich auch das aktive Wahlrecht nicht mit in den Blick und lassen auch das weg“? Und dann versuchen Sie in den letzten Tagen auch noch, sich mit Pressemitteilungen, die gar nichts mit dem zu tun haben, was Sie noch vor zwei, drei Wochen gesagt haben, als Macher beim Wegfall der Wahlrechtsausschlüsse zu inszenieren. Das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von der Union, nur noch peinlich. ({6}) Bewahren Sie heute den Rechtsstaat! Verhindern Sie, dass zur Europawahl in diesem Jahr wiederum Menschen beleidigend durch pauschale Wahlrechtsausschlüsse ausgeschlossen werden! Verhindern Sie Tausende von Wahlprüfungsbeschwerden! Ich komme zum Ende mit einem letzten Appell: Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von der Union, denken Sie an das Motto des Behindertenbeauftragten Ihrer Bundesregierung: Inklusion ist zunächst eine Frage der Haltung. – Ihre Haltung werden Sie heute in der namentlichen Abstimmung zeigen müssen. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Beeck. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Sören Pellmann, Fraktion Die Linke. ({0})

Sören Pellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heutige Tag könnte tatsächlich ein historischer Tag werden. Am Dienstag beim Parlamentarischen Abend der Lebenshilfe – Frau Schmidt, Sie haben dort einführende Worte gesprochen – war Frau Günther anwesend, eine Betroffene, die ausführte: Ich will nur Teilhabe am Leben genießen. – Das ist insbesondere für das, was heute hier gleich passieren wird, handlungsleitend. Ein bisschen zur Historie, liebe Unionskolleginnen und -kollegen – das kann ich Ihnen an dieser Stelle nicht ersparen –: Seit November reden wir miteinander darüber, dass die nach unserer Auffassung damals schon festgestellt rechtswidrigen Wahlrechtsausschlüsse abgeschafft gehören. Es gab dann in Ihrer Fraktion einen Wechsel an der Fraktionsspitze. Das führte dazu, dass der Kollege Brinkhaus sagte – wir waren uns in allen Punkten schon einig –: Nein, wir ziehen das jetzt noch mal zurück und schauen es uns noch mal an. – Auch das gehört zur Wahrheit dazu. Herr Brinkhaus, insbesondere Ihre Fraktion, die CDU/CSU, hat verhindert, dass zur Europawahl ein inklusives Wahlrecht möglich ist. ({0}) Ohne dass die drei Oppositionsfraktionen heute diesen Punkt auf die Tagesordnung gesetzt hätten, wäre, glaube ich, von Ihnen gar nichts gekommen. Verstärkend kam dann noch hinzu, dass das Bundesverfassungsgericht es genau in diesem Sinne, wie es in den Gesetzentwürfen der drei Fraktionen drinsteht, auch mit Nachdruck gefordert hat. Wir haben tatsächlich das Problem – Frau Schmidt, Sie haben es angesprochen –: Wir haben das Bundesland Brandenburg; da sind am 26. Mai Kommunal- und Europawahlen. Für die Kommunalwahlen dürfen die Betroffenen natürlich das Wahlrecht ausführen, für die Europawahl nicht. Liebe Union, das müssen Sie den Wählerinnen und Wählern bitte selbst erklären. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Wählerinnen und Wähler draußen an den Bildschirmen und liebe Betroffene, ich kann jedem nur empfehlen: Schauen Sie ab dem 30. März 2019 in die Wählerinnen- und Wählerverzeichnisse hinein, und prüfen Sie, ob Ihr Name dort drinsteht. Sollte das nicht der Fall sein, drängen Sie darauf, dass genau diese Eintragung vollzogen wird; denn mit dem Verfassungsgerichtsbeschluss im Rücken ist das durchaus möglich. ({2}) Zu den zwei Gesetzentwürfen legt die Koalition einen Antrag vor, der keine Gesetzeskraft entfaltet. Im letzten Satz schreiben Sie dann noch: Die Europawahl können wir leider nicht mehr erreichen. – Das ist zynisch, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Ich will noch einen historischen Bogen spannen: Wir feiern dieses Jahr 100 Jahre Wahlrecht für Frauen – ein großer Erfolg. Ich glaube, es ist an der Zeit, 100 Jahre später die noch verbliebenen Wahlrechtsausschlüsse, nämlich die von Menschen mit Beeinträchtigungen – das sind immerhin fast 90 000 Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik –, endgültig und abschließend aufzuheben. ({4}) Frau Günther hat beim Parlamentarischen Abend der Lebenshilfe am Dienstag noch etwas gesagt. Sie sagte: Ich habe gar nicht viele Forderungen, ich habe gar nicht viele Wünsche. Ich will nur Mensch sein. – Daran anknüpfend, liebe Kolleginnen und Kollegen – es liegen heute zwei Gesetzentwürfe vor, die ähnlich lauten –, bitte ich um Ihre Zustimmung. ({5}) Denn nach unserer Auffassung – nach Auffassung der Fraktionen der Linken, der Grünen und auch der FDP – ist das inklusive Wahlrecht ein Menschenrecht. Tun Sie heute etwas dafür, und stimmen Sie für genau diese Gesetzentwürfe! ({6}) Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen: Gerüchteweise ist an uns herangetragen worden, dass die Koalitionsfraktionen nächste Sitzungswoche einen entsprechenden Gesetzentwurf präsentieren wollen. In der vorläufigen Tagesordnung, zumindest nach der, die mir vorliegt, ist dazu leider nichts enthalten. ({7}) Ich würde dringend an Sie appellieren: Liefern Sie endlich nach! Ansonsten sehen wir uns in der nächsten Woche vor dem Bundesverfassungsgericht wieder. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Corinna Rüffer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Abgeordnete, insbesondere von Union und SPD! Ich will es auch noch einmal probieren: Menschen mit Behinderung – das wissen wir alle – haben selten irgendetwas geschenkt bekommen. Sie wissen, dass sie in diesem Land für alles kämpfen müssen, was sie bekommen wollen. Diese Menschen haben ganz lange darum gerungen, endlich wahlberechtigt zu sein. Ihre Erwartungen uns gegenüber sind leider denkbar gering. Das ist so traurig. In wenigen Tagen feiern wir den zehnten Jahrestag der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention, die damit geltendes Recht in Deutschland wurde. Zum Punkt des Wahlrechtes ist diese Konvention ganz eindeutig und explizit. Was wir hier aber erleben – im Deutschen Bundestag, in den Ausschüssen, seit Monaten, eigentlich seit Jahren –, ist ein erbärmliches Trauerspiel; das will ich Ihnen einmal sagen. ({0}) Sie wissen ganz genau, dass ohne die Gesetzentwürfe, die von der Opposition vorgelegt worden sind, und natürlich vor allem ohne den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes hier heute überhaupt gar nichts passieren würde. ({1}) Das liegt in erster Linie natürlich nicht an der SPD, obwohl Ulla Schmidt heute so geredet hat, als käme sie von der Lebenshilfe und nicht von der SPD. Sie hat da jedenfalls Schwung reingegeben. Ich hätte mir das von der SPD früher gewünscht, auch sichtbar gewünscht in dieser Debatte. ({2}) Aber die Union hat heute hier wieder mit Ihnen, Herr Oellers, echt ein Geschwurbel veranstaltet, ({3}) das mich kaum glauben lässt, dass wir Ihren Antrag da irgendwie umgesetzt bekommen. Diese abstrusen Ideen, das Wahlrecht im Einzelfall zu prüfen, das ist an Absurdität und an Ängstlichkeit wirklich nicht zu überbieten. Vor wem haben Sie eigentlich Angst? ({4}) Vor Wählerinnen und Wählern? Vor Menschen mit Behinderungen? Das wirft ein ganz schlechtes Licht auf Sie und zeigt, dass Sie den Ansatz der vollständigen Teilhabe von Menschen mit Behinderung in diesem Land im Kern nicht verstanden haben. Es geht um 85 000 Menschen, um Menschen, die bisher keinerlei Rechtssicherheit hatten. Ob sie vom Wahlrecht ausgeschlossen wurden, das hing davon ab, ob sie in Bremen wohnen oder in Bayern oder sonst wo; das Recht ist völlig unterschiedlich angewendet worden. Die Wahlrechtsausschlüsse betrafen viel mehr Menschen, als wir ursprünglich mal gedacht haben. Es ist seit vielen Jahren völlig klar, dass wir endlich konsequent diese Wahlrechtsausschlüsse streichen müssen. ({5}) Wir legen entsprechende Anträge, wie die Linke auch, zum x-ten Mal vor. Ich bitte Sie, dass wir heute endlich konsequent sind. Stattdessen kommen Sie hier mit so einem Gurkenantrag, der uns überhaupt nicht weiterbringt. Die Menschen mit Behinderung werden bei der Europawahl, wenn das so weitergeht, wieder in die Röhre schauen. Jens Beeck hat es gerade ganz treffend formuliert: Das ist eine einzige Unverfrorenheit. ({6}) Und angesichts dessen, was Sie an Öffentlichkeitsarbeit betrieben haben, weiß ich nicht, ob Sie noch in den Spiegel schauen können. Das ist – man muss es einfach sagen – nicht ehrlich und nicht redlich. Wenn Sie das, was Sie hier vorgeben, auch tun wollen, nämlich diesen Menschen die Möglichkeit geben, an der Wahlurne für ihre eigenen Rechte einzutreten – sie sind von der Gesetzgebung dieses Hauses besonders betroffen –, dann stimmen Sie bitte heute diesen Gesetzentwürfen zu, entweder dem der FDP oder dem gemeinsam von uns und der Linken eingebrachten. ({7}) Die sind beide vollkommen in Ordnung. Damit hätten wir eine saubere Lösung. Dann könnten wir gemeinsam glaubwürdig aus diesem Parlament rausgehen. ({8}) Wenn Sie das nicht tun, wenn Sie sich heute nicht auf die Hinterbeine stellen, dann haben Sie nicht nur Ihre Glaubwürdigkeit in dieser Frage gänzlich verloren, ({9}) sondern dann muss man auch sagen: Das Bundesverfassungsgericht hat klar entschieden, bezogen auf die Bundestagswahl. Die Formulierung im Europawahlgesetz ist aber wortgleich. Das heißt, wir wissen, dass das Bundesverfassungsgericht die Regelungen im Europawahlgesetz genauso streichen wird wie die im Bundeswahlgesetz. Wenn Sie nicht wieder das Bundesverfassungsgericht zwingen wollen, hier in einem Schnellverfahren eine Entscheidung zu treffen, wenn wir das Primat der Politik noch in den eigenen Händen behalten wollen, dann müssen wir heute endlich eine konsequente Entscheidung fällen. Ich bin gespannt, was Sie tun. Herzlichen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als vorletzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir werden künftig die Wahlrechtsausschlüsse für Menschen, die unter Betreuung stehen, beseitigen. Wir tun das nicht nur, weil wir Respekt haben vor dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, sondern weil es auch unserer eigenen inneren Haltung entspricht. Wir stehen hinter Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Wir tun das auch, weil wir den Wahlrechtsgrundsatz der Allgemeinheit der Wahl ernst nehmen. Die Allgemeinheit der Wahl garantiert nämlich allen Staatsbürgern das Recht, zu wählen und gewählt zu werden. Einschränkungen dafür dürfen nur unter ganz bestimmten, engen Grenzen formuliert werden. Die Grenzen, die wir bislang hatten, waren viel zu weit gefasst. Der Integrationsvorgang und die Kommunikation zwischen den Staatsbürgern und den Staatsorganen darf nur dann eingeschränkt werden, wenn es dazu wirklich einen ganz eng gefassten Anlass gibt. Die bisherige Handhabung, dass Menschen, die unter Vollbetreuung stehen, von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen konnten, war nicht in Ordnung. Das werden wir beseitigen. Wir schaffen ein inklusives Wahlrecht und sorgen dafür, dass diese Menschen zukünftig an der Wahl teilnehmen können. ({0}) Ich möchte einmal deutlich machen, was das ganz praktisch bedeutet. Ich bin in meinem Wahlkreis in Augsburg bei einem Fest der Lebenshilfe einem jungen Mann begegnet; ich nenne ihn Stefan. Er ist seit über zwanzig Jahren durch seine Mutter vollbetreut, und er arbeitet tagtäglich für die Caritas. Er hat sich im Vorfeld der letzten Bundes- und Landtagswahlen mit Politik beschäftigt. Ich habe mit ihm gesprochen. Sie hatten sogar in ihrer Wohngruppe eine Art Arbeitsgemeinschaft, die sich mit Politik beschäftigt. Er hat mich gefragt: Warum kann ich nicht wählen? – Mit dem Antrag, den wir heute auf den Weg bringen, werden wir ihm zurufen: Sie, Stefan, Sie können zukünftig wählen, Ihre Teilnahme als Staatsbürger an diesem Land steht zukünftig nicht mehr unter Vorbehalt. – Ich glaube, das ist eine gute Botschaft, ({1}) welche wir den vielen Menschen, den 80 000, mitgeben, die bislang vom Wahlrecht ausgeschlossen waren. ({2}) Wie sieht das inklusive Wahlrecht zukünftig aus? Diese Koalition wird die Wahlrechtsausschlüsse streichen, im Bundestagswahlrecht und im Europawahlrecht. Ja, wir haben lange gerungen – auch mit uns selbst –, ob wir eine Prüfung der Wählbarkeit einführen sollten oder nicht. Ich persönlich sage, dass es richtig ist, auf eine solche Prüfung zu verzichten, ({3}) weil das Wahlrecht als Recht eines jeden Staatsbürgers, an dieser Willensbildung per Wahl teilzunehmen, letzten Endes nicht von einer Überprüfung durch Dritte abhängen kann. ({4}) Deswegen müssen wir auf diese Prüfung verzichten, auch wenn es im Rahmen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts hier vielleicht einen gewissen Spielraum gegeben hätte. Aber die Frage wäre immer gewesen: Wie organisieren wir eine solche Prüfung? ({5}) Und: Ja, wir wissen auch, dass Assistenz für Menschen mit Behinderung auch beim Wahlakt möglicherweise noch notwendig sein wird. Aber durch die zukünftige Verankerung im Strafrecht machen wir klar und deutlich, dass es hier nicht um irgendetwas geht, sondern dass es auch strafbewehrt sein wird, wenn ein Betreuer oder jemand anderes seine Macht über den Betreuten so missbraucht, dass der Betreute so wählt wie der Betreuer und nicht, wie er wollte. Ich glaube, da müssen wir auch durch das Strafrecht die Ehrlichkeit und die Lauterkeit der Wahl klar und deutlich schützen, und da machen wir uns auch auf den Weg. ({6}) Die letzte offene Frage ist die nach der Europawahl. Wenn es nach mir und nach vielen Kolleginnen und Kollegen ginge, würden wir natürlich bereits zur Europawahl diesen Wahlrechtsausschluss beseitigen. Wir haben hier aber ein verfassungsrechtliches Problem, und das dürfen wir nicht von vornherein auf die leichte Schulter nehmen. Wahlrecht im Sinne der Allgemeinheit der Wahl setzt aktives und passives Wahlrecht voraus. ({7}) Wenn wir jetzt aber zu einem Zeitpunkt, zu dem die Wahllisten bereits eingereicht sind – heute hat der Bundeswahlleiter getagt –, auf einmal das aktive Wahlrecht öffnen, aber das passive Wahlrecht nicht geöffnet haben, dann fallen hier aktives und passives Wahlrecht auseinander. Ich glaube, das wäre keine gute Entscheidung. Auch sollten wir sehr stark darauf achten, was die Venedig-Kommission, die Kommission für Demokratie durch Recht des Europarats, gesagt hat. Hier gibt es eine klare Empfehlung an die Mitgliedstaaten, dass das Wahlrecht ein Jahr vor einer Wahl nicht geändert werden soll. In vielen Punkten und in vielen Teilen der politischen Debatte ist uns die Ansicht der Venedig-Kommission sehr wichtig, gerade wenn es um Rechtsstaatlichkeit in Mittel- und Osteuropa geht: in Rumänien, Ungarn, Polen und anderen Staaten. In einer solchen Situation können wir uns doch nicht von einer Empfehlung der Venedig-Kommission absetzen. Ich glaube, auch wenn es für diese Europawahl wehtut: Aus verfassungsrechtlichen Gründen können wir es diesmal nicht schaffen. Wir werden aber sicherstellen, dass zu allen künftigen Wahlen auf Bundesebene, Bundestagswahl und Europawahl, im Interesse der Menschen und Staatsbürger, die vom Wahlrecht bislang ausgeschlossen waren, dieses Wahlrecht für sie gilt. Das ist eine Frage der Haltung und des inklusiven Wahlrechts. Das bringen wir auf den Weg. Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem Antrag. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt spricht jetzt der Kollege Dr. Matthias Bartke, SPD-Fraktion. ({0}) Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen im Saal um Ruhe und Aufmerksamkeit.

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frage: Was haben die Länder Hamburg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Schleswig-Holstein und NRW jetzt schon gemeinsam? Antwort: All diese Länder haben das inklusive Wahlrecht bereits eingeführt. Und jetzt macht es auch der Bund. ({0}) Der Ihnen vorliegende Koalitionsantrag zur Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse ist das glückliche Ende einer sehr, sehr langen positiven Entwicklung, einer Bewusstseinsentwicklung. Diese allmähliche Bewusstseinsveränderung für die berechtigten Anliegen von Menschen mit Behinderung betrifft uns alle. Auch die SPD wurde gefragt: Wollt ihr wirklich Menschen wählen lassen, die eine Betreuung in allen Angelegenheiten haben? Antwort: Ja, das wollen wir. – Denn wir wissen, dass eine Behinderung nicht das politische Bewusstsein beeinträchtigt. Menschen mit Behinderung haben häufig ein ganz klares Gespür dafür, was sie politisch richtig und was sie politisch falsch finden. Und sie haben häufig auch eine ganz klare Meinung darüber, welche Partei sie gut finden. Meine Damen und Herren, man darf Menschen das Wahlrecht nicht vorenthalten, nur weil sie unter Vollbetreuung stehen. – Dieser Satz ist die Quintessenz der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung vom 29. Januar dieses Jahres. Rein rechtlich wäre es dem Gesetzgeber nach der Entscheidung des Gerichts nicht verwehrt gewesen, Individualprüfungen zur Wahlrechtsfähigkeit einzuführen; Herr Ullrich hat eben noch mal darauf hingewiesen. Ich weiß, dass unser Koalitionspartner lange mit diesem Weg geliebäugelt hat. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, möchte ich mich ausdrücklich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie diesen Weg am Ende nicht gegangen sind. Ich sage Ihnen: Es wäre der grundfalsche Weg gewesen. Keine Person und keine Institution auf der ganzen Welt haben das Recht, Menschen wegen irgendwelcher Eigenschaften das Wahlrecht abzusprechen. Der richtige Weg ist der, den wir jetzt gehen. Es ist der Weg, Menschen mit Behinderung von der Wahl nicht auszuschließen, sondern ihnen durch Unterstützung und Wahlassistenz die Ausübung ihres Wahlrechts zu ermöglichen. ({1}) Liebe behindertenpolitischen Sprecherinnen und Sprecher der Opposition, auch bei Ihnen möchte ich mich bedanken. Wir haben das Thema Wahlrechtsausschlüsse in vielen Sitzungen diskutiert, und die Diskussionen waren immer solidarisch und im Interesse der Betroffenen. Umso mehr tut es mir leid, dass wir Ihren Anträgen nicht zustimmen können. Frau Rüffer, ich weiß, dass sie wirklich gut gemeint sind; aber wie der Volksmund sagt: Gut gemeint ist häufig das Gegenteil von gut gemacht. ({2}) So ist es leider auch hier. ({3}) Sie möchten, dass die Vollbetreuten bereits bei der Europawahl in zwei Monaten wählen können. ({4}) Ich finde, das ist ein sehr verständliches Anliegen. Mit Ihrer vorgeschlagenen Rechtsänderung verändern Sie aber nicht nur den potenziellen Kreis der Wählerinnen und Wähler, sondern auch den der Kandidaten. Alle Parteien haben ihre Kandidaten für die Europawahl aber längst aufgestellt. Sie wollen also nach Aufstellung der Kandidaten, aber noch vor der Wahl die Regularien für das passive Wahlrecht verändern. Das ist ein absolut unzulässiger Eingriff in die Kandidatenaufstellung der Europawahl. Ich sage Ihnen: Das geht gar nicht. ({5}) Die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht, die sogenannte Venedig-Kommission, hat aus gutem Grunde festgestellt, dass Wahlrechtsänderungen nur bis ein Jahr vor der Wahl stattfinden dürfen. Herr Beeck, wenn wir Ihren Änderungen des Europawahlgesetzes zustimmen würden, so hätte das mit Sicherheit eines zur Folge, nämlich die nächste Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. ({6}) Die Koalition wird daher in den nächsten Wochen ein Gesetz vorlegen, das erst nach der Europawahl, nämlich am 1. Juli 2019, in Kraft tritt. Meine Damen und Herren, abgesehen von diesem Dissens möchte ich am Ende doch eines betonen: Wir haben es gemeinsam geschafft, einen großen überparteilichen Konsens für die Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse herzustellen. Daher sage ich mit großer Freude: Heute ist ein guter Tag für die Inklusion. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden so lange streiken, bis ihr etwas ändert. – Das sind die Worte der Schülerin Greta Thunberg, die seit Monaten für mehr Klimaschutz streikt. ({0}) Heute sind Hunderttausende junger Menschen weltweit auf die Straße gegangen, ({1}) um für ihre Zukunft zu kämpfen – in über 1 600 Städten weltweit, ({2}) in über 100 Ländern. Es ist ein unglaublich starkes, ein unglaublich positives Signal. ({3}) Das ist ein Appell, der sich an die demokratischen Parteien hier in diesem Hohen Hause richtet. ({4}) Das ist ein Appell, der sich an uns Politikerinnen und Politiker richtet, damit wir unserer Aufgabe gerecht werden, dafür zu sorgen, diesen Planeten bewohnbar zu halten, dafür zu sorgen, dass die jungen Menschen, die so strebsam für ihre Zukunft kämpfen, eine gute Zukunft haben, dafür zu sorgen, dass ihre Lebensgrundlagen erhalten werden. Dieser Appell ist Auftrag an uns alle, endlich Maßnahmen zu ergreifen, damit diese Schülerinnen und Schüler nicht mehr für ihre Zukunft streiken müssen. ({5}) Aber was macht die Große Koalition? Was macht diese Bundesregierung? Anstatt diesen Protest als Anlass zu nehmen, endlich echte Maßnahmen beim Klimaschutz zu ergreifen, fängt sie eine äußerst seltsame Debatte darüber an, ob diese jungen Menschen nicht besser zur Schule gehen sollten. ({6}) Man kann nur eines feststellen: Wer als junger Mensch so strebsam, so ehrgeizig für seine Zukunft kämpft, der wird auf alle Fälle auch seine Ziele in der Schule erreichen. Um diese jungen Menschen mache ich mir, ehrlich gesagt, keine Sorgen. ({7}) Ich würde von dieser Bundesregierung erwarten, dass sie endlich echte Maßnahmen ergreift; denn sie befindet sich nicht auf dem Pfad, die Pariser Klimaschutzziele einzuhalten. Die Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass der Windkraftausbau im letzten Jahr um mehr als die Hälfte eingebrochen ist. Die Bundesregierung beginnt auch nach dem Bericht der Kohlekommission nicht damit, endlich den Kohleausstieg umzusetzen. Im Verkehrsbereich hat Frau Merkel mal versprochen, dass 1 Million Elektrofahrzeuge, emissionsfreie Fahrzeuge, bis zum Jahr 2020 auf unseren Straßen sind. Bis zum Jahr 2018 waren es 53 000 Fahrzeuge. ({8}) Von einer funktionsfähigen Bahn, von wirksamen Maßnahmen zur Energieeinsparung im Gebäudebereich oder in der Landwirtschaft wollen wir gar nicht reden. Frau Merkel hat stattdessen die Streiks der Schülerinnen und Schüler als „sehr gute Initiative“ bezeichnet. Aber ich frage mich: Wo ist denn die sehr gute Initiative der Bundesregierung? ({9}) Ich hätte eine große Bitte an die nachfolgenden Redne­rinnen und Redner der Großen Koalition: Bitte kommen Sie nicht mit dem Argument daher, dass das Klimakabinett die sehr gute Initiative ist. ({10}) Man hat nämlich den Eindruck, diese Bundesregierung agiert nach dem Motto: Wenn ich nicht mehr weiterweiß, gründe ich einen Arbeitskreis. Aber ich benenne es noch mit dem schönen, hochtrabenden Namen „Klimakabinett“. ({11}) Handeln Sie endlich! Das erwarten diese jungen Menschen von uns. ({12}) Die Schülerinnen und Schüler streiken jetzt seit einigen Wochen in Deutschland, regelmäßig am Freitag. Das Problematische ist aber – darüber sollte sich insbesondere die Unionsfraktion mal Gedanken machen –, dass sich die Bundeskanzlerin und die unionsgeführte Regierung jetzt seit 14 Jahren im Bummelstreik befinden im Hinblick auf die Umsetzung von echten Klimaschutzmaßnahmen. ({13}) Das ist das Problem, über das Sie sich unterhalten sollten. ({14}) Über 20 000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützen die Forderungen der Schülerinnen und Schüler. ({15}) Das sind die Profis, auf die Sie hören sollten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. ({16}) Für all diejenigen, die sich Sorgen machen, weil die Schülerinnen und Schüler freitags im Moment nicht zur Schule gehen, habe ich einen ganz einfachen Tipp: Fangen Sie endlich mit wirksamem Klimaschutz an! Dann können die Schülerinnen und Schüler auch wieder guten Gewissens freitags zur Schule gehen. ({17}) Dann müssen sie nicht mehr für ihre Zukunft kämpfen. ({18}) Das wäre eine sinnvolle Maßnahme. Das ist der Auftrag an die Große Koalition. Fangen Sie endlich an! Vielen Dank. ({19})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Bundesregierung Bundesministerin Anja Karliczek. ({0})

Anja Karliczek (Minister:in)

Politiker ID: 11004323

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Oft höre ich: Die Schüler sitzen ja heute nur noch vor dem Computer. – Ja, sie sind digital unterwegs. Aber viele von ihnen tun im Netz etwas sehr Vernünftiges und sehr Wertvolles: Sie informieren sich. Die jungen Menschen heute haben ein Ohr für die Argumente der Wissenschaft. Deswegen gehen sie auf die Straße und demonstrieren in vielen Ländern Europas für mehr Klimaschutz. ({0}) Ich muss sagen: Ich freue mich darüber; denn es zeigt, dass es um unsere Jugend sehr gut bestellt ist. Ihr Engagement für Klimaschutz ist bemerkenswert und nicht selbstverständlich. Die jungen Menschen zeigen damit Weitsicht und Verständnis für globale Zusammenhänge, und sie wissen: Es geht um ihre Zukunft. ({1}) Und mal ehrlich: Sich für etwas zu engagieren, davon lebt unsere Demokratie. ({2}) Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt die Schulpflicht; denn in der Schule wird die Grundlage für ein selbstbestimmtes und verantwortungsbewusstes Leben gelegt. Die Schule trägt im Übrigen auch dazu bei, etwas zu erwerben, das für den Schutz unseres Klimas wichtig ist: Wissen um Zusammenhänge, Erkenntnisse und Handlungsoptionen. In der Schule lernen die Kinder, warum das Klima gefährdet ist, ({3}) durch welche Faktoren es beeinflusst wird, wie Forscher verschiedene Klimamodelle berechnen und dass man dafür Mathematik, Physik und Informatik braucht. In der Schule wird die Grundlage dafür gelegt, dass sie selbst Lösungen für die gewaltigen Herausforderungen entwickeln können, vor denen die Menschheit steht. ({4}) Eine solch gewaltige Herausforderung ist auch der Klimawandel. Wir werden den Klimawandel nur bewältigen, wenn wir uns zusammentun, wenn wir uns auf unsere Stärken besinnen, auf unsere Innovationskraft ({5}) und auf die Stärke unserer Forschung. Wir setzen auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Forschung vorantreiben. Nur so lernen wir, unser Klima zu schützen. Welche Innovationen, welche Vernetzungen und welche veränderten Lebens- und Arbeitsweisen brauchen wir? Deshalb ist es auch richtig und wichtig, dass sich Wissenschaftler wie die Scientists for Future öffentlich einbringen. Wir brauchen ihr Engagement. Wir brauchen und fördern ihre Lösungsoptionen für eine nachhaltige Zukunft. ({6}) Forschung und Innovation sind nach wie vor die Instrumente, die uns helfen können, den Wandel zu gestalten. Seitdem unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel im Amt ist, haben wir 5 Milliarden Euro in die Forschung für mehr Nachhaltigkeit investiert. ({7}) Forscherinnen und Forscher arbeiten mit Hochdruck am Klimaschutz, ({8}) an einer sauberen, sicheren und bezahlbaren Energieversorgung, an einer Kreislaufwirtschaft, die unsere Ressourcen schont, an Lösungen für CO 2 -intensive Indus­trien und an den Lösungen für den wachsenden Verkehr. ({9}) Vieles ist schon auf dem Weg, und zwar schon lange und nicht erst seit den Protesten. Der Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung steht. In 30 Jahren wollen wir klimaneutral wirtschaften. Das ist das Ziel. ({10}) Dass die Bundesregierung es ernst mit dem Klimaschutz meint, zeigt sich auch an der Entscheidung, ein Klimakabinett einzurichten, ({11}) und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir den Wandel positiv gestalten können. ({12}) Klimaschutz, Wohlstand und eine starke Wirtschaft sind keine Gegensätze. Sie gehören zusammen. ({13}) Grüne Technologien schaffen neue Exportchancen für unser Land, und das hilft Umwelt und Wirtschaft. Ich freue mich sehr darüber, dass die jungen Menschen für ihre Zukunft, für unsere Zukunft demonstrieren. ({14}) Lassen Sie uns gemeinsam mit ihnen unsere Schöpfung bewahren – nicht nur freitags, sondern an allen Tagen der Woche. ({15})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD Dr. Götz Frömming. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! „Wofür lernen, wenn es keine Zukunft gibt?“ Das stand auf den Plakaten der Demonstranten. No Future – das kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich denke zurück. Anfang der 80er-Jahre, am 22. Oktober 1983, sind Hunderttausende nach Bonn gefahren, um gegen den drohenden Atomtod zu demonstrieren. Damals war ich 15 Jahre alt und stand mit vielen anderen Demonstranten auf der Wiese im Bonner Hofgarten. Viele Menschen hatten Angst vor einem Atomtod, und diese Angst übertrug sich vor allem auf junge Menschen, genauso wie heute die Angst vor dem Klimawandel und seinen möglichen Folgen. Doch es gibt einen Unterschied, meine Damen und Herren: Damals haben sich die mit der Regierungsverantwortung betrauten Männer, namentlich Helmut Schmidt und dann Helmut Kohl, nicht von dieser kollektiven Hysterie anstecken lassen. Sie haben das für Recht und richtig Erkannte durchgesetzt, nämlich den NATO-Doppelbeschluss, und das war rückblickend betrachtet auch gut so. ({0}) Heute, meine Damen und Herren, ist es leider umgekehrt. Höchste Regierungsvertreter handeln mehr nach Gefühl und öffentlicher Stimmung und weniger nach Verstand und Gesetz. Was schert uns der Maastricht-Vertrag, sagen sie, wenn wir Banken oder Staaten retten? Was schert uns das Dublin-Abkommen, wenn wir Flüchtlinge retten? Was schert uns die Schulpflicht, wenn wir das Klima retten? ({1}) Kurz gesagt: Sie scheren sich einen Kehricht um Recht und Gesetz, wenn nur die Gesinnung stimmt. ({2}) Oder wie soll man es verstehen, wenn die Bundeskanzlerin in ihrer Videobotschaft über die Fridays-for-Future-Demonstrationen sagt – Zitat –: „Ich glaube, das ist eine sehr gute Initiative“? Wenn Schüler jeden Freitag dem Unterricht fernbleiben, nennt das die Bundeskanzlerin eine sehr gute Initiative, und Kollege Pronold von der SPD – als Parlamentarischer Staatssekretär immerhin auch ein Vertreter der Regierung – lobt nicht nur den zivilen Ungehorsam der Schüler, sondern er geht da auch noch hin. ({3}) Und die Justizministerin will den Schülern zur Belohnung für ihr letztlich staatskonformes Verhalten sogar das Wahlrecht ab 16 schenken. Meine Damen und Herren, was würden Sie eigentlich sagen, wenn die Schüler während des Unterrichts zu einer Pegida-Demonstration gingen? ({4}) Das frage nicht ich, das fragt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger. Meine Damen und Herren, Schüler und Eltern, die die Schulpflicht in der Vergangenheit versäumten, weil sie es beispielsweise abgelehnt haben, an einem Moscheebesuch teilzunehmen, weil sie es beispielsweise abgelehnt haben, dass ihre Kinder schon in der Grundschule mit Frühsexualisierung traktiert werden, sind mit allen Mitteln des Rechtsstaats verfolgt worden. Es wurden Zwangsgelder verhängt und die Kinder sogar zeitweise den Eltern entzogen. ({5}) Meine Damen und Herren, wenn die Gesinnung stimmt, dann ist die Missachtung der Schulpflicht für Kanzlerin und Justizministerin plötzlich kein Problem mehr. ({6}) Das geht so nicht. Das Recht muss immer über der Ideologie und die Verantwortung immer über der Gesinnung stehen. Das wusste schon Max Weber. So wie sich unsere Regierung – zumindest ein Teil – verhalten hat, ist sie ein schlechtes Vorbild für unsere Jugend. ({7}) Mal abgesehen davon: Wo gibt es denn eigentlich so etwas, dass man mit dem Segen der Regierung demonstriert oder streikt? Das ist bei Schülern sowieso sehr absurd. Gegen wen, wenn nicht gegen sich selbst, sollen Schüler eigentlich streiken? In Demokratien demons­triert man gegen die Regierung. Demonstrationen mit und nicht gegen die Regierung kennen wir nur aus Diktaturen: aus der DDR, aus Nordkorea oder Kuba. ({8}) Da ich nicht annehmen möchte, dass sich – vielleicht mit Ausnahme der SED-Nachfolgepartei – irgendjemand in diese Tradition stellen will, muss ich fragen, wie sich dieses schizophrene Verhalten der Regierung erklären lässt. ({9}) Das ist, wie schon in der Vergangenheit, wieder mal das „Prinzip Merkel“: Man stellt sich an die Spitze einer Bewegung, um ihr letztlich die Spitze zu nehmen und sie ins Leere laufen zu lassen. Folgeschäden für unser Land werden kaltschnäuzig in Kauf genommen. ({10}) Meine Damen und Herren, zu Recht haben wir als AfD die neutrale Schule angemahnt, und wir mahnen sie auch heute wieder an. Wir fordern die Regierung und alle nachgeordneten Behörden auf, die Schulpflicht konsequent durchzusetzen und sich ansonsten aus den Demons­trationen herauszuhalten. ({11}) Wenn Sie das nicht wollen, sind wir gerne bereit, darüber zu diskutieren, ob wir in Deutschland eine Bildungspflicht statt einer Schulpflicht brauchen. Ich wette allerdings, dass Sie gar nicht darüber reden wollen, weil Sie fürchten, dass die Einflussmöglichkeiten für den Staat auf die jungen Menschen geringer werden könnten. Lassen Sie mich schließen mit einer alten Volksweisheit – sie stammt nicht von Luther –: Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen – oder zur Schule gehen. Vielen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Bundesregierung die Bundesministerin Svenja Schulze. ({0})

Not found (Minister:in)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Als ich Schülerin war, habe ich gegen Atomkraft demonstriert. Ich habe damals miterlebt, wie viele, auch wie viele junge engagierte Menschen von Teilen der Politik an den Rand gedrängt wurden. Damals hat man uns vorgeworfen, wir wären Fortschrittsfeinde. Dabei ging es uns darum, eine Alternative zu finden zu diesem zerstörerischen Fortschrittsmodell. Deshalb finde ich es gut, wenn heute wieder angeblich so unpolitische junge Leute den Mund aufmachen, wenn sie auf die Straße gehen, wenn sie demonstrieren. Das ist Demokratie. ({0}) Wir erleben eine Jugendbewegung, die sich mit hohem Tempo dynamisiert, die sich mobilisiert, die international vernetzt ist. Das ist gut für unsere Demokratie. ({1}) Ja, die jüngere Generation unternimmt hier einen Weckruf. ({2}) Er richtet sich hauptsächlich an uns Ältere, an uns Entscheiderinnen und Entscheider der älteren Generation. ({3}) Ich bin dankbar dafür; denn ihr Anliegen ist der Klimaschutz, und das ist ein wichtiges Anliegen. Es ist eine Generationenfrage. Es geht vor allen Dingen um die Zukunft, gerade der jüngeren Generation. ({4}) Meine Damen und Herren, die Schülerinnen und Schüler reihen sich damit genauso wie die Petition der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in eine sehr breite gesellschaftliche Bewegung ein, die von der Politik, vom Deutschen Bundestag einfordert, mehr für den Klimaschutz zu unternehmen. Die Profis haben sich längst an die Seite von Fridays for Future gestellt. ({5}) Und sie haben recht: Wir können nicht auf Kosten anderer oder auf Kosten der nachkommenden Generationen leben, die dann ungleich teurere Anpassungsmaßnahmen ergreifen müssen oder womöglich gar nichts mehr retten können. ({6}) Im Gegenteil: Wir brauchen einen neuen Generationenvertrag, der den Klimaschutz über die nächsten Jahrzehnte auch wirklich garantiert. ({7}) Noch haben wir die Möglichkeit, den Schalter umzulegen. Mit dem Kohleausstieg und dem Klimaschutzgesetz gibt es auch schon zwei ganz wichtige Bausteine. Damit will ich darauf hinweisen: Es stimmt nicht, dass gar nichts passiert. Wir haben das Abkommen von Paris. Dieses hatte natürlich einen langen Vorlauf. Weltweit haben sich die Staaten aber auf einen Weg für eine bessere Zukunft gemacht. Und das ist gut, auch wenn vieles natürlich noch schneller gehen müsste. ({8}) Hier in Deutschland haben wir gerade einen sehr erfolgreichen Prozess mit der Kohlekommission beschlossen. Wir haben beschlossen, in weniger als 20 Jahren aus der Kohleverstromung auszusteigen und das parallel zum Ausstieg aus der Atomkraft zu tun. ({9}) Das ist für manchen vielleicht zu spät. Aber das ist genau der richtige Weg. Wenn es uns gelingt, die Nutzung der erneuerbaren Energien und die Netze schneller auszubauen, dann können wir auch früher aus der Kohle aussteigen. Deswegen müssen wir alles daransetzen, dass es uns gelingt, die Erneuerbaren schneller nach vorne zu bringen. ({10}) Der Kohleausstieg ist Teil der Klimaschutzgesetzgebung, wie wir sie derzeit diskutieren. Mit meinem Entwurf für ein Klimaschutzgesetz will ich, dass es klare Verantwortlichkeiten gibt. Alle Bereiche brauchen klare Einsparziele, damit wir das gemeinsame Ziel bis 2030 auch wirklich erreichen können. Jahresemissionsmengen soll es auch deshalb geben, weil die europäische Klimaschutzverordnung jährliche Emissionsbudgets für die Mitgliedstaaten vorsieht. Deshalb macht es Sinn, das auf Deutschland herunterzubrechen. Es dürfte doch wirklich jedem einleuchten, dass es sinnvoller ist, aktiv in die ökologische Modernisierung unserer Wirtschaft zu investieren, statt abzuwarten oder anderen Ländern Emissionsrechte abkaufen zu müssen oder das Geld für die Folgen aufzuwenden. ({11}) Meine Damen und Herren, kein Klimaschutz – das wird auf Dauer sehr, sehr teuer, und das können und sollten wir uns nicht leisten. ({12}) Ich bin deshalb sehr froh, dass der Koalitionsausschuss gestern beschlossen hat, ein Klimakabinett einzusetzen. Das zeigt: Die ganze Bundesregierung nimmt die Klimaschutzziele sehr ernst. ({13}) Das ist das, was ich immer wieder eingefordert habe: Für den Klimaschutz ist nicht alleine die Umweltministerin zuständig. Klimaschutz ist eine gemeinsame Aufgabe für uns alle. ({14}) Der Beschluss von gestern Abend unterstreicht doch noch einmal, dass wir in diesem Jahr die gesetzlichen Maßnahmen zur verbindlichen Erreichung unserer Klimaschutzziele beschließen werden. Andrea Nahles hat gesagt: Die Bundesregierung wird 2019 zum Klimajahr machen. ({15}) Ich finde, besser kann man es nicht ausdrücken. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns den Protest der Schülerinnen und Schüler als einen weiteren Ansporn nehmen, hier eine gute Gesetzgebung mit ambitionierten Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Dass wir diese Aufgabe erfolgreich anpacken können, hat die Kohlekommission schon gezeigt. Es ist gelungen, Klimaschutz, Arbeit und Strukturwandel zusammenzudenken. Es ist uns gelungen, zu zeigen, dass das eine nur in der Kombination mit dem anderen nach vorne gebracht werden kann. Ich finde, die Kohlekommission ist ein gutes Beispiel für einen gesellschaftlichen Kompromiss. Solch einen Kompromiss brauchen wir eben auch in den anderen Bereichen. Meine Überzeugung ist: Wir sollten uns gemeinsam Mut machen, uns nicht auf zu vielen Nebenkriegsschauplätzen verkämpfen. Wir müssen viel stärker als bisher auch über die Chancen diskutieren, viel mehr über die Möglichkeiten sprechen, die mit dieser Transformation verbunden sind – und zwar mit den Schülerinnen und Schülern, mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und natürlich auch hier im Deutschen Bundestag. Ganz herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege Dr. Lukas Köhler für die Fraktion der FDP. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Schülerinnen und Schüler! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Zu Recht wird in der gesamten Diskussion über Fridays for Future gefordert, dass wir die Schülerinnen und Schüler ernst nehmen sollten. Doch statt sich tatsächlich mal mit ihnen und ihren Forderungen auseinanderzusetzen, wird entweder vom Thema abgelenkt, oder die Jugendlichen werden instrumentalisiert. ({1}) Natürlich kann man darüber diskutieren, ob es in Ordnung ist, die Schule zu schwänzen. Das finde ich – das muss ich allerdings zugeben – relativ langweilig. Sicherlich nutzt ein Teil der Schüler die Demos dazu, nicht zur Schule zu gehen. Aber das ist doch nicht der Punkt. Natürlich müssen sie mit den Konsequenzen leben und diese akzeptieren. Ich denke aber auch, dass sich hier das große Engagement der Schülerinnen und Schüler zeigt. ({2}) Ich glaube, das ist der zentrale und wichtige Teil, den wir hier aufgreifen müssen. Während die einen aber mit dieser Schulzschwänzerdebatte vom eigentlichen Thema ablenken wollen, versuchen die anderen, auf der populistischen Welle mitzuschwimmen und die Schülerinnen und Schüler zu instrumentalisieren. Und das ist nicht weniger falsch. Wie oft habe ich in den letzten Wochen gehört: Mensch, super, dass ihr auf die Straße geht! Endlich gibt es wieder eine politische Generation! Toll macht ihr das! Zeigt uns Politikern doch mal so richtig, wie es geht! Mensch, ihr habt so recht, es ist so schrecklich; die Welt ist so schlimm! – Ich halte das für verwerflich; denn es instrumentalisiert die Schülerinnen und Schüler. Vor allen Dingen aber ist es paternalistisch, weil es sie nicht ernst nimmt. Das ist das Problem. ({3}) – Ich weiß, es tut weh. – Das, meine Damen und Herren, hat mit Ernstnehmen überhaupt nichts zu tun. Das ist purer Paternalismus. Davon sollten wir wegkommen. ({4}) Ich will diese Schülerinnen und Schüler ernst nehmen, und das bedeutet, dass wir einerseits über ihre Ängste und Sorgen sprechen müssen, dass wir aber auf der anderen Seite – Stichwort „ernst nehmen“ – auch ihre Forderungen anschauen müssen. Darüber sollten wir sprechen, ({5}) und zwar nicht unter dem Motto: Oh, die armen Kinder sollten wir nicht kritisieren. – Das hört man nämlich sehr schnell von denjenigen, die exakt deren Meinung sind. Und das ist tatsächlich ein Problem. Es ist der Abgesang auf die Demokratie, wenn wir Kritik an bestimmten Positionen nicht akzeptieren können. Hier sollte jeder seine Argumente mal hinterfragen. ({6}) Zum Glück gab es gestern im Umweltausschuss ein Berichterstattergespräch mit einigen Vertreterinnen und Vertretern der Demonstranten von Fridays for Future. Es wurde ganz konkret über Forderungen gesprochen. Die erste Forderung war die Forderung nach mehr, schnellerem und radikalerem Klimaschutz. Bei mehr und schnellerem Klimaschutz sind die meisten Fraktionen in diesem Haus einer Meinung. Ich habe aber mal nachgefragt, was radikalerer Klimaschutz denn bedeuten soll und ob damit gemeint ist, dass zum Beispiel auf die Atomenergie zu setzen ist. Damit wäre zumindest eine CO 2 -neutrale Energiequelle gegeben. ({7}) Nein, so radikal waren die Schülerinnen und Schüler doch nicht. Das finde ich übrigens auch gut. ({8}) Dann habe ich mal gefragt, ob wir nicht die Speicherung von CO 2 vorantreiben sollen. Das war dann aber auch irgendwie nicht recht. ({9}) Wenn ich mir den IPCC-Bericht zum 1,5-Grad-Ziel anschaue, dann muss ich sagen: Es gibt nur diese beiden Optionen, wie wir dahin kommen können. ({10}) Das bedeutet doch, dass wir uns damit auseinandersetzen müssen. Wenn ich das ernst nehme, muss ich in die Diskussion einsteigen und erklären, warum „Wünsch dir was“ im Klimaschutz nicht funktioniert. ({11}) Und das tue ich gerade, weil ich die Schülerinnen und Schüler ernst nehme. Das tue ich, weil ich sie für klug genug halte, die Zusammenhänge zu verstehen. Das tue ich aber auch, weil ich herausfinden will, welche Forderungen sie wirklich an die Politik stellen. ({12}) Meine Damen und Herren, wir haben oft genug gehört: Die Uhr steht auf fünf vor zwölf. Wenn ich mal so zurückdenke, muss ich sagen: Meine besten Nächte haben um fünf vor zwölf angefangen. ({13}) Meine Damen und Herren, Mut, Gestaltungswille, Optimismus, das sind die Positionen, mit denen wir die Zukunft retten können, das sind die Positionen, mit denen wir Klimaschutz betreiben können; denn ich bin überzeugt, dass wir die Probleme noch lösen können, und das, bevor es zu spät ist. Da müssen wir hin. ({14}) Aber einer der Teilnehmer hat gestern was sehr Richtiges gefordert: Er hat uns aufgefordert, mal zu überprüfen, ob unsere Europawahlprogramme denn auch wirklich mit dem 1,5-Grad-Ziel konform gehen können. Zum Glück kann ich für die FDP sagen, dass das der Fall ist. ({15}) – Ja, schauen Sie mal rein. – Wir können klar sagen, dass dieses Ziel mit unserer Forderung nach einer Ausweitung des Emissionszertifikatehandels und der Koppelung an das Net-Zero-Ziel erreicht wird, und zwar eindeutig. Das sagt übrigens auch die Bundesregierung. ({16}) Nur darüber zu diskutieren, welche Panik es gibt, das ist zu wenig. Meine Damen und Herren, wer die Apokalypse herbeireden will, der kann das von mir aus sehr gerne tun. Ich bin dafür, dass wir sie hier gemeinsam verhindern. Lassen Sie uns daran arbeiten. Herzlichen Dank. ({17})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Liebe Schülerinnen und Schüler! Die Klimaänderungen sind eine der größten Gefahren für die Menschheit. Der erforderliche Strukturwandel muss jetzt beginnen. – Sie meinen, diese Aussage stammt von den heutigen Demos von Fridays for Future? Oder meinen Sie, das stammt von dem, was wir als Linke und als Grüne selbstverständlich auch hier im Bundestag Woche für Woche erzählen? Nein, weit gefehlt! Das stammt aus dem Jahr 1987, aus einem Appell deutscher Meteorologinnen und deutscher Physikerinnen. Man konnte es schon damals tun, aber man hat bis heute nicht ausreichend gehandelt; das ist das Problem. ({0}) In fast allen Staaten weltweit haben wir heute Demos von Fridays for Future erlebt. Wir haben heute Hunderttausende, vielleicht Millionen von jungen Menschen erlebt, die voll Mut, voll Entschiedenheit auf die Straßen gegangen sind. Und sie haben genau das gesagt, was die Wissenschaftlerinnen schon 1987 eingefordert haben: Es muss jetzt gehandelt werden. ({1}) Zusammen mit vielen Kolleginnen und Kollegen war ich heute in Berlin beim Klimastreik dabei. Ich muss Ihnen sagen: Ich hatte tatsächlich Gänsehaut und sicher viele, die mit mir dort an der Stelle standen, auch, ({2}) Gänsehaut wegen der Kreativität und der Entschiedenheit, mit der dort eingefordert wird, unsere Lebensgrundlagen und die der kommenden Generationen zu erhalten. Das ist es, worum es hier geht. Herr Köhler und Frau Karliczek, ich hätte mich sehr gefreut, Sie vielleicht auch dort zu sehen. ({3}) Vielleicht kommen wir ja in eine Situation, wo der Druck so groß ist, dass selbst Sie gezwungen sind, sich dorthin zu bewegen und dort das Gespräch zu suchen. Das wäre doch mal eine spannende Sache. ({4}) Ich stelle den Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP einfach mal die Frage: Woran hapert es denn? Das fehlende Wissen kann es nicht sein. Wir wissen spätestens seit 30 Jahren, wie schlimm es steht und was wir tun müssten. Das ist nicht das Problem. Wo liegt also das Problem? Statt die Schülerinnen und Schüler aus vollem Herzen zu unterstützen, erleben wir hier gleich zu Beginn dieser Aktuellen Stunde ein Gepöbel aus den Reihen von Union, FDP und AfD. Das ist erbärmlich, und ich hoffe, das erleben wir hier an dieser Stelle nicht noch einmal. ({5}) Es wurde ja immer wieder gesagt, die Jugend sei so unpolitisch und sie würde nur bei Netflix hängen oder an ihren Smartphones. Seit letztem Jahr erleben wir das Gegenteil. Seit letztem Jahr erleben wir bei „Wir sind mehr“, wie junge Menschen gegen Nazis auf die Straße gehen. Seit letztem Jahr erleben wir bei „Hambi bleibt!“, bei „Ende Gelände“, wie junge Menschen für den Kohleausstieg, für den Erhalt des Hambacher Forstes auf die Straße gehen. ({6}) Und bei der „Seebrücke“ erleben wir, wie junge Menschen gegen Rassisten, gegen den Tod im Mittelmeer und für sichere Häfen auf die Straße gehen. Das ist die Zukunft. ({7}) Worum es hier geht, ist nicht die Schulpflicht oder etwas Ähnliches. Es geht hier um lebendige, gelebte Demokratie. Ein Lehrer, Egon Goldschmidt aus Bingen, hat mir zum Thema „Lebensnahes und nachhaltiges Lernen“ geschrieben. Was lernen denn die streikenden Schülerinnen? Sie lernen organisieren, mobilisieren, diskutieren, sich vernetzen, sinnvolle Verknüpfung untereinander, internationalen Austausch, Pressearbeit, Umgang mit Medien, kreatives Gestalten, Reden schreiben, Ansprachen halten. Was wir hier erleben, ist Demokratie. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und von der FDP, nehmen Sie sich ein Beispiel an den Schülerinnen und Schülern. Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Profis, an den Wissenschaftlerinnen, und machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben. ({9}) Und an die Rechtsradikalen, an die Rassistinnen und Rassisten hier im Hohen Hause richte ich mal die Frage: ({10}) Was könnten wir denn tatsächlich verlieren, wenn wir wirksam Klimaschutz betreiben? Wir würden in einer gesünderen Umwelt leben. Wir würden eine Verkehrswende bekommen, die die Städte sauberer macht, die den Strom sauberer macht. Wir würden regionale und nachhaltige Lebensmittel bekommen. Wir würden bewusst leben, produzieren, wirtschaften und konsumieren. Aber das wollen Sie ja gar nicht. Sie wollen den Hass und die Angst; denn davon leben Sie. ({11}) Wir, die wir hier stehen bzw. sitzen, sind aufgefordert, uns zu entscheiden: Stehen wir an der Seite der Ewiggestrigen, oder stehen wir an der Seite der Zukunft, stehen wir an der Seite von Fridays for Future? ({12}) Viele hier im Hause haben sich entschieden. Wir werden gemeinsam diesen Weg gehen für einen raschen Kohleausstieg, ({13}) für eine Verkehrswende, für eine faire Handelspolitik, für Gerechtigkeit für den globalen Süden. Wir gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern können die Politik verändern. Fangen wir endlich damit an. Vielen Dank. ({14})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Anja Weisgerber für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja, Klimaschutz ist eine der zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, weil es darum geht, den nachfolgenden Generationen eine intakte Lebenswelt zu hinterlassen. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass sich junge Menschen mit dem Thema befassen, dass sie auf die Straße gehen, dass sie für eine verantwortungsvolle Klimapolitik demonstrieren; denn es ist auch ihre Zukunft. Wenn sie dies nach Schulschluss machen würden, dann hätte das aber noch viel mehr Gewicht, und es würde noch mehr wirken, meine Damen und Herren. ({0}) Das zeigt auch eine Demonstration bei mir im Wahlkreis. Bei mir, in Unterfranken, haben Ende Februar Demonstrationen am Nachmittag stattgefunden. Es waren mehrere Hundert Jugendliche da. Das hat einen großen Widerhall gefunden, auch bei uns in den Medien, und hat am Ende noch mehr Beachtung gefunden. ({1}) Deshalb der positiv formulierte Appell: Macht es! Setzt euch ein! Wenn ihr es aber am Nachmittag macht, dann hat es mehr Gewicht! ({2}) Was ist unsere Antwort auf die Schülerinnen und Schüler? Wir haben ein Aktionsprogramm Klimaschutz, mit dem wir schon hundert Maßnahmen auf den Weg gebracht haben. ({3}) Ich sage es Ihnen auch ganz klar: Meiner Meinung nach ist die Einsetzung eines Klimakabinetts genau der richtige Weg, weil sich die Fachminister an einen Tisch setzen, weil sie Teamgeist beweisen und zusammen die richtigen Maßnahmen – es geht ja auch um Sektorkopplung – auf den Weg bringen werden. Deswegen ist dies gestern eine gute Nachricht gewesen. ({4}) Auch wir wollen ein Klimaschutzgesetz, aber eines, das wirkt. Dazu stehen wir, und deswegen machen wir unsere Hausaufgaben und erarbeiten die konkreten Maßnahmen. Das läuft schon in den einzelnen Häusern, aber es ist besser, wenn sich die Ministerien noch intensiver vernetzen, ({5}) auch über Sektorkopplung, über die besten Technologien sprechen und sie letztendlich zusammen entwickeln. Nur mit konkreten Maßnahmen schaffen wir echten Klimaschutz, mit Maßnahmen, mit denen wir mit jedem eingesetzten Euro am Ende möglichst viel Klimaschutz bekommen, mit Maßnahmen, bei denen wir die Menschen mitnehmen und sie nicht bevormunden. Wir wollen finanzielle Anreize für die Menschen und die Industrie, damit sie in Klimaschutz investieren, damit sie sich für mehr Klimaschutz positiv entscheiden. Das, meine Damen und Herren, ist der richtige Weg. Gebote, Verbote und Strafen sind die Sackgasse. Das hilft uns nicht weiter bei der großen Aufgabe des Klimaschutzes. ({6}) Wir brauchen Anreize, auch im Verkehr. Autos brauchen neue Antriebe: elektrisch, mit Wasserstoff oder mit synthetischen Kraftstoffen; technologieoffen. ({7}) Der Umstieg muss für die Bürger finanziell attraktiv sein. Nur so gelingt der Einstieg in die Mobilität der Zukunft. Wir müssen der großen Herausforderung Klimaschutz auch im Verkehrsbereich mit den besten Technologien begegnen. ({8}) Auch da hat die Automobilindustrie eine Verantwortung. Sie muss sich an die Spitze der Bewegung setzen, was diese Technologieentwicklung angeht. Sie muss Technologieführer sein; denn es ist wirklich höchste Zeit. Das ist an dieser Stelle auch meine Botschaft an die Automobilindustrie. ({9}) Im Gebäudebereich ist und bleibt die wichtigste Maßnahme, dass wir ein Gesetz machen, damit Menschen Steuern sparen können, wenn sie ihr Haus energetisch sanieren und so einen Anreiz setzen. Dieses Instrument ist die niedrighängende Frucht, nach der wir endlich greifen müssen. Deswegen werde ich nicht müde, zu sagen: Finanzminister Olaf Scholz, legen Sie jetzt endlich dieses Gesetz vor. – Die Bundesländer müssen zustimmen. Sie werden, denke ich, auch zustimmen. Bayern und Nordrhein-Westfalen haben gemeinsam am Dienstag getagt und haben die Bundesebene aufgefordert, dieses Gesetz endlich auf den Weg zu bringen. Ich fordere erneut Minister Scholz auf, dieses Gesetz auf den Weg zu bringen, damit wir hier vorankommen, meine Damen und Herren. ({10}) Ein letzter wichtiger Baustein, den ich erwähnen möchte, ist die Reduzierung der Kohleverstromung. Wir müssen eines feststellen: Deutschland wird als Industrienation aus der Kernenergie aussteigen, die CO 2 -neutral ist. Wir gehen außerdem jetzt den Weg des Ausstiegs aus der Kohleverstromung. Es gibt kein Industrieland der Welt, das diesen Weg geht. ({11}) Wir sollten auch einmal positiv über diese Themen sprechen, weil wir mehr Klimaschutz wollen. Wir werden an den Maßnahmen arbeiten. Input aus der Opposition ist erwünscht. Diese Aufgabe ist zu groß, um sich darüber zu zerstreiten. Danke schön. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Marc Jongen für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Wenn Zehntausende Schüler auf die Straße gehen, um sich mit all ihrem jugendlichen Idealismus für eine gute Sache einzusetzen, dann muss einem eigentlich das Herz aufgehen – und ich meine das ganz ironiefrei –, besonders dann, wenn es um nicht weniger geht als die Rettung der Welt vor den Folgen der Profitgier und Verstocktheit der Erwachsenen. Im Fall der Fridays-for-Future-Proteste, die heute wieder hier in Berlin und andernorts stattgefunden haben, hat das allerdings ein arges Geschmäckle, wie man im Schwäbischen sagt, und nicht nur, weil auf einigen Transparenten stand: Ich wäre nicht hier, wenn Samstag wäre. ({0}) Von Bekannten weiß ich, wie das an Schulen abläuft: Der Vater eines Schülers ruft im Elternchat dazu auf, die Klasse seines Sohnes soll doch für die Proteste freigestellt werden. Es wird Druck auf die Lehrer und die Schulleitung ausgeübt, das Schulschwänzen zum guten Zweck der Klimarettung zu legitimieren. Lehrer, Eltern und Schüler, die sich widersetzen, ({1}) werden isoliert und an den moralischen Pranger gestellt, obwohl sie nichts anderes tun wollen, als Regeln und Gesetze einzuhalten. ({2}) Aber das ist ja kein Wunder in einem Land, wo sich die Kanzlerin höchstselbst hinstellt, diesen Menschen in den Rücken fällt und sagt: Ich unterstütze sehr, dass Schülerinnen und Schüler für den Klimaschutz auf die Straße gehen und dafür kämpfen. So erklärte sie es in ihrer opportunistischen Art in einer Videobotschaft. Meine Damen und Herren, so wird die Herrschaft es Unrechts im Namen einer gefühligen Hypermoral schon den Schulkindern eingeimpft. ({3}) Katarina Barley, SPD, setzt noch einen drauf. Sie meint, das allwöchentliche Schulschwänzen verdiene „hohen Respekt“. Wer so eine Justizministerin hat, braucht keine Rechtsbrecher mehr, meine Damen und Herren. ({4}) Schauen wir uns einmal die Gallionsfigur der Fridays-for-Future-Proteste, die 16-jährige Schwedin Greta Thunberg, näher an. Noch vor kurzem haben wir ja aus einer Broschüre der Amadeu-Antonio-Stiftung gelernt, vor Mädchen mit blonden Zöpfen müsse man sich in Acht nehmen, dahinter stecke meistens ein extremistisches Elternhaus. ({5}) Im Fall von Klima-Greta ist diese Warnung natürlich vergessen; denn es geht ja um die allerbeste Sache. Dabei wäre es gerade hier wichtig, genauer auf Hintermänner und ‑frauen zu schauen; denn es glaubt wohl kein Mensch hier im Saal, dass dieser unglaubliche Medienhype ohne geschäftstüchtige Eltern – Vater Svante ist nicht zufällig ein Drehbuchschreiber und Manager –, ohne findige NGOs und die mächtige Klimalobby möglich wäre. Das Mädchen mit dem Habitus einer 12-Jährigen wurde in Schweden schon zur „Frau des Jahres“ gewählt, jetzt wurde sie auch noch für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. ({6}) Das Ganze nimmt wahnhafte hysterische Züge an. ({7}) Im Grunde wird hier ein Kind in einer professionell inszenierten Kampagne missbraucht, in der es um Macht und sehr viel Geld geht – das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren –, ({8}) und zwar auch noch ein krankes Kind; denn es ist bekannt, dass Greta Thunberg am Asperger-Syndrom, ({9}) einer Form des Autismus, leidet. Was eigentlich privat wäre, ist hier tatsächlich politisch. ({10}) Der Fall Greta ist von höchster Symbolkraft für die wahnhafte Klimarettungspolitik im Ganzen, die immer mehr einer Zivilreligion gleicht mit Greta Thunberg als kindlicher Prophetin an der Spitze. ({11}) Das ist natürlich ganz nach dem Geschmack der Grünen, die uns ja permanent bekehren, belehren und erlösen wollen. ({12}) Asperger-Patienten pflegen ein extremes Schwarz-Weiß-Denken. ({13}) Das Abwägen und Differenzieren ist nicht ihre Sache. Aber gerade das wäre in der Klimapolitik das Entscheidende. Greta Thunberg steht auch ganz bewusst dazu. ({14}) Sie sagte auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos – Zitat –: Ich will, dass ihr in Panik geratet, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre. Kindermund tut Wahrheit kund, – ({15}) aber nicht die Wahrheit über die Erderwärmung – ({16}) da hat sich Greta auch nur das angelesen, was der Weltklimarat auf der Grundlage sehr fehleranfälliger Computermodelle verkündet –, sondern die Wahrheit über die Schuld- und Angstreligion, die die Grünen etablieren wollen, um ihre irrationale, für Deutschland zutiefst schädliche Klimapolitik durchzusetzen, meine Damen und Herren. ({17}) Im Licht der Vernunft wäre zu sagen: Die Atmosphäre besteht zu 0,038 Prozent aus CO 2 . ({18}) Davon produziert die Natur 96 Prozent, der Mensch 4 Prozent. Der Anteil Deutschlands daran ist 3,1 Prozent. Das macht 0,0004712 Prozent des CO 2 in der Luft, was wir in Deutschland produzieren. Und dafür leisten wir uns eine Energiewende, die mit 50 Milliarden Euro jährlich zu Buche schlägt, ({19}) riskieren die Deindustrialisierung und den großen Blackout in Deutschland und spielen uns als Klimaretter auf. Meine Damen und Herren, da müssen wir uns die Frage gar nicht mehr stellen, ob das CO 2 mitverantwortlich ist für die Erderwärmung. Das ist eine wahnhafte und – auch dafür steht der Fall Greta Thunberg zeichenhaft – eine infantile Politik. ({20}) Die ökologische Frage – ich komme zum Schluss –, die die jungen Menschen umtreibt, ist in der Tat zu wichtig, als dass wir sie auf diese irrationale Weise angehen dürfen. Lassen wir hier Vernunft und Augenmaß walten, nehmen wir auch die jungen Leute mit und treiben wir sie nicht in Angst und Hysterie hinein! Vielen Dank. ({21})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner in der Debatte ist Dr. Matthias Miersch für die Fraktion der SPD. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Jongen, ich will Ihre Rede nicht dadurch weiter aufwerten, dass ich lange darauf eingehe. ({0}) Aber das, was Sie eben, nach einer Abstimmung, wo wir das Wahlrecht gerade erweitert haben, um die Diskriminierung von Menschen mit Handicaps zu beenden, an diskriminierenden Worten verloren haben, ({1}) ist niederträchtig und gehört nicht in dieses Haus. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe mich im Namen der SPD-Bundestagsfraktion der Wertung des Präsidenten an: Die Proteste, die wir hier erlebt haben, sind nicht nur beeindruckend, sie sind auch richtig und notwendig. ({3}) Denn wir sehen natürlich, dass die große Menschheitsfrage, ob wir tatsächlich eine sozialökologische Transformation schaffen, offen ist. Sie ist nicht entschieden, weil natürlich auch in einer Demokratie die Meinungen über die Wege sehr weit auseinandergehen. ({4}) Wir sehen, welch verklärtes Denken teilweise sogar hier in diesem Parlament vertreten ist. Deswegen ist es wichtig, dass es gerade die Generation ist, um die es hauptsächlich geht, die sich jetzt artikuliert, sich jetzt zu Wort meldet und damit Unterstützung für all diejenigen gibt, die tatsächlich diese Transformation auf den Weg bringen wollen. ({5}) Lieber Lukas Köhler, ja, ich nehme diese jungen Menschen sehr, sehr ernst. Letzten Freitag hat sich beispielsweise bei mir im Wahlkreis eine Schule in Hemmingen, die auch noch Carl-Friedrich-Gauß-Schule heißt, einen Tag mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten bzw. mit diesen Aspekten beschäftigt und danach auch die politischen Verantwortlichen zum Diskurs geladen. Wenn man junge Menschen ernst nimmt, dann hätte ich auch von Ihnen erwartet, dass Sie dieses unsägliche Zitat Ihres Parteivorsitzenden korrigieren. Denn es ist eben jeder Profi in dieser Sache, und jeder muss sich in dieser entscheidenden Frage artikulieren. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, das ist deswegen so wichtig für den Weg, wie wir tatsächlich die Ziele erreichen, weil wir alle vor Ort tagtäglich erleben, dass es auf der Metaebene sehr einfach ist, Klimaschutz zu formulieren. Es wird aber dann problematisch, wenn es konkret wird. Wir alle begegnen den Argumenten: Wir sind gegen Atomkraft. Wir sind gegen die Kohle. Wir sind gegen ({7}) die Windenergie. Wir sind gegen die Stromtrassen. Aber wir wollen so weiterleben wie bisher, und bitte, Politiker, macht, dass das so geht! – So einfach wird es nicht sein. ({8}) Deswegen ist genau die Artikulation von jungen Leuten so wichtig; denn wir müssen uns im Miteinander jetzt über den besten Weg verständigen. Das ist, finde ich, die Hauptaufgabe auch von Zivilgesellschaft. Denn wenn eine Zivilgesellschaft stumm ist, dann bleibt letztlich auch ein Parlament stumm, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Ich glaube, Toni Hofreiter, dass wir eine Riesenchance haben. Denn wir haben mit der Kohlekommission das erste Mal etwas geschafft, was ich nicht für möglich gehalten hätte: dass die unterschiedlichsten Interessengruppen aufeinander zugehen und einen Pfad aufzeigen, den sie selbst alleine sicherlich nie gegangen wären, der aber belastbar ist, um in den kommenden Jahrzehnten tatsächlich einen Weg zu gehen. Das ist das Spannende – wenn ich das in die Schülerdiskussionen mit hineinnehme –: dass wir auch Empathie für die Beschäftigten zum Beispiel in der Kohle und in der Automobilindustrie brauchen. Aber das Entscheidende ist, dass wir begreifen – und da, finde ich, ist die Unnachgiebigkeit und auch die 100-Prozent-Forderung von Schülerinnen und Schülern wichtig und richtig –, dass wir mit diesem Planeten nicht verhandeln können. Die planetaren Grenzen haben wir Menschen zu akzeptieren. ({10}) Der Weg ist offen, aber die Grenzen – bzw. wie wir sie einhalten – stehen fest. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es wird diese Bundesregierung sein, die in diesem Jahr mit uns als Parlamentariern beweisen muss, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich erstmalig Klimaschutz gesetzlich verbindlich regeln. Ich begreife die Proteste als enorme Aufforderung, aber auch als Unterstützung für all die, die tatsächlich ein Klimaschutzgesetz mit Zähnen im Jahr 2019 hier verabschieden wollen. In diesem Sinne danke ich für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Lisa Badum für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Lisa Badum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004659, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich erwarte von euch im Bundestag, dass ihr die Verantwortung wahrnehmt, die ihr für unsere Generation habt. Unsere Zukunft liegt in euren Händen. Ich zitiere einen der Sprecher der Fridays-for-Future-Bewegung nicht, weil sie eine Fürsprecherin brauchen – sie haben heute laut, klar und deutlich gesprochen, mit über 300 000 Menschen in ganz Deutschland –, ({0}) sondern ich zitiere diesen Satz, weil er zeigt, worum es hier geht. Es geht nicht um Parteipolitik, sondern es geht darum, ob wir Abgeordnete eine Antwort auf diese globale Bewegung „Fridays for Future“ finden, ob wir lernfähig sind, ob wir bereit sind, eine Politik für die Zukunft zu machen. Darum geht es. ({1}) Angesichts mancher Reaktionen auf die Fridays-for-Future-Bewegung frage ich mich das umso mehr. Wir reden hier von der globalen Jugendbewegung, die mit Digitalisierung und Globalisierung aufgewachsen ist. Das ist kein Neuland für sie. Sie sind darin aufgewachsen, und sie wollen dieses Land gestalten. Es ist ihr Land, es ist ihre Welt, und sie werden weitaus länger in dieser Welt sein als viele von uns hier in diesem Raum. Und da stellen wir Politikerinnen und Politiker uns hin und sagen: Denkt doch über Bezahlbarkeit, Arbeitsplätze und Versorgungssicherheit nach! Oder: Das Thema ist zu komplex; fragt doch mal einen Experten! Wissen Sie eigentlich, wie daneben diese Haltung ist? Als würden Wissen und Macht immer noch anhand von Alters- und Geschlechtergrenzen verteilt. Diese Reaktionen zeigen das Gegenteil von Expertentum. ({2}) Aber auch Lob, wie wir es jetzt auch von der Regierungsbank wieder gehört haben, kann vergiftet sein: Wie toll, dass ihr euch politisch engagiert! – So können wir uns gegenseitig auf die Schultern klopfen, für unsere putzige politische Nachwuchsgeneration. ({3}) Aber das wird der Größenordnung dieser Bewegung und der Größenordnung unserer Versäumnisse in den letzten Jahrzehnten nicht gerecht. ({4}) Ein Lob – zumindest wenn es ein selbstzufriedenes Lob ist – ist keine Grundlage für einen Austausch auf Augenhöhe und für gegenseitiges Lernen. Wenn wir von gegenseitigem Lernen sprechen, dann möchte ich auch auf Greta Thunberg zu sprechen kommen, und zwar in ganz anderer Weise, als es hier unverschämterweise passiert ist. Greta Thunberg ist die Initiatorin und Herz und Kopf von Fridays for Future. Ja, sie redet offen über ihr Asperger-­Syndrom. Sie sagt, dass ihr Asperger-Syndrom einer der Treiber für ihr politisches Engagement war, weil sie die Welt anders sieht als andere, weil sie sich weigert, soziale Spiele mitzuspielen, weil sie ihre Zeit für Machtspiele nicht verschwenden will. Es schmerzt sie, wenn es einen Widerspruch gibt zwischen dem, was Menschen sagen, und dem, was Menschen tun, dem, was geboten wäre, und dem, was getan wird. Wenn sie einmal ein Ziel hat, dann ist sie von diesem Ziel nicht mehr abzubringen. Dann bleibt sie hartnäckig dran. Was können wir Politikerinnen und Politiker von ­Greta Thunberg wohl lernen? Was können wir von Fridays for Future lernen? Es war vielleicht noch nie so klar wie in den letzten Tagen mit Fridays for Future und Scientists for Future, was Politik im 21. Jahrhundert bedeutet. Es bedeutet, dass wir eine globale Herausforderung haben. Aber es bedeutet auch, dass wir globales Engagement, Idealismus, Expertentum und Menschen haben, die in über 2 000 Städten der Welt auf die Straße gegangen sind, eine globale Generation, inspiriert von einem 16-jährigen schwedischen Mädchen, in Los Angeles, Mumbai, Sydney usw. und in fast allen unseren Wahlkreisen. Diese Menschen zeigen uns: Politik kann gelingen, wenn wir den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts auch die Lösungen des 21. Jahrhunderts entgegensetzen. Ich frage mich: Worauf warten wir noch? Wir haben die Mittel. Wir haben das politische Wissen. ({5}) Aber uns fehlen der Mut und der Wille für die großen Veränderungen. Ich weiß nicht, wie oft ich in den letzten Wochen das Stichwort „Gelbwesten“ gehört habe, wenn es um Veränderungen ging. Wir haben Angst vor den potenziellen Widerständen auf der Straße, anstatt uns dem realen Mut auf der Straße anzuschließen. ({6}) Es stimmt: Demokratische Prozesse sind langsam, und die Art, wie wir Kompromisse suchen, ist zermürbend. Trotzdem ist es das bestmögliche System, das wir kennen. Aber der Verweis auf die Langsamkeit und die Notwendigkeit von Konsens ist oft genug eine Ausrede für fehlenden Mut, für Verzagtheit, für Verantwortungslosigkeit, für bloßen Lobbyismus, für das Verspielen unserer gemeinsamen Zukunft, für ein schüchternes Politikmikado, bei dem der verliert, der sich als Erster bewegt. ({7}) Auch hier können wir von Fridays for Future lernen, deren Unterstützer uns entgegenrufen: Es gibt unsere Bewegung nur, weil ihr euch nicht bewegt. – Wir wissen, was unsere Aufgabe ist. Wir müssen unsere Art des Wirtschaftens vom CO 2 -Ausstoß entkoppeln. Das ist unsere Aufgabe. ({8}) Packen wir es an, und machen wir eine Politik für diese Zukunft. Vielen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster hat das Wort der fraktionslose Kollege Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Natürlich ist es toll, wenn sich Jugendliche schon früh mit politischen Themen befassen, Ideen entwickeln und später zu Gestaltern werden. Aber das, was uns hier mit riesigem Medienspektakel als große Jugendbewegung verkauft wird, bildet zum einen nicht einmal 2 Prozent der Schulpflichtigen ab und ist zum anderen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit kein Selbstläufer, der bei den Jugendlichen geboren wurde. Es gilt vielmehr, die Frage zu klären, inwiefern Ideologen und Organisationen unsere Kinder und Jugendlichen dazu instrumentalisieren, ihre Agenda voranzutreiben. Das bestätigt unter anderem – das wurde mir gestern erst wieder zugetragen –, dass eine 10. Klasse nicht gefragt wird, ob sie teilnehmen möchte, sondern dass die Teilnahme angeordnet wird. Wie leicht sich Jugendliche bei entsprechender Indok­trinierung beeinflussen lassen, kennen einige noch aus der deutschen Geschichte. Geschichte ist heute oft nur noch ein Wahlfach, wenn es denn überhaupt angeboten wird, und findet unter Umständen wahrscheinlich freitags statt. Genauso wie damals zu Zeiten der verdienten Aktivisten und Volkskontrolleure präsentiert man uns heute neue Ikonen wie Langstrecken-Luisa, die mit 21 schon einen größeren ökologischen Fußabdruck hat als eine mittlere deutsche Kleinstadt, oder jetzt Nobelpreis-Greta. Was dem Mädchen noch fehlt, ist ein FDJ-Hemd. Und dann haut man kräftig drauf. Ein Superlativ jagt den nächsten. Wir erleben gerade wieder, wie die Schüler – immer bereit – für eine gute Sache demonstrieren, wie sich mit Rückendeckung der Regierung über geltendes Recht hinweggesetzt wird. Ja, auch die Kulturrevolution wollte einst 1 000 Blumen zum Blühen bringen. ({0}) Die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit ist der Erziehung zur ökologischen Persönlichkeit gewichen, genauso wie im Sozialismus gepredigt, aber zum Wohle aller. Dabei bestreiten diejenigen, die skeptisch sind, mitnichten die Wichtigkeit des Umwelt- und des Klimaschutzes. Aber eine wirklich offene Diskussion gibt es längst nicht mehr. Entweder ist man dafür, oder man ist als Kritiker maximal zu ächten. Würde man stattdessen zur Schule gehen, könnte man im Fach Geschichte etwas über Bärbel Bohley lernen, eine DDR-Bürgerrechtlerin, die 1989 eine sehr wichtige Rolle beim Erlangen von Demokratie und Freiheit spielte. ({1}) Sie sagte damals vor 30 Jahren zum gerade eben überwundenen System: Man wird Strukturen und Methoden, wie gearbeitet wurde, „genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen“. Sie fuhr fort: Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. ... Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen ... Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten … ({2}) Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert. Nehmen Sie diese Worte mit ins Wochenende. ({3}) Denken Sie einmal genau darüber nach, und hinterfragen Sie, was Sie hier gerade mit unseren Kindern und Jugendlichen veranstalten und ob das deren Zukunft sein soll. Zu den Zurufern von links: Sie haben genau dieses System damals mitgetragen, gegen das sich Bärbel ­Bohley eingesetzt hat. Schönes Wochenende. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Klaus-Peter Schulze für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ganz besonders begrüße ich auch Besucher aus meinem Wahlkreis. Auf jeden Fall ist es zu begrüßen, dass sich junge Menschen stärker für Politik interessieren. Ich erinnere an den Bundestagswahlkampf 2017 oder an Landtags- und Kommunalwahlen, als wir oft gesagt haben: Wo sind denn die Jugendlichen? Wo sind denn die, die später einmal die Gesellschaft mitgestalten sollen und wollen? Sie kommen nicht. ({0}) Jetzt sind sie unterwegs. Sofort kommt große Kritik. Auch ich sehe das nicht ganz kritiklos. Denn wenn Sie sich meinen Lebenslauf anschauen, werden Sie feststellen, dass ich drei Jahre als Lehrer tätig war. Da stelle ich mir natürlich die Frage: Müssen solche Demonstrationen während der Schulzeit sein? ({1}) Ich habe noch einmal nachgeschaut: Von den 220 Demonstrationen, die heute in Deutschland stattfinden, finden 17 nach 13 Uhr statt. ({2}) In Mönchengladbach findet die Demonstration um 17.30 Uhr statt, in Hamburg um 14.30 Uhr. ({3}) Ich denke, dass man auch am Nachmittag dafür demonstrieren kann. Der letzte Freitag in Berlin war ein Feiertag. Da waren die Klimaprobleme offensichtlich nicht ganz so groß; denn die Zahl der Teilnehmer war deutlich geringer. ({4}) Die Kollegen von der FDP sind ja auf ihren Fraktionsvorsitzenden nicht eingegangen. Aber ich möchte das an dieser Stelle machen. Ich bin nicht der Auffassung, dass Klimaschutz etwas für Profis ist. Klimaschutz geht sicherlich jeden von uns etwas an. Wir alle hinterlassen einen CO 2 -Abdruck. Wir können durch unser eigenes Verhalten einen Beitrag leisten, auch wenn dieser klein ist, aber immerhin. ({5}) Ich will Ihnen einige Beispiele nennen. Man sollte nicht nur demonstrieren, sondern auch handeln. Fangen wir mit den Onlinejunkies an. Man bestellt zuerst 20 verschiedene Artikel, bekommt 20 Päckchen, und davon gehen 19 zurück. Von diesen wird ein großer Teil nachher beim Händler vernichtet. Man darf den enormen Material- und Energieaufwand dabei nicht vergessen. Im Jahr 2000 haben wir 1,7 Millionen Pakete in Deutschland versendet. In diesem Jahr werden es 3,7 Millionen sein. Daran sieht man, welche große Rolle die durch diese Mobilität verursachten Emissionen spielen. Als zweites Beispiel nenne ich Textilien. Die Zahl der verkauften Textilien hat sich in den letzten vier Jahren verdoppelt, während sich die Tragezeit halbiert hat. Ich habe mir sagen lassen, dass viele gerade aus der Generation Z ein gekauftes T-Shirt ein, zwei Tage anziehen, um es dann, wenn es ein bisschen riecht, zur Seite zu legen und nicht zu waschen, wie es zum Beispiel in meiner Generation noch üblich war. ({6}) – Ja, das ist aber zum Teil so. ({7}) Bei den Umfragen, die am letzten Wochenende veröffentlicht wurden und in der man die einzelnen Altersgruppen miteinander verglichen hat, müssen wir feststellen, dass beim Thema Einweg nur 11 Prozent der Z-Generation bereit sind, den Anteil an Einwegverpackungen zu reduzieren, während es bei den Babyboomern immerhin 41 Prozent sind. ({8}) Ich denke, hier muss insgesamt noch mehr gearbeitet werden. Jeder kann selbst etwas tun. Dass in dieser Debatte heute wieder das Thema Kohle angesprochen wurde, damit habe ich fast gerechnet. Wir haben dazu eine Kommission. Herr Dr. Miersch hat deutlich gemacht, dass das Ergebnis, das jetzt vorliegt, einen hohen gesellschaftlichen Konsens darstellt. Deshalb verstehe ich nicht, dass man an diesen Ergebnissen wenige Wochen danach schon wieder rüttelt ({9}) und sagt: Das geht alles zu langsam. ({10}) Versetzen Sie sich einmal in die Situation der in den drei Revieren arbeitenden Menschen, der Familien, der Kinder. Wir haben jetzt einen Punkt erreicht, der ausgestaltet werden muss. Ganz zum Schluss möchte ich noch sagen: Wir brauchen zukünftig sehr viele gut ausgebildete Menschen. ({11}) Digitalisierung, Klimawandel, Energiewende stellen eine große Herausforderung dar. Deshalb schlage ich vor, dass es außer dieser Bewegung noch eine andere weltweite Bewegung unter den Jugendlichen geben sollte. Sie lautet: Learning for Future. Danke. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion der SPD die Kollegin Dr. Nina Scheer. ({0})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fridays for Future steht für viel Entrüstung, viel Enttäuschung und auch Unverständnis für ausgebliebenes und viel zu spätes Handeln. Genau in diesem Lichte, denke ich, muss man das sehen und sich unbedingt auch direkt angesprochen fühlen. ({0}) Es ist so – das zeigen alle Zahlen und Analysen –, dass wir hinterherhinken. Die Klimaschutzziele von Paris gibt es deswegen, weil wir hinterherhinken. Inzwischen ist es eine breite Erkenntnis weltweit, dass wir tatsächlich etwas aufzuholen haben. Ich möchte das insofern betonen, weil es, um aufs Politische zurückzukommen, in der Tat eine Diskrepanz zwischen Erkenntnis und Handeln gibt und wir uns natürlich damit auseinandersetzen müssen, wie es zu dieser Diskrepanz kommt, obwohl wir uns hier in diesem Haus in vielen Dingen einig sind. Es fehlt eben nicht an der breiten Unterstützung für deutliche Klimaschutzziele oder für eine klar benannte Energiewende, die wir dringend brauchen. Es ist aber so, dass anders als noch vor 10 oder 15 Jahren, als man ganz klar von den Atomenergiebefürwortern und den Atom­energiegegnern reden konnte und auch andere widerstreitende Interessen in der Energiewirtschaft ganz einfach zu benennen waren, heute fast alle von der Energiewende sprechen, aber alle damit etwas anderes meinen. Wir müssen uns also auch mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Was heißt etwa in Frankreich eine CO 2 -neutrale Energieversorgung? Da ist dann auch die Atomenergie mit dabei. Was heißt bei uns eine CO 2 -neutrale Energieversorgung? Was heißt das dann, wenn wir daraus ein europäisches Projekt machen? Das kann mit unserer Lesart auf keinen Fall einen Widereinstieg in die Atomenergie heißen. Diese Fragen müssen geklärt werden, führen aber auch dazu, dass wir uns bei der Wahl der Instrumente schwertun, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. So führen wir auch hier im Bundestag immer wieder die Auseinandersetzung, wenn es zum Beispiel um die erneuerbaren Energien geht. Einerseits heißt es von vielen Seiten ganz klar: Wir wollen den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien. Andererseits höre ich auch hier im Haus immer wieder, dass die Erneuerbaren immer noch zu teuer sind. Dabei wissen wir doch heutzutage, dass das Quatsch ist. Analysen über Analysen zeigen: Nein, die erneuerbaren Energien sind, was die Gesundheit, was die ökologischen Folgeschäden, was also den gesamten ökologischen Rucksack angeht, billiger – auch jetzt schon. Sie sind durch die Bank weg billiger. ({1}) Dennoch werden sie auch hier immer wieder als ein Bremsklotz empfunden. Wir haben auch in der Koalition wieder erleben müssen, dass die Sonderausschreibungen für erneuerbare Energien viel später kamen, als sie eigentlich hätten kommen müssen. Das ist die direkte Auswirkung dieser Missverständnisse, die wir immer wieder antreffen. Ein weiteres Argument, das immer wieder vorkommt, ist, dass man die Erneuerbaren erst dann ausbauen könne, wenn die entsprechende Netzinfrastruktur vorhanden wäre. Es ist jedoch seit langem bekannt, dass es beim Ausbau der erneuerbaren Energien nicht an der Netzinfrastruktur fehlt, sondern dass es mit der jetzigen Infrastruktur, mit intelligenten Netzen und der Einbeziehung von Speichern sehr wohl möglich ist, den Ausbau der erneuerbaren Energien voranzutreiben. Trotzdem haben wir immer wieder das verbreitete Argument in der Diskussion, dass die erneuerbaren Energien ohne weitere Netze angeblich nicht ausgebaut werden könnten. Genau an solchen Fragen hängt es, nicht an der Überschrift, hinter der sich alle versammeln. Deswegen meine ich auch, dass wir uns verstärkt damit auseinandersetzen müssen, woher diese fehlgeleiteten Argumente kommen, und wir uns neben dem, was Matthias Miersch gesagt hat, stärker darauf konzentrieren müssen, die planetaren Grenzen ganz deutlich vor Augen zu haben. Wir müssen uns auch immer wieder besinnen, welche immensen Chancen in dem Umstieg auf die erneuerbaren Energien und alle anderen klimaschützenden Maßnahmen stecken. ({2}) Sie bedeuten Arbeitsplatzgewinne. Sie bedeuten Gewinne an Umweltschutz, Gewinne an dem Erhalt von Lebensgrundlagen und von Gesundheit, auch Gewinne durch die Vermeidung weiterer Einbußen, die sich als Folgewirkungen darstellen würden. Wir haben nur ein Gewinnerkonto, wenn wir möglichst schnell auf die erneuerbaren Energien umsteigen und weitere klimaschützende Maßnahmen einleiten. Wir sind in Deutschland auf einem sehr wichtigen Pfad. Mit dem Abschlussbericht der Kohlekommission und dem von Svenja Schulze vorgelegten Gesetzentwurf sind wir auf dem richtigen Weg. Wir müssen erkennen, dass sich diese Zielgerade in breiter Übereinstimmung mit den Zielen der Bewegung „Fridays for Future“ befindet. Wir müssen aufpassen, dass die Ziele, die dort verankert sind, jetzt nicht verwässert werden. Von den Ersten wird das schon hinter vorgehaltener Hand getan. Wir müssen dafür eintreten, dass diese Ziele eben nicht verwässert werden. Als allerletzten Punkt möchte ich sagen, dass dies auch eine friedenspolitische Herausforderung ist. Wenn immer mehr Menschen auf der Welt auf immer weniger werdende Ressourcen zurückgreifen, dann werden wir irgendwann einen Kampf um Ressourcen haben, den wir in einer militärisch hochgerüsteten Welt nicht gewinnen können und der zur Vernichtung der Menschheit führen wird. ({3}) In diesem Sinne sollten wir uns darauf einigen, „every day for future and for peace“ als Bewegung zu verfolgen: in den Schulen, vor den Schulen, auf der Straße und in den Parlamenten. Vielen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Sybille Benning. ({0})

Sybille Benning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Schülerinnen und Schüler! Als Schwarze mit einem grünen Daumen, gelernte Landschaftsgärtnerin und Landschaftsökologin, treibt mich der Schutz der Umwelt seit jeher um. Aufgerüttelt und aktiv geworden bin ich durch die Berichte des Club of Rome. Eine kirchliche Jugendarbeit und eine ordentliche Schule haben dann ihr Übriges dazugetan. Also, ein Monopol auf Umweltschutz haben die Grünen ganz bestimmt nicht. ({0}) Meine Damen und Herren, wahrscheinlich ist vielen Herbert Gruhl kein Begriff mehr. Schon Mitte der 70er-Jahre hatte der CDU-Bundestagsabgeordnete mit seinem Buch „Ein Planet wird geplündert“ einen Bestseller gelandet und die Umweltbewegung maßgeblich mitgeprägt. Klimapolitik im Sinne der Bewahrung der Schöpfung ist ein genuin christliches und im wahrsten Sinne des Wortes konservatives Anliegen. Es ist unser Anliegen. Ich zitiere jetzt aus dem Grundsatzprogramm der CDU von 1994: Wir müssen erkennen, daß wir durch die Art unseres wirtschaftlichen Handelns, unseren Lebensstil sowie das weltweite Bevölkerungswachstum die Lebensbedingungen im Ökosystem Erde so verändert haben und weiter verändern, daß menschliches Leben und Überleben gefährdet sind. Es ist doch ein Fakt, dass das Klima sich wandelt, was nicht nur für uns Menschen gravierende Folgen nach sich zieht. Darum müssen wir handeln und umsteuern. Das passiert ja auch. Menschen, Industrien, Staaten denken um und ändern ihr Verhalten. Aber eben nicht alle halten ein, wozu sie sich verpflichtet haben. Darum protestieren jeden Freitag Tausende Schülerinnen und Schüler. Ich wundere mich, wie gereizt und ablehnend manche darauf reagieren, dass sich Kinder und Jugendliche so politisch äußern. Eine Schülerin der 7a der Ma­thilde-Anneke-Gesamtschule in Münster drückt es so aus: Ich möchte etwas verändern und den Menschen zu verstehen geben, dass wir jetzt handeln müssen. Denn wenn nicht jetzt, dann können wir vielleicht nie wieder irgendetwas machen. Mit den Scientists for Future stellen sich auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hinter den Prozess, und inzwischen gibt es auch schon Parents for Future. Heute wird gemeinsam protestiert – so weit, so gut. Doch Ihnen, liebe Grüne, muss ich doch schon ein gewisses terminologisches Unvermögen bescheinigen; denn die Schüler zogen während der Unterrichtszeit vor die Rathäuser. Es geht hier schon um einen Schulstreik, nicht um einen Klimastreik. So viel Ehrlichkeit muss sein. ({1}) Ich finde es gut, wenn sich junge Menschen engagieren und ihren Mund aufmachen. Allerdings frage ich mich auch: Warum nicht außerhalb der Schulzeit, oder warum nicht Projektarbeit zu diesen Themen in der Schule? ({2}) Der französische Bildungsminister hat jetzt verfügt, dass in der gymnasialen Oberstufe in Frankreich über den Klimaschutz diskutiert wird. So soll wertvolle Unterrichtszeit genutzt werden. Chapeau! Die Schulpflicht gilt für uns ohne Wenn und Aber. Es sollte nicht nur Fridays for Future geben – jeder Tag sollte ein Future Day sein. ({3}) Darum arbeiten wir auch hier im Parlament trotz aller Schwierigkeiten jeden Tag daran, unser sehr anspruchsvolles nationales Klimaziel 2020 möglichst schnell zu erreichen. Parallel dazu entwickelt die Bundesregierung – jetzt auch mit dem Klimakabinett – derzeit konkrete Maßnahmen, mit denen das Erreichen der europäisch vereinbarten Klimaziele 2030 sichergestellt wird. Wir werden, wie im Koalitionsvertrag festgelegt, entsprechende gesetzliche Regelungen treffen. Meine Damen und Herren, wir müssen den Umweltschutz im Gesamtkontext betrachten. Klima, Kreislaufwirtschaft und Biodiversität sind doch Teilaspekte des Ganzen. Nachhaltigkeit und Forschung dafür sind doch das Gebot der Stunde. ({4}) Viele Wissenschaftler und Ingenieure sind schon längst dabei, gute Ideen zu entwickeln, und haben schon erstaunliche Ergebnisse erzielt. Wenn die Schule besucht wird und gut ist, dann motiviert sie doch junge Menschen, bei der Forschung für die Zukunft weiterzumachen und mitzutun. Ich denke, das ist ein guter Weg – „Learning for Future“ hat es der Kollege eben genannt. Das Forschen wird vom BMBF mit dem Rahmenprogramm FONA 3 immens gefördert. Wichtig sind die Nachhaltigkeitsstrategien vor Ort, lokal in den Kommunen. Meine Heimatstadt Münster ist hierbei Pionier. Münster erhielt den Titel „Deutschlands nachhaltigste Großstadt“. Einen Eindruck gewinnt man schon, wenn man am Bahnhof aussteigt und einen Teil der 500 000 Fahrräder sieht, die auf 312 000 Einwohner kommen. Sie sind ein offensichtlicher Hinweis auf unseren 42-prozentigen Fahrradanteil an der Mobilität – ein Schritt für die Zukunft. Besonders wichtig ist uns auch in unserer Stadt: Hier werden kommunale Entscheidungen auf ihre Enkeltauglichkeit hin geprüft, also mit Blick darauf, ob Gestaltungsspielräume für morgen erhalten bleiben. Das ist Politik für die Zukunft. Wir zeigen, dass Klimaschutz mit einer starken Wirtschaft und sozialem Ausgleich vereinbar ist. Wir wollen für unsere Kinder und Enkel die besten Chancen. Das dauert halt sehr lange, aber wir machen uns wirklich intensiv daran. Jeder muss sich einbringen. Meine Aufgabe als Parlamentarierin sehe ich darin, Forschungsprojekte und -programme zu unterstützen, die zum Wohle dieses Planeten beitragen, und Menschen dafür zu begeistern, sich im Sinne der Nachhaltigkeit zu verhalten. ({5}) Konsequenter Umweltschutz hat nämlich uns allen bereits mehr Lebensqualität gebracht, und daran sollten wir anknüpfen. Ich beende meine Rede mit einem Zitat von Theodore Roosevelt: Tu, was du kannst,  mit dem, was du hast,  wo immer du bist. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion der SPD die Kollegin Marja-Liisa Völlers. ({0})

Marja Liisa Völlers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004942, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin stolz – stolz auf all die jungen Menschen, die seit Wochen und Monaten ihr Herz in die Hand nehmen, um auf unseren Straßen, den Straßen Europas und der Welt, für mehr Klimaschutz zu protestieren. ({0}) Ich finde, wir sollten das alle zusammen sein. Heute finden über 1 700 Demonstrationen in über 100 Ländern weltweit statt. Allein in Deutschland sind es über 220 Klimastreiks. Natürlich blicke ich dabei auch in meinen heimischen Wahlkreis. Dort haben sich Schülerinnen und Schüler seit Wochen darauf vorbereitet, heute das erste Mal in Nienburg eine Fridays-for-Future-Kundgebung zu starten. Es waren wohl über 1 000 Teilnehmer. ({1}) Mit der Petition Scientists for Future formieren sich mehr als 19 000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz hinter den Forderungen der jungen Menschen, Tendenz steigend. Das ist ein starkes Signal und vor allem ein Weckruf, aber zu diesem Weckruf später mehr. Anfang der Woche habe ich mich mit einem Schüler aus meinem Heimatort über die Demonstrationen ausgetauscht. Eine Sache hat mich dabei sehr betroffen gemacht. Er meinte nämlich – Zitat –: Was mich persönlich extrem stört und was ich unbedingt ändern möchte, ist, dass die Jugend gern als politikverdrossen dargestellt wird, jetzt aber, sobald man politisch aktiv wird, ins Lächerliche gezogen wird. – Hand aufs Herz: Der junge Mann hat recht. ({2}) Wir müssen uns nur die Äußerungen von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek oder dem Fraktionsvorsitzenden der FDP, Christian Lindner, vor Augen halten. Da gehen junge Menschen auf die Straße, die für eine Sache brennen, die etwas für unser Klima bewegen wollen, und Ihnen, Frau Ministerin, fällt nichts Besseres ein, als direkt den Zeigefinger zu erheben und nur auf die Schulpflicht zu pochen. ({3}) Das Anliegen ist so wichtig, und es hat wirklich nichts mit Schwänzen im großen Stil zu tun. ({4}) Das wurde doch in München und Berlin in der vergangenen Woche eindrucksvoll bewiesen. Dort fanden die Demos trotz Faschingsferien und Feiertag statt. ({5}) Mit solchen fahrlässigen Äußerungen werfen Sie alle jungen Leute in einen Topf. Gerade Sie als Bundesbildungsministerin sollten unsere Jugend zu gesellschaftlichem Engagement anregen, statt es ihnen zu vermiesen. ({6}) Frau Kollegin, als Lehrerin weiß ich, wie wichtig es ist, Jugendliche in ihrem Engagement für demokratische Anliegen zu bestärken. Ich würde es wirklich sehr begrüßen, wenn Sie an Ihrer Einstellung dazu noch ein bisschen arbeiten würden. ({7}) Wenn Herr Lindner da wäre, würde er sicherlich von mir jetzt auch noch einen kleinen Spruch bekommen. ({8}) – Wo ist der Herr eigentlich? Ist er gerade irgendwie als Profi unterwegs, um das Klima zu retten? ({9}) – Frau Nahles hat die Schülerinnen und Schüler nicht diskreditiert, anders als Ihr Fraktionsvorsitzender. Meiner Meinung nach müssen junge Menschen oder Menschen generell nicht Experten von A bis Z sein, um sich irgendwo demokratisch einzubringen. Ich glaube, da ist sich der Großteil von uns einig. ({10}) Sehr geehrte Damen und Herren, was passiert denn da gerade auf den Straßen? Das ist Politikunterricht, wie wir ihn uns anschaulicher und lehrreicher nicht wünschen könnten. Ich will Ihnen auch verraten, warum: Im Frühjahr 2003 habe ich als Zwölftklässlerin bei einer großen Demonstration gegen den Einmarsch der Amerikaner in den Irak und eine potenzielle deutsche Beteiligung mitgemacht. ({11}) Noch heute weiß ich, wie wir zu Hunderten auf dem Sportplatz unserer Schule waren und ein großes Peace-­Zeichen geformt haben. Und ja, das war auch in der Unterrichtszeit. Hat uns das Verpassen des Unterrichts geschadet? Ich bin mal so frei: Nein. ({12}) Bei dieser Aktion habe ich, haben wir aber etwas ganz Wertvolles gelernt: Wir haben die Tragweite unserer eigenen Stimmen erkannt, die Tragweite unseres eigenen Engagements, die Tragweite des eigenen Bewusstseins für eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Das hat mich geprägt, und so wird es sicherlich auch allen gehen, die jetzt überall auf unserer Welt auf die Straße gehen. ({13}) Heute Mittag war ich mit Katarina Barley und vielen weiteren Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion kurz am Kanzleramt dabei, als die Fridays-for-Future-Demo stattfand. Was für ein Engagement – sachlich, freundlich, aber bestimmt in der Forderung nach mehr Einsatz für unser aller Klima. Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier bewegt sich gerade eine ganze Menge. Es wird Zeit, dass auch wir uns bewegen. In keinem anderen Land der Welt waren für heute mehr Proteste angekündigt als hier bei uns in Deutschland. ({14}) Das sollte für uns alle ein Weckruf sein, und zwar ein Weckruf, dem wir auch Taten folgen lassen. ({15}) Unsere Bundesumweltministerin Svenja Schulze hat zum Beispiel mit ihrem Klimaschutzgesetz einen richtig guten Vorschlag gemacht. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir den Schalter beim Klimaschutz noch rechtzeitig umlegen. Das sind wir den Schülerinnen und Schülern der Fridays-for-Future-Bewegung schuldig. Vielen Dank. ({16})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Jens Koeppen für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer sich diese Debatte angeschaut hat, konnte feststellen: Es herrscht Einigkeit in diesem Plenum, und zwar in zwei Punkten: Erster Punkt. Einigkeit besteht darüber, dass die größte oder eine der größten Herausforderungen in dieser Zeit die massive globale Ressourcenverschwendung ist, der massive Eingriff in die Umwelt, in die Natur. Zweiter Punkt. Wir sind uns einig darüber, dass es gut ist, wenn sich junge Menschen engagieren, wenn sie voller Empathie, voller Begeisterung und voller Hilfsbereitschaft für eine lebenswerte Zukunft kämpfen und streiten. Das ist unbestritten. ({0}) Aber dafür brauchen wir nicht Greta; denn das haben die jungen Leute schon immer gemacht, jedenfalls die, die ich kenne, in den Wahlkreisen, in den Vereinen, in den Schulen, beim THW, bei der Feuerwehr, bei den Jugendorganisationen. Darauf können wir stolz sein; denn das ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. ({1}) Nicht einig sind wir uns in der Tat bei der Herangehensweise, bei den Maßnahmen, wie wir zu den entsprechenden Zielen kommen. Ich glaube nicht, dass wir Kronzeugen brauchen. Die Frage muss erlaubt sein: Ist es gerechtfertigt, Kinder für seine ganz speziellen politischen Ziele zu ({2}) instrumentalisieren? ({3}) Natürlich ist es so, dass Umweltschutz und Naturschutz gerade bei der Jugend ganz besonders im Fokus stehen. Das ist aber schon immer so gewesen. Das war auch in meiner Jugend so. Auch in meiner Jugend haben wir, zu DDR-Zeiten, ({4}) in den Jugendorganisationen gekämpft. ({5}) Das war völlig klar; denn es ging um unsere Zukunft. Und jetzt geht es um die Zukunft der heutigen Kinder und Jugendlichen. Es geht um Überbevölkerung, es geht um den Umgang mit der Schöpfung, es geht um Ressourcenverschwendung. Die jungen Leute wollen nicht sehen, wie vor ihren Augen der Planet quasi aufgefressen wird. Aber er wird auch von den jungen Menschen selbst aufgefressen; denn – das habe ich schon gesehen – auch junge Leute und nicht nur Erwachsene gehen zu McDonald’s, ({6}) zu Starbucks, ({7}) wollen das beste Handy haben, ({8}) trinken Cola aus Plastikflaschen, ({9}) essen Fleisch – Frau Künast, stellen Sie sich das mal vor – ({10}) und wollen mit ihren Eltern in den Urlaub fliegen. Daher muss sich die Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Wir sollten nicht sagen: Jetzt muss alles geändert werden, wegen einer Freitagsdemonstration. ({11}) Wie kann Politik, wie kann Gesellschaft zur Aufklärung beitragen? Man kann Gesetze oder Verbote erlassen, man kann mit Gängelung arbeiten, man kann aber auch mit Aufklärung arbeiten und Technologiesprünge nutzen. Aber wer lässt sich schon gern aufklären, zum Beispiel in Sachen Verzicht? Kinder als Kronzeugen, um Argumenten Nachdruck zu verleihen, um einseitige politische Ziele zu verfolgen, ({12}) das ist, glaube ich, ein bisschen übertrieben. Ich glaube, die Fridays-for-Future-Bewegung hätte auch eine Saturdays-for-Future-Bewegung werden können oder eben eine Fridays-Afternoon-Bewegung. ({13}) – Zum Beispiel. – Aber nein, alle müssen das jetzt gut finden; aber nicht alle finden das gut. Es gibt ein Demonstrationsrecht, und es gibt die Schulpflicht; darauf wurde schon hingewiesen. Ich finde es nicht gut, das Demonstrationsrecht und die Schulpflicht gegeneinander auszuspielen. Ich finde es auch nicht gut, den Klimaschutz und die Bildung gegeneinander auszuspielen. Ich glaube, damit tun wir niemandem, aber auch wirklich niemandem einen Gefallen, weder dem Thema noch den jungen Leuten. ({14}) Eine Frage muss geklärt, muss beantwortet werden: Ist eine solche Bewegung auch dann noch vertretbar, wenn es um ein anderes Thema geht? Dann wird am Montag vielleicht für die Menschenrechte demonstriert, ({15}) am Dienstag für Brot für die Welt, am Mittwoch für kostenloses Schulessen, ({16}) am Donnerstag für den Veggieday, am Freitag für den Erhalt der Arbeitsplätze, vielleicht auch für den Erhalt der Arbeitsplätze in der Automobilindustrie oder in einer Kohleregion. ({17}) Meine Damen und Herren, wäre das auch legitim? ({18}) Würden Sie auch dann noch sagen: „Da gehen wir hin; das unterstützen wir“, wenn die ganze Woche demons­triert und gestreikt wird? Diese Frage muss und darf man einfach einmal stellen. ({19}) Darf man Kinder animieren, für ein spezielles Thema die Schule zu schwänzen? Diese Frage muss die Politik beantworten, ({20}) diese Frage müssen die Lehrer beantworten, und diese Frage müssen die Eltern beantworten. Eltern sollten die Kinder unterstützen. Beim Klimaschutz geht das natürlich auch. Sie wollen mit gutem Beispiel vorangehen? Dann fragen sie sich: Müssen sie in den Kaffeeladen mit dem Einweggeschirr gehen oder zu der Fast-Food-Kette? Müssen sie Gurken kaufen, die doppelt eingeschweißt sind? Müssen sie Lebensmittel verschwenden? Können sie nicht vielleicht bewusster einkaufen? ({21}) Meine Damen und Herren, das ist alles komplex. Dazu gehört auch Bildung. Diese Bildung sollten wir unseren Kindern nicht verwehren. ({22})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank, Herr Kollege. – Weitere Wortmeldungen sind nicht vorgesehen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende; denn nächste Woche geht es schon wieder weiter. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 20. März 2019, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Kommen Sie gut nach Hause. (Schluss: 16.45 Uhr)