Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/14/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Überlange Wartezeiten, Haus- und Fachärzte, die keine zusätzlichen Patienten mehr aufnehmen und behandeln: Wir nehmen, wie versprochen, den verständlichen Ärger der Patientinnen und Patienten ernst und verbessern mit dem TSVG, dem Terminservice- und Versorgungsgesetz, die Versorgung vor allen Dingen der gesetzlich Versicherten im ambulanten Sektor. Unterstützung kommt ab 1. Januar 2020 bundeseinheitlich über die 116 117. Die Terminservicestellen werden künftig 24 Stunden und 7 Tage die Woche unter dieser Rufnummer 116 117, aber vor allem auch online erreichbar sein. Sie vermitteln dann nicht nur, wie bisher, Arzttermine beim Haus-, Kinder- oder Facharzt, sondern im Akutfall künftig auch unmittelbar ärztliche Versorgung, und im lebensbedrohlichen Notfall – eigentlich dann ein Fall für die 112 – leitet die Servicestelle den Anrufer zur Notrufzentrale weiter. Wir haben geregelt, dass die Servicestellen künftig auch mit den Rettungsleitstellen der Länder kooperieren und vor allem die Patienten dann in die richtige Versorgungsebene steuern. Und: In zwei, drei Jahren wird es so weit sein, dass das alles auch über eine App funktioniert. Darüber hinaus erweitern wir das Mindestsprechstundenangebot der Vertragsärzte von 20 auf 25 Stunden. Fachärzte werden künftig auch offene Sprechstunden anbieten, offene Sprechstunden, in die die Patienten mit kurzfristigem Behandlungsbedarf ohne weitere Terminvereinbarung kommen können und in denen sie behandelt werden. Jetzt bedeutet mehr Behandlungszeit mehr Patienten und für die Ärzte natürlich Mehrarbeit. Deswegen ist für uns klar: Selbstverständlich wird dort, wo wir Mehrarbeit adressieren, wo wir Mehrarbeit verlangen, mehr bezahlt. Extrabudgetär vergütet werden zum Beispiel Neupatienten, die Behandlung von Patienten in den offenen Sprechstunden, dringliche Überweisungen durch die Hausärzte. Kurz: Wir starten in den Ausstieg aus den festgelegten Budgets. ({0}) Und wenn die Patienten über die Terminservicestellen vermittelt werden, sehen wir neben der extrabudgetären Vergütung zusätzlich Zuschläge vor, jeweils gestaffelt nach Wartezeit der Patienten auf den Behandlungstermin: Je schneller der Termin, desto besser die Vergütung. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns in der Union ist es natürlich auch ein Anliegen, dass sich die Patienten in ländlichen und strukturschwächeren Regionen auf eine wohnortnahe, zügige und gute Versorgung verlassen können. Genau deshalb sorgen wir dafür, dass auch dort eine Niederlassung für die Ärzte attraktiv bleibt, zum Beispiel über regionale Zuschläge für Ärzte, aber auch durch die Weiterentwicklung der Bedarfsplanung und verbesserte Förder- und Sicherstellungsinstrumente bei den kassenärztlichen Vereinigungen. Zusätzlich erweitern wir für die Patientinnen und Patienten die Kassenleistungen, das Versorgungsangebot der Kassen. Wir erhöhen zum Beispiel die Festzuschüsse für Zahnersatz von 50 auf 60 Prozent. Wer regelmäßig zur Vorsorge geht, bekommt noch etwas mehr: bis zu 75 Prozent. Versicherte mit einem substanziellen HIV-Infektionsrisiko haben künftig einen Anspruch auf die sogenannte Präexpositionsprophylaxe. Und wir erweitern – das war uns ein besonderes Anliegen – die Kassenleistung bei der künstlichen Befruchtung um die sogenannte Kryokonservierung von Keimzellgewebe, Ei- und Samenzellen. Dadurch haben insbesondere Krebspatienten, die infolge ihrer Krebserkrankung eine keimzellschädigende Behandlung erdulden müssen, die Möglichkeit, auch weiterhin ihren Kinderwunsch erfüllt zu bekommen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Teil des TSVG und einer von 54 Änderungsanträgen, für den wir uns in der Union besonders eingesetzt haben – Kollege Roy Kühne war da sehr unterwegs –, ist das Heilmittelpaket. Wir stärken unsere Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden und Podologen zum einen finanziell – dafür werden Höchstpreise, die in Deutschland bezahlt werden, bundesweit vereinheitlicht –, und wir übernehmen die sogenannte Blankoverordnung in die Regelversorgung; das heißt, der Arzt verordnet, und über die Methode, die Häufigkeit und die Dauer der Behandlung entscheidet der Heilmittelerbringer. Bei der Versorgung mit Hilfsmitteln räumen wir jetzt endgültig mit den Ausschreibungen auf. Das war immer wieder ein Ärgernis für die Patientinnen und Patienten, zum Beispiel bei den Inkontinenzartikeln, den Atemtherapiegeräten und den Rollstühlen. Ein wichtiger Schritt in die Digitalisierung erfolgt dadurch, dass es künftig flächendeckend die elektronische Patientenakte geben soll und einen Anspruch auf Zugriff darauf über mobile Endgeräte, über das Smartphone, über das Tablet. Für effektivere Prozesse steht künftig das BMG, das die Mehrheit in der Gesellschaft für Telematikanwendungen übernimmt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Maag, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl. – Insgesamt ein gutes Gesetz. Ich empfehle Unterstützung. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Axel Gehrke, AfD. ({0})

Prof. Dr. Axel Gehrke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004725, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute sollen mit einem Gesetz mal eben 15 andere Gesetze und vier Rechtsverordnungen geändert werden. Sehr sportlich! Ursprüngliches Ziel war doch, die unterschiedliche Terminvergabe der Zweiklassenmedizin zu beenden. Was ist daraus geworden? Als alter Praktiker stelle ich mir das so vor: Ich komme morgens in die Praxis, fange an, zu behandeln: Notfälle zuerst, dann einer nach dem anderen. Aber um 11 Uhr ertönt ein Gong, und ich lasse alles stehen und liegen, den Schmerzpatienten, den Notfall, das schreiende Kind und die Oma, die nicht mehr lange sitzen kann; denn nun tritt er ein, der König aller Könige, der neue TSVG-Patient ({0}) oder, noch besser, mit gendergeschwellter Brust, die neue TSVG-Patientin. Alle müssen sofort und ohne jegliche Vorgabe behandelt werden. Toll! Statt einer Zweiklassenmedizin, Herr Spahn, haben Sie nun die Dreiklassenmedizin erfunden. Herzlichen Glückwunsch! ({1}) Aber das ist ja nicht alles. Abrechnungstechnisch werde ich mit jedem Patienten diskutieren, wann und wie viele Minuten ich bei ihm erbracht habe. Dazu brauche ich eine neue Abrechnungssoftware oder die extra ­TSVG-Chipkarte oder beides. ({2}) Und auf drohende TSVG-Regresse wartet schon ein Anwalt. Ein Tollhaus! Das, meine Damen und Herren, kommt dabei raus, wenn in deutschen Amtsstuben Beamte den Praktikern draußen mal zeigen wollen, was eine Harke ist. ({3}) Das geht so was am Bedarf vorbei, das kann ich Ihnen in vornehmen Worten gar nicht ausdrücken. Und ich lade Sie herzlich ein, sich im Wartezimmer die Kommentare der Patienten anzuhören, die seit 8 Uhr brav gewartet haben. Viel Vergnügen! ({4}) Sie maßen sich an, die Organisation der Leistungserbringer bestimmen zu wollen. Sie greifen munter und wider alle demografische Erkenntnisse in die Finanzautonomie der Krankenkassen ein. Erste Hochrechnungen ergeben bereits Mehrkosten von 3,3 Milliarden Euro jährlich. Aber Gegenfinanzierung? Fehlanzeige! – Raten Sie einmal, wer am Ende zahlt. Ein kleiner Tipp: Die Politik wird es nicht sein. ({5}) Durch den ganzen Duktus Ihres Gesetzes zieht sich eindeutig der rote Faden „Weg von der Selbstverwaltung, hin zur Planwirtschaft“ mit Bürokratismus und Gesundheit nach Gusto des Staates. Wir stehen für eine attraktive und starke Selbstverwaltung, marktwirtschaftlich orientiert, unbürokratisch organisiert. Ja, ich weiß, eine starke Selbstverwaltung führt zu einer starken Kontrolle der Politik. Unbequem, aber demokratisch! Und genau das wollen wir! ({6}) Wir stehen für strikte Trennung von Staat und Sozialversicherung und lehnen jede Form staatlicher Gutsherrenart ab. Mit Zuckerbrot und Peitsche wollen Sie, Herr Spahn, mit der Selbstverwaltung umgehen. Welch bodenlose Überheblichkeit! Sparen Sie sich und uns Ihr Zuckerbrot, und befreien Sie lieber die Leistungserbringer von den überbürokratischen Ketten der bisherigen Koalitionen von CDU, SPD und FDP. Und was die Peitsche anbetrifft, sind weder Sie noch überhaupt die Politik Zuchtmeister Ihrer Untergebenen. Diese Zeiten sind endgültig vorbei und haben keine Zukunft, und auch das verspreche ich Ihnen! ({7}) Statt die Selbstverwaltung zu stärken, zielen Sie auf Demontage: Sie möchten den Gemeinsamen Bundesausschuss entmachten. Sie sichern sich mal eben 51 Prozent an der gematik. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Ihr TSVG spaltet, es setzt Fehlanreize und ist vom Kosten-Nutzen-Verhältnis eine Katastrophe. Deswegen lehnen wir kopfschüttelnd dieses Gesetz ab. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Karl Lauterbach, SPD. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal: Ich werde mich in meiner kurzen Rede darauf konzentrieren: Weshalb machen wir dieses Gesetz überhaupt? Was sind die wichtigsten Verbesserungen? Und: Was muss noch gemacht werden, was ist der Ausblick? Dieses Gesetz sollte, wenn wir einen einfachen Namen wählen wollen – wir bevorzugen ja in letzter Zeit für unsere Gesetze einfache Namen –, ({0}) „Gesetz zum Abbau von Zweiklassenmedizin“ heißen; denn das ist es, worum es hier geht. ({1}) Dies ist ein sehr wichtiges Gesetz zum Abbau der in Deutschland vorherrschenden Zweiklassenmedizin. Wir haben ein gutes Gesundheitssystem – das ist unbenommen –, aber dennoch kommt es zu der Situation, dass trotz der 600 Millionen Behandlungsfälle in den Praxen jedes Jahr – das ist mehr als in jedem anderen europäischen Land – gesetzlich Versicherte oft monatelang auf einen Arzttermin warten müssen. Monatelang! Das ist eine Fehlsteuerung. Es gibt auch Praxen, die sagen: Unsere Praxis ist zu. Oder sind Sie Privatpatient? – Diese Verhältnisse sind unwürdig für so ein reiches Land wie Deutschland, und diese wollen wir mit diesem Gesetz überwinden. ({2}) Der Hintergrund ist ganz klar: Langfristig brauchen wir eine Bürgerversicherung. Es ist kein Geheimnis, dass wir uns damit in den Koalitionsverhandlungen nicht durchsetzen konnten. Wir haben aber vereinbart – dafür sind wir auch dankbar –, dass wichtige Schritte in Richtung einer Bürgerversicherung unternommen werden. Das ist das, was dieses Gesetz leistet. Es bringt uns wichtige Schritte nach vorn in Richtung einer Bürgerversicherung, die langfristig das Ziel ist. ({3}) Zunächst einmal: Weshalb ist es eigentlich für einen neuen Patienten so schwer, einen Termin zu bekommen? Das hat einen ökonomischen Grund. Der ökonomische Grund ist: Der neue Patient bereitet viel Arbeit. Der Arzt kennt ihn noch nicht und muss – hier spreche ich auch als Praktiker – mehr Zeit und Ressourcen investieren, um den neuen Patienten zu versorgen. Jetzt bekomme ich aber für den neuen Patienten so viel wie für einen Patienten, den ich seit Jahren kenne und für den ich sozusagen nur ein Rezept ausstellen muss. Wenn ich Pech habe und mein Budget ausgeschöpft ist, bekomme ich für den neuen Patienten gar kein Geld. Tatsächlich ist das der Hauptgrund, weshalb wir Ärzte die neuen Patienten oft nicht so gerne in der Praxis sehen; denn an ihnen verdienen wir nicht nur nichts, sondern machen zum Teil sogar Verluste. Und das muss sich ändern. ({4}) Das ändern wir mit diesem Gesetz. Daher ist es falsch, wie immer wieder gesagt wurde, dass dieses Gesetz keine Innovation ist, weil dadurch mehr Geld ausgegeben wird. Wenn wir eine derzeit massiv unterbezahlte Leistung für neue Patienten besser bezahlen, sodass die Patienten, die jahrelang Krankenkassenbeiträge zahlen, auch sofort einen Termin bekommen, wenn sie einmal einen Arzt brauchen, dann ist diese höhere Bezahlung auch richtig; denn sie entspricht den Kosten. Das gilt im Übrigen auch in einer Marktwirtschaft. ({5}) Es ist unbürokratisch gemacht. Über eine einheitliche Nummer, die 116 117, kann man sich einen Facharzttermin oder auch einen anderen Termin vermitteln lassen. Das kann man telefonisch machen oder auch über das Netz, und zwar bundesweit. Der Termin ist spätestens vier Wochen später. Für die Ärzte ist das hoch lukrativ – es ist richtig, was Kollege Gehrke sagte –, weil sie mehr Geld bekommen. Das gönnen wir ihnen, auch als SPD, weil sie mehr Aufwand haben. Natürlich können die Ärzte die Patienten zu den Zeiten einbestellen, die ihnen genehm sind. Wir mischen uns nicht in den Praxisalltag ein. ({6}) Aber wir wollen, dass es fünf Stunden offene Praxissprechstunden pro Woche gibt, sodass dort die Patienten hingehen können, die sonst keinen Termin bekommen hätten. Denn was ist die Alternative? Diese Patienten gehen ansonsten in eine Klinik oder Uniklinik, verbrauchen dort sehr viel mehr Geld und sitzen stundenlang herum. Offene Sprechstunden im Umfang von fünf Stunden pro Woche sind einzurichten. Das kann man nicht von heute auf morgen, aber man kann es in den Praxisalltag einbringen. Ich glaube, dass das von den Bürgern gewünscht ist. Wir machen Gesundheitspolitik für die Kranken und für die Bürger, nicht aus der Perspektive zum Beispiel der kassenärztlichen Vereinigungen. ({7}) Schließlich: Es wird auch dazu kommen, dass wir mehr Ärzte haben, weil wir die Grundbedingungen für Medizinische Versorgungszentren verbessern und viel für Hausärzte machen. Demnächst wird es Hausarztverträge geben, von denen auch der Patient etwas hat, weil er dann zum Beispiel keine Zuzahlungen leisten muss. Der Beitragssatz kann etwas reduziert werden. Es wird eine bessere hausärztliche Versorgung und mehr Medizinische Versorgungszentren geben. Die Blankoverordnungen bei den Physiotherapeuten sind schon erwähnt worden. Langfristig brauchen wir drei Dinge: Wir brauchen eine Entbürokratisierung. Dabei ist die Telemedizin ein wichtiger Bereich. Wir gehen da einen Schritt mit der gematik. Wir brauchen mehr Medizinstudenten. Denn mit der Anzahl der Medizinstudenten, die wir derzeit haben, werden wir es nicht schaffen. ({8}) Abschließend: Wir brauchen eine Bürgerversicherung. ({9}) Wir haben jetzt zwar Verbesserungen, aber diese Verbesserungen werden nur von den gesetzlich Versicherten finanziert. Alle müssten zahlen, auch Beamte und diejenigen, die gut verdienen bzw. ein hohes Einkommen haben. Vielen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Christine Aschenberg-Dugnus, FDP, ist die nächste Rednerin. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Minister Spahn, Sie versprechen mit Ihrem TSVG schnellere Terminvergabe, mehr Sprechstunden und bessere Angebote für gesetzlich Versicherte. Das werden Sie aber leider mit Ihrem Gesetz nicht erreichen. ({0}) Nehmen wir uns einmal die einzelnen Punkte vor. Mit der Erhöhung der Mindestsprechstundenzeit für gesetzlich Versicherte von 20 auf 25 Stunden suggerieren Sie, Ärzte würden einfach nicht genug arbeiten. Das ist eine Diffamierung, Herr Spahn, aller niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten, die im Durchschnitt über 50 Wochenstunden für ihre Patientinnen und Patienten da sind. ({1}) Was würden Sie eigentlich machen, wenn die Ärzte tatsächlich nur 25 Wochenstunden – dies fordern Sie ja als Minimum – für gesetzlich Versicherte aufbringen würden? Gott sei Dank tun die Ärzte das nicht, weil ihnen die Verantwortung für ihre Patienten wichtiger ist als der Ärger über das Gesetz und den Minister. Darüber freue ich mich, meine Damen und Herren. ({2}) Herr Spahn, ich finde in Ihrem Gesetz keinen einzigen Satz, wie man den ärztlichen Alltag erleichtern könnte, damit einfach mehr Behandlungszeit für die Patientinnen und Patienten übrig bleibt. Wir haben uns darüber Gedanken gemacht und einen Antrag zur Entbürokratisierung in den Deutschen Bundestag eingebracht. ({3}) Meine Damen und Herren, wenn Ärzte und Psychotherapeuten im Jahr 54 Millionen Bürokratiestunden zu bewältigen haben, dann läuft in unserem System etwas schief. ({4}) Wenn nur die Hälfte dieser Stunden für die Patientenversorgung zur Verfügung stünde, dann würde sich die Versorgung für alle Patientinnen und Patienten erheblich verbessern. ({5}) Unser Sachverständiger Herr Professor Neubauer hat in der ersten Anhörung zum TSVG einen ganz konkreten Vorschlag zur Entbürokratisierung gemacht. Ich darf zitieren: Ein dringlich notwendiger Bürokratieabbau kann dadurch erreicht werden, dass bürokratische Arbeiten von den Krankenkassen extra vergütet werden. Damit verwandeln sich Bürokratiekosten in Serviceleistungen, die angemessen zu vergüten sind und auch an entsprechendes Personal delegiert werden können. Meine Damen und Herren, ich finde, das ist ein sehr guter Vorschlag; denn wenn wir Bürokratie bepreisen würden, dann hätten die Ärztinnen und Ärzte nur den Aufwand, der es der Krankenkasse auch wert ist, bezahlt zu werden. Ein wunderbarer Vorschlag! ({6}) Wir müssen doch feststellen: Ärztliche Behandlungszeit ist nun einmal begrenzt. Ärzte wollen behandeln und nicht Bürokratiestunden ableisten. Und das wollen die Patientinnen und Patienten ganz genauso. ({7}) Jetzt zu Ihren Vergütungsanreizen. Vergütungsanreize finden wir grundsätzlich gut, aber erklären Sie mir doch mal bitte, warum es für Patienten in der offenen Sprechstunde und für neue Patienten eine extrabudgetäre Vergütung geben soll, ein Arzt aber für die Behandlung von älteren multimorbiden Patienten oder Chronikern keine extrabudgetäre Vergütung erhält. Setzen Sie doch einfach unseren Vorschlag der Entbudgetierung um, also budgetieren Sie die ärztliche Leistung überhaupt nicht mehr im grundversorgenden haus- und fachärztlichen Bereich. Das kostet Sie keinen Cent mehr als die von Ihnen veranschlagten 600 bis 800 Millionen Euro. Das wäre es doch! Damit würden Sie allen Ärztinnen und Ärzten entgegenkommen. Denn, meine Damen und Herren, geleistete Arbeit muss doch auch zu 100 Prozent vergütet werden, egal ob der Patient aus der offenen Sprechstunde kommt, ein Neupatient ist oder ein chronisch Kranker. ({8}) Ganz zum Schluss möchte ich jedoch auch sagen, dass im Gesetz auch erfreuliche Aspekte stecken. ({9}) Positiv ist, dass die Versicherten mit HIV-Infektionsrisiko einen Anspruch auf Präexpositionsprophylaxe erhalten. Das haben wir lange gefordert, das finden wir auch wunderbar. Die Verbesserungen bei den Heilmittelerbringern, also den Physiotherapeuten, Logopäden etc., begrüßen wir ganz ausdrücklich. ({10}) Im Ergebnis aber ist uns das zu wenig. Deswegen werden wir das TSVG ablehnen. Ganz herzlichen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Achim Kessler, Die Linke, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Je sozialer der Beruf in Deutschland, desto asozialer die Gehälter. ({0}) Diesen Satz habe nicht ich mir ausgedacht, sondern ein Physiotherapeut hat ihn mir bei der großen Demonstration der Gesundheitsfachberufe am letzten Samstag in Leipzig gesagt. Er hat leider recht. 2 100 Euro brutto im Durchschnitt für Physiotherapeuten in ambulanten Praxen, das ist in der Tat unsozial. ({1}) Das ist ein Niedriglohn, der direkt in die Altersarmut führt. Damit muss Schluss sein. ({2}) Wir begrüßen, dass die Vergütungen in Zukunft leichter steigen können. Aber warum schreiben Sie dann in das Gesetz keine konkrete Erhöhung? Es darf doch nicht sein, dass Therapeutinnen und Therapeuten in den ambulanten Praxen 1 000 Euro weniger verdienen als ihre Kolleginnen und Kollegen in den Krankenhäusern. Wir bleiben deshalb bei unserer Forderung, die Vergütung um 30 Prozent zu erhöhen. ({3}) Herr Minister, Sie haben die Abschaffung des Schulgelds angekündigt. Das finden wir sehr gut; wir begrüßen das. Doch was ist seit Ihrer Ankündigung vor über einem Jahr passiert? Sie haben eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Unterdessen gehen die Schulen pleite, weil die angehenden Schülerinnen und Schüler warten, bis das Schulgeld abgeschafft ist. Statt die Versorgungslücke zu schließen, verschlimmern Sie sie noch. Herr Minister, beenden Sie diesen Dilettantismus in Ihrem Ministerium. ({4}) Bei den Therapeutinnen und Therapeuten sind Sie knauserig. Auf der anderen Seite geben Sie den Ärztinnen und Ärzten 1,2 Milliarden Euro mehr – 1,2 Milliarden Euro mehr für Tätigkeiten wie die Behandlung neuer Patienten, für die sie sowieso schon bezahlt werden. Das verbessert die Versorgung ebenso wenig wie die Verlängerung der Sprechzeiten für gesetzlich Versicherte oder die Öffnung der Terminservicestellen rund um die Uhr. Denn die Sprechzeiten der Ärztinnen und Ärzte – das wissen Sie ganz genau – sind ohnehin schon länger, und die Terminservicestellen werden nachts um vier keine Termine vermitteln. Herr Minister, das ist reine Klientelpolitik für die Ärztinnen und Ärzte. ({5}) – Nein, weil sie die Klientelpolitik nicht gut finden. ({6}) Das zentrale Problem dagegen wird wieder nicht angegangen: das Nebeneinander von privater und gesetzlicher Krankenversicherung, das zu einem ungleichen Zugang zum Gesundheitssystem führt. Privatpatienten bekommen schneller einen Termin, und Ärztinnen und Ärzte lassen sich lieber in wirtschaftsstarken Gebieten nieder, in denen sehr viele Privatpatienten wohnen. Gesetzlich Versicherte – das sage ich in Ihre Richtung, Herr Lauterbach – werden so lange den Kürzeren ziehen, wie Ärzte an Privatpatienten ein Vielfaches verdienen. Das wissen Sie genauso gut wie wir. Herr Lauterbach, wenn Sie die Zweiklassenmedizin tatsächlich abschaffen wollen, dann schließen Sie sich unserer Forderung an. Die Linke fordert, die privaten Krankenversicherungen abzuschaffen. ({7}) Als Folge Ihrer Politik machen sich private Investoren, sogenannte Private Equity Fonds, auf, große Teile der medizinischen Versorgung zu übernehmen. ({8}) Sie kaufen ein kleines, unbedeutendes Krankenhaus, um das Recht zu bekommen, Ketten von Medizinischen Versorgungszentren zu gründen, und das bundesweit, ohne Einschränkungen bei der Zahl der Standorte oder den Fachrichtungen. Ihr erklärtes Ziel ist es, in kürzester Zeit den Wert eines Unternehmens zu steigern und es dann mit möglichst viel Gewinn wieder zu verkaufen. Ich bin froh, dass mittlerweile sogar die Union verstanden hat, dass das der Versorgung schadet. Ich darf Frau Maag zitieren: „Gesundheit ist keine Ware.“ ({9}) Sie dürfen gerne unsere Slogans übernehmen; ({10}) aber bitte lassen Sie dem dann auch Taten folgen. Ihr kleiner Änderungsantrag wird leider nichts bewirken. ({11}) Sehr geehrte Damen und Herren, auf unseren Tischen liegt heute ein sehr dicker Gesetzentwurf mit unzähligen Änderungsanträgen zu völlig unterschiedlichen Themen. Allein die Änderungsanträge umfassen 120 Seiten. Damit verhindern Sie eine gesellschaftliche Debatte über wichtige Themen der Gesundheitspolitik. Die Nachrichten werden heute melden, dass das Terminservice- und Versorgungsgesetz verabschiedet worden ist. Was aber im Einzelnen drinsteht, wird draußen kaum jemand erfahren. Wer hat denn zum Beispiel draußen von dem Änderungsantrag gehört, der darauf zielt, dass künftig private Wirtschaftsberater und große Anwaltskanzleien die Krankenkassen überprüfen können? Damit privatisieren Sie jetzt auch noch die Kontrolle des Gesundheitssystems. Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich kann es nicht verstehen, dass Sie diesen Wahnsinn mitmachen. ({12}) Das gilt im Übrigen auch für die Neuregelungen bei den Medizinprodukten, zum Beispiel den Herzschrittmachern. Es ist ja schon skandalös, dass das momentane Prüfverfahren kaum wirkungsvoll ist. Daraus allerdings jetzt den Schluss zu ziehen, es de facto abzuschaffen, ist doch völlig verantwortungslos. Wir brauchen nicht weniger Sicherheit für die Patientinnen und Patienten, sondern wir brauchen mehr Sicherheit für die Patientinnen und Patienten. Auch deshalb lehnen wir Ihr Gesetz ab. Hören Sie doch endlich auf, die Interessen der Wirtschaft über das Wohl der Patientinnen und Patienten zu stellen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen hier im Hause! Was sind eigentlich die wirklichen Aufgaben, die sich in unserem Gesundheitswesen derzeit stellen? Wir haben eine zunehmende Zahl älterer Patientinnen und Patienten mit chronischen Erkrankungen und sehr komplexem Unterstützungsbedarf. Wir haben eine faktische Unterversorgung in den strukturschwachen Regionen und in den Stadtteilen. Wir haben einen faktischen Fachkräftemangel, insbesondere in den Pflegeberufen und in den Gesundheitsberufen. Und was legen Sie uns in dieser Situation als Gesetz zur Verbesserung der Versorgung vor? Ein Gesetz, dessen Kernstück es ist, Fachärzte besser dafür zu bezahlen, dass sie zusätzliche Termine ausgeben. Ich muss sagen: Kleiner geht es wohl nicht und teurer auch nicht. ({0}) Zu dem teuren Kompromiss, den das Gespann Karl Lauterbach und Jens Spahn ausgehandelt hat, muss man sagen: Mit diesem Kernstück gehen Sie an den eigentlichen Herausforderungen vorbei. Gleichzeitig geben Sie sehr viel Geld ungezielt, mit der Gießkanne, aus, das uns fehlen wird, wenn die eigentlichen Probleme angegangen werden müssen. ({1}) Und dann schafft es Karl Lauterbach mit einer besonderen strategischen Meisterleistung, ausgerechnet 1,2 Milliarden Euro mehr für die Fachärzte als wesentlichen Schritt zur Verbesserung der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen zu verkaufen. Das ist doch absurd ohne Ende. ({2}) Das versteht kein SPD-Wähler, und das versteht die Bevölkerung bei weitem nicht. ({3}) Dieses Geld würde man besser für eine Stärkung der Primärversorgung ausgeben, ({4}) bei der es auch darum geht, wie wir die älteren, multimorbiden Patientinnen und Patienten unterstützen. Das ist im Übrigen das, was der Sachverständigenrat seit Jahren von uns fordert. ({5}) Das Geld wäre besser bei einer Stärkung der Geburtshilfe angelegt. ({6}) Heute ist es Fakt, dass die Frauen in einigen Regionen von einer Klinik zur nächsten fahren müssen, um überhaupt eine Station zu finden, auf der sie entbinden können. Wir haben eine Notfallversorgung, die nicht funktioniert, was ebenso dazu führt, dass die Menschen von einem Krankenhaus zum anderen gereicht werden. Das sind die Probleme, die Sie angehen müssen. Dafür brauchen wir die Mittel der gesetzlichen Krankenversicherung ({7}) und nicht für mehr Termine bei Fachärzten, die jetzt besser bezahlt werden. Da hätte ein schlichtes Diskriminierungsverbot gereicht, das regelt: Gesetzlich Versicherte dürfen bei der Vergabe von Terminen nicht benachteiligt werden. – ({8}) Das hätte nichts gekostet. Selten hat ein Gesetzgebungsverfahren so viele Schlagzeilen produziert. Selten haben die halbe Republik und die Koalitionsfraktionen so erleichtert aufgeatmet, als Regelungen wieder vom Tisch genommen worden sind – auch das eine Besonderheit, die wir sonst nie erlebt haben. Selten haben wir erlebt, dass ein Minister im Nachgang am Kabinettsbeschluss vorbei Formulierungshilfen noch und nöcher in die Bevölkerung bringt, die kostenträchtig sind, die umstritten sind, die provozieren, die aber gleichzeitig der Inszenierung dienen: Da ist ein Minister, der was machen will, der keinen Konflikt scheut. Und dann, am Ende, erleben wir: All diese Regelungen sind vom Tisch. Die Fraktionen haben sie vom Tisch nehmen müssen, ({9}) weil in beiden Fraktionen der Konsens bestand: Da machen wir nicht mit, weil es keine Substanz hat und kein wirklicher Problemlösungsansatz ist. ({10}) So wird derzeit Politik gemacht. ({11}) Ich muss sagen: Ich bin mehr als froh, dass mit der größten Petition überhaupt die Schaffung einer zusätzlichen Hürde beim Zugang zur Psychotherapie gestoppt wurde. ({12}) Jetzt wird es darauf ankommen, dass wir in den nächsten Gesetzgebungsverfahren tatsächlich eine gute Versorgung für Menschen mit einer psychischen Erkrankung hinkriegen. Dann haben Sie natürlich auch ein paar gute Schritte gemacht. Ich nenne ganz ausdrücklich, dass es zu Verbesserungen bei den Heilmittelerbringern kommt. Aber Sie bleiben auf halber Strecke stehen. Es reicht nicht, alle Honorare auf das höchste bundesweit ausgehandelte Niveau anzuheben. Wir müssen davon ausgehen, dass selbständige Logopäden, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Diätassistenten von diesem Geld leben können müssen, eine selbstständige Praxis führen können müssen und es gleichzeitig schaffen können müssen, tarifgerechte Gehälter zu zahlen. ({13}) Das ist mit dem, was wir jetzt vorliegen haben, immer noch nicht drin. Da müssen Sie nachsteuern. Ich verstehe in keiner Weise, dass Sie nicht mal mehr Modellvorhaben möglich machen wollen, obwohl wir doch versuchen könnten, die Gesundheitsberufe weiterzuentwickeln, und diese Berufsgruppen so ihren besonderen Beitrag zur Gesundheitsversorgung mit einem Direktzugang eigenständig abbilden könnten. All das haben Sie aus dem Gesetzentwurf herausgenommen. Das ist ein großer Fehler. ({14}) Auch bei der Hilfsmittelversorgung machen Sie einen durchaus richtigen Schritt. Aus unserer Sicht fehlt aber tatsächliche Transparenz bezüglich der Qualität und hinsichtlich der Frage, wie gesetzliche Krankenkassen mit ihren Versicherten verfahren. Das ist das Nächste, das kommen muss. ({15}) Leider habe ich nicht genügend Redezeit, um auch noch auf die kleinen, stümperhaften Ansätze bei der Digitalisierung einzugehen. Dazu kann ich nur sagen: Es reicht nicht, Fristen auszureichen. Es reicht nicht, zu sagen: Bis dann habe ich eine smartphonefähige Patientenakte. – Wenn keiner weiß, was überhaupt drinstehen soll und ob die Daten zu nutzen sind, dann ist das nicht der richtige Weg. Da müssen wir etwas ganz anderes machen. ({16}) Sehr geehrter Herr Minister, nach einem Jahr Jens Spahn als Gesundheitsminister nehme ich es mir als Münsterländerin mal heraus, einen Rat zu geben: Weniger Schnellschüsse für die große Schlagzeile! Mehr handwerklich gut gemachte, auf die Lösung von Problemen gerichtete und mit Weitblick angelegte Gesetzesvorhaben!

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Weniger Investment in die Marke Jens Spahn und dafür mehr Mut, die wirklichen Zukunftsthemen anzugehen! Wir werden diesen Gesetzentwurf ablehnen. Danke schön. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Bundesminister für Gesundheit, Jens Spahn. ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gerade gesagt worden: Heute, auf den Tag genau, besteht die Große Koalition, besteht dieses Kabinett seit einem Jahr in dieser Zusammensetzung. In diesem Jahr haben wir an vielen, vielen Stellen, gerade auch in der Gesundheits- und Pflegepolitik, konkret im Alltag für viele Bürgerinnen und Bürger, aber auch für die 5,5 Millionen Beschäftigten im Gesundheitswesen viel erreicht: Wir haben für 1 Million Pflegekräfte in Deutschland die Arbeitsbedingungen verbessert; wir finanzieren zusätzliche Stellen; wir haben 50 Millionen Beitragszahler in Deutschland konkret zum 1. Januar 2019 von Beiträgen entlastet. Und wir machen mit diesem Gesetz weiter und helfen denjenigen konkret, die auf der Suche nach einem Termin sind und die zu oft zu lange warten müssen. ({0}) Das ist die Politik der Großen Koalition: konkret im Alltag die Dinge besser machen. Dieses Gesetz wird die Versorgung schneller, besser und digitaler machen. Schnellere Versorgung. Der Umstand, dass der privat versicherte Nachbar nächste Woche einen Termin beim Facharzt hat, der gesetzlich Versicherte aber erst in zwei, drei oder vier Monaten, ist ein sehr konkretes Aufregerthema für viele Bürgerinnen und Bürger, und das ist nachvollziehbar. Sie von den Grünen tun ja so, als sei das ein Thema, das keinen beschäftigt. Doch, das beschäftigt viele Bürgerinnen und Bürger. Und genau da setzen wir an: mit den Terminservicestellen, die unter der Rufnummer 116 117 zusammen mit dem ärztlichen Notdienst in Zukunft 24 Stunden am Tag erreichbar sind – es wird auch digitale Angebote geben –, und mit finanziellen Anreizen. Heute sagen Haus- und Fachärzte: Es gibt Budgets; daher bekomme ich für einen neuen Patienten oder für Patienten, die ich aufgrund vorhandener Kapazitäten schneller drannehmen könnte, kein zusätzliches Geld. – Es ist doch zielgerichtet und richtig, zu sagen: Wer mehr behandelt, soll auch entsprechend besser vergütet werden. ({1}) Wir verhelfen den Patienten zu schnelleren Terminen, indem wir da konkret ansetzen. Genau das macht den Alltag für viele Bürgerinnen und Bürger besser. ({2}) Bessere Versorgung. Wir haben in Zukunft eine bessere Situation bei den Hilfsmitteln; das ist schon genannt worden. Die Ausschreibung bei Rollstühlen, bei Inkontinenzprodukten und in vielen anderen Bereichen fällt weg. Durch das Gesetz bekommen wir eine bessere Versorgung mit Impfstoffen. Wir bekommen bessere Rahmenbedingungen für die Heilmittelerbringer. Jedem Heilmittelerbringer in Deutschland wird ab dem 1. Juli 2019 mehr Geld gezahlt werden. 600 Millionen Euro! Sie müssen schon sagen, ob Sie diesen Schritt mitgehen wollen oder nicht. Wir wollen ihn gehen, um zu einer besseren Versorgung zu kommen. ({3}) Die Kryokonservierung für junge Erwachsene mit zum Beispiel Krebserkrankungen ist von der Kollegin Maag schon genannt worden. PrEP wird finanziert, um die HIV-Infektionszahlen in Deutschland zu reduzieren. ({4}) Es gibt Verbesserungen bei den Betreuungsdiensten. Das ist ein Riesenthema für Familien mit einem zu pflegenden Angehörigen zu Hause, die Unterstützung suchen. Diese Familien, die heute oft keinen Pflegedienst finden, können in Zukunft, wenn es um die Nachmittagsbetreuung oder die Haushaltshilfe geht, Betreuungsdienste in Anspruch nehmen. Das regeln wir. Der Festzuschuss beim Zahnersatz – viele Versicherte haben hier heute hohe Eigenanteile zu tragen – wird von 50 Prozent auf 60 Prozent erhöht. Das alles sind ganz konkrete Maßnahmen, die die Versorgung besser machen. Alle, die heute gegen diesen Gesetzentwurf stimmen, müssen schon sagen, wie sie sich dazu verhalten: Wollen Sie diese Verbesserungen in der Versorgung für die Bürger, oder wollen Sie sie nicht? ({5}) Wir als Große Koalition wollen sie, und deswegen werden wir zustimmen. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister Spahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der FDP?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Natürlich.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Ich komme aus einem Wahlkreis an der Schweizer Grenze. Wir haben einen eklatanten Ärztemangel. Das Problem besteht nicht darin, einen Termin zu bekommen. Es gibt einfach keine Ärzte; die Menschen finden keine Ärzte. Viele der deutschen Ärzte geben auf – wegen Bürokratie, wegen Gängelung, wegen Budgetierung – und gehen in die Schweiz. Was bewirkt Ihr Gesetz in dieser Hinsicht? Gewinnen wir einen Arzt mehr, indem wir mehr Bürokratie für die Ärzte schaffen? ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Sie haben sich die Antwort im Grunde selbst gegeben: Ja, wir haben heute in bestimmten Bereichen Budgets. Das macht es in bestimmten Bereichen heute unattraktiv, zusätzlich Patienten anzunehmen. Wir haben nicht wenige Fachärzte, im Übrigen auch Hausärzte, die nachvollziehbarerweise sagen, dass es aus ihrer Sicht wenig Sinn macht, zusätzlich Patienten anzunehmen, weil sie deren Behandlung nicht zusätzlich vergütet bekommen. ({0}) Wir sorgen sehr zielgerichtet für ein Ende der Budgetierung in diesem Bereich bei Fachärzten und Hausärzten. Das ist das, was Sie immer gefordert haben. Deswegen würde ich mir etwas mehr Unterstützung von der FDP an dieser Stelle wünschen. Das ist eine sehr konkrete Maßnahme, die wir hier vornehmen. ({1}) Also, wir machen die Versorgung schneller, wir machen sie besser, und wir machen sie digitaler. Neben der Frage, wie wir schneller an einen Termin kommen, ist das größte Aufregerthema im deutschen Gesundheitswesen, warum es bei der elektronischen Gesundheitskarte seit 15 Jahren nicht vorangeht. Seit 15 Jahren geht dieses einst größte IT-Projekt in Europa nicht wirklich voran. Wir regeln das jetzt und sorgen für Geschwindigkeit. Die elektronische Patientenakte wird für jeden Versicherten, der das will, ab 2021 auf dem Smartphone verfügbar sein. Parallel führen wir über ein anderes Gesetz endlich das elektronische Rezept ein. Weg vom Papier! Und ja, dafür entmachten wir ein Stück weit die Selbstverwaltung. Als Bundesministerium, als Politik werden wir die Mehrheit an der Gesellschaft übernehmen, die das Projekt bisher betrieben hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da die Selbstverwaltung seit 15 Jahren nicht in der Lage ist, das Ding mit der nötigen Geschwindigkeit voranzubringen, ({2}) und sich die Frage stellt, ob irgendwann digitale Angebote aus den USA oder aus China in Deutschland verfügbar sein werden oder ob wir sie hier bei uns selbst entwickeln können, gehen wir in den Konflikt mit der Selbstverwaltung, indem wir sagen: Das muss an dieser Stelle konkret besser werden; wir brauchen Geschwindigkeit. ({3}) Deswegen ist diese Regelung an dieser Stelle notwendig. ({4}) Abschließend ein Wort zu den Änderungsanträgen und den Vorschlägen, die gemacht wurden. Ich weiß nicht, Frau Klein-Schmeink, was für eine Vorstellung Sie von einem guten Gesetzgebungsverfahren haben. Als jemand, der viele Jahre die Gesundheitspolitik im Gesundheitsausschuss mitgestaltet hat, habe ich eine klare Vorstellung davon. Das Beratungsverfahren ging über fünf, sechs Monate, es haben zwei Anhörungen zu diesem Gesetzentwurf stattgefunden, und es wurden viele Stellungnahmen eingereicht. Ich finde es daher vernünftig, zu sagen: Gute Argumente und gute Vorschläge greifen wir auf. Ich bin nicht so ehrpusselig, zu sagen: Der Gesetzentwurf, den wir als Bundesregierung eingebracht haben, muss eins zu eins so beschlossen werden. – Wir haben doch ein parlamentarisches Verfahren, damit die Gesetzentwürfe durch konstruktive Vorschläge besser werden. ({5}) In diesem Verfahren ergeben sich natürlich Änderungsanträge. Diese Änderungsanträge – Stichwort: Heilmittel – sind Ihnen im Übrigen seit Wochen und Monaten bzw. seit November bekannt. So machen wir Politik. Wir unterbreiten Vorschläge, gehen damit in die Debatte. Wenn es gute Argumente gibt, gehen wir auf diese Argumente ein. Und das zeigt sich in den Änderungsanträgen. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister Spahn, Mitglieder der Bundesregierung haben keine Redezeitbegrenzung. Aber Sie reden jetzt zulasten des nachfolgenden Redners der Fraktion, der Sie angehören. ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Ich wollte gerade zum Finale ansetzen, Herr Präsident, wenn ich darf.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Tun Sie es.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Danke schön. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich muss nur der CDU/CSU sagen: Wir müssen beim nächsten Redner ein bisschen Zeit einsparen.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Danke schön. – Dieser Gesetzentwurf ist in seinem gesamten Umfang mit allen Änderungsanträgen ein ganzes Stück Arbeit. Er ist sehr umfangreich. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen im Ministerium und auch in den Fraktionen, die das Ganze begleitet haben, und den Kolleginnen und Kollegen in der Koalition. Das ist das größte, das umfangreichste Gesetz zur Gesundheit in dieser Legislaturperiode. Es macht konkret den Alltag für Millionen Menschen besser. Deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich der Kollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort zu einer Kurzintervention. Sie hat versprochen, es kurz zu machen. ({0})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, Sie haben vorhin darauf abgehoben, dass es wichtig sei, auch im Gesetzgebungsprozess Veränderungen vorzunehmen. Da springe ich Ihnen ausdrücklich bei. Das ist aber nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass Sie zahlreiche Formulierungsvorschläge mit provokant gesetzten Themen nachgereicht haben, von denen Sie wussten, dass diese zwar öffentliche Diskussionen auslösen, aber in keinerlei Weise dem entsprechen, was entweder die Fachöffentlichkeit oder aber die Fraktionen zuvor diskutiert hatten. Das ist das Besondere an dem Stil, den Sie hier inszeniert und durchgesetzt haben. An dieser Stelle möchte ich einmal festhalten: Die Kosten für das, was da nebenbei noch alles gelaufen ist, entsprechen ungefähr dem Doppelten dessen, was vorher im Gesetzentwurf gestanden hat. Das ist schon mal bemerkenswert. Und da fragt man sich natürlich: Ist das alles gut ausgegebenes Geld? ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erster Teil. Es gab exakt zwei Themen, die im Rahmen der Beratung mit den Koalitionsfraktionen besprochen wurden und bei denen wir uns dafür entschieden haben, weil mehr Beratungsbedarf bestand, sie in späteren Gesetzen zu regeln. Wenn wir bei zwei Themen sagen, dass wir länger beraten müssen, halte ich das für einen ziemlich normalen Vorgang. Ehrlich gesagt, kann ich Ihre Empörung an dieser Stelle nicht verstehen. Zweiter Teil. Ja, es gab umfangreiche Änderungen. Die Änderungen zum Heilmittelbereich – Sie haben hier die Physiotherapeuten, Logopäden und Ergotherapeuten angesprochen, die zu Recht seit Monaten auf der Straße in Protestaktionen auf ihre schwierige Situation hinweisen – sehen 600 Millionen Euro Mehrausgaben vor. Ja, diese Änderungen sind mit hineingekommen. Diese Änderungen liegen Ihnen übrigens seit November 2018 vor. Es stand also ausreichend Zeit zur Verfügung, darüber zu beraten. Auch dort gab es noch weitere Verbesserungsvorschläge. ({0}) Aber wenn wir ein Problem erkennen – es besteht ein Problem in der Heilmittelversorgung: Patienten müssen warten, und diejenigen, die die Leistungen erbringen, haben schlechte Arbeitsbedingungen –, müssen wir handeln. Wir sind dazu gewählt worden, Probleme zu lösen. Genau das machen wir mit diesem Gesetz. Das Gleiche gilt für die gematik. Wir müssen etwas tun, wenn wir erkennen, dass die Strukturen der Selbstverwaltung nicht die notwendige Geschwindigkeit erzeugen und bis zum Jahresende keine Entscheidungen getroffen werden, die wir brauchen, damit die elektronische Patientenakte 2021 endlich fliegt. Sie muss aber kommen, damit Patienten, Ärzte und Apotheker spüren: Die Versorgung wird besser, weil wir bessere Informationen und Kommunikation haben. Wir haben im Januar dieses Jahres vorgeschlagen – das ist auch schon eine ganze Zeit her –, in der gematik zu entsprechenden Veränderungen zu kommen. Ja, das sind umfangreiche Änderungen. Aber ich bleibe dabei: Wenn ich ein Problem erkenne – das ist jedenfalls mein Politikansatz –, dann versuche ich, ein Problem nicht nur zu besprechen, sondern auch zu lösen. Und das machen wir mit diesem Gesetz. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Robby Schlund, AfD. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Herr Spahn! Liebe Kollegen! Werte Gäste auf den Rängen! Wir haben gerade über die Schweiz geredet. Manche Patienten reisen den Ärzten mit dem Koffer in die Schweiz hinterher. Aber auch in der Schweiz ist nicht alles in Ordnung. Denn: „Ohne deutsche Ärzte wäre die medizinische Versorgung in der Schweiz mittlerweile gefährdet“ titelte die „Neue Zürcher Zeitung“. Zurzeit arbeiten circa 10 000 deutsche Ärzte im Ausland, davon rund 80 Prozent im deutschsprachigen Raum. 1 965 Ärzte wanderten 2017 von Deutschland in die für Mediziner attraktivere Schweiz aus. Stellen Sie sich das einmal vor: 1 965 mehr Arztpraxen zur Versorgung des ländlichen Raums! ({0}) Herr Lauterbach sagt, dass wir mehr Medizinstudenten brauchen. Ich glaube – damit wende ich mich auch an Sie, Herr Spahn –, dass wir eine Lösung brauchen. Das TSVG bietet keine Lösung, sondern ist ein unausgegorener Federweißer, der Ihnen, liebe Regierungskoalition, nach der Ernüchterung eher abenteuerliche Kopfschmerzen bereiten wird. ({1}) Das TSVG macht die Freiberuflichkeit des Arztberufes unattraktiv und schafft keine Anreize, sich als Arzt in Deutschland niederzulassen – und schon gar nicht im ländlichen Raum. Im Gegenteil! Ich gebe Ihnen schon jetzt Brief und Siegel darauf, dass durch die staatlichen Vorgaben und Eingriffe in die Praxisorganisation Folgendes passieren wird: Erstens. Durch die Erhöhung der Mindestsprechstundenzeit wird keine Steigerung der Patientenzahlen erreicht. Zweitens. Es wird zu einer Verschiebung kommen, bei der Akutpatienten bevorzugt werden und chronisch Kranke auf der Strecke bleiben. Drittens. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Ärzte wird tatsächlich die Koffer packen und ins Ausland abwandern oder einfach einen anderen Beruf, zum Beispiel in der Pharmaindustrie, ergreifen. Last, but not least wird es zu einer Kostenexplosion kommen. Aber das noch viel Dramatischere dabei ist, dass hier eine staatliche Lösung durch die Hintertür konzipiert werden soll. Glauben Sie ehrlich, dass Sie damit die Versorgung der Patienten wirklich verbessern können? Das Schlüsselproblem von Wartezeiten ist nicht der Arzt, wie im TSVG suggeriert werden soll, sondern die Budgetierung. Ende Dezember 2018 betrugen die Rücklagen der Krankenkassen 21 Milliarden Euro. Die sofortige Aussetzung der Budgetierung würde zwar circa 2 Milliarden Euro kosten, jedoch die Versorgung der Patienten schlagartig verbessern. ({2}) Deshalb fordern wir, die AfD, die sofortige, komplette Aussetzung der Budgetierung über einen Zeitraum von fünf Jahren bei Just-in-time-Prüfung der tatsächlichen Kosten. ({3}) – Sie scheinen überhaupt keine Ahnung vom ärztlichen Beruf zu haben. Oder? Eine Teil-Entbudgetierung, wie die FDP sie verlangt, klingt zwar gut, würde aber ganz im Gegenteil Ungerechtigkeiten zwischen den Fachgruppen produzieren und das Ziel verfehlen. Ebenso vermissen wir das Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Medikamenten und den Erlaub der Zustellung durch Boten der Solitärapotheken gerade im ländlichen Raum. ({4}) Unsere Apotheken sind für die flächendeckende Versorgung von großer Wichtigkeit. Werden uns denn gerade in Havarie- und Katastrophenfällen die ausländischen Versandapotheken helfen wollen? Ehrlich gesagt, glaube ich das nicht. Zum Wohle der Patienten in unserem Land appellieren wir an Sie, den Gesetzentwurf zum TSVG abzulehnen oder zumindest noch einmal zu überarbeiten. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich der Kollegin Sabine Dittmar, SPD, das Wort. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! In der ersten Lesung zu diesem Gesetzentwurf im Dezember 2018 habe ich gesagt: Ich freue mich auf die parlamentarischen Beratungen; denn da werden wir aus einem guten Gesetzentwurf ein noch sehr viel besseres Gesetz machen. Das parlamentarische Verfahren war sehr intensiv. Wir haben eine Vielzahl neuer und umfassender Regelungen erarbeitet. Heute stelle ich hier fest: Es ist uns gelungen. ({0}) Wir bringen ein gutes Gesetzgebungsvorhaben zum Abschluss. Heute ist ein guter Tag für die Patientinnen und Patienten in Deutschland. ({1}) Ich bin froh, dass es uns gelungen ist, die schon in der ersten Lesung kritisierten Punkte zu beseitigen. Erwähnen möchte ich hier die Versorgung von psychisch kranken Menschen. Unbestritten haben wir dort Verbesserungsbedarf, was Zugang, Vernetzung und Kooperation angeht. Aber der vom Minister gemachte Vorschlag war untauglich. Wir haben ihn gestrichen und werden zeitnah eine bessere Lösung vorlegen. ({2}) Im parlamentarischen Verfahren haben wir auch die zunächst vorgesehenen Hürden für MVZs verhindern können. MVZs sind aus unserer Sicht ein sehr wichtiger Faktor in der Versorgungslandschaft – sowohl für die Patientinnen und Patienten, die sehr viel besser interdisziplinär behandelt werden können, als auch für Ärztinnen und Ärzte, die neue Arbeitszeitmodelle haben möchten und die im Team arbeiten wollen. Ich stelle hier aber auch ausdrücklich fest: Auf die Gründungseinschränkungen für die Zahnarzt-MVZs erhebt meine Fraktion keinen Urheberrechtsanspruch. Kolleginnen und Kollegen, ein wichtiges Ziel der SPD war es, die hausarztzentrierte Versorgung zu verbessern. ({3}) Ich freue mich deshalb sehr, dass zukünftig alle Kassen ihren Versicherten einen sogenannten Hausarzt-Wahltarif anbieten müssen, der die Versicherten entweder durch einen Bonus oder durch reduzierte Zuzahlungen an den Effizienzgewinnen beteiligt. Das macht die hausärztliche Versorgung attraktiver und belohnt die teilnehmenden Versicherten, vor allem aber stärkt es die Lotsenfunktion der Hausärzte. Dass es einen großen Bedarf an Versorgungssteuerung gibt, zeigt die aktuelle forsa-Umfrage: Danach gehen mehr als ein Drittel der Befragten auch zu Sprechstundenzeiten in die Notaufnahme der Krankenhäuser. Die Gründe dafür sind vielfältig. Es zeigt aber vor allem eines: dass die Patientinnen und Patienten eine erste Anlaufstelle brauchen, die die Versorgung dann koordiniert. Das ist für mich die Hausärztin oder der Hausarzt, und da haben wir mit dem Hausarzt-Wahltarif einen ersten wichtigen Schritt in die richtige Richtung gemacht. ({4}) Mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, schaffen wir für die Patientinnen und Patienten – es ist schon mehrmals erwähnt worden – einen schnelleren Zugang zu Arztterminen. Die Terminservicestellen werden besser erreichbar sein, und sie werden umfassender vermitteln. Die Ärzte werden mehr Sprechstunden anbieten. Grundversorgende Fachärzte und Fachärztinnen werden offene Sprechstunden anbieten. Das alles wird zusätzlich honoriert. Was mir besonders wichtig ist: Für die Annahme und Behandlung von neuen Patienten bekommen die Ärzte und Ärztinnen zukünftig das volle Honorar, außerhalb vom Budget. Das, meine Damen und Herren, ist sehr wichtig; denn gerade diese Patienten hatten es in der Vergangenheit sehr schwer, einen Termin zu bekommen. Das war für diese Patienten – da geht mein Appell an die verfasste Ärzteschaft – kein gefühltes Problem, sondern ein real existierendes. ({5}) Die Versicherten profitieren auch von massiven Leistungsverbesserungen: Der Zuschuss zum Zahnersatz wird erhöht, er kommt deutlich früher. ({6}) Das Entlassmanagement wird verbessert. Die Kryokonservierung wird zukünftig eine Kassenleistung. Ich könnte jetzt noch ein paar Punkte mehr aufzählen; aber meine Redezeit ist abgelaufen. Ich sage deshalb hier: Gesundheitspolitik ist sehr viel Detailarbeit, und dieses Gesetz war es wirklich explizit. Aber wir haben große Schritte unternommen, um die Versorgung von gesetzlich versicherten Patientinnen und Patienten ein Stück weit zu verbessern. Ich bitte um Zustimmung. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Wieland Schinnenburg, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mir einmal Gedanken gemacht, wie wohl ein Arzt das Verhalten von Minister Spahn bewerten und diagnostizieren würde. Da bin ich zu zwei Diagnosen gekommen, die gerade in ihrer Kombination doch ein bisschen auffällig sind: Minister Spahn leidet unter Hyperaktivität und unter Hybris, meine Damen und Herren; ({0}) man nennt es auch das Spahn’sche Syndrom. Lassen Sie mich das an fünf Punkten erläutern. Erster Punkt: Hyperaktivität. Minister Spahn schickt ein Gesetz nach dem anderen durch den Deutschen Bundestag. Offenbar hat er Angst, dass er nicht mehr lange im Amt ist; er muss ganz schnell, in kurzer Zeit, viel machen. Zweiter Punkt: Hyperaktivität. Er legt ein Gesetz vor, bei dem es ursprünglich um schnelle Terminvergabe gehen sollte, und nun wird da alles reingepackt, was Minister Spahn immer schon regeln wollte. Dritter Punkt. Dieses Gesetz fand er offenbar selber nicht mehr so gut. Deshalb gibt es jede Menge Änderungsanträge; zum Teil werden sie weniger als 24 Stunden vor der entscheidenden Sitzung vorgelegt. ({1}) Vierter Punkt: Hybris. Minister Spahn sagt: „Jetzt regle ich die Digitalisierung selber.“ Er meint, besser zu wissen, wie es geht, als die Leute, die davon betroffen sind und die vor allem darunter leiden werden, was er nachher beschließt. Das ist Hybris, meine Damen und Herren. Fünfter Punkt: wieder Hybris. Er wollte sogar den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung regeln – ohne Rücksicht darauf, was Experten zu dem Thema meinen. Meine Damen und Herren, so macht man keine Politik und schon gar keine Gesundheitspolitik. ({2}) In der Gesundheitspolitik geht es nämlich um Menschen, die krank sind, Menschen, die Angst haben, und es geht um die Menschen, die ihnen helfen wollen, die oft unter zunehmend schwierigen Bedingungen, manchmal verzweifelt, ihren Patienten helfen wollen; übrigens, Herr Spahn, weitaus mehr als 25 Stunden pro Woche. In dieser Situation brauchen die Menschen etwas, was Sie ihnen nicht geben: Sie brauchen Hilfe bei ihren beiden Problemen. Das eine Problem ist Mangel, und das andere Problem ist zu viel Bürokratie. Genau an diesen beiden Punkten tun Sie nichts. Im Gegenteil: Sie verschlimmern es noch. ({3}) Stichwort „Mangel“. Sie hatten ja richtig erkannt, dass es schon Arztgruppen gibt, bei denen es fast bundesweit einen eklatanten Mangel gibt. Da kamen Sie auf die vom Ansatz her richtige Idee, wenigstens befristet Ausnahmen von Zulassungsbeschränkungen einzuführen – ein Weg in die richtige Richtung. Den haben Sie wieder gestrichen. Also keine Arbeit gegen Mangel. ({4}) Stichwort „Bürokratie“. Sie wollen den Ärzten mehr Geld geben, wenn sie neue Patienten behandeln – richtiger Ansatz. Aber was haben Sie gemacht? In letzter Sekunde kam ein Änderungsantrag, dass dieser Zuschuss jetzt gestuft ausgezahlt werden soll, je nachdem, wie lang die Wartezeit war. Ergebnis: Der Arzt muss nicht nur dokumentieren und beweisen, dass der Patient neu ist, sondern auch, wann er sich gemeldet hat und wann er den Termin bekommen hat. Meine Damen und Herren, damit beschäftigen sich künftig Ärzte: mit Dokumentationspflichten. Und kontrollieren muss es auch noch einer. Diese Zeit wäre viel besser eingesetzt für die Behandlung von Patienten. ({5}) Deshalb mein Appell an Minister Spahn und alle: Beseitigen Sie die Budgetierung, verringern Sie die Bürokratie, und Sie werden feststellen: In kurzer Zeit haben die Ärzte genug Zeit für ihre Patienten, es gibt keine Terminprobleme. So geht das, aber nicht mit Ihrem Gesetz. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Stephan Pilsinger, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn! Meine Damen und Herren! Vorweg möchte ich eines zu den Komikeraktionen von Herrn Schinnenburg sagen: Ihr Witz war so flach, da hat nicht einmal die FDP applaudiert. Ich glaube, Komiker sollten Sie wirklich nicht werden. ({0}) Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz bringen wir heute ein Gesetz auf den Weg, das viele Verbesserungen für Patienten und Ärzte mit sich bringt. Hervorheben möchte ich die Verbesserung, die wir mit diesem Gesetz für Hausärzte erreichen. Wir stärken die Rolle des Hausarztes und verbessern damit die Versorgungssituation in Deutschland. Aktuell nehmen Patienten Hausärzte und Spezialisten direkt und zum Teil parallel in Anspruch. Das reduzieren wir, indem wir Hausärzte als erste Ansprechpartner agieren und eine Art Filter- und Lotsenfunktion übernehmen lassen. Auch auf Initiative der CSU wurde in das TSVG eine verpflichtende Bonifizierung im Wahltarif für die hausarztzentrierte Versorgung, wenn Effizienzgewinne erzielt werden, aufgenommen. An dieser Stelle möchte ich unserem Koalitionspartner, der SPD-Fraktion, einen Dank aussprechen: Sie haben in dieser Sache mit uns an einem Strang gezogen ({1}) und die Aufnahme dieser Regelung nachhaltig vorangebracht. Vielen Dank dafür. ({2}) Hausärzte übernehmen also koordinierende Aufgaben, sie leiten Patienten durch das Gesundheitssystem, und dieses Gesetz legt fest, dass sie für dringliche Überweisungen 10 Euro Zuschlag erhalten. Mit den genannten Neuregelungen werden mehr Patienten an der hausarztzentrierten Versorgung teilnehmen, und der Hausarzt wird für mehr Patienten die Rolle des ersten Ansprechpartners einnehmen. Das Gesetz enthält zudem Regelungen, die der gesamten Ärzteschaft zugutekommen; auf einige gehe ich ein. Wir schützen Ärzte mit verschiedenen Regelungen im TSVG künftig besser vor Regressen. So wird zum Beispiel die Zufälligkeitsprüfung ärztlicher Leistungen durch eine Prüfung auf Antrag und Festlegung der Anzahl der zu prüfenden Ärzte durch die Landesvertragspartner ersetzt. ({3}) Außerdem werden künftig Zusatzangebote von Ärzten entlohnt. Dies ist bereits ein großer Schritt in Richtung Entbudgetierung. Zum Beispiel wird es auf Leistungen für neue Patienten in der Praxis Zuschläge von mindestens 25 Prozent auf die Versicherten- und Grundpauschalen geben oder Zuschläge von mindestens 15 Prozent auf die Grundpauschalen für Leistungen, die in den offenen Sprechstundenzeiten erbracht werden. Darüber hinaus konnten wir zu den Medizinischen Versorgungszentren, MVZs, in denen Ärzte gleicher oder unterschiedlicher Fachrichtung unter einem Dach zusammenarbeiten, gute Lösungen finden. Die MVZ-Gründungsbefugnis von Erbringern nichtärztlicher Dialyseleistungen muss künftig sichergestellt werden. Zudem wird in Zukunft die Zahn-MVZ-Gründungsbefugnis von Krankenhäusern in Abhängigkeit vom Versorgungsgrad im Planungsbereich beschränkt. Außerdem sollen anerkannte Praxisnetze künftig nicht nur in unterversorgten oder von Unterversorgung bedrohten Gebieten zur MVZ-Gründung befugt sein. Neben den Verbesserungen für die Ärzteschaft konnten wir im TSVG aber auch zahlreiche Verbesserungen im Heilmittelbereich erzielen. Besonders hervorzuheben ist hier die Einführung der Blankoverordnung in der Regelversorgung. Bei dieser Versorgungsform nehmen Ärzte auch weiterhin die Indikationsstellung und die Verordnung eines Heilmittels vor. Die konkrete Auswahl der Heilmittelleistung sowie die Bestimmung der Behandlungsfrequenz und der Behandlungsdauer erfolgen aber durch den Heilmittelerbringer wie Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden. Damit wird den Heilmittel­erbringern mehr Versorgungsverantwortung übertragen. Das finde ich wirklich super. ({4}) Darüber hinaus wird die Heilmittelversorgung noch durch weitere Maßnahmen gestärkt. Zu nennen sind hier unter anderem die Vereinfachung des Zulassungsverfahrens, die Einführung von Vertragsverhandlungen auf Bundesebene und die bundesweite Vereinheitlichung der Höchstpreise für die Heilmittelleistungen zum 1. Juli 2019. Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz verbessern wir an vielen Stellen unser ohnehin schon gutes Gesundheitssystem weiter. Das ist ein richtig gelungenes Gesetz. Deshalb bitte ich um Zustimmung. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bettina Müller, SPD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Bettina Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004358, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Egal ob Stadt oder Land, eine gute Gesundheitsversorgung ist besonders wichtig für die Menschen. Heute haben wir in der medizinischen Versorgung große Unterschiede: auf der einen Seite verschieden lange Zeiten des Wartens auf Arzttermine für Privat- und gesetzlich Versicherte, auf der anderen Seite ein Ungleichgewicht in der Versorgung zwischen Stadt und Land. Beide Probleme packen wir jetzt an. ({0}) Für schnellere Termine beim Haus- und Facharzt machen wir die Terminservicestellen flott. Sie sind jetzt rund um die Uhr erreichbar und vermitteln die Versicherten an die richtige Stelle, und in offenen Sprechstunden können Patienten gesundheitliche Angelegenheiten schnell klären lassen. Das entlastet die Notaufnahmen der Krankenhäuser und verhindert teure stationäre Behandlungen. ({1}) Mein Wahlkreis liegt im ländlichen Hessen. Ich weiß nicht nur aus Umfragen, dass auf dem Land die Unzufriedenheit mit der medizinischen Versorgung stetig wächst. Das wollen wir ändern. Künftig werden die Länder im G‑BA bei der Bedarfsplanung ein Wörtchen mitzureden haben. In den Zulassungsausschüssen entscheiden sie, wo, in welcher Region, Ärzte gebraucht werden, und können Neuzulassungen beschließen. Und: Dort, wo Ärzte fehlen, muss die KV künftig mit Eigeneinrichtungen Abhilfe schaffen. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Medizinische Versorgungszentren leisten schon jetzt einen wichtigen Beitrag in der Fläche. Neu ist: Künftig dürfen auch Praxisnetze MVZs gründen. Mit diesem Gesetz haben wir durch viele Regelungen dafür gesorgt, dass diese Versorgungsform weiter gestärkt wird. Und: Die Digitalisierung bekommt einen neuen Schub. Das ist wichtig für die telemedizinischen Behandlungen auch in der Fläche. ({3}) Zwar kann nichts den Arzt aus Fleisch und Blut ersetzen, aber die Menschen sind offen für Innovationen und haben keine Scheu vor Videosprechstunden. Das hat eine forsa-Umfrage erst kürzlich wieder gezeigt. Ein zusätzliches Instrument ist der Medibus, der bei uns in Nordhessen sehr gut ankommt. ({4}) Da mir die Gesundheitsversorgung auf dem Land besonders am Herzen liegt, will ich noch zwei Punkte herausheben. Das ist zum einen die Heilmittelversorgung, für die auch wir als SPD uns sehr stark eingesetzt haben. Physios, Logopäden, Ergotherapeuten, Podologen und Diätassistenten werden für die gesundheitliche Versorgung immer wichtiger. Aber die Bezahlung, die wirtschaftlichen und bürokratischen Rahmenbedingungen und die beruflichen Möglichkeiten sind in diesem Bereich längst nicht mehr zeitgemäß. Mit dem Gesetz stärken wir die Verantwortung dieser Berufe durch die Einführung der Blankoverordnung als Regelleistung. Wir verbessern die Vergütung. Wir bauen Bürokratie ab. Wir zentralisieren die Vertragsverhandlungen und stellen sicher, dass die Vergütungserhöhung, die bessere Vergütung, auch bei den angestellten Therapeuten ankommt. ({5}) Wir hätten gerne auch schon den Direktzugang modellhaft erprobt; denn die Blankoverordnung hilft uns später auf dem Land nicht mehr weiter, wenn die verordnenden Ärzte nicht mehr da sind. Aber das werden wir in einem der kommenden Gesetzgebungsverfahren nachholen, wenn auch die Ausbildung in den Gesundheitsberufen novelliert wird. ({6}) Ein letzter wichtiger Punkt ist die Verbesserung der geburtshilflichen Versorgung. Künftig sind alle Hebammen verpflichtet, sich in ein öffentliches Register eintragen zu lassen, ({7}) auf das die Eltern auch per App zugreifen können. Das sorgt zwar nicht für mehr Hebammen; wir sorgen aber dafür, dass die Eltern jetzt endlich alle zugelassenen Hebammen in ihrer Umgebung auch erreichen können. ({8}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, wir haben ein gutes Paket geschnürt. Das TSVG ist für die SPD auch ein wichtiger Schritt zur Überwindung der Zweiklassenmedizin – das ist schon gesagt worden –, und daran werden wir intensiv weiterarbeiten. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Alexander Krauß, CDU/CSU, ist der voraussichtlich letzte Redner in dieser Debatte. ({0})

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich noch einmal auf die wesentliche Frage eingehen, und lassen Sie mich auch versuchen, diese zu beantworten: Was bringt dieses Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung konkret für den Patienten? Was bringt es dem Patienten? ({0}) Lassen Sie uns mal die Probe aufs Exempel machen und das Ganze einfach mal durchbuchstabieren für einen einzelnen Patienten, der zum Beispiel einen Augenarzttermin benötigt – eine Herausforderung, vor der jeder vierte Deutsche einmal im Jahr steht. Man hat vier Möglichkeiten. Erstens. Man ruft bei einer Augenarztpraxis an. Die zweite Möglichkeit ist: Man geht zu seinem Hausarzt und sagt: Ich möchte gern zu einem Augenarzt überwiesen werden. Die dritte Möglichkeit ist: Man ruft bei der Terminservicestelle der kassenärztlichen Vereinigung an. Neu ist die vierte Möglichkeit: Man geht zur offenen Sprechstunde. Fangen wir mal mit der ersten Möglichkeit an. Man greift zum Telefonhörer und ruft einen Augenarzt an. Ich komme aus dem ländlichen Raum. Wenn man in meiner Region einen Augenarzt anruft, weil man um einen Termin bitten möchte, dann wird die Augenarztpraxis mit großer Wahrscheinlichkeit sagen: Sie bekommen keinen Termin. – Es gab vor wenigen Tagen eine Untersuchung in Sachsen, bei der man Augenarztpraxen angerufen hat. In der Hälfte der Fälle hat die Praxis gesagt: Wir nehmen keine neuen Patienten auf. – Das ist natürlich keine Situation, die uns zufriedenstellen kann. Ich glaube, dass das künftig seltener der Fall sein wird. Ärzte werden eher bereit sein, neue Patienten aufzunehmen, eben weil sie dafür extrabudgetär vergütet werden. Bislang ist es ja so, dass es mitunter nicht so attraktiv ist, einen neuen Patienten aufzunehmen. Vom Geld her lohnt es sich zukünftig also für einen Augenarzt: Wer neue Patienten nimmt, wer mehr arbeitet, der hat als Arzt auch etwas davon. Vielleicht wird es auch so sein, dass der Augenarzt eine Stunde länger arbeitet, weil es durch unser Gesetz ein bisschen weniger Bürokratie gibt. Denn die Gefahr, dass man in eine Regressprüfung kommt, wird kleiner. Ich glaube, das Regressgespenst, das manchmal durch die Arztpraxen geistert, werden wir mit dem Gesetz, das wir gleich verabschieden werden, ein Stück weit vertreiben. ({1}) Wenn es nicht klappt, dass man direkt beim Augenarzt einen Termin bekommt, ist die zweite Möglichkeit, dass man zum Hausarzt geht. Was ist da neu? Der Hausarzt soll beim Augenarzt, bei seinem Kollegen, anrufen und einen Termin vermitteln. Wir bezahlen künftig 10 Euro, wenn ein Termin vermittelt wird. Ich glaube, dass dadurch auch der Hausarzt ein gesteigertes Interesse hat, jemanden zu vermitteln. Der Hausarzt ist sicherlich ohnehin bemüht, für seine Patienten das Beste zu tun und bei seinem Facharztkollegen einen Termin zu bekommen; aber diese finanziellen Anreize werden in dieser Hinsicht mit Sicherheit nicht schaden. ({2}) Die dritte Möglichkeit: Man ruft bei der Terminservicestelle an und sagt, man möchte gern einen Augenarzttermin haben. Ich habe mir gestern mal den Spaß gemacht und bei meiner Terminservicestelle angerufen. Ich habe mir dann 120‑mal den Satz angehört: „Bitte warten Sie.“ ({3}) Nach 20 Minuten war dann jemand in der Leitung und hat zu mir gesagt: Wir schreiben Sie auf eine Liste. Darauf stehen schon Tausend Patienten aus Ihrer Region, und dieses Jahr werden Sie angerufen, und Sie werden einen Termin beim Augenarzt bekommen. – Das ist ein Zustand, der nicht haltbar ist. ({4}) Das ist etwas, was man den Patienten nicht zumuten kann: dass es so lange dauert. Deswegen müssen wir da deutlich schneller werden. Ich glaube, mit dem Gesetz wird nicht alles besser werden; aber es wird einiges besser werden. Ich glaube, wir werden dabei schneller vorankommen, dass ein Patient einen Termin bekommt. Was ist nun neu? Die Nummer der kassenärztlichen Vereinigung kann man sich wesentlich leichter merken. Sie ist bundesweit einheitlich: 116 117. Sie wird aber auch leichter erreichbar sein, nämlich rund um die Uhr. Vielleicht gibt es bald auch eine App, mit der man sich selber Termine buchen kann. Und: Wir setzen Anreize, dass man schneller einen Termin bekommt. Wenn man innerhalb einer Woche einen Termin bekommt, dann bekommt der Arzt 30 Prozent Honorar zusätzlich. Das wird dazu führen, dass die Ärzte versuchen werden, den Patienten möglichst schnell einen Termin zu geben. Lassen Sie mich zur vierten Möglichkeit kommen: zur offenen Sprechstunde. Die Pflicht zur offenen Sprechstunde ist neu; wir haben sie in den Gesetzentwurf aufgenommen. Der Patient, der einen Augenarzttermin dringlich braucht, kann auch direkt, also ohne Voranmeldung, zum Augenarzt in eine offene Sprechstunde gehen und sich dort behandeln lassen. Das bekommt der Arzt extrabudgetär vergütet, sodass er auch ein Interesse hat, diese offene Sprechstunde durchzuführen. Ich glaube, das schafft Anreize, dass es besser wird. Lassen wir die Debatte ganz kurz Revue passieren. Die FDP sagt, alle Regelungen seien gegen die Ärzte gerichtet. Die Linke sagt, was wir hier betreiben, sei Klientelpolitik für die Ärzte. Das widerspricht sich. ({5}) Von den Grünen hören wir: Es wird zu wenig gemacht. – Die FDP sagt: Das ist zu viel, die sind alle hyperaktiv. – Der erste Redner der AfD sagt: „Wir schaffen mit dem Gesetz Patienten erster Klasse“ – also eine besonders gute medizinische Versorgung –, der zweite Redner der AfD sagt: Es bringt überhaupt nichts. Wenn ich das zusammenfasse, kann ich nur sagen: Wir scheinen irgendwie auf dem richtigen Weg zu sein. ({6}) Die Patienten werden schneller einen Termin bekommen, es wird mehr Sprechzeiten und eine bessere Vergütung der Ärzte geben. Unterm Strich: mehr Geld für fleißige Ärzte und eine bessere Versorgung für die Patienten. Deswegen: Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf bitte zu. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Tagesordnungspunkt 3 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf für schnellere Termine und bessere Versorgung. Es liegen nach § 31 der Geschäftsordnung verschiedene Erklärungen vor. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8351, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/6337 und 19/6436 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition in zweiter Beratung angenommen. Damit kommen wir zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. ({0}) Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 19/8352. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der FDP zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch – Krebspatienten die Chance auf eigene Kinder ermöglichen, fertilitätsbewahrende Behandlung zur Regelleistung machen. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8351, den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/2689 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Befürwortung der Fraktionen der FDP, AfD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU abgelehnt. Nachdem der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt ist, entfällt nach unserer Geschäftsordnung eine weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 3 b. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 19/8351 fort. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/3393 mit dem Titel „Aussetzung der Budgetierung für Ärzte“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Dann ist die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der AfD mit den Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen. Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/4833 mit dem Titel „Ambulante ärztliche Versorgung verbessern, Bürokratie abbauen, Budgetierung aufheben“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung des Ausschusses bei Enthaltung der Fraktion der AfD gegen die Stimmen der FDP mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen. Der Ausschuss empfiehlt weiter unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/6417 mit dem Titel „Regionalisierung der Bedarfsplanung, Niederlassungsfreiheit als Regelfall“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen aller Fraktionen gegen die Stimmen der FDP angenommen. Unter Buchstabe f empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/4887 mit dem Titel „Flächendeckende Versorgung mit Physiotherapie und anderen Heilmitteln sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe g seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/6130 mit dem Titel „Bedarfsgerechte Versorgung für alle Patientinnen und Patienten sicherstellen und therapeutische Berufe durch attraktive Arbeits- und Ausbildungsbedingungen aufwerten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung bei Enthaltung der FDP gegen die Stimmen von den Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 3 c. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8277 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind mit dieser Überweisung einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Michael Theurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004914, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wettbewerb ist das konstituierende Prinzip der sozialen Marktwirtschaft. Wenn ich den Blick auf die Regierungsbank richte, dann stelle ich fest, dass der zuständige Minister Altmaier nicht anwesend ist. Also, entweder ist er nicht zuständig für Wettbewerb, oder er fühlt sich nicht zuständig. ({0}) Wenn der „Spiegel“ schreibt, dass Herr Minister Altmaier kein Wirtschaftsminister, sondern ein Planwirtschaftsminister sei, dann gibt es dafür auch eine inhaltliche Grundlage; denn zeitgleich findet hier in Berlin die Internationale Kartellkonferenz statt, ({1}) auf der Minister Altmaier vermutlich im Moment für eine europäische Ministererlaubnis wirbt, die ermöglicht, dass Großkonzerne in Europa geschaffen werden können und die Fusionskontrolle auf europäischer Ebene ausgehöhlt wird. Wir brauchen aber keine Schwächung der europäischen Wettbewerbspolitik – im Gegenteil: Wir brauchen eine Stärkung der europäischen Wettbewerbspolitik. ({2}) Ich frage mich schon, sehr geehrter Kollege Brinkhaus von der CDU/CSU, warum wir hier im Deutschen Bundestag an der Stelle eine Selbstaufgabe des Parlamentarismus betreiben. Während im US-Senat die Konzernchefs vorgeladen wurden – immerhin musste Mark Zuckerberg von Facebook dort Rede und Antwort stehen –, sehen wir den zunehmenden Konzentrations- und Monopolisierungstendenzen in der digitalen Wirtschaft einfach tatenlos zu. Man hat den Eindruck, dass die regierungstragenden Fraktionen das Thema nicht ernst nehmen. Ich bin der Meinung: Der Wirtschaftsminister gehört bei einer solchen Debatte ins deutsche Parlament. Wenn er sich in Berlin aufhält, dann muss er den Vertreterinnen und Vertretern des deutschen Volkes hier Rede und Antwort stehen. Er soll uns, dem Bundestag, und damit dem ganzen deutschen Volk sagen, wie er faire Wettbewerbsbedingungen auch in einer digitalen Ökonomie herstellen will. ({3}) Gestern konnte man schon mal einen kleinen Vorgeschmack davon bekommen, was es bedeutet, wenn zunehmende Monopolisierungstendenzen etwa bei den führenden Nachrichtendienstleistern eintreten; denn Facebook, WhatsApp und Instagram hatten parallel Störungen. Das war noch kein Totalausfall, aber man hat es wahrnehmen können. Solche parallelen Störungen wären unwahrscheinlicher, wenn dort ein echter Wettbewerb stattfinden würde. Das ist aber nicht gewährleistet. ({4}) In der Old Economy, in der alten Wirtschaft, wäre eine Fusion von Facebook und WhatsApp wahrscheinlich nicht zustande gekommen; sie wäre in dem Segment gestoppt worden. Aber weil WhatsApp damals keine entsprechenden Umsatzzahlen und keine entsprechenden Gewinnzahlen hatte, ist das Ganze unter dem Radarschirm der Kartellbehörden erfolgt. Allerdings hatte WhatsApp damals schon Hunderte Millionen von Kunden. Wir müssen also die besonderen Spezifika der Digitalökonomie in den Blick nehmen, um die Wettbewerbspolitik und das Wettbewerbsrecht der neuen Zeit anzupassen. Wenn wir uns den Fall Amazon anschauen, dann stellen wir fest, dass Amazon nicht nur als Plattform handelt, sondern gleichzeitig auch als Händler tätig ist. Jedenfalls in den USA und zunehmend vermutlich auch bei uns ist es so, dass Amazon dann, wenn andere Händler über diese Plattform ihre Produkte anbieten, plötzlich Eigenprodukte unter der Überschrift „garantiert günstiger“ mit anbietet. Da sehen wir auf jeden Fall die Gefahr eines Missbrauchs; denn wenn diese Entwicklung so weitergeht, dann bleiben am Ende wenige, vielleicht sogar nur ein einzelner Anbieter übrig. Die vielen kleinen, mittelständischen Anbieter von Produkten haben dann keine Chance mehr, direkt mit den Kunden in Kontakt zu treten, weil sich zwischen die Hersteller und die Kunden monopolartige Plattformen schieben. Auf die Fragen, die sich daraus ergeben, muss uns endlich die Politik, der Bundeswirtschaftsminister, die Bundesregierung überzeugende Antworten vorlegen. ({5}) Genau das ist das Ziel unseres Antrages. Die Netzwerk­ökonomie tendiert offensichtlich zum Monopol. Früher hätte man von „natürlichen Monopolen“ gesprochen, es handelt sich aber vermutlich eher um technische Monopole. Die Antwort muss eine zeitgemäße Regulierung sein. Es ist mit Sicherheit keine allein national lösbare Aufgabe, sondern wir werden diesen großen Konzernen aus den USA – im Übrigen gibt es auch in China große Konzerne mit massivem Staatseinfluss – nur begegnen können, wenn wir europäisch vorgehen. Deshalb brauchen wir dringend – ich wiederhole es noch mal, weil es so wichtig ist und um es zu unterstreichen – eine europäisch-integrierte Fusionskontrolle sowie eine Stärkung der Wettbewerbspolitik und Wettbewerbskommissare. Die Bundesregierung und Herr Minister Altmaier machen genau das Gegenteil. Wir fordern, dass die Bundesregierung an dieser Stelle dringend umkehrt. Der Wettbewerb darf nicht geschwächt, er muss vielmehr gestärkt werden, meine Damen und Herren. ({6}) Konkret schlagen wir einige Dinge vor. Kleine und mittlere Unternehmen sind es, die für Innovation sorgen. Wir brauchen bessere Wettbewerbsbedingungen, wie zum Beispiel offene Schnittstellen, sodass sich viele Wettbewerber auch auf dem Netz des Marktführers, des Quasimonopolisten bewegen können; das muss man regulatorisch anstoßen und durchsetzen. Wir brauchen eine Beschleunigung der Kartellverfahren. Ja, wir brauchen auch eine Absenkung der Aufgriffsschwellen, die jetzt diskutiert wird. Wir brauchen ein bürokratiefreies erstes Jahr, ein Wagniskapitalgesetz, eine Vernetzung von etablierten Unternehmen mit Start-ups und Experimentierklauseln, etwa im Zuge digitaler Freiheitszonen. Dafür kämpfen wir als Freie Demokraten. ({7}) Wir kämpfen dagegen, dass Entscheidungen zunehmend nicht mehr hier im Parlament getroffen werden, sondern in Technokratenräte, in irgendwelche Kommissionen wie bei der Kohle verlagert werden, wo zwei oder drei Abgeordnete der Koalitionsfraktionen wie die Mitarbeiter hinten drinsitzen, nichts sagen und diesem Parlament auch nicht berichten dürfen. Die Wettbewerbskommission 4.0 ist der nächste Beitrag. Wenn wir zulassen, dass dieses Parlament sich selbst entmachtet und aufgibt, dann kann man das Paul-Löbe-Haus gleich in ein öffentliches Schwimmbad umgestalten, meine Damen und Herren. ({8}) Diese Verlagerung in Technokratenräte muss beendet werden! Die Entscheidungen müssen zurück in das Parlament. Ich erwarte von den regierungstragenden Fraktionen, dass sie dafür sorgen, dass die Experten in öffentlichen Anhörungen dem direkt gewählten Parlament Rede und Antwort stehen und dass diese Dinge nicht wie in einer Räterepublik in Technokratenräten besprochen und vorentschieden werden. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Theurer, ich lasse dahingestellt, welches der Bundestagsgebäude wir dafür nehmen; denn es tropft auch in anderen. ({0}) Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Matthias Heider, CDU/CSU. ({1})

Dr. Matthias Heider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004051, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir uns alle hinsichtlich der Nutzung der Bundestagsliegenschaften wieder ein bisschen beruhigt haben, will ich eingangs gerne einfach einmal darauf hinweisen: Wenn der Minister heute Morgen bei der weltweit wichtigsten Kartellkonferenz das Grußwort hält, dann ist das seine Anwesenheit dort wert. ({0}) Im Übrigen glaube ich, dass Sie die beiden Anträge, über die wir hier gerade sprechen, die kurzfristig als Zusatzpunkte auf die Tagesordnung gekommen sind, dazu nutzen wollten, um zu sagen, dass der Minister einen wichtigen anderen Termin hat. Ja, das ist Ihnen gelungen. Aber jetzt müssen wir uns mit der Sache beschäftigen. ({1}) Wir sprechen hier über den Punkt „Fair Play in der digitalen Wirtschaft“. Es sind viele interessante und wichtige Punkte aufgezählt worden – übrigens in beiden Anträgen; wir sprechen ja auch über den Antrag der Grünen. ({2}) Wir haben heute Gelegenheit, über die entscheidenden Veränderungen im Kartellrecht zu sprechen, die wir vornehmen müssen. Wir haben übrigens bereits Veränderungen vorgenommen. Wir haben im April 2017 mit der neunten Novelle des Wettbewerbsrechts auf die Veränderungen in der Digitalwirtschaft reagiert. Es ist eine Forderung in der Union gewesen, weitere Anpassungen sorgfältig wissenschaftlich vorzubereiten. Auf diesem Pfad befinden wir uns gerade. Ich begrüße, dass Sie als Liberale auch auf diesen Pfad einschwenken; das ist eine gute Sache. ({3}) Lassen Sie mich zum Ausgangspunkt Folgendes sagen: Es geht hier nicht nur um Globalisierung und Digitalisierung. Es geht auch um die Unterscheidung zwischen Kommerzialisierung und der Nutzung des freien Netzes für private Zwecke. Anspruchsvoller, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann ein wettbewerbsrechtlicher Rahmen nicht sein. Jeder Bürger, jede Bürgerin weiß das: Es macht einen Riesenunterschied, ob ich auf Plattformen einkaufe oder ob ich mich in sozialen Netzwerken bewege. Bei dieser Gelegenheit: Wir feiern heute 50 Jahre Vernetzung von Computern. Vor 30 Jahren wurde durch einen Forscher am CERN-Institut überhaupt erst der Grundstein für das World Wide Web gelegt. Danach gab es eine dynamische Entwicklung: Es wurde gewerblich genutzt, es wurden Verträge abgeschlossen, es konnten Plattformen installiert werden, der Onlinehandel wurde geboren. Und – das beschreibt der Antrag der Liberalen zu Recht – einige der Akteure sind so mächtig geworden, dass sie ihre Marktmacht möglicherweise missbrauchen. Dem gilt es entgegenzuwirken. Ein Unternehmen wie Google, das über 100 Milliarden Euro Umsatz hat und das 90 Prozent der Aktivitäten als Plattform auf sich vereinigt, steht natürlich im Fokus des Interesses. Deshalb müssen wir als Gesetzgeber da sehr genau hinschauen. Meine Damen und Herren, wir haben das Ungleichgewicht der Wettbewerbsbedingungen der analogen und der digitalen Wirtschaft sehr wohl im Auge. Wir haben bei der Novelle im Jahr 2017 die Missbrauchsaufsicht und die Fusionskontrolle auf diese neuen Erwägungen ausgerichtet. Wir nennen dort die Kriterien: Netzwerkeffekte, Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten, der Wechselaufwand für die Nutzer. Der Anwendungsbereich der Fusionskontrolle wurde von bloßen Umsatzschwellenwerten gelöst und stattdessen das Kriterium des Wertes der Gegenleistung genutzt. Der Wert der Gegenleistung kann auch in Daten bestehen. Das ist das Neue und macht all diese Betrachtungen so schwierig. Was ist zu tun? Aufgabe des Bundestages ist es, sich mit der Anpassung des Rechtsrahmens zu befassen, und wir tun gut daran, wenn wir da vorsichtig zu Werke gehen. Wir wollen dabei nicht Netzaktivisten gegen Datenschützer, Verbraucherschützer und Wettbewerbshüter ausspielen. Wir wollen den Verbraucherschutz nicht zum Sklaven des Wettbewerbsrechts machen. Wir wollen einen höchstmöglichen Schutz der Meinungsfreiheit und auch der Freiheit im Netz erreichen. Wir wollen die Grundlagen des Wettbewerbs überprüfen und, wo immer es geht, öffnen: im Personenbeförderungsrecht, im Gewerberecht, im Schutz und in der Verwertung von Erfindungen. Wir wollen durch eine zurückhaltende Regulierung sicherstellen, dass kleine und mittelständische Unternehmen, insbesondere innovative Start-ups, nicht überfordert, sondern durch faire Wettbewerbsbedingungen am Markt gefördert werden. Deshalb habe ich auch überhaupt kein Verständnis dafür, dass im Antrag der Grünen eine missbrauchsabhängige Entflechtungsmöglichkeit vorgesehen wird. Das ist sozusagen die höchste Stufe der Regulierung. Danach kommt nur noch die Enteignung. Das wäre im Wettbewerb der Märkte sicherlich nicht angemessen. ({4}) Meine Damen und Herren, wir wollen natürlich auch die kartellrechtlichen Verfahren beschleunigen; denn wir kommen nicht aus, ohne dass wir diesen komplizierten Mechanismus für die Unternehmen handhabbarer machen. Ein Unternehmer muss, wenn er etwas investiert, wenn er Kooperationen eingeht, genau wissen, wo Grenzen und Chancen seines unternehmerischen Handelns liegen. Das gilt übrigens gerade für Start-up-Unternehmen. Das Wettbewerbsrecht, das Kartellrecht und übrigens auch das Beihilferecht sind den Herausforderungen der heutigen Zeit nicht mehr gewachsen. Große gesellschaftliche und auch kommerzielle Umwälzungen – denken Sie nur an die Energiewende – finden in den Verordnungen, Richtlinien und insbesondere in den Leitlinien der Kommission zu wenig Berücksichtigung. Wenn wir im Wettbewerbsrecht jetzt von Globalisierung sprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann müssen wir auch darüber reden, wie wir Märkte abgrenzen und definieren. Wir müssen darüber reden, wie sich Umwelt-, Arbeitnehmer-, Verbraucher- und Datenschutzrecht in der Regulierung von rein wettbewerbsrechtlichen Beurteilungen unterscheiden lassen. Meine Damen und Herren, die verschwindend geringe Anzahl der vom Bundeskartellamt im Jahr 2017 aufgegriffenen Verfahren – es waren 15 – steht dafür, dass auch im Verfahren Verbesserungen erforderlich sind. Wenn ich daran denke, dass nur bei drei prominenten Fällen – Facebook, Amazon und Google – Verfahren eingeleitet worden sind, dann spricht das dafür, die Rechtsgrundlagen, die wir dafür bereitstellen, sorgfältig zu analysieren. Der FDP-Antrag hat viele dieser Forderungen unterstrichen; das freut mich sehr. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gras wächst im Moment nicht schneller, wenn man daran zieht. Deshalb müssen wir die Erkenntnisse der Wettbewerbskommission – das ist übrigens eine Regierungskommission – abwarten. Wir werden rechtzeitig einen Gesetzentwurf für die zehnte GWB-Novelle vorlegen, und wir werden auch Vorschläge zur Harmonisierung des Gemeinschaftsrechts vorlegen. Das ist dringend notwendig; denn Markt ist nicht nur Binnenmarkt. Wir sprechen hier mit Blick auf einen Weltmarkt. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Enrico Komning, AfD. ({0})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Wir reden heute im Grunde wieder einmal über die bösen Drei: Google, Facebook und Amazon. Ich freue mich über den Antrag der FDP; denn damit richten wir den Blick auf einen echten Missstand in unserem Land. Warum kommen diese und andere führende Digitalunternehmen allesamt nicht aus Deutschland? Ziel deutscher Ordnungs- und Wirtschaftspolitik muss es doch sein, dass solche Erfolgsgeschichten auch in Deutschland geschrieben werden können. Wir müssen uns doch fragen: Warum ist das nicht der Fall? Das liegt gewiss nicht daran, dass die Menschen da drüben schlauer sind als hier. Nein, Grund für diese Erfolgsgeschichten sind doch vor allem die guten Rahmenbedingungen, die diesen Unternehmen in ihren Heimatländern geboten wurden und werden. Da muss ich mich ein wenig über den doch durchaus vorhandenen regulatorischen Ansatz des Antrags der Kollegen der FDP wundern; der Antrag enthält neben den vielen Allgemeinplätzen und Selbstverständlichkeiten aber auch ein paar richtige Ansätze. Vor allem das Ziel ist richtig: Es müssen Bedingungen herrschen, die einen freien Zugang zum digitalen Markt für alle gewährleisten. ({0}) Neue Geschäftsmodelle müssen die Chance haben, sich am Markt zu bewähren, und ich, meine Damen und Herren, will ein deutsches Google und ein deutsches Amazon. ({1}) Wir müssen daher aufpassen, liebe Kollegen von der FDP, dass wir mit dem Setzen von Ordnungsrahmen und Regularien nicht übers Ziel hinausschießen; ({2}) denn eine gegenwärtige Dominanz von digitalen Unternehmen ist niemals auf ewig festgeschrieben. Beispiele wie Microsoft oder – noch deutlicher – AOL zeigen doch, wie schnell es gehen kann, wenn man Entwicklungen verschläft. Das Beispiel Zalando zeigt hingegen, wie man trotz marktbeherrschendem Amazon in den Onlinehandel hineinkommt. Ich glaube, dass das Aufhalten von Datenströmen genauso unsinnig ist wie das Aufhalten von Flüssen. Die Daten suchen sich ihren Weg. Daran wird kein Gesetz etwas ändern. Die Zusammenführung von Daten aus verschiedenen Quellen ist Normalität, wird es auch bleiben und wird zukünftig auch Voraussetzung für die Entwicklung künstlich intelligenter Systeme sein. Wichtig ist, dass mit Daten kein Schindluder getrieben wird. Wir brauchen bei digital verarbeiteten Daten ein Höchstmaß an Transparenz. Datenströme gesetzlich zu verbieten, führt zu immer mehr Bürokratie, damit zu Kosten und damit zur Unattraktivität des Standortes Deutschland. ({3}) Interessant ist allerdings Ihre Idee einer virtuell verstandenen digitalen Freiheitszone. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen: Seit dem Anfang der Legislatur verfolgt die AfD die Idee von realen regionalen Sonderwirtschaftszonen in Deutschland. Beide Ideen verschmolzen bieten gerade im Bereich der Digitalwirtschaft die Chance, die ländlichen und strukturschwachen Räume in Deutschland zu reanimieren. Silicon Valley wurde schließlich auch nicht in San Francisco geschaffen, sondern im ländlichen Raum südlich davon. Im ländlichen Raum könnten Bedingungen geschaffen werden, die Erfindergeist frei von staatlichem Ballast voll zur Entfaltung bringen könnten. Das setzt allerdings ein ganz neues Verständnis staatlicher Daseinsvorsorge voraus. Der Staat muss endlich seiner Verantwortung für die grundlegenden Infrastrukturen nachkommen. Breitband- und moderner Mobilfunkausbau müssen endlich – und nicht erst 2025 – entschlossen flächendeckend vorangetrieben werden. ({4}) Wenn wir die Marktmacht der Amerikaner auf dem digitalen Markt brechen wollen – und das ist doch wohl letztlich der Hintergrund dieser Debatte –, sollten wir nicht zuerst daran denken, sie kaputtzuregulieren, sondern wir sollten die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass deutsche Unternehmen sie schlagen können. Fair Play in der digitalen Wirtschaft setzt voraus, dass wir etwas tun – nicht, dass die anderen etwas lassen. Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. Der Beschlussempfehlung des Ausschusses – Ablehnung des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen – stimmen wir zu. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Falko Mohrs, SPD. ({0})

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich war fast ein bisschen erschrocken und müsste eigentlich mit einer Gratulation an die FDP beginnen; denn ich glaube, Sie haben nach meiner letzten Rede tatsächlich eine neue Schallplatte gefunden. Es ist das erste Mal, dass ich einen Digitalantrag Ihrer Fraktion lese, in dem Sie mehr als ein Digitalministerium fordern, womit eigentlich schon die einzige Forderung in Ihrem Antrag erledigt wäre. ({0}) Aber, Herr Theurer, dann habe ich mir Ihre Rede angehört und mich gefragt, warum Sie die sieben Minuten, die Sie hatten, so wenig genutzt haben, um die allgemeinen Aussagen in Ihrem Antrag zu konkretisieren. Sie fordern, dass wir dieses Parlament zum Mittelpunkt der Debatte machen, und dann kommen Sie mit diesen Allgemeinplätzen im Antrag und in Ihrer Rede. Ich würde sagen, aus den sieben Minuten haben Sie leider nicht so richtig viel gemacht. ({1}) Das ist aber okay; denn wir werden Ihnen mit dem Beitrag von Herrn Heider und unseren an der Stelle gerne helfen. Bleiben Sie ruhig. Sie hatten sieben Minuten. Wenn Sie daraus nichts machen, ist das Ihr Problem. ({2}) Herr Komning, zu Ihnen kann ich nur sagen: Das Einzige, was Sie hier eigentlich noch hätten fordern können, wäre das deutsche iPhone gewesen, mit dem Sie gerne telefonieren würden. Ich weiß gar nicht, mit welchem deutschen Telefon Sie unterwegs sind; aber ganz ehrlich: Diese Schallplatte könnten Sie auch mal austauschen. ({3}) Wir haben das eben gehört: Ziemlich genau seit 30 Jahren reden wir über das World Wide Web. Heute sind über 63 Millionen deutsche über 14-Jährige online. Im Jahr 2020 wird es ungefähr 20 Milliarden vernetzte Dinge und Geräte geben. Daran sind erfolgreiche deutsche Unternehmen wie Wirecard oder Freeletics, die gute Bewertungen haben, beteiligt. Das heißt, wir sind in der digitalen Politik und in der digitalen Wirtschaft in Deutschland nicht so schlecht aufgestellt, wie uns manche immer glauben machen wollen. Aus den Zahlen der letzten 30 Jahre wird aber auch deutlich, dass wir eine drastische, dramatische und rasende Veränderung der Politik und der Wirtschaft erleben. Diese drastische Veränderung zeigt sich auch bei der Frage von Arbeitsplätzen. Wir haben ja gerade in den letzten Tagen bei uns in Niedersachsen, bei mir in Wolfsburg, sehr intensiv diskutiert, dass ein großes Unternehmen, nämlich Volkswagen, vor dem Hintergrund der Digitalisierung die Reduzierung von 7 000 Arbeitsplätzen ankündigt. Das ist natürlich ein deutlicher Auftrag für uns als Politik, den Unternehmen in diesen vom Strukturwandel betroffenen Branchen und Regionen ein deutliches Zeichen zu senden, dass wir den digitalen Wandel, diese Veränderungen in der Wirtschaftspolitik gestalten. Dabei brauchen wir ganz klar ein Fair Play – auch in der durch Digitalisierung geprägten Wirtschaft. ({4}) Wir brauchen also eine neue wirtschaftspolitische Ordnung. Ich bin ja froh, dass auch in diesem Haus fast alle erkannt haben, dass wir dabei neue Spielregeln brauchen; denn, meine Damen und Herren, genauso ist es. Wir erleben einen starken Trend hin zu Monopolen. Wir erleben, dass Plattformen nicht mehr nur Vermittler, Intermediär des Geschäftes sind, sondern gleichzeitig auch Anbieter. Wir erleben, dass Plattformen – einige sind genannt worden – durch Netzwerk- und Log-in-Effekte ihre Macht zementieren; denn sie haben die meisten Kunden und es gibt eben keine durchlässigen Grenzen zu anderen Wettbewerbern. Durch dieses Wissen, die Menge an Kunden und das Vorhandensein enormer Datenmengen zementieren sich Monopole. Das muss für uns als Politik natürlich Handlungsauftrag sein. Wir brauchen faire und gerechte Rahmenbedingungen – auch in der digitalen Wirtschaft, meine Damen und Herren. ({5}) Deswegen müssen wir uns fragen: Reicht der Instru­mentenkasten des Wettbewerbs- und Kartellrechts eigentlich aus? Wir sagen: Nein. Weder auf der nationalen noch auf der europäischen Ebene sind wir da am Ende; denn wir müssen mit den Veränderungen Schritt halten. Wenn ich aus Ihrer Rede, Herr Theurer, eine konkrete Anregung zur europäischen Ebene mitnehme, dann ist es, dass Sie wirtschaftspolitisch strategische Entscheidungen beispielsweise durch eine Analogie der Ministererlaubnis auf europäischer Ebene ablehnen. Das habe ich Ihrer Rede eben konkret entnommen. Dazu möchte ich sagen: Es ist fatal, wenn wir wirtschaftspolitisch strategisch nicht entscheiden können, welche Zusammenschlüsse wir eigentlich wollen. Das haben wir ja beim Thema „Siemens und Alstom“ schmerzhaft erfahren. Ich nehme mit, dass Sie das auch in Zukunft nicht zulassen wollen. ({6}) Kommen wir zurück zur Digitalisierung: Es geht also darum, dass wir den Zugang zu Daten klug organisieren und dass wir das Kartellrecht schärfen, damit die Kartellbehörde dort, wo es Monopoltendenzen gibt, im Einzelfall eingreifen und regulieren kann. Das ist eine Frage des Fair Play.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Theurer, FDP?

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn die sieben Minuten noch nicht ausgereicht haben, dann bitte schön.

Michael Theurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004914, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank für die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. – Sie haben die Ministererlaubnis auf europäischer Ebene angesprochen. Es ist Ihnen offensichtlich entgangen, dass es heute schon eine politische Entscheidungsmöglichkeit in solchen Fragen in der Kommission gibt. Ich bin bisher immer davon ausgegangen, dass es Position der Sozialdemokraten ist, dass die Europäische Kommission als europäische Bundesregierung auch die politische Verantwortung für die europäische Politik übernimmt. Die Wettbewerbskommissarin hat im Kollegialorgan der Europäischen Kommission die Möglichkeit, das Ganze auf der Grundlage der rechtlichen Bewertung der Wettbewerbsbehörde zu entscheiden. Das heißt, es gibt die Möglichkeit einer Ministererlaubnis auf europäischer Ebene bereits. Das, was Minister Altmaier und Minister Le Maire wollen, ist ja etwas ganz anderes: Sie wollen diese Entscheidungsmöglichkeit in den Rat ziehen. Das heißt, sie wollen sie der europäischen Bundesregierung, der Kommission, nehmen. Meine Frage: Ist Ihnen das etwa entgangen? Und sind Sie der Meinung, dass die Europäische Kommission in dieser Frage der Wettbewerbszuständigkeit geschwächt werden soll?

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Theurer, ich habe es ja eben deutlich gemacht: Wir wollen überhaupt keine Schwächung der europäischen Ebene, wenn es um faire Marktbedingungen und wettbewerbs- und kartellrechtliche Kompetenzen geht. Da haben Sie mir vielleicht nicht zugehört. Wir wollen eine Stärkung, und das ist auch Aufgabe der Wettbewerbsrechtskommission 4.0, die Sie ja so ein bisschen, ich sage mal, herabqualifiziert haben. Wir wollen, dass genau dort Vorschläge erarbeitet werden, wo Anpassungen auf deutscher und europäischer Ebene notwendig sind. Ich möchte zu Ihrer konkreten Frage zurückkommen. Nein, es ist eben nicht so, dass die Kollegin an der Stelle – sie kommt doch sogar aus Ihrer Parteienfamilie und hat deutlich gemacht, dass sie die Entscheidung über Alstom und Siemens sehr klar auf Basis der vorhandenen rechtlichen Rahmenbedingungen gefällt hat – die Möglichkeit gehabt hat, eine gesamtstrukturpolitisch strategische Entscheidung zu treffen. Das müssen Sie, Herr Kollege, auch anerkennen. Ansonsten: Sie hat ja Ihr Parteibuch. Ich bin mir sicher: Sie können da noch mal nachfragen. ({0}) Ich würde gerne weitermachen. Ein weiterer Punkt beim Thema „Fair Play in der digitalen Welt“ ist die Frage der Besteuerung. ({1}) – Ich glaube, Ihre Partei hat gleich noch das Wort, Frau Kollegin. Dann können Sie Ihren Punkt ja vielleicht einbringen. ({2}) – Was heißt: „Ich traue mich nicht“? Frau Dröge, ich glaube, wir haben genug Diskussionsmöglichkeiten.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich gestatte keine weitere Zwischenfrage.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Keine weitere Zwischenfrage.

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich würde mit der Frage des „Fair Play“ in der Besteuerung gerne weitermachen; denn das ist eine Kernfrage, wenn wir über Fair Play in der digitalen Welt sprechen. Wir müssen dafür sorgen, dass auch digitale Unternehmen und nicht nur die kleinen ehrlichen Handwerksbetriebe und Mittelständler in unserem Land aufgrund ihrer Geschäftstätigkeit Steuern zahlen. Das ist eine Frage der Fairness. Ich würde mich freuen, wenn wir an der Stelle in Zukunft auch die Kolleginnen und Kollegen der FDP an unserer Seite hätten; denn diesen Teil haben Sie – das muss man sagen, wenn wir schon über Fair Play in der digitalen Welt reden – leider in Ihrem Antrag aus meiner Sicht viel zu wenig berücksichtigt. ({0}) Wir müssen also beim Thema „digitale Agenda“ und „Fair Play in der digitalen Wirtschaft“ drei Dinge schaffen: Wir müssen, erstens, für führende deutsche und europäische Industrieplattformen mit einem weltweiten und großen Pool an Prozess- und Betriebsdaten Sicherheit herstellen, damit dort ein kluger Zugriff auf Daten und kluges Teilen von Daten ermöglicht wird. Wir müssen, zweitens, die Finanzierung von Start-ups voranbringen, damit neben dem deutschen Mittelstand die Start-ups von heute die Arbeitgeber von morgen werden können, die uns in der digitalen Wirtschaft entsprechend innovativ voranbringen können. Wir müssen, drittens, Fachkräfte und das digitale Know-how in Deutschland halten und neu hinzugewinnen. Ich bin froh, dass inzwischen – leider muss man sagen: fast – alle Fraktionen in diesem Haus verstanden haben, dass wir eine Fachkräfteeinwanderung brauchen, weil das digitale Know-how der Fachkräfte für unsere Wirtschaft nötig ist. Reden Sie mit den Unternehmen! Das ist einer der größten Mängel, wenn es um die Entwicklung deutscher Unternehmen geht. Die Digitalisierung verändert unsere Welt in rasender Geschwindigkeit. Wir werden, können und wollen diese Veränderungen nicht aufhalten, aber unser Auftrag ist es, diese zu gestalten. Für die SPD ist dabei klar: Wir brauchen neue Spielregeln. Wir brauchen faire Spielregeln. Und wir brauchen endlich eine faire Besteuerung – auch in der digitalen Welt. Die Menschen, der deutsche Mittelstand, die Industrie und die gesamte deutsche Wirtschaft können sich darauf verlassen, dass wir unseren Auftrag wahrnehmen. Sie können sich darauf verlassen, dass wir diese Spielregeln schaffen werden. Denn für uns ist klar: Technischer Fortschritt ist nie Selbstzweck; er muss immer dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Anke Domscheit-Berg, Fraktion Die Linke, ist die nächste Rednerin. ({0})

Anke Domscheit-Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004703, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP beschreibt in ihrem Antrag sehr richtig die unvorstellbare Marktdominanz digitaler Weltkonzerne und auch die negativen Folgen der Laissez-faire-­Politik. Man ließ sie immer weiter expandieren und Unternehmen in Größenordnungen bilden, die es noch nie zuvor gegeben hat. Facebook, ein Gigant mit über 2 Milliarden Nutzerinnen und Nutzern, durfte WhatsApp und Instagram aufkaufen und so seine weltmarktbeherrschende Stellung weiter ausbauen, noch mehr Daten sammeln und noch mehr Werbedollars kassieren. Diese Firmen kaufen Unternehmen aber nicht nur auf, um größer zu werden, sondern auch, um ihre Konkurrenz zu eliminieren. Sie verzerren den Wettbewerb, indem sie astronomische Gehälter an Toptalente zahlen, die sie auf der ganzen Welt wie mit einem Riesenstaubsauger einsammeln; denn wer für Amazon und Google arbeitet, der entwickelt keine Produkte mehr für die Konkurrenz. Das alles können sie sich nur leisten, weil es am nötigen Kleingeld niemals mangelt; denn schließlich sind nicht nur die Konzerne groß, sondern auch die Steuerschlupflöcher. Der Durchschnittssteuersatz der Techgiganten in Europa beträgt nicht einmal 10 Prozent. Sascha Lobo findet für diese Praxis der systematischen Steuervermeidung in seinem gestrigen „Spiegel Online“-Artikel die richtigen Worte. Er nennt sie „massive Arschlochkultur der Digitalkonzerne“. ({0}) Man mag diese Worte unangemessen finden, aber wenn man im gleichen Artikel liest, dass Google 2017 Finanzmittel in Höhe von 20 Milliarden Euro von Europa auf die Bermudainseln transferieren konnte, ohne einen einzigen Eurocent Steuern dafür zu zahlen, liegen einem noch ganz andere Begrifflichkeiten auf der Zunge. ({1}) Mit ihrer erpresserischen Macht und einem Heer an Lobbyisten wickeln diese Unternehmen ganze Staaten um ihre Finger und nehmen Einfluss auf die Politik. Deshalb zahlt Amazon übrigens auch zu Hause keine Steuern. 2018 bekam das Unternehmen bei 11 Milliarden Dollar Gewinn noch einen dreistelligen Millionenbetrag von der Regierung erstattet. Eine europäische Digitalsteuer sollte der Steuerflucht ein Ende bereiten. Ihre erste Version zielte auf Onlineumsätze am Ort des Einkaufs. Wenn also jemand an seinem Küchentisch in Brandenburg bei eBay ein Produkt shoppt, hätte eBay für diese Umsätze an Deutschland Steuern zahlen müssen. Leider fand sich dafür keine Mehrheit in der EU. Nach einer neuen Variante sollten nicht mehr Onlineumsätze, sondern nur Onlinewerbeeinnahmen versteuert werden. Doch selbst diese Minidigitalsteuer ist seit vorgestern vom Tisch und damit leider auch mehr Fairness in der digitalen Wirtschaft. Neue Steuern fordert die FDP natürlich nicht. Das wäre bei ihrem Profil wahrscheinlich auch schwer vermittelbar. Aber immerhin fordert sie die Bundesregierung auf, digitalen Plattformen die Monopolbildung zu erschweren, Kartellbehörden besser auszustatten, den Bundestag stärker an der Ausarbeitung eines modernen Wettbewerbsrechts zu beteiligen und kleinen Unternehmen und Start-ups durch Zugang zu Kapital und durch weniger Bürokratie die Existenz zu erleichtern. Aber so sinnvoll diese Vorschläge auch sind, bleiben sie doch oberflächlich; denn längst braucht es viel radikalere Ansätze. ({2}) Elizabeth Warren, US-Senatorin und demokratische Herausforderin von Präsident Trump, macht dazu bessere Vorschläge, die deutlich weniger schüchtern sind als die der FDP. ({3}) Da fast die Hälfte des E-Commerce über Amazon erfolgt und über 70 Prozent des gesamten Internetverkehrs entweder über Google oder Facebook abgewickelt werden, fordert sie die Zerschlagung von Amazon, Google und Facebook und die Rückabwicklung umstrittener Fusionen wie der zwischen Facebook, WhatsApp und Instagram oder zwischen Google und Nest. ({4}) Warren fordert auch ein gesetzliches Verbot, nach dem große Plattformunternehmen nicht mehr auf der eigenen Plattform zum Anbieter werden dürfen. Es dürfte also weder Amazon noch ein Unternehmen, an dem Amazon Anteile hält, auf der Amazon-Onlinehandelsplattform irgendwelche eigenen Geschäfte tätigen. Zu diesen Plattformen zählt Warren die Google-Suche und den Amazon-Marketplace. Sie sollen stattdessen den Status einer digitalen Basisinfrastruktur erhalten, die neutral, fair und zu angemessenen Preisen allen Nutzerinnen und Nutzern zur Verfügung stehen muss. Das Teilen von Nutzerdaten mit Dritten soll solchen Plattformunternehmen untersagt werden. ({5}) Verstöße sollen mit hohen Sanktionen geahndet werden. ({6}) Alles das finden wir richtig. Da offen ist, ob Elizabeth Warren ihre Ideen umsetzen kann, fordert meine Fraktion die Bundesregierung dazu auf, ihr Gewicht bei der EU dafür einzusetzen, derartige Regulierungen auch in Europa anzustoßen. ({7}) Wenn wir faire Zukunftschancen für Start-ups und kleine Unternehmen in der digitalen Wirtschaft wollen, müssen wir aber auch endlich für die digitalen Infrastrukturen und Kompetenzen sorgen. Mit anderen Worten: Her mit dem schnellen Glasfaser- und Mobilfunknetz, aber zu Preisen, die Start-ups sich auch leisten können! Es kann nicht sein, dass ein 10-Gigabit-Breitbandanschluss, wie ihn digitale Start-ups häufiger brauchen, in Schweden für 50 Euro zu haben ist, in Deutschland aber 10 000 Euro kostet. Außerdem braucht es ein Bildungssystem, das der digitalen Gesellschaft angemessen ist hinsichtlich Ausstattung, Methodik und Inhalten. ({8}) Last, but not least fehlen faire Chancen auch für digitale Sozialunternehmen, die es leider nicht nur bei Venture-Capitalisten schwerer haben, an Finanzierungen zu kommen, sondern leider auch kaum von staatlichen Fördergeldern profitieren. Da bei Sozialunternehmen aber der gesellschaftliche Nutzen im Vordergrund steht, sollten sie gerade im digitalen Bereich stärker berücksichtigt werden. Ich wiederhole daher die Forderung der Linksfraktion nach einem Social-Innovation-Fonds der Bundesregierung. ({9}) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Schwangerschaftsabbrüche und Informationsverbote dazu nichts im Strafrecht verloren haben. § 219a gehört abgeschafft. Vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Anke Domscheit-Berg. – Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir Ihnen! Nächster Redner in der Debatte: für Bündnis 90/Die Grünen Dieter Janecek. ({0})

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Dr. Heider, Sie haben gesagt, Minister Altmaier sei heute auf einer der wichtigsten Wettbewerbskonferenzen. Ich finde, wir sollten uns einig sein, dass es keinen wichtigeren Ort der Debatte gibt als den Deutschen Bundestag. ({0}) Hier gehört der Minister heute hin. Bitte richten Sie ihm das aus. Da unterstütze ich Herrn Theurer ausdrücklich. Ein Satz noch zu den europäischen Champions: Ich glaube, was Herr Altmaier diesbezüglich formuliert hat, ist ein Angriff auf den deutschen Mittelstand, und das kann nicht die Form sein, wie wir Wettbewerbspolitik definieren wollen. ({1}) Zu Ihrem Antrag, Herr Theurer, „Fair Play in der digitalen Wirtschaft herstellen“. Wir begrüßen es sehr, dass wir heute in der Kernzeit über dieses Thema reden. Eine gute Überschrift! Das Ziel teilen wir. Auch in der Analyse teilen wir das, was Sie gesagt haben. Es wird Sie nicht überraschen, dass Sie in meinen Ausführungen hören, dass wir bei manchen Punkten etwas weiter gehen würden als Sie. Ich denke, Fair Play muss man auch definieren hinsichtlich der Fragen: Was bedeutet Fair Play für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, beispielsweise bei Amazon? ({2}) Was bedeutet Fair Play beim Datenschutz? Was bedeutet Fair Play beim Thema Steuern? Wenn wir über Fair Play sprechen, dann müssen wir darüber reden, wie viel Steuern Unternehmen wie Apple und Co nicht in Deutschland, in Europa zahlen. ({3}) 20 Milliarden Euro hat Google 2017 aus Europa auf die Bermudainseln verschoben, ohne einen Cent Steuern zu zahlen. Unglaublich! Das ist ein Skandal. Da müssen wir ran. ({4}) Wenn wir über die enorme Macht- und Marktkonzentration bei den IT-Giganten reden – Sie haben die, wie ich finde, in Ihrem Antrag sehr eindrücklich und richtig beschrieben –, dann muss es bei den Maßnahmen aber auch wirklich vorangehen. Amazon ist das Beispiel im Einzelhandel, bei dem das vertikal-horizontale Modell, glaube ich, augenfällig ist. Das kann so nicht funktionieren. Das geht auch zulasten der Beschäftigten. Wenn sich eine Amazon-Belegschaftsvertretung gründen will, dann wird das von Amazon in Deutschland verhindert. Das geht so nicht. Das kann nicht sein. ({5}) Einen Tarifvertrag für die über 20 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lehnt das Unternehmen des reichsten Menschen der Welt kategorisch ab. – Herr Heider hat eine Zwischenfrage.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Erst einmal muss ich Sie fragen, ob Sie das erlauben.

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist richtig.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Erlauben Sie sie?

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich erlaube die Zwischenfrage.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Dann darf er sie stellen. So geht das, Herr Janecek. – Bitte schön.

Dr. Matthias Heider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004051, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie hatten sich eingangs für freien Wettbewerb und freien Zugang zu den Märkten ausgesprochen. Erklären Sie uns doch mal, wie das damit zusammenpasst, dass Sie sich vor einigen Tagen dafür ausgesprochen haben, dass die Flugreisen von Bürgerinnen und Bürgern beschränkt werden sollen und dass ab jeder vierten Flugreise ein Strafzuschlag fällig werden soll? Wie passt das denn mit dem freien Zugang zum Markt und mit freiem Wettbewerb zusammen? ({0})

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist jetzt eine Frage aus einem ganz anderen Themenbereich; aber ich beantworte sie gerne. Meine Idee, die ich auf Vorschlag von Professor Knie vorgebracht habe und die letztlich seine Idee war, war, dass man einen Emissionszertifikatehandel für Personen einrichtet, die dann untereinander handeln können. Das führt nicht zu einer Beschränkung des Flugverkehrs. Es führt aber dazu, dass wir darüber nachdenken, ob Menschen, die besonders viel fliegen, auch mehr zahlen sollen. Das halte ich für eine Gerechtigkeitsfrage. Über das Modell kann man trefflich streiten. Zurück zum Thema. Ich glaube, dass wir bei Amazon genau hinschauen müssen. Es kann nicht sein, dass ein Konzern eine solche Marktmacht, eine solche Dominanz hat, dass wir in Deutschland gar nicht mehr in der Lage sind, Einzelhandel zu betreiben. Schauen Sie sich mal das Weihnachtsgeschäft an. Wer im Weihnachtsgeschäft nicht bei Amazon auftaucht, ist nicht mehr vorhanden. Das ist ein Zustand, gegen den man angehen muss. Das kann man so nicht stehen lassen. Herr Dr. Heider, ich habe völlig vermisst, dass Sie in Ihrer Rede irgendetwas zu diesem Bereich ausgeführt haben. Wo ist denn da die Union? ({0}) Wo sind Ihre Maßnahmen? Wo ist Ihre Wirtschaftspolitik in Richtung Wettbewerb? Die kommt bei Ihnen gar nicht vor. Ein letzter Satz zu Minister Altmaier. Ich habe es eingangs gesagt: Was er mit den europäischen Champions versucht, ist nichts anderes, als dem Lobbyismus in Deutschland Tür und Tor noch weiter zu öffnen. Wir haben dieses Problem schon mit der Automobilindustrie. Wenn ich mit Herrn Scheuer oder dem Verkehrsministerium spreche, kann ich auch mit dem Präsidenten des VDMA reden. ({1}) Wenn wir weiterhin eine solche Politik machen, die Großen fördern und die 1 500 Nischenweltmarktführer, die wir in Bayern und Baden-Württemberg haben, vernachlässigen, dann bekommen wir ein großes Problem. Dagegen werden wir Grüne aufstehen. Das geht so nicht. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dieter Janecek. – Nächster Redner: Hansjörg Durz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hansjörg Durz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Internet feiert 30. Geburtstag und verändert seit seiner Gründung Gesellschaften und Volkswirtschaften weltweit. So überrascht es nicht, dass sein Erfinder dieser Tage dazu aufruft, neben der Freude über die Errungenschaften, die mit dem World Wide Web zweifellos verbunden sind, sich auch Gedanken darüber zu machen, welche Maßnahmen notwendig sind, um unerwünschte Effekte zu korrigieren. Die erdrückende Dominanz einer Handvoll Digitalkonzerne im Bereich der Digitalwirtschaft gehört sicherlich dazu. Insofern benennt der Antrag der FDP wichtige Herausforderungen – das ist mehrfach angeklungen – und kommt zu einer überwiegend zutreffenden Analyse. Dennoch vermittelt der Antrag ein unvollständiges Bild und greift mit seinen Lösungsvorschlägen zu kurz. Die genannten Zahlen zum Beispiel zum Marktanteil oder zum Wachstum von Facebook und Co sind imposant. Zugegebenermaßen ist die Entwicklung eines deutschen oder europäischen Google nicht erkennbar. Bei B2C-Plattformen, also bei Plattformen zwischen Unternehmen und Privatpersonen, ist diese Beschreibung absolut zutreffend. Zur Vollständigkeit dieses Bildes gehört aber auch, dass die Situation im Geschäftskundenbereich – B2B –, zum Beispiel bei Industrieplattformen, über die erfolgreich Daten von Systemen, Maschinen, Anlagen und Produkten miteinander verbunden werden, eine andere ist. Diese Plattformen sind zwar nicht so sehr im Fokus der Öffentlichkeit. Hier gibt es aber global erfolgreiche deutsche Unternehmen, echte Erfolgsgeschichten. In Zukunft wird der Ausschuss Digitale Agenda genauso wie der Wirtschaftsausschuss die Hannover-Messe besuchen und dort solche deutschen Plattformunternehmen besuchen. Es ist nämlich notwendig, nicht nur die Schwächen zu benennen, sondern auch die Stärken unserer deutschen Unternehmen zu kennen und daran zu arbeiten, dass unsere erfolgreiche deutsche Wirtschaft auch in Zukunft wettbewerbsfähig ist. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, die einseitige Fokussierung auf die großen Player im Bereich der B2C-Plattformen wird unserer Wirtschaft nicht gerecht. Das gilt auch für den vorliegenden Antrag, der dann auch nahezu ausschließlich auf das Feld des Wettbewerbsrechts abstellt. Um Fair Play in der digitalen Wirtschaft zu erreichen, reicht es nicht aus, die Regeln im Wettbewerbsrecht zu verändern. Zwar werden wir den Rahmen anpassen müssen; das ist unstrittig. Zusätzlich müssen wir unsere Wirtschaft aber aktiv dabei unterstützen und in die Lage versetzen, den Wettbewerb gegen die großen Player überhaupt antreten zu können. Das gehört auch zum Fair Play. Das wird ohne Anpassungen im Bereich der Datenwirtschaft nicht funktionieren. Insofern sind Anpassungen des Wettbewerbsrechts und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in der digitalen Welt zwei Seiten derselben Medaille. Es gilt, vor allem Antworten auf zwei Herausforderungen zu finden: Erstens. Wie begegnen wir den Monopolisierungstendenzen auf Plattformmärkten? Zweitens. Wie steigern wir die Wettbewerbsfähigkeit bei datengetriebenen Geschäftsmodellen? Also: Wie gehen wir mit Daten als dem Wertschöpfungsfaktor der Zukunft um? Zu den Plattformen. Wir müssen die Plattformen, ihre Geschäftsmodelle und ihre Wechselwirkungen analysieren und verstehen. Die im Antrag genannte Studie im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums von Schweitzer, Kerber und Haucap bietet hier wertvolle Unterstützung. Da geht es natürlich um eine Unterstützung des Parlaments, das dann entscheiden muss. Wir müssen Missbrauch durch und auf Plattformen identifizieren und abstellen. Die Verfahren gegen Facebook und Google zeigen, dass die Missbrauchskontrolle grundsätzlich funktioniert. Die Verfahren machen aber auch deutlich, dass wir schneller werden müssen, weil die Prozesse noch zu lange dauern. Wir werden hier Maßnahmen ergreifen müssen, um die Verfahren zu beschleunigen. Wir müssen Missbrauch und Konzentrationstendenzen durch kluge Regulierung für die Zukunft unterbinden. Dafür werden wir den Behörden die notwendigen Instrumente zur Verfügung stellen. Hier waren wir in der letzten Legislaturperiode aber bereits tätig. Mit der neunten GWB-Novelle haben wir den Transaktionswert als zusätzliches Aufgreifkriterium bei der Fusionskon­trolle eingeführt und eine richtige Antwort auf Fälle wie die Übernahme von WhatsApp durch Facebook gegeben. Weitere Anpassungen des GWB gerade mit Blick auf Plattformunternehmen werden in dieser Wahlperiode folgen, natürlich unter Einbeziehung des Parlaments. Wir wollen so unser Wettbewerbsrecht weiter modernisieren und an die Gegebenheiten der digitalen Welt anpassen. Hier sind wir übrigens Vorreiter für das europäische Wettbewerbsrecht; denn allein nationale Änderungen in der Missbrauchsaufsicht oder der Fusionskontrolle sind kein taugliches Mittel. Wir haben uns deshalb im Rahmen des Koalitionsvertrags dazu entschieden, die Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 einzusetzen. Dort arbeiten Expertinnen und Experten an wettbewerbspolitischen Fragestellungen, die sich durch Datenökonomie, Plattformen und beispielsweise Industrie 4.0 ergeben. Der Fokus liegt dabei insbesondere auf dem europäischen Wettbewerbsrecht. In diesen Prozess sind im Übrigen auch Verbände und Unternehmen eng eingebunden. Wir erwarten noch vor der Sommerpause Ergebnisse und konkrete Handlungsempfehlungen. Das zweite Thema ist: Wie steigern wir die Wettbewerbsfähigkeit bei datengetriebenen Geschäftsmodellen? Wie gehen wir mit Daten als dem Wertschöpfungsfaktor der Zukunft um? Dieser Aspekt fehlt im Antrag der FDP gänzlich. Dabei ist Sammeln, Analyse und Auswertung von Daten Kern jedes digitalen Geschäftsmodells. Datenreichtum ermöglicht Effizienzsteigerungen bei Prozessen, vor allem aber Innovation von Produkten und Diensten, Innovation von neuen Geschäftsmodellen. Gleichzeitig kann Datenreichtum aber auch zur Marktbeherrschung führen. Diese begünstigen und verfestigen wir. Wir benötigen daher wettbewerbsrechtliche Leitplanken für datengetriebene Geschäftsmodelle, aber im Sinne von „möglich machen“. Wie kann ein innovationsfreundlicher Datenzugang gefördert werden? Welche Rahmenbedingungen sind für maschinelles Lernen nötig? Wie schaffen wir Rechtssicherheit für Kooperationen? Welche Rolle kommt dem Staat als Datenmittler zu? Brauchen wir Experimentierräume mit zeitweise abgeschwächter Datenregulierung? Brauchen wir neue Datennutzungs- bzw. Datenverwertungsrechte oder ein Recht auf Datenportabilität auch für nicht personenbezogene Daten? Antworten auf diese Fragen werden sich aus der Arbeit der Wettbewerbskommission ergeben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wettbewerbsrecht ist zentral für Fair Play in der digitalen Wirtschaft. Andere Aspekte, wie zum Beispiel der erwähnte Datenschutz oder Verbraucherschutz, sind aber ebenso zu berücksichtigen. Daten und Datennutzung sind Schlüssel für eine wettbewerbsfähige deutsche und europäische Digitalwirtschaft. Wir werden dort, wo es notwendig ist, die entsprechenden Anpassungen auf nationaler wie europäischer Ebene vornehmen mit dem Ziel eines funktionierenden Wettbewerbs durch gute und faire Rahmenbedingungen für alle Marktteilnehmer. Danke schön. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Hansjörg Durz. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Uwe Schulz. ({0})

Uwe Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004888, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der FDP bezieht sich auf die marktbeherrschende Stellung internationaler Digitalkonzerne. Dieses Thema ist nicht ganz neu. Mittlerweile empfehlen sogar die Langzeitstudien des Kartellamts, der Marktbeherrschung durch Digitalgiganten entgegenzutreten. Das ist prima. Die Antragsteller fordern, die kartell- und wettbewerbsrechtlichen Rahmenbedingungen endlich der Realität anzupassen und die Unternehmensgründungen zu erleichtern. Das passt. Die AfD ist voll bei Ihnen. Wer in Deutschland ein Unternehmen aufbaut, ob Techbude oder Handwerksbetrieb, soll nicht von Bürokratiemonstern gegängelt werden. Auch die Regierung Merkel hat das erkannt. Im Koalitionsvertrag von 2013 findet sich folgender Satz: Wir wollen das Gründen von Unternehmen leichter machen: Durch eine Vereinfachung der Prozesse (One-Stop-Agency) soll eine schnellere Unternehmensgründung möglich sein. Umsetzung in der vergangenen Legislaturperiode? Fehlanzeige, meine Damen und Herren! ({0}) Dafür geht es im aktuellen Koalitionsvertrag weiter mit der Forderung nach einer Entbürokratisierung mittels „One-Stop-Shop“-Lösungen. Ähnlicher Name, gleiches Ziel, offenbar gleiches Beratungsunternehmen. Umsetzung bisher? Fehlanzeige! Aber auch Sie von der FDP teilten ja vor einiger Zeit mit Frau Merkel Tisch und Bett. Blickt man in Ihren gemeinsamen Koalitionsvertrag von 2009, findet man dort ganz ähnliche Absichtsbekundungen, wie zum Beispiel das Errichten von Modellregionen für Bürokratieabbau oder das Erleichtern von Gründungen. Das hat leider auch zwischen 2009 und 2013 nicht geklappt. Schade! Aber Ihr mutiger Vorstoß heute, aus der Opposition heraus, ehrt Sie. Eine ähnliche Situation sehen wir beim längst überfälligen Wagniskapitalgesetz. Was geschieht, wenn der deutsche Staat als Investor tätig wird, sehen wir derzeit beim A‑380-Desaster. Für die AfD jedenfalls ist klar: Der Staat soll nicht Business Angel spielen. Er hat aber die Rahmenbedingungen für Investoren so zu setzen, dass Unternehmensbeteiligungen attraktiv werden. ({1}) Wie beim Bürokratieabbau haben sich die Merkel-Regierungen auch zu Wagniskapitalregeln schon mehrfach geäußert. Ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag 2013: Wir wollen die rechtlichen und steuerlichen Rahmenbedingungen für Wagniskapital international wettbewerbsfähig gestalten … Im Koalitionsvertrag 2018 steht: „Wir fördern die Gründungskultur“ und geben steuerliche Anreize für die Mobilisierung von Wagniskapital. Und schaut man in den schwarz-gelben Koalitionsvertrag von 2009, so ist dort zu lesen: Wir werden … bessere Rahmenbedingungen für Chancen- und Beteiligungskapital schaffen und für ein Leitbild der unternehmerischen Selbständigkeit werben. Ergebnis auch hier: Es wurde nichts verwirklicht. Meine Damen und Herren, seit mindestens zehn Jahren versprechen die von Frau Merkel geführten Koalitionen weniger Bürokratie und bessere Rahmenbedingungen für Investoren. Hätte man einfach mal durchgezogen, statt immer nur vollmundig anzukündigen, könnten deutsche Unternehmen heute vielleicht längst den großen US-Digitalkonzernen die Stirn bieten. Und wo wir schon bei den USA sind: Man muss kein Freund von Donald Trump sein; aber eines kann man neidvoll anerkennen. Im Gegensatz zu allen Merkel-Regierungen arbeitet er entschieden daran, seine Wahlversprechen umzusetzen. ({2}) Aber, meine Damen und Herren, was nützt der Blick über den Ozean? Kehren wir zurück zum real-existierenden Deutschland. Der vorliegende FDP-Antrag enthält einige gute Ansätze und Ideen. Sie sind zwar nicht neu, aber müssen nun dringend umgesetzt werden. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Uwe Schulz. – Nächste Rednerin: Saskia Esken für die SPD-Fraktion. ({0})

Saskia Esken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Fair Play in der digitalen Wirtschaft herstellen“, so überschreibt die FDP ihren hier vorliegenden Antrag. Ein gewisser Bezug zur aktuell in Berlin stattfindenden Kartellkonferenz lässt sich wohl nicht verleugnen. Dass Sie aber dann dem Wirtschaftsminister vorwerfen, daran teilzunehmen: Na ja. Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss das Kartellrecht modernisiert werden, wenn es auch in der digitalen Wirtschaft einen fairen Wettbewerb gewährleisten soll. Das Kartellrecht soll ja auch im digitalen Bereich die Kleinen vor dem Machtmissbrauch der Großen schützen. Das ist eine zutiefst sozialdemokratische Idee. Wir stehen voll dahinter. ({0}) Auch die Koalition im Ganzen sieht die Notwendigkeit, die Instrumente des Kartellrechts in die digitale Zukunft – in die „digitale Gegenwart“, müsste man eigentlich sagen – zu überführen, und hat sich mit ihrer Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 vorgenommen, eine solche Modernisierung auszuloten. Dass der Regierung nun vorgeworfen wird, dass sie in solchen Kommissionen auch bei externem Sachverstand Rat einholt, darüber muss ich mich auch wundern. Jederzeit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, kann das Parlament in ganzer Breite, wie Sie das formulieren, in die Arbeit der Kommission eingebunden werden. Ich bin mir sicher: Das Wirtschaftsministerium freut sich über Ihr Interesse und berichtet und stellt sich der Debatte und den Fragen der Parlamentarier in den zuständigen Ausschüssen oder auch hier im Plenum des Bundestages. Das hätten Sie einfach einmal beantragen können. ({1}) „… dass sich der digitale Markt über den Wettbewerb voraussichtlich nicht mehr selbst regulieren wird“ – das ist ein Zitat aus Ihrem Antrag, lieber Michael Theurer –, ist eine Einschätzung, die wir teilen. Ich bin nur überrascht, dies in dieser Schlichtheit in einem Antrag der Liberalen zu lesen, ehrlich gesagt. Im Maßnahmenteil allerdings fordert die FDP dann nicht etwa Regulierung, sondern Deregulierung des Marktes. Ehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Mit solchen Widersprüchen zwischen Prosa und politischem Handeln komme ich nicht so gut zurecht. Wenn wir ein Level Playing Field für die europäische Wirtschaft erreichen wollen – das ist doch der Raum, in dem wir denken müssen –, dann braucht es keine Deregulierung, sondern klare und durchsetzungsfähige, harmonisierte Regeln für alle Marktteilnehmer in Europa – sei es nun im Verbraucherschutz, beim Datenschutz, bei den Arbeitnehmerrechten oder beim Steuerrecht und bei der Steuergerechtigkeit. Experimentierräume für die Entwicklung neuer Ideen – „think outside the box“ –, das klingt gut; das haben wir auch schon einmal gehört. Die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Verbraucherinnen und Verbraucher können diese Ausnahmeräume aber so wenig betreffen wie das Steuerrecht. Nicht zuletzt umfasst der Maßnahmenkatalog der FDP auch die Förderung der digitalen Bildung. Ich war ein bisschen überrascht, unter der Überschrift „Deregulierung“ die digitale Bildung zu finden. Unbestritten gehören digitale Kompetenzen für alle Bürgerinnen und Bürger und insbesondere die Förderung der IT-Berufe zu den wichtigen Rahmenbedingungen für die Digitalwirtschaft in Deutschland und Europa. Wir freuen uns darauf, dass mit der Umsetzung des Digitalpakts nicht nur die digitale Ausstattung an den Schulen verbessert wird, sondern auch digitale Kompetenzen und informatische Inhalte in die Lehrpläne kommen und in Fortbildungen für die Lehrkräfte und Ähnliches mehr investiert wird. Ich bin mir aber über die Wirkung dieser Maßnahmen auf das Fair Play in der digitalen Wirtschaft nicht so ganz im Klaren. Auch bei den förderlichen Rahmenbedingungen gibt es eine gewisse Diskrepanz zwischen Ihrer Prosa, liebe Kollegen von der FDP, und Ihren Forderungen. Die betrifft die Problematik von Datensilos und die mangelnde Verfügbarkeit von Daten im europäischen Raum. Wie Sie richtig anmerken, lassen die letzten Entscheidungen zu Facebook durchaus darauf schließen, dass die Kartellbehörde den Missbrauch von Marktmacht durch den Missbrauch von Daten sehr gut erkennt. Aber wie ist damit umzugehen? Dazu herrscht in Ihrem Antrag leider großes Schweigen. Wir von der SPD, genauer gesagt eine Arbeitsgruppe um unsere Vorsitzende Andrea Nahles, haben ein Konzept für ein Daten-für-alle-Gesetz vorgelegt und zur Diskussion gestellt. Wir wollen Marktteilnehmer mit erheblicher Marktmacht dazu verpflichten, ihre Daten zu teilen – selbstredend unter Einhaltung aller Datenschutzregeln. Und wir finden durchaus: Der Staat als ganz großer Monopolist sollte da mit gutem Beispiel vorangehen und seine Datenschätze öffnen, Stichwort „Open Data“. Wir wollen damit den Missbrauch von Datenmacht als Marktmacht beschränken. Vor allem wollen wir damit eine Kultur des Datenteilens entstehen lassen, die die Nutzung großer Datenmengen durch lernende Maschinen, durch KI, für Innovation und Wettbewerb, aber auch für Wissenschaft und Gesellschaft eröffnet. Sehr gerne laden wir die FPD ebenso wie alle anderen demokratisch orientierten Fraktionen hier im Parlament dazu ein, unser Konzept für ein Daten-für-alle-Gesetz mit uns zu diskutieren und so weiterzuentwickeln, dass es Marktmacht und Datenmissbrauch eindämmt und den Free Flow of Data zum Fliegen bringt. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Saskia Esken. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Katharina Dröge. ({0})

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, wir haben gerade eine sehr interessante Debatte im Deutschen Bundestag geführt. Denn so, wie ich die Debatte wahrgenommen habe, haben alle Redner, auch die Redner von CDU/CSU und SPD, beschrieben, dass wir ein großes Problem mit der gigantischen Marktmacht von Konzernen wie Facebook, Google und Amazon haben und dass die Notwendigkeit besteht, hier stärkere Regeln, hier eine bessere Regulierung zu finden. ({0}) Das ist erst einmal ein Fortschritt. Es ist auch ein Fortschritt, dass sich niemand der hier anwesenden Redner – auch keiner der Redner von CDU/CSU und SPD – hinter die Vorschläge von Peter Altmaier gestellt hat, die dieser unlängst im Rahmen seiner Nationalen Industriestrategie gemacht hat. ({1}) Ich finde, das ist wirklich eine gute Entwicklung. Vielleicht schaffen wir es als Deutscher Bundestag, gemeinsam als Korrektiv aufzutreten für eine Bundesregierung, die unter diesem Wirtschaftsminister gerade ihren ordnungspolitischen Kompass zu verlieren droht ({2}) und die mit völlig wirren Vorschlägen zum Wettbewerbsrecht in eine Debatte gegangen ist. Während auf der ganzen Welt diskutiert wird, wie man strengere Wettbewerbsregeln finden kann, um die Marktmacht von Google, Facebook und Co zu begrenzen, so wie wir das hier im Deutschen Bundestag gerade gemacht haben, ist unser Wirtschaftsminister auf die absurde Idee gekommen, das Gegenteil zu tun. Mehr Monopole und weniger Kontrolle, das ist die Antwort, die Peter Altmaier auf Konzerne wie Google und Facebook gefunden hat. ({3}) Mehr Monopole bedeuten am Ende einen für die Wirtschaft gefährlichen Weg, wenn diese Bundesregierung ihn wirklich beschreiten will. Mehr Monopole bedeuten weniger Innovation, weniger internationale Wettbewerbsfähigkeit, weniger Auswahl für die Verbraucher, höhere Preise, schlechtere Qualität. Und es bedeutet mehr Druck auf Start-ups und kleinere und mittlere Unternehmen, von denen eigentlich die Innovationsfähigkeit in diesem Land ausgeht. ({4}) Wenn das Ihre Wirtschaftspolitik in dieser Legislaturperiode sein sollte, dann müssen Sie den Namen Ludwig Erhards wirklich nie wieder in den Mund nehmen. ({5}) Der Antrag der FDP geht zum Glück in die andere Richtung, in Richtung strengere Wettbewerbsregeln. Es ist der richtige Zeitpunkt, das heute hier zu debattieren. Ich frage mich allerdings: Warum hören Sie in Ihrem Antrag an entscheidender Stelle auf? Denn das, was Sie vorschlagen, ist mitnichten geeignet, die strukturelle Marktmacht von Konzernen wie Facebook und Co zu begrenzen, das ändert nichts an der Marktmacht, die Konzerne wie Facebook und Co haben. Herr Theurer, Sie haben über das Thema Interoperabilität gesprochen. In Ihrem Antrag kommt das leider nicht vor. Oder das Thema „Neutralität von App Stores“ – das ist wichtig für die Förderung von Wettbewerbsfähigkeit – kommt in Ihrem Antrag so nicht vor. Das gilt auch für das Thema „missbrauchsunabhängige Entflechtungsmöglichkeit“. Es war ein FDP-Wirtschaftsminister, der zum letzten Mal hier in diesem Haus einen Vorschlag für ein Gesetz zur missbrauchsunabhängigen Entflechtungsmöglichkeit gemacht hat. Es wäre schön gewesen, wenn von der FDP auch eine klare Aussage gekommen wäre, dass die Fusion von Facebook und WhatsApp ein Fehler war, dass es ein Fehler ist, dass YouTube zu Google gehört, dass es ein Fehler ist, dass Instagram zu Facebook gehört. Das alles ist das Gegenteil von Wettbewerb. Deswegen brauchen wir die Möglichkeit der Entflechtung. ({6}) Nicht zuletzt: Wenn Sie über faire Spielregeln sprechen, dann müssen Sie sich fragen, was eigentlich die Infrastruktur des Internets ist. Ist Amazon eigentlich schon die Infrastruktur des Internets? Ist Google am Ende nicht so mächtig, so sehr ein Monopol, dass es die Infrastruktur des Internets ist? Wenn das so ist, dann müssen wir die Antwort geben, dass wir das genauso regulieren, wie wir Stromnetze oder Telefonleitungen regulieren, dass wir den Anspruch haben, faire Bedingungen diskriminierungsfrei für alle sicherzustellen. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katharina Dröge. – Der letzte Redner in dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Axel Knoerig. ({0})

Axel Knoerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004073, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag, den wir hier debattieren, kommt mir irgendwie bekannt vor: Schon vor einem Jahr forderten die Grünen „faire digitale Märkte“, jetzt fordert die FDP „Fair Play in der digitalen Wirtschaft“. Man könnte meinen, Sie proben Jamaika! ({0}) Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum Ihr Fraktionsvorsitzender heute hier nicht dabei ist. Ich sage: Heute wie auch damals lehnen wir den Antrag der FDP und auch den Antrag der Grünen ab. Zum Antrag der FDP. Ich unterstütze voll und ganz das, was Frau Esken vonseiten der SPD hier formuliert hat, nämlich dass er schlichtweg unvollständig ist. Die Grünen, Frau Dröge, haben wenigstens noch Forderungen zum Datenschutz mit aufgenommen, ({1}) die FDP beschränkt sich ausschließlich auf Wettbewerb und Kartellrecht. Damit ist Ihr Antrag inhaltlich schlichtweg zu dünn. Meine Damen und Herren, wir von der Union meinen: In der digitalen Wirtschaft müssen weitaus mehr Aspekte berücksichtigt werden. ({2}) Da ist die Grundlage natürlich sehr wohl auch die digitale Infrastruktur. Hier wird 5G in Zukunft eine entscheidende Rolle spielen. Wir brauchen einen gleichwertigen Ausbau in Stadt und Land. Das ist doch Fair Play! ({3}) Da sind wir uns als Koalition einig, zumindest was uns als Parlamentarier von SPD und CDU/CSU betrifft. Jetzt müssen wir das entsprechend umsetzen. ({4}) Worauf kommt es noch in der digitalen Wirtschaft an? Selbstverständlich auf Wettbewerb und Innovation – das haben Sie von der FDP in Ihrem Antrag sehr wohl auch formuliert –, aber auch auf Datenschutz und Datensicherheit. Gerade auf dieses Zusammenspiel kommt es doch an. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie stellen in Ihrem Antrag fest, dass die großen Digitalkonzerne „im Visier der Kartellbehörden“ sind. Das ist doch nur möglich geworden, weil wir mit der neunten Novelle des Wettbewerbsrechts erst einmal die Voraussetzungen dafür geschaffen haben. ({5}) Damit haben wir erstmals Regeln für die digitale Wirtschaft festgelegt, und zwar als eines der ersten Länder weltweit. Seither setzt das Kartellamt die Neuregelungen in der Praxis auch erfolgreich um; zwei Beispiele sind die Verfahren gegen Facebook und Amazon. In diesem Zusammenhang hat unser Bundeswirtschaftsminister Altmaier angemahnt, dass wir auch große europäische Plattformen brauchen. Das Potenzial für Innovationen ist in Deutschland ja vorhanden: Deutschland steht bei den Patentanmeldungen auf Platz zwei hinter den USA. Voraussetzung für Absatz und Wachstum sind offene Märkte. Abschottung und Protektionismus können nur schaden, vor allem, wenn man bedenkt, wie schnell sich digitale Dienste und Angebote ändern. So hat die chinesische App TikTok im letzten Jahr fast 700 Millionen Nutzer hinzugewonnen – ein riesiger Schub, meine Damen und Herren, der zeigt, was in dieser Branche alles möglich ist. Gerade bei chinesischen Unternehmen kommen immer wieder die Themen „Datenschutz“ und „Datensicherheit“ auf. Ein aktuelles Beispiel ist die Debatte zum 5G-Ausbau und Huawei; wir haben diesbezüglich gestern eine Anhörung im Auswärtigen Ausschuss gehabt. Natürlich darf China nicht auf alle Daten zugreifen, die bei der Nutzung chinesischer Produkte anfallen, vor allem Daten aus sensiblen Bereichen wie zum Beispiel dem Gesundheitsbereich sind besonders schützenswert. Meine Damen und Herren, es ist eben Fakt: In Deutschland sind wir auf ausländische Hard- und Software angewiesen. Das heißt im Klartext: Wir müssen diejenigen stärken, die in Europa forschen, und müssen auch die Produktion nach Europa zurückholen. Das muss insbesondere bei der Netzwerkausrüstung greifen. Hier müssen wir als Allererstes, um die Datensicherheit zu unterstützen, eine europäische Zertifizierung einführen. Und bei Plattformen muss gewährleistet sein, dass Nutzer leicht wechseln können. Sonst überträgt sich der Ausverkauf von europäischen Handyherstellern, wie wir das in früheren Jahren und Jahrzehnten erlebt haben, womöglich auch auf andere Branchen. Es ist daher gut, dass wir die Außenwirtschaftsverordnung geändert haben. Mit Blick auf ausländische Investoren werden Beteiligungen ab 10 Prozent schon jetzt geprüft. Das betrifft vor allem kritische Infrastrukturen. Meine Damen und Herren, wie Sie sehen: Infrastruktur, Wettbewerb und Innovation, Datenschutz und Datensicherheit, das sind fünf Komponenten, die in der digitalen Wirtschaft ineinandergreifen. Hier müssen wir doch die richtige Balance finden. Dazu möchte ich ein Beispiel aus meinem Wahlkreis Diepholz/Nienburg aufgreifen. Gerade erst ist in der Stadt Sulingen der „Lückenschluss“ beim freien WLAN vollzogen worden, mithilfe der heimischen Wirtschaft sind jetzt zehn Router für freien Internetzugang in Betrieb. Die Voraussetzung dafür haben wir 2017 mit dem WLAN-Gesetz geschaffen. Hier haben wir den praktischen Nutzen mit der Datensicherheit in Einklang gebracht. Das muss doch auch jetzt in der Gesetzgebung entsprechend zum Tragen kommen. Deswegen gilt bei der aktuellen Urheberrechtsreform der EU, dass wir nicht über das Ziel hinausschießen. Auch dabei ist ein fairer Ausgleich gefragt, nämlich zwischen der Meinungs- und der Informationsfreiheit und den Rechten der Künstler. Ich will es einfach formulieren: Urheberrecht ja, Uploadfilter nein – so wir wie es im Koalitionsvertrag festgelegt haben. ({6}) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Not found (Minister:in)

Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ich freue mich, dass wir heute die erste Lesung des Entwurfes für das Freiwilligendienste-Teilzeit-Gesetz haben. Dieses Gesetz soll es mehr jungen Menschen unter 27 Jahren ermöglichen, sich in den Freiwilligendiensten des Bundes zu engagieren. Jetzt schon entscheiden sich jedes Jahr 80 000 Menschen unter 27 Jahren für einen Jugendfreiwilligendienst oder einen Bundesfreiwilligendienst. Das ist eine gute Entwicklung. ({0}) Diese jungen Leute entscheiden sich, ein Jahr ihres Lebens Zeit zu schenken, und sind dann im Umweltschutz, in der Altenhilfe oder in der Behindertenhilfe tätig. Sie sagen danach: Das war für mich eine wichtige Zeit. Die Zeit hat mich persönlich bereichert. Das ist vielleicht eine Grundlage für meinen eigenen weiteren beruflichen Weg. – Für die Gesellschaft ist es von unmessbarem Wert, dass diese 80 000 jungen Menschen jedes Jahr sagen: Ich mache das. Ich will das. – Wir wollen vonseiten der Bundesregierung genau dieses Engagement stärken. Was machen wir mit dem Freiwilligendienste-Teilzeit-Gesetz, das heute hier besprochen wird? Dieses Gesetz soll den Rahmen verbessern, in dem sich junge Menschen freiwillig engagieren. Wir haben viele Menschen, die älter als 27 sind und sich engagieren, viele ältere Menschen, die sehr aktiv sind. In Deutschland sind um die 30 Millionen Menschen ehrenamtlich engagiert. Das ist ein großer Teil der Bevölkerung. Dieses Engagement geht durch alle Altersgruppen. Aber bisher ist es so, dass der Bundesfreiwilligendienst und auch der Jugendfreiwilligendienst nur von über 27‑Jährigen in Teilzeit absolviert werden kann. Das hat sich als unpraktisch und auch ungerecht herausgestellt. Denn wir haben zum Beispiel eine junge Frau mit einer kleinen Tochter, die sich engagieren würde, aber nachmittags ihr Kind betreut, oder einen Vater, der das gern machen möchte, es aber nicht den ganzen Tag tun kann. Wir haben die junge Frau aus Eritrea, die einen Integrationskurs besucht und sich nebenbei freiwillig engagieren will, vielleicht in einem Altenheim. Auch hier kommt nur Teilzeit in Betracht. Ein weiteres Beispiel wäre ein junger Mann Anfang 20, der sehbehindert ist und für den Weg zum Einsatzort und den Heimweg einfach länger braucht. Trotzdem möchte er gerne ein Freiwilliges Ökologisches Jahr beim BUND machen. Das sind Dinge, die wir begünstigen wollen. Wir wollen, dass diese jungen Menschen erleben: Ich kann mich freiwillig engagieren, auch wenn ich es nicht in Vollzeit tun kann. Es gibt die Möglichkeit, das in Teilzeit zu machen. – Wir wollen mit dem Freiwilligendienste-­Teilzeit-Gesetz die beiden bestehenden Gesetze, das Bundesfreiwilligendienstgesetz und das Jugendfreiwilli­gendienstegesetz, verändern und diese Möglichkeit schaffen. ({1}) Was wir ganz bewusst nicht schaffen, ist ein Rechtsanspruch auf Teilzeit; denn das ist von den Praktikern als nicht praktikabel bezeichnet worden. Es müssen beide die Teilzeit wollen: Diejenigen, die einen Teilzeiteinsatz machen wollen, müssen es begründen, und die Träger, die die Einsatzorte vorbereitend zur Verfügung stellen, müssen sagen, dass es bei ihnen machbar ist. Wir wollen, dass es dem Wunsch entsprechend funktioniert und dass diejenigen, die sich engagieren, aber auch diejenigen, die den Einsatzort anbieten, damit gut umgehen können. Genau diese Möglichkeit schafft der vorliegende Gesetzentwurf. Mein Anliegen geht darüber hinaus. Wir haben im letzten Jahr ein Konzept für ein Jugendfreiwilligenjahr vorgestellt, das es ermöglichen soll, dass sich noch mehr junge Menschen engagieren. Wir haben aus den Erfahrungen gesehen, dass wir ein hohes Potenzial haben: Nach Schätzungen wären etwa 120 000 junge Menschen pro Jahr bereit, solch einen Freiwilligendienst zu machen. Aber einige sagen auch: Ich kann mir das nicht leisten. Es ist für mich zu schwierig. – Dieses Engagement kann dann nicht stattfinden. Deswegen wollen wir die bestehenden Freiwilligendienste mit einem Jugendfreiwilligenjahr stärken. In diesem Konzept wollen wir das, was wir bereits an guter Erfahrung haben, bündeln. Wir wollen über genau dieses Konzept auch mit denjenigen, die vor Ort sind, die die Freiwilligenjahre organisieren, ins Gespräch kommen. Das werden wir auch tun. Letztendlich ist jeder, der sich engagiert, Teil dieser Gesellschaft. Es sind Menschen, die dafür eintreten, dass ein friedliches und gutes Zusammenleben funktionieren kann, dass unsere Demokratie funktioniert. Es sind Menschen, die nicht nur teilhaben wollen, sondern auch bereit sind, ihren Teil zu geben. Das ist etwas sehr Besonderes. Deshalb ist mir auch sehr wichtig – so ist auch das Konzept seitens des Bundesjugendministeriums –, zu befördern, dass sich junge Menschen aus Überzeugung entscheiden, sich in dieser Form zu engagieren. Sie tun dies nicht aufgrund einer Pflicht, sondern sagen freiwillig: Ja, ich möchte mich für mehr interessieren als nur für mich selbst. Ich möchte mich engagieren. Ich möchte ein Jahr lang in der Zeit nach dem Schulabschluss und vor dem Beruf oder dem Studium noch einmal etwas anderes machen. Ich will lernen für das Leben, aber vor allen Dingen auch für meinen eigenen Weg. Wir erleben, dass nicht nur diejenigen, die den Freiwilligendienst machen, sondern auch diejenigen, die davon profitieren, sich gegenseitig immer wieder Kraft geben und dass beide Seiten etwas davon haben. Deswegen macht das so viel Sinn. Es gibt einen schönen Spruch, der lautet: Wer Engagement will, muss Sinn geben. – Ja, für manche Menschen macht eben ein Freiwilligendienst absolut Sinn, und zwar auch in Teilzeit. Mit diesem Gesetzentwurf, der hier vorliegt, wollen wir auch für unter 27‑Jährige die Möglichkeit schaffen, einen Freiwilligendienst zu machen. Das ist ein guter Weg. Die Praktiker vor Ort sagen uns: Ja, ihr seid auf dem richtigen Weg. Macht das. Wir wünschen uns das. Wir warten darauf. – Insofern hoffe ich hier und heute auf gute Beratungen, sodass dieser Schritt gegangen werden kann und noch mehr junge Menschen diesen Dienst machen können. Damit geben wir hier heute auch einen ersten Baustein für unser Konzept für eine Stärkung der Jugendfreiwilligendienste in Deutschland in die parlamentarische Beratung. Ich hoffe, dass das gut gelingt. Vielen Dank für Ihre Unterstützung. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ministerin Giffey. – Nächster Redner in der Debatte: Martin Reichardt für die AfD-Fraktion. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute über den Gesetzentwurf zur Teilzeitmöglichkeit von unter 27‑Jährigen im Bundesfreiwilligendienst und über den Antrag der FDP mit der Zielgruppe Senioren. In der Debatte um die Wiedereinführung der allgemeinen Dienstpflicht warf Herr Lindner der CDU seinerzeit fehlendes Verständnis für die jüngere Generation vor. Der jetzt vorliegende Antrag dokumentiert das fehlende Verständnis der FDP für die ältere Generation. Eine Forderung aus dem Antrag lautet – ich zitiere –, „das Informationsangebot über ein freiwilliges Engagement für Seniorinnen und Senioren transparenter, einfacher zugänglich und verständlicher zu gestalten“. Ihr Fraktionskollege Wolfgang Kubicki, den ich, durchaus mit Respekt und ohne despektierlich zu sein, als Senior bezeichnen würde, würde Ihnen vermutlich klare Worte sagen, wenn Sie ihm Leichte Sprache würden verordnen wollen. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass er diesen altersdiskriminierenden Antrag nicht mit unterzeichnet hat. Zudem zeichnen Sie ein falsches Bild unserer Senioren. Lediglich 463 sind deutschlandweit im Bundesfreiwilligendienst tätig, dafür aber engagieren sich 23 Prozent der über 70‑Jährigen im Ehrenamt. Sie liegen damit an der Spitze beim bürgerschaftlichen Engagement. Dafür gebühren diesen Senioren der Dank dieses Hauses und der Dank unseres Landes und keine altersdiskriminierenden Anträge einer Hipster-Partei, liebe Freunde. ({0}) Nun zum Gesetzentwurf der Regierung. Die Einführung einer Teilzeitmöglichkeit im Bundesfreiwilligendienst ist eine technische Regelung, gegen die man kaum etwas einwenden kann und die wir befürworten. Einwände haben wir allerdings dagegen, dass Frau Ministerin Giffey wieder ihre linke Krake „Demokratie leben!“ den Freiwilligendienst pädagogisch begleiten lässt. ({1}) Ganze 25 Tage müssen die Teilnehmer in einem Bildungszentrum des Bundes verbringen. Diese Bildungszentren haben eine eindeutige Ausrichtung. So liest man auf der Homepage des Bundesfreiwilligendienstes: Unsere Bildungsarbeit wird durch die Kooperation mit Projektpartnern des Bundesprogramms Demokratie leben! bereichert. ({2}) Danach folgt die übliche Auflistung aller möglichen Programme gegen rechts. ({3}) Daran erkennt man die fehlende Neutralität. Frau Ministerin Giffey hat betont, „Demokratie leben!“ sei eine neutrale Stütze unserer Zivilgesellschaft. Genau das ist nachweislich nicht der Fall. ({4}) Außerdem vermittelt Frau Giffey den Eindruck, dass es ohne die fleißigen Mitarbeiter von „Demokratie leben!“ den Menschen in Deutschland gar nicht mehr möglich wäre, Demokratie richtig zu praktizieren. ({5}) Die extrem linkslastige pädagogische Zwangsbegleitung der Freiwilligendienste ist eine Misstrauenserklärung gegenüber Vereinen, Institutionen und Elternhäusern, und wir lehnen sie ab. ({6}) In Vereinen wird Demokratie gelebt, ganz ohne Programme von links. Die AfD steht übrigens für die Wiedereinführung der Wehrpflicht und für die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für alle, die nicht Mütter sind. ({7}) Die allgemeine Dienstpflicht ist ein Dienst an der Gesellschaft und an Deutschland. ({8}) Die allgemeine Dienstpflicht steht für Miteinander und gelebte Demokratie. Da stehen alle Bürger in der Verantwortung, kein abstrakter Staat und schon gar keine weltfremde Bundesregierung. ({9}) Die „Fridays for Future“-Demonstrationen haben gezeigt, dass die Jugend in Deutschland bereit ist, Verantwortung zu tragen und sich zu engagieren. Aufgabe einer verantwortungsvollen Politik ist es aber, dafür Sorge zu tragen, dass das Engagement der Jugend nicht in die Fänge der grünen Klimasekte gerät, ({10}) einer Sekte, in der gewissenlose Gurus wie Herr Habeck, Frau Baerbock oder auch Frau Roth unsere Jugend mit irrationalen Klimaängsten für linksextreme Gesellschaftsmodelle gefügig machen wollen. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Darf ich Sie bitte an Ihre Redezeit erinnern?

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Freiwilligendienst ist Dienst an der Heimat und am Gemeinwesen und kein staatlich gefördertes, linksradikales Indoktrinationsseminar. Ich danke allen Menschen, die in Deutschland Freiwilligendienst leisten, auf das Herzlichste und wünsche ihnen weiterhin viel Erfolg. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Der nächste Redner in der Debatte: Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe gerade etwas von „Hipstern“ und „Gurus“ gehört. Wir reden hier aber eigentlich über Menschen, die sich in diesem Land engagieren, einen Goldschatz, den wir in Deutschland haben. Wir sollten etwas entspannter damit umgehen und diesen Goldschatz unterstützen, ({0}) statt irgendwelche Leute zu diffamieren und Ideologie zu predigen. Es sind Menschen, die Verantwortung übernehmen, nicht nur für sich und für die eigene Familie, sondern auch für andere Menschen, für die Gesellschaft. Aus der Gesellschaft wird durch diese Verantwortungsübernahme eine Gemeinschaft. Das erfordert Stärke, das erfordert auch Empathie, ein Zutrauen und Vertrauen. Über 30 Millionen Menschen in diesem Land engagieren sich ehrenamtlich bei Verbänden, bei Trägern. Ich finde, dieser Goldschatz macht uns als Gesellschaft stark, und es ist unsere Aufgabe, diesen Goldschatz auch politisch zu unterstützen. Das machen wir mit dem vorliegenden Gesetz. ({1}) Der Name der Freiheit für Erwachsene heißt Verantwortung. So hat es Joachim Gauck gesagt, der ja in seiner Präsidentschaft viel für das Thema „Engagement und Ehrenamt“ getan hat. So hat er schon in seiner Antrittsrede formuliert: Den Regierten, unseren Bürgern, muten wir zu: Ihr seid nicht nur Konsumenten. Ihr seid Bürger, das heißt Gestalter, Mitgestalter. Wem Teilhabe möglich ist und wer ohne Not auf sie verzichtet, der vergibt eine der schönsten und größten Möglichkeiten des menschlichen Daseins: Verantwortung zu leben. Wir als CDU/CSU bekennen uns zu diesen Menschen, zu dieser Verantwortung. Deshalb werden wir den Gesetzentwurf mit unterstützen. Er schafft nämlich einen neuen Horizont, er ist eine Erweiterung dessen, was wir als politisch sinnvoll und wichtig erachten. Wir haben schon für das Jahr 2019 rund 65 Millionen Euro obendrauf gepackt, für den Bundesfreiwilligendienst 40 Millionen Euro. Damit ermöglichen wir die Schaffung von 5 000 zusätzlichen Plätzen, die pädagogische Begleitung der Freiwilligen und Unterstützungsmaßnahmen für Freiwillige mit Behinderungen. Für das FSJ und das FÖJ stehen 25 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung. Das waren für 2019 wichtige Schritte, um das Angebot zu erweitern. Ich hoffe und gehe davon aus – weil wir eine gut zuhörende Bundesregierung haben –, dass wir auch in den Jahren 2020 und folgende entsprechende finanzielle Mittel bereitstellen können. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schließen wir eine weitere Lücke. Die Überlegung ist: Wie kann man den Bundesfreiwilligendienst und die anderen Freiwilligendienste als Gesellschaft, als Politik noch besser gestalten? Denn es ist tatsächlich so – Frau Ministerin hat es angesprochen –, dass teilweise auch Menschen, die jünger als 27 sind, den Freiwilligendienst nicht in Vollzeit leisten können. Sie hat das Beispiel der Mutter mit einem Kind genannt. Ich nenne das Beispiel der Mutter mit drei Kindern – wir von der CDU/CSU haben immer ein paar mehr Kinder –, die es natürlich nicht schaffen würde, in Vollzeit einen Freiwilligendienst auszuüben. Ich nenne das Beispiel eines Mannes, der seinen Vater pflegt. Er würde es auch nicht schaffen, in Vollzeit einen Freiwilligendienst auszuüben. Deswegen ist es wichtig, dass wir diesen Menschen etwas anbieten und ihnen sagen, dass auch Teilzeit möglich ist. Wir erweitern also das Angebot, das wir den über 27-Jährigen bereits machen, auf die unter 27-Jährigen. Denn das Thema Vereinbarkeit ist ein Leitgedanke der Familienpolitik, und da sind auch die Vereinbarkeit von Familie und Freiwilligendienst und die Vereinbarkeit von Familie und Ehrenamt wichtige Aspekte. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir die Regelungen ergänzen und die Möglichkeit schaffen, sich in Teilzeit zu engagieren. Der familienpolitische Leitgedanke der Vereinbarkeit von Familie und Beruf umfasst nämlich auch, die Vereinbarkeit von Familie und Freiwilligendienst zu verbessern. Der nächste Schritt muss sein – das ist die Perspektive –, zu überlegen: Wie kann man das weiter zusammenführen? Wie kann man das Engagement entbürokratisieren, vereinfachen und Anreize dafür schaffen? Denn noch mehr Menschen würden gern etwas tun; Sie haben die Zahlen genannt. Die Menschen stehen quasi vor der Tür und sagen: „Auch ich will mich engagieren“, auch mit neuen Themenschwerpunkten, die sich ja im Laufe der Zeit verlagern. Das Thema der Migrationsbewegungen hat neues Engagement ausgelöst, das Thema Klimawandel löst neues Engagement aus. So werden auch neue Themen auf uns zukommen. Da geht es um folgende Fragen: Wie können wir das Taschengeld gestalten? Wie können wir das Freiwilligenjahr besser anerkennen? Wie können wir Hürden abbauen? – Es ist unser Ansinnen, die Hürden zu senken, und dieses Gesetz trägt dazu bei. Zum Schluss sage ich noch einmal: Wir brauchen jeden einzelnen Menschen, der sich für unsere Gesellschaft, unsere Gemeinschaft engagiert. Das dient im Übrigen auch der Entwicklung der Menschen. Die einen haben – so wie ich – ein paar Jahre bei der Bundeswehr verbracht und dabei viel gelernt. Die anderen, die sich anderswo engagieren, lernen etwas für sich, für ihren eigenen Horizont, und sorgen zugleich für eine soziale Gesellschaft, für Gemeinsinn. Das ist letztendlich, was die Menschen trägt; denn Verantwortung zu leben, ist – Zitat – „eine der schönsten und größten Möglichkeiten des menschlichen Daseins“. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Marcus Weinberg. – Nächster Redner: Grigorios Aggelidis für die FDP-Fraktion. ({0})

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf die Anträge zu sprechen komme, muss ich Ihnen, Herr Reichardt, gratulieren; denn Sie haben eines geschafft: Obwohl ich die sinnentleerten Beiträge Ihrer Fraktion bisher immer ignorieren konnte, werde ich Ihnen jetzt direkt antworten, weil Sie auf unseren Antrag zu sprechen gekommen sind, und will Ihnen beim Verständnis der deutschen Sprache ein bisschen auf die Sprünge helfen. Selbstverständlich müssen wir, wenn wir ein Programm haben, das sich bisher größtenteils an junge Leute gewandt hat, zusehen, dass wir die Beschreibungen der Angebote so formulieren, dass sich auch ältere Menschen davon angesprochen fühlen. Wenn sich das Angebot so, wie es bisher sichtbar ist, eher an „Hipster“ wendet – so haben Sie es genannt; Sie meinen damit wohl nur junge Leute –, dann muss man überlegen, wie man es so formulieren kann, dass sich auch ältere Menschen davon angesprochen fühlen. – So weit dazu. ({0}) Frau Ministerin, wir begrüßen sehr die neuen Regelungen zur Teilzeit, weil das gesellschaftliche, bürgerschaftliche Engagement – es wurde von den Vorrednern schon gesagt – ein ganz wesentliches Element, ein wesentlicher Schatz unserer Gesellschaft ist, ein Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Das weiß ich auch selber, weil ich seit über zehn Jahren im Ehrenamt engagiert bin und dort viele engagierte Menschen, von ganz jung über Hipster bis ganz alt, kennengelernt habe. Allerdings haben Sie die Chance auf etwas noch Besseres verpasst. Was meine ich damit? Erstens haben wir in den Anhörungen feststellen dürfen, dass viele der Organisationen und der Beteiligten darüber klagen, dass es zu viel Bürokratie gibt und sie immer mehr zunimmt. Eine sehr prägende Aussage dazu kam von einer Dame, die seit den Anfängen der Freiwilligendienste dabei ist. Sie sagte: Damals brauchte ich zwei Seiten, jetzt brauche ich zwei Ordner. – Ich glaube, den Organisationen und den jungen Menschen würde es sehr helfen, wenn wir da zu Vereinfachungen kämen. ({1}) Zweitens. Frau Ministerin, als Sie Ihr Amt angetreten haben, haben Sie gesagt – die Aussage habe ich damals sehr begrüßt –: Das ist ein Ministerium des Lebens, weil von ganz Jung bis ganz Alt alles dabei ist. – Unserer Ansicht nach setzen Sie das aber nicht ausreichend um. Sie könnten sich stärker an der Lebensrealität und den Bedürfnissen älterer Menschen orientieren. Deswegen legen wir diesen Antrag vor. Wir wünschen uns – das stellen wir in unserem Antrag dar –, dass Sie stärker auf die Lebensrealität und die Lebenssituation älterer Menschen eingehen und flexiblere Möglichkeiten schaffen. Wir wünschen uns, dass Sie die starren Grenzen – mindestens 20 Stunden – aufheben. Wir wünschen uns auch, dass das Taschengeld, dass das, was für dieses Engagement sozusagen zusammenkommt, nicht angerechnet wird. Wir wünschen uns einfach, dass Sie bei der Gestaltung der Anforderungen dieses Pakets stärker auf die älteren Menschen eingehen. Selbstverständlich muss das alles auf freiwilliger Basis geschehen; denn – da haben Sie recht – nicht jede Organisation kann das darstellen. Dafür werben wir. Wir hoffen, dass wir im Ausschuss zueinanderkommen. Wir danken den 30 Millionen Menschen, die sich freiwillig engagieren, die das Leben in unserem Land so lebenswert machen, wie es ist. Damit will ich schließen. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen und werbe um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Grigorios Aggelidis. – Nächste Rednerin: Katrin Werner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung wird endlich die Möglichkeit geschaffen, dass auch Menschen unter 27 Jahren den Bundesfreiwilligendienst in Teilzeit verrichten können. So können junge Menschen in Zukunft den Bundesfreiwilligendienst, ein Freiwilliges Soziales Jahr oder ein Freiwilliges Ökologisches Jahr in Teilzeit – mindestens 20 Stunden in der Woche – absolvieren, wenn gewichtige persönliche Gründe das erforderlich machen. Das können, wie bereits erwähnt, die Betreuung eines eigenen Kindes oder eines anderen Angehörigen, eine Behinderung oder vergleichbare Gründe sein. Ja, es ist gut, dass diese Teilzeitmöglichkeit eingeführt wird. Dadurch wird endlich der Freiwilligendienst für junge Menschen geöffnet, die vorher ausgeschlossen waren. Die Barrieren für Menschen mit Behinderung werden gesenkt, und auch die Vereinbarkeit von Familie und Engagement wird verbessert. Aber leider ist dieser Entwurf, wieder einmal, nur ein kleiner Schritt. Die Chance für notwendige Veränderungen, um Freiwilligendienste wirklich inklusiv zu gestalten, haben Sie wieder nicht genutzt, Frau Giffey. Dabei wäre das relativ einfach gewesen. Der Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement hat im Namen aller Fraktionen eine Empfehlung ausgesprochen und Vorschläge unterbreitet. Der Familienausschuss hat diese Empfehlung bestätigt. Dieses gemeinsame Papier wurde an das Ministerium gesandt. Sie haben unsere Vorschläge nicht aufgegriffen und die Chance, so finden wir, vertan, den Freiwilligendienst inklusiver zu gestalten. ({0}) Es gibt keine Verbesserung bei der pädagogischen Begleitung. Deswegen bleibt die Öffnung für unterschiedliche Zielgruppen mangelhaft. Es muss darum gehen, die Teilhabe aller unterrepräsentierten Gruppen zu stärken. Dazu zählen Menschen mit Behinderung, Menschen mit Migrationshintergrund und sozial benachteiligte Menschen und Menschen aus bildungsfernen Schichten. Zur Anerkennungskultur. Auch dazu wurden in dem Papier Vorschläge unterbreitet. Auch dazu finden wir in dem Gesetzentwurf nichts. Freiwillige setzen sich schon lange unter dem Motto „Freie Fahrt für Freiwillige“ für eine kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs ein. Diese Forderung haben Sie nicht aufgegriffen, Frau Giffey. Warum schaffen Sie nicht endlich einen bundesweit einheitlichen Freiwilligenpass, der engagierten Menschen die kostenlose Nutzung von ÖPNV, von Freizeit-, Kultur- und Sporteinrichtungen ermöglicht? ({1}) Das wäre ein erster Schritt, um die Anerkennungskultur stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Engagement muss man sich leisten können. Deshalb ist es notwendig, dass endlich die Anrechnung des Taschengeldes auf Sozialleistungen abgeschafft wird. ({2}) Das tun Sie nicht. Für sozial benachteiligte Menschen bleiben deswegen weiterhin Barrieren beim Freiwilligendienst bestehen. Die Freiwilligendienste bleiben ein Privileg für ökonomisch bessergestellte Menschen. Das muss endlich aufhören. ({3}) Auch das Thema Arbeitsmarktneutralität packen Sie wieder nicht an. Fest steht: Die Freiwilligendienststellen dürfen keine regulären Arbeitsplätze verdrängen oder deren Schaffung verhindern. Gerade im Pflegebereich, wo wir einen massiven Personalnotstand haben, ist das ein riesiges Problem. Doch von Ihnen kommen keine Vorschläge, wie man das besser kontrollieren könnte oder wie das verhindert werden kann. Der Pflegenotstand darf nicht auf dem Rücken von Freiwilligen behoben werden; denn das geht immer zulasten der Freiwilligen oder der Pflegebedürftigen. Sehr geehrte Damen und Herren, selbst bei der Gestaltung dieses Gesetzentwurfs gibt es Mängel. Die Möglichkeit, den Dienst in Teilzeit zu absolvieren, soll nur für junge Menschen mit einem berechtigten Interesse bestehen. Was ist ein „berechtigtes Interesse“? Das wird im Berufsbildungsgesetz geregelt. Die Kriterien legt der Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung fest. Die Entscheidung darüber muss aber bei denjenigen liegen, die am Freiwilligendienst beteiligt sind, das heißt bei den Freiwilligen, bei den Trägern und bei den Einsatzstellen. Aus unserer Sicht müssen wir da die Freiwilligen stärken. Wenn jemand einen Freiwilligendienst leisten möchte, soll das auch möglich sein. ({4}) Das Taschengeld für Freiwillige, die ihren Dienst in Teilzeit verrichten, soll gekürzt werden. Das könnte sich in manchen Fällen negativ auswirken. Gerade junge Menschen, die Angehörige oder Kinder betreuen, sind leider häufig auf dieses Taschengeld angewiesen. Eine Kürzung könnte sie vom Freiwilligendienst ausschließen. Das Taschengeld ist keine Aufwandsentschädigung und auch kein Lohn. Über die Höhe des Taschengeldes sollten in einem bestimmten Rahmen die Träger und die Einsatzstellen zusammen mit den Freiwilligen entscheiden. Wir brauchen keine starren Vorgaben, die am Ende wieder Menschen ausschließen. Außerdem sieht der Gesetzentwurf keine Regelungen zu Übergängen von Voll- in Teilzeit vor. Sie haben die Möglichkeit vertan, Klarstellungen ins Gesetz aufzunehmen und damit die Zahl der Abbrüche von Freiwilligendiensten zu reduzieren. Frau Giffey, ich finde es schade, dass Sie die Vorschläge, die in dem gemeinsamen Papier vom Unterausschuss gemacht wurden, nicht aufgenommen haben. Wir würden uns schon wünschen, dass in der Nacharbeit mehr aufgenommen wird. An dieser Stelle möchte ich den Paritätischen Gesamtverband zitieren, der in seiner Stellungnahme schreibt: … die Chance [bleibt] ungenutzt, umfassende strukturelle Änderungen zur inklusiven Ausgestaltung von Freiwilligendiensten zu ermöglichen. Mit dem FWDTeilzeitG wird lediglich der zeitliche Umfang in der Einsatzstelle reformiert. Ein an den gesellschaftlichen Notwendigkeiten und Bedürfnissen … ausgerichteter Freiwilligendienst umfasst jedoch mehr … ({5}) Viele junge Menschen bleiben weiterhin ausgeschlossen. Die großen Themen wie Anerkennungskultur, Arbeitsmarktneutralität und pädagogische Begleitung fassen Sie nicht an. Da haben sich viele Beteiligte mehr erhofft. Danke.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katrin Werner. – Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen: Dr. Anna Christmann. ({0})

Dr. Anna Christmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004694, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt schon viel über die Neuerung bei der Teilzeit im Bereich der Freiwilligendienste gehört. Das ist zweifellos eine gute Neuerung für die Freiwilligendienste. Darauf möchte ich gleich näher eingehen. Aber zunächst möchte ich in das Thema „Zugang zu Freiwilligendiensten“ mit einer beeindruckenden Zahl einsteigen: 2017 haben sich mehr als dreimal so viele junge Menschen auf ein Freiwilliges Soziales Jahr oder ein Freiwilliges Ökologisches Jahr beworben, als letztlich einen Platz bekommen haben. Das ist erst einmal eine großartige Nachricht. Viele junge Menschen wollen sich engagieren. Allen, die ein Jahr im Krankenhaus, im Jugendklub oder beim Naturschutzbund mit anpacken, schicken wir ein großes Dankeschön und unsere Anerkennung. ({0}) Die Freiwilligendienste sind zweifellos eine wichtige Stütze des ehrenamtlichen Engagements, und sie sind auch Bildungszeit für junge Menschen. Wir wissen aus Studien: Gerade wer sich früh freiwillig engagiert, der engagiert sich mit höherer Wahrscheinlichkeit auch im weiteren Verlauf des Lebens. Die eben genannte Zahl lässt allerdings auch auf ein Problem schließen; denn viele junge Menschen, die gerne einen Freiwilligendienst machen möchten, erhalten eine Absage, womit ihnen gesagt wird: Ihr werdet gerade leider nicht gebraucht. Das ist sicherlich keine Motivation für weiteres Engagement im weiteren Leben, sondern ein Frusterlebnis, auf das wir verzichten müssen. Daraus resultiert auch ein ganz klarer Appell an Sie, Frau Ministerin: Schaffen Sie ausreichend Plätze in den Freiwilligendiensten. Das ist die große Aufgabe, die in diesem Bereich ansteht. ({1}) Wir haben bereits im vergangenen Jahr gefordert, die Zahl der Freiwilligenplätze über alle Dienste hinweg zu verdoppeln. Das wäre wirklich einmal ein konsequenter Schritt, der genau diesem Engagement der jungen Leute, die das ja wollen, gerecht werden würde und ihnen dieses Engagement auch ermöglichen würde. Diese grundlegende Aufgabe gehen Sie aber gar nicht an, sondern legen uns hier das Gesetz für die Teilzeit vor. Auch wenn das ein wichtiger Schritt ist, löst es angesichts der großen Herausforderungen, die in diesem Bereich bestehen, bei uns keine Jubelschreie aus. Nichtsdestotrotz möchte ich zwei konkrete Punkte nennen, die wir bei diesem auf einen minimalen Bereich beschränkten Teilzeitgesetz als Verbesserung sehen. Frau Kollegin Werner hat auch schon einige Punkte angesprochen. Erstens. Sie ermöglichen zwar die Teilzeit, es muss aber ein sogenanntes „berechtigtes Interesse“ vorliegen. Wir finden es auch grundsätzlich in Ordnung, dass da eine gewisse Regelung getroffen wird. Allerdings benutzen Sie an dieser Stelle einen völlig unscharfen Rechtsbegriff. Das muss präziser und einfacher sein. Denn wenn ich mich für einen Teilzeitdienst interessiere, muss ich wissen: Darf ich das nun, oder darf ich das nicht? – Auch der Träger braucht diese Sicherheit. Wir haben jetzt schon das Problem, dass wir zu lange Wartezeiten haben, wenn es um Anträge auch an das BAFzA geht. Dort werden diese Anträge teilweise wochenlang beraten. Zu diesen langen Beratungszeiten darf durch die Teilzeitregelung nicht noch etwas Zusätzliches hinzukommen. Schaffen Sie da bitte mehr Klarheit. ({2}) Zweitens. Zur Taschengeldregelung ist ebenfalls schon etwas gesagt worden. Auch wir halten es für falsch, die Höhe proportional festzulegen. Man muss nicht automatisch auf die Hälfte gehen, sondern kann es sehr viel stärker in die Hände der Träger legen, das miteinander auszumachen. Noch einmal, um das plausibel zu machen: Es kann nicht sein, dass Freiwillige in Teilzeit dann nicht einmal mehr 80 oder 90 Euro für ihr Engagement bekommen. Zwar geht es sicher nicht um eine Form von Bezahlung. Aber es muss schon das Ziel sein, Menschen in Lebenslagen zu erreichen, die sie ohnehin vor Herausforderungen stellen. Da wäre eine so drastische Kürzung des Taschengelds in allen Fällen nicht hilfreich, sondern eher eine Behinderung. ({3}) Es bleibt also viel zu tun, Frau Giffey. Bei diesem Gesetzentwurf können Sie gerne noch nachbessern. Wir müssen aber vor allem auch die Freiwilligendienste insgesamt stärken. Dazu ist schon eine Menge gesagt worden. Der Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement hat sehr klare Empfehlungen beschlossen. Auch wir Grüne haben bereits vor einem Jahr einen Antrag dazu eingebracht, in dem wir sehr konkrete Vorschläge machen. Da geht es um die von mir schon erwähnte Schaffung von mehr Plätzen, um einen Zuschuss für die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, darum, dass das Taschengeld nicht mehr auf Sozialleistungen angerechnet wird, und darum, die Bildungsarbeit stärker in die Verantwortung der Träger zu legen. ({4}) Alles das sind wichtige Punkte, die Sie hoffentlich bald angehen. Wir Grüne werben auch für kreativere Anreizmöglichkeiten. Beispielsweise haben wir vorgeschlagen, denjenigen, die einen Dienst erfolgreich abgeschlossen haben, als Dankeschön ein Interrailticket zur Verfügung zu stellen, um für junge Menschen, die zusätzlich vielleicht auch noch die Welt erkunden wollen, einen Anreiz zu bieten. Das sind kreative Mittel, um mehr Menschen für die Freiwilligendienste zu begeistern. ({5}) Wir freuen uns darüber, dass sich einige dieser Punkte zumindest in Ihrem Konzept wiederfinden, wenn auch aus unserer Sicht noch nicht ausreichend. Jetzt wird es spannend sein, zu sehen, wann denn dieses Konzept tatsächlich in die Umsetzung kommt. Die Haushaltsverhandlungen stehen an. Letztes Mal wurde das Konzept direkt nach Ende der Haushaltsverhandlungen vorgelegt. Dann kann man natürlich kein Geld mehr für die Freiwilligendienste gewinnen. Wir hoffen, dass sich das dieses Jahr anders darstellt und es nicht bei dem Bisherigen bleibt – vorhin klang ja an, dass es jetzt erst einmal darum geht, das zu halten, was man hat –; denn wir halten mehr Engagement für die Freiwilligendienste für notwendig – und nicht nur ein bloßes Weiter-so-wie-bisher. ({6}) Abschließend hoffe ich, dass Ihre Haltung zur Freiwilligkeit der Dienste auch von Ihrem Koalitionspartner geteilt wird. Denn im Moment stehen noch nicht einmal für diejenigen, die sich engagieren wollen, genügend Plätze zur Verfügung. Da kommt die Idee eines Pflichtjahres doch etwas aus dem Abseits. Wir glauben, dass freiwilliges Engagement das ist, was die Leute dazu motiviert, sich auch weiter zu engagieren. Dafür werden wir uns weiter einsetzen. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Anna Christmann. – Nächste Rednerin: Svenja Stadler für die SPD-Fraktion. ({0})

Svenja Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004412, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Christmann, wenn wir die Zahl der Plätze bei den Jugendfreiwilligendiensten und die Mittel erhöhen wollen, brauchen wir auch die Länder. Das schafft der Bund nicht alleine. ({0}) Das Programm „Demokratie leben!“ – da spreche ich für die meisten in diesem Hause, glaube ich – ist ein gutes Programm, das für die Demokratie einsteht und den gesellschaftlichen Zusammenhalt pflegt. Daher ist es gut, dass es dieses Programm gibt. Nach meiner Meinung könnte es auch gerne ausgebaut werden. ({1}) Die Zahlen sprechen übrigens für sich. Über 30 Millionen Menschen sind in Deutschland bürgerschaftlich engagiert und engagieren sich freiwillig. Davon absolvieren, wie gesagt, über 80 000, gerade die jungen Menschen, die Freiwilligendienste. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie das tagtäglich für unsere Gesellschaft, für die Demokratie und für jeden Einzelnen, der Hilfe braucht, tun. Danke, dass es Sie gibt! Bleiben Sie weiterhin motiviert. ({2}) Warum brauchen wir denn diese Form des Engagements? Oder andersherum: Warum verdient diese Form des Engagements in Freiwilligendiensten unsere besondere Aufmerksamkeit? Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder von Ihnen hat sicherlich schon einmal einen FSJler oder eine FSJIerin im Wahlkreis besucht oder ist auf einen FSJler oder eine FSJIerin getroffen. Falls das nicht der Fall ist, rate ich Ihnen, das dringend nachzuholen. Denn Sie würden etwas lernen. Das hilft auch der einen oder anderen Fraktion hier im Haus. ({3}) Junge Menschen, die einen Freiwilligendienst gemacht haben oder machen, sind nämlich in vielen Fällen beispielhaft für eine aktive Bürgerschaft. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob sie sich in einem Pflegeheim, in einem Kindergarten, in einem Krankenhaus oder in der Flüchtlingshilfe engagieren. Sie alle stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sorgen für eine lebendige Demokratie und sind wichtige Zukunftsinvestitionen in ein solidarisches Land. All dies machen sie übrigens freiwillig, unentgeltlich und selbstbestimmt. Denn das ist der Schlüssel für ein erfolgreiches Engagement. ({4}) Die Erfahrung der eigenen Wirksamkeit ist es, die das Beste in diesen jungen Menschen hervorholt. Diese Erfahrung bringt sie dazu, sich noch mehr als vorher für Menschen zu interessieren und sich für sie einzusetzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Sonderprogramm „Bundesfreiwilligendienst mit Flüchtlingsbezug“, das letztes Jahr ausgelaufen ist, gab es bereits eine Teilzeitmöglichkeit für unter 27-Jährige. Diese durchweg positiven Erfahrungen sind jetzt ins Freiwilligendienste-Teilzeit-Gesetz eingeflossen. Denn nach bisherigem Stand ist es – wir haben es schon gehört; ich wiederhole es aber gerne, weil man durch Wiederholung lernt – beispielsweise für eine 26-jährige Frau, die ihr Kind betreut, aus persönlichen Gründen nicht möglich, einen Freiwilligendienst zu absolvieren. Ein 24-jähriger Mann, der seine Mutter pflegt, kann auch keinen Freiwilligendienst leisten. Oder nehmen Sie gerne einen 22-jährigen Mann oder eine 22-jährige Frau mit gesundheitlichen Einschränkungen. Er oder sie kann auch keinen Vollzeit-Freiwilligendienst leisten. Das Gesetz sieht nämlich nur das Absolvieren in Vollzeit vor. Mit dem Freiwilligendienste-Teilzeit-Gesetz für unter 27-Jährige ändern wir das jetzt. Wir erleichtern die bessere Vereinbarkeit eines Freiwilligendienstes mit familiären Verpflichtungen sowie gesundheitlichen oder anderen Beeinträchtigungen. Damit machen wir die Freiwilligendienste interessanter. Wir öffnen sie und gestalten sie flexibler. Übrigens – für diejenigen, die es noch nicht wissen –: Schon 2015 hat die SPD-Bundestagsfraktion in einem Positionspapier zum Thema Freiwilligendienste eine Einführung von Teilzeitmöglichkeiten für unter 27-Jährige in besonderen Fällen gefordert. Ich bin total glücklich darüber, dass wir das heute auf den Weg bringen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zudem beraten wir einen Antrag der FDP. Viel fällt mir dazu, ehrlich gesagt, nicht ein. Der BFD soll laut Definition Jungen wie Alten einen bereichernden Freiwilligendienst ermöglichen. Wenn ich also bei einem Freiwilligendienst von einem Lern-, Orientierungs- und Bildungsdienst ausgehe – so wird er nämlich definiert –, dann brauche ich zu Ihrem Antrag gar nicht weiterzusprechen, sondern nur das Stichwort „Grundrente“ zu nennen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns das sich nun anschließende parlamentarische Verfahren nutzen, um die Freiwilligendienste im Sinne der jungen und engagierten Menschen weiterzuentwickeln. Ganz besonders würde ich mir dabei wünschen, dass wir schnellstmöglich die im Haushalt 2019 bereitgestellten Mittel für unterstützende Maßnahmen zur Barrierefreiheit und Assistenzleistung bei Freiwilligendienstleistenden mit Beeinträchtigungen in einer neuen Förderregelung umsetzen. Es ist ein erster guter Schritt. Es gibt weitere, die dann folgen; das hat uns die Ministerin versprochen. Es gibt viel zu tun – packen wir es an! Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Svenja Stadler. – Nächste Rednerin für die AfD-Fraktion: Nicole Höchst. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Frau Ministerin! Sehr verehrte freiwillige und ehrenamtlich tätige Männer, Frauen, Junge und Alte, Ihnen gebührt unser größter Dank und Respekt. Ihr Engagement ist zugleich Dienst an der Gesellschaft und betrifft viele Bereiche, wie zum Beispiel Naturschutz, Pflege, Internationales, Kultur. Menschen, die sich freiwillig durch Dienste an der Gesellschaft einbringen oder ehrenamtlich tätig sind, sind helle, wärmende Lichter der Gegenwart. Dies gilt besonders in einem Zeitalter, in welchem Digitalisierung Menschen vereinsamen lässt, zu Konsumüberfluss und Oberflächlichkeit verführt und ideologische Fehlwege unsere Gesellschaft täglich rücksichtsloser, undemokratischer, globaler und ungerechter machen. Die AfD möchte die Werte des Christentums, der Antike, des Humanismus und der Aufklärung erhalten. Dazu gehören auch Bräuche und Traditionen, Dienst an der Gesellschaft, persönliches Engagement im Ehrenamt und den Freiwilligendiensten. Unser erklärter Wille ist es, Freiwilligendienste zu stärken, zu entbürokratisieren, die persönlich bereichernde Lebenserfahrung des Dienstes an der Gesellschaft möglichst vielen zugänglich zu machen. Denn seien wir ehrlich: So, wie das im Moment ausgestaltet ist und in der Natur der Sache liegt, sind Freiwilligendienste eine ziemlich exklusive Veranstaltung. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung leistet einen begrüßenswerten, wenn auch sehr geringen Beitrag dazu. Die Frage ist doch: Wie viele Menschen, in absoluten Zahlen oder im Proporz, sind überhaupt vom Teilzeitwunsch betroffen? Der Verdacht liegt nahe, dass sich die Regierung hier genauso wie bei unzähligen anderen Gesetzesvorhaben im Klein-Klein verliert, um auch hier signalisieren zu können: Seht her, wir tun etwas, wir stärken Freiwilligendienste. Und in Wahrheit betrifft es wie viele Personen? Den Beweis, dass wir wirklich deutlich mehr Menschen zu Freiwilligendiensten bewegen können, tritt die Regierung in diesem Gesetzentwurf nicht an; denn die Begründung ist frei von Zahlen, die die Notwendigkeit eindeutig belegen. Die Regierung möchte auch gar nicht wissen, ob dieses Gesetz wirksam und gut für Deutschland ist; denn eine Evaluierung ist erst gar nicht geplant. Ein regelmäßiger Erfahrungsaustausch soll es dann richten. Das sehen wir von der AfD anders, wir möchten wenigstens jährlich einen Bericht über die Wirksamkeit und die Entwicklung in diesem Bereich bekommen. ({0}) Darüber hinaus muss man einfach einmal zur Kenntnis nehmen, dass dieser Gesetzentwurf der verzweifelte Versuch ist, zusätzliche Potenziale für den Freiwilligendienst an der Gesellschaft zu heben. Denn dieser Dienst an der Gesellschaft fehlt spürbar und in allen Bereichen. Geben Sie doch bitte endlich zu, dass die Abschaffung des Wehr- und Ersatzdienstes ein Riesenfehler war! ({1}) Gerade junge Menschen in diesem Land sind bereit, sich für die Gesellschaft und ihre Zukunft zu engagieren – wie ja auch die Freitagsdemos zeigen – und die Solidarität, die sie einfordern, auch zu leben. Sie engagieren sich für ein Miteinander, für gelebte Demokratie in Vereinen, Institutionen, Elternhäusern, Schulen, Universitäten, in Freiwilligendiensten und Ehrenamt. Die Bereitschaft zum Einsatz für Heimat, Natur, Kultur und Gesellschaft war nie größer als heute. Ermöglichen wir zukünftig großflächig und ganz unbürokratisch allen Menschen diesen Einsatz, nicht nur denjenigen, die sich Engagement im Rahmen von Freiwilligendiensten und Ehrenamt leisten können! Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Höchst. – Nächster Redner: Michael Kießling für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Kießling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004779, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Manchmal, wenn man etwas erreichen will, ist auch Detailarbeit notwendig. Frau Höchst, das möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben: Auch wenn es lästig ist: Man muss sich um Dinge kümmern und die auch ab und zu regeln, auch wenn es ins Detail geht. Vorweg möchte ich sagen, dass die Freiwilligendienste eine Erfolgsgeschichte sind und von hohem zivilgesellschaftlichem Engagement, und zwar über alle Generationen hinweg, zeugen. Ob es die Arbeit an kranken, mit behinderten oder alten Menschen ist oder zum Beispiel der Dienst beim THW oder beim Roten Kreuz: Das alles schöpft enormen Wert für unsere Gesellschaft und auch für jeden Einzelnen. Die Freiwilligendienste stärken das gesellschaftliche Zusammenleben, den Zusammenhalt sowie das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen. Bereits heute haben wir circa 80 000 junge Menschen, die sich im Freiwilligendienst engagieren. Aber das Engagement junger Erwachsener befindet sich in einem Wandel: Verkürzte Schulzeiten, die Veränderung von Studienbedingungen oder berufliche Verpflichtungen machen Freiräume für Engagement schwieriger und zeitlich enger. Vielen jungen Menschen fehlt schlichtweg die Zeit, um sich kontinuierlich zu engagieren. Trotzdem sehen wir: Junge Erwachsene packen an, mischen sich ein und übernehmen Verantwortung. Warum schaffen wir nun die Möglichkeit, den Jugend- und Bundesfreiwilligendienst für unter 27‑Jährige in Teilzeit abzuleisten? Aktuell sind fast 30 000 junge Erwachsene unter 27 Jahren im Bundesfreiwilligendienst tätig; das sind drei Viertel von allen Freiwilligen im Bundesfreiwilligendienst. Diese Anzahl an Freiwilligendienstleistenden zwischen 18 und 27 Jahren beweist, wie wichtig jungen Menschen das Engagement für und in der Gesellschaft ist. Deshalb wollen wir für diese Altersgruppen mehr Teilhabe im Freiwilligendienst ermöglichen. Bisher gibt es die Teilzeitmöglichkeit – wir haben es gehört – nur für Teilnehmer über 27 Jahre. Von daher denke ich, es ist höchste Zeit, das auch für die jüngeren einzuführen und die Freiwilligendienste attraktiver zu machen. ({0}) Welche Ziele verfolgen wir mit der Einführung des Freiwilligendienst-Teilzeit-Gesetzes? Erstens wollen wir den Freiwilligendienst inklusiver gestalten. Es wurde schon angesprochen: Die inklusive Gestaltung der Freiwilligendienste sollte in der zukünftigen Ausrichtung der Freiwilligendienste eine wichtige Stellung einnehmen. Nicht jedem Menschen ist es möglich, sich den gesamten Tag freiwillig zu engagieren. Hier hilft das Teilzeitangebot. Zweitens wollen wir die Vereinbarkeit von Familie und zivilem Engagement verbessern. Nicht alle jungen Menschen können acht Stunden am Tag einen Freiwilligendienst absolvieren. Viele werden anderweitig in Anspruch genommen, zum Beispiel, weil sie für die eigenen Kinder sorgen oder Angehörige pflegen müssen. Die Teilzeitmöglichkeit gibt jedem die Chance, den Lebensalltag besser mit dem Engagement im Freiwilligendienst zu vereinbaren. Drittens wollen wir die Abbruchquote senken. Aktuell liegt die Abbruchquote im Bundesfreiwilligendienst bei 30 Prozent. Hier gibt das Teilzeitgesetz neue Flexibilität und schafft Wertschätzung und erhöht die Motivation. Viertens wollen wir Menschen verbinden und deren Engagement fördern. In einer Gesellschaft, die sich nach und nach individualisiert, womit der Verlust sozialer Bindungen einhergeht, steigt die Bedeutung von gesellschaftlichem Engagement. Es schafft Gemeinschaft und bietet für den Einzelnen trotz verschiedener Hindernisse Möglichkeiten für gemeinsame Aktivitäten. Das heißt, wir wollen den Zusammenhalt stärken, indem wir mehr Leute in die Freiwilligendienste bekommen. Fünftens – das ist ein Auftrag, den wir, glaube ich, alle hier haben – wollen wir die Freiwilligendienste zunehmend verbessern; das ist ein zentrales Anliegen der Union. Da gilt das Prinzip der Förderung mit Maß und Ziel, aber nicht, wie es die Grünen wollen, mit der Gießkanne. Wir diskutieren – das möchte ich hier auch sagen – auf einem hohen Niveau. Es läuft sehr vieles gut in den Freiwilligendiensten. Aber es gibt natürlich auch Themen, wo wir sagen: Wir können den Freiwilligendienst verbessern. Die Bereitschaft, sich für andere einzusetzen, ist in Deutschland besonders ausgeprägt. Das gilt es zu unterstützen. Jede Generation muss sich von neuem ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst werden. Verantwortung übernehmen heißt: für andere einstehen und das Miteinander stärken. Mein Dank gilt daher allen Freiwilligendiensten – auch die Ehrenamtlichen möchte ich hier nicht vergessen, ob jung oder alt –, die sich für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft einsetzen. Herzlichen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Kießling. – Nächster Redner: Matthias Seestern-Pauly für die FDP-Fraktion. ({0})

Matthias Seestern-Pauly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004890, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Weil es gerade zweimal angesprochen wurde: Es war absolut richtig, die allgemeine Wehrpflicht auszusetzen. Der Nachfolgedienst, der Bundesfreiwilligendienst, ist ein Erfolg. ({0}) Dieser Dienst ist nicht deswegen ein Erfolg, weil wir Politiker uns ihn ausgedacht haben, sondern weil sehr viele Menschen seitdem sich freiwillig engagiert haben. Ich möchte an dieser Stelle die Chance nutzen, mich bei allen Freiwilligen herzlich zu bedanken. ({1}) Doch wie bei vielen anderen Dingen ist es auch hier sinnvoll, Gutes stetig zu verbessern. Deswegen müssen wir uns die Frage stellen, wie wir – von den Freiwilligen aus denkend – die Freiwilligendienste noch weiter verbessern können. Ich sage an dieser Stelle ganz bewusst „Freiwilligendienste“, benutze also die Mehrzahl. Denn die Aufgaben, vor denen wir stehen, gelten nicht nur für den Bundesfreiwilligendienst. Wir müssen insgesamt dafür sorgen, dass es einfach und verlässlich möglich ist, sich zu engagieren. Es gilt, Hemmnisse zu reduzieren und die Bereitschaft des Einzelnen zu fördern. Daher ist die Stärkung der Freiwilligendienste absolut richtig. Besonders der Bundesfreiwilligendienst muss endlich weiterentwickelt werden. Wir müssen eine ehrliche Bestandsaufnahme vornehmen und uns überlegen, was bereits gut läuft und wo wir noch besser werden können. Fakt ist: Der BFD wird sehr gut angenommen. Fakt ist: Durch den BFD machen wir jeden Tag eine tolle Erfahrung, nämlich dass wir in einer ungeheuer dynamischen und vielfältigen Gesellschaft leben. Wahr ist aber auch, dass ein BFD-Platz dreimal so teuer ist wie ein Platz im FSJ. Wahr ist aber auch, dass die Strukturen manchmal zu starr, zu unflexibel und zu bürokratisch sind. Wir haben es ja gerade schon gehört, dass Bewerberinnen und Bewerber abgelehnt werden, weil insgesamt Plätze fehlen; das ist ein Aspekt. Ein anderer Aspekt ist aber, dass Kontingente sehr starr zugewiesen werden und dass Kontingente an gewissen Stellen sogar zurückgegeben werden – Kontingente, die an anderen Stellen, wo Bewerber da wären, gar nicht zum Einsatz kommen können. Das ist absolut falsch. Ein anderes Beispiel. Wenn man sich in den Einsatzstellen vor Ort unterhält, wird einem beispielsweise berichtet, dass Fahrgemeinschaften gar nicht gebildet können, weil dann Umwege von wenigen Kilometern gefahren werden müssten, die dann wiederum bei den Fahrtkostenerstattungen nicht berücksichtigt werden. Das ist weder ökologisch noch ökonomisch sinnvoll. Man muss feststellen, dass sich der Bund an dieser Stelle mit dem Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben eine teure und zuweilen ineffiziente Behörde leistet. ({2}) Wir Freie Demokraten wollen deswegen noch mal deutlich machen, dass uns liebgewonnene Verwaltungsstrukturen nicht sonderlich am Herzen liegen, sondern dass wir sie hinterfragen wollen und dass wir sie nach Abschaffung des Zivildienstes grundsätzlich nicht noch weiter in die Zukunft hinüberretten wollen. In diesem Zusammenhang gilt es aus unserer Sicht, zu prüfen, ob und wie das FSJ und der BFD in einem starken Freiwilligendienst zusammengefasst und gebündelt werden können. Dieser Frage sollten wir uns auch zukünftig stellen. Herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Matthias Seestern-Pauly. – Nächste Rednerin: Silvia Breher für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Silvia Breher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004681, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sprechen in der letzten Zeit immer wieder vom Zusammenhalt in der Gesellschaft. Ich finde es richtig gut, hier zu sehen, dass im Grunde alle einer Meinung sind: Den Zusammenhalt in der Gesellschaft machen die 30 Millionen Ehrenamtlichen bei uns aus, wozu eben auch die Freiwilligendienstleistenden zählen. Auch meinen Wahlkreis, das Oldenburger Münsterland, kann ich mir ohne die unfassbar vielen engagierten, tollen Ehrenamtlichen, die gefühlt irgendwie überall unterwegs sind, gar nicht vorstellen. An vielen Stellen werden eben die Ehrenamtlichen oder die Hauptberuflichen unterstützt durch Freiwilligendienstleistende. Als ich in Vechta die katholischen Freiwilligendienste im Oldenburger Land besucht habe, bin ich auf ein richtig tolles Motto gestoßen. Ganz modern unter #ichbinsozial gibt es das Motto: „Ein Jahr für mich, ein Jahr für andere!“ Dieses Motto, finde ich, passt perfekt. „Ein Jahr für andere“: Es geht darum, sich ein Jahr für andere ehrenamtlich zu engagieren. Dazu haben meine Kollegen schon ausreichend ausgeführt. Aber es geht eben auch um „ein Jahr für mich“. Denn über ein ganzes Jahr begleiten die Freiwilligen die Bildungstage. Sie haben dabei eine pädagogische Begleitung und lernen dort Rüstzeug, das sie das ganze Leben lang für sich als Schatz nutzen können. Ganz nebenbei lernen die Freiwilligendienstleistenden an den gemeinsamen Bildungstagen auch andere Freiwillige kennen, die vielleicht einen ganz anderen Tätigkeitsbereich haben, auf den sie selber gar nicht gekommen wären. Meine Nichte Laura ist in einem Wohnheim. Mein Kindermädchen Friedi ist an unserer Sportschule. Und an der Grundschule meiner Kinder haben wir eben die Alina. Sie arbeiten in völlig unterschiedlichen Aufgabenbereichen; aber alle drei sind tolle Mädels, die sich untereinander über diese Aktion kennenlernen. ({0}) Vor allem aber bieten diese Freiwilligendienste den jungen Mädchen und Jungen die Chance, sich nach der Schule auszuprobieren, mal in Verantwortung genommen zu werden, selber zu sehen, wie es ist, gebraucht zu werden und etwas zu bewegen und am Ende eben auch vielleicht in den eigenen Traumberuf reinzuschnuppern, den Alltag kennenzulernen, vielleicht festzustellen „Es ist mein Traumberuf“ oder „Es ist nicht mein Traumberuf“. Das alles funktioniert bislang aber nur in Vollzeit. Was ist denn mit den jungen Menschen, die wir vorhin schon angesprochen haben? Ich meine die jungen Menschen, die schon Eltern sind, insbesondere junge Frauen, die vielleicht früh Mutter geworden sind, oder Angehörige haben, die gepflegt werden. Man bedenke gesundheitliche Beeinträchtigungen psychischer oder physischer Natur bei Freiwilligen, die einfach eine Vollzeittätigkeit nicht möglich macht. Diese Menschen haben den Mehrwert durch dieses Jahr für sich bislang nicht, und das wollen wir ändern. Deshalb finde ich diesen Gesetzentwurf richtig. Betroffen sind eben, so wie es anklang, nicht wenige. Es geht hier nicht um das Klein-Klein. Mein Kollege Michael Kießling hat gerade gesagt: Es sind 30 Prozent. Ich habe bei den katholischen Freiwilligendiensten im Oldenburger Land nachgefragt: 10 bis 12 Prozent in jedem Jahrgang wollen alleine aus psychischen Gründen abbrechen, einfach weil sie den Anforderungen nicht gerecht werden. Vielleicht ist es einfach zu viel, vielleicht ist es auch einfach nur noch zu viel. Wenn man nicht reagieren kann, wenn man keine Chance hat, seine Tätigkeit durch Teilzeitarbeit zu retten, dann wird es einfach schwierig. Da ist diese neue Möglichkeit wirklich eine tolle Chance. Es kommt uns doch am Ende genau auf diese Menschen an. Genau diese Menschen, die dann noch überfordert sind, die wollen wir doch erreichen. Da geht es auch um den Gleichheitsgedanken. Die Freiwilligendienste bieten die Chance, sich unabhängig von vielleicht negativen Schulerlebnissen oder dem Druck einer Ausbildung persönlich weiterzuentwickeln, zu stärken und als Person zu reifen. Wenn dabei die Kraft nur für Teilzeit reicht, dann ist das eben so. Dafür brauchen wir diese Chance. Das Gleiche gilt für die Freiwilligen, die Kinder betreuen oder Angehörige pflegen. Es ist doch schon Anerkennung wert, wenn man das macht. Wenn sich jemand dann noch auf Teilzeitbasis ehrenamtlich in einem Freiwilligendienst engagieren will, dann ist es total sinnvoll, dass wir das möglich machen. Natürlich wissen wir nicht, wie viele das am Ende nutzen werden, weil es ja neu ist. Bislang wird es ja nicht nachgefragt, weil es gar nicht möglich ist. Insofern ist es gut, es anzubieten. Wenn man pflegt oder wenn man Kinder betreut, dann hat man vielleicht die Scheu, in eine Ausbildung zu gehen oder einen Job zu übernehmen, weil man gar nicht weiß, ob man es schafft, all das zu organisieren. Es handelt sich hier um eine Chance, sich auszuprobieren und die Frage „Schaffe ich das?“ positiv zu beantworten. Ich freue mich, dass wir die Teilzeitmöglichkeit in den Freiwilligendiensten als einen wichtigen Baustein zur Stärkung der Bundes- und Jugendfreiwilligendienste auf den Weg bringen. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Silvia Breher. – Der letzte Redner in dieser Debatte ist Martin Patzelt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste im Haus! Was sagt man denn als Letzter in dieser Debatte, wo wir uns doch eigentlich alle ziemlich einig waren? Mir fiel ein Zitat von Erich Kästner ein. Er hat ein schönes Gedicht geschrieben: „Die Zeit fährt Auto“. Das Auto rollt immer schneller. Wir leben in einem so starken gesellschaftlichen Wandel, dass uns selber manchmal angst und bange wird, mir als Älterem sowieso. Kriegen wir das alles noch gebacken? Kriegen wir das alles auf die Reihe? Die alten, tradierten Familienverbände, die Vereine, die Gremien lösen sich auf; sie nehmen neue Gestalt an. Wir sagen: Wir müssen das weitertragen; wir müssen unsere Werte und Erfahrungen tradieren. – Wie machen wir das eigentlich? Wir als Gesellschaft kommen in eine Situation, in der das Freiwilligenengagement eine immer größere Bedeutung gewinnt, weil die tradierten Institutionen, Vereine, Gremien das so nicht mehr leisten und die klare Rollenverteilung nicht mehr gegeben ist. Dann müssen wir als Politikerinnen und Politiker das gestalten. Wir sind heute an einer Nahtstelle, wo wir das wieder versuchen. Ich muss sagen: Es ist ein gutes, richtiges Gesetz. – Aber wenn ich mich frage: „Hätte man das nicht noch besser machen können?“, sage ich: Warum erlassen wir nicht Verwaltungsvorschriften zu dem ganzen Regelungsbedarf? Warum müssen wir ein Gesetz machen, um Teilzeit zu regeln? Die Ebene ist eigentlich viel zu hoch. Ich wünsche mir ein Gesetz, das wesentlich flexibler ist und auf sich neu einstellende Bedarfe reagieren kann, ohne dass wir im Parlament einen Beschluss fassen müssen. Ich glaube – manche Redner haben das angesprochen –, dass nicht nur bestimmte Gruppen diese Ausnahmeregelung genießen sollen – auch da geht mir das Gesetz noch nicht weit genug, aber wir haben ja noch Zeit –; vielmehr sollten wir grundsätzlich sagen: Wer Freiwilligendienst leisten möchte, soll auch die Möglichkeit dazu haben. Gesellschaft, Politik und die optional Freiwilligen müssen aufeinander zugehen. Das heißt, dass wir für junge und alte Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenssituationen die Möglichkeit schaffen, diesen Dienst zu leisten. Wir müssen Regelungen schaffen, um einander entgegenzukommen. Es gibt einen großen Bedarf in der Gesellschaft; das wurde von den Vorrednern auch betont. Den gemeinschaftsstiftenden Charakter von Freiwilligendiensten erleben wir überall; das ist wahr. Dort, wo sich Menschen freiwillig einsetzen, sind sie Brücken der Demokratie und des gemeinschaftlichen Lebens. Manchmal frage ich mich auch: Werden wir das alles mit Freiwilligkeit hinbekommen? Die Freiwilligkeit spielt im Leben eines Menschen eine sehr große Rolle. Junge Menschen spüren das noch besonders und sagen: Ich möchte mich entscheiden. Ich möchte dieses Angebot wahrnehmen. – Vielleicht werden wir mal ein gesellschaftliches Lernjahr etablieren, das für Männer und Frauen und für junge Menschen verpflichtend ist, das aber so viele Wahlmöglichkeiten enthält, dass abgesehen von der Pflicht das Gefühl, frei zu entscheiden, auch noch spürbar ist. Das sage ich deshalb, weil die vielen ehemaligen Zivildienstleistenden und auch die Bufdis und die Absolventen des Freiwilligen Sozialen Jahres mir hinterher sagten: Das war gut, das hat sich gelohnt, das hat mir etwas gebracht, und ich habe Gesellschaft auf einmal noch ein bisschen besser verstanden. – Das muss unser Ziel sein: möglichst zeitig junge Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten in Verantwortung zu nehmen, vielleicht sogar ein bisschen verpflichtend. ({0}) Die Junge Union, also junge Menschen, hat das sehr deutlich gefordert; das hat mich auch aufmerken lassen. Wir sollten sagen: Ja, wir ermöglichen euch ein soziales Lernjahr für die Gemeinschaft. Ihr lernt Gemeinschaft und habt teil an Verantwortung. – Das wollte ich zum Schluss noch sagen. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Martin Patzelt. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/7839 und 19/8225 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Jedes Jahr erinnern wir Grünen im Bundestag an die großen Atomunfälle in Tschernobyl und Fukushima. Und dabei geht es nicht um eine reine Erinnerungskultur, nicht um etwas Abgeschlossenes – nicht und wahrscheinlich niemals abgeschlossen für die Menschen in den verstrahlten Regionen. Aber auch bei uns, in unserer scheinbaren Konsequenz, geht es um inkonsequent Unvollendetes, um nicht zu Ende Gebrachtes und um noch gar nicht Begonnenes. Nach dem katastrophalen Unfall in Japan am 11. März 2011 hat Bundeskanzlerin Merkel die Umkehr zum deutschen Atomausstieg eingeleitet, den die schwarz-gelbe Koalition 2010 gerade ausgehebelt hatte. Es gab immer unterschiedliche Einschätzungen, ob diese Umkehr der Einsicht einer Physikerin in die Unbeherrschbarkeit der Atomkraft geschuldet oder taktisch begründet war. Dass sich der Atomausstieg in Deutschland bis heute auf einen Abschaltplan für Atomkraftwerke beschränkt, lässt Letzteres vermuten. Wer die Unbeherrschbarkeit der Atomkraft wirklich verstanden hat, der lässt keine Atomfabriken laufen, in denen Uran angereichert wird und Brennelemente hergestellt werden und die Atomkraftwerke beliefern, die überaltert und störanfällig sind, den in der EU vereinbarten Sicherheitsstandards nicht entsprechen und auch noch direkt an unseren Grenzen stehen. ({0}) Ein Besuch in Fukushima oder in Tschernobyl – auch nach über 30 Jahren –, ein Gespräch mit den Betroffenen, ein Blick in Krankheitsstatistiken von Kindern oder auch in die Haushaltspläne der Länder, das reicht, um zu sehen, dass man sich von einem atomaren GAU nicht erholt; auch wenn Japan genau das bei der Olympiade 2020 gern demonstrieren würde. Die Kosten, die sich bis heute auf 100 Milliarden Euro belaufen, die Hunderttausenden großen schwarzen Säcke, die mit kontaminierter Erde gefüllt überall herumstehen und von denen niemand weiß, wohin damit, sind nicht der einzige Preis, den Japan dafür bezahlt. Den Preis, den zum Beispiel die Arbeiter bezahlen werden, die mit den beständigen Dekontaminierungsanstrengungen befasst sind – im Allgemeinen junge Männer aus den Unterschichten –, kennt heute noch niemand. Die Überlebenden der 200 000 Liquidatoren von Tschernobyl müssen heute um ihr Existenzminimum kämpfen. Die Ukraine ist nicht in der Lage, die gesetzlich festgeschriebenen Entschädigungen zu zahlen. Die Atomruine abzusichern, ist ohne internationale Hilfe nicht möglich. Die Kinder von Tschernobyl haben inzwischen selbst Kinder, von denen weit überdurchschnittlich viele genetische Schäden haben. Die Strahlenkatastrophe ist nicht zu bewältigen. Sie verstärkt sich sogar über die Generationen. Reicht all das nicht, das atomare Risiko als das anzusehen, was es tatsächlich ist, nämlich die größte und nachhaltigste Bedrohung von menschlicher Gesundheit, Wohlstand und Glück? ({1}) Ja, wir sind das einzige Land, das immerhin die Konsequenz eines festen Abschaltplans für die Atomkraftwerke gezogen hat. Dieser Konsens war eine großartige Leistung des Deutschen Bundestages. ({2}) Aber die Länder, die an der Atomkraft festhalten, tun das nicht, weil sie das Risiko nicht sehen. Ja, natürlich gibt es einzelne, meist männliche ältere Protagonisten, ({3}) die immer noch an der Technikgläubigkeit der 50er- und 60er-Jahre und an der Mär von der Beherrschbarkeit der Atomkraft festhalten – die gibt es ja auch wieder bei uns –; ({4}) aber die große Mehrheit der Verantwortlichen in Europa hat Verstand genug, eine Risikotechnologie von einem Spielzeug zu unterscheiden. ({5}) Sie bleiben in der Atomkraft, weil sie mit der Lobby verbandelt sind, weil sie sich vor den Kosten für Rückbau und Endlagerung fürchten, aus Bequemlichkeit und weil aus Deutschland seit Jahren das Gejammer zu hören ist, dass die Energiewende zu teuer und zu anstrengend sei und der Atomausstieg das Erreichen des Klimaschutzziels behindere. Und hier fängt die Verantwortung der Bundesregierung auch für das an, was außerhalb des Tellerrands liegt. Machen Sie sich ehrlich. Hören Sie auf, über Kosten der Energiewende zu klagen, die nichts sind im Vergleich zu den Kosten, die uns die Atomkraft an ihrem Ende präsentiert oder bei einem niemals auszuschließenden GAU. Hören Sie auf, durch Schweigen zur Subventionierung der Atomkraft beizutragen, indem Sie Sicherheitsstandards an unseren Grenzen akzeptieren, die auch die eigene Bevölkerung bedrohen, völlig unzureichende Haftungen und Deckungsvorsorgen innerhalb der EU hinnehmen, sich nicht den Klagen anderer Länder gegen staatliche Beihilfe für AKW-Neubauten anschließen und entgegen Ihrem eigenen Koalitionsvertrag nichts unternehmen, um den 50 Jahre alten Atomfördervertrag Euratom endlich neu auszurichten. ({6}) Sie betonen gern, dass jedes Land für seine Energieversorgung selbst zuständig ist und wir nur durch Beispiel überzeugen können. Aber Sie geben kein gutes Beispiel ab: durch die Inkonsequenz bei der Energiewende, aber eben auch durch Ihre Passivität in Atomfragen, wo Aktivität gefragt ist, durch Schweigen, wo geredet werden muss, durch Defensivität, wo es um den Schutz der eigenen Bevölkerung geht. Mehrheiten können irren. Das haben uns die Unfälle von Tschernobyl und Fukushima gezeigt. Wir Grüne haben von Anfang an die Nutzung der Atomkraft für falsch gehalten und gegen alle damaligen Mehrheiten den Atomausstieg gefordert. Machen Sie das jetzt genauso. Arbeiten Sie konsequent für den europaweiten und weltweiten Atomausstieg. ({7}) Warten Sie damit nicht, bis es zum nächsten großen Atom­unfall gekommen ist. Wer Verantwortung ernst nimmt und davon überzeugt ist, dass das Risiko der Atomkraft zu groß ist, der hat die Pflicht, sich offensiv für den Ausstieg aus dieser tödlichen Technologie einzusetzen. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sylvia Kotting-Uhl. – Nächster Redner: Karsten Möring für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kotting-Uhl, ich verstehe und ich teile Ihre emotionale Form der Ansprache, was die Folgen des Tschernobyl-Unglücks angeht. ({0}) Aber bei der Frage, welche Konsequenzen wir daraus ziehen, ist mindestens ebenso sehr rationale Überlegung dahin gehend gefragt, was wir tun müssen, um bestimmte Dinge zu erreichen. ({1}) Wir haben den Atomausstieg beschlossen, indem wir gesagt haben: Wir wollen die Kernkraftwerke abschalten und keine Elektrizität mehr über Atomenergie erzeugen. – Wir haben nicht beschlossen, dass wir die radioaktive Materialprüfung beenden, dass wir die Nuklearmedizin beenden. Das heißt, es gibt genügend Bereiche, in denen wir mit Radioaktivität und Kerntechnik umgehen, die nicht mit der Stromerzeugung zu tun haben. Wenn Sie postulieren, wir sollten vollständig aus der Kerntechnik aussteigen, dann unterstelle ich mal: Diese Bereiche meinen Sie nicht, sondern Sie konzentrieren sich auf Themen wie Urananreicherung und Brennelementefertigung. Damit begeben Sie sich aber auf ein Feld, das mit der Frage der Konsequenzen aus Fukushima nicht unbedingt etwas zu tun hat. Gestern haben wir uns im Ausschuss intensiv mit den Behörden und den Einrichtungen befasst, die in Deutschland für die Endlagerung zuständig sind: mit dem BfE, mit der BGE und mit dem Nationalen Begleitgremium. Wir haben uns mit den Problemen, die wir dort haben und die wir noch lösen müssen, befasst. Das ist die Aufgabe, die wir wahrnehmen müssen und auch wahrnehmen. Wir brauchen ein Geologiedatengesetz, um dieses Thema möglichst zu pushen. Das sollten wir auf jeden Fall in der näheren Zukunft beschließen. Ich würde die Regierung bitten, da schneller voranzukommen, damit wir die Daten bereitstellen können, die für die Standortsuche notwendig sind. Sie haben das Thema Exportverbote wieder auf die Tagesordnung gesetzt, wie Sie das jedes Jahr tun. Inzwischen wissen wir, dass das ein ausgesprochen schwieriges Thema ist. Ich verstehe das, und wir haben im Koalitionsvertrag auch extra stehen, dass wir prüfen wollen, ob oder wie das geht. Der Antrag von Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, der am Freitag im Bundesrat noch einmal behandelt wird, hat dasselbe zum Ziel. Das ist auch in Ordnung; denn ich teile die Meinung, dass wir in der Tat alles tun müssen, um unsere Nachbarn zu bewegen, das Maximale für die Sicherheit zu tun, die Laufzeit nicht zu verlängern, Sicherheitsstandards zu erhöhen und einzuhalten. Wir können sie aber nicht zwingen, das zu tun, was wir gerne hätten, nämlich möglichst morgen abzuschalten oder deutsche Standards zu übernehmen. Sie haben ihre eigenen Standards, und sie haben auch das Recht dazu. Ich kann ebenfalls verstehen, dass unsere Bevölkerung im grenznahen Raum beunruhigt ist. Ich finde es in Ordnung, wenn Ministerpräsident Laschet sich immer wieder dafür einsetzt – in Baden-Württemberg geschieht ja Ähnliches –, dass unsere Nachbarn auf unsere Bedürfnisse Rücksicht nehmen. Aber wenn wir hingehen und sagen: „Wir wollen weltweit dafür sorgen: Der Atomausstieg soll überall umgesetzt werden“, dann ist das aus meiner Sicht eine Hybris, die uns gar nicht zusteht. ({2}) Wir können uns dafür einsetzen, wir können es aber nicht fordern. Und wir können vor allen Dingen nicht mit der moralischen Position: „Wir können es besser, ihr müsst es nachmachen“ kommen. „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ ist ein Spruch, der für die Atompolitik nicht geeignet ist. ({3}) Die Frage ist: Was ist geeignet? Geeignet – ich habe es im letzten Jahr hier an derselben Stelle bereits gesagt – sind ein Vorbild, das gelingt, eine Energiewende, die gelingt, erneuerbare Stromerzeugung, die fossile Energieträger und Atomenergie ersetzen kann, Netze, die diesen Strom zum Kunden bringen, CO 2 -Minderung auch ohne Atomenergie. Wenn wir diese Punkte erreichen und das auch noch bezahlen und sozialverträglich umsetzen können, dann ist das ein Modell, das für andere Länder interessant ist. ({4}) Aber es geht nicht darum, zu sagen: „Jetzt machen wir die Brennelementefertigung dicht, weil wir damit Atomkraftwerke am Laufen halten, die zu alt sind“, wie Herr Trittin das gerade in einer Pressemitteilung getan hat. ({5}) Sie können jederzeit – wo Sie wollen – Brennelemente kaufen. Wenn wir nicht liefern, hat es null Auswirkungen auf den Betrieb von Kernkraftwerken in anderen Ländern. ({6}) Wenn das so ist, wo ist dann unser ureigenes Interesse? Wenn wir keinen Einfluss darauf haben, dass diese Kraftwerke abgeschaltet werden, muss unser ureigenes Interesse doch sein, dass die, die gebaut werden und die in Betrieb sind, mit den höchsten Sicherheitsstandards laufen können. ({7}) Wenn wir in Deutschland schon eine Industrie haben, die dazu beitragen kann – sowohl was Sicherheitskonzepte als auch qualitativ hochwertige Brennelemente angeht –, dann sollten wir das tun und das nicht anderen Ländern überlassen; denn nur so können wir uns Einfluss sichern und erhalten. Das gilt auch für die Kompetenz, die wir im Bereich der Urananreicherung, der Zentrifugentechnik und Ähnlichem haben. Unser internationaler Einfluss beruht auf dieser Kompetenz. Die können wir nicht nur durch Forschung und Ausbildung erhalten, sondern es bedarf auch der Anwendung. Dazu gehört, um das mal ganz offen zu sagen, auch die Möglichkeit, dass unser Wirtschaftsministerium oder unser Finanzministerium dem Export solcher Sicherheitstechnologie mit Hermesbürgschaften zur Seite steht und ihn nicht behindert. Das möchte ich mal ausdrücklich sagen. ({8}) Uns ist nicht geholfen, wenn wir diese Einrichtungen schließen. Weder die Arbeitsplätze, die wegfallen, noch der verminderte Einfluss, den wir dadurch haben, ist gut für uns, sondern es geht darum, unsere technologischen Möglichkeiten in möglichst großem Umfang anzuwenden. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Möring, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Herrn Krischer?

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr, Herr Krischer.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Krischer, bitte.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Möring, danke, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie argumentieren, Sie sagen, es sei belanglos, ob die Brennelemente, die beispielsweise in dem belgischen Rissreaktor Tihange 2 benutzt werden, aus Deutschland kommen oder nicht. ({0}) Haben Sie schon mal Gespräche in Belgien geführt? Dort hören Sie das Argument: Ihre Kritik aus Deutschland an unseren Atomkraftwerken kann ja nicht so ganz ernst gemeint sein, wenn Sie als Deutsche gleichzeitig weiterhin die Brennelemente dafür liefern. ({1}) Haben Sie Verständnis dafür, dass genau das, dass wir die Brennelemente liefern und damit Geld verdienen, im Ausland als bigotte Haltung wahrgenommen wird, die den deutschen Atomausstieg unterläuft, und dass der Eindruck entsteht, dass am Ende nicht ernst gemeint ist, dass wir weltweit aus der Atomkraft aussteigen wollen? Haben Sie Verständnis für diese Haltung, und sind Sie bereit, das zu ändern und ernst zu nehmen? ({2})

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Krischer, ich verstehe die Menschen, die so denken. Aber ich weiß auch, dass es genügend andere gibt, die sehr daran interessiert sind, möglichst hochwertige Ware zu bekommen. Wenn die Art und Weise, wie die Atomkraftwerke gebaut, kontrolliert und betrieben werden, in Belgien von der belgischen Regierung und der belgischen Bevölkerung mehrheitlich so akzeptiert wird, dann ist das von mir zu respektieren. Ich kann gerne mit jemandem darüber diskutieren. Aber auch dann wird es einem belgischen Kritiker nicht helfen, wenn wir die Brennelemente nicht mehr produzieren und sie stattdessen von Framatome in Frankreich, in Rumänien oder in Russland produziert und dann von dort importiert werden. ({0}) Deswegen – und das kann ich jetzt gleich anschließen – bin ich der Auffassung, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir in dieser Frage nichts davon haben, wenn wir eine symbolorientierte – man kann auch sagen: populistische – Politik betreiben. Vielmehr müssen wir eine realistische Politik betreiben. ({1}) Wir müssen das maximal Mögliche, das wir beeinflussen können, auch tatsächlich beeinflussen, und wir müssen die technologischen Möglichkeiten, die wir haben, nutzen, um ein hohes Maß an Sicherheit zu generieren. ({2}) Das ist unsere Aufgabe. Neben dem Gelingen der Energiewende sind das die wesentlichen Elemente für eine gute Atompolitik in Deutschland, Europa und weltweit. Sie haben das Problem, liebe Grünen, dass Sie sich einerseits über den Atomausstieg bzw. die Beendigung der Stromproduktion aus Kernenergie freuen können, dass Ihnen andererseits damit ein Thema fehlt, das Sie jetzt auf diese Weise zu perpetuieren versuchen. ({3}) Dabei wissen Sie ganz genau, dass wir das Problem im Kern schon längst gelöst haben und uns mit der Endlagerungsproblematik befassen müssen. ({4}) Die Endlagerungsproblematik hat aber nichts damit zu tun, dass wir aus der Kernenergie ausgestiegen sind. Vielleicht mal an die Adresse der Kollegen in der AfD gerichtet: Das hat nichts mit unserem Ausstieg aus der Kernenergie zu tun, sondern das hat mit dem Einstieg in die Kernenergie zu tun. Deswegen müssen wir das jetzt reparieren, und darauf sollten wir uns konzentrieren, um damit Erfolg zu haben, und da sind alle eingeladen, daran mitzuwirken. ({5}) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Karsten Hilse für die AfD. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die grünen Gläubigen, die sich in allen Altparteien eingenistet haben, glauben bedingungslos dem IPCC, dem sogenannten UN-Weltklimarat. Jede Behauptung – und wäre sie noch so abstrus, egal ob sie bewiesen werden kann oder nicht – wird als absolute Wahrheit förmlich aufgesaugt. Aber kennen Sie auch den UN-Weltstrahlenschutzrat, den Wissenschaftlichen Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung, United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation, kurz UNSCEAR? Dieser arbeitet bei seinen Berichten eng zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die zitieren Sie ja gerne, wenn es mal wieder um absurde Grenzwerte für Stickoxide geht. Zum Reaktorunfall in Fukushima wurden von ­UNSCEAR fast 100 wissenschaftliche Publikationen durchforstet. Ergebnis: kein einziges Strahlungsopfer. ({0}) Es waren nicht, wie ich heute früh in einem Nachrichtenmagazin lesen musste, 18 000, sondern kein einziges Strahlungsopfer. Lesen Sie den Bericht! Dabei handelt es sich auch noch um einen Reaktor aus der Anfangszeit der Kerntechnik in Japan aus den 50er-Jahren. ({1}) – Ja, ist klar – Selbst dieser Reaktor mit dem schweren Designfehler, der in Deutschland nie genehmigt worden wäre, ausgesetzt einem historischen Erdbeben der Stärke 9,1 auf der Richterskala und einer gewaltigen Tsunamiwelle, konnte die Lust der Grünen und Linken auf ein Horrorszenario nicht befriedigen. Kein einziges Strahlungsopfer! ({2}) Und was tut Deutschland ohne starke Erdbeben und ohne Tsunamis? Hier werden in einer Aktion kopfloser Panik und rein wahltaktisch Reaktoren abgeschaltet und Reaktorbetreiber enteignet. ({3}) Die Geschichte der Kernenergie in Deutschland ist eines der Lügenmärchen. So wird immer wieder behauptet, unsere Reaktoren seien nicht nur unsicher, sondern würden auch Unmengen an Abfall produzieren, der ewig lange und stark vor sich hin strahlt. ({4}) Fragen Sie mal einen Physiker – jetzt nicht unbedingt unsere Kanzlerin, aber jeden anderen –: Radioaktive Reststoffe können entweder stark strahlen oder lange strahlen, aber nicht beides zusammen. ({5}) Auch bei der Menge wird in unseren Qualitätsmedien konsequent übertrieben. Doch selbst diese geringe Menge an Abfällen könnte man noch entschärfen. Auf ein geologisches Endlager könnte man heute vollständig verzichten. Man müsste dazu allerdings technologieoffen sein – ein Fremdwort nicht nur für die Grünen, sondern auch für unsere grüne Bundesregierung. ({6}) Für die Zuschauer: Schauen Sie mal nach „Partitionierung und Transmutation“. ({7}) Es sei denn, es geht um Technologie, die schon die Babylonier genutzt haben, wie Windmühlen. Da ist plötzlich alles innovativ, auch wenn es unsere Flora und Fauna zerstört und Menschen krank macht. ({8}) Für Kernenergie hingegen gibt es wirklich neue Konzepte, die noch weniger Abfall produzieren, die sogar die bisherigen Reststoffe zur Stromproduktion nutzen könnten und bei denen das Risiko eines GAUs gegen null geht: sogenannte Flüssigsalzreaktoren. ({9}) – Ich weiß, dass es für Sie ein Fremdwort ist. – Aber auch diese Technologien überlassen wir lieber Ländern wie Kanada. Ich weiß, dass gerade beim Thema Kerntechnik viele CDU-Kollegen mit geballter Faust in der Tasche hier sitzen, aber Mutti hat eben gesagt: Mit diesen Förmchen spielen wir nicht mehr. ({10}) Vielleicht setzen sich nach dem hoffentlich baldigen Abgang von Frau Merkel die Vernünftigen wieder durch. ({11}) Mit denen arbeiten wir dann auch gerne zusammen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als Nächste spricht für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter. ({0})

Rita Schwarzelühr-Sutter (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003847

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verleugnen, lächerlich machen, verharmlosen – das hat ja Strategie, und manche träumen immer noch davon, dass man den Atommüll eigentlich vergolden kann. Aber glauben kann man vieles. Fakt ist, dass die Bundesregierung aus der Atomenergie aussteigt und dass wir das auch bis Ende 2022 durchgeführt haben werden. Das schafft Verlässlichkeit, und das schafft auch Klarheit. ({0}) Uns geht die Arbeit ja nicht aus. Uns obliegen die Stilllegung und der Rückbau, und natürlich machen wir uns auch Sorgen und schauen, was an der Grenze passiert. Wir haben Kernkraftwerke, Atomkraftwerke bei den direkt angrenzenden Nachbarstaaten. Schauen wir uns allein nur mal das Alter der europäischen Atomanlagen an: 144 Atomreaktoren in Europa sind älter als 30 und 26 älter als 40 Jahre. Da muss man klar sagen: Es sind alte Atomkraftwerke, und das macht uns Sorgen. Ich nenne hier beispielhaft Fessenheim und Beznau; die liegen direkt an der Grenze. Es ist ja hier viel vom Glauben die Rede. Früher hat ein Lehrer immer gesagt: Glauben tut man in der Kirche. – Ich weiß nicht, wie so manche hier das handhaben, aber Fakt ist, dass Fessenheim in der Oberrheinebene liegt, und dort befindet sich eine große Erdbebenzone. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Forderung erheben – und die kommunizieren wir natürlich bei jeder Gelegenheit, wenn wir mit unseren Kollegen aus den Nachbarstaaten zusammen sind oder sie darauf ansprechen –, AKWs abzuschalten und keine Laufzeitverlängerungen vorzunehmen. ({1}) Natürlich gehört zur Wahrheit auch, dass die deutsche Bundesregierung keinen unmittelbaren Einfluss auf den Betrieb und die Laufzeiten ausländischer Atomkraftwerke hat; denn jeder Staat entscheidet in seiner eigenen Souveränität. Sehr geehrte Damen und Herren, ich sage deutlich, dass wir nicht lockerlassen und immer wieder darauf drängen, dass wir beim Wort genommen werden. In den letzten Jahren haben wir – Doel und Tihange wurden schon angesprochen – immer gesagt: Wenn es schon eine souveräne Entscheidung des jeweiligen Staates ist, wollen wir kritisch nachfragen und wissen, was bei diesen Atomreaktoren tatsächlich vorliegt und welche Störungen, welche Probleme es tatsächlich gibt. Wir können keine vollständige Sicherheitsbewertung vornehmen. Wir haben nicht die Daten und die Unterlagen. Deswegen ist es wichtig, dass wir einen Zugang zu diesen Ländern haben und uns auch fachlich austauschen können. Wir haben darauf gedrängt. Wir haben zweitens auf dem politischen Weg Einfluss genommen. Wir nehmen sehr wohl die belgische Regierung beim Wort, dass nämlich tatsächlich Doel 3 im Jahr 2022 und Tihange 2 im Jahr 2023 abgeschaltet werden. Wir gehen davon aus, dass daran nicht gerüttelt wird. ({2}) Jetzt noch zu dem Thema „Kernbrennstoffe aus deutscher Produktion“. Ja, wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass Kernbrennstoffe aus deutscher Produktion im Ausland nicht zum Einsatz kommen sollen, wenn die Sicherheit der Anlagen aus deutscher Sicht dort zweifelhaft ist, und das wollen wir auch rechtssicher umsetzen. Deshalb prüfen wir derzeit alle Umsetzungsmöglichkeiten unter rechtlichen, sicherheits- und außenpolitischen sowie wirtschaftlichen und finanziellen Aspekten. Natürlich muss es auch europarechtlich sicher sein; deswegen haben wir uns auch an die Europäische Kommission gewandt. Sehr geehrte Damen und Herren, einige Staaten wollen zur Erreichung ihrer Klimaziele auch langfristig auf Atomkraft setzen. Ich glaube, wenn man sich die Presselandschaft anguckt und Aussagen wie „Atomkraft? Ja, bitte“ hört, dann gibt das einem schon zu denken. Das gibt einem vor dem Hintergrund zu denken, dass der Neubau von Atomreaktoren mit angeblich modernen Sicherheitsstandards sehr teuer ist und immense wirtschaftliche Risiken mit sich bringt. Deswegen schaut man da genau hin, bevor in solche neue Technik investiert wird. Damit hängt natürlich zusammen, dass alte Kraftwerke länger betrieben werden. Das geht zulasten der Sicherheit; das geht nicht. Deswegen lehnen wir, wie ich schon gesagt habe, die Laufzeitverlängerungen ab. Die Atomenergie ist ein Irrweg; sie bleibt ein Irrweg. Wenn ich höre, dass der Abfall ja gar kein Abfall sei und wenig radioaktiv sei, dann möchte ich mal sehen, ob der Wahlkreis Bautzen tatsächlich alle Atomabfälle übernimmt. ({3}) Wer A sagt, muss auch B sagen. Es geht halt nicht, dass man eine Erblast einfach weitergibt, ohne die Verantwortung zu übernehmen. Wir Politiker haben durchaus die Pflicht, nicht nur im Jetzt zu entscheiden, sondern auch die Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Ich danke Ihnen ganz herzlich. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion der FDP die Kollegin Judith Skudelny. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal das internationale Umfeld beleuchten, in dem wir uns aktuell in der Debatte über die Kernenergie bewegen: In den letzten drei Jahren sind international 20 Kernkraftwerke ans Netz gegangen, 55 neue Kernkraftwerke befinden sich aktuell im Bau. Tschechien – in Europa – hat gesagt, es wolle den Kernenergieanteil bei seiner Stromversorgung erhöhen, und auf europäischer Ebene diskutieren zahlreiche Staaten darüber, dass Kernenergie, weil sie aus ihrer Sicht eine CO 2 -freie Stromerzeugung ist, als nachhaltig eingestuft werden sollte. ({0}) Wir sehen, dass sich das internationale Karussell der Kernenergie trotz des deutschen Beschlusses, aus der Atomenergieerzeugung auszusteigen, ({1}) weiterdreht. In diesem Umfeld müssen wir uns weiter bewegen. Da muss Deutschland seine Rolle finden und sich fragen: Wie wollen wir eigentlich Einfluss auf die Sicherheitslage nehmen? ({2}) Der Grat zwischen Vorbild und Besserwisser bzw. Klassenstreber ist sehr schmal. ({3}) Wir müssen uns auf der richtigen Seite des Grates befinden, damit wir weiterhin von den anderen Nationen ernst genommen werden. ({4}) Wir reden ja mit anderen Nationen, die die Risiken der Kernenergieerzeugung kennen. Sie kennen die Herausforderungen der Endlagerung, und sie kennen auch die Folgen von Fukushima. Sie setzen trotzdem lang- und mittelfristig auf die Kernenergieerzeugung. Mit diesen Staaten müssen wir auf Augenhöhe darüber reden, wie wir die Sicherheit im Bereich der Kernenergie erhöhen können; denn die Risiken enden nicht an nationalen Grenzen. ({5}) Unsere Aufgabe ist es, die Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland dadurch zu erhöhen, dass wir mit den anderen Staaten im Dialog bleiben, indem wir mit ihnen darüber verhandeln, wie eine höhere Sicherheit zu erreichen ist, und diesen Einfluss weiter ausbauen, obwohl wir selber aus der Erzeugung der Kernenergie aussteigen. Das ist eine gar nicht so kleine Herausforderung. Die Lösung der Grünen und der Linken ist, zu sagen: Wir steigen vollständig aus. Wir wollen nicht mal mehr Brennelemente anreichern. Wir wollen keinen Treibstoff mehr bieten. Wir sind raus aus der Sache. ({6}) Das Problem dabei ist nur, dass unsere Anlagen zu den sichersten gehören, dass unsere Brennelemente zu den besten gehören und dass das durchaus international zur Sicherheit des Betriebs der Kernenergieanlagen in anderen Ländern beiträgt. Wenn wir aussteigen, werden unsere Brennelemente durch qualitativ weniger gute Brennelemente ersetzt. ({7}) Das erhöht das Sicherheitsrisiko. ({8}) Insgesamt geht es um nur 10 Prozent des gesamten Handelsumfangs von Brennelementen. Das wird sofort von anderen Anlagen ersetzt. Der Ersatz erfolgt durch Brennelemente mit einer niedrigeren Sicherheitsstufe. Auch das kann nicht das Ziel der deutschen Politik sein. Letztendlich werden die deutschen Steuerzahler, wenn wir, so wie Sie sich das vorstellen, aus den Verträgen aussteigen, dafür Schadensersatz zahlen müssen. Und das ist reine Symbolpolitik. Im Ergebnis sehen wir, dass wir weniger Mitspracherechte haben, dass wir weniger Einfluss haben und für das Wenige an Sicherheit, das wir damit generieren, am Ende auch noch Geld zahlen müssen. Das kann nicht Sinn der deutschen Politik sein. ({9}) An die linke Seite gewandt, sage ich: Ja, auch wir stehen nach wie vor zu dem Ausstiegsbeschluss. ({10}) Auch wir sehen Doel und Tihange als Problemfälle an und wollen hier Einfluss ausüben. Von der Bundesregierung wünschen wir uns hier ein noch stärkeres Engagement, damit die Anlagen möglichst schnell vom Netz gehen. Wir müssen aber einfach erkennen, dass wir das nur dann erreichen, wenn wir als Verhandlungspartner auf Augenhöhe in Kenntnis der Situation, in Kenntnis der Anlagen und auch in Kenntnis der neu zu bauenden Anlagen ({11}) mit den anderen Staaten mit anderen Sicherheitsempfindungen auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Sie wollen andere belehren; wir wollen die Sicherheitslage ernsthaft verbessern. Das schaffen wir nur mit Zusammenarbeit. ({12}) Deswegen werden wir Ihre Anträge ablehnen. Sie stehen für reine Symbolpolitik und helfen Deutschland nicht, helfen der Sicherheitslage nicht und helfen auch den Bürgerinnen und Bürgern hier bei uns überhaupt nicht. ({13})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Bevor wir in der Rednerliste weitermachen, gebe ich dem Kollegen Karsten Hilse von der AfD Gelegenheit zu einer Kurzintervention.

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. Es geht auch ganz schnell. – Liebe Frau Schwarzelühr-Sutter, ich habe nicht gesagt, dass radioaktive Reststoffe nicht strahlen. Ich habe nur gesagt, dass immer wieder behauptet wird, dass atomare Reststoffe sehr lange und sehr stark strahlen. Ich habe darauf abgehoben – fragen Sie einen Physiker, der wird Ihnen das bestätigen –, dass atomare Reststoffe entweder lange strahlen oder stark strahlen. Beides zugleich nicht. ({0}) – Okay. – Darauf wollte ich bloß eingehen. Danke schön. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Dann fahren wir fort. Als Nächster spricht Hubertus Zdebel für die Fraktion Die Linke. ({0})

Hubertus Zdebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004449, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Am 26. April 1986 explodierte ein Atomreaktor in Tschernobyl. ({0}) Über Europa zogen gefährliche Strahlenwolken hinweg. Hunderttausende Betroffene leiden noch immer an zahlreichen strahlenbedingten Krankheiten. Am 11. März 2011 kam es nach einem Erdbeben und Tsunami zur mehrfachen Atomkatastrophe in Japan mit Kernschmelze in drei Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi. 200 000 Menschen mussten ihre Heimat verlassen, um sich vor den radioaktiven Strahlen in Sicherheit zu bringen. Die Atomenergie hatte diese Menschen zu Flüchtlingen gemacht. Diese Atomkatastrophen haben in Deutschland zum Atomausstiegsbeschluss geführt. Und das war und bleibt richtig. ({1}) Aber immer noch und leider auch schon wieder werden die unverantwortlichen Atomgefahren gegenüber Wirtschaftsinteressen zurückgestellt oder verdrängt. Wirtschaftliche und machtpolitische Interessen stehen nur acht Jahre nach Fukushima in vielen Ländern und bei vielen Interessensvertretern wieder vorn an, wenn in einigen Nachbarstaaten jetzt schon marode Reaktoren weitere Laufzeitverlängerungen erhalten sollen. In dieser Situation redet die Bundesregierung – ich höre da immer sehr genau zu – neuerdings wieder verstärkt und nach meinem Eindruck auch teilweise achselzuckend davon, dass die Entscheidung für den nationalen Energiemix in der jeweiligen „Souveränität und alleinigen Verantwortung der jeweiligen Staaten“ liegt. Nein, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen! Das zeigt, dass Sie die Lehre aus Fukushima und Tschernobyl immer noch nicht begriffen haben. ({2}) Radioaktive Wolken machen nicht an Grenzen halt. Deshalb muss der Atomausstieg europäisch und weltweit werden. ({3}) Angesichts der enormen Gefahren muss laut und deutlich in der EU gesagt werden und dafür getrommelt werden, dass Atomenergie am besten sofort zur Geschichte wird. ({4}) Es muss Druck gemacht werden, dass die Atomfördergemeinschaft Euratom endlich aufgelöst wird und die EU-Subventionen für die Atomindustrie abgeschafft werden. Das ist die Aufgabe. ({5}) Aber: Das kann man nur, wenn Deutschland selbst glaubwürdig aus der Atomenergie aussteigt. ({6}) Oliver Krischer hat ja gerade schon darauf hingewiesen. Das ist aber nicht der Fall. ({7}) Das wird klar, wenn die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen mit Unterstützung der FDP immer noch aus deutschen Uranfabriken Atommeiler im benachbarten Grenzgebiet und weltweit mit Brennstoff versorgen lassen. ({8}) Super-GAU powered by Germany in Tihange oder Fessenheim: Das kann auch acht Jahre nach Fukushima zur bitteren Wirklichkeit werden, und damit werden wir Linken uns niemals abfinden. ({9}) Die Urananreicherungsanlage in Gronau, an der RWE und EON zu einem Drittel beteiligt sind, und die Brennelementefabrik in Lingen, die zum französischen EDF-Framatome-Konzern gehört, sind bis heute vom schrittweisen Atomausstieg ausgenommen. Beide Anlagen verfügen über unbefristete Betriebsgenehmigungen. Sie versorgen AKWs in aller Welt, darunter auch alte und riskante AKWs im grenznahen Gebiet zur Bundesrepublik. Es ist in der Summe nicht überzeugend, was ich gerade gehört habe, und letztlich schizophren, dass Deutschland die Hochrisikotechnologie Atomkraft im eigenen Land abschalten will, mit der Brennstoffversorgung „made in Germany“ aber selbst dafür sorgt, dass die gefährliche Technik im benachbarten Ausland weitergehen kann. ({10}) Wir Linken wollen, dass diese beiden Atomfabriken stillgelegt werden, um den Atomausstieg in Deutschland umfassend zu machen, ({11}) und zwar spätestens dann, wenn in drei Jahren das letzte Atomkraftwerk in Deutschland abgeschaltet wird. ({12}) Hinzu kommt: Die Urananreicherung ist von enormer Brisanz, weil diese Technologie grundsätzlich auch für die Herstellung von atomwaffenfähigem Uran geeignet ist. ({13}) Der ehemalige Außenminister und jetzige Bundespräsident, Herr Steinmeier, hat im Zusammenhang mit dem iranischen Urananreicherungsprogramm zu Recht darauf hingewiesen, dass die Urananreicherung der Griff zur Atombombe ist. Das muss man immer wieder deutlich betonen. ({14}) Insofern ist es von besonderer Wichtigkeit – deswegen fordern wir das auch –, dass die Urananreicherungsanlage in Gronau stillgelegt wird, ({15}) auch vor dem Hintergrund unserer Geschichte. ({16}) Die vom Umweltministerium, damals noch unter Ministerin Barbara Hendricks, die ja bei der heutigen Debatte auch anwesend ist, in Auftrag gegebenen und im November 2017 vorgelegten Rechtsgutachten zeigen auf, dass unter Beachtung einiger Rahmenbedingungen eine atomrechtliche Stilllegung der Uranfabriken in Gronau und Lingen grundsätzlich verfassungskonform möglich und auch verhältnismäßig wäre. ({17}) Das Umweltministerium selbst stellt dazu in Verbindung mit der Veröffentlichung der beiden damaligen Gutachten auf seiner Homepage fest – ich zitiere wörtlich mit Genehmigung des Präsidenten –: Eine Stilllegung ... der Brennelementeproduktion in Deutschland würde zu einer konsistenteren Linie in der deutschen Atomausstiegspolitik führen. ({18}) Außerdem teilte es 2017 mit: Es bleibt der politischen Willensbildung innerhalb der Bundesregierung überlassen, ob sie diesen Weg gehen will. Zitat Ende. Genau darum geht es heute. Gibt es diesen politischen Willen dazu oder nicht? Deswegen sage ich: Stimmen Sie dem Gesetzentwurf der Grünen und dem Antrag der Linken zur Stilllegung der Uranfabriken zu. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({19})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Marie-Luise Dött für die Fraktion CDU/CSU. ({0})

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Katastrophe von Fukushima war ein Einschnitt – ein Einschnitt für Japan, Deutschland, Europa und die ganze Welt. Damals passierte in einem technologisch hochentwickelten Land etwas, was nach allen wissenschaftlichen Maßstäben für unmöglich gehalten wurde. Deutschland hat daraus seine Lehren gezogen. Die Restrisiken, die mit der Kernenergienutzung verbunden sind, wurden neu bewertet. Der Ausstieg mit Augenmaß aus der Kernenergie wurde eingeleitet und wird 2022 abgeschlossen sein. Die Energieerzeugung aus Kernkraft wird in Deutschland also bald der Vergangenheit angehören. Das ist erst einmal Fakt. Meine Damen und Herren, wir dürfen die Augen aber auch nicht vor den Realitäten verschließen. Wir sollten uns ehrlich machen. Andere Länder, auch in Europa, setzen weiterhin auf Kernenergie. Es ist sehr schwierig, von Deutschland aus die Sicherheit grenznaher Reaktoren in Frankreich, Belgien, Tschechien und der Schweiz zu beurteilen. Der Grund ist, dass allein den nationalen Aufsichtsbehörden die vollständigen Informationen über die Verhältnisse vor Ort vorliegen. Dass Menschen zum Beispiel in der Region Aachen in großer Sorge sind, kann ich sehr gut verstehen und auch nachvollziehen. Diese Sorgen und Ängste aber zu politischen Zwecken zu instrumentalisieren und zu befeuern, halte ich für inakzeptabel. ({0}) Richtig ist, dass die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarländern intensiviert worden ist, so zum Beispiel im Rahmen der Deutsch-Belgischen Nuklearkommission, die sich zuletzt intensiv mit den Vorkommnissen in den Reaktoren Doel 3 und Tihange 2 beschäftigt hat. Im Auftrag des Bundesumweltministeriums wurde die Reaktor-Sicherheitskommission beauftragt, zu prüfen, ob die Sicherheitsnachweise für die Reaktordruckbehälter der Atomkraftwerke Doel 3 und Tihange 2 plausibel geführt worden sind. Und die Reaktor-Sicherheitskommission hat dies bestätigt. Auch wenn das manchem hier in diesem Hohen Hause nicht in den Kram passt: Die Einschätzung dieser Fachleute gehört zur Meinungsbildung. Die Unionsfraktion unterstützt die Vorgehensweise der Bundesregierung, den bilateralen Gesprächsfaden mit unseren europäischen Nachbarn nicht abreißen zu lassen. Es ist wichtig und richtig, dass Deutschland immer und immer wieder auf umfassende Sicherheitsüberprüfungen hinwirkt, auf ambitionierte, verbindliche Sicherheitsziele in der EU und auf ein System wechselseitiger Kontrolle. Wir dürfen aber nicht vergessen: Das Abschalten von kritischen Reaktoren ist originäre Aufgabe der jeweiligen Länder. Hier kann Deutschland zwar werben und appellieren, aber keinen direkten Einfluss nehmen. Was kann Deutschland also neben dem Werben und Appellieren noch unternehmen? Einfach – wie Sie das von den Grünen und Linken in Ihren Anträgen und im vorgelegten Gesetzentwurf fordern – deutsche Anlagen zur Brennelementefertigung und zur Urananreicherung stilllegen? Ich sage es ganz deutlich: Das ist sicherlich keine Lösung. Damit holen Sie zu einem Kahlschlag aus, der sehr weitreichende und vor allem negative Folgen haben würde. Diese Folgen wurden in der öffentlichen Anhörung im Umweltausschuss im Oktober des letzten Jahres offensichtlich. Erstens würde das zu einem massiven Vertrauensverlust für Deutschland führen. ({1}) Ein Ausstieg aus der fast 50‑jährigen Zusammenarbeit mit den Niederlanden und Großbritannien sowie die einseitige Beendigung völkerrechtlicher Vereinbarungen würden das Vertrauen in Deutschland zerstören. ({2}) Auch die langfristig eingegangenen Lieferverträge der Unternehmen dürfen nicht vergessen werden. ({3}) Wer hier aus politischen Gründen eingreift, zahlt Entschädigungen, und die kosten das Geld der Steuerzahler. Klar ist ebenso: Material, das nicht in Deutschland produziert wird, wird garantiert in anderen Ländern von anderen Anbietern hergestellt, womöglich sogar in Ländern, wo die Standards in puncto Sicherheit nicht so ausgeprägt sind wie bei uns. ({4}) Was ist also der Mehrwert?

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, bitte jetzt nicht. Zweitens würde eine Stilllegung der Anlagen zu einem Verlust des Know-hows führen. Das Abschalten der Anlagen in Gronau und Lingen würde uns des letzten Restes an Kompetenz im Bereich Kernkraft berauben. ({0}) So richtig der Ausstieg Deutschlands aus der Erzeugung von Kernenergie auch ist, so falsch wäre es, das gesamte bei uns vorhandene Know-how aufs Spiel zu setzen. Das gilt insbesondere für die Zentrifugentechnologie. Wenn wir Gronau und Lingen ein Stoppschild vor die Tür stellen, würde genau das passieren. ({1}) Um den in Jahrzehnten in Deutschland aufgebauten sicherheitstechnischen Sachverstand auf höchstem Niveau zu halten, ist aus unserer Sicht zweierlei notwendig: zum einen die Forschung und Lehre in Deutschland zu erhalten, zum anderen die Entsendung deutscher Experten zu Anlagen im Ausland. ({2}) Dadurch erhält Deutschland einen Erfahrungsrückfluss. Des Weiteren ist die Beschäftigung mit Neubauprojekten im Ausland unerlässlich, um durch die Befassung mit neuen Anlagenkonzepten die Weiterentwicklung der Technik verfolgen zu können. Wie soll Deutschland beispielsweise neue Reaktortypen bewerten, wenn unsere Fachleute nicht die notwendigen Kenntnisse darüber haben? Das gilt auch für den in Belgien geplanten Reaktor zur Transmutation. Genau aus diesem Grund haben wir dazu eine Passage in den Koalitionsvertrag geschrieben. Die Bundesregierung wird darin aufgefordert, ein Konzept zum perspektivischen Erhalt von Fachwissen und Personal für Betrieb, Rückbau und zu Sicherheitsfragen bei Nuklearanlagen sowie für Zwischen- und Endlagerung zu erarbeiten. Wir sind gespannt, wie das Konzept aussehen wird. Drittens dürfen wir die Träger des Fachwissens, also die motivierten und hochqualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, nicht vergessen. Sie sind Wissensträger, sie sind Verantwortungsträger, und sie können die ständig von den Linken und Grünen entfachten Diskussionen über die Zukunft ihrer Jobs nicht mehr hören. Sie sind es leid. ({3}) Fragen Sie doch einmal den Betriebsrat am Urenco-Standort in Deutschland. ({4}) Sie werden eindeutige und klare Antworten bekommen, was die Menschen von Ihren Vorschlägen halten. Viertens und zuletzt ist durch die Schließung der Anlagen die internationale Mitbestimmung Deutschlands in Sicherheitsfragen in Gefahr. ({5}) Hier geht es insbesondere um die Mitwirkung in der Internationalen Atomenergie-Organisation. Die internationalen Sicherheitsstandards werden hier festgelegt. Wer hier nicht mitspricht oder mitsprechen kann, lässt Chancen liegen. Friedrich Däuble, ein ehemaliger Ständiger Vertreter Deutschlands in der Internationalen Atomenergie-Organisation, IAEO, und den Vereinten Nationen, hat das bei der öffentlichen Anhörung sehr deutlich gesagt. Also, wir lehnen die Anträge und den Gesetzentwurf ab. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Der Kollege Krischer erhält die Gelegenheit für eine Kurzintervention.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank, Herr Präsident, für die Gelegenheit einer Kurzintervention. – Frau Dött, ich habe wie bei dem Kollegen Möring Ihre Aussagen irritiert zur Kenntnis genommen. Herr Möring hat gesagt, dass die Forderung nach dem Exportstopp deutscher Brennelemente in den belgischen Schrottreaktor Tihange Populismus sei. Sie haben das wiederholt und gesagt, Sie wenden sich ausdrücklich gegen ein Exportverbot deutscher Brennelemente nach Belgien. Frau Dött, ich würde gerne von Ihnen hören, wie Sie es dann erklären, dass der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, der Ihrer Partei angehört, im Wochenrhythmus zusammen mit dem Land Baden-Württemberg eine entsprechende Forderung in den Bundesrat einbringt und die Bundesregierung, damit auch den Bundestag und Sie auffordert, entsprechend zu handeln. ({0}) Ich würde von Ihnen gerne hören, wie es mit Ihrer Haltung in Einklang zu bringen ist, dass der nordrhein-westfälische Landtag einstimmig, also auch mit den Stimmen der CDU-Fraktion, die dort meines Wissens – leider – die größte Fraktion ist, beschlossen hat, dass es einen sofortigen Exportstopp deutscher Brennelemente von Gronau nach Belgien geben soll. All das passt nicht zu Ihrer Haltung. Ich würde von Ihnen gerne wissen, wann Sie den Mut haben, Ihre Position beispielsweise in meiner Heimatstadt Aachen, wo sich viele Menschen deswegen Sorgen machen, weil die Bundesregierung nichts unternimmt, offen zu vertreten – auch gegen Ihre eigenen Parteifreunde wie zum Beispiel Armin Laschet, der ebenfalls aus Aachen kommt. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Dött, Sie haben das Wort.

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für Ihre Kurzintervention, Herr Krischer. – Hätten Sie meiner Rede genau zugehört, dann wüssten Sie, dass ich mich dagegen wehre, dass man Ängste der Bevölkerung ausnutzt, ({0}) um Ihre – es tut mir leid – manchmal sehr populistischen Anschuldigungen an die Regierung zu untermauern. ({1}) Ich weise auf den Koalitionsvertrag hin – wenn Sie von den Grünen mir bitte zuhören wollen –, wonach wir prüfen werden, wie wir unsere Sicherheitsvorstellungen mit einbringen können. Ich bin sehr froh, dass die Bundesregierung zusammen mit der belgischen Regierung eine Kommission gebildet hat, die zusammen überlegt, wie man den Wissenstransfer zwischen diesen beiden Ländern nutzen kann. Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass wir gerade im sicherheitstechnischen Bereich sehr weit und sehr führend sind. Ich wehre mich dagegen, dass dieses Know-how in Deutschland verschwindet. Wir sollten die Ergebnisse abwarten. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir dieses Know-how nicht nur europaweit, sondern weltweit einbringen können und auch sollten. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Wir fahren in der Debatte fort. Nächster Redner ist Dr. Rainer Kraft für die AfD. ({0})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Abgeordnete! Werte Gäste! Eine kurze Vorbemerkung: Frau Kotting-Uhl, Sie hatten sinngemäß in Ihrer Rede als größte Bedrohung für das Leben, das Wohlbefinden, das Glück der Leute die Kernenergie ausgemacht. ({0}) Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die durchschnittliche Lebenserwartung in der Ukraine um acht Jahre gesunken. Das heißt, das Atomunglück von Tschernobyl hat auf die durchschnittliche Lebenserwartung der Bewohner der Ukraine einen vernachlässigbaren Einfluss gehabt. Der Verlust des Wohlstandes, der Arbeitsplätze, der inneren Sicherheit im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion hingegen hat zu einer Reduktion von acht Jahren geführt. ({1}) Das heißt, wir sehen, die größte Bedrohung für das Leben, das Wohlbefinden und das Glück der Leute geht von einer Deindustrialisierung aus, wie Sie sie zum Beispiel mit der Verkehrs- und der Energiewende in diesem Land vorantreiben wollen. ({2}) Der vorliegende neue Antrag der Grünen dürfte tatsächlich eines der verlogensten und heuchlerischsten Dokumente sein, die dieses Parlament je ertragen musste. ({3}) Der Titel des Antrags entlarvt Sie dabei, dass Sie die katastrophalen Ereignisse im März 2011 auf die nuklearen Störfälle in den Blöcken Fukushima Daiichi 1 bis 3 reduzieren und dabei kein Gedenken an die Toten des Tohoku-Erdbebens zulassen. Sie haben das mit Ihrer Rede mehr oder weniger bestätigt. Sie instrumentalisieren also die Toten der Naturkatastrophe, um Ihre ideologische Abneigung bezüglich der Kernenergie auszuleben. Das, meine Damen und Herren, ist ekelhaft. ({4}) Aus den Kraftwerksblöcken selbst, vor denen Sie uns so nachdrücklich warnen, gibt es übrigens keine Toten zu vermelden, die in irgendeiner Form mit der freigesetzten Strahlung in Verbindung gebracht werden können, so der Bericht der Vereinten Nationen. Um es direkt noch einmal klarzustellen: Es hat in Fukushima keine Todesfälle oder Fälle von beobachteter Strahlenkrankheit bei irgendeinem der über 20 000 Arbeiter gegeben, die im Kernkraftwerk mit den Aufräumarbeiten betraut waren. Der Bericht der Vereinten Nationen stellt klar, dass die gesamte erwartete Lebenszeitdosis für Bewohner der Präfektur Fukushima, die aus dem Reaktorunglück resultiert, unter 10 Millisievert liegen wird. In Relation: Diese Lebenszeitbelastung entspricht etwa dem, was in Deutschland zum Beispiel in Weinkellern von den Behörden als Exposition pro Jahr als zulässig angesehen wird; pro Jahr, liebe Kollegen von den Grünen. Der Bericht stellt klar, dass zweieinhalb Jahre nach dem Unglück die Cäsium‑137-Werte jenseits der direkten Kraftwerksumgebung auf Werte aus der Zeit vor dem Unglück gesunken sind. Die in den Sedimenten gemessenen Werte bewegen sich im Bereich dessen, was in Deutschland zum Beispiel bei der Strahlenbelastung von Wild noch als unbedenklich zum Verzehr angesehen wird. Hätte Japan seine Kernkraftwerke nach deutschen Maßstäben nachgerüstet, wären diese Freisetzung von Radioaktivität und auch die begleitenden Knallgasexplosionen verhindert worden. Manche Politiker, allen voran der deutsche EU-Kommissar Oettinger, bezeichnen das vorschnell als Apokalypse und offenbaren damit die gesamte Lächerlichkeit ihrer ideologisierten Hysterie. ({5}) Die jährlichen Strahlenschutzberichte beweisen es. Seit 2011 kann man dort jährlich lesen – ich zitiere –: Im laufenden Jahr xy sind wie schon in der zweiten Jahreshälfte 2011 keine erhöhten Radionuklidaktivitäten aus dem Fukushima-Ereignis mehr nachweisbar. Wir erinnern uns: In Deutschland hat damals die schwarz-gelbe Regierung die Ausstiegspirouette hingelegt und einen nur wenige Monate alten Entschluss zur Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke wieder kassiert. Geholfen hat das freilich nichts; denn bei den folgenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg ist die CDU krachend gescheitert. Das Ländle ging für die Union verloren und ist es bis heute. ({6}) Und in Japan selbst? In Japan sind heute wieder neun Kernreaktoren in Betrieb, zwei sind im Bau und 16 weitere befinden sich in den verschiedenen Stadien der erneuten Erteilung von Betriebsgenehmigungen. Japan bekennt sich also zur nuklearen Zukunft. Im Übrigen hat sich auch Taiwan im letzten Herbst in einer Volksabstimmung dazu bekannt, den Ausstieg nicht weiter fortzusetzen, sondern die Kernkraftwerke wieder zu betreiben. ({7}) Auch rund um Deutschland befinden sich zahlreiche Kernkraftwerke im Bau, zum Beispiel in Großbritannien, der Slowakei, Finnland, Weißrussland oder der Türkei. ({8}) Dies bringt uns zu einem besonders perfiden Detail des neuen Antrags der Grünenfraktion: Sie fordern die Nichterteilung von Hermes-Exportkreditbürgschaften für sämtliche Lieferungen aus Deutschland an bestehende oder im Bau oder Planung befindliche Kernkraftwerke. Die schließt Lieferungen von Sicherheitstechnik mit ein. Deutsche Unternehmen liefern weltweit führende Technologie, mit der Kernkraftwerke mit höchster Sicherheit ausgestattet werden. Diese Technologie rettet Leben, und diese wollen Sie unseren europäischen Partnern verwehren. Sie wollen, dass aktuelle Projekte mit Sicherheitstechnik zweiter Wahl ausgestattet werden. Sie wollen, dass diese Projekte unsicher sind. ({9}) Sie wollen hier neue nukleare Zwischenfälle produzieren, um Ihre These der unsicheren Kernkraft zu untermauern. Sie spielen mit dem Schicksal und der Gesundheit unzähliger Menschen. ({10}) Es ist besonders heuchlerisch, Frau Kotting-Uhl, wenn Sie in Ihrer Rede den Schutz der einheimischen Bevölkerung thematisieren, während Sie Lieferungen aus Deutschland von bester Sicherheitstechnik für die Kernkraftwerke in Europa verweigern wollen. Sie vernichten mit Ihrem ökopopulistischen Wahnsinn Arbeitsplätze, ({11}) Wohlstand und technologische Errungenschaften, und Sie gefährden Menschenleben, nur um Bestätigung für Ihre grotesken Horrorszenarien zu produzieren. ({12}) Im Mittelpunkt Ihrer Politik steht weder Umwelt noch die Gesundheit der Menschen, sondern eine kalte, menschenverachtende Ideologie. Vielen Dank. ({13})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Dr. Nina Scheer. ({0})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schwer zu ertragen, was mein Vorredner hier alles für einen Schwachsinn erzählt hat. ({0}) Aber wenn ich jetzt alles widerlegen würde, dann bräuchte ich mehr als meine Redezeit; denn es war fast in jedem Satz Unwahres drin. Setzen wir einmal bei der Frage an, wie viele Schäden es gab. Um diese zu beantworten, braucht man nur die international verfügbaren Zahlen der Internationalen Atomenergie-Organisation heranzuziehen, die bis 2017 ({1}) – nachprüfbare Quelle – 60 Milliarden Euro an Schäden allein für die Folgen des Unfalls in Fukushima eruiert hat. ({2}) Und das sind nur die Zahlen bis 2017. Wir wissen von den Fässern mit dem Abwasser, die dort stehen. Wir wissen von den vielen Unbeherrschbarkeiten, die nach wie vor von den dortigen Kernschmelzen ausgehen. Insofern ist es einfach nur ignorant, was Sie hier darlegen. ({3}) Sie unterstellen und wollen der Menschheit weismachen, dass so etwas beherrschbar sei. Das ist einfach ekelerregend. ({4}) Wir haben aus deutscher Sicht im Kontext der Atom­energieüberwindung in der Tat noch vieles zu tun. Auch wenn wir den Atomausstieg hier schon beschlossen haben – das ist hier schon hinlänglich in den anderen Redebeiträgen deutlich geworden –, stehen wir natürlich auch vor internationalen Herausforderungen. Auf etwas, das auch schon angesprochen wurde, wollte ich etwas genauer eingehen, und zwar auf die Frage, wie es mit den internationalen Haftungsgrenzen aussieht. Wir haben internationale Vereinbarungen, wonach es Haftungsobergrenzen gibt, die so niedrig sind, dass gerade einmal eine Haftungssumme von maximal 381 Millionen Euro von einem Staat an den anderen gezahlt wird, wenn bei einem Atomunfall grenzüberschreitend Schäden auftreten. Trotz dieser im Verhältnis zur Schadenssumme sehr kleinen Zahl – ich verweise auf Fukushima –, existiert immer noch der verbreitete Irrglaube, Atomenergie sei irgendwie finanzierbar. Die Haftungsobergrenze im Verhältnis zu den realen Gefahren zeigt, dass die Risiken so hoch sind, dass die Haftung im Schadensfall nicht finanzierbar ist. Ganz zu schweigen davon – das muss man immer auch erwähnen – sind da noch die Endlagerkosten und die ganzen Folgeschäden, die wir in Deutschland mittlerweile zwar so einigermaßen sortiert haben, die wir aber immer leicht ausblenden. Wir wissen alle, dass das, was bisher getan wurde, wahrscheinlich nicht reichen wird. Obwohl wir das Nötigste rausgezogen und einen Fonds mit circa 24 Milliarden Euro bestückt haben, wissen wir, dass durch die Ewigkeitslasten, die wir haben, wahrscheinlich immer wieder Kosten auf den Steuerzahler zukommen werden und wir uns immer wieder eingestehen müssen, dass die Nachwelt zu Recht sauer auf uns sein wird – nicht nur sauer –, dass wir so etwas überhaupt erst angefangen haben. ({5}) Ich möchte noch auf ein paar andere Punkte eingehen, die uns politisch beschäftigen müssen. Von Ihnen, Frau Skudelny, ist kurz angerissen worden, dass man sich auch im internationalen Klimaschutz in der Tat immer wieder mit bestimmten Szenarien auseinandersetzen muss. Auch der Weltklimarat beschäftigt sich mit Szenarien, die von einer Atomenergienutzung ausgehen. Das muss man benennen, und zwar nicht in dem Sinne, wie ich das bei Ihnen leider ein bisschen durchgehört habe, nämlich dass Atomenergie vielleicht eine Zukunft hätte. Im Gegenteil: Das muss uns ein Warnsignal sein. ({6}) Man muss das natürlich wahrnehmen und auch ernst nehmen. Aber es darf kein Aufruf sein – es darf keine deutsche, keine europäische Beteiligung daran geben –, Klimaschutz mit Atomenergie zu betreiben. Für uns müssen die anderen Szenarien gelten. Wir müssen hervorheben, dass wir auf die anderen Szenarien setzen müssen. ({7}) Denn es darf nicht über den Klimaschutz zu einer Revitalisierung der Atomenergie und auch nicht zu einer Verharmlosung der Atomenergie kommen. ({8}) Dazu muss man sagen: Für die Wiederbelebung der Atomenergie zum Zwecke des Klimaschutzes hat Barack Obama damals 50 Milliarden US-Dollar an Subventionen in den Haushalt eingestellt. Das muss uns Warnung sein, weil das natürlich immer marktverzerrende Elemente sind und dadurch immer wieder der Eindruck erweckt wird, dass Atomenergie billig sei, was aber definitiv nicht der Fall ist. Es gibt weitere Zahlen: In einem Budgetvergleich der Jahre 1974 und 2008 wurde untersucht, wie viel international für die Atomenergie im Vergleich zur erneuerbaren Energie ausgegeben wurde. Nur 15 Prozent der weltweiten Förderung wurden in erneuerbare Energien investiert. Demgegenüber wurden 64 Prozent in die Forschung und Entwicklung der Atomenergie gesteckt, obwohl die Möglichkeiten bis dahin schon ausgeschöpft waren. Ein letzter Punkt, den ich am Ende meiner Redezeit noch aufgreifen möchte, ist: In der Tat haben wir die Aufgabe – ich bin dankbar, dass das Umweltministerium diese Aufgabe auch tatsächlich ernst nimmt –, die Brennelementefertigung und die Urananreicherung auf deutschem Boden zu beenden. Ich finde, dieses Ziel muss man weiter verfolgen. Das Bundesumweltministerium hat auch immer wieder in den Ausschusssitzungen bekräftigt, dass daran gearbeitet wird. Das soll mein letzter Satz sein, obwohl es noch vieles mehr zu sagen gäbe. Vielen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege Artur Auernhammer für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Artur Auernhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eines müssen wir hier auch einmal erwähnen: Die Kernenergie hat dazu beigetragen, dass die wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land über Jahrzehnte vorangegangen ist. ({0}) Aber: Wir haben nach den Reaktorkatastrophen vom 11. März 2011 in Fukushima und vom 26. April 1986 in Tschernobyl festgestellt, dass diese Energieform eine hochgefährliche ist und dass diese Energieform nicht zukunftsfähig ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich als Landwirt kann mich persönlich noch ganz genau an die Zeit nach Tschernobyl erinnern. Im Frühjahr freut man sich darauf, dass die Pflanzen wachsen, dass man die Weidetierhaltung in Schwung bringen kann, und plötzlich steht man vor folgender Herausforderung: Die Pflanzen auf den Feldern dürfen nicht verfüttert werden. Wir müssen untersuchen, ob sie strahlenbelastet sind. – Das zeigt uns, dass Strahlen keine Staatsgrenzen kennen. ({1}) Deshalb haben wir uns im Deutschen Bundestag dazu entschlossen, die Energiewende zu gestalten, und wir müssen alles daransetzen, dass diese Energiewende auch zum Erfolg führt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind jetzt in Deutschland in der Lage, 40 Prozent des Stromes aus erneuerbaren Energien zu liefern. Ich darf hier auch in aller Bescheidenheit anmerken, dass wir in Bayern bereits bei 45 Prozent sind. Wir müssen diesen Weg konsequent weitergehen. Das geht aber nur mit der notwendigen Akzeptanz, mit der notwendigen Marktfähigkeit, mit der notwendigen Grundlastfähigkeit und mit der Einbindung der gesamten Bevölkerung. Nur wenn diese Energiewende zum Erfolg kommt und in Deutschland ein Erfolgsmodell ist, dann ist sie auch ein Exportmodell für andere Länder, die heute noch auf Kernreaktoren setzen. Deshalb müssen wir alles daransetzen, dass wir mit der Energiewende erfolgreich sind. ({2}) – Ich muss hier doch einmal erwähnen: Der Betrieb eines Kernreaktors ist das eine, das Entsorgen dessen, was überbleibt, ist das andere. ({3}) Ich weiß nicht, ob es in Tausenden von Jahren noch einen Deutschen Bundestag geben wird – hoffentlich die eine oder andere Partei nicht mehr –, aber ich weiß, dass der Atommüll dann noch strahlen wird. Deshalb müssen wir heute daran arbeiten, Lösungen zu finden. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, denjenigen, die fordern, aus allen Programmen auszusteigen und quasi mit Gewalt unsere Nachbarländer dazu zu zwingen, aus der Kernenergie auszusteigen, sage ich: Das geht nur im Miteinander. Das geht nur dadurch, dass wir Erfolg mit unserer Energiewende haben und den anderen Ländern zeigen, wie es gelingen kann. ({5}) Gerade in der Umgebung von Deutschland sind noch viele Reaktoren am Netz, die uns beschäftigen. Auf deren Abschaltung können wir in kontrollierter Art und Weise nur hinarbeiten, wenn wir in diesen Programmen, in diesen Institutionen weiterhin aktiv bleiben. Deshalb können wir diese Anträge nur konsequent ablehnen. Danke schön. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste hat das Wort Dr. Frauke Petry als fraktionslose Abgeordnete. ({0})

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Am 11. März 2011 bebte vor Japan das Meer. Der größte Tsunami der japanischen Geschichte zerstörte weite Teile des Landes. Er hinterließ eine Trümmerlandschaft und Schäden in dreistelliger Milliardenhöhe. Nicht das Trauma der Angehörigen, nicht die Wiederaufbauleistung des japanischen Volkes stehen im Mittelpunkt der Erinnerung, sondern – damals wie heute – der Reaktor von Fukushima. Die Gedanken der Grünen gehörten und gehören nicht den Opfern oder der Unterstützung Japans, sondern noch immer ihrer politischen Propaganda. ({0}) Sie instrumentalisieren zynisch – lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen – eine Naturkatastrophe und gefährden den Industriestandort Deutschland. Sie vernichten Arbeitsplätze. Ihr Manöver ist politisch klar zu erklären: Ohne Kernenergie, ohne die Kritik daran verlieren Sie Ihr Kernthema. So fordern Sie gleich noch die europäische und weltweite Bevormundung und wollen unseren europäischen Nachbarn Ihre verfehlte Energiepolitik aufhalsen. ({1}) Diese Arroganz, die nicht nur Sie, sondern genauso die Bundesregierung zeigen, hat uns in der Euro- und Griechenland-Krise bereits Ansehen und Ruf gekostet und ist ein neuer Beweis in Richtung der europäischen Völker: Die Europäische Union soll wieder einmal deutsch geprägt sein, indem nur deutsche Ideen und Ideale gelten – oder grüne. – Einen nationalistischeren Antrag ohne wissenschaftliche und ökonomische Fundierung hätte selbst die AfD nicht einreichen können. Aber, meine Damen und Herren, Kritik an den Grünen ist wohlfeil; nicht Sie von den Grünen, sondern die Bundesregierung, CDU/CSU und SPD haben den Ausstieg aus der Kernenergie angeordnet. ({2}) Nicht Sie, sondern die Kanzlerin hat kurz vor Fukushima die Laufzeiten der Kernkraftwerke verlängert und dann durch den überstürzten Ausstieg aus der Kernkraft den Steuerzahlern Lasten in Milliardenhöhe aufgebürdet. Nicht die Grünen, sondern die CDU hat in kalter Berechnung vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg mitgezogen, um die Machtübernahme – am Ende vergeblich – zu verhindern. Und der Schaden bleibt nicht Ihnen, er bleibt den Bürgern und Steuerzahlern. Frau Merkel hat die energiepolitische Sicherheit unseres Landes auf dem Altar grüner Utopie geopfert. Wir brauchen, nein, wir dürfen Frankreich und andere Nachbarn nicht bevormunden und belehren. Nicht Frankreich, sondern Deutschland erreicht seine hochgesteckten Klimaziele bei den CO 2 -Emissionen nicht, ({3}) trotz kolossaler Energiewende, die als wirtschaftlicher, ökonomischer und ökologischer Fehlschlag enden wird. Als nächstes Kapitel der Selbstüberschätzung folgt, wenn es nach Ihnen geht, der Kohleausstieg, und nach der Debatte über Nord Stream 2 fordern die Grünen bereits das Ende des Erdgasimports. Sie, meine Damen und Herren, und auch die Bundesregierung setzen die Versorgungssicherheit und die finanzielle Belastbarkeit von Familien und Unternehmen aufs Spiel, während Sie andernorts Milliarden in die Kassen Ihrer grünen Lobbyverbände und Ökounternehmen pumpen, die aber trotzdem keine Antwort darauf geben können, wie wir die Grundlast in Deutschland sichern sollen. An die Adresse der CDU: Hier zu vertreten, Sie könnten Nuklearforschung ohne Produktion, ohne Kernkraftwerke erreichen und erhalten, ist eine politische Mogelpackung und zeugt davon, dass Sie keine Ahnung von Industrie haben. Das funktioniert vielleicht bei Schülerdemos am Freitag, nicht aber bei Fachleuten. Was wir brauchen, ist nicht das Ende der Urananreicherung, sondern deren Ausweitung. Was wir unterstützen, sind nicht Bevormundung, sondern Investition und Forschung in moderne Nukleartechnik. Was wir wollen, ist der vernünftige Ausstieg aus dem Ausstieg. Mehr Windkraft, nein danke! Mehr Kernkraft, ja bitte! ({4}): Nein!)

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Timon Gremmels für die Fraktion der SPD. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich frage mich, warum Frau Petry die AfD verlassen hat. Das war eins zu eins der gleiche Quark, den wir von der AfD gehört haben. ({0}) Nur ein Argument, weil mir meine Redezeit dafür eigentlich zu schade ist: Sie haben gesagt, mit dem Atomausstieg würden in Deutschland massenhaft Arbeitsplätze verloren gehen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die dezentralen erneuerbaren Energien schaffen ein Vielfaches der Arbeitsplätze in der Atomenergie. Nehmen Sie das einfach einmal zur Kenntnis. ({1}) Frau Skudelny von der FDP, es ist schon eine Chuzpe, sich hierhinzustellen und in einer Debatte um Atomkraft als FDP allen Ernstes das Argument der Entschädigungszahlungen an die Industrie in den Mund zu nehmen. Das haben Sie mit Bezug auf die Brennstofflieferungen nach Belgien getan. Es war doch Ihre Rolle rückwärts – erst die Laufzeitverlängerung durch Schwarz-Gelb und hinterher die Rückkehr zum Ausstieg –, die dazu geführt hat, dass die Atomenergie entschädigt werden muss. Dafür trägt Schwarz-Gelb die Verantwortung, meine sehr verehrten Damen und Herren! ({2}) Hätten wir den rot-grünen Atomausstieg vorangetrieben, wäre das in dieser Höhe überhaupt nicht notwendig gewesen. Insofern müssen wir an dieser Stelle daran erinnern: Die Verantwortung auch hinsichtlich der Kosten trägt maßgeblich die damalige schwarz-gelbe Regierung. Auch das muss an dieser Stelle gesagt werden. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Kollege Gremmels, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Skudelny?

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich gestatte sie nicht. Die Kollegin kann gerne eine Kurzintervention machen. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle eines sagen: Was wir nicht machen sollten, ist, Kohleindustrie, Klimawandel und Atomausstieg auf einmal gegeneinander ausspielen zu wollen. Das wollen wir nicht. ({1}) Leider gibt es die ersten Vertreter, auch in der Bundesregierung, die genau das machen, die den Kohleausstieg und den Atomausstieg gegeneinander ausspielen. Herr Altmaier hat vor kurzem getwittert, dass Finnland noch immer auf Atomkraftwerke setze und diese sogar ausbaue und deswegen aus Kohle viel früher aussteigen könne und dass das in Frankreich und Großbritannien ebenfalls der Fall sei. Davor warnt die SPD. Wir dürfen nicht Atomausstieg und Kohleausstieg gegeneinander ausspielen. Wir machen das, wie das Klößeessen, nacheinander: ({2}) Bis 2022 steigen wir aus der Atomkraft aus, bis 2038 aus der Kohlekraft. Beides geht und beides funktioniert. ({3}) Gleichzeitig erhalten wir gute und hochqualifizierte Arbeitsplätze in Deutschland, weil durch erneuerbare Energien Arbeitsplätze und Wertschöpfung in den Regionen geschaffen werden. Das ist gut für unser Land und gut für die Umwelt. ({4}) Lassen Sie mich am Schluss eines deutlich sagen: Die beste Werbung im Ausland gegen Atomkraft ist, dass wir die Energiewende erfolgreich hinbekommen. Wenn wir das schaffen, wenn wir da gemeinsam an einem Strang ziehen, wenn das unser Erfolgsprojekt ist, dann kann die Energiewende Made in Deutschland ein Exportschlager sein, wovon andere Länder profitieren, die dann ebenfalls aus der Atomkraft aussteigen. Davon bin ich überzeugt. ({5}) Daran arbeitet die SPD mit all ihrer Kraft. Ich danke Ihnen. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/8284 und 19/8271 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 6 c. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Atomgesetzes. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8040, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/964 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Fraktionen SPD, CDU/CSU, FDP und AfD. Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach der Geschäftsordnung die weitere Beratung bzw. Abstimmung. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 6 d. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit auf Drucksache 19/8040. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/2520 mit dem Titel „Stilllegung der Uranfabriken Gronau und Lingen – Exportverbot für Kernbrennstoffe“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Fraktionen SPD und CDU/CSU sowie FDP und AfD. Wer stimmt dagegen? – Grüne und Linke. Enthaltungen? – Liegen nicht vor. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen und der Antrag abgelehnt. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 6 e. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Kein Sicherheitsrabatt – Abschaltung der belgischen Reaktoren Tihange 2 und Doel 3 weiterhin notwendig“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8039, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/6107 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Sozialdemokraten, die Christdemokraten, die FDP und die AfD. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Enthaltungen? – Gibt es nicht. – Doch, Entschuldigung, ein fraktionsloser Kollege enthält sich. Eine Enthaltung. Damit ist trotzdem die Beschlussempfehlung angenommen und der Antrag abgelehnt.

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD sucht händeringend ihr Profil. Arbeitsminister Heil hat für die ehemalige Partei des deutschen Arbeiters jetzt tatsächlich etwas entdeckt: das Heil selbst noch von Rechtsbrechern. Lockte bisher schon die Politik der offenen Grenze samt bedingungsloser Vollversorgung Migranten aus aller Welt herbei, so soll nach Willen der SPD das Sahnehäubchen Taschengeld jetzt auch noch auf 150 Euro erhöht werden, und zwar für alle, auch für judiziert Unberechtigte. Das ist nicht nur das falsche Signal, wie auch CDU-Fraktionsvize Frei der „Bild“ sagte, sondern es zeigt auch: Das und nicht die realen Sorgen der Bürger sind die neuen Prioritäten der Genossen. ({0}) So ein Taschengeld ({1}) wird zusätzlich zum Existenzminimum gezahlt – zur Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben. CSU-Generalsekretär Blume meint, die Erhöhung „untergräbt … die Akzeptanz des Asylsystems“. Es ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Er legt das ganze Ausmaß einer unverantwortbaren, milliardenschweren Migrantenpolitik beispielhaft bloß. Nur scheinbar wird einem Gesetz entsprochen. Erst 2022 wäre es nötig, und die Ausdehnung einer Vollversorgungspflicht auf vollständig ausjudizierte Fälle von abgelehnten und ausreisepflichtigen Asylbewerbern entspricht weder Recht noch Rechtsempfinden. ({2}) Das ist der Bevölkerung schlicht nicht mehr vermittelbar, meine Damen und Herren. ({3}) Der arbeitende Bürger lernt: Mitgereiste Sechsjährige müssen 97 Euro Taschengeld pro Monat vom Staat bekommen; ({4}) weniger wäre ein Angriff auf ihre Menschenwürde. ({5}) Mancher Enkel wird das in die Verhandlungen mit seiner Oma, ob der monatliche Zehner reicht, einfließen lassen. Dabei sind Hunderttausende abgelehnter Asylbewerber unter Vorspiegelung falscher Tatsachen im Land und müssten die erschlichenen Leistungen eigentlich zurückzahlen. ({6}) Aber die Altparteien lassen für ihren Großmut einfach die arbeitende Bevölkerung zahlen. ({7}) Sie haben den Status der Berechtigung der Unberechtigten erfunden: die Duldung. ({8}) Ein Attest findet sich – gesund genug, um nach Deutschland zu laufen, aber zu krank, um zurückgeflogen zu werden. ({9}) Selbst bei dem, der kein Duldungsfall, sondern vollziehbar ausreisepflichtig ist, sich aber dem Vollzug entzieht – schmeißt sich am Flughafen auf den Boden, simuliert Herzattacke, greift sich rechts auf die Brust –, ({10}) wird die Menschenwürde ohne Kulturtaschengeld verletzt. ({11}) So ist das mit solchen kulturinteressierten Leuten: Bei der Abschiebung tauchen sie unter, bei der Abhebung von Geld tauchen sie wieder auf. ({12}) Der SPD-Arbeitsminister hat erkannt, wofür eine deutsche Arbeiterpartei eintreten muss: All die Leute müssen nicht nur weiter versorgt werden, sondern auch besser – 11 Prozent mehr. Wer, bitte, erklärt diesen Irrsinn den Bürgern, dem deutschen Arbeitslosen, der alleinerziehenden Mutter, dem Niedriglöhner, der seine Rente nicht mehr zusammenbekommt? Denen ist längst klar: Diese SPD vertritt ihre Interessen nicht mehr. Die sagen sich zu Recht: Für die tut ihr alles, für uns tut ihr nichts. ({13}) Das ist die SPD, die Heizöl und Benzin verteuern will, die einen Spurwechsel für abgelehnte Asylbewerber will, die für nur subsidiär Geschützte mehr Familiennachzug will und die die letztes Jahr nicht ausgeschöpfte Nachzugsquote dieses Jahr extra haben will. Erzählen Sie dann mal den Wohnungsuchenden, dass wir unbedingt mehr Zuzug brauchen! 170 000 Seniorinnen und Senioren können die Miete nicht mehr zahlen, aber Sie machen Quartier für immer mehr Geduldete. ({14}) Und der Berliner SPD-Bürgermeister will gar nicht mehr abschieben, sondern Duldung um jeden Preis. Die Ausländerbehörde soll ein Landesamt für Einwanderung werden. Meine Damen und Herren, diese SPD hat fertig. Die braucht mal dringend ein paar Jahre auf der Reservebank. ({15}) Meine Damen und Herren, Deutschland zahlt schon heute mit die höchsten Sozialleistungen in Europa. Sie lotsen doch damit die Menschen vorsätzlich aus Nachbarländern in Europa hierher – ({16}) Binnenmigration – und aus Afrika. In Syrien verdient ein Mensch im Schnitt monatlich 112 Euro, in Afghanistan 40 Euro, in Schwarzafrika noch weniger. ({17}) Wer will noch leben wie Gott in Frankreich, wenn er als Asylbewerber in Deutschland leben kann? ({18}) Dänemark hat auf Sachleistungen umgestellt und so die Zahl der Asylanträge drastisch reduziert. Sie geben erneut ein falsches Signal und wollen den Asylmagneten noch stärker stellen. Vergessen Sie Ihre Weltbeglückung auf Kosten des deutschen Arbeiters. Wir haben genug Bedürftige im eigenen Land. Ihnen, die berechtigt hier leben, ({19}) sollten Erhöhungen zuteilwerden. Wir, meine Damen und Herren, werden das tun. Ich danke Ihnen. ({20})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als nächster Redner hat das Wort für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Peter Weiß. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man selber nichts auf dem Kasten hat, beantragt man eine Aktuelle Stunde mit Fake News, zu gut Deutsch: mit Falschnachrichten. ({0}) Deswegen einfach und schlicht: Um was geht es? Wir haben ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das uns sehr präzise vorschreibt, wie wir die Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes zu gestalten haben. ({1}) Jetzt will ich mal Folgendes sagen: Wir als Parlamentarier sind zu Recht verpflichtet, erstens unsere Verfassung zu achten und zweitens – auch wenn es uns manchmal politisch nicht ganz passt – das zu achten, ({2}) was das Bundesverfassungsgericht als der berufene und bestellte Ausleger des Grundgesetzes uns als Gesetzgeber vorgibt. Für uns ist klar: Wir halten uns an das Grundgesetz und an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. ({3}) Dass eine Fraktion dieses Hauses offenkundig Probleme hat, sich an die Verfassung und an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu halten, ist erstaunlich. ({4}) Und ich stelle hier fest: Das weisen wir mit Empörung zurück. ({5}) Das Bundesverfassungsgericht sagt ausdrücklich, dass Artikel 1 unserer Verfassung „ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ garantiert und „diesen Anspruch als Menschenrecht“ begründet. „Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsbürgern zu, die sich in der Bundesrepublik … aufhalten.“ Der Gesetzgeber – so das Bundesverfassungsgericht weiter – „darf … bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren.“ Aber es gibt Fraktionen in diesem Haus, die es nicht nötig haben, Bundesverfassungsgerichtsurteile zu lesen, ({6}) sondern lieber aus einer Laune heraus eine Aktuelle Stunde beantragen. ({7}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, allerdings kann man und wollen wir differenzieren. Wenn wir die notwendige Anpassung des Asylbewerberleistungsgesetzes hier ins Parlament einbringen, dann werden wir gleichzeitig für abgelehnte und ausreisepflichtige Asylbewerber, also diejenigen, die nicht hierbleiben können und nicht hierbleiben sollen, vorsehen, dass sie keinen Anspruch auf volle Leistungen haben. Das ist jetzt schon die Rechtslage, und wir werden sie – so ist es geplant – noch einmal deutlich präzisieren und auch verschärfen, insbesondere, wenn solche ausreisepflichtigen Asylbewerber ihre Mitwirkungspflichten nicht wahrnehmen, beispielsweise bei der Beschaffung von Pass- und Personaldokumenten. ({8}) Das heißt: Für ausreisepflichtige Asylbewerber wird es künftig nicht mehr, sondern weniger Leistungen geben. Das ist die klare Botschaft an all diejenigen, die kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben. ({9}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, im privaten Leben und in der Politik gilt: Lügen haben kurze Beine. ({10}) Sobald die Gesetzentwürfe, über die derzeit die Bundesregierung berät, hier ins Parlament eingebracht werden, kann jeder, der des Lesens kundig ist, schwarz auf weiß nachlesen: Für den, der ausreisepflichtig ist und die Frist für die freiwillige Ausreise versäumt, wird es eng. ({11}) Wir unterscheiden klar zwischen denen, die wegen Krieg, Verfolgung und Lebensgefahr bei uns in Deutschland bleiben dürfen und denen wir selbstverständlich Schutz gewähren, und denen, die zur Ausreise verpflichtet sind. Diese klare Trennung ist das, was die Bürgerinnen und Bürger zu Recht von uns erwarten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt keine Notwendigkeit, Aktuelle Stunden zu Fake News, also Falschnachrichten, zu beantragen, sondern es reicht aus, Gesetzestexte zu lesen, die wir demnächst hier im Deutschen Bundestag beraten können. Vielen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Konstantin Kuhle für die Fraktion der FDP. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Februar war ein guter Monat für die politischen Debatten in Deutschland; denn in dieser Zeit haben sich unterschiedliche Parteien, unterschiedliche Fraktionen in der deutschen Öffentlichkeit über ein Thema unterhalten, das eine persönliche Relevanz für das Leben vieler Menschen in Deutschland hat, das für viele Menschen wichtig ist. Das ist das Thema Altersarmut, das ist das Thema Rente. ({0}) Dass wir uns darüber unterhalten haben, hatte einen positiven Nebeneffekt. Das hatte den Nebeneffekt, dass die Umfragewerte für die AfD runtergegangen sind. Jetzt haben wir Mitte März, und es sind noch zweieinhalb Monate bis zur Europawahl. Deswegen bleibt der AfD natürlich nichts anderes übrig, ({1}) als hier eine Aktuelle Stunde zu beantragen, in der über irgendetwas mit Islam, Ausländern, Flüchtlingen, Migration diskutiert wird. Irgendeines dieser Themen muss hier aufs Tableau gehoben werden, damit die Debatte ein bisschen angeheizt werden kann und wir im Europawahlkampf wieder eine hitzige Flüchtlingsdiskussion haben; denn das ist das Einzige, was die können. Sachliche Vorschläge zum Thema Rente oder Flüchtlinge? Fehlanzeige! ({2}) Meine Damen und Herren, wir sollten denen nicht den Gefallen tun, aus dem Europawahlkampf ein Wählerbeschaffungsprogramm für die AfD zu machen. Deswegen haben wir alle miteinander die Verantwortung, unsere Hausaufgaben im Bereich der Migrationspolitik zu erledigen. ({3}) Worum geht es in der Sache? In der Sache geht es um den sogenannten notwendigen persönlichen Bedarf – der muss nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angepasst werden; das ist auch völlig klar –, und zwar von Asylbewerbern. In dem Wort „Asylbewerber“ steckt eigentlich schon drin, worum es sich hierbei handelt, nämlich um Menschen, bei denen noch nicht klar ist, ob sie ein Bleiberecht haben oder ob sie kein Bleiberecht haben. Diese Definition führt uns aus Sicht der Freien Demokraten schon zum wichtigsten Ziel: Der Status des Asylbewerbers muss sich auf eine Gruppe erstrecken, die möglichst klein ist, und der Zeitraum mit diesem Status muss möglichst kurz andauern. Es muss klar sein: Wer ein Bleiberecht hat, kann in Deutschland bleiben und muss schnellstmöglich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, und wer kein Bleiberecht hat, muss Deutschland schnellstmöglich verlassen. Die Menschen ewig lange in diesem Status des Asylbewerbers zu belassen, das ist doch das Problem. Wenn wir das nicht klären, dann können wir das Ganze auch einfach über Sachleistungen regeln. Dann brauchen wir nicht über eine Verfestigung des Status des Asylbewerbers zu reden. Da müssen wir ran. Deswegen müssen die Fraktionen, die hier versammelt sind, auch im Bereich der Migration ihre Hausaufgaben machen. ({4}) Was muss geschehen? Zunächst muss es zu einer Beschleunigung der Verfahren kommen. Wenn wir über eine Beschleunigung der Verfahren sprechen – wie bekommen wir es hin, dass schneller klar ist, ob jemand als Flüchtling anzuerkennen ist oder nicht? –, dann müssen wir auch sagen: Es ist wichtig, dass Staaten wie die Maghreb-Staaten oder Georgien endlich zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden. ({5}) Da müssen Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, Ihre Blockadehaltung aufgeben. Auch Sie haben eine Verantwortung dafür, meine Damen und Herren von den Grünen, dass aus dem Europawahlkampf kein Wählerbeschaffungsprogramm für die AfD wird. Das ist Ihre Verantwortung. Wir sollten gemeinsam hier entscheiden und dafür sorgen, dass die Asylverfahren beschleunigt werden, dass wir da vorankommen. ({6}) Meine Damen und Herren von der SPD, auch Sie haben eine Verantwortung, wenn es darum geht, die Asylverfahren zu beschleunigen; denn die Frage der Rechtsklarheit hängt immer auch zusammen mit der Frage nach der Beschleunigung der Verfahren. Und ein ganz wesentlicher Beitrag zur Rechtsklarheit wäre doch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, über das zwischen den Koalitionsparteien jetzt verhandelt wird. Lassen Sie sich da bitte nicht von der Union über den Tisch ziehen, ({7}) sondern legen Sie noch vor der Europawahl den Entwurf eines Fachkräfteeinwanderungsgesetzes vor. Wir müssen darüber nicht nur im Innenausschuss debattieren, sondern wir sollten darüber auch noch vor der Europawahl im Plenum des Deutschen Bundestages entscheiden, damit wir den Menschen noch vor der Europawahl zeigen können: Wir sind in der Lage, in der Migrationsfrage für Rechtsklarheit zu sorgen. Deswegen gehört das Fachkräfteeinwanderungsgesetz hier auf den Tisch. Machen Sie der Union Druck, und lassen Sie sich nicht über den Tisch ziehen, meine Damen und Herren von der SPD! ({8}) Was die Union angeht, haben wir gestern im Innenausschuss wahrgenommen, dass es jetzt einen neuen Konnex gibt, ein Junktim zwischen dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf der einen Seite und dem sogenannten Geordnete-Rückkehr-Gesetz auf der anderen Seite. Ich dachte immer, das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist die Gegenleistung für Herrn Maaßen. ({9}) Da wird jetzt offensichtlich noch was anderes draufgepackt und ein neues Junktim aufgemacht. Ich will dazu nur so viel sagen: Wir als Fraktion der Freien Demokraten haben überhaupt nichts dagegen, wenn der Staat seine Bemühungen intensiviert, dass Menschen, die ausreisepflichtig sind, auch zurückgehen oder abgeschoben werden. Aber dann sorgen Sie, meine Damen und Herren von der Union, auch dafür, dass die Abschiebehaftplätze in den Ländern auch ausgenutzt werden. Und sorgen Sie in einem zweiten Schritt dafür, dass es mehr Abschiebehaftplätze gibt. Es ist wie immer: Das geltende Recht muss angewandt werden. ({10}) Wir brauchen auch im Bereich der Abschiebung keine neuen Gesetzesverschärfungen, wie Sie sie hier vorschlagen, sondern eine Durchsetzung des geltenden Rechts. Wenn Sie diese Aufgaben erledigen, dann werden wir erleben, dass die Gruppe der Asylbewerber, über die wir hier sprechen, kleiner und die Dauer der Asylverfahren weiter verkürzt wird. Dann entpuppt sich diese Debatte als eine Randdebatte, die nichts mit den wahren Problemen in diesem Land zu tun hat. Wir sollten weiter über Fragen diskutieren, die den Menschen wirklich auf der Seele brennen, und hier der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgen. Vielen Dank. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Susann Rüthrich. ({0})

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine älteste Tochter ist jetzt Schulkind. Sie bekommt Taschengeld. Das Kind freut sich darüber. Wenn wir hier von „Taschengeld für Asylbewerberinnen und Asylbewerber“ reden, muss ich sagen: Wir reden von erwachsenen Menschen, von Menschen, die nichts lieber wollen, als auf eigenen Beinen zu stehen, die ihr eigenes Geld verdienen wollen, um ihre Familien selber ernähren zu können. ({0}) Dieses Geld ist für den notwendigen persönlichen Bedarf; so heißt diese Leistung nämlich eigentlich. Das sagt, worum es hier geht: Das steht diesen Menschen zu; das ist kein Almosen, sondern ein Rechtsanspruch. Statt über dessen Höhe zu jammern, lassen Sie uns endlich einmal dafür sorgen, dass auch die zu uns Geflüchteten schnell auf eigenen Beinen stehen können, dass sie ihr eigenes Geld verdienen. ({1}) Dazu habe ich von Ihnen von der AfD noch nie auch nur einen einzigen konstruktiven Vorschlag gehört. Fangen Sie doch endlich mal an, für irgendein Problem in diesem Land eine zumindest halbwegs plausible Lösung vorzuschlagen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, versetzen wir uns doch mal in die Lage derer, denen Sie hier nicht die Busfahrkarte, die Briefmarke, das Buch oder die Kosten für ein Telefonat gönnen: Einen Platz im Sprachkurs oder im Integrationskurs zu bekommen, das dauert mal locker ein halbes Jahr – nach der Anerkennung, wohlgemerkt. Ob ich das Glück habe, dass in der Zeit auch mein Kind betreut wird, hängt davon ab, wo ich wohne und ob ein Platz frei ist. Ob ich mich auf den Kurs einlassen kann, wenn ich Angst um meine Familie, um mein Kind, um meinen Mann haben muss? Schwierig! Der Handwerksmeister nebenan würde mich zwar einstellen, aber er sagt: Ich investiere doch nicht in deine Ausbildung, und dann wirst du abgeschoben. – Genau deshalb kämpfen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dafür, dass Leute, die hier Arbeit haben oder in Ausbildung sind, bleiben können; weil das gut für alle ist und weil das einfach vernünftig ist. ({3}) Ob ich hier eine Chance bekomme, ist fraglich, wenn ich gar niemanden kennenlernen kann, weil ich für Monate – künftig vielleicht für Jahre – in einer Massenunterkunft verwahrt werde. Und dann werfen Sie mir vor, dass ich den notwendigen persönlichen Bedarf aus dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalte. Im Ernst? Sie wollen verhindern, dass sich diese Familien bei uns integrieren können, nur um ihnen dann vorzuhalten, dass sie nicht ihr eigenes Geld verdienen. Wie schäbig! ({4}) Die jetzt maximal 135 Euro für den notwendigen persönlichen Bedarf sollen nun nach drei Jahren ohne Anpassung an die steigenden Kosten auf 150 Euro angehoben werden. So lesen wir das in den Zeitungen. Na, herzlichen Glückwunsch! Das wäre eigentlich jährlich nötig. Eine jährliche Erhöhung wäre Ihnen wahrscheinlich am allerliebsten; denn dann könnten Sie jedes Jahr eine solche Aktuelle Stunde abhalten, die zu nichts anderem gut ist, als wieder einmal schlecht über andere Menschen zu reden und Ängste zu schüren. ({5}) Das ist ja Ihr einziges Lebenselixier. ({6}) Im Übrigen gibt es dazu noch nicht einmal einen aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der den Bundestag erreicht hätte. Es sei denn, Sie haben dazu nähere Informationen, sind näher dran als wir anderen. Dann teilen Sie doch bitte Ihre tiefer gehenden Erkenntnisse mit uns. ({7}) Denken Sie im Ernst, dass irgendwer in Eritrea, im Irak, in Bangladesch, Tschetschenien, Kolumbien, dass irgendwer in den Fluchtländern die deutsche Tageszeitung liest und sich dann denkt: Toll, jetzt gibt es da 15 Euro mehr, jetzt lohnt es sich doch, mein Leben auf der Flucht zu riskieren, alles hinter mir zu lassen, auf Monate und Jahre unterwegs zu sein, nur um nach Deutschland zu kommen. – Als wenn das die Flucht auslösen würde! ({8}) Als wenn das die Entscheidung für diese Menschen erleichtern würde! Als wenn das der einzige Grund wäre, weshalb man in Deutschland einen Asylantrag stellen möchte! Vielleicht liegt das ja auch daran, dass diese Menschen zu Recht bei uns auf rechtsstaatliche Verfahren und auf einen angemessenen Umgang hoffen dürfen. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind mitten in den Internationalen Wochen gegen Rassismus. Eine Aktuelle Stunde dazu wäre den Problemen und Sorgen vieler hier im Land wahrscheinlicher angemessener gewesen, als ausgerechnet jetzt wieder den bösen, kriminellen Anderen aus der Tüte zu holen. Es spaltet unsere Gesellschaft, wenn die Unterschiede zwischen uns immer mehr vertieft werden. Sie spalten die Gesellschaft! ({10}) Wir dagegen wollen eine faire, eine rechtsstaatliche, eine mitmenschliche Politik und eben auch eine solche Asylpolitik. Wir wollen endlich ein richtiges Einwanderungsgesetz, das diesen Namen auch verdient. Wir wollen auch, dass sich alle im Land sicher sein können, nicht in Armut und sozialer Not leben zu müssen. Deshalb brauchen wir Kindergrundsicherung, Bürgergeld, anständige Arbeit und am Ende des Arbeitslebens eine anständige Rente. ({11}) Sie werten Menschen ab, ({12}) wie auch immer Sie dann noch in den Spiegel gucken können. Wir reichen lieber unseren Mitmenschen die Hand. Und dafür Glück auf! ({13})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat zeigt schon der Titel dieser Aktuellen Stunde, welche verfassungswidrige Haltung die AfD hier erneut hineinbringt. ({0}) Das ist einfach nur schäbig und widerlich. Der Kollege Weiß hat zu Recht auf das Verfassungsgerichtsurteil von 2012 verwiesen. ({1}) Herr Kollege Weiß, das Verfassungsgericht hat aber auch sehr deutlich gemacht, dass – ich zitiere – die Menschenwürde migrationspolitisch nicht relativiert werden darf. ({2}) Sie haben jetzt ankündigt, dass Sie erneute Repressionen planen. Wir haben das ja schon in einem ersten Entwurf lesen dürfen. Dazu muss ich Ihnen sagen: Es gibt immer wieder viele Gründe, warum Menschen aus diesem Land nicht ausreisen können. Nehmen Sie das auch einmal zur Kenntnis, und schaffen Sie hier nicht ständig ein Misstrauen. Denn die Mitwirkungspflicht kann unter Umständen auch einfach daran scheitern, dass man aus einem Land kommt, in dem man gar keine Papiere bekommt, wie das zum Beispiel in Syrien oder anderen Ländern der Fall ist. ({3}) Herr Weiß, wie Sie auch ganz genau wissen, hat die Bundesregierung erst kürzlich zugegeben, dass nach ihrer Auffassung das menschenwürdige Existenzminimum nicht gesichert ist. In diesem Zusammenhang ist doch der eigentliche Skandal, dass dieses niedrige Taschengeld von 135 Euro erst jetzt nach drei Jahren auf 150 Euro erhöht wird. Das ist doch nahezu lächerlich. ({4}) Denn – das hat Herr Weiß hier auch gesagt – der Bund hat sich sogar verpflichtet, die Leistungen der Asylsuchenden jährlich an die Inflation anzupassen. ({5}) Das wäre seit 2016 notwendig gewesen. Alleinstehende Erwachsene sollen künftig mit 150 Euro – bislang waren es 135 Euro – Taschengeld auskommen. Zwar werden Unterkunft und Verpflegung bezahlt. Aber was muss von dem Taschengeld alles bezahlt werden? Zum Beispiel Handykarten, Bustickets, Zigaretten. ({6}) – Ja, da lachen Sie. Das müssen gerade diejenigen tun, die zurzeit in Spendenaffären ersticken und ihre Kohle von den Reichen abzocken. ({7}) Selbst Medikamente, die von den Kassen nicht bezahlt werden, müssen von diesen Geldern bezahlt werden. Da bleibt für Freizeit, Kultur oder dafür, auch einmal einen Kaffee mit Freunden zu trinken, nicht allzu viel übrig. Meine Damen und Herren, so darf Integration in unserem Land nicht aussehen. ({8}) Stattdessen hören wir ja auch aus Bayern Töne. Ich will einmal daran erinnern, dass CSU-Generalsekretär Markus Blume gesagt hat – ich zitiere –: Das Asylrecht ist für Schutzsuchende, nicht für Taschengeldsuchende. ({9}) Auch damit wird meiner Meinung nach wieder einmal ein Grundmisstrauen gegenüber Schutzsuchenden vorgetragen. Das ist einfach unerträglich. ({10}) Ich will noch ein weiteres Beispiel aus Bayern bringen. In Bamberg hat das Sozialamt Flüchtlingen, die trotz der Dublin-Regelungen hier sind, das Taschengeld entzogen, also gar kein Bargeld mehr ausgezahlt. Als Begründung hieß es, Betroffene seien nur nach Deutschland weitergereist, um hier Sozialleistungen abzukassieren. Das Bayerische Landessozialgericht hat diese illegale Praxis zurückgewiesen. Das Geld muss gezahlt werden. Auch hier zeigt sich wieder, wo Sie stehen, wenn Sie so etwas bejubeln. Meine Damen und Herren, Menschen fliehen nicht, weil sie sich ein Taschengeld erhoffen, ({11}) sondern weil sie Schutz suchen ({12}) vor Krieg, vor Verfolgung und vor Armut. ({13}) Das sollten auch ganz besonders Sie von der AfD sich einmal hinter die Ohren schreiben. ({14}) Insbesondere das Asylbewerberleistungsgesetz macht Geflüchtete sozialpolitisch ohnehin schon zu Menschen dritter Klasse. Es drängt Flüchtlinge mit Regelsätzen unter dem Hartz-Niveau weiter unter das Existenzminimum; es schließt Asylsuchende von einer umfassenden medizinischen Versorgung aus; es entmündigt sie durch das Sachleistungsprinzip. Deshalb muss das Asylbewerberleistungsgesetz endlich abgeschafft werden, wie Grüne und Linke das schon seit vielen Jahren fordern. ({15}) Meine Damen und Herren, was die AfD hier aufführt, ist eine ganz miese Nummer. Denn wenn jemand Sozialneid schürt und hier auch nicht nur ein einziges Mal eine Debatte führt, die irgendwie nach vorne bringt, ({16}) aber gleichzeitig als Partei ständig Steuergeschenke annimmt, ist das wirklich schändlich. Meines Erachtens bräuchten wir hier eine Debatte darüber, wie man für die Reichen und die Superreichen einmal die Steuern erhöht, beispielsweise indem man eine Millionärssteuer einführt. ({17}) Dann könnte man wirklich für alle – ich betone: alle – Bedürftigen in diesem Land die Lage verbessern. ({18}) Das wäre das, was wirklich vorantreibt – und nicht die Spendenabzocker und Betrüger, Frau Weidel, die solche Dinge abziehen wie Sie. Es ist einfach nur schändlich, den Ärmsten in diesem Land auch noch die paar Euro zu nehmen. ({19}) Sie sollten sich wirklich dafür schämen, dass Sie Zehntausende, fast Hunderttausende von Reichen abzocken und nicht einmal dazu stehen. ({20})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Jelpke, jetzt ist die Redezeit aber wirklich um. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Filiz Polat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Asylbewerberleistungsgesetz macht Geflüchtete in diesem Land zu Menschen dritter Klasse. Anders als der Titel der Aktuellen Stunde – Frau Jelpke hat es gesagt – vermuten lässt, geht es mitnichten um ein Taschengeld. Es geht um ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, ({0}) und zwar abgeleitet – ich erwähne es noch einmal als Nachhilfe für Sie, Herr Gauland – ({1}) aus unserer Verfassung: Artikel 1, Menschenwürde, und Artikel 20, Sozialstaatsprinzip. ({2}) Die Bundesregierung ist somit gesetzlich verpflichtet, die Asylbewerberleistungen regelmäßig anzupassen. Sie könnte es im Übrigen auch jetzt schon ohne eine Gesetzesänderung tun. Vor diesem Hintergrund ist die von Unionskollegen öffentlich losgetretene Debatte zynisch, meine Damen und Herren. Herr Weiß, bei uns entsteht der Eindruck, dass der Appell, den Sie gerade losgelassen haben, unsere Verfassung zu achten, an die Adresse Ihrer eigenen Fraktion gerichtet war. ({3}) Denn gemessen am Bundesverfassungsgerichtsurteil – hören Sie gut zu – zum ALG II von 2010 zeigt sich doch, dass den noch viel niedrigeren Beträgen des Asylbewerberleistungsgesetzes eine Bemessungsgrundlage, die ja beim ALG II bezüglich ihrer Auslegung kritisiert wird, gänzlich fehlt. Sie fehlt gänzlich. Es gibt keine. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist auch in vielen weiteren Punkten verfassungsrechtlich sehr bedenklich. Das verschweigen Sie. Dies betrifft beispielsweise das Sachleistungsprinzip, die Bezugsdauer, die betroffenen Personengruppen sowie die Krankenbehandlung. Schauen Sie einmal in Ihre Gesetzesbegründung von 1993. Die haben Sie wohl vergessen. ({4}) Die Einschränkung der Krankenbehandlung auf eine Art Notfallversorgung und die damit verbundene restriktive Praxis führen oftmals zur Verschleppung von Krankheiten und deren Chronifizierung. Da brauchen Sie gar nicht zu grinsen. ({5}) Selbst bei Kindern, insbesondere bei Eingliederungshilfen für Kinder mit Behinderung, sind die Leistungen erheblich reduziert. Das vergessen Sie. Ich will auch noch einmal Folgendes festhalten, weil Sie immer von ausreisepflichtigen Personen sprechen: Wir sprechen hier von den Geduldeten, für die Sie jetzt eine zusätzliche gesetzliche Grundlage schaffen, damit sie in Arbeit bleiben können. Wir sprechen nämlich von denjenigen, die schon seit vier, sechs, acht Jahren hier sind, weil sie aufgrund des Systemversagens beim BAMF lange im Asylverfahrenssystem hingen und jetzt faktisch Inländer geworden sind. Sie haben 2016 die Unternehmen aufgerufen, diese Menschen in die Unternehmen zu integrieren. Das haben die Unternehmen gemacht. Diese Menschen mit einer Duldung sitzen jetzt in Baden-Württemberg an den Werkbänken. Sie wollen diese Menschen eigentlich abschieben. Auf der anderen Seite diskutieren wir über eine Beschäftigungsduldung, damit Menschen hierbleiben können. Das Ganze ist also ein wenig schizophren in dieser Debatte, meine Damen und Herren. ({6}) Kinder werden nachhaltig geschädigt, weil therapeutische Hilfen für chronisch kranke, besonders förderungsbedürftige und Kinder mit Behinderung verschleppt und verweigert werden. Kinder werden in unzulässiger Weise zu Objekten migrationspolitischer Steuerungs- und Sanktionsmaßnahmen, die eigentlich, vielleicht, in ihrer Begründung auf das Verhalten ihrer Eltern abzielen. Sie konstruieren damit aber eine Sippenhaft. ({7}) Um das auch noch einmal zu betonen: Bei den Geduldeten sind fast 60 Prozent Kinder und Jugendliche. Dennoch will das Bundesministerium für Arbeit und Soziales am alten System grundsätzlich festhalten – obwohl schon der Name des Gesetzes eine Mogelpackung bleibt, wie Pro Asyl zu Recht feststellt. Es geht nämlich nicht, Konstantin Kuhle, nur um Asylbewerberinnen, Asylsuchende, die im Verfahren sind, und es geht auch nicht nur um Geduldete, die ausreisepflichtig sind. Nein – und das wissen viele nicht –, es geht auch um die Menschen, die bereits einen Aufenthaltstitel haben, nämlich aus humanitären Gründen. Die haben Sie nämlich mit erfasst im Asylbewerberleistungsgesetz, und das ist aus unserer Sicht absolut abzulehnen, meine Damen und Herren. ({8}) – Die sollen arbeiten? Dann sagen Sie mal Ihren Kollegen, auch in NRW, dass sie keine Arbeitsverbote erteilen sollen. ({9}) Es wird leider nicht statistisch erfasst, wie viele Menschen ein Arbeitsverbot in Deutschland haben, obwohl sie arbeiten wollen. ({10}) Sie lassen die Menschen im Transfersystem versauern. Die Leute wollen arbeiten, meine Damen und Herren. ({11}) – Melden Sie sich zu einer Frage, Herr Kuhle! ({12}) Herrn Minister Heil und den Kollegen der SPD möchte ich deshalb ein Zitat Ihres niedersächsischen SPD-Kollegen, Innenminister Pistorius – er hat im Übrigen heute Geburtstag –, nicht vorenthalten. Er hat im Landtag gesagt: Wir brauchen den Wegfall des Asylbewerberleistungsgesetzes. Meine Damen und Herren, recht hat er, und die SPD im Bund sollte sich an dieser Forderung ein Beispiel nehmen! ({13}) Aber das BMAS will nicht nur an einem diskriminierenden Sondergesetz festhalten, sondern – wir haben es gehört – Sie schieben die nächste Neuberechnung auf 2020. Für die Betroffenen bedeutet dies einen nicht hinnehmbaren Einschnitt in ihre verfassungsrechtlich garantierte Würde. Die Betroffenen müssen vor Gericht ihre Leistungsanpassung mühselig einklagen. Meine Damen und Herren, ein breites Bündnis aus Wohlfahrtsverbänden, Pro Asyl und vielen weiteren zivilgesellschaftlichen Akteuren spricht sich deshalb nachdrücklich für eine vollständige Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes aus. Diese Forderung teilt Bündnis 90/Die Grünen. Meine Damen und Herren, eine Menschenwürde mit Rabatt widerspricht dem Sozialstaatsprinzip und lässt sich mit dem Grundgesetz nicht vereinbaren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei für die Fraktion CDU/CSU. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Polat, das war wirklich ein witziger Auftritt, den Sie hier geliefert haben. Sie beklagen, dass das Gesetz zur Anpassung der Asylbewerberleistungen 2016 nicht in Kraft getreten ist. Das ist aber den Grünen zu verdanken. Deswegen ist Ihr Beitrag im Grunde an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten. ({0}) Aber der entscheidende Punkt ist doch, dass man auch diese Frage in einen größeren Zusammenhang rücken muss. ({1}) Wenn wir die Zielsetzung haben, dass wir die Zahl der Schutzsuchenden in Deutschland reduzieren möchten, wenn wir die Zielsetzung haben, dass abgelehnte Asylbewerber unser Land auch wieder verlassen, und wenn wir die Zielsetzung haben, dass die Migration die gesellschaftliche Akzeptanz nicht untergräbt und die Integrationsfähigkeit nicht überfordert, ({2}) dann müssen wir mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen reagieren. Im Grunde genommen hat der Kollege Peter Weiß sehr gut dargelegt, wie wir in dieser Situation reagieren können und dass es letztlich um Mosaiksteine in einem ganzen Maßnahmenbündel geht. Deswegen würde ich gerne den Zusammenhang noch einmal herstellen: Es geht ja nicht nur darum, dass man bestimmte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz anzupassen hat, sondern wir haben darüber hinaus natürlich auch den gesetzlichen und politischen Spielraum, andere Leistungen so zu kürzen, dass Sozialleistungen in Deutschland nicht wie ein Pull-Faktor wirken, sondern der Aufgabe gerecht werden, die sie tatsächlich haben. ({3}) Ein Beispiel ist die Bezugsdauer der Asylbewerberleistungen. Da würde ich einen vollkommen anderen Weg einschlagen als Sie. Nach aktueller Rechtslage beträgt in Deutschland die Bezugsdauer der niedrigeren Asylbewerberleistungen 15 Monate. Es ist mitnichten so, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung gesagt hat, dass 15 Monate der richtige Zeitraum sind. Es hat lediglich gesagt, dass 48 Monate zu lange sind. Deswegen haben wir da natürlich einen politischen Spielraum, die Asylbewerberleistungen über einen deutlich längeren Zeitraum zu zahlen, als es derzeit der Fall ist. Peter Weiß ist auf einen anderen Punkt eingegangen, nämlich darauf, dass wir dabei auch unterscheiden müssen zwischen denen, die ein Bleiberecht haben, und denen, die dieses Bleiberecht nicht haben. ({4}) Genau das werden wir mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz auch tatsächlich in geltendes Recht umsetzen. ({5}) – Wie Sie vorhin richtigerweise gesagt haben, darf man in einer Aktuellen Stunde keine Fragen stellen; sonst hätte ich die Frage gerne zugelassen. Ein weiterer Punkt, den wir ansprechen müssen, sind die Dublin-III-Flüchtlinge. Wir haben im letzten Jahr 55 000 Überstellungsersuche in andere EU-Staaten gehabt. Das waren 55 000 Fälle, in denen Asylbewerber bereits in einem anderen europäischen Land einen Asylantrag gestellt haben. Ich bin davon überzeugt: Wenn wir Binnenmigration in Europa in den Griff bekommen wollen, sollten wir Asylbewerbersozialleistungen für Dublin-III-Fälle auf null reduzieren. Das ist das einzige – und wirksame – Mittel, um Binnenmigration in Europa zu verhindern. Es würde im Übrigen auch einem Wertungswiderspruch gerecht werden: wenn wir beispielsweise für EU-Bürger, die nach Deutschland kommen, um hier einen Arbeitsplatz zu suchen, Sozialleistungen versagen. Auch das wäre ein Punkt, wo wir reagieren könnten und, glaube ich, sehr wirksam unsere Ziele erreichen könnten. Darüber hinaus – das will ich an dieser Stelle auch sagen – möchten wir, wenn wir uns mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz beschäftigen, auch für diejenigen, die Sozialleistungsmissbrauch betreiben, eine angemessene Antwort finden. Wir haben in den vergangenen Monaten immer wieder Beispiele gehört, wie Sozialleistungen durch Mehrfachidentitäten erschlichen worden sind. Auch darauf brauchen wir eine Antwort. Das ist nicht nur unfair und inakzeptabel gegenüber dem Gastland, sondern letztlich auch gegenüber all den Flüchtlingen, die sich hier ordentlich und anständig verhalten und bei uns den Schutz suchen, den sie auch bekommen. ({6}) Wir werden – das haben wir mit den Sozialdemokraten im Koalitionsvertrag auch vereinbart – klar konstituieren, dass dort, wo Sozialleistungsmissbrauch stattfindet, auch ein überwiegendes Ausweisungsinteresse vorliegt, damit wir da auch entsprechend reagieren können. Ich will im Übrigen darauf hinweisen, dass die Punkte, die ich angesprochen habe, nicht im luftleeren Raum stattfinden, sondern dass es dazu Beschlüsse gibt, die die Ministerpräsidentenkonferenz am 5. Dezember in dieser Fassung getroffen hat: In einer 16-zu-0-Entscheidung – und soweit ich weiß, gibt es auch einen Linken-Ministerpräsidenten und einen Grünen-Ministerpräsidenten – wird die Bundesregierung aufgefordert, § 1a des Asylbewerberleistungsgesetzes so zu ändern, dass abgesenkte Leistungen möglich sind. In diesem Sinne, glaube ich, sind die Ministerpräsidenten sehr nah an der Realität, und das sollte uns doch auch hier im Deutschen Bundestag zu denken geben. Herzlichen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Martin Sichert für die Fraktion der AfD. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wertes Präsidium! Meine Damen und Herren! Während wir in vielen anderen Bereichen in Deutschland hinterherhinken, sind wir beim Taschengeld für Asylbewerber tatsächlich Spitzenreiter. ({0}) Im reichen Luxemburg liegt es bei 25 Euro, in Österreich bei 40 Euro und selbst im so armutszuwandererfreundlichen Schweden bei 70 Euro. Hierzulande sind wir bereits jetzt bei 135 Euro, die Sie von der SPD weiter, auf 150 Euro, erhöhen wollen. Bei der Rente hingegen liegen wir weit unter dem OECD-Durchschnitt bei der Ersatzquote. ({1}) In kaum einem anderen Land der Erde bekommen die Menschen weniger Rente als in Deutschland. Im Ergebnis rutschen folglich immer mehr Deutsche in Altersarmut ab. Viele Rentner haben weniger als 150 Euro im Monat zur freien Verfügung. Wohnung, Essen, Kleidung, Zuzahlungen beim Arzt und andere Dinge, die Asylbewerber kostenlos bekommen, müssen die Rentner nämlich selbst bezahlen, selbst wenn die Rente unter dem Existenzniveau liegt. ({2}) Die Rentner haben im Gegensatz zu den Asylbewerbern ihr Leben in Deutschland verbracht, hierzulande Jahrzehnte gearbeitet und Steuern gezahlt. Nach einem langen Erwerbsleben müssen sie schauen, wie sie mit einer mickrigen Rente über die Runden kommen, während Asylbewerber bereits jetzt ein Vielfaches des Taschengelds bekommen, was sie in anderen europäischen Ländern bekommen würden. Während Ausländer jedes Jahr etliche Milliarden in ihre Heimatländer transferieren, können sich viele Rentner nicht einmal die Geschenke für ihre Enkel zum Geburtstag oder zu Weihnachten leisten. ({3}) Wir haben vorhin schon Beispiele aus Bayern gehört. Ich will eins hinzufügen. In meiner Heimatstadt, in Nürnberg, gibt es einen Vater von fünf Kindern, der voll berufstätig und obdachlos ist. Warum ist er obdachlos? Weil er durch die Unterhaltszahlungen für seine Kinder so wenig Geld hat, dass er sich die Miete spart, um seinen Kindern wenigstens ab und zu mal was gönnen zu können. Das ist die bittere Realität in Deutschland. Alles, was Ihnen als SPD dazu einfällt, ist, für Asylbewerber, die in Deutschland eh schon weit mehr Leistungen als in anderen europäischen Ländern bekommen, zusätzlich das Taschengeld zu erhöhen. Wo ist denn die soziale Gerechtigkeit, von der Sie immer reden? Wo ist sie? ({4}) Ich will Ihnen sagen, wo die soziale Gerechtigkeit in diesem Land ist. Sie sitzt nämlich da drüben. ({5}) Wir sind der Anwalt all der braven, ehrlichen und fleißigen Menschen im Land. ({6}) Wie wollen Sie denn den Bürgern Ihre Politik erklären? Der kleine Mann, der die SPD einst großgemacht hat, der wendet sich doch heute mit Grausen ab. ({7}) Um satte 11 Prozent wollen Sie das Taschengeld für Asylbewerber erhöhen – 11 Prozent! Wann wurde denn das letzte Mal das Kindergeld um 11 Prozent erhöht, und wann die Rente? ({8}) Und warum denken Sie ständig über neue Wohltaten für Armutszuwanderer nach, anstatt sich endlich um arme Deutsche zu kümmern? Wenn man ein bisschen nachdenkt und nicht ständig laut rumschreit, dann wird ganz klar, warum Sie das tun: Sie wollen nämlich gar keine Politik, die für die Bürger gut ist oder die die Bürger verstehen können, sondern Sie wollen bewusst den Rassismus im Land schüren. ({9}) Je mehr Sie Asylbewerbern zukommen lassen und je mehr Deutsche zugleich in Armut abrutschen, desto mehr spalten Sie die Gesellschaft, desto mehr schüren Sie den Neid, und desto mehr schüren Sie die Fremdenfeindlichkeit. ({10}) Ja, Sie von der SPD sind die Partei, ({11}) die bei uns im Land ganz an vorderster Front Fremdenfeindlichkeit und Rassismus schürt. Leider sind Sie damit nicht allein; ({12}) denn die Linken und die Grünen machen da immer mit großer Begeisterung mit. ({13}) Wir wissen auch, warum sie das tun: damit Sie gute Argumente haben, ihre Freunde von der Amadeu-­Antonio-Stiftung, von der Antifa und den zahllosen Orga­nisationen gegen rechts mit sicheren Posten zu versorgen – lauter Gestalten, denen Sie sehr nahestehen und die wie viele von Ihnen völlig untauglich für das normale Berufsleben sind. ({14}) Sie brauchen den Rassismus, den Sie schüren, damit Sie den Menschen weiter Angst machen können und Ihre Existenzberechtigung aus dem Kampf gegen rechts ziehen können. Das ist nämlich die einzige Existenzberechtigung, die die SPD heute noch hat; denn den kleinen Mann haben Sie schon längst aufgegeben. ({15}) Der kleine Mann ist bei Ihnen nur jemand, den Sie ausquetschen wie eine Zitrone, solange noch ein bisschen Saft vorhanden ist, und wenn dann irgendwann nichts mehr zu holen ist, dann muss er selbst schauen, wie er über die Runden kommt. ({16}) Aber um Anreize für weitere Armutszuwanderer zu erhöhen, ist bei Ihnen immer unbegrenzt Geld vorhanden; denn je mehr kommen und je mehr Sonderleistungen diese empfangen, desto mehr gärt es in der Gesellschaft. Damit bekämpfen Sie dann eine Fremdenfeindlichkeit, die es ohne Ihre Politik gar nicht gäbe. ({17}) Wir hingegen setzen uns dafür ein, dass Lebensleistung belohnt wird, und wir setzen uns dafür ein, dass Deutsche nicht schlechtergestellt werden als Armutszuwanderer. Wir sorgen für den sozialen Frieden im Land, während Sie mit Ihrer Politik die Menschen gegeneinander aufhetzen und Rassismus schüren. Schämen Sie sich dafür! ({18})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Karamba Diaby. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ertrinken ist ein leiser Tod. Es ist nicht wie in den Filmen, wo mit den Armen geschlagen wird und es laut ist. Die Lungen laufen mit Wasser voll, es gibt kein Rufen, es gibt nicht genug Luft zum Schreien, irgendwann ist der Mensch vollgesogen mit Wasser, der Körper krümmt sich, bevor er stirbt. Es ist, als ob der Mensch sich ein letztes Mal vor dem Leben verbeugt, bevor er sinkt. Das schreibt die Autorin Mely Kiyak. Meine sehr verehrten Damen und Herren, glauben Sie wirklich, dass jemand in Deutschland bleiben will wegen 50 Cent – ({0}) wegen 50 Cent mehr am Tag? Denn das ist genau die Anpassung, auf einen Tag umgerechnet, über die wir heute sprechen. Glauben Sie wirklich, dass jemand sein Leben dafür aufs Spiel setzt? Nein, ich denke, nicht. ({1}) Vorsichtig ausgedrückt: Das ist das Dümmste, was ich in meinem Leben gehört habe, und dabei bin ich mittlerweile 57 Jahre alt. ({2}) Die Menschenwürde gilt für alle. ({3}) Gleichheit sollten wir nicht nur in der Theorie gut finden, sondern auch in der Wirklichkeit leben. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 2012 – das wurde von Kolleginnen und Kollegen mehrfach betont – verkündet, dass die sozialstaatliche Mindestsicherung regelmäßig an die Lebenshaltungskosten anzupassen ist. Das gilt für Hartz IV genauso wie für Leistungen an Asylbewerber. Wir sind also drei Jahre im Verzug. Auch Sie von der AfD müssen das zur Kenntnis nehmen. ({4}) Meine lieben Damen und Herren, die Anpassung der Mindestsicherung ist ein Menschenrecht. Ja, wir haben in Deutschland eine steigende Ungleichheit der Einkommen, die zu gewissen Verfehlungen führt. Aber das liegt nicht an den Geflüchteten, das liegt nicht an den Migrantinnen und Migranten; ({5}) das liegt an den Menschen, die ihr Geld in irgendwelchen Steueroasen bunkern. Das liegt an den Superreichen, die zu wenig Steuern zahlen. ({6}) Es liegt an Lohnungerechtigkeiten in unserem Land. ({7}) Mit diesem Antrag wird erneut der Versuch unternommen, von diesen Problemen abzulenken und die Gesellschaft zu spalten. Die AfD setzt dabei auf autoritäre Kontrollpolitik. Dazu gehört jede Forderung nach einer Verschärfung des Asylrechts und der Kontrolldichte bei Leistungsempfängern. Das ist unwürdig, und das lehnen wir ab. ({8}) Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten setzen uns dafür ein, dass Menschen, die hier leben, Angebote erhalten, um an der Gesellschaft teilzuhaben. Das bedeutet Sprachkurse, Bildung und Arbeit. Dazu sollte eigentlich die Diskussion von heute sein, nicht zu 50 Cent pro Tag mehr an Mindestsicherung. ({9}) Meine Damen und Herren, ohne ein Rufen, ohne genug Luft zum Schreien zu haben, sind Tausende von Menschen auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrunken. Wenn wir keine Verantwortung für diese Menschen übernehmen wollen, müssen wir wenigstens die Verantwortung für die Überlebenden übernehmen, die vor Krieg und Tod geflohen sind und es zu uns geschafft haben. Das ist das Minimum zur Achtung der Würde dieser Menschen. Deshalb ist für mich absolut klar: Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Menschlichkeit. Danke schön. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger für die Fraktion der CDU/CSU.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute wieder mit einem Antrag der Ein-Thema-Partei, nämlich der AfD, die nichts anderes weiß, als uns mit Ratschlägen zu beglücken, wie wir die Asylpolitik zu gestalten haben bzw. wie sie weitergeführt werden soll. Es ist auch kein Wunder, dass die AfD kein anderes Thema hat; denn sie will hier in sozusagen volksverhetzerischer Weise auftreten; das zeigen die Darbietungen der Beiträge von Herrn Sichert und Herrn Dr. Curio. Damit zeigt sich sehr deutlich das Gesicht der AfD und letztendlich auch, wie sie zum Rechtsstaat steht. ({0}) Man kann aber nichts anderes erwarten von einer Partei, deren Vorsitzender der Meinung ist, dass die zwölfjährige Nazizeit ein Vogelschiss in der tausendjährigen deutschen Geschichte ist. Das gehört zum Ausdruck dieser Partei. ({1}) Diese Partei kennt kein anderes Thema, als Hass, Neid, Missgunst in die Gesellschaft zu tragen. Das ist letztendlich das Programm der AfD, und das haben wir heute wieder erlebt. ({2}) Es war auch sehr bezeichnend, dass kein einziger Vorschlag zur Lösung dargelegt worden ist. ({3}) Von den beiden Rednern kam kein einziger Vorschlag, sondern nur Anklagen, Neid, Missgunst und der Vorwurf, dass in Deutschland eine Bevorzugung der Asylsuchenden stattfinden würde. Wir sind stolz darauf, dass wir Menschen, die in Not geraten sind, eine menschenwürdige Unterstützung zukommen lassen. Das ist letztendlich auch unserem christlichen Menschenbild geschuldet. ({4}) Aber davon verstehen Sie ja auch nichts. Ich möchte auf das, was Kollege Peter Weiß dargestellt hat, zurückkommen, nämlich dass wir auch Asylsuchenden ein Existenzminimum, auch wenn es abgespeckt ist – Kollege Frei hat darauf hingewiesen, dass dies im Asylbewerberleistungsgesetz festgelegt ist –, gewähren. Frau Kollegin Jelpke, dass das statthaft ist, hat auch das Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck gebracht. Das ist in keinster Weise in Zweifel zu ziehen. Peter Weiß hatte auch vollkommen recht, als er von Fake News sprach; denn obwohl noch gar kein Gesetzentwurf vorliegt, gab es die Meldung, dass das Taschengeld angeblich um 15 Euro erhöht wird. Ich weiß gar nicht, welche hellseherischen Fähigkeiten die Kollegen der AfD haben, aufgrund derer sie Erkenntnisse in diese Debatte einbringen. Zuerst kommt es darauf an, wie der Gesetzestext formuliert ist. Ob das insgesamt zu einer Mehrbelastung führen wird, muss man dann sehen. Wir stehen dafür, so viel wie möglich über Sachleistungen in das Asylbewerberleistungsgesetz einzubringen. Das heißt noch lange nicht, dass möglicherweise auch das Taschengeld erhöht wird. Das sollten Sie zuerst einmal abwarten, bevor Sie hier solche volksverhetzerischen Reden halten. Das muss man berücksichtigen. ({5}) Entscheidend ist, einen Beitrag zu einer realistischen Asylpolitik zu leisten. Dazu sind Sie nicht fähig; das ist völlig klar. ({6}) Sie schwimmen auf dieser Welle. Wir haben großartige Erfolge vorzuweisen: ({7}) der ständige Rückgang der Asylbewerberzahlen und die Integration von arbeitswilligen Flüchtlingen, was besonders gut in Bayern funktioniert. ({8}) – Und in Hessen. Danke schön, Herr Kollege. – Das ist ein wichtiger Maßstab für eine vernünftige und realitätsbezogene Asylpolitik. Dazu sind Sie nicht fähig; das ist den Bürgerinnen und Bürgern auch bewusst. Wir haben Ordnung geschaffen in puncto humanitäre Aufnahme, Prüfung des Sachverhalts, Rückführung der Nichtasylberechtigten, ({9}) und wir haben gleichzeitig dafür gesorgt, dass diejenigen, die bei uns ein Aufenthaltsrecht haben, ein gesichertes Existenzminimum bekommen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Helge Lindh für die SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe vernommen, dass in dieser Aktuellen Stunde Hubertus Heil, sein Ministerium und die SPD insgesamt auf der Anklagebank sitzen. Und wessen sind sie angeklagt? Sie sind angeklagt – da muss man genau zuhören – wegen des Versuchs, ein Verfassungsgerichtsurteil in diesem Land umzusetzen. Was für ein Vergehen! ({0}) Wir sind schwer getroffen. Klagende ist diese komische Partei; ich habe die Namen derer, die vorhin gesprochen haben, auch schon wieder vergessen. Was ich nicht vergessen habe, ist, dass ich mich während der beiden Reden, während der Hetztiraden wieder einmal besonders stolz gefühlt habe, Mitglied dieser Partei und Sozialdemokrat zu sein. ({1}) Und wenn die SPD so unbedeutend und unwichtig ist – das habe ich auch nicht verstanden –: Warum erwähnen Sie sie geradezu manisch in Ihren Reden? ({2}) Ich denke, die komische Partei hat ein SPD-Trauma, und das ehrt uns in unserer Fraktion besonders. ({3}) Ansonsten ist der ganze Fall höchst verwunderlich; einiges wurde schon beschrieben. Es geht hier um ein ganz sachliches Verfahren. Obwohl wir noch nicht einmal die Ressortabstimmung hatten und noch gar keine Zahlen veröffentlicht sind, wird plötzlich von manchen, die keine politisch Handelnden, sondern eher krakeelende Skandalisierer sind, versucht, ein ganz sachliches, nüchternes Verfahren zu verhetzen. Es gibt eine Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Es gibt Gesetzgebungen, wie Regelbeiträge angepasst werden müssen. Das Ministerium wird sich auf den Weg machen, genau das umzusetzen, und zwar, weil es sich an die Verfassung dieses Landes hält. Wenn ein Ministerium so etwas tut, ist das kein Grund für Wut. Vielmehr erledigt dieses Ministerium seine Arbeit; das ist etwas Schönes und Begrüßenswertes. ({4}) Ich sage das in dem vollen Bewusstsein, dass wir hier ganz souverän und gelassen als Handelnde in der Migrationspolitik sprechen können. Es gibt eine wirklich umfassende Dynamik, bei der wir selber – das können wir deutlich sagen – manchmal an die Schmerzgrenze dessen, was wir vertreten können, gehen. Asylpolitik in diesem Land wird verändert, es werden Regellücken geschlossen, Regelungen werden teilweise verschärft. Uns braucht keiner vorzuwerfen, wir würden nicht handeln. Unabhängig davon geht es aber schlicht und einfach um die Frage der Menschenwürde und eines menschenwürdigen Existenzminimums. Bevor Sie Aktuelle Stunden beantragen, lohnt es sich, einfach einmal in das Urteil zu schauen. Da steht eindeutig und unmissverständlich, dass migrationspolitisch die Menschenwürde nicht relativierbar ist – nicht relativierbar! Menschenwürde hat die besondere Eigenschaft, auch nicht nationalisierbar zu sein, nicht nach Hautfarbe bemessen zu werden. Es heißt Menschenwürde, nicht Deutschenwürde, nicht Würde der Vertreter der komischen Partei, sondern Menschenwürde. ({5}) Des Weiteren steht in diesem Urteil, dass wir nicht die Möglichkeit haben, Fragen des Existenzminimums und der Menschenwürde einfach davon abhängig zu machen, ob jemand seine Heimat verlässt und temporär in einem anderen Land lebt. Das ist irrelevant, weil Menschenwürde nun einmal Menschenwürde ist. Kommen wir zu den Argumenten. Ein Argument ist, dass wir Fehlanreize schaffen würden. Das kommt übrigens nicht nur von rechts außen, sondern leider auch von anderen, die sich sonst maßvoller äußern. Diese These ist ziemlich abwegig. Ich halte es für relativ absurd, dass sich Menschen wegen eines sogenannten Taschengeldes, das im Übrigen gar kein Taschengeld ist, auf diese Reisen begeben. Es gab immer schon Bürgerkriegsflüchtlinge, Vertriebene, Migranten, weit vor den Regelungen des deutschen Asylbewerberleistungsgesetzes, und es wird sie auch weiterhin geben. ({6}) Zum Zweiten gibt es bezogen auf den Anreiz eine Grenze; auch das steht im genannten Urteil. Wir können nicht mit jedweder migrationspolitischen Argumentation Leistungen unterhalb des Existenzminimums auszahlen, weil das die Menschenwürde gebietet. Ein weiteres Argument ist häufig, dass man denkt – so scheint es mir –, wir müssten die Bedingungen für hier lebende Geflüchtete so schlecht wie nur möglich machen, alles rausquetschen, was geht, und möglichst abschreckend wirken, damit keine mehr kommen. Auch das wird nach meiner Einschätzung nicht funktionieren; denn es wird vergessen, dass die Menschen hier leben, jetzt und künftig. Ist das wirklich unser Anspruch? Das meine ich jetzt ausgesprochen ernst; das ist eine Frage des Menschenbildes und hat überhaupt nichts mit Details zu tun. Kann es unser Anspruch sein, stolz darauf zu sein, wenn wir die Bedingungen derjenigen, die ohnehin die Schwächsten sind, möglichst auf ein Minimum reduzieren, damit diejenigen, die nicht ganz so schwach sind, sich relativ besser fühlen? Nein, das kann nicht unser Anspruch sein. Die Antwort darauf ist, eine Grundrente einzuführen. Die Antwort darauf ist, die Lebensbedingungen derjenigen, die arm sind – egal woher sie kommen –, zu verbessern. Das ist der entscheidende Punkt. Alles andere ist zutiefst zynisch und Verweigerung von Politik. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lindh, tut mir leid, aber Sie müssen zum Schluss kommen.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zum Schluss noch eines: Ich bitte uns alle hier, auch die Gemäßigteren, von Formulierungen wie „Wir müssen Schutzsuchende verteidigen und nicht Taschengeldsuchende“ abzusehen. Geflüchtete sind nämlich, wie es Leoluca Orlando ganz deutlich gesagt hat, am Anfang und am Ende genau wie wir Menschen. Sie sind nicht darauf zu reduzieren, dass sie unter bestimmten Bedingungen geflüchtet sind.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lindh, Sie müssen jetzt einen Punkt setzen.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Auch wir hätten das sein können. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Thomas Heilmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004741, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Damen und Herren auf der Tribüne und an den digitalen Endgeräten! Gerade vorgestern bin ich von Schülern wieder, wie so oft, gefragt worden, wie die Arbeit denn nun sei, seit die AfD im Deutschen Bundestag ist, und wie die Debatten laufen. Meine Antwort ist dann immer: Es ist fast egal, um welches Thema es geht, die Flüchtlinge sind das Problem. Das ist die Monopartei der AfD. ({0}) Wie zur Bestätigung haben Sie jetzt eilig diese Aktuelle Stunde beantragt, zu der es noch nicht mal einen vernünftigen Antragstext gibt. Und wie zur Bestätigung, Herr Sichert, haben Sie heute in einem unsäglichen Beitrag alle möglichen sozialen Probleme und auch alle vorgetäuschten sozialen Probleme aufgezählt und in einen Zusammenhang gebracht, den es doch ehrlicherweise gar nicht gibt. ({1}) Die Flüchtlinge sind nicht an anderen sozialen Problemen in unserem Land schuld. Ich finde es unerhört, dass Sie dennoch immer und immer wieder einen Zusammenhang darstellen. Das bedient nicht nur alle Klischees. Es ist auch sehr ärgerlich, weil die Rechtslage falsch wiedergegeben oder, wie heute, gleich ganz weggelassen wird – das haben meine Vorredner ja schon gesagt –, weil Sie die wahren wirtschaftlichen Zusammenhänge leugnen und weil Sie die Motive von Flüchtlingen – vorsichtig formuliert – grob verzerren. Zu den wirtschaftlichen Zusammenhängen würde ich gerne kurz etwas sagen. Es gibt Untersuchungen dazu. Im Schnitt kostet die Flucht aus dem Herkunftsland hierher über 7 000 Euro pro Flüchtling. Glauben Sie im Ernst, die mickrigen Sozialleistungen, die wir hier bezahlen, sind ein echter Return? ({2}) 60 Millionen Menschen sind auf der Flucht, aber nur ein Bruchteil kommt hierher. Glauben Sie im Ernst, dass ihre Selbstbezogenheit auf das Asylbewerberleistungsgesetz der wahre Grund dafür ist, dass sich Menschen aus ihrem Heimatland hierher aufmachen? ({3}) Das Gegenteil ist doch die Wahrheit. Sie leugnen auch die wahren Motive, warum Menschen nach Deutschland kommen. Selbstverständlich gibt es auch dazu Untersuchungen. Es ist die Wirtschaftskraft, es ist der Aufschwung, ({4}) es ist die Tatsache, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg unser Land wieder aufgebaut haben, es ist die erfolgreiche deutsche Einheit, und es sind insbesondere die Bildungsmöglichkeiten, die Deutschland für Flüchtlinge attraktiv erscheinen lassen. Ich finde, wir sollten uns die wahren Motivlagen ansehen und nicht von Taschengeld­erhöhungen faseln, die so gar nicht beschlossen sind. Bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage der Schüler: „Warum wiederholen sie eigentlich ihre einfachen und populistischen Behauptungen immer wieder?“ bin ich auf das in der Psychologie wissenschaftlich untersuchte Phänomen der sogenannten manipulativen Opferrollen gestoßen. Laut dieser Wissenschaft gibt es fünf Faktoren, die kennzeichnen, wenn Menschen manipulativ sind und sich in eine Opferrolle begeben. Ich will Ihnen die fünf Faktoren kurz vortragen: Erstens. Menschen, die solche Rollen einnehmen, schieben die Schuld immer auf andere. – Wie bei den Rentnern in Nürnberg, Herr Sichert! ({5}) Zweitens. Sie respektieren keine abweichenden Auffassungen. – Sie lachen, wenn Max Straubinger völlig zu Recht sagt, dass die Flüchtlingszahlen zurückgegangen sind und wir eine erstaunlich positive Integration in den Arbeitsmarkt hinbekommen haben. Das sind doch schlicht Tatsachen. Wieso lachen Sie da eigentlich, obwohl Sie keine Argumente haben? ({6}) Abweichende Auffassungen darf es bei Ihnen nicht geben. Drittens zeichnen sich solche Menschen dadurch aus, dass sie Sorgen und Ängste verstärken und ausnutzen. ({7}) Nichts anderes tun Sie hier auch, indem Sie sagen: Alle Probleme, die wir in Deutschland haben, werden kleiner, wenn wir keine Flüchtlinge haben oder ihnen kein Geld zahlen. Viertens reden sie respektlos über andere. – Auch dafür haben Sie heute ein beredtes Beispiel abgegeben. Fünftens – das ist sehr interessant; ursprünglich hat es ja gar nichts mit der AfD zu tun, es handelt sich, wie gesagt, um eine wissenschaftliche Untersuchung über manipulative Leute, die sich in eine Opferrolle begeben –: Diese Menschen sagen das eine und tun das andere. – Sie behaupten hier, eine Lösung zu wollen, erfreuen sich aber daran, das Thema immer wieder aufwärmen zu können. ({8}) Das ist es doch bei Ihnen, was zynisch und respektlos ist. ({9}) Wenn man Sie so reden hört, muss man feststellen, dass Sie zu diesen manipulativen Populisten gehören, und das lehnen wir ab. Ich fasse zusammen. Ihre Behauptungen sind sachlich falsch, juristisch abenteuerlich bis nicht begründet und wirtschaftlich ahnungslos. Sie gehen mit den wahren Motiven unserer Flüchtlinge nicht ordentlich um. ({10}) Ich bedaure sehr, dass Sie eine solche Ein-Thema-Partei sind und finde es sehr bedauerlich, dass Sie für diese mangelhafte Arbeit sehr viel mehr Geld bekommen als nur ein Taschengeld. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieses Hohe Haus entscheidet über die Ausrüstung und den Einsatz der Bundeswehr. Wir entsenden von hier aus unsere Streitkräfte auch ins Ausland. Wir machen uns diese Debatten nicht leicht; wir diskutieren das kontrovers. Zur Erfüllung unseres Auftrags machen sich die Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr auf den Weg und sind dabei immer wieder mit Situationen konfrontiert, in denen sie auch ein hohes Risiko für Leib und Leben eingehen. Allein die Bereitschaft, diesen Dienst zu leisten, verdient unsere ausdrückliche Anerkennung. Ich will hier die Polizeikräfte und andere Schutz- und Hilfskräfte ausdrücklich mit einbeziehen. ({0}) Nicht alle, die wir in einen Einsatz entsenden, kommen gesund zurück. Deswegen begrüße ich es, dass wir heute im Deutschen Bundestag darüber diskutieren, wie wir in unserem Haus und in der deutschen Öffentlichkeit damit umgehen wollen, wie wir denen, die mit Verletzungen körperlicher oder auch seelischer Art aus einem Einsatz zurückkommen, nicht nur Wertschätzung, sondern auch Unterstützung zuteilwerden lassen. Hier gibt es eine Initiative, die in den letzten Jahren für große Aufmerksamkeit gesorgt hat, gegründet von seiner Königlichen Hoheit Prinz Harry, Herzog von Sussex. Er hat als Zeichen des Respekts für einsatzgeschädigte, traumatisierte, verunfallte und erkrankte Soldaten und Soldatinnen die Invictus Games ins Leben gerufen. Diese Spiele verfolgen das Ziel, nicht nur Anerkennung auszudrücken, sondern auch die Rehabilitation zu unterstützen, die oft Monate und Jahre in Anspruch nehmen kann. Deswegen sind auch die Familienangehörigen ausdrücklich in den Veranstaltungsrahmen dieser Spiele einbezogen. Es geht auch darum, dass mit diesen Spielen deutlich gemacht wird, welche Willenskraft die Verletzten oft aufbringen. „Invictus“ heißt auf Deutsch „unbesiegt“. Diese Menschen sind verletzt, aber sie sind unbändig, unbesiegt in ihrer Willenskraft, trotz der Verletzungen körperliche Höchstleistungen zu erbringen. Ich finde, das ist ein leuchtendes Beispiel, das nicht nur viele, die auch verletzt sind, ermutigt, sondern das auch vorbildlich für uns alle ist, sich den eigenen Willen nicht brechen zu lassen, sondern sich zu neuen Zielen aufzumachen. Ein solches Ziel bieten die Invictus Games, auf die viele Soldaten hinarbeiten, die damit einen Rhythmus und ein Ziel für ihre Rehabilitation haben. Diese Spiele wurden erstmalig im September 2014 in London durchgeführt, mit 300 Teilnehmenden aus 13 Ländern. Zuletzt, im Jahr 2018, in Sydney waren es bereits über 500 Teilnehmende aus 18 Nationen. In Australien haben mehr als 100 000 Zuschauer diese Spiele verfolgt, und über 600 internationale Medienvertreter waren akkreditiert. Die Bundeswehr war übrigens von Anfang an bei den Invictus Games vertreten; schließlich unterstützen diese auch unsere Sporttherapie. Darüber hinaus haben wir in unserem Weißbuch 2016 ausdrücklich unsere besondere Verantwortung gegenüber aktiven wie ehemaligen Angehörigen der Bundeswehr, die unter den Folgen einer besonderen Auslandsverwendung leiden, zum Ausdruck gebracht. Die Ausrichtung dieser Invictus Games in Deutschland wäre eine willkommene Fortführung dieses politischen Versprechens, das wir schon abgegeben haben. Deswegen begrüße und unterstütze ich ausdrücklich diesen Antrag der Koalition, der darauf abzielt, dass wir uns für die Invictus Games bewerben. Die Bewerbung für 2022 wäre noch bis Ende dieses Monats möglich. Das ist etwas anspruchsvoll und nicht mehr zu realisieren. Aber uns steht der Weg offen, uns für 2024 zu bewerben. Dafür wollen wir jetzt den Bewerbungsprozess starten. Meine Damen und Herren, es wäre großartig, wenn Deutschland 2024 weltweit ein offener Gastgeber für dieses sensible Feld der Sporttherapie von Einsatzgeschädigten sein könnte. Die Invictus Games sind ein großartiges Beispiel dafür, was mit Sport und mit gesellschaftlichem Zusammenhalt erreicht werden kann. Deshalb bedanke ich mich ausdrücklich für diese Initiative der Koalition, die wir sehr gerne unterstützen. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Jörn König für die AfD-Fraktion. ({0})

Jörn König (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004788, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Ein Sportereignis für kriegsversehrte Soldaten auszurichten, das ist ein guter Antrag der Regierungsfraktionen, dem die AfD aus vollem Herzen zustimmt. ({0}) Für die AfD ist es selbstverständlich, Anerkennung und Wertschätzung für unsere Soldaten zu zeigen, die im Dienst ihre Gesundheit ruinierten und dauerhafte körperliche wie seelische Schäden erleiden mussten. In den USA sind die versehrten Soldatensportler Helden; das sollte auch bei uns so sein. ({1}) Erstaunt bin ich allerdings, wie dickfellig die Regierungsfraktionen bei den Kollegen der FDP abschreiben; denn die hatte einen inhaltlich gleichen Antrag bereits im September des letzten Jahres gestellt. ({2}) Für uns als AfD ist es aber völlig inakzeptabel, dass die Regierung hier nach dem Motto „Brot und Spiele“ verfährt; denn obwohl sie die Machtmittel hat, um die gesundheitsgefährdenden Auslandseinsätze unserer Soldaten zu beenden, tut sie es nicht. Wie viele Bundeswehrsoldaten sollen eigentlich noch zu Krüppeln gemacht werden oder ihr Leben lassen? Kanzlerin und Regierung sollten endlich erkennen, dass in den meisten gefährlichen Kriegseinsätzen unsere Soldaten nur Kanonenfutter fremder Mächte sind. Seit 1992 ließen 111 deutsche Soldaten ihr Leben, weil sie ihre Pflicht erfüllten. 37 Soldaten sind gefallen, davon allein 35 in Afghanistan. Wenn nun die sogenannte Verteidigungsministerin in Sydney erklärt, sie wolle die Sportwettkämpfe der versehrten Soldaten nach Deutschland holen, ist das ein löblicher Vorsatz. Besser aber wäre es, das Sterben unserer Kameraden in Afghanistan und andernorts zu beenden. ({3}) Alexander Gauland hat zu Recht gesagt: Afghanische Asylbewerber trinken Kaffee oder rauchen einen Joint am Ku’damm. Ein kleiner Teil dieser Asylbewerber greift hier in Deutschland sogar Frauen und Mädchen an. Gleichzeitig schützen unsere Soldaten in Afghanistan die zurückgelassenen Frauen und Mädchen genau dieser Asylbewerber. Dabei sterben unsere Soldaten oder werden so attackiert, dass sie zeitlebens im Rollstuhl sitzen müssen. ({4}) Ich erinnere beispielhaft an den 24-jährigen Stabsgefreiten Stefan Kamins, der 2003 nahe Kabul durch eine Landmine getötet wurde, an den 22-jährigen Hauptgefreiten Silvio Schattmann, der 2004 in Kunduz starb, an den 21-jährigen Hauptgefreiten und Russlanddeutschen Sergej Motz, der 2009 nordwestlich von Kabul hinterrücks überfallen und getötet wurde. Nördlich von Baghlan starb 2013 durch feindlichen Beschuss der 32-jährige Hauptfeldwebel Daniel Wirth. Daniel Wirth war der erste Tote des Kommandos Spezialkräfte, KSK, der öffentlich eingestanden wurde. Ansonsten hat diese Bundesregierung die toten und schwerverletzten Helden des KSK peinlichst verschwiegen und diese Fälle zum Staatsgeheimnis erklärt. Wenn Sie jetzt die Opfer Ihrer Kriegspolitik als kriegsversehrte Sportler feiern, dann hat das mindestens einen herben Beigeschmack. ({5}) Besser wäre es, Sie beendeten die Kriegseinsätze sofort und reduzierten so die Zahl der Opfer. An dieser Stelle vielen Dank an Gerhard Schröder für seine Weigerung, am zweiten Irakkrieg teilzunehmen, und an Guido Westerwelle, der deutsche Opfer in Libyen vermieden hat. Was macht die Bundesregierung? Sie denkt derzeit über eine Truppenaufstockung in Afghanistan nach. Der Verdacht liegt nahe, dass Sie mit den Invictus Games nur von der traurigen Bilanz Ihrer Politik ablenken wollen. Frau Merkel, Frau von der Leyen, das sind Ihre Kriegsversehrten. ({6}) Bitte kümmern Sie sich um diese Soldaten! Besuchen Sie zukünftig die Kriegsversehrtenwettkämpfe, und überlassen Sie das bitte nicht dem britischen Königshaus! Herr Außenminister Maas hat jüngst während seines Truppenbesuchs in Afghanistan für eine Verlängerung des Bundeswehreinsatzes geworben. Damit verlängert er nur die Leiden unserer Soldaten. Der Afghanistan-Einsatz ist gescheitert. Herrn Maas empfehle ich dringend, an den kommenden Invictus Games in Den Haag teilzunehmen, um zu sehen, was er mit dieser Politik anrichtet. ({7}) Dem Antrag, die Invictus Games nach Deutschland zu holen, stimmen wir zu. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Frau Merkel wegen ihrer Messertoten als Kanzlerin zurücktreten muss. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Detlev Pilger für die SPD-Fraktion. ({0})

Detlev Pilger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004376, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Besucherinnen und Besucher auf den Tribünen! Kollege König, was Sie hier geboten haben, ist an Zynismus gegenüber dem hervorragenden Einsatz der Soldatinnen und Soldaten nicht zu überbieten. ({0}) Und zur Kenntnisnahme: Nicht die Kanzlerin schickt die Soldatinnen und Soldaten in Kriegseinsätze, sondern der Deutsche Bundestag, das Parlament. ({1}) Die Invictus Games nach Deutschland zu holen, wäre ein starkes Signal, zum einen als internationales Sport­ereignis, zum anderen als besonderes Zeichen der Anerkennung der einsatzgeschädigten Soldatinnen und Soldaten, die im Dienst für unser Land ihre Gesundheit und ihr Leben riskierten. Die Invictus Games, bei denen versehrte Soldatinnen und Soldaten gegeneinander antreten, können eine Hilfestellung sein, um zu einem Leben der Normalität zurückzufinden. Die Betroffenen, schwerbehindert und oft von Albträumen gepeinigt, kämpfen hier nicht für den Staat und die Demokratie, sondern sie kämpfen für sich selbst. Es geht um die Bewältigung des eigenen Lebensdramas. Wir müssen alles dafür tun, damit den Soldatinnen und Soldaten ein lebenswertes Leben wieder ermöglicht wird und sie den Weg zurück ins Leben finden. ({2}) Viele sind nach Amputationen und schockierenden Erlebnissen einem schweren Trauma verfallen. Über 30 Prozent leiden an Lethargie, Depressionen und Freudlosigkeit. Die sportlichen Wettkämpfe können ein Mosaikstein sein, um dieses Leiden zu überwinden. Der Oberstabsfeldwebel Meik Briest wurde bei der Explosion eines Sprengsatzes 1999 im Kosovo schwer verletzt. Er sagte bei den Spielen 2018 in Sydney: Das Flair der Invictus Games gibt mir Stärke und Zuversicht. – Gegenüber der Bundeswehr sagte er: Das ist eine Belohnung für mich, und ich fühle mich nicht vergessen. – Er nimmt an vier Disziplinen teil und sagt außerdem: Ich habe enormen Spaß dabei und bin stolz. – Auch die Ehefrau von Meik Briest erklärt: Mein Mann ist endlich wieder aus seiner Ecke raus, und er nimmt wieder am Leben teil. Unter den Verletzungen leiden nicht nur die Betroffenen, sondern auch deren Familien. Sie sind die treuesten Begleiter und fiebern bei den Spielen vor Ort mit. Es geht den Athletinnen und Athleten in erster Linie nicht um Medaillen, nicht um Höchstleistungen. Es geht vielmehr um Respekt und den Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen der anderen Nationen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden. ({3}) Die Invictus Games sind keine Paralympischen Spiele der Soldatinnen und Soldaten, sondern ein würdevoller Umgang mit Menschen, die bereits Höchstleistungen erbracht haben. Die Deutschen starten in sieben Disziplinen bei über 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus 18 Nationen. Neben Betreuerinnen und Betreuern sind mit den Familien der Sportlerinnen und Sportler mehrere Tausend Menschen zu erwarten. Das ist also schon ein Sportgroßereignis, auf das wir sehr stolz sein können. Da der Bundestag die Soldatinnen und Soldaten, lieber Herr König, in die Kriegsgebiete entsendet, sollten wir ihnen diesen Respekt erweisen und die Spiele nach Deutschland holen. Die Verteidigungs- und Sportpolitiker der SPD-Fraktion sprechen sich einstimmig für die vorbereitenden Maßnahmen und die Ausrichtung der Invictus Games in Deutschland aus. Ich bin davon überzeugt: Gleich ob es 2022 oder später sein wird, wir werden hervorragende Gastgeber sein. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun Dr. Marcus Faber das Wort. ({0})

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich bin der Meister meines Los’. Ich bin der Käpt’n meiner Seel. Das sind die letzten Zeilen des Gedichtes „Invictus“ von William Ernest Henley. „Invictus“ bedeutet auf Deutsch so viel wie „unbesiegt“ oder „unbezwungen“. Und genau das sind die Menschen, über die wir hier heute sprechen: unbesiegt. Seit 25 Jahren entsendet Deutschland Soldaten in Auslandseinsätze. 40 dieser Einsätze sind inzwischen beendet. 11 Einsätze laufen derzeit. 111 deutsche Soldaten verloren im Ausland ihr Leben und fanden dort den Tod. Deutlich mehr Soldaten wurden teils schwer verletzt – an Körper und Seele. Diese Einsatzversehrten brauchen die bestmögliche Hilfe von uns. Das ist mehr als unsere Pflicht; das muss für uns auch ein Herzensanliegen sein. Ein kleiner und dennoch wichtiger Beitrag dazu ist die Integration in den Alltag durch Sport. Die Sportschule der Bundeswehr und das Zentrum für Sportmedizin der Bundeswehr in Warendorf leisten hier tagtäglich großartige Arbeit. ({0}) Die Invictus Games bieten dafür alle zwei Jahre eine große Bühne. Sie schaffen Sichtbarkeit. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sind ein Teil unserer Gesellschaft, auch wenn es einigen hier im Saal nicht passt. Ihr Leiden sollte für uns genauso im Zentrum stehen wie ihre Genesung und ihre Erfolge. ({1}) Es geht darum, den Menschen, die für unsere Sicherheit ihr Leben riskiert haben, weiterhin die Möglichkeit zu geben, ihre Leistungsfähigkeit auch zu zeigen. Deutschland hat von Beginn an ein Team zu diesen Spielen entsandt, auch wenn das von der Politik und von der Öffentlichkeit häufig zu wenig beachtet wurde. Ich finde, wir hätten es mehr beachten müssen. ({2}) Mir stellt sich schon die Frage, warum es Frau von der Leyen erst bei der vierten Auflage der Spiele, im vergangenen Jahr, gelungen ist, bei diesen Spielen präsent zu sein. Wo andere Staaten ihre höchsten Vertreter schickten, war dies bei der Bundesregierung bisher nicht der Fall. Noch viel mehr aber stellt sich die Frage, warum die Regierungsfraktionen im November 2018, vor vier Monaten, den Antrag der Freien Demokraten, die Invictus Games nach Deutschland zu holen, in diesem Saal abgelehnt haben, ({3}) um heute hier den Antrag einzubringen, die Invictus ­Games nach Deutschland zu holen. Ich finde, hier macht sich diese Regierung und damit auch diese Koalition lächerlich. ({4}) Lieber Herr Silberhorn, lieber Herr Pilger, ich habe Ihre Beiträge aufmerksam verfolgt, und ich kann Ihren Ausführungen inhaltlich nur zustimmen. Ich frage mich allerdings schon, warum Sie vier Monate für diese Erkenntnisse gebraucht haben. ({5}) Ich kann ja nur mutmaßen: Wenn es Ihnen um die Sache ging, dann war Ihr damaliges Nein zu unserem Antrag nicht sinnvoll. ({6}) Wenn es Ihnen aber um politische Profilierung ging, dann hätten Sie zumindest etwas weniger offenkundig bei der FDP abschreiben können. Meine Damen und Herren, ich fände das nur halb so schlimm, wenn von der Großen Koalition ansonsten großartige Anträge zum Thema „Bundeswehr und Verteidigung“ kommen würden. Das ist allerdings nicht der Fall; das ist überhaupt nicht der Fall. Das ist seit langer Zeit der erste vernünftige Vorschlag, der von dieser Koalition zum Thema „Bundeswehr und Verteidigung“ kommt. ({7}) Ich sage Ihnen: Danke für diesen Vorschlag. Wir unterstützen ihn, auch wenn er kleinlaut und geklaut ist. Dazu, dass Sie dafür vier Monate brauchten, sage ich Ihnen: Guten Morgen – auch um 15.30 Uhr. Sie machen hier Parteipolitik mit Kriegsversehrten. Das finde ich – bei aller Liebe – erbärmlich. Ich sage Ihnen aus tiefstem Herzen: Sie sollten sich schämen! Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. André Hahn für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist völlig unstrittig, dass auch in Kriegseinsätzen versehrte Soldatinnen und Soldaten sportliche Wettkämpfe bestreiten können und sollen. Besser wäre es natürlich, es gäbe weniger oder gar keine Kriege, dann würde sich diese Frage erst gar nicht stellen. ({0}) Ein kurzer Blick in die Geschichte: 1948 begannen in Aylesbury, England, die ersten Sportspiele für Rollstuhlfahrer, die sogenannten Stoke Mandeville Games, am selben Tag wie die Olympischen Spiele von London. Der Neurologe Sir Ludwig Guttmann – er musste 1939 wegen der Judenverfolgung aus Nazideutschland fliehen – hatte sie initiiert, um die Wettkämpfe der Menschen mit Behinderung mit den Spielen der Nichtbehinderten zu verbinden. Damals nahmen 14 kriegsversehrte Männer und Frauen mit Rückenmarksverletzungen teil und maßen ihre Fertigkeiten im Bogenschießen. 1960 gab es die ersten „Weltspiele der Gelähmten“ in Rom, die nun nicht mehr parallel zu den Olympischen Sommerspielen stattfanden, sondern wenige Wochen später. Seitdem finden die Paralympics für Menschen mit körperlichen Behinderungen alle vier Jahre, immer im selben Jahr wie die Olympischen Spiele und inzwischen auch immer am selben Ort, statt. Neben den Paralympics gibt es noch die Special Olympics für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen und die Deaflympics für Gehörlose. Was hat das nun mit dem vorliegenden Antrag zu tun? Ich denke: eine ganze Menge; denn Sport ist ein gutes Mittel für Menschen, die in der Folge verschiedenster Ereignisse dauerhafte Beeinträchtigungen erlitten haben, dennoch gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung zu erfahren. Tatsache ist leider, dass die Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen, gleichberechtigt Sport zu treiben, auch in Deutschland noch längst nicht überall gegeben sind. Hier ist noch einiges zu tun – auch für die Regierung. ({1}) Warum liegt nun dieser Antrag der Koalition vor, nachdem ein ähnlicher Antrag der FDP im November 2018 – es ist angesprochen worden – bei Zustimmung von FDP, AfD und Grünen mit den Stimmen von Union und SPD und der Linken abgelehnt wurde? Selbst wenn es zuträfe, dass Symbolhandlungen wie die Ausrichtung eines solchen Sportevents den teilnehmenden Geschädigten und ihren Angehörigen tatsächlich helfen würde: Ein positives Signal unserer Wertschätzung verdienen aus Sicht der Linken alle Menschen mit bleibenden körperlichen und seelischen Verletzungen, nicht nur die in Kriegen eingesetzten ehemaligen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr und ihrer Bündnispartner. ({2}) Die Ausrichtung eines Sportereignisses, das allein dieser Gruppe gewidmet ist, birgt die Gefahr, Militäreinsätze zu normalisieren, und das gehört nach Auffassung der Linken nicht zu den Dingen, die Kriegsopfer brauchen, ({3}) für die wir in der Tat eine Verantwortung haben. Gerade im Verteidigungsministerium gäbe es viele andere Möglichkeiten, Betroffene zu unterstützen. Bislang werden Spitzensportlerinnen und Spitzensportler mit Behinderungen bis auf wenige Ausnahmen jedoch nicht durch die Bundeswehr gefördert. Sie entsprechen nicht den körperlichen Einstellungsvoraussetzungen für Soldatinnen und Soldaten, teilte die Bundesregierung kürzlich auf eine Anfrage der Linken mit. Meine Fraktion ist seit langem auch Ansprechpartner für psychisch geschädigte und versehrte Soldaten, setzt sich für deren Rechte ein, und wir werden dies auch künftig tun. Nötig aber ist auch konkrete Hilfe, die dann Geld kostet. Nicht nur die letzten Berichte des Wehrbeauftragten zeigten, wie die Realität aussieht: zu wenige Ansprechstellen und stationäre Behandlungsplätze und obendrein noch der Versuch, durch das Patensystem sowohl die psychosozialen als auch die finanziellen Kosten der Wiedereingliederung traumatisierter Soldatinnen und Soldaten an ehrenamtlich Engagierte outsourcen zu können. Wir werden die Gelegenheit haben, verschiedene Fragen noch im Ausschuss zu diskutieren, zum Beispiel, warum an den Invictus Games nur NATO-Armeen und ihre in Kriegseinsätzen Verbündete teilnehmen, oder auch, warum diese Sportler, die Soldatinnen und Soldaten, nicht in die Paralympics integriert werden können. Wir sehen in dieser Frage Klärungsbedarf und werden darüber gern mit Ihnen im Ausschuss sprechen. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Abgeordnete Dr. Tobias Lindner das Wort. ({0})

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe im Mai 2016 mit dem damaligen Parlamentarischen Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Dr. Brauksiepe, die deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Invictus Games in den Vereinigten Staaten besucht. Dieser Besuch – wir haben zweieinhalb Tage miteinander verbracht – lässt bei mir drei Eindrücke zurück. Der erste Eindruck sind die Gespräche mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Sich anzuhören, darüber zu reden, welche Verletzungen sie an Körper und Seele durch ihren Dienst in unseren Streitkräften erlitten haben, Biografien mitzubekommen, mitzubekommen, vor welchen Härten und Schwierigkeiten sie stehen, das geht einem nahe, und das macht einem deutlich, dass Parlamentsarmee nicht irgendwie eine hohle Phrase ist. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind es, die die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Auslandseinsätze schicken. Und ganz gleich, wie wir bei den einzelnen Mandaten abstimmen, wie wir als Fraktionen oder Parlamentarier zu Mandaten stehen: Es ist unsere ungeteilte Verantwortung, hier an diesem Pult in regelmäßigen Abständen darüber zu streiten und miteinander zu ringen, wie wir ihnen die bestmögliche Fürsorge zuteilwerden lassen, gerade dann, wenn sie Schäden im Einsatz erlitten haben. ({0}) Mein zweiter Eindruck: So bedrückend für mich diese Gespräche waren, so beeindruckend war es für mich, zu sehen, welche Kraft, welche Freude, welchen Stolz die Teilnahme unserer Sportlerinnen und Sportler an diesen Spielen bei diesen Menschen entfaltet hat, wie sinnvoll, wie schön dieses Ereignis ist. Wir müssen uns natürlich klarmachen: Die Invictus Games sind ein Symbol. Aber ein Symbol muss per se in der Politik nichts Schlimmes sein, wenn man darüber nicht vergisst, dass es am Ende des Tages mehr braucht als nur solche Spiele. ({1}) Deswegen ist es gut, dass wir hier nach dem Antrag der FDP jetzt zum zweiten Mal darüber sprechen. Denn sind wir ehrlich: Das Thema „Invictus Games“ hat im parlamentarischen Alltag, auch in der Öffentlichkeit, lange ein Schattendasein gefristet. Die Ministerin ist im letzten Jahr nach Sydney gefahren, um die deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu besuchen. Das ist richtig. Das finde ich eine gute Entwicklung, obwohl man immer diskutieren kann, ob es nicht hätte früher sein müssen. Es ist gut, dass sie in der kommenden Woche die deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Rahmen eines Empfangs im Ministerium ehren möchte. Es wäre noch besser gewesen, wenn man diesen Termin, zu dem die Mitglieder des Verteidigungsausschusses eingeladen sind, nicht auf Mittwoch, 13 Uhr, gelegt hätte, weil ich davon ausgehe, dass man auch im Verteidigungsministerium weiß, dass mittwochs bis um 13 Uhr der Verteidigungsausschuss tagt, meine Damen und Herren. ({2}) Als dritter Eindruck ist nach diesem Besuch unserer Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Invictus ­Games bei mir zurückgeblieben, dass die Invictus Games natürlich eine tolle Veranstaltung sind, aber die Fürsorge für einsatzgeschädigte Soldatinnen und Soldaten an dieser Stelle nicht enden darf. Das will ich hier auch niemandem unterstellen, um das ganz deutlich zu sagen. Aber sosehr wir heute über diesen Antrag diskutieren – wir werden das auch in der zweiten und dritten Lesung tun –, so sehr müssen wir die Mühe darauf verwenden, uns zu fragen und miteinander zu ringen, ob wirklich bereits genug getan wird für die Menschen, die Schäden an Leib und Seele in Einsätzen erlitten haben. Ich glaube, das darf nicht bei der Tatsache enden, dass die Bundesregierung jetzt endlich ein Artikelgesetz vorlegt, dessen Beratung wir wohlwollend begleiten werden, wo wir ja auch darüber reden müssen, ob Versicherungsleistungen stimmen, ob Fürsorgeleistungen stimmen. Das darf nicht bei der Tatsache enden, dass wir in den jährlichen Haushaltsberatungen darüber diskutieren, ob schon genug für PTBS-geschädigte Angehörige der Bundeswehr getan wird, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das sage ich gerade vor dem Hintergrund, dass es immer wieder dieses Parlament war, das die Anstöße dazu gegeben hat, wenn die Bundesregierung, gleich wie sie zusammengesetzt war, da zögerlich war oder bürokratische Hürden gesehen hat. In diesem Sinne werden wir Ihren Antrag in den Ausschussberatungen wohlwollend begleiten. Ich freue mich auf die Debatte. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dieter Stier für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dieter Stier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004168, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wer sich zur Bundeswehr und ihren Auslandseinsätzen bekennt, der muss auch bereit sein, für die Zeit danach Verantwortung zu übernehmen, und zwar Verantwortung für unsere Soldatinnen und Soldaten, die tagtäglich für die internationale Sicherheit und Stabilität einstehen. Dieser Verantwortung stellen wir uns. Mit unserem Antrag machen wir deutlich, dass uns das persönliche Schicksal unserer Soldatinnen und Soldaten nicht gleichgültig ist. Mehr noch: Wir wissen, dass der Einsatz in Krisen- und Konfliktgebieten mit einem hohen Risiko für das eigene Leben und die eigene Gesundheit verbunden ist. Verletzungen im Einsatz, die einen Menschen nach dem Dienst ein Leben lang begleiten, dürfen nicht einfach aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgeschlossen werden; denn die Betroffenen müssen nicht nur mit erheblichen körperlichen Einschränkungen klarkommen, sondern oftmals schwindet auch ihr Lebensmut. Sie ziehen sich zurück aus Familie und Gesellschaft, das öffentliche Interesse an ihnen verstummt. Dem stellen wir uns entgegen. Unsere heutige Botschaft lautet: Nach dem Einsatz kommt nicht das Vergessen, sondern die Wiedereinbindung in die Gemeinschaft. Dazu gehören meiner Meinung nach drei Dinge: erstens die öffentliche Anerkennung der persönlichen Leistung, zweitens die Unterstützung bei der Bewältigung der neuen Lebenssituation und drittens eine lebenswerte Zukunftsperspektive. Mit der Ausrichtung von Invictus Games in Deutschland können wir diesen Ansprüchen noch besser gerecht werden, können einen Beitrag für Anerkennung, für Unterstützung und für Zukunftsperspektive leisten. Wie erfolgreich das funktioniert, das sehen wir am Beispiel anderer Länder. Metropolen wie London, Orlando, Toronto, Sydney waren die Austragungsorte einer solchen Veranstaltung seit dem Jahre 2014, Den Haag wird folgen. Unser Ziel ist die Ausrichtung der Veranstaltung 2022 in unserem Land. Warum diese Spiele? Meine Damen und Herren, die Invictus Games sind eben nicht nur einfach eine weitere paralympische Sportveranstaltung. Nein, sie haben ein zentrales Anliegen: Sie helfen, dass Soldatinnen und Soldaten mit Handicap besser zurück ins Leben finden. Sie sind ein Beitrag, das eigene Leben, das neue Leben mit Behinderung wieder als lebenswert anzunehmen. Die Etappen, die bis zur Teilnahme zurückzulegen sind, bilden jeweils einen wichtigen Baustein, auch in der Rehabilitation, und das ist ein langer, ein sehr fordernder Weg. Ein weiterer Aspekt, welcher auch für diese Spiele spricht, ist das Wieder-wahrgenommen-Werden. Menschen, die einsatzbedingt körperliche und seelische Schädigungen erlitten haben, werden mit der Tatsache konfrontiert, aus ihrem gesamten bisherigen Leben gerissen worden zu sein. Folglich ist es wichtig, wieder Akzeptanz in der neuen Rolle zu finden und ein Leben jenseits der Behinderung führen zu können. Das unterstützen wir. Nicht nur die Koalitionsfraktionen, der Verteidigungs- und der Sportausschuss, auch Ministerin von der Leyen waren mit der Bundesregierung initiativ. Meine Damen und Herren, wir wollen diese Spiele in Deutschland. Ich kann mir zum Beispiel die deutsche Hauptstadt Berlin sehr gut als einen möglichen Austragungsort vorstellen. Die Spiele bieten die Chance, Einsatzgeschädigten zu Anerkennung zu verhelfen und sich mit ihren sportlichen Leistungen, mit ihrem wiedergewonnenen Lebensmut einem breiten Publikum bekannt zu machen und andere zu motivieren. Lassen Sie mich abschließend noch auf etwas hinweisen. Ich kenne – wir haben es auch heute wieder gehört – die bitteren Argumente der Kritiker. Die Gegner der Spiele sagen: Wer in den Auslandseinsatz geht und verletzt zurückkommt, ist selber schuld. Kriegshelden wollen wir nicht. – Meine Damen und Herren, solchen Leuten sage ich: Verachtung ist nicht unser Ansatz. Bosheit ist die falsche Attitüde. Ignoranz ist nicht unser Weg. Wer auf persönliche Schicksale nur mit Häme und Spott reagiert, hat kein Recht, sich in jeder Debatte ständig auf humane Prinzipien zu berufen. Das untergräbt meiner Meinung nach jede Glaubwürdigkeit. Unser Bemühen mit Bedacht ist ausgewogener. Wir setzen auf Achtung, auf Wertschätzung, nicht auf Diskriminierung. Daher ist es uns wichtig, diese Veranstaltung in unser Land zu holen. Meine Damen und Herren, ich habe die herzliche Bitte: Unterstützen Sie unseren Antrag! Er ist ein großer Schritt zu mehr Akzeptanz. Wenn wir in den weiteren Beratungen auch die FDP mit einbinden, finde ich das sehr gut.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Stier, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass es auf Kosten Ihres Kollegen geht.

Dieter Stier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004168, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich bin am Ende meiner Rede. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Josip Juratovic für die SPD-Fraktion. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Erst in der vergangenen Woche habe ich von einem Bundeswehrangehörigen, der 2012 im Afghanistan-Einsatz war, einen Brief erhalten. Bei ihm wurde Jahre später eine posttraumatische Belastungsstörung festgestellt. Dieser Soldat fühlt sich mit seiner Krankheit alleingelassen. Er schreibt wörtlich: Unsere Politiker stimmen für Auslandseinsätze, ohne zu wissen, um was es geht, und ohne bei Schwierigkeiten hinter ihren Soldaten zu stehen. In Bezug auf seine seelischen Schwierigkeiten schreibt er: Es ist nicht im Interesse unserer Politik, sich mit solchen belanglosen Dingen zu beschäftigen. Kolleginnen und Kollegen, es ist fatal, wenn ein solcher Eindruck entsteht. Wir haben zwar die Deutsche Härtefallstiftung, doch diese darf uns nicht von unserer Verantwortung befreien. Ich weise regelmäßig darauf hin, dass es sich bei der Bundeswehr um eine Parlamentsarmee handelt. Sie handelt in unserem Auftrag und unterliegt unserer Kontrolle. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die, dass wir damit eine klare Fürsorgepflicht haben: für die Menschen, die bereit sind, unserem Land zu dienen, für unser Recht und unsere Freiheit zu kämpfen, und die im schlimmsten Fall ihr Leben dafür lassen. ({0}) Wir schulden es diesen Menschen, uns anständig um sie zu kümmern. Dabei gehört es zu unseren Aufgaben, die Soldatinnen und Soldaten gut auszurüsten. Genauso gehört es aber auch zu unseren Aufgaben, für ihr körperliches und seelisches Wohl zu sorgen. Genau hier kommen die Invictus Games ins Spiel. Dieser sportliche Wettbewerb für einsatzgeschädigte Soldatinnen und Soldaten, der erstmals vor fünf Jahren in London stattfand, bietet ihnen einen Lichtblick und ein Ziel. Versehrte Soldatinnen und Soldaten treiben nicht nur Sport, weil er zur Genesung einen erheblichen Beitrag leistet, sie können mit den Spielen zugleich in den sportlichen Wettbewerb mit anderen treten, die, ähnlich wie sie, im Einsatz verwundet wurden. Damit zeigen sie, dass sie mehr sind als Menschen mit Beschädigung. Sie können die Kraft zeigen, die in ihnen steckt. Sie können sich mit Stolz messen, jenseits aller körperlichen und seelischen Verletzungen, und damit zeigen, dass sie wahrlich invictus sind: unbesiegt, unbezwungen. Diese Spiele verschaffen ihnen Wertschätzung und Anerkennung. Sie können eine wichtige Etappe auf dem Weg zurück ins normale Leben sein. Zugleich schaffen die Invictus Games Öffentlichkeit und Sympathie. Die Bundeswehr stößt bei vielen Menschen noch auf Skepsis bis hin zu Ablehnung. Entsprechend bekommen auch verletzte Heimkehrer oft nicht die Akzeptanz und den Respekt, der ihnen zusteht. Die Invictus Games sind ein fröhlicher sportlicher Wettkampf. Ihn in Deutschland auszutragen, bedeutet, eine positive Öffentlichkeit zu schaffen. Die Spiele können eine Brücke schlagen zwischen Menschen innerhalb und außerhalb der Bundeswehr. Sie können sinnbildlich dafür stehen, dass die Bundesrepublik nicht nur im Einsatzfall Verantwortung übernimmt. Sie steht auch mittel- und langfristig für ihre Soldatinnen und Soldaten gerade und unterstützt sie. Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus all den genannten Gründen bin ich überzeugt von der Idee, die Invictus Games 2022 oder 2024 nach Deutschland zu holen. Wir brauchen jenseits der Sachpolitik ein deutliches Zeichen, ein Symbol für die Unterstützung unserer einsatzgeschädigten Soldatinnen und Soldaten. In der Hoffnung, dass auch der Soldat, der mir geschrieben hat, das hört: Wir danken Ihnen für Ihren Einsatz. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jens Lehmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jens Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für Sportler – hier spreche ich aus eigener Erfahrung – gibt es nichts Größeres, als an einem internationalen Sportereignis teilzunehmen. Noch motivierender ist es, wenn eine solche Veranstaltung im eigenen Lande stattfindet. Deshalb gehören die Invictus Games nach Deutschland. ({0}) Denn diese sind nicht nur ein sportliches Großereignis, das die Wertschätzung für die Teilnehmer aus vielen Ländern zum Ausdruck bringt, sondern sie stoßen hierzulande auch eine Debatte an, die längst überfällig ist, nämlich die über den Respekt für den Dienst an unserer Gesellschaft gerade im Sicherheitsbereich. Soldatinnen und Soldaten dienen uns allen, ebenso wie die Polizei, das Technische Hilfswerk oder die Feuerwehr. Sie alle tragen zur Sicherheit der Menschen in unserem Lande bei, im Ernstfall mit Leib und Leben. Trotzdem wird ihre Arbeit noch immer nicht ausreichend gewürdigt. Viele dieser Sicherheitskräfte fühlen sich alleingelassen mit ihrer Arbeit, aber auch mit ihren Beeinträchtigungen, die sie im Dienst für uns alle davongetragen haben. Das ist ein Problem für unsere Gesellschaft als Ganzes. Meine Damen und Herren, für mich sind die Invictus Games die Olympischen Spiele einsatzgeschädigter Soldatinnen und Soldaten. „Invictus“, also „unbesiegbar“, sagt schon einiges über die Athleten, die an diesen Spielen teilnehmen. Hier messen sich Soldaten, die sich trotz körperlicher und seelischer Verletzungen aus Einsätzen ins Leben zurückgekämpft haben. Nicht selten war es ein Kampf mit sich selbst, sich wieder sportliche Betätigung zuzutrauen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Invictus ­Games geht es nicht allein um den sportlichen Wett kampf. Vielmehr zeigen die Versehrten, dass sie mit ihre n erlittenen Einschränkungen umgehen. Sport ist hier im allerbesten Sinne Rehamittel, Motivation und Wegbereiter zurück ins Leben. Invictus-Sportler sind Vorbilder, nicht nur für ihre Angehörigen und Freunde, sondern auch für all diejenigen, die mit Rückschlägen zu kämpfen haben oder vor besonderen Herausforderungen stehen; auch für mich. Ich weiß um die Willensstärke, Disziplin und das harte Training, die es braucht, um bei großen internatio­nalen Wettkämpfen anzutreten. Ich kenne das Gefühl, an die eigenen körperlichen Grenzen zu gehen – und darüber hinaus. Doch ich kann nur erahnen, wie viel mehr Invictus-Sportler überwinden mussten und müssen; ein steiniger Weg. Dafür meinen allergrößten Respekt. Ich kenne aber auch das Hochgefühl, wenn man es geschafft hat, wenn man das Gefühl hat, über sich hinausgewachsen zu sein. Genau das habe ich im letzten Jahr beim Empfang der Invictus-Sportler erleben dürfen. Ich will und werde nach Kräften mithelfen, dass dies auch viele andere Sportler erleben können. Meine Damen und Herren, stellen wir uns der Aufgabe, versehrte Soldatinnen und Soldaten auf ihrem schweren Weg zu unterstützen! Beginnen wir damit, indem wir die Invictus Games schon bald nach Deutschland holen! Gleichzeitig muss in unserer Gesellschaft endlich das Bewusstsein reifen, dass es nicht „die Sicherheitskräfte“ und „uns“ gibt: Es gibt nur ein Wir. Bitte senden Sie dieses Signal in unsere Gesellschaft hinein. Meine Damen und Herren, für den erfolgreichen Einsatz für Deutschland, aber auch für die sportlichen Leistungen –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lehmann, achten Sie bitte auf die Zeit!

Jens Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– letzter Satz – appelliere ich an Sie alle, die Invictus Games nach Deutschland zu holen und unseren Antrag zu unterstützen. Danke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8262 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Prof. Dr. Lothar Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004812, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die kostenpflichtige Abmahnung von Verbrauchern für nicht bezahlte oder vermeintlich nicht bezahlte Rechnungen durch Inkassobüros ist in diesem Land ein Massenphänomen – ein Massenphänomen, verehrte nicht anwesende Frau Ministerin, und nicht eines der Randgruppenthemen, mit denen sich Ihr Haus vorzugsweise beschäftigt. Im Jahr 2017 haben die Unternehmen der Inkassowirtschaft nach ihren eigenen Statistiken nicht weniger als 23 Millionen Mahnungen verschickt. 23 Millionen Mahnungen: Das bedeutet, jeder vierte Deutsche hat einmal im Jahr Kontakt mit der Inkassowirtschaft. Interessanterweise sind die Streitwerte eher bescheiden. Sie liegen zu 90 Prozent unterhalb von 100 Euro. Nun könnte man sagen, das ist ein zu verschmerzender Betrag, wenn nicht die Kosten dieser Mahnungen exorbitant wären. Im Schnitt werden für eine tatsächlich oder vermeintlich nicht bezahlte Schuld eines Verbrauchers Mahnkosten in Höhe von 70 Euro erforderlich, also erheblich mehr als der eigentlich geschuldete Betrag. Bei zwei- oder dreimaliger Mahnung kann das auf 200 Euro und darüber hinaus ansteigen. Ich weiß, wovon ich rede. Passenderweise hat gerade in der Zeit, als wir an dem Gesetzentwurf gearbeitet hatten, ein Inkassounternehmen mich selbst als Opfer ausgesucht. Für eine längst bezahlte Rechnung kam eine Mahnung nach der anderen. Inzwischen ist es die vierte. Man geht nicht auf Zuschriften ein; man geht auch nicht auf die geleistete Zahlung ein. Es kommt eine Mahnung nach der anderen, und der Betrag ist inzwischen bei über 200 Euro. Ein schöner Lerneffekt, für den ich mich hier bei der Inkassowirtschaft bedanken kann. ({0}) Diese Kosten mögen für jemanden, der gut verdient, kein Problem sein. Aber es ist ein Problem zum Beispiel für die alleinerziehende Mutter, die ohnehin kaum über die Runden kommt. Und es bleibt auch nicht bei diesen Grundinkassogebühren, sondern es kommen regelmäßig noch andere Kosten hinzu, die den Gesamtbetrag weit überhöht erscheinen lassen. Da gibt es Bonitätsauskünfte, da gibt es Kontoführungsgebühren, da gibt es Entgelte für Datenerfassung, Entgelte für Telefoninkasso usw. usf. Die Fantasie, die die Branche hier aufbringt, ist beachtlich. Es gibt Doppelaufträge. Man beauftragt ein Inkassounternehmen und einen Rechtsanwalt zugleich; beide kassieren. Es gibt ein Konzerninkasso, das heißt, der geschuldete Betrag wird von einem Inkassounternehmen eingefordert, das dem Gläubiger selber gehört. Diese Missstände haben natürlich auch das Ministerium und der Deutsche Bundestag schon lange erkannt. 2013 wurde hier das Gesetz gegen unseriöse Geschäftspraktiken beschlossen, das dem Missstand abhelfen sollte. Es wurde eine Obergrenze des 1,3‑Fachen aller Anwaltsgebühr für eine Abmahnung eingeführt. Aber es ist das 1,3‑Fache der Anwalts gebühr: Diejenigen, die das bearbeiten und diese Serienbriefe versenden, sind in aller Regel keine Anwälte, sondern angelernte Kräfte. In Erkenntnis dessen, dass das Gesetz damals nicht gewirkt hat oder das Gegenteil des Beabsichtigten erzeugt hat, hat die Ministerin angekündigt, sie werde in Kürze – so hieß es – einen Gesetzentwurf vorlegen. Das war vor einem Dreivierteljahr. Geschehen ist bis jetzt nichts. Ich habe nicht das geringste Verständnis für diese Untätigkeit des Ministeriums. ({1}) Die AfD sieht vor, dass mit ihrem Gesetzentwurf zwei Regulierungen eingeführt werden, nämlich erstens kein Inkasso bei Beträgen unter 100 Euro bzw. 160 Euro, wenn mehrere Forderungen vorliegen, und kein kostenpflichtiges Inkasso, wenn nicht zuvor zweimal gemahnt worden ist, und zwar durch den Gläubiger. Der Gläubiger kann auch ein Inkassounternehmen einschalten, aber die Kosten dieses Unternehmens muss der Gläubiger selbst tragen. Die gelegentlich diskutierte Alternative, die übrigens auch in dem Antrag der Grünen enthalten ist, nämlich die 0,3‑fache Anwaltsgebühr, halten wir für untauglich, weil in aller Regel die Inkassounternehmen dann auf mit ihnen finanziell und personell verbundene Rechtsanwaltskanzleien ausweichen. Daher meine Bitte: Unterstützen Sie, meine Damen und Herren und auch Frau Ministerin – wenn Sie wieder mal da sein sollten –, den Gesetzentwurf der AfD! Ich danke Ihnen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Sebastian Steineke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sebastian Steineke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004417, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauer! Die beiden heutigen Vorlagen – wir beraten auch einen Antrag der Grünen zu dem Thema Inkasso – bieten die Möglichkeit, das Thema grundsätzlicher zu beleuchten und uns auszutauschen. Herr Kollege Maier, Sie haben natürlich recht: Das werden wir dann auch im Ausschuss entsprechend tun. Sie möchten mit Ihrem Gesetzentwurf die Möglichkeit – das haben Sie gerade auch gesagt –, vorgerichtliche Inkassokosten erstattet zu bekommen, in den entsprechenden Höhen grundsätzlich unterbinden. Das wäre aus unserer Sicht allerdings ein ziemlich tiefer Eingriff und fast ein Totalverbot für die Branche in diesem Bereich. Wir kennen die Probleme – Sie haben sie aufgezählt – und die Missbräuche, die in der Branche vorkommen. Schwarze Schafe gibt es überall. Das ist aber aus unserer Sicht noch lange kein Grund, auch alle redlichen Unternehmen dafür in Mithaftung zu nehmen. ({0}) Im heutigen Wirtschaftsleben ist die Möglichkeit, Inkassodienstleistungen in Anspruch zu nehmen, gerade für die Kleinstunternehmen und für den Mittelstand unverzichtbar. Pro Jahr werden dem Wirtschaftskreislauf zwischen 5 Milliarden und 10 Milliarden Euro durch Inkasso wieder zugefügt, die ansonsten nicht zurückgeflossen wären. Wir brauchen in bestimmten Bereichen noch neue Regelungen. Das ist unstrittig. Aber die gesamte Branche in Abrede zu stellen, kann nicht unser Ziel sein. ({1}) Dabei bleibt aus unserer Sicht rechtlich Folgendes festzuhalten: Inkassokosten sind nach der Rechtsprechung sowohl des Bundesgerichtshofes als auch des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich ersatzfähig. Das entspricht dem selbstverständlichen Grundsatz, dass der Schuldner dem Gläubiger den durch Verzug entstandenen Schaden zu ersetzen hat. Das ist in unserem Schadensersatzrecht nach dem Grundsatz der Totalreparation auch absolut herrschende Meinung. Einen Ausschluss bestimmter Teile, wie Sie ihn vorsehen, ist aus unserer Sicht allein aus europarechtlichen Gründen nicht möglich. Es gibt die Richtlinie zur Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr, in der explizit gefordert wird: Der Gläubiger hat gegenüber dem Schuldner zusätzlich zu dem in Absatz 1 genannten Pauschalbetrag einen Anspruch auf angemessenen Ersatz aller durch den Zahlungsverzug des Schuldners bedingten Beitreibungskosten, die diesen Pauschalbetrag überschreiten. Zu diesen Kosten können auch Ausgaben zählen, die durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts oder eines Inkassounternehmens entstehen. Aus unserer Sicht können Sie hier also im besten Fall keinen Unterschied machen zwischen dem Friseur an der Ecke, der versucht, seine Forderung geltend zu machen, oder einer Privatperson. Die von Ihnen gewählte Unterscheidung ist in diesem Zusammenhang völlig willkürlich und vermutlich auch wettbewerbsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Etwas ganz anderes ist natürlich die Frage, ob und welche eigenen Bemühungen der Gläubiger an den Tag zu legen hat oder in welcher Höhe die Inkassokosten überhaupt geltend gemacht werden können. Wir werden den Evaluationsbericht des iff-Instituts über die inkassorechtlichen Vorschriften des Gesetzes gegen unseriöse Geschäftspraktiken, der seit längerer Zeit vorliegt, sehr genau auswerten und uns auch die Schwachstellen angucken; das ist der Weg, den wir auch in Bezug auf die beiden Vorlagen gemeinsam beschreiten sollten. Der Bericht unterliegt nämlich durchaus gewisser Kritik. Der Vorwurf lautet, dass die empirischen Erhebungen nicht sauber durchgeführt worden seien, und es fehle den Analysen an statistischer Fundiertheit. Auch darüber müssen wir reden. Damit bin ich beim Antrag der Grünen. Der Ansatz, den Sie verfolgen, ist sicherlich nicht falsch. Darüber wird man zu reden haben. Dennoch müssen wir durch Auswertung des Berichtes sehr genau prüfen, was gesetzgeberisch notwendig ist. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, das Inkassowesen deutlich verbraucherfreundlicher zu gestalten. Hiermit beschäftigt sich das Justizministerium. Das haben wir gerade gehört. Ich denke, dass wir ein bisschen an Zeit zunehmen können. In der Fraktion haben wir uns schon erste Gedanken gemacht. Wir müssen uns mit dem Thema „Höhe der Kosten“ beschäftigen. Das ist unstrittig. Darüber müssen wir reden. Wir müssen aber auch über ein Thema reden, das in beiden Vorlagen gar nicht enthalten ist, nämlich über das problematische Thema Identitätsdiebstahl. Das ist eine erhebliche Belastung für die vermeintlichen Schuldnerinnen und Schuldner, die sich selber noch exkulpieren müssen. Viele betroffene Schuldner sind zu Recht über die Art und Weise sowohl der Formulierung als auch des Anschreibens – ich sage es vorsichtig – entsetzt und nicht damit einverstanden. Die Branche hat darauf reagiert und möchte einen Code of Conduct entwickeln. Das begrüßen wir sehr. ({2}) Wir als Politik waren in den letzten zwei Jahren aber nicht untätig. Wir unterstützen mit dem BMJV das Online-Inkasso-Tool der Verbraucherzentrale Brandenburg – bestes Legal Tech –, das im letzten Jahr bereits 41 000 Vollnutzer in Anspruch genommen haben. Ich bin daher zuversichtlich, dass wir weitere gute Vorschläge beraten und zu einer guten Lösung kommen werden. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Katharina Willkomm für die FDP-Fraktion. ({0})

Katharina Kloke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004783, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD zersäbelt das Recht. Heute ist das Schuldrecht dran, § 280 BGB, das Herzstück des Schadensersatzrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch. Mir drängt sich eine Frage auf: Hat denn kein Jurist bei Ihnen in der Fraktion die Hand gehoben und gesagt: „Das gehört da nicht hin“? Wie die Begründung zu Ihrem Entwurf andeutet, haben Sie sich anscheinend mit der Systematik der Schadensersatznormen beschäftigt, nur mit deren Inhalt offensichtlich nicht. Sie fordern eine zweite qualifizierte Mahnung, bevor Inkassokosten ersetzt werden können, selbst dann, wenn noch nicht einmal eine erste Mahnung notwendig war. Das ist schlichtweg unlogisch. ({0}) Denn die Regelung des § 286 BGB macht eine Mahnung in Einzelfällen entbehrlich, und zwar aus guten Gründen, meine Damen und Herren. Zum Beispiel wenn ein Schuldner ernsthaft und endgültig die Zahlung verweigert, muss man ihn nicht mahnen. Er hat seinen Standpunkt klargemacht. Ihm jetzt wieder eine Mahnung zu schicken, die androht: „Beim nächsten Mal kommt Post vom Inkassodienst“, ist pure Zeitverschwendung für alle Beteiligten. ({1}) Zum Thema Inkasso haben die Gerichte bereits das meiste geklärt. So ist etwa die doppelte Inanspruchnahme des Schuldners mit Inkasso- und Anwaltskosten nur unter sehr engen Voraussetzungen zulässig. Im BGB muss deshalb nichts klargestellt werden. Das Einzige, was Ihr Gesetzentwurf schafft, sind mehr Aufträge für Anwälte und höhere Kosten für die Schuldner. Ein vernünftig denkender Gläubiger würde in Zukunft statt des Inkassos gleich den teureren Anwalt beauftragen. Dessen Kosten bekommt er schließlich weiterhin ohne Einschränkung erstattet. Dabei ist es völlig legitim, wenn Inkassobüros für die Forderungsbeitreibung genutzt werden. Viele Schuldner können Forderungen nur in Raten abstottern. Die notwendigen Zahlungsvereinbarungen zu schließen, die Rückzahlung zu überwachen und alles richtig zu verbuchen, ist aufwendig. Gerade für kleine Unternehmen ist es eine enorme Erleichterung, wenn sie das in professionelle Hände geben können. Schuldner wissen zudem meistens, ob die Forderung berechtigt ist. Hat man etwas gekauft, muss man es auch bezahlen. Und hat man eine Rechnung übersehen, zahlt man sie schleunigst nach Erhalt der Mahnung. Erst wenn man weiterhin den Kopf in den Sand steckt, kommen Inkassofirmen überhaupt ins Spiel. Für redliche Unternehmer schaffen Sie nur bürokratischen Mehraufwand. Unseriöse Gläubiger und unseriöse Inkassofirmen aber pfeifen auf gesetzliche Anforderungen; das haben Sie in Ihrer Begründung selber dargelegt. Die werden doch nicht anständig, nur weil sich im Schuld­recht eine Norm ändert. Die halten sich ja auch jetzt nicht an die bestehenden Regeln. Gegen solche Firmen hilft nur eine Strafanzeige. ({2}) Legale Inkassofirmen sind bei Gericht registriert, und dort kann man sich auch beschweren. Findet sich eine Inkassofirma nicht im Register, kann man deren Schreiben getrost ignorieren. Informieren kann man sich auch online. Dazu bietet der Inkasso-Check der Verbraucherzentralen eine einfache Kontrolle, und zwar kostenlos. Wer es analog bevorzugt, erhält bei den Verbraucherzentralen auch vor Ort Hilfe und Beratung. Zusammengefasst: Wieder ein AfD-Vorschlag, 12 Seiten lang, wieder erst gestern vorgelegt, aber heute in der Debatte, wieder ziemlich unkollegial und der Inhalt, sachlich wie rechtstechnisch, wieder ein Desaster. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner für die SPD-Fraktion. Besonders würdigen wir, dass Sie beschlossen haben, Ihren heutigen Geburtstag mit uns hier im Plenum zu verbringen. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Ich bedanke mich für die Glückwünsche. Ich habe mich natürlich besonders gefreut, dass die namentliche Abstimmung heute Abend diesen Tag richtig abrunden wird. ({0}) Das ist das, was man sich an einem Geburtstag von Herzen wünscht. Meine sehr verehrten Damen! Meine sehr verehrten Herren! Am Ende der Rede der Kollegin von der FDP habe ich eben von der rechten Seite den Zuruf gehört, sie sei keine Praktikerin. Also will ich als Praktiker reden; denn ich habe in meinem Leben, bevor ich an dieses Rednerpult treten durfte, in unterschiedlichen Funktionen Forderungen betrieben und eingezogen. Ich will auf den Bereich zu sprechen kommen, der heute zweifelsohne Sache ist. Um was geht es eigentlich? Es geht doch nicht darum – es hat mich etwas erschreckt, was auf der Website des Deutschen Bundestages, also auf bundestag.de, stand –, das legale, das seriöse Arbeiten von Dienstleistungsunternehmen der Inkassobranche und das seriöse Arbeiten der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in diesem Land, die – ich sage es ganz deutlich – unbestrittene Forderungen außergerichtlich und im gerichtlichen Mahnverfahren einziehen, in Misskredit zu bringen. Vielmehr geht es darum – das haben die Koalitionsfraktionen erkannt; wir Sozialdemokraten haben das mit der Union im Koalitionsvertrag festgelegt –, nach der Evaluation und der Auswertung des GguG eine entsprechende gesetzliche Regelung herbeizuführen, die bessere Überwachung und bessere Regelungen zum Inkassorecht bringt, die dem Markt entsprechen, aber gleichzeitig auch für Verbrauchersicherheit sorgen. Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Es tut mir leid, dass wir heute die Vorlagen von AfD und Grünen gemeinsam behandeln müssen; denn der Antrag, den die Grünen eingebracht haben, ist nicht nur sehr vernünftig, sondern kann in wesentlichen Bereichen mitgetragen werden. Über ihn muss debattiert werden. Dass er nun in einem Brei mit dem Gesetzentwurf der AfD beraten wird, tut mir für den inhaltlich sehr substanziellen Antrag der Grünen leid. ({1}) Aber das können wir nach der Evaluation und der Auswertung durch das Bundesministerium der Justiz in den entsprechenden Beratungen noch zur Genüge tun. Was müssen wir tun, was werden wir tun, und was ist notwendig, um im Inkassobereich eine ordentliche, klare und transparente Regelung zu bekommen? Wir müssen dafür sorgen, dass beispielsweise die bisherige Praxis bei der Berechnung der Inkassogebühren – sie ist im Übrigen geregelt –, generell den 1,3-fachen Satz der RVG zur Grundlage zu nehmen, überprüft wird. Für die Diskussion, bei den Sätzen nun das 1,0-, das 0,7-, das 0,5- oder das 0,4-Fache zu nehmen – egal, was noch alles kommt –, werden wir genügend Zeit haben. Wir werden einen Hinweis auf die Aufsichtspflicht der entsprechenden Inkassounternehmen geben. Ich sage als jemand, der etwas lebensälter ist: Die Vorgängereinrichtung des RVG war das Rechtsberatungsgesetz, wonach der Landgerichtspräsident mit einer unangekündigten Geschäftsprüfung ganz ordentlich prüfen konnte. Ich habe nie ganz verstanden, warum wir auf dieses Prüfungsinstrument verzichtet haben. Ich glaube, es ist gut, dieses Prüfungsinstrument in irgendeiner Form wieder aufleben zu lassen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben dies sicherlich verdient. Der Vorschlag, den die AfD zu den Mahnungen eingebracht hat, meine sehr verehrten Damen und Herren, entspricht allerdings überhaupt keinem System; denn zum einen wollen Sie die Fälligkeit jeglicher Forderung nach 30 Tagen aushebeln. Sie wollen zum anderen eine Regelung treffen, die letztendlich dazu führen würde, Gläubigern mit unbestrittenen Forderungen ein Bein zu stellen. Der Schadensersatzanspruch ergibt sich ja nicht nur daraus, dass der Schuldner den entsprechenden Aufwand für den Anwalt oder das Inkassounternehmen zu zahlen hat, sondern es gibt gleichzeitig die Schadensminderungspflicht. Wenn Sie also bei einer Forderung von bis zu 100 Euro keine Inkassogebühr verlangen wollen, bedeutet dies umgekehrt, dass auch die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte nichts bekommen, weil deren Gebühr nach der Schadensminderungspflicht ebenfalls nicht anfiele. Dieser Vorschlag ist nicht durchdacht, einfach platt, populistisch wie üblich und deshalb in meinen Augen vollständig abzulehnen. Über den anderen Antrag werden wir nach der Evaluation sprechen. Da werden wir sicherlich gute Lösungen finden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Amira Mohamed Ali für die Fraktion Die Linke. ({0})

Amira Mohamed Ali (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004823, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir diskutieren heute über das Thema Inkasso. Dazu liegen uns ein Gesetzentwurf der AfD und ein Antrag der Grünen vor. Überschuldung ist ein großes und wachsendes Problem. Laut aktuellem Schuldenatlas wurde in Deutschland am 1. Oktober 2018 eine Überschuldungsquote von 10 Prozent festgestellt. Damit sind knapp 7 Millionen Bürgerinnen und Bürger über 18 Jahren überschuldet, 19 000 Menschen mehr als im Vorjahr – trotz boomender Wirtschaft und Niedrigzinsphase. In den meisten Fällen geraten Menschen durch unerwartete Ereignisse in die Schuldenfalle. Der plötzliche Verlust des Arbeitsplatzes, eine schwere Krankheit, ein Todesfall in der Familie: So berichten es mir einhellig Schuldnerberaterinnen und Schuldnerberater. Die Not dieser Menschen ist zum Geschäftsmodell geworden. Durch unseriöse Inkassounternehmen werden Forderungen durch horrende Gebühren in kürzester Zeit vervielfacht. Der Druck, den diese Unternehmen mit Drohbriefen, mit ständigen Telefonanrufen aufbauen, mit der psychischen Gewalt, die sie ausüben, führt außerdem oft dazu, dass viel drängendere Rechnungen wie die für Miete oder Strom nicht zuerst beglichen werden, so wie es ein Schuldnerberater empfehlen würde. Ich weiß von einer Rentnerin mit einer sehr kleinen Rente, die von einer plötzlichen Stromnachzahlung überrascht worden ist. Diese Rechnung hätte dringend bezahlt werden müssen, damit der Strom nicht abgeschaltet wird. Aber sie fühlte sich von einem Inkassounternehmen so unter Druck gesetzt, dass sie erst einmal die ausstehende Rechnung eines Möbelhauses bezahlt hat. Ergebnis: Der Strom wurde abgeschaltet. Es entstanden mehrere 100 Euro Gebühren, die das Stromunternehmen für das Ab- und dann wieder Anschalten des Stromes genommen hat. Fakt ist: Unseriöses Inkasso stürzt die Betroffenen schnell und tief in die Schuldenspirale. Diese Missstände müssen dringend behoben werden. Unseriöses Inkasso muss eingedämmt werden. ({0}) Die Linke fordert, Inkassokosten auf maximal 20 Prozent der Hauptforderung zu beschränken. Dadurch wird die Kostenexplosion verhindert. ({1}) Außerdem müssen Inkassounternehmen bei unseriösen Geschäftspraktiken, etwa unlauteren Drohungen und Belästigungen der Betroffenen, hart sanktioniert werden. Die Inkassoaufsicht, die auf Länderebene von den Gerichten durchgeführt wird, muss darüber hinaus deutlich verbessert werden. Die Gerichte sind personell nicht gut genug ausgestattet, um effektiv kontrollieren zu können. Und es braucht eine länderübergreifende Kontrollinstanz; denn große Inkassounternehmen agieren bundesweit. Die Schuldnerberatung muss allen Menschen kostenlos zur Verfügung stehen. ({2}) Aktuell haben nur Empfänger von Sozialleistungen Anspruch auf kostenlose Schuldnerberatung. Aber gute und vor allem frühzeitige Beratung ist die beste Prävention, so sieht es Die Linke. Zum Antrag der Grünen möchte ich Folgendes sagen: Ihre Forderungen sind richtig. Sie sprechen wesentliche Punkte an. Allerdings sind diese teilweise nicht konkret genug. Sie fordern zum Beispiel, dass „Inkassokosten auf ein angemessenes Niveau begrenzt werden“ sollen. Also, „angemessen“ ist ein sehr dehnbarer Begriff. Das ist uns nicht konkret genug. Trotzdem: Die Richtung Ihres Antrags stimmt. Wie will die AfD nun dem enormen Problem des Inkassounwesens begegnen? Ihr Gesetzentwurf enthält genau zwei Punkte: Unternehmen können bei Forderungen bis zu 100 Euro bzw. bei mehreren Kleinforderungen bis zu 160 Euro keine Inkassokosten mehr in Rechnung stellen, und es braucht immer eine zweite Mahnung. – Das ist allen Ernstes der Vorschlag der AfD, um das Inkassounwesen einzudämmen: Einmal mehr mahnen, und bei allen Forderungen von mehr als 100 Euro bleibt alles beim Alten. – Das ist absurd. Die AfD täuscht hier vor, dass sie das große Problem des Inkassounwesens eindämmen möchte und dreht in Wirklichkeit nur völlig undifferenziert an einer ganz kleinen Schraube. Wieder einmal beschäftigen Sie uns mit einem Ihrer Schaufensteranträge. Wir brauchen eine viel größere Lösung. Wir müssen an das System der Inkassoabzocke ran. ({3}) Wir Linken sagen: Das Geschäft mit der Not darf sich nicht mehr lohnen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Tabea Rößner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Brunner, wir haben unseren Antrag heute neben den Gesetzentwurf der AfD gestellt, weil wir als Fraktion einfach zu wenig Debattenplätze haben und von der Koalition noch nichts vorgelegt wurde. ({0}) Der Evaluationsbericht zum Gesetz gegen unseriöse Geschäftspraktiken wurde schon erwähnt. Diese Studie kommt zu einem vernichtenden Urteil, nämlich dass das Kernanliegen des Gesetzes gar nicht erreicht wurde. Die Schuldner wurden mit Einführung des Gesetzes nämlich nicht entlastet, sondern im Gegenteil durch deutlich höhere Inkassokosten stärker belastet. Warum ist das so? Eigentlich sollte ja exorbitanten Inkassokosten ein Riegel vorgeschoben werden, und zwar indem die Gebühren der Inkassounternehmen an die des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes geknüpft wurden. Diese Idee halten wir weiterhin für gut. Nur der Rahmen wurde viel zu weit gefasst. ({1}) Die Studie zeigt, dass die Inkassounternehmen meist den höchstmöglichen Satz, nämlich das 1,3-Fache, berechnen. Den können sie verlangen, ohne belegen zu müssen, dass die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war. Wir fordern daher, dass gesetzlich klargestellt wird, dass Inkassounternehmen bei den typischen, standardisierten Schreiben, die sie verschicken, maximal den 0,3-fachen Satz verlangen dürfen. ({2}) Das entspricht der Gebühr, die Anwälte für Schreiben einfacher Art verlangen dürfen. Das erscheint uns passend und angemessen. ({3}) Die AfD will dieses Problem zwar auch angehen, biegt aber völlig falsch ab. Dass die Gebühren der Inkassounternehmen unverhältnismäßig hoch sind, sehen auch wir so. Aber Sie wollen gleich die komplette Ersatzfähigkeit von Inkassokosten bei Verbraucherschulden von unter 100 Euro abschaffen. Damit schießen Sie über das Ziel völlig hinaus. Ich sage Ihnen, warum. Bei aller berechtigten Kritik gibt es Situationen, in denen kleinere Unternehmen auf Hilfe von Inkassounternehmen angewiesen sind. Oft schaffen sie es mit ihrer geringen Personalausstattung nicht, ihrem Geld hinterherzulaufen. Es muss für sie die Möglichkeit geben, diese Aufgabe auch weiterhin zu delegieren; denn nicht nur die Schuldner, sondern auch die Gläubiger haben schutzwürdige Interessen. Hier muss eine sinnvolle Balance zwischen den Interessen von Verbrauchern einerseits und den betroffenen Gläubigern andererseits gefunden werden. Diesen Ausgleich haben Sie überhaupt nicht im Blick. ({4}) Wir schließen uns mit unserem Grünenantrag daher im Kern den Vorschlägen der Experten der iff-Studie an. Statt die vermeintliche Lösung der AfD zu unterstützen, setzen wir uns für die Beschränkung auf die Höhe einer 0,3er-Gebühr und damit für eine mildere Maßnahme ein, die gut geeignet ist, den verfolgten Zweck, nämlich die Senkung der Inkassokosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher, zu erreichen. Das verstehen wir unter „Verhältnismäßigkeit einer gesetzgeberischen Maßnahme“. Neben den Gebühren gibt es aber weitere Probleme mit unseriösen Inkassounternehmen, die die Verbraucherinnen und Verbraucher mit unangemessenen Drohungen ganz schön unter Druck setzen. Auch hier müssen wir ansetzen. Wir müssen zum Beispiel sicherstellen, dass die Aufsicht in solchen Fällen greift, was derzeit selten der Fall ist. Denn im Evaluationsbericht heißt es, die Aufsichtsbehörden hätten selten von ihren Befugnissen Gebrauch gemacht, und Bußgelder seien fast nicht verhängt worden. Wir müssen daher die Aufsicht verbessern. Dafür braucht es eine Bündelung der Aufsicht und eine Erhöhung der Bußgelder. Zuletzt eine formale Kritik. In der Begründung Ihres Gesetzentwurfs ergehen Sie sich ja in allgemeinen Betrachtungen zum Thema, zum Beispiel zu erstattungspflichtigen Doppelaufträgen oder zur Ausübung von überhöhtem Druck auf Schuldner. Aber diese Punkte werden in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht geregelt. Zu all diesen Punkten haben wir Forderungen in unserem Antrag, zum Beispiel zur verbesserten Aufsicht. Bei Ihnen fehlt die Kongruenz von Gesetzestext und Begründung. Es wirkt so, als ob Sie alles mal aufgeschrieben hätten, was Ihnen so eingefallen ist. Gewollt, aber nicht gekonnt, meine Damen und Herren! Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Heribert Hirte das Wort. ({0})

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer auf den Tribünen! Wir haben hier über zwei Vorlagen zu beraten – ein Gesetzentwurf der AfD und ein Antrag der Grünen –, die sich beide mit dem Problem des Inkassos oder des Inkassomissbrauchs befassen. Die AfD möchte mit ihrem Entwurf letztlich bei Inkassoforderungen unter 100 Euro die Erstattungsfähigkeit der Kosten abschaffen. Das ist ein Riesenbruch mit Grundprinzipien des deutschen Zivilrechts. Was eigentlich noch viel schlimmer ist: Es ist ein Verstoß gegen das von Ihnen immer wieder hervorgehobene Subsidiaritätsprinzip. Denn was würde mit diesen Forderungen passieren? Es würden sofort Mahnbescheide erstellt, es würde sofort an die Gerichte gehen, und die Justiz würde in einer Weise belastet, die wir zuvor nicht gesehen haben. Die Inkassounternehmen – ja, da gibt es auch Missbrauch; das ist völlig unstreitig – erfüllen eine wichtige Aufgabe; denn sie sind in der Lage, Verhandlungen mit den Schuldnern zu führen und Ratenzahlungsvereinbarungen zu treffen, wodurch Entlastungen für die Schuldner erreicht werden können. Sie wollen also den Verbrauchern etwas wegnehmen, was wir ihnen geben wollten. In der letzten Legislaturperiode – ich sage das an die Kollegin von den Linken – haben wir genau an dem Punkt nachgesteuert, nämlich im Insolvenzrecht. Wenn Menschen in den Schuldturm getrieben werden, dann werden Ratenzahlungsvereinbarungen anerkannt. Wir haben also hier etwas für diejenigen gemacht, die in einer problematischen Lage sind. Ich komme zurück zu Ihrem Entwurf. Kollege Steineke hat schon sehr deutlich gesagt: Mit Ihrem Entwurf soll der Grundsatz der Totalreparation als Grundsatz des Zivilrechts aufgegeben werden. Das ist meines Erachtens überhaupt nicht zu vertreten. Wenn wir über einen Widerspruch nachzudenken haben, dann über die Tatsache, dass Unternehmer ihre Kosten geltend machen können, während sich aus der Mühewaltung der Verbraucher, die gegenüber Unternehmen Rechte geltend machen, kein Ersatzanspruch ergibt. Darüber kann man zivilrechtlich durchaus nachdenken. Das aber tun Sie nicht. Letzter Punkt zu Ihrem Entwurf – das kam auch im Antrag der Grünen vor –: Wieso soll eine zweite Mahnung erforderlich sein oder vielleicht eine dritte oder vierte? Das überzeugt überhaupt nicht. Ich glaube aber, dass das Kernproblem – es wird im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen angesprochen – an einer anderen Stelle liegt. Es liegt nicht bei der Frage der Ersatzfähigkeit dem Grunde nach, sondern bei der Frage der geltend zu machenden Kosten. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir über eine Begrenzung auf aufwandsbezogene Kosten nachdenken müssen. Ich glaube aber, dass der Ansatz nicht, wie wir es gerade schon in der Diskussion erlebt haben, darin liegen kann, in der Gebührenstruktur nur ein klein wenig zu ändern. Das Kernproblem liegt doch darin, dass die Gebührenordnung für Rechtsanwälte und auch die Abmahnkosten im außergerichtlichen Verfahren unser digitales Zeitalter noch nicht richtig widerspiegeln. Die Kostendegression, von der die Abmahnunternehmen, aber auch die Anwälte, die nun sehr schnell arbeiten können, profitieren, ist in der Gebührenordnung noch nicht reflektiert. Wir müssen deshalb meines Erachtens darüber nachdenken, die entsprechenden Kostenvorteile, die sich für die Justiz insgesamt ergeben, in einer geeigneten Weise aufzuteilen zwischen denjenigen, die die Arbeit machen, und denjenigen, gegenüber denen die Forderungen geltend gemacht werden. Hier geht es im Übrigen um ein Problem, das wir unter anderem auch im Gesundheitswesen haben. Auf der einen Seite brauchen wir eine effiziente Rechtsdurchsetzung. Auf der anderen Seite müssen wir die Kostenvorteile in vernünftiger Weise zwischen den Betroffenen aufteilen. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten. Kollege Steineke hat Legal Tech ins Gespräch gebracht. Das gehört dazu. Ich glaube, da ist noch einiges zu tun. Ich freue mich auf die gemeinsamen Beratungen. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Sarah Ryglewski das Wort. ({0})

Sarah Ryglewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Entwurf der AfD-Fraktion ist schon mehr als nötig gesagt worden. Einen Hinweis möchte ich mir aber doch gönnen. Leider ist der Abgeordnete Pohl schon weg. Ich finde, Sie können sich wirklich einfach mal diese chauvinistischen Sprüche sparen, die kommen, wenn hier vorne eine Frau spricht, die es besser weiß als Sie. ({0}) Ich habe auch nicht alles inhaltlich geteilt, was die Kollegin Willkomm gesagt hat. Aber ich finde, es gehört zum gegenseitigen Respekt, dass man sich zuhört und dass man Kritik dezidiert äußert, anstatt hier so daherzureden: „Sie haben keine Praxiserfahrung!“ Das finde ich unverschämt. ({1}) Was die Debatte hier heute gezeigt hat, ist, dass wir in diesem Raum zumindest ein gemeinsames Problembewusstsein haben. Das finde ich grundsätzlich erst mal sehr gut. Es haben ja verschiedene Redner der Koalition darauf hingewiesen, dass das Thema Inkassowesen auch im Koalitionsvertrag steht, und zwar zu Recht. Wir müssen aber in der Tat sehr sorgfältig differenzieren, worum es konkret geht. Es gibt mit Sicherheit auch beim Thema „berechtigte Inkassoforderungen“ Nachsteuerungsbedarf. Das Thema Gebühren ist schon mehrfach genannt worden. In der Tat führt die Regelung, die wir jetzt haben, oft dazu, dass die Höchstsätze ausgeschöpft werden. Das ist ein Problem. Wir haben des Weiteren immer noch ein Problem mit der Aufsicht. Vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern ist schlichtweg nicht klar, an wen sie sich wenden sollen, wenn sie irgendwo Probleme sehen. Hinzu kommt, dass es auch bei berechtigter Forderung immer mal wieder den Fall gibt, dass Inkassoschreiben so formuliert sind, dass der Schuldner eingeschüchtert wird. Dazu muss ich sagen: Es ist in unserem Rechtssystem nicht vorgesehen, dass man Leute, die einem etwas schulden, durch Einschüchterung und Bedrohung dazu bringt, schneller zu zahlen. Das ist inakzeptabel. Ich glaube, wir müssen Klarheit darüber schaffen, was erlaubt ist und was nicht. Dieser Vorschlag wird auch im Evaluierungsbericht gemacht. Ich glaube, wir sollten dieses Thema genau betrachten. Herr Hirte und Herr Steineke haben schon darauf hingewiesen: Wir nehmen die Debatte zum Anlass, uns mit dem Thema genau zu beschäftigen. Sie ist vielleicht auch ein guter Anlass, bei dem Thema Tempo zu machen. Karl-Heinz Brunner hat schon deutlich gesagt: Vieles von dem, was die Grünen vorgeschlagen haben, teilen wir grundsätzlich. – Was die Frage der Deckelung angeht, müssen wir genau hinschauen. Auch die Frage, wie wir die Aufsicht praxistauglich regeln können, müssen wir uns genau angucken. Ich möchte gerne einen Aspekt aufgreifen, den der Kollege Steineke eingebracht hat: die ganze Frage des Identitätsdiebstahls. Hier haben wir in der Tat zwei Problemlagen: Zum einen kann man hier schon davon reden, dass der Sorgfaltspflicht häufig nicht nachgekommen wird. Wir haben das Problem, dass Inkassounternehmen, wenn Forderungen an sie weitergereicht wurden, einen Auszug aus dem Melderegister einholen und dann die Forderung gegenüber dem Verbraucher geltend machen. Ich habe es selbst erlebt. Wenn ich statt „Ryglewski“ „Müller“ hieße, hätte mich dieses Schicksal nie ereilt; aber so war es sehr bequem. Als ich nach langem Hin und Her nachgefragt habe, wurde relativ schnell klar, dass es sich um einen Betrugsversuch handelte. Ich finde, Inkassounternehmen sind gefordert, bevor sie eine Forderung zustellen, genau nachzufassen: Ist derjenige, dem ich diese Forderung zustelle, auch wirklich derjenige, der etwas gekauft hat und den Betrag schuldet? Ein weiterer Punkt, den ich wichtig finde, ist das Thema „Verschuldung und Überschuldung“. Wir müssen gucken, ob es an der Schnittstelle zwischen Inkassounternehmen und Schuldnerberatung so läuft, wie wir uns das wünschen, das heißt, ob an dieser Stelle ein vernünftiger Zugang zur Schuldnerberatung besteht. Da gibt es auch bei seriösen Inkassounternehmen noch Nachsteuerungsbedarf. Ich fände – das kann man sicherlich sagen – ein Zugehen auf den Schuldner, der möglicherweise gerne zahlen würde, aber nicht zahlen kann, gut. Auch da gibt es noch ein bisschen Luft nach oben. Das sind Sachen, die wir uns im Laufe des Gesetzgebungsprozesses noch mal angucken. Vielen Dank für die Debatte. Ich freue mich auf die weiteren Diskussionen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte über Inkasso hat viele Facetten. Es geht um ein grundlegendes Prinzip unseres Vertragsrechts: Verbindlichkeiten, die man eingeht, sind zu begleichen, und Rechnungen hat man zu bezahlen. ({0}) Im Umkehrschluss gilt aber auch, dass, wenn keine Forderung besteht, der vermeintliche Schuldner geschützt werden muss und die Beitreibung von Forderungen in einem richtigen und einem fairen Rahmen vonstattengehen muss. Dass Inkasso für die Funktionsfähigkeit der Volkswirtschaft wichtig ist, wird daran deutlich, dass die Frage der Liquidität gerade für kleine und mittlere Unternehmen und damit auch für Arbeitsplätze eine Rolle spielt. Auch entlastet die außergerichtliche Streitbeilegung die Justiz. ({1}) Die Beitreibung von Forderungen ist also ein legitimes Interesse. Auch der Verzugsschaden darf geltend gemacht werden. Dazu gehören Inkassokosten, aber nicht Inkassokos­ten um jeden Preis. Inkassokosten dürfen für sich genommen nicht alleiniger Sinn und Zweck sein, Inkasso zu betreiben. Wir wollen Verbraucherinnen und Verbraucher vor überhöhten Inkassokosten schützen; diese Branche soll eine faire und gerechte Regulierung erfahren. Meine Damen und Herren, wir müssen über die Höhe der Inkassokosten sprechen. Das Gesetz gegen un­seri­öse Geschäftspraktiken aus dem Jahr 2013 hat die Inkassokos­ten auf die Höhe der Rechtsanwaltsgebühren begrenzt und gleichzeitig eine sogenannte 1,3-Gebühr als Obergrenze definiert. Aber die 1,3-Gebühr ist das, was der Rechtsanwalt verlangen kann – nach eingehender Prüfung des Sachverhalts, nach rechtlicher Beratung. Die Frage ist in der Tat, ob auch ein standardisiertes Mahnschreiben, manchmal tausendfach rausgeschickt, wirklich eine 1,3-Gebühr rechtfertigt. Ich meine, nein. ({2}) Wir brauchen eine Entlastung für Verbraucherinnen und Verbraucher. Deswegen müssen wir darüber sprechen, ob eine 0,3- oder 0,5-Gebühr nicht ausreichend ist, um Verbraucher vor diesem Aspekt ein Stück weit besser zu schützen. Wir müssen über die Frage sprechen, wie Inkassofirmen sich gerieren sollen. Auch wenn sich viele Firmen anständig und ordentlich verhalten – es gibt schwarze Schafe in der Branche, die Anlass zur Sorge geben. Da sind die unterschwelligen Bedrohungen, da sind die Drohungen mit dem Eintrag bei der Schufa, da ist auch das In-Aussicht-Stellen eines sehr unangenehmen Übels. Ich rufe der Branche zu: Im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher brauchen wir hier einen besseren Verhaltenskodex. Es ist nicht alles erlaubt, was vielleicht legitim erscheinen mag. Wir brauchen eine Inkassobranche, die sich deutlich vor die Verbraucherinnen und Verbraucher stellt und damit verhindert, dass Forderungen mit einem bedrohlichen Unterton eingetrieben werden. Das ist keine akzeptable Form der Rechtsverfolgung. Meine Damen und Herren, wir werden dieses Thema im Bundestag sehr bald wieder beraten müssen. Wir müssen diskutieren über die Frage der Aufsicht, darüber, wie wir die Aufsicht bündeln und effektiver gestalten können, über die Frage des Verhaltens und über die Frage der Gebühren. Wenn wir dazu ein Gesetz hinbekommen, dann kann, glaube ich, die Inkassobranche ihrer berechtigten Funktion nachkommen, und wir stärken in dem Bereich gleichzeitig den Verbraucherschutz. Lassen Sie uns darüber gemeinsam diskutieren! Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/8276 und 19/6009 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Florian Pronold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003612

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Fahrverbote, die gerichtlich ergangen sind, haben dazu geführt, dass die Einhaltung der Grenzwerte, die seit über zehn Jahren in der Bundesrepublik Deutschland gelten, in den Mittelpunkt der Debatte gerückt ist. Es ist so, dass viele Menschen darauf vertraut haben, einen Diesel zu kaufen, der sauber ist, der umweltgerecht ist, aber feststellen mussten, dass hier geschummelt und gemogelt worden ist, dass laut Laborwerten sechsmal weniger NO x ausgestoßen wird als in der Realität. ({0}) Deswegen ist es wichtig, dass wir nun die Voraussetzungen für Nachrüstungen schaffen, auch weil viele Menschen es sich nicht leisten können, sich einen neuen Diesel zu kaufen, weil sie das Geld dafür einfach nicht haben. ({1}) Deswegen ist es gut, dass das Verkehrsministerium und das Kraftfahrt-Bundesamt endlich die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, dass Nachrüstungen möglich sind, dass das jetzt schnell passiert. Wir tragen heute mit der Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes dafür Sorge, dass diejenigen, die nachrüsten, nicht von Fahrverboten betroffen sind. Das ist der Kern der heute vorliegenden Regelung. ({2}) Der Grenzwert von 40 Mikrogramm wird nicht verändert; auch das ist zu betonen. Es geht darum, im Einklang mit der EU-Kommission, die diese Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes geprüft hat, im Einklang mit dem Bundesverwaltungsgerichtsurteil, auch im Einklang mit dem, was das Verwaltungsgericht Wiesbaden entschieden hat, zu sagen: Fahrverbote sind ein hartes Mittel, und sie sind erst dann verhältnismäßig, wenn nicht abzusehen ist, dass die Grenzwerte durch die Nutzung anderer Mittel sehr bald eingehalten werden können. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Dr. Spaniel?

Florian Pronold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003612

Aber immer.

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsident, vielen Dank für die Möglichkeit, eine Frage zu stellen. – Herr Pronold, Sie haben gerade davon gesprochen, dass geschummelt und betrogen wurde, ({0}) und in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass in der Realität sehr viel höhere Abgaswerte als bei den Tests festgestellt wurden. Sie wissen aber schon, dass die Testbedingungen von diesen Fahrzeugen in den allermeisten Fällen völlig korrekt eingehalten wurden? Das wird Ihnen Ihr Kollege, Herr Minister Scheuer, sicherlich bestätigen können. Denn sonst wären diese Fahrzeuge ja heute nicht mehr zugelassen. Insofern hoffe ich doch zumindest, dass sie die Testbedingungen alle erfüllt haben. Wie können Sie dann hier in diesem Parlament behaupten, dass das bei Fahrzeugen, die in der Praxis, also im Realbetrieb, völlig andere Werte erreichen als im Labortestbetrieb, eine Schummelei oder eine Mogelei ist? Dann müssten Sie in der Konsequenz die Betriebserlaubnis und die Zulassung für diese Fahrzeuge sofort entziehen. Was Sie hier betreiben, ist Populismus. ({1})

Florian Pronold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003612

Ich freue mich, dass ausgerechnet die AfD mir den Vorwurf des Populismus macht. Ich will Sie aber einmal an die Fakten erinnern. Ich weiß, dass Sie sich damit immer schwertun. ({0}) Es gibt zwei Bereiche. Der erste Fakt ist, dass von einigen Automobilherstellern Manipulationssoftware eingesetzt worden ist, ({1}) die erkannt hat, wann sich ein Auto im Labortest befindet, und dann die Abgasemissionen verändert hat. Dazu sind auch Bußgelder ergangen, und zwar in erheblichem Umfang. ({2}) Dann gab es, wie Sie dargestellt haben, damals gültige Testverfahren. Diese Testverfahren haben Spielräume ermöglicht – zum Beispiel, dass man dann die Rückbank ausgebaut hat, die Reifen besonders hart aufgepumpt hat und all diese Dinge. Das waren gültige Tests. Sie haben aber trotzdem dazu geführt, dass im Labor bis zu sechsmal weniger NO x gemessen worden ist als im realen Straßenbetrieb. Deswegen hat man diese Testverfahren übrigens auch verändert: ({3}) weil sie mit der Realität nichts zu tun haben. Helmut Kohl hat mal gesagt: Wichtig ist nur, was hinten rauskommt. – Das gilt auch bei der Frage von Abgasen der Diesel, die in den Städten fahren. ({4}) Jetzt kommt es aber wirklich darauf an, dass wir mit den Maßnahmen, die die Bundesregierung mit Millionen unterstützt – ({5}) verbessere Elektroautoladeinfrastruktur, Austausch von Bussen, Verbesserungen und Austausch bei Handwerkerfahrzeugen und Lieferfahrzeugen –, real weniger Ausstoß bekommen. Wir sagen: Wenn in Städten die Werte bei 50 Mikrogramm liegen und zu erwarten ist, dass dort die Grenzwerte durch die Maßnahmen, die vor Ort ergriffen werden, sehr bald eingehalten werden, dann besteht keine Notwendigkeit, Fahrverbote zu erlassen. – Das ist nun eine bundeseinheitliche Regelung. Außerdem nehmen wir natürlich besondere Fahrzeuge wie zum Beispiel Krankenwagen, Behindertenfahrzeuge usw. aus, damit auch einheitlich klar ist, dass sie von Fahrverboten nicht betroffen sind. Diese Regelung wird dazu führen, dass wir hier insgesamt mehr Rechtssicherheit bekommen. Zum Schluss besteht auch noch der Ermessensspielraum der Kommunen, um über weitere Ausnahmen zu entscheiden. Es kommt jetzt darauf an, dass die Nachrüstung so schnell wie möglich stattfindet, ({6}) weil es in vielen Städten nur gelingen kann, die Grenzwerte einzuhalten, wenn es zu Nachrüstungen kommt. Das Zweite ist, dass darüber hinaus natürlich auch noch Ermessensspielräume in puncto Fahrverbote bestehen. Es gibt zum Beispiel auch Euro-5-Diesel, die mit SCR-Kats ausgestattet worden sind. Deren Käufer haben damals schon gedacht, dass sie etwas Gutes für die Umwelt tun. Natürlich muss bei dem zukünftigen Ermessen auch eine Rolle spielen, wer sich umweltgerecht verhalten hat und wer nicht. ({7}) In diesem Sinne legen wir heute einen guten Entwurf vor, um für viele Betroffene Rechtssicherheit zu schaffen. Es kann nicht sein, dass diejenigen, die auf einen guten Autokauf vertraut haben, zum Schluss die Dummen sind. Deswegen muss aber auch die Nachrüstung jetzt erfolgen. Der Widerstand, den es bei den Automobilherstellern noch gibt, muss endlich beendet werden. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Marc Bernhard für die AfD-Fraktion. ({0})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Nach über einem Jahr Diskussion um Fahrverbote kommt mit der Gesetzesänderung nun endlich ein erster Lichtblick für die Menschen; das greift aber leider viel zu kurz. Bisher hat das Umweltministerium ja versucht, uns einzureden, die Überschreitung des Grenzwertes von 40 Mikrogramm würde jedes Jahr zu Tausenden von Toten führen. Jetzt sind offensichtlich 10 Mikrogramm mehr kein Problem. Im Gesetzentwurf findet sich allerdings überhaupt keine Begründung, warum es 50 sein sollen. Woher kommen die 50 denn? Warum nicht 60 oder 70? ({0}) Fakt ist, dass im „Bundesgesundheitsblatt“ steht: In Kindergärten, Krankenhäusern und Altenheimen – also genau dort, wo sich die Risikogruppen, nämlich Kinder, ältere Menschen und Asthmatiker, besonders lange aufhalten – gilt ein Richtwert von 60 Mikrogramm. Wenn also die Oma mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gefahren werden muss, sind bereits 40 Mikrogramm für sie extrem gesundheitsgefährlich. Anschließend soll sie dann aber im Krankenhaus bei 60 Mikrogramm wieder gesund werden. Wie absurd ist das eigentlich? ({1}): Kapiere ich jetzt nicht!) Warum soll auf der Straße denn nicht der gleiche Wert wie in Krankenhäusern und Kindergärten gelten, nämlich 60 Mikrogramm? Dann wäre auch den 72 000 Menschen mit ihren Familien in Stuttgart geholfen, die jetzt von einem Fahrverbot betroffen sind. Diese 72 000 Familien lassen Sie mit Ihrer Gesetzesänderung nämlich alleine. ({2}) Es gibt keine einzige klinische Studie, die einen Stickstoffdioxidgrenzwert unter 100 Mikrogramm rechtfertigen würde. Oder beweisen Sie uns doch einfach das Gegenteil, indem Sie endlich der von uns vor über einem Jahr beantragten erstmaligen wissenschaftlichen Überprüfung des Grenzwertes zustimmen. ({3}) Wovor haben Sie denn eigentlich Angst? Sie glauben doch schon lange selber nicht mehr an die Seriosität Ihres eigenen Grenzwertes. ({4}) Der entscheidende Mangel der Gesetzesänderung ist jedoch, dass die Messstationen auch in Zukunft nahezu völlig willkürlich aufgestellt werden können. ({5}) Der Deutsche Verkehrsgerichtstag hat dazu festgestellt, dass die derzeitigen Vorgaben für das Aufstellen der Messstationen dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot nicht genügen, und deshalb den Bundestag aufgefordert, endlich eindeutige standardisierte Vorgaben für Messstationen festzulegen. In der heute hier vorliegenden Gesetzesänderung wird darauf aber mit keinem einzigen Wort eingegangen. Wie das aktuell bestehende Gesetz der Manipulation Tür und Tor öffnet, zeigen ganz eindrücklich die beiden Städte Stuttgart und München. In Stuttgart gibt es seit dem 1. Januar dieses Jahres Fahrverbote. In München sind die Luftwerte viel schlechter als in Stuttgart; trotzdem wird es in München keine Fahrverbote geben. Wie kann das eigentlich sein? Ganz einfach: In München gibt es fünf Messstationen, direkt an der Straße aufgestellt, die, wie erwartet, Höchstwerte und Grenzwertüberschreitungen messen. Dann hat die Stadt gesagt: Wir stellen einfach noch 20 zusätzliche Stationen auf, diesmal aber nicht am Straßenrand, sondern dort, wo die Menschen wirklich leben. – Alle diese 25 Stationen sind nach den Vorschriften des Gesetzes aufgestellt. Genau das hat man in Stuttgart nicht gemacht. In Stuttgart hat man keine zusätzlichen Messstationen aufgestellt, sondern die hohen Messwerte rein theoretisch auf die ganze Stadt umgelegt und Fahrverbote erlassen. Der einzige, aber entscheidende Unterschied zwischen beiden Städten ist die Regierung. In Baden-Württemberg gibt es eine grüne Landesregierung und in Stuttgart einen grünen Oberbürgermeister, während das in Bayern und in München nicht der Fall ist. Daran sehen Sie: Der Manipulation ist Tür und Tor geöffnet. Aufgrund des gleichen Gesetzes kann es bei der gleichen Stickstoffdioxidkonzentration zu Fahrverboten kommen oder auch nicht. Das hängt einzig und allein von den politischen Zielen der jeweils Regierenden ab. Und das ist ein Unding; ({6}) denn hier werden von Ihnen Millionen Dieselbesitzer kalt enteignet, die Existenz vieler Handwerksbetriebe gefährdet und Millionen von Arbeitsplätzen bedroht. Diese Fahrverbote fallen nicht vom Himmel, sondern sind von Ihnen, vor allem auf der linken Seite, politisch gewollt. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Karsten Möring für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin Pau! Herr Präsident Kubicki! Herr Bernhard, Sie haben wiederholt, was Sie beim letzten Mal, bei der ersten Lesung, hier schon vorgetragen haben. Ich muss einmal feststellen, was Sie alles nicht verstehen. ({0}) Sie kennen den Unterschied zwischen einer punktuellen Spitzenbelastung oder einer zeitlichen Spitzenbelastung und einem Durchschnittswert nicht. ({1}) Sonst wäre Ihr Beispiel von vorhin nicht möglich gewesen. Das verstehen Sie einfach nicht. ({2}) Dann erzählen Sie wiederholt, die Messstationen stehen falsch. Nehmen Sie einmal zur Kenntnis, was in den Regelungen steht. Da steht beispielsweise drin, dass die Platzierung in einer bestimmten Bandbreite erfolgen soll. Sie können sich darüber aufregen, ob die zu groß oder zu schlecht gewählt ist. Da steht aber auch drin, dass erfasst werden soll, wo die maximale Belastung stattfindet. Das ist keine Geschichte, die irgendjemand willkürlich macht. Die Überprüfungen der nordrhein-westfälischen Messstationen durch den TÜV Rheinland, die abgeschlossen sind, haben ja auch bestätigt: Die Messstationen stehen richtig. Für den Bund wird sich vermutlich genau dasselbe ergeben, wenn die Ermittlungen durch den TÜV Rheinland abgeschlossen sind. ({3}) Also, Sie betreiben hier Panikmache, und Sie verstehen die Sache nicht, um die es geht. So, was machen wir jetzt? Wir haben den Grenzwert, und man kann gar nicht oft genug betonen: Dieser Grenzwert gilt auch weiterhin, und wir werden ihn erreichen müssen, und wir werden ihn auch erreichen. ({4}) Was wir bis dahin brauchen, ist Zeit, in der wir den Grenzwert mit anderen Maßnahmen erreichen können. Diese Zeit verschaffen wir uns mit diesem Gesetz. Es ist auch vertretbar; ich komme gleich noch einmal darauf zurück. Wir verschaffen uns die Zeit, indem wir definieren: In der Regel Fahrverbote nur bei extrem hoher Belastung – das sind Werte über 50 Mikrogramm. Die FDP moniert, dass das ein aus der Luft gegriffener Wert ist. Man kann darüber streiten, ob man nun sagt „25 Prozent mehr“ oder „nur ein bisschen mehr“. Lassen wir das einmal dahingestellt. ({5}) Wir brauchen einen Satz, der vertretbar ist, und der heißt nun einmal: 50 Mikrogramm ist eine deutlich höhere Belastung, die wollen wir nicht akzeptieren, auch nicht in dieser Übergangszeit. Deswegen sind dort Fahrverbote möglicherweise unvermeidbar – aber auch nicht zwingend; denn das wird anhand der lokalen Situation vor Ort entschieden. Wenn wir jetzt dieses Gesetz machen, dann wird das Ergebnis sein, dass wir bundesweit nur noch in wenigen Städten mit Fahrverboten arbeiten müssen. ({6}) Das wird bedeuten, dass sich aus der Abwägung der Verhältnismäßigkeit, was wir nicht machen und was wir machen, wirklich für die allermeisten Fälle ergibt: Wir können es vertreten, den Menschen zuzumuten, bis wir mit den Fördermaßnahmen des Bundes und anderen Dingen die Grenzwerte erreichen, dass sie für diese Zeitspanne durch Emissionen von Stickstoffdioxid gesundheitlich belastet werden. Das haben wir über Jahrzehnte hinnehmen müssen und sind damit zurechtgekommen. Das heißt nicht, es muss immer so bleiben – das muss geändert werden –; aber wir nehmen uns die Zeit, das zu ändern, ohne dass wir massiv in die Freiheit und in das Eigentum eingreifen. Dass ein Eingriff in das Eigentum nicht ohne Weiteres gerechtfertigt ist, hat das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes ja gezeigt, in dem gesagt wurde: Euro‑6-Fahrzeuge sind so neu, die kann man nicht rausnehmen, weil das ein unverhältnismäßiger Eingriff ins Eigentumsrecht ist. – Wir sagen: Es ist aber auch unverhältnismäßig, wenn man etwas ältere Autos mit Fahrverboten belegen würde, weil der Grenzwert jetzt beispielsweise um 3 Mikrogramm überschritten worden ist. Wir können das nur deswegen vertreten, weil wir ein Programm des Bundes „Saubere Luft“ haben, das in einem erheblichen Umfang Leistungen bringt, die Veränderungen in den Städten bewirken können, und zwar zum Positiven: die Förderung von Elektromobilität, der Umbau des öffentlichen Nahverkehrs, die digitale Verkehrssteuerung, ({7}) alles das, was vom Verkehrsministerium erfreulicher- und dankenswerterweise auf den Weg gebracht worden ist, ({8}) zählt dazu. Ich kann an dieser Stelle nur herzlich Danke sagen. Die Stadt Köln, aus der ich komme, hat aus diesem Förderprogramm bisher schon Förderzusagen von deutlich über 40 Millionen Euro bekommen. Das wird seine Wirkung haben, auch wenn in Köln an einer Stelle die Grenzwerte von 50 Mikrogramm überschritten werden und man dort möglicherweise zu Fahrverboten kommen muss. ({9}) Dabei handelt es sich aber zugleich um eine Stelle, an der besondere Belastungen vorliegen, weil da der ganze Lkw-Umleitungsverkehr der Leverkusener Brücke durchläuft, was nun kein Dauerzustand sein wird. ({10}) Ich habe im Wahlkampf 2017 meinen Kölner Wählern versprochen – ich zitiere mich ausnahmsweise einmal selbst –: ({11}) „Pauschale Fahrverbote wollen wir definitiv nicht“. Wir brauchen einen ganzheitlichen Ansatz und langfristige Lösungen, die Umwelt, Mobilität und Lebensrealität in den Städten gleichermaßen berücksichtigen, wie etwa, Taxen oder Busse im ÖPNV mit alternativen Antrieben auszustatten. Das ist der Weg, den wir gehen wollen. Das ist auch jetzt der richtige Weg der Wahl. Den gehen wir, und wir werden auf diese Weise unser Ziel erreichen. ({12}) Die Zumutungen für die Bevölkerung werden begrenzt bleiben. Deswegen kann ich meinen Kölner Mitbürgerinnen und Mitbürgern nur sagen: versprochen, gehalten, Ziel erkannt, wird erreicht. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Möring. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Judith Skudelny, FDP-Fraktion. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch dieser Gesetzentwurf läuft tatsächlich unter dem Motto „Sehr gut gemeint, aber leider nicht ganz so gut gemacht“. Wir haben einen Gesetzentwurf vorliegen, der einen neuen Schwellwert von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter einzieht. Wir hätten uns gefreut, dieser neue Gesetzentwurf wäre etwa ein Jahr früher gekommen. Denn seit einem Jahr wissen wir, dass Fahrverbote real werden können; und sie sind real geworden. In diesem einen Jahr hat die Deutsche Umwelthilfe zahllose Kommunen und Städte beklagt, wurden Verwaltungen, Anwälte mit Arbeit überhäuft – die Anwälte haben damit Geld verdient – und Bürgerinnen und Bürger verunsichert. Hätte sich die Koalition ausnahmsweise nicht mit sich selber beschäftigt, sondern damit, gute Politik zu machen, hätte dieser Gesetzentwurf schon deutlich früher in diesem Haus beschlossen werden können. ({0}) Und: Ja, wir kritisieren den Grenzwert von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter, weil er genauso aus der Luft gegriffen ist wie der Schwellenwert von 40 Mikrogramm. Wir wissen nicht, was die wissenschaftliche Basis ist, wir wissen nicht, welche Abwägung für diesen Grenzwert gemacht worden ist. Ich habe nachgefragt. Ich habe keine Antwort bekommen. Es ist umso bedauerlicher, weil wir auch nicht wirklich wissen: Was ist die Wirkung dieses Gesetzes? Hier steht drin: In der Regel unterhalb dieses Grenzwertes keine Fahrverbote. – Bedeutet das im Umkehrschluss, dass es in der Regel bei Überschreitung Fahrverbote gibt? Dann hätten Sie Städten wie Stuttgart und München mit diesem Gesetzentwurf einen Bärendienst erwiesen. Denn auch hier wird die Umwelt nicht dadurch geschont, dass wir den Verkehr in die Nebenstraßen und in die Ortschaften verdrängen. Da müssen bessere Gesetze her. Ein höherer Grenzwert hätte das leisten können. ({1}) Sie haben aber auch die Chance verpasst, wirklich noch einmal an die Messstellen heranzugehen. Nicht nur der Deutsche Verkehrsgerichtstag hat gesagt, das Ermessen ist hier zu groß. Auch in einem Gutachten des EuGH wurde festgestellt, dass das Ermessen nicht in jedem Fall richtig ausgeübt wird und die nationalen Gesetzgeber durchaus die Chance haben, Messstellen so auszustatten, dass sie intelligent – und nicht so idiotisch wie am Stuttgarter Neckartor – aufgestellt werden. ({2}) Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland haben eben Rechtssicherheit verdient; diese bringt dieses Gesetz nicht. Es kommt zu spät, es ist zu unambitioniert, und es ist vor allem im Bereich der Messstellen viel zu kurz gesprungen. Trotzdem: Für manche Städte, für einige Städte wird es voraussichtlich – je nachdem, was die Gerichte daraus machen – eine Verbesserung bringen. Deswegen werden wir uns dem Gesetzentwurf nicht in den Weg stellen. Wir hätten uns aber von der Großen Koalition gewünscht, dass am heutigen Tag der Kampf gegen den Diesel beendet wird, ({3}) dass Städte und Kommunen Rechtssicherheit erhalten und diejenigen Bürgerinnen und Bürger, die auf ihren Diesel als umweltfreundliches Auto vertraut haben, eine Eigentumsgarantie erhalten. ({4}) Das leistet der Gesetzentwurf nicht. Wir stellen uns ihm zwar nicht in den Weg, aber wir können ihm leider auch nicht zustimmen. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Skudelny. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Ralph Lenkert, Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wie würde eine die Rechte der Bürgerinnen und Bürger und ihre Gesundheit achtende Bundesregierung handeln, wenn ein Forschungsinstitut bei der Überprüfung von Emissionswerten eines Pkws feststellt, dass diese sechsfach über dem zugelassenen Grenzwert liegen? Diese Bundesregierung bestellt die Manager der entsprechenden Autofirma ein. Diese bestreiten die Grenzwertüberschreitungen, versuchen, ihren Fehler zu vertuschen, und geben nur das zu, was man ihnen explizit nachweist. Daraufhin leitet die Bundesregierung umfassende Untersuchungen ein, in deren Verlauf festgestellt wird, dass fast alle Diesel-Pkw von den verschiedensten Herstellern im realen Straßenbetrieb die Grenzwerte bis um das Sechsfache überschreiten, und zwar unabhängig davon, ob Euro‑4-, Euro‑5- oder Euro‑6-Fahrzeuge. Und: Die Behörden stellen fest, dass eine Manipulationssoftware bei Prüfungen vorgaukelt, dass Grenzwerte eingehalten werden, die im realen Betrieb eben nicht gemessen werden. So wurde beispielsweise bei einem ein Audi A3 1.6 TDI mit angeblich 180 Mikrogramm Ausstoß pro Kilometer ein Ausstoß von 868 Mikrogramm gemessen. ({0}) Daraufhin stellt die Bundesregierung Strafanzeige gegen die betroffenen Manager und erlässt ein Verkaufsverbot für sämtliche betroffenen Pkws. Die Käuferinnen und Käufer werden durch die Bundesregierung informiert und können sich entscheiden, ob sie die Pkws zum Neupreis zurückgeben wollen oder ob eine Nachrüstung und Entschädigung durchgeführt wird – zulasten der betrügerischen Hersteller. Um die Einhaltung der Vorgaben des Gesundheitsschutzes in Form eines Immissionsgrenzwertes von 40 Mikrogramm im Durchschnitt in Stuttgart, in Hamburg durchzusetzen, wird der ÖPNV gefördert und sogar kostenlos gestellt. Zusätzliche Straßenbahnen und Wasserstoffbusse stellen sicher, dass die wachsenden Verkehrsmengen bewältigt werden können. Bau- und Kommunalfahrzeuge, Fahrzeuge der Rettungsdienste werden nachgerüstet bzw. durch Neufahrzeuge ersetzt. Das Ganze sichert, dass es keine Fahrverbote geben muss, und wird aus den Strafen finanziert, die die Konzerne für ihren Betrug zu zahlen haben. ({1}) Diese strikte Reaktion, dieses konsequente Handeln der Bundesregierung stellt sicher, dass Käuferinnen und Käufer im In- und Ausland das Vertrauen in Pkws made in Germany behalten, und sichert damit Arbeitsplätze. – Meine Damen und Herren, so hätte es laufen sollen, und so wäre es bei einem linken Verkehrsminister gelaufen. ({2}) Aber was stellen wir fest? Statt sich um die Einhaltung von Recht und Gesetz zu kümmern – die rechte Seite des Hauses ist da besonders aktiv –, passiert erst mal vier Jahre nichts, und anschließend werden Grenzwerte verwässert. Herr Ex-Minister Dobrindt, Herr Minister Scheuer, Sie haben hier im Parlament Ihren Amtseid abgelegt: So wahr Ihnen Gott helfe, schworen Sie, dass Sie das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren. Sie schworen, Ihre Kraft dem Wohl des deutschen Volkes zu widmen und Schaden von ihm abzuwenden. Sie schworen, Ihre Pflichten gewissenhaft zu erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben. Ich wiederhole, Herr Minister Scheuer: Sie schworen, Schaden vom deutschen Volke abzuwenden – und nicht von den Managern von Volkswagen. ({3}) Ich fordere Sie auf: Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück! Ergreifen Sie, wie angekündigt, Maßnahmen, dass die Grenzwerte ohne Fahrverbote eingehalten werden können! Dann werden Sie Ihrem Amtseid gerecht, und dann hätten wir eine gute Bundesregierung. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lenkert. – Als nächstem Redner lauschen wir dem Kollegen Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, man muss die Debatte hier vom Kopf auf die Füße stellen. Wir haben seit Jahren in deutschen Innenstädten massive Grenzwertüberschreitungen, weil die Automobilindustrie – das betrifft Hersteller aller Marken – aus Deutschland und dem Ausland den Menschen Fahrzeuge verkauft hat, die die Grenzwerte teilweise um das Mehrfache überschritten haben. Die Menschen haben diese Fahrzeuge im guten Glauben gekauft, sie kauften ein sauberes Auto. Das Einzige, was Sie nach bald vier Jahren Abgasskandal jetzt zustande bringen, ist, dass Sie hier eine Shownummer vorlegen, mit der Sie in der Konsequenz versuchen, an den Grenzwerten herumzuschrauben. Meine Damen und Herren, das ist umweltpolitisch ein Skandal, was Sie hier machen. Das ist unverantwortlich. Das löst kein einziges Problem. ({0}) Ehrlich gesagt: Das Verrückteste an der Debatte ist ja, dass Sie in die Begründung Ihres eigenen Gesetzentwurfes hineinschreiben, dass dadurch kein einziges Fahrverbot verhindert wird. Da steht nämlich drin, meine Damen und Herren, dass als Ultima Ratio selbstverständlich Fahrverbote ergriffen werden müssen, auch wenn Messwerte zwischen 40 und 50 Mikrogramm festgestellt werden, und zwar dann, wenn an dieser Stelle nichts anderes mehr hilft. Das nennen die Juristen einen Zirkelschluss. Deshalb ist dieser Gesetzentwurf ein reiner Witz. Er ist am Ende nur ein Arbeitsprogramm für Gerichte und Rechtsanwälte. Er löst kein Problem. Er schafft nur Rechtsunsicherheit. Das, meine Damen und Herren, ist ein Armutszeugnis für eine Bundesregierung. ({1}) Ich finde auch, dass Sie mit einem solchen Gesetzentwurf hier kommen, statt dass Sie endlich, bald vier Jahre nach dem Bekanntwerden des Abgasskandals, mal die Verantwortlichen aus der Automobilindustrie zur Rechenschaft ziehen, das ist nichts anderes als ein Kotau vor dieser Industrie. Das muss an dieser Stelle mal klar gesagt werden. ({2}) Meine Damen und Herren, dass Ihnen vom rechten Block – Schwarz-Braun-Gelb – hier alles egal ist, wenn es um den deutschen Diesel geht, das wissen wir ja. Nach Ihrem ganzen Kreuzzug gegen die Deutsche Umwelthilfe, bei dem Sie ja bereit waren, den Rechtsstaat abzuschaffen, wundert mich das inzwischen nicht mehr. Aber dass die Sozialdemokraten und die Umweltministerin das mitmachen und dass der Staatssekretär das hier noch als Erfolg verkauft, das ist, ehrlich gesagt, eine umweltpolitische Bankrotterklärung der Umweltministerin und der SPD in der Bundesregierung. Auch das, meine Damen und Herren, gehört zur Wahrheit, und das muss an der Stelle mal gesagt werden. ({3}) Herr Pronold, Sie haben eben von Hardwarenachrüstung gesprochen. Bei einem Ihrer zahllosen Dieselgipfel war der Deal, dass Sie für diesen komischen Gesetzentwurf, der gar nichts bewirkt, der eine Shownummer ist, Hardwarenachrüstungen kriegen und dass damit die Luft in den Innenstädten endlich wirklich sauberer wird. Meine Damen und Herren, was ist passiert – jetzt, fast ein Jahr später? Gar nichts ist passiert. Nicht ein einziges Fahrzeug hat bis heute eine Hardwarenachrüstung bekommen, ({4}) weil der Verkehrsminister, der sich dahinten in der letzten Reihe versteckt – das würde ich an seiner Stelle auch tun –, an der Stelle überhaupt nichts macht, sondern versucht, im Sinne der Automobilindustrie dieses Problem weiter auszusitzen. ({5}) Meine Damen und Herren, damit bin ich bei Andi Scheuer, der in den letzten Wochen ja nichts anderes zu tun hatte, als irgendwelchen Lungenärzten mit Rechenschwäche hinterherzulaufen. Ich habe mich gestern gefreut, als die EU-Kommission diesen Verkehrsminister mal so richtig gegen die Pumpe hat laufen lassen und ihm erklärt hat, dass das substanzlos ist und dass seine Intervention eher dazu führt, dass die Europäische Union die Grenzwerte verschärft – was wissenschaftlich richtig wäre –, als dass sie sie aufweicht. Da kann ich nur sagen, frei nach einer Aussage von Christian Lindner:

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Angesichts der Verkehrspolitik in diesem Land mit diesem Verkehrsminister wäre es besser, gar keine Bundesregierung zu haben als diese Bundesregierung. Das muss hier mal in aller Klarheit gesagt werden. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Krischer. – Nur fürs Protokoll, Kollege Krischer: Herr Minister Scheuer versteckt sich nicht in der letzten Reihe; das ist der ihm zugewiesene Platz. Als nächster Redner spricht zu uns der fraktionslose Abgeordnete Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Krischer, machen Sie sich bitte ein rotes Kreuz in den Kalender! Wir sind einer Meinung, nämlich was den Gesetzentwurf anbetrifft: Viel bringt der nicht. ({0}) Da ist es mit der Übereinstimmung aber auch schon wieder zu Ende. Forschungsvorhaben FKZ 201 45 105 – so lautet der Untertitel eines TÜV-Gutachtens des TÜV Nord, welches er im Auftrag des Umweltbundesamtes 2005 durchgeführt hat. Auf Seite 43 dieses Gutachtens können Sie nachlesen, dass ein Dieselfahrzeug erstaunlich niedrige CO 2 - und HC-Emissionen hatte und dass die NO x -Reduzierung offensichtlich auf den Prüfzyklus optimiert zu sein schien. Was war 2005? 2005 hatten wir eine rot-grüne Regie­rung. Das heißt, unter anderem diejenigen, die hier heute so gewaltig auf den Busch hauen, wussten zehn Jah re vor diesem angeblichen Diesel-Gate, dass es diese Prüf­stands­erkennung gibt. Passiert ist seitdem nichts. Vielmehr reißen 2015 alle plötzlich die Arme hoch und schreien: Alarm! Alarm! Oh wie schlimm! Oh wie schlimm! – Das nimmt natürlich nicht diejenigen aus der Pflicht, die vorsätzlich betrogen haben. Aber das, was hier grenzwerttechnisch getrieben wird, ist nichts anderes als scheinheilig. Und wie scheinheilig das Ganze ist und wie wenig wissenschaftlichen Anspruch das Ganze hat, untermauert das Umweltbundesamt auch noch selber mit der Aussage – ich darf zitieren –: „Ein Grenzwert ist immer ein politischer Wert“ – ein politischer Wert, kein wissenschaftlicher. So wie Sie sich hier an den Fahrverboten festklammern, die dieser Gesetzentwurf in der Konsequenz tatsächlich ermöglicht, genauso wehrt man sich vehement dagegen, endlich mal offenzulegen, woher diese 40 Mikrogramm eigentlich kommen, bzw. mal unabhängige, ehrliche und offene wissenschaftliche Analysen diesbezüglich zu betreiben. Wir führen eine Diskussion um nichts, einfach um nichts. Und alle Fahrzeugbesitzer, die seit 2005 ihr Fahrzeug, welches eine rechtmäßige Zulassung hat, erworben haben, werden hier gerade von allen an der Nase herumgeführt. Vielen Dank.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Mieruch, vielen Dank. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Ulli Nissen, SPD-Fraktion. ({0})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Woche veröffentlichte das Max-Planck-Institut eine Untersuchung, aus der deutlich wurde, dass allein in Deutschland etwa 800 000 Menschen jährlich an verschmutzter Außenluft sterben, deutlich mehr als durch Rauchen. Rauchen ist aber individuell vermeidbar, Luftverschmutzung dagegen nicht. Gute Luftqualität wird auch in den SDGs gefordert, auf die wir uns gemäß UN-Resolution von 2015 verpflichtet haben. Leider sind vielen die Nachhaltigkeitsziele nicht bekannt; deshalb erinnere ich gerne daran. Es ist gut, dass die Schülerschaft bei den Kundgebungen „Fridays for Future“ auf die Straße geht und sich für Klimaziele einsetzt. ({0}) Letzte Woche war ich in Frankfurt dabei und habe sehr engagierte junge Menschen kennengelernt. Gute Luft ist wichtig für das Klima, in 3 von 17 SDG-Zielen das Thema. Zwei führe ich näher aus. Ziel 3 will: Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern. Unterziel 3.9 fordert: Bis 2030 die Zahl der Todesfälle und Erkrankungen aufgrund gefährlicher Chemikalien und der Verschmutzung und Verunreinigung von Luft, Wasser und Boden erheblich verringern. Ziel 11 lautet: Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten. Unterziel 11.6: Bis 2030 die von den Städten ausgehende Umweltbelastung pro Kopf senken, unter anderem mit besonderer Aufmerksamkeit auf der Luftqualität und der kommunalen und sonstigen Abfallbehandlung. Für die SPD ist die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele ein wichtiges Thema – die Luftqualität muss deutlich verbessert werden. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Nissen, darf ich Sie ganz kurz unterbrechen, ich habe die Zeit angehalten. Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen wirklich darum bitten, der Rednerin zumindest zuzuhören, auch wenn es Spaß macht, sich wiederzutreffen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen in den Reihen zwischen FDP und CDU/CSU, die zur Rudelbildung neigen, davon Abstand zu nehmen und sich hinzusetzen. Frau Kollegin Nissen, der Kollege Hampel möchte eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das?

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Damit ist diese Frage erledigt, Herr Kollege Hampel. – Frau Kollegin Nissen, Sie dürfen fortfahren.

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wegen schlechter Luft drohen vielerorts Fahrverbote. Wir müssen handeln! Dazu gehört auch, dass Autos, die erheblich zu Schadstoffemissionen beitragen, technisch nachgerüstet werden. Das bringt innerorts eine Reduzierung von 70 Prozent, außerorts von 90 Prozent. Schon 2017 hatte die damalige Bundesministerin Barbara Hendricks die technische Nachrüstung gefordert. Leider wurde dies aus dem CSU-geführten Verkehrsministerium – ich bin höflich – lange quasi boykottiert. Wertvolle Zeit ist verstrichen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Noch im Spätherbst wurden im Anschreiben des Kraftfahrt-Bundesamtes die Betroffenen nur auf Umtauschprämien für Neufahrzeuge hingewiesen, schrägerweise mit direkten Verkaufskontaktdaten der Hersteller BMW, Daimler und VW. Nicht alle Menschen wollen oder können sich ein Neufahrzeug kaufen. Die SPD ist auf deren Seite. ({1}) Mit der 13. Änderung des BImSchG schaffen wir die Voraussetzung, dass ordnungsgemäß nachgerüstete Fahrzeuge und Euro-6-Autos von möglichen Fahrverboten ausgenommen werden. Dann werden die Menschen ihre Fahrzeuge nachrüsten, aus unserer Sicht natürlich auf Kosten der Autohersteller. Diese haben auch im Prospekt mit umweltfreundlichen Fahrzeugen geworben. Des Weiteren wollen wir die Mobilität in den Städten erhalten. Dazu gehört für uns auch, dass wir die Nutzung von Bussen, Bahnen sowie E-Carsharing-Fahrzeugen als Alternative fördern wollen. Ich bin selber seit zehn Jahren elektromobil in Frankfurt unterwegs. Um eine weitere attraktive Alternative zu bieten, wollen wir von Fahrverboten betroffene Kommunen dabei unterstützen, ein 365-Euro-ÖPNV-Jahresticket anzubieten. Das finde ich klasse, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Unser Ziel ist saubere Luft und eine funktionierende Mobilität. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die technische Nachrüstung schont die Umwelt, stabilisiert den Fahrzeugwert und ermöglicht gemäß unserem heutigen Gesetz auch die Einfahrt in Verbotszonen. 38 000 Meisterbetriebe haben uns mitgeteilt: Wir können nachrüsten. – Sie haben uns aufgefordert, Regeln zu schaffen, damit sie endlich mit der Nachrüstung beginnen können. Dies machen wir heute. Ich bitte Sie um Unterstützung des heutigen Gesetzentwurfs. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, verehrte Kollegin Nissen. – Als letzter Redner zu dem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Felix Schreiner, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Felix Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004883, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anfang dieser Woche haben Verkehrsminister Andreas Scheuer und Staatsministerin Dorothee Bär in Ingolstadt an der Vorstellung eines Flugtaximodells teilgenommen. Erinnern wir uns: Zu Beginn der Legislatur waren es Leute wie Herr Krischer, den wir auch gerade eben wieder gehört haben, die das Ganze belächelt und mit Häme überzogen haben. Die Wahrheit ist: Die Mobilität der Zukunft kommt, auch wenn sich die Grünen dagegenstellen. ({0}) Zu Beginn der Legislatur gab es übrigens noch in über 90 Städten Probleme bei der Einhaltung der EU-Grenz­werte. Auch hier ist seitdem viel passiert. Im Jahr 2017 waren es noch 65 Städte, die den Grenzwert überschritten haben, und 2018 ist auch diese Zahl weiter gesunken. Das „Nationale Forum Diesel“, das „Sofortprogramm Saubere Luft“ – mit einer Fördersumme von 1,5 Milliarden Euro aus Bundesmitteln – und das „Konzept für saubere Luft und die Sicherung der individuellen Mobilität“ vom Oktober 2018 sind Erfolgsmodelle, die ihre Wirkung in den Kommunen jetzt richtig entfalten. Das spüren wir auch in diesen Tagen. ({1}) Mit der Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes legen wir erstens fest, dass Fahrverbote in den Städten, die den EU-Grenzwert nur noch geringfügig, nämlich bis zu 50 Mikrogramm, überschreiten, in aller Regel unverhältnismäßig sind. Damit schaffen wir die Grundlage dafür, dass die meisten Städte für bessere Luftqualität eben keine Verkehrsverbote verhängen müssen. Fahrverbote gibt es derzeit vor allem dort, wo sie politisch gewollt sind, um Verkehr zu verhindern. Ja, Herr Krischer, Sie lachen. ({2}) Vorhin haben Sie gesagt, man müsste das alles vom Kopf auf die Füße stellen. Die Wahrheit ist: In Hamburg ist es Rot-Grün, die es gar nicht erwarten konnten, Fahrverbote flächendeckend zu erlassen, ({3}) und in Baden-Württemberg ist es der grüne Teil der Regierung, der immer noch für Fahrverbote ist. ({4}) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Fahrverbote das letzte Mittel, um die Luftqualität zu verbessern. ({5}) Das Gericht hat bekanntlich im Februar 2018 klargemacht, dass Fahrverbote nur dann zulässig sind, wenn sie die einzig geeignete Maßnahme zur raschen Einhaltung des EU-Grenzwertes darstellen. Tatsächlich dürften jetzt viele Städte den EU-Grenzwert aufgrund der gerade erwähnten Programme und Maßnahmen einhalten. Auf diese positive Entwicklung reagieren wir heute, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir legen zweitens mit dem Gesetz fest, dass aus Gründen der Verhältnismäßigkeit Dieselfahrzeuge mit geringen Emissionen von Verkehrsverboten ausgenommen sind. Das betrifft die Euro-4- und Euro-5-Diesel, die im Realbetrieb unter 270 Milligramm pro Kilometer ausstoßen, sowie die Euro-6-Fahrzeuge. Wir schaffen damit Rechtssicherheit. Auch für Handwerker- und Lieferfahrzeuge haben wir Ausnahmen geschaffen, wenn Nachrüstungen vorgenommen wurden. Auch das ist eine positive Botschaft für die Bürgerinnen und Bürger und für die Wirtschaft in diesem Land, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) So viel zu dem, was wir mit dem Gesetz erreichen. Nun ein Wort zu dem, was wir nicht tun: Es ist nicht wahr, dass wir mit diesem Gesetz die Grenzwerte ändern, wie es von Teilen der Opposition, eben von der AfD, behauptet wurde. Wir missachten damit übrigens auch nicht EU-Recht, wie es die Grünen in der Ausschusssitzung am vergangenen Dienstag behauptet hatten. Nein, die EU-Kommission hat den Gesetzentwurf ausführlich überprüft. ({7}) Sie hat grünes Licht gegeben. Natürlich ist für uns klar: Wir wollen, dass die EU-Grenzwerte in den Städten eingehalten werden. Aber unser Ziel – das ist der Unterschied zur kompletten linken Seite dieses Hauses – bleibt die Förderung der Mobilität. Wir wollen die Leute in ihrer Mobilität nicht behindern, wir wollen sie vielmehr in ihrer Mobilität unterstützen. Das ist der Unterschied, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Wir wollen, dass individuelle Mobilität bezahlbar bleibt. Wir wollen sie nicht verteuern. Deshalb setzen wir auf einen breiten und technologieoffenen Antriebs- und Kraftstoffmix. Wir setzen nicht nur auf die reine batterieelek­trische Mobilität. Bei uns gibt es keine Denkverbote. Ich möchte Ihnen in aller Deutlichkeit sagen – die FDP hat gerade erklärt, dass sie das Gesetz eigentlich gut findet, aber ihm nicht zustimmen kann –: Sie sollten heute besser für das Gesetz stimmen, da Sie wissen müssten, dass Sie damit auch die Situation in unseren Städten und für viele Millionen Bürger in diesem Land verbessern. ({9}) Ich kann Ihnen nur empfehlen: Stimmen Sie zu! Noch ist es nicht zu spät. Auch Sie können daran mitwirken, Fahrverbote zu verhindern. ({10}) Abschließend ein Satz zu den Anträgen, die uns heute von den Linken und den Grünen vorgelegt wurden: Erneut nur Prosa, kein einziger konkreter Vorschlag, ({11}) kein einziges Wort zu den technischen und rechtlichen Schwierigkeiten, die wir bei der Nachrüstung haben. Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Wer sich hierhinstellt und den Leuten einfache Möglichkeiten verspricht, zum Beispiel bei der Nachrüstung, der sagt den Leuten nicht die Wahrheit, und dann werden wir vor allem eines erreichen, nämlich einen noch größeren Vertrauensverlust in die Politik. ({12}) Sie wissen ganz genau, dass der Staatssekretär Bilger diese Woche einen Brief verschickt hat, in dem er zum Beispiel die Nachrüstungen von VW und Daimler, die zugesagt wurden, bekannt gegeben hat. Herr Krischer hat den Brief ebenfalls bekommen. Aber auch dazu hat er heute kein Wort gesagt. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie freundlicherweise zum Schluss.

Felix Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004883, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir haben heute die Möglichkeit, ein gutes Gesetz auf den Weg zu bringen. Ich bitte um Zustimmung und danke Ihnen sehr herzlich. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Schreiner. – Mit diesen Worten schließe ich die Aussprache. Tagesordnungspunkt 9 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, etwas mehr Aufmerksamkeit würde uns allen guttun. Ich wiederhole daher noch mal: Wir haben zwei namentliche Abstimmungen. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8257, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/6335 und 19/6927 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Gesetzentwurf bei Enthaltung der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses – das heißt SPD, CDU/CSU und AfD – in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen namentlich ab. Bitte denken Sie daran, dass danach einfache Abstimmungen und eine weitere namentliche Abstimmung folgen. Ich weise darauf hin, dass die Kolleginnen und Kollegen auf ihre Karten schauen sollen, ob diese auch wirklich ihren Namen tragen. Ich bitte darum, dass bei der Abstimmung die richtige Karte eingeworfen wird, weil vielzahlige Erklärungen, man habe die falsche Karte verwendet, die Schriftführer überfordern. Ferner muss ich sagen, dass es mehrere Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung gibt, die zu Protokoll gegeben worden sind. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? – Das ist erkennbar der Fall. Dann eröffne ich die erste namentliche Abstimmung, und zwar über den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist erkennbar nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die drei Entschließungsanträge. Dazu möchte ich Sie bitten, sich auf Ihre Plätze zu begeben. Ich weise rein vorsorglich darauf hin, liebe Kolleginnen und Kollegen: Kann das Präsidium kein eindeutiges Abstimmungsergebnis feststellen, droht der Hammelsprung. Ich bitte um etwas mehr Ruhe und Aufmerksamkeit. Entschließungsantrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/8334. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Entschließungsantrag gegen die Stimmen der AfD-Fraktion mit den Stimmen aller anderen Fraktionen des Hauses abgelehnt. Entschließungsantrag der FDP auf Drucksache 19/8335. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand. Dann ist dieser Entschließungsantrag gegen die Stimmen der Fraktionen der AfD und der FDP mit den Stimmen der anderen Fraktionen dieses Hauses abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/8336. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Teile der Grünenfraktion. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand. Dann ist dieser Entschließungsantrag gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses ebenfalls abgelehnt. Tagesordnungspunkt 9 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit zu dem Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Einheitliche Messverfahren für Stickoxide durchsetzen – Fahrverbote wirksam verhindern“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7771, den Antrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/6060 abzulehnen. Wir stimmen nun über Buchstabe a der Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion der AfD namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist erkennbar der Fall. Dann eröffne ich die zweite namentliche Abstimmung, und zwar über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Fraktion der AfD. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist erkennbar nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis auch dieser Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Tagesordnungspunkt 9 c. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur auf Drucksache 19/5768. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/1360 mit dem Titel „Hersteller zur wirksamen technischen Nachrüstung von Diesel-Pkw auf ihre Kosten verpflichten ‒ Fahrverbote vermeiden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind auf jeden Fall die Koalitionsfraktionen, und auch die AfD-Fraktion ist für die Beschlussempfehlung. Wer stimmt gegen diese Beschlussempfehlung? – Dagegen stimmen die Fraktionen von Linken, Grünen und FDP. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/4380 mit dem Titel „Luft- und Lebensqualität schaffen – Automobilhersteller zu Hardware-Nachrüstungen von Dieselfahrzeugen verpflichten und die Verkehrswende in Städten einleiten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen aller anderen Fraktionen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 9 d. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Hardware-Nachrüstungen statt Fahrverbote“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7878, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/6195 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand. Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses angenommen.

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident aus Schleswig-Holstein! Man freut sich schon, wenn keine Kommentierungen kommen; aber das hat zurzeit nur die FDP auszubaden. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beschließen heute eine wichtige Änderung für den Straßenverkehr. Mit dem Neunten Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes schaffen wir die Möglichkeit, Fahrverbote in Städten zu kontrollieren. Wir benötigen diese Gesetzesänderung, weil wir in Deutschland Probleme mit der Luftreinhaltung haben. Bislang gelten in zwei Städten Fahrverbote, nämlich in Stuttgart und Hamburg, und diese Fahrverbote sollen jetzt auch von den Kommunen kontrolliert werden. Wir möchten nicht die Mobilität der Menschen einschränken. ({1}) Deswegen brauchen wir eine schlaue Lösung, wenn wir kontrollieren wollen; denn unsere gewohnte flexible und multimodale Mobilität wollen wir erhalten, und dafür haben wir schon zahlreiche Maßnahmen – das haben wir eben diskutiert – auf den Weg gebracht. Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf den Kommunen nun ein effektives Instrument für die Überprüfung der Einhaltung von immissionsschutzrechtlich bedingten Verkehrsverboten vor allen Dingen in belasteten Städten in die Hand geben. Zur Durchsetzung der Verkehrsverbote gibt es im Moment nur drei Möglichkeiten: Erstens die Überprüfung des ruhenden Verkehrs in der Verbotszone. Dabei entstehen Vollzugsprobleme; denn nur der Fahrer kann zur Verantwortung gezogen werden. Zweitens die Überprüfung bei der Einfahrt in die Verbotszone anhand der Fahrzeugpapiere. Das würde zu erheblichem Personalbedarf, der Verzögerung des Verkehrsflusses und einer massiven Belastung der Verkehrsteilnehmer führen. Drittens durch die Verwendung eines selbstständigen Gerätes. Mit diesem kann einerseits die Durchsetzung erfolgen, und damit würde andererseits nur gering in die Handlungsfreiheit des Einzelnen eingegriffen. Das erscheint uns, der Union und der SPD, als das geeignetste Mittel. ({2}) Der Bundesrat, meine Damen und Herren, hat in seiner Stellungnahme vom 14. Dezember 2018 – das ist schon ein bisschen her – erhebliche datenschutzrechtliche Bedenken gegen den damaligen Gesetzentwurf der Bundesregierung geäußert. Der von der Koalition nun vorgelegte Gesetzentwurf trägt Sorge dafür, dass diese Bedenken ausgeräumt werden konnten. Die Datenübermittlung erfolgt nun nur an die für die Überprüfung zuständige Behörde. Es dürfen nur bereits angeordnete Fahrverbote überwacht werden, und die Kontrollen mit mobilen Geräten erfolgen lediglich stichprobenartig. Es gibt im Unterschied zum ersten Gesetzentwurf keine flächendeckende Kontrolle und keine verdeckten Kontrollen. Erhobene Daten sind unverzüglich an die zuständige Behörde weiterzuleiten. Die Löschungsfrist wird von zwei Monaten auf zwei Wochen verkürzt, und zwar unabhängig davon, ob bereits ein Verfahren gegen den Fahrer eingeleitet worden ist oder nicht. Konkret heißt das: Das Kennzeichen wird erfasst. Das Bild des Fahrzeugs und das Bild des Fahrers werden zu dessen Identifizierung erfasst. Es gibt keine bewegten Bilder. Ort und Zeit der Aufnahme werden erfasst. So ist eine eindeutige Bestimmung eines möglichen Verstoßes möglich. Die Opposition schlägt vor, eine blaue Plakette flächendeckend für ganz Deutschland einzuführen. Das ist nach unserer Auffassung zwar eine einheitliche Lösung, die aber weder sachbezogen noch der Situation angepasst ist; denn jede einzelne Stadt hat ureigene spezifische Lösungen gefunden. Diesen werden wir nur mit unserem Vorschlag gerecht. Deswegen bitten wir, unserer schlauen Lösung zuzustimmen. ({3})

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Dieses Gesetz dient dazu, die Fahrverbote in unseren Städten durchzusetzen. Viele haben sich ja gefragt, wie man die von Fahrverboten betroffenen Fahrzeuge im Verkehr erkennen will. Eine reguläre Fahrzeugkontrolle wäre personell nicht umsetzbar und hätte katastrophale Folgen für den Verkehr. Endlose Schlangen würden sich bilden. Deshalb kommt nun die automatische Erfassung von Kennzeichen mit gleichzeitiger Fotoerfassung des Fahrers. ({0}) Da aber eine solche anlasslose Massenüberwachung datenschutzrechtlich bedenklich ist – das hat auch der Bundesrat moniert –, gibt es jetzt massive Einschränkungen. ({1}) – Hören Sie zu! Dann kriegen Sie es mit! – Sie wollen nur noch stichprobenartig überprüfen, und es sollen auch nur mobile Geräte eingesetzt werden. Es soll auch keine zusätzlichen verdeckten Kontrollen geben. Jeder, der will, kann also die mobilen Kontrollstationen ganz einfach umfahren. Es ist doch lächerlich. ({2}) Sie machen ein Gesetz, und dann tun Sie alles dafür, um die Einhaltung dieses Gesetzes möglichst nicht überprüfen zu können. Das ist ein vollständiges Armutszeugnis für die Regierung eines Rechtsstaats. ({3}) Wir haben uns Ihr Machwerk im Detail angeschaut. ({4}) Sie wollen mit diesem Gesetzentwurf eine automatisierte Prüfung der Einfahrtberechtigung ermöglichen, indem das Kennzeichen mit den Eintragungen zu diesem Fahrzeug im Fahrzeugzentralregister abgeglichen werden soll. Dumm ist nur, dass die Ausnahmeregelungen für Handwerker und andere gar nicht im Fahrzeugzentralregister stehen. Darüber hinaus sind diese Regelungen auch noch von Kommune zu Kommune unterschiedlich. ({5}) Das haben wir eben gehört. Allein von den Ausnahmeregelungen dürften ungefähr 10 Prozent der Fahrzeuge betroffen sein. Die ausländischen Fahrzeuge stehen übrigens nicht im Zentralregister. In der Praxis heißt das, dass es massenhaft unberechtigte Bescheide geben wird. Sie haben hier also ein Beschäftigungsprogramm für die kommunalen Behörden aufgesetzt. ({6}) Natürlich werden dafür keine Mittel bereitgestellt. Daher legen Sie mit diesem Gesetz die kommunale Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten einfach lahm. Dieses Gesetz ist an Sinnlosigkeit fast nicht mehr zu toppen. ({7}) Es wird von allen möglichen Seiten angefochten werden. Die einzig ehrliche Feststellung ist: Fahrverbote kann man mit verhältnismäßigem Aufwand nicht wirksam kontrollieren und durchsetzen. Damit ist die ganze Diskussion zu Fahrverboten eigentlich überflüssig. ({8}) Gesetze, die man nicht überprüfen kann oder will, sollte ein Rechtsstaat nicht beschließen. Wir werden diesen Gesetzentwurf ablehnen. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Spaniel. – Als Nächstes für die SPD-Fraktion der Kollege Arno Klare. ({0})

Arno Klare (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004329, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn man das, was gerade vorgetragen wurde, auf das Prinzip reduziert, heißt das: Ich lasse alles frei laufen, wenn ich nicht ausreichend kontrollieren kann. – Geschwindigkeitsbegrenzungen werden auch nur stichprobenartig kontrolliert. Und wenn die Argumentation, die wir gerade gehört haben, stimmen würde, dann könnten wir alles einfach freigeben. Dann fahren alle, wie sie wollen. Dann haben wir Chaos. Das ist eine Argumentation, die so abenteuerlich ist, dass man ihr wirklich nicht mehr folgen kann. ({0}) Meine Damen und Herren, am 18. September 2015 begann das, was uns heute zu diesem Thema geführt hat; denn damals veröffentlichte die EPA die sogenannte Notice of Violation. Das heißt, sie hat öffentlich gemacht, was VW ihr gebeichtet hat, dass VW nämlich Defeat Devices eingebaut hat und damit am Prüfstand betrogen hat. Das ist damals veröffentlicht worden. Seitdem haben wir einige Begriffe wie den Begriff „Defeat Device“ kennengelernt. Diesen Begriff kannten wir vorher alle nicht. Wir haben auch erfahren, was Thermofenster sind. Diese kannten wir vorher ebenfalls nicht. Wir haben Rückrufe und Softwareupdates erlebt. Wir haben aber jetzt eine Situation, in der Gott sei Dank eine technische Richtlinie existiert, die festlegt, wie denn solche Nachrüstungen funktionieren können. Wir haben gerade beschlossen, wie der Ermessensspielraum bei der Feststellung der Verhältnismäßigkeit anzuwenden ist. Es ist eine kluge Entscheidung, das so genau zu beschließen. Das heißt, wir haben den Städten und Gemeinden Handlungsspielräume eingeräumt und auch Regeln für die Nachrüstung beschlossen. Das ist alles richtig und vernünftig. ({1}) Jetzt müssen wir nur noch – das ist sozusagen der letzte Baustein; darüber debattieren gerade in letzter Lesung – die Regularien für die Überprüfung festlegen, und zwar für den Fall, dass Fahrverbote unvermeidlich sind. Ich kann mich dem Kollegen Storjohann anschließen; ich muss das jetzt gar nicht wiederholen. Er hat alles dargestellt, was wir nicht machen. Wir machen nämlich keine Totalüberwachung. Wir schaffen keine intransparenten Datenpools, aus denen man sich bedienen kann. Wir machen genau das Gegenteil: Wir schaffen einen sehr angemessenen, pragmatischen Modus der Überprüfung für den Fall, dass Fahrverbote unvermeidbar sind. ({2}) Ich will noch ein paar Worte dazu sagen, warum wir nicht zu dem einfachen Mittel der blauen Plakette greifen. Dieses Instrument ist in der Tat zu undifferenziert. ({3}) Es ist dem Sachverhalt einfach nicht angemessen; denn über das Zentralregister hinaus – das ist gerade schon gesagt worden – wird es weitere Ausnahmetatbestände geben. Das haben die Gutachter vorgetragen. Sie haben das Blacklist bzw. Whitelist genannt. Das betrifft die Fahrzeuge, bei denen es um solche Ausnahmen geht. ({4}) Es wird auch unterschiedliche Ausnahmesituationen in den Kommunen geben. Die Whitelists und Blacklists in Stuttgart müssen nicht mit denen in Köln oder Düsseldorf identisch sein. ({5}) Insofern kann man das mit einer einfachen Lösung, dem blauen Pickerl, nicht erreichen. Das ist juristisch einfach nicht machbar, und das ist auch nicht mehr praktikabel. ({6}) Ein Punkt – das ist eher etwas Psychologisches – ist mir auch noch wichtig: Diese blaue Plakette droht zu so etwas wie einem mobilitätspolitischen Sedativum, also einem Beruhigungsmittel, zu werden. Man lehnt sich zurück und sagt: Wir haben die blaue Plakette. Da müssen wir nichts mehr tun und brauchen uns keine Gedanken mehr zu machen, wie wir von 43, 44 oder 48 Mikrogramm pro Kubikmeter auf unter 40 runterkommen. – Da sind Städte ja sehr innovativ. Allein die Stadt Düsseldorf hat in ihrem Luftreinhalteplan 201 Maßnahmen, sehr differenziert. Wenn die Stadt Düsseldorf die blaue Plakette hätte, könnte sie sagen: Brauchen wir alles gar nicht mehr. Wir müssen uns keine Gedanken mehr machen. – Damit würden wir zum Beispiel so etwas Innovatives wie den photokatalytischen Effekt von Titandioxid, mit dem man Asphaltflächen belegen kann und das nachweislich zu einer deutlichen Minderung der NO x -Belastung führt, außen vor lassen und sagen: Müssen wir alles gar nicht machen. – Das heißt, wir würden im Grunde damit auch eine Innovation verhindern, die schon auf dem Markt ist und ausprobiert wird. Insofern ist die blaue Plakette kein wirklich taugliches Instrument. ({7}) Ich kann Sie wirklich nur alle auffordern – ich schenke Ihnen jetzt gleich ungefähr eine Minute Ihrer Lebenszeit, weil ich am Ende meiner Rede bin und die sechs Minuten Redezeit nicht brauche –, dieser Änderung des Straßenverkehrsgesetzes zuzustimmen. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Klare. Wenn Sie sich den Hinweis erspart hätten, hätten Sie noch zehn Sekunden mehr eingespart. Aber vielen Dank für die Einsparung der Zeit. – Als nächster Redner hat der Kollege Oliver Luksic das Wort. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Änderung des Straßenverkehrsgesetzes wird beraten. Eigentlich müsste man „Autofahrerüberwachungsgesetz“ oder „Dieselrasterfahndung“ sagen. ({0}) Was Sie heute beschließen, wird in den Kommunen eine massive Arbeitsbelastung und Bürokratie verursachen. Sie setzen alle Autofahrer einem Generalverdacht aus. Das ist ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für die Gerichte. Das ist der völlig falsche Weg. Deswegen lehnen wir dieses Gesetz ab. ({1}) Das Ganze wird schon aus praktischen Gründen nicht funktionieren. Es wurden ja eben die zahlreichen Ausnahmen angesprochen, nicht nur auf Bundesebene, sondern auch auf kommunaler Ebene, wo es bei jedem Fahrverbot unterschiedliche Ausnahmen gibt. Das fängt an bei der Frage: Was ist ein Anlieger? Das wird in Hamburg anders behandelt als in Stuttgart. ({2}) Wie das dann nachher abgeglichen werden soll mit dem Fahrzeugregister, das können Sie nicht beantworten. ({3}) Das ist ein Problem, das für unheimlich viel Bürokratie und Gerichtsverfahren sorgen wird, genauso wie das ungelöste Problem, dass die ausländischen Fahrzeuge nicht erfasst werden und nicht abgeglichen werden können. Das heißt: Wer ein deutsches Fahrzeug hat und es im Ausland zulässt, wird nicht erfasst. Am Ende des Tages ist völlig klar: Sie sorgen damit für unheimlich viele Gerichtsverfahren. Das ist ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für überlastete Gerichte. Das Gesetz ist also völlig unnötig und müsste eingestampft werden. ({4}) Die Frage der Kosten bleibt von Ihnen völlig unbeantwortet. Wir wollten in einer Kleinen Anfrage wissen, wie das mit den Geräten gehen soll. Auch der Deutsche Städtetag hat das thematisiert. Das bleibt offen. Auch die Frage der Softwarekombination ist weiterhin ungelöst. ({5}) Klar ist nur: Die Kommunen wollen das nicht, die Länder wollen das nicht. Das Ganze wird nicht nur Gerätekosten auslösen, sondern vor allem auch den Einsatz von unheimlich viel Personal bei den Kommunen erfordern, die am Ende des Tages das Ganze abgleichen müssen. Ich glaube, die Kommunen haben anderes zu tun, als dieses schwachsinnige Gesetz zu untersuchen. ({6}) Der entscheidende Aspekt ist: Dieses Gesetz ist nicht verhältnismäßig. Wegen einer Ordnungswidrigkeit mit einem Bußgeld in Höhe von 20 bzw. 80 Euro werden jetzt alle Autofahrer überwacht. ({7}) Das passt nicht zusammen, lieber Kollege Klare. Ihr Vergleich mit der Geschwindigkeitsüberwachung, den Sie eben gezogen haben, greift nicht, weil da ja nur der geblitzt wird, der zu schnell fährt. Wenn Sie hier alle Autofahrer erfassen und deren Daten abgleichen, ist das ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Deswegen ist dieses Gesetz hochbedenklich. Der Bundesrat hat es abgelehnt, und ich bin der festen Überzeugung: Vor Gericht wird es hier Probleme geben, ähnlich wie bei Section Control in Niedersachsen, die die Liberalen bekämpft und fürs Erste erfolgreich gestoppt haben. Auch dieses Gesetz wird so nicht funktionieren. Minister Scheuer ist nicht nur der Fahrverbotsminister, sondern er ist mit diesem unnötigen Gesetz, das dringend gestoppt werden muss, auch der Autofahrerüberwachungsminister. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Luksic. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Andreas Wagner, Fraktion Die Linke. ({0})

Andreas Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004927, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Anstatt endlich die Ursachen der Luftverschmutzung zu beseitigen, setzt die Bundesregierung auf die Überwachung von Autofahrerinnen und Autofahrern. Das ist der völlig falsche Ansatz. ({0}) Worum geht es? Mit der geplanten Änderung des Straßenverkehrsgesetzes will die Regierungskoalition nun die rechtliche Grundlage zur Überwachung von Fahrverboten schaffen. Damit können in den Städten dann Autokennzeichen erfasst und gespeichert werden. Und nicht nur das: Von der Fahrerin oder dem Fahrer werden gleich noch Fotos gemacht, und Ort und Zeit, wo man unterwegs ist, werden auch noch erhoben. ({1}) Geht es nach der Bundesregierung, werden diese Daten mit den im Zentralen Fahrzeugregister gespeicherten Daten abgeglichen. So will man feststellen, ob für das Fahrzeug ein Fahrverbot besteht oder nicht. Wir halten dies für einen Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger, der unverhältnismäßig und unnötig ist. Die Linke macht da nicht mit. ({2}) Die Bundesregierung sagt zwar, dass sie nur stichprobenartige Überprüfungen mit mobilen Geräten zulassen will, und sie plant nach eigenen Angaben keine umfassende automatisierte Datenverarbeitung. Aber gleichzeitig wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und der Errichtung einer entsprechenden IT-Infrastruktur die Tür für umfassendere Überwachungsmöglichkeiten weiter aufgestoßen. Nicht mit uns! ({3}) Selbst wenn die Daten laut Gesetzentwurf spätestens zwei Wochen nach ihrer Erhebung zu löschen sind, ist es ein Leichtes, die Löschfristen zukünftig zu verlängern und die Daten auch für andere Zwecke zu nutzen. Für eine stichprobenartige Überprüfung der Fahrverbote, wie von der Bundesregierung beabsichtigt, halte ich das Vorhaben für datenschutzrechtlich höchst bedenklich, aufwendig und teuer. Aus unserer Sicht würde die Einführung einer blauen Plakette für alle Fahrzeuge, die im praktischen Fahrbetrieb höchstens 200 Milligramm Stickoxid pro Kilometer ausstoßen, den gleichen Zweck erfüllen. ({4}) Dies wäre erstens schneller umsetzbar, zweitens praktikabel, drittens ein geringerer Eingriff in Datenschutzrechte der Bürgerinnen und Bürger. Wir lehnen den Gesetzentwurf der Regierungskoalition daher ab. ({5}) Und noch was zum Thema Fahrverbote: Wenn die Bundesregierung ihre Hausaufgaben gemacht hätte, müssten wir jetzt nicht darüber diskutieren, wie Fahrverbote überwacht werden sollen. Vielmehr hätten alle Diesel-Pkw mit manipulierten Abgaswerten auf Kosten der Hersteller ein Hardwareupdate verpasst bekommen müssen. Die Autobesitzerinnen und -besitzer, die betrogen wurden, hätten sich gefreut, und die Luft in den Städten wäre sauberer. Wir wollen den Verkehr zukünftig so organisieren, dass er attraktiv, bezahlbar für alle und klimafreundlich ist. Wir brauchen die Verkehrswende – jetzt. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Wagner. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Stefan Gelbhaar, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Schweinsgalopp jagt die Koalition heute zwei Gesetzentwürfe durch das Parlament. Die geänderte Vorlage zum Straßenverkehrsgesetz ging dem Verkehrsausschuss über Nacht zu. Mit dieser Verve hätten Sie in den letzten Monaten und Jahren die Dieselnachrüstung betreiben sollen. Dann bräuchten wir heute nicht über dieses Murksgesetz zu beraten. ({0}) Uns Bündnisgrünen geht es um den Schutz der Gesundheit. Die Luft muss weniger giftig werden. Darum geht es. Brauchen wir dazu eine automatisierte Kameraüberwachung des Verkehrsraumes? Muss von allen Fahrern ein Foto gemacht werden? Ist das verhältnismäßig? Der Bundesrat, wissenschaftliche Gutachten und der neue Datenschutzbeauftragte hatten massive Zweifel. Dann wurde etwas nachgebessert. Doch die Zweifel bleiben. Gibt es ein besseres Mittel als die kamerabasierte Überwachung von Einfahrverboten? Die Antwort ist ganz eindeutig: Ja, das gibt es. Die Einführung der blauen Plakette wäre ein viel milderes und ein viel effektiveres Mittel. ({1}) Herr Klare, wir kennen das doch. Die grüne Plakette gibt es. Fragen Sie in den Städten nach. Die kennen sie, die funktioniert, die wird kontrolliert. ({2}) Die hat zu einer Minderung der Feinstäube in Höhe von 60 Prozent geführt. Das ist doch alles kontrolliert worden. Das sagt Ihr eignes Umweltbundesamt. Was erzählen Sie denn da? ({3}) Damit bekommen Sie den Schutz der Gesundheit und der Daten unter einen Hut. Genauso funktioniert das. Fragen Sie dort nach. Prüfen Sie die blaue Plakette endlich gründlich. ({4}) Auch technisch ist der Gesetzentwurf eine echte Farce. Sie von der Koalition gaukeln uns vor, dass ein Abgleich mit dem Fahrzeugregister ausreicht. ({5}) Dann wäre klar, ob man einfahren darf oder nicht. Das ist grundfalsch; ({6}) denn Sie verschweigen, dass die Ausnahmen extrem vielfältig und sehr unterschiedlich sind. ({7}) – Ich sage Ihnen auch etwas dazu. – Der Abgleich mit dem Fahrzeugregister reicht eben nicht aus. ({8}) Wir haben die nachgerüsteten Fahrzeuge. Wir haben die kommunalen Ausnahmen für Müllabfuhr, für Taxis. Wie wollen Sie das denn kontrollieren? Die Register gibt es doch gar nicht in den Städten. Was schwebt Ihnen denn da vor? ({9}) Das ist doch völliger Quatsch. Was ist denn die Folge? Sie wollen doch gar nicht wirklich kontrollieren. ({10}) Eigentlich wollen Sie doch nur einen weiteren Baustein zum Überwachungsstaat installieren. Darum geht es. Alternativ stellen Sie massenhaft falsche Bußgeldbescheide aus. Das ist auch eine Option. ({11}) Das könnte sein. Hier zwingen Sie den Fahrzeughalter, im Bußgeldverfahren die eigene Unschuld zu beweisen, indem er dort die Ausnahmegenehmigung für sein Fahrzeug vorlegt. Das ist doch irre. Mit Verlaub, das ist eines Rechtsstaates unwürdig. ({12}) Deswegen ist ganz klar: Ihr Gesetzentwurf versagt auf ganzer Linie. Die Gesundheit der Menschen wird mit diesem Gesetz keinen Zentimeter geschützt. ({13}) Es geht Ihnen allein darum, so zu tun als ob. Das ist quasi Ihr Ziel. Sie lassen die Betroffenen – die Kinder, die Asth­matiker, die älteren Menschen – allein. Dass Sie diesen Bundestag mit diesem Murksgesetz befassen, ist beschämend. Wir werden diesen Gesetzentwurf ablehnen; denn er taugt nichts. Noch ein letzter Satz. Der Witz ist, dass Sie von der SPD das alles längst wissen. Deswegen haben Sie ein Fünf-Punkte-Programm vorgelegt. Das lässt sich nur so erklären. Ich freue mich über die Vorschläge.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, das ist der viertletzte Satz. Kommen Sie zum Schluss.

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber warum in aller Welt stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu, wenn Sie wissen, dass er nicht funktioniert? Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Gelbhaar. – Als Nächster hat der fraktionslose Kollege Mario Mieruch das Wort.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat nicht nur einmal – zuletzt im Februar des letzten Jahres – klar geurteilt, dass anlasslose Pauschalüberwachungen verfassungswidrig sind. Hintergrund war unter anderem auch die Section Control in Niedersachsen. Trotzdem durften wir vor einigen Wochen miterleben, wie die überwachte Strecke feierlich eröffnet wurde. Nunmehr hat völlig zu Recht das Verwaltungsgericht das Ganze wieder kassiert. Jetzt haben wir nicht nur diesen einen Gesetzentwurf, der meint, diese höchstrichterliche Entscheidung besonders clever umschiffen zu können. Statt Überwachung soll es jetzt heißen: Überprüfung der Einhaltung. Man schwächt das Ganze ab; also quasi nur noch eine temporäre Kontrolle. Aber letzten Endes ist es das, was jetzt bleibt. Wenn ich jemanden in eine Zelle stecke, dann bleibt es eine Zelle, auch wenn ich sie vorher rosa streiche. Sie regulieren, verbieten, überprüfen immer mehr, greifen immer breiter und tiefer in die Freiheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Bürger ein. Die Frage ist am Ende: Für was? Ob wir diese Fahrverbote haben oder nicht – es gibt genügend realistische Beispiele wie aus Hamburg oder Oldenburg –, ob die Fahrzeuge fahren dürfen oder gar keine Fahrzeuge da sind, es macht überhaupt keinen Unterschied. Die Grenzwerte liegen gerne auch über diesen 40 Mikrogramm, die nach wie vor wissenschaftlich nicht richtig bewiesen sind. Der eigentliche Kracher an dieser Geschichte ist allerdings, dass die CDU so etwas mitmacht. Das wundert mich wirklich. Was ist denn aus dieser einstmals konservativen Volkspartei geworden? Wo bleibt denn der Aufschrei der Werteunion gegen diesen Eingriff in die Bürgerrechte? Macht man das, weil man hinter vorgehaltener Hand befürchtet, dass die Grünen, wenn sie könnten, noch viel mehr durchsetzen wollten? Die würden die Autos am liebsten gleich ganz verbieten. Gegenüber den Wählern ist das ziemlich rückgratlos und halbgar, aber vielleicht der schwammigste Kompromiss, um sich alle Optionen für künftige Koalitionen offenzuhalten. Die blaue Partei lehnt den Gesetzentwurf ganz konservativ ab. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Mieruch. – Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Daniela Ludwig, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in der Verkehrspolitik zwei Dinge, die für die beiden Regierungsfraktionen, aber auch für die gesamte Bundesregierung im Vordergrund stehen. Das ist die Einhaltung der Luftgrenzwerte – selbstverständlich – unter gleichzeitiger Beachtung der individuellen Mobilität unserer Bevölkerung. Beides ist, auch wenn die Debatte vorher und die Debatte jetzt das Gegenteil widerspiegeln wollen, kein Widerspruch. Ich denke, wir haben in den letzten beiden Jahren erfolgreich bewiesen, dass beides zusammen geht, und zwar ohne sofort in die Schatulle der Fahrverbote greifen zu müssen. Warum? Im Jahr 2016 haben 90 Städte in der Republik die Luftgrenzwerte gerissen. Ende 2018 waren es nach den Zahlen, die uns bis dato vorliegen, noch 35 Städte. Von 90 Städten auf 35, ({0}) und das alles ohne Fahrverbote, meine sehr geehrten Damen und Herren, sondern durch intelligentes Steuern ({1}) und intelligentes Setzen von Anreizen in den Städten, die Probleme mit ihrer Luft haben. Das „Sofortprogramm Saubere Luft“ ist mehrfach erwähnt worden. Es gibt aber noch sehr viel mehr, was immer gerne vergessen wird. Ich erlaube mir, das heute einmal vorzutragen: die Förderrichtlinie „Elektro-Mobil“, das Förderprogramm für Elektromobilität aus dem Bundeswirtschaftsministerium, die Förderrichtlinie zur Anschaffung von Elektrobussen im ÖPNV aus dem Bundesumweltministerium, die Förderrichtlinie zur „Digitalisierung kommunaler Verkehrssysteme“. Es ist nicht nur das „Sofortprogramm Saubere Luft“, sondern es ist ein Konglomerat von intelligenten Förder- und Anreizmaßnahmen, die in zwei Jahren die Reduktion von 90 auf 35 Städte geschafft haben. Das ist ein Erfolg dieser Regierungsfraktionen und der Bundesregierung. ({2}) Der nächste Baustein, den wir neben diesen Programmen gelegt haben, ist die soeben beschlossene Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, auch eine intelligente Maßnahme. Warum? Weil sich Städte auf den Weg gemacht haben für eine bessere Luft. Weil sich Städte auf den Weg gemacht haben, genau diese Förderung in Anspruch zu nehmen, und die Grenzwerte jetzt nur noch knapp reißen. Da ist es nicht nur nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts unverhältnismäßig, ein Fahrverbot zu verhängen, sondern vermutlich auch schon bei Einschaltung des gesunden Menschenverstandes unverhältnismäßig, ein Fahrverbot zu verhängen. Deswegen ist die soeben beschlossene Änderung wiederum ein guter Bestandteil einer intelligenten Politik für bessere Luft. ({3}) Dann gibt es bedauerlicherweise zwei Städte, die sich bei diesem Thema ein bisschen vom Acker gemacht haben: Die eine ist Stuttgart – politisch motiviertes Fahrverbot, klar –, und die andere ist Hamburg – auch politisch motiviertes Fahrverbot, ganz besonders intelligent, an zwei Straßenzügen. Wenn man sich die Messwerte im Vergleich vor dem Fahrverbot und nach dem Fahrverbot an diesen beiden Straßenzügen anschaut, erkennt man die exakt gleichen Messwerte. Das zeigt: Fahrverbot ist nicht intelligent. Fahrverbot ist eine einfache Lösung, die Leute aussperrt, die Städte sterben lässt, ({4}) den Handwerkern das Leben schwer macht, aber es schafft keine bessere Luft. ({5}) Es ist schade, dass wir uns heute mit dem StVG befassen müssen. Warum? Weil wir der festen Überzeugung sind, dass wir auf einem sehr, sehr guten Weg sind und künftig nicht mehr über neue Fahrverbote reden müssen. Da es sie nun aber bedauerlicherweise gibt – politisch motiviert –, legen wir einen Gesetzentwurf vor, den ich durchaus für intelligent – der Kollege Storjohann hat „schlau“ gesagt – halte. Warum? Er sieht einen ausgesprochen niedrigschwelligen Eingriff bei der Überwachung von Fahrverboten vor, wenn es denn Kommunen gibt, die sie immer noch verhängen wollen. Er ist niedrigschwellig, die Überwachung nicht flächendeckend, nur stichprobenartig, sie funktioniert, funktioniert im Abgleich der Daten mit dem Kraftfahrt-Bundesamt. Die Überwachung funktioniert auch deswegen – dafür haben wir übrigens die Sachverständigenanhörung im Ausschuss gemacht –, weil es sogenannte Whitelists geben wird, auf denen steht, wer trotzdem einfahren darf, auch wenn er eigentlich unter das Fahrverbot fiele. All das lässt sich in einer digitalen verkehrspolitischen Welt selbstverständlich regeln. Uns ist es wichtig, dass wir den Kommunen, die sich nicht anders als mit einem Fahrverbot zu helfen wissen, die Möglichkeit eines ganz niedrigschwelligen Eingriffs an die Hand geben, um dieses Fahrverbot zu überwachen. Unser Fokus liegt aber nicht auf der Überwachung bzw. Verhängung von Fahrverboten, sondern darauf, weiter den Weg zu beschreiten, den wir in den letzten zwei Jahren schon beschritten haben: für bessere Luft in unseren Städten bei gleichbleibend hoher Mobilität für unsere Bürgerinnen und Bürger. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Ludwig. – Mit diesen Worten schließe ich die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich zu Protokoll, dass mehrere Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung eingereicht wurden. Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes. Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8248, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 19/6334 und 19/6926 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist dieser Gesetzentwurf gegen die Stimmen sämtlicher Oppositionsfraktionen mit den Stimmen der Regierungsfraktionen in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? ({0}) – Das Problem besteht darin: Nur wenn das Präsidium sich einig ist, können wir das Ergebnis feststellen. Wir sind uns mit 2 : 1-Stimmen uneinig. Deshalb müssen wir jetzt einen Hammelsprung durchführen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Hammelsprung“ bedeutet, dass Sie alle den Saal verlassen und nur durch eine der drei Türen auf der gegenüberliegenden Seite, über denen entweder „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ steht, wieder in den Saal hereinkommen können. Verlassen Sie jetzt also bitte den Saal. Wer nicht draußen ist und nicht hineinkommen kann, nimmt an der Abstimmung nicht teil; so einfach ist das. – Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, ich verstehe das Problem, aber ich darf Sie trotzdem bitten, den Saal zu verlassen und durch eine der Türen wieder reinzukommen. – Ich könnte jetzt sagen, dass wir mit der Abstimmung beginnen. Dann würden die Türen geschlossen, und diejenigen, die sich noch im Saal befinden, blieben dann auch im Saal. Das mache ich aber nicht. Es wäre trotzdem nett, wenn Sie den Saal jetzt wirklich verlassen würden. Und keine Sorge: Es wird ausreichend Zeit sein, an der Abstimmung teilzunehmen. Während die Kolleginnen und Kollegen den Saal verlassen, möchte ich für die Zuschauerinnen und Zuschauer erläutern, was gerade passiert: Da keine eindeutige Mehrheitsentscheidung vom Präsidium getroffen werden konnte, muss Klarheit jetzt dadurch herbeigeführt werden, dass alle Abgeordneten den Saal verlassen und dann durch eine der drei Türen, über denen „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ steht, wieder in den Saal hereinkommen. Alle anderen Türen werden verschlossen. Es wird dann gezählt, wie viele Abgeordnete durch die jeweiligen Türen gegangen sind. Diejenigen, die in den Saal hereingekommen sind, können ihn bis zum Ende der Abstimmung auch nicht mehr verlassen, um erneut in den Saal zu kommen und damit doppelt abzustimmen. Sie können also bis zum Schluss der Abstimmung nicht wieder raus aus dem Saal. Das nennt man „Hammelsprung“ – nicht, weil man glaubt, dass die Abgeordneten Hammel wären, sondern weil es sich über mehr als 100 Jahre hinweg so eingebürgert hat. Ich bitte jetzt die Saaldienerinnen und Saaldiener, die Türen zu schließen und mit der Abstimmung zu beginnen. Ich frage auch in Richtung Lobby: Ist noch einer der Kollegen oder eine der Kolleginnen außerhalb des Saales, der bzw. die an der Abstimmung teilnehmen möchte? Wenn ja, möge er oder sie jetzt bitte durch die Tür gehen. Die Schriftführerinnen und Schriftführer an den Türen signalisieren, dass die Abstimmung zu Ende ist. – Dann schließen Sie bitte die Türen. Die Abstimmung ist geschlossen. Ich bitte, mir das Ergebnis zu übermitteln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe das Ergebnis der Abstimmung durch Auszählung bekannt – das ist noch einmal gut gegangen –: abgegebene Stimmen 447. Mit Ja haben gestimmt 249, mit Nein haben gestimmt 198, Enthaltungen 0. Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Lesung angenommen. ({2}) Tja, Glück gehabt. – Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/8337. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Keine. Dann ist dieser Entschließungsantrag gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/8338. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist dieser Entschließungsantrag ebenfalls gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses abgelehnt.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schön, dass unser Antrag „Managergehälter gesetzlich beschränken“ für ein volles Haus sorgt. ({0}) Es ist bei diesem Thema auch dringend notwendig, dass die gesellschaftliche Debatte hier im Plenum stattfindet. ({1}) Wenn es dem Land gut geht, geht es den Menschen gut. Wenn es dem Betrieb gut geht, geht es den Mitarbeitern auch gut. – Dieses Versprechen der sozialen Marktwirtschaft trifft für viele Millionen Menschen in diesem Land nicht mehr zu. Das ist ein Skandal. ({2}) Die Bürgerinnen und Bürger fühlen tagtäglich, dass es in diesem Staat nicht gerecht zugeht. Wenn ein Konzernchef verheerende Fehlentscheidungen trifft, dafür neben seinem sehr hohen Gehalt noch Millionen an Boni und Abfindungen kassiert, eine Verkäuferin dagegen aber für eine kleinere Verfehlung rausgeschmissen wird, dann wird das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen zutiefst erschüttert. ({3}) Es ist skandalös, dass in diesem Land immer mehr Menschen trotz harter Arbeit auch nicht ansatzweise einen halbwegs gesicherten Wohlstand erreichen können, während am oberen Ende der Einkommenspyramide Millionen eingestrichen werden, womit jeder Bezug zur persönlichen Leistung verloren geht und elementare Prinzipien von Haftung und persönlicher Verantwortung völlig außer Kraft gesetzt sind. ({4}) Das sind himmelschreiende Ungerechtigkeiten. Das empfinden die meisten Menschen auch zu Recht so, wie alle Umfragen beweisen. In den 80er-Jahren bezogen Vorstände von DAX-Konzernen etwa das 15-Fache des Durchschnittsverdienstes ihrer Angestellten. Das war schon ziemlich viel. Heute ist es völlig anders. Heute liegt dieses Verhältnis beim 71-Fachen. In besonders krassen Fällen wie bei der Deutschen Post ist es sogar das 159-Fache. Das heißt, ein durchschnittlicher Manager streicht in einem Jahr mehr als doppelt so viel ein, wie ein durchschnittlicher Arbeitnehmer in seinem ganzen Erwerbsleben verdient. Dieser obszönen Entwicklung haben alle Bundesregierungen in den letzten Jahrzehnten tatenlos zugeschaut. Eine Schande! ({5}) Während die Vorstände und Manager mit Milliardenbetrügereien wie Cum/Cum- und Cum/Ex-Geschäften davonkommen, sind es vor allem die Beschäftigten der Autoindustrie und die Verbraucher, die unter dem Abgasbetrug und dem Dieselskandal leiden. VW-Konzernchef Diess, der übrigens 8,5 Millionen Euro pro Jahr verdient, hat vorgestern angekündigt, 7 000 Stellen zu streichen. Es kann doch nicht sein, dass die Manager sich immer höhere Spitzengehälter zahlen und ihre Mitarbeiter für ihre Fehler bluten lassen. ({6}) Erinnert sich hier jemand noch an den ehemaligen VW-Chef Winterkorn? Das war derjenige, der nach Auffliegen des Dieselskandals zurücktreten musste. Dieser Winterkorn bekommt 3 100 Euro Rente – pro Tag. Angesichts dieser schamlosen Selbstbereicherung möchte ich Sie daran erinnern, wie hoch die Durchschnittsrente ist, die ein Arbeitnehmer nach 40 oder 45 Arbeitsjahren in Deutschland hat: etwa 1 000 Euro. Und dann wundern Sie sich, dass die Menschen sich von diesem Politikbetrieb immer mehr abwenden. Machen Sie ein Rentensystem wie in Österreich, wo die Durchschnittsrente 800 Euro höher ist als bei uns. Tun Sie etwas dafür, dass die Löhne und Gehälter wieder steigen, dass der Mindestlohn auf mindestens 12 Euro erhöht wird, mehr Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen ermöglicht wird und prekäre Beschäftigung bekämpft wird. ({7}) Beenden Sie die asozialen Exzesse an der oberen Einkommensskala! Der einzige effektive Weg dazu ist eine Kopplung der Managervergütung an die Lohnentwicklung im Unternehmen, etwa in der Relation 1 zu 20. Das wäre übrigens nicht nur sozial gerechter, das würde vor allem ganz andere Anreize setzen. Wenn die Manager mehr Geld wollen, sollten sie dafür sorgen, dass auch die Gehälter der Angestellten steigen und nicht nur die Aktienkurse. ({8}) Die Säulen unserer Gesellschaft sind nicht die Manager und Konzernlenker. Die Säulen unserer Gesellschaft sind die Krankenpflegerin und Kinderbetreuer. Das sind die Straßenreiniger, die Schichtarbeiter oder Busfahrer. Das sind die Menschen, die Tag für Tag unser aller Wohlstand erarbeiten und viel zu wenig davon bekommen, weil die anderen das allermeiste davon abschöpfen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Ulrich. – Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Heribert Hirte der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben, lieber Herr Ulrich, jetzt gerade gehört, wer schuld ist. Nur eines haben Sie nicht gesagt: Die meisten Fälle, um die es hier geht, sind Fälle von Aktiengesellschaften, in denen die Mitbestimmung gilt und in denen es Aufsichtsräte gibt, die all das hätten durchsetzen können, was Sie jetzt hier fordern, aber nicht getan haben. ({0}) Das muss man als Erstes ganz deutlich sagen. Das wollte ich vorwegschicken. ({1}) Schauen wir uns die beiden Anträge an, die sich mit der Frage der Begrenzung der steuerlichen Abzugsfähigkeit beschäftigen. Ja, wir haben es jetzt zum x-ten Mal gehört: Der Betriebsausgabenabzug für Vorstandsvergütungen soll ab einer bestimmten Höhe eingeschränkt werden. Dazu kann ich nur Ihre Kollegin Wagenknecht, die ja immer noch präsent ist, jedenfalls im Geiste, zitieren. Sie hat gesagt, die Begrenzung der steuerlichen Abzugsfähigkeit führe nicht zu einer Verkürzung, zu einer Verringerung der Vorstandsvergütung. – Ich kann nur sagen: Frau Wagenknecht – das hat sie vor zwei Jahren hier im Plenum gesagt – hat damit recht. Dass Sie diese Forderung gegen Ihre eigene Fraktionsvorsitzende aufstellen, ist doch sehr erstaunlich. Der einzige Effekt steuerlicher Begrenzungen ist: Es wird mehr gezahlt, damit am Ende dasselbe Ergebnis herauskommt. Das ist der Effekt der Anträge, die Sie hier einbringen. Um es kurz zu sagen: Die Anträge führen zu einem Mehr für den Staat, aber zu einem Weniger für die Unternehmen, die Arbeitnehmer und auch die Kleinaktionäre. Das ist das, was wir ganz bestimmt nicht wollen. ({2}) Im Übrigen: Wenn Sie über diese Frage weiter nachdenken – das haben Sie ja wahrscheinlich getan –, werden Sie sehen: Die Beschränkung der Abzugsfähigkeit führt dazu, dass das, was als Betriebsausgabe nicht mehr angerechnet werden kann, als Gewinn, etwa an Vorstandsmitglieder, ausgeschüttet werden kann. Dazu kann ich nur sagen: Solche Überlegungen stehen im Raum. ({3}) – Ja, Sie können mit Genussscheinen und anderen Optionen solche Gewinnausschüttungen machen. Diese Überlegungen stehen im Raum und führen dazu, dass all das, was Sie hier vorschlagen, unterlaufen wird. Das führt also nicht zum gewünschten Ergebnis. Deshalb müssen wir über andere Fragen nachdenken. Vielleicht noch eine weitere Bemerkung zur Steuersystematik, da wir hier über diese steuerlichen Fragen sprechen. Die Aufsichtsratsbezüge sind jetzt schon in der Abzugsfähigkeit beschränkt. Wenn wir darüber nachdenken, hier eine andere Beschränkung vorzunehmen, dann kann es sein, dass die Aufsichtsratsvergütungen in einem höheren Umfang gewährt werden müssen. Da fragt man sich natürlich, ob das mit Artikel 3 GG in Einklang zu bringen ist. Ich glaube, die Anträge sind hinsichtlich der steuerlichen Seite nicht wirklich zu Ende gedacht. ({4}) Beim Thema Steuer gibt es einen Punkt, der mich in der Tat umtreibt. ({5}) – Zur Beschränkung komme ich noch. – Wir wissen, dass es eine Reihe von Vorstandsmitgliedern gibt, die ihren Wohnsitz nicht in Deutschland haben und in Ländern ihre Steuern bezahlen – auch das Vereinigte Königreich, das leider voraussichtlich die Europäische Union verlassen wird, gehört dazu –, die mit besonders attraktiven Steuersätzen bei Vorstandsmitgliedern dafür werben, dort ihren Wohnsitz zu nehmen. Über dieses steuerliche Problem, das ich wirklich für ein Gerechtigkeitsdefizit halte, können wir gemeinsam nachdenken. Ich glaube, da gibt es auch Möglichkeiten, die Abzugsfähigkeit nur in den Fällen zu beschränken, bei denen in Deutschland keine Steuern gezahlt werden. Damit komme ich zum entscheidenden Punkt. Sie fordern eine Beschränkung der Vorstandsvergütungen, und Ihre Überlegung ist, sich an den Tariflöhnen zu orientieren. Das 20-Fache, das 5-Fache, das 3-Fache – mein Gott noch mal! Das sind doch keine Tarifangestellten. Wir bewegen uns hier an einem freien, internationalen Markt, ({6}) an dem Sie mit einem solchen Schema nicht vorgehen können. Das ist doch kein Ansatz, der mit der freien Marktwirtschaft in Einklang zu bringen ist. Das ist purer Sozialismus. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die haben doch jetzt gerade schon geredet und einen Antrag gestellt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie können Nein sagen. Das ist kein Problem.

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe damit Nein gesagt. Das war doch deutlich.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Okay.

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn wir uns das genau ansehen, dann müssen wir uns die Frage stellen: Warum sind Aufsichtsräte börsennotierter Gesellschaften nicht in der Lage, die Begrenzung vorzunehmen, die sie eigentlich haben wollen? Es gibt da wirklich Exzesse – das möchte ich deutlich sagen – und Probleme bei der Geltendmachung von Schadensersatz­ansprüchen. Das liegt aber an der Eigentümerstruktur börsennotierter Unternehmen. Es liegt daran, dass in börsennotierten Unternehmen über Vertreter agiert wird, dass es Intermediäre gibt und nicht diejenigen, die wirklich die Eigentümer sind, ihre Rechte geltend machen. Genau diesen Punkt – Herr Kollege Ulrich hört jetzt nicht zu – wollen wir angehen, wenn wir in den nächsten Wochen über das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie beraten. Da wird es um die Frage gehen: Wie redet die Hauptversammlung bei der Festlegung der Vorstandsvergütung mit? Ich meine, sie muss an diesem Punkt das letzte Wort haben. Das ist das entscheidende Instrument, um Vorstandsvergütungen auf das richtige Maß zurückzuführen. ({0}) Wenn wir überlegen, was das richtige Maß ist, dann stellt sich natürlich die Frage, woran man sich orientiert. Ich bin schon beunruhigt, wenn Vertreter von Familienunternehmen auf mich zukommen und sagen, wir müssten angesichts der Exzesse – da bin ich ja bei Ihnen – an manchen Stellen etwas tun. Das richtige Maß, die richtige Bezugsgröße wäre die Höhe der Vorstandsvergütungen, die in nicht börsennotierten Familienunternehmen gezahlt werden. Darauf sollten wir schauen, anstatt hier nach Schema F und nach Tabelle eine Beschränkung vorzunehmen. Damit komme ich – das ist der dritte Antrag, der hier gestellt wurde – zum Antrag der AfD. Es ist, ehrlich gesagt, ein rechtshistorischer Antrag. ({1}) Sie schreiben, es müsste etwas bei der Geltendmachung von Ersatzansprüchen passieren. Man merkt daran, dass Sie die Entwicklung der letzten Jahre im Gesellschaftsrecht nicht verfolgt haben. Denn es gibt eine erhebliche Erweiterung der Geltendmachung von Ersatzansprüchen, jedoch zu einem großen Teil außerhalb der Öffentlichkeit, nämlich durch Versicherungen. Wir haben in der vorletzten Legislaturperiode für solche Fälle den Selbstbehalt eingeführt, der entsprechend geltend gemacht wird. Ihr Antrag ist aus der Zeit gefallen. Wir haben schon solche Instrumente. Natürlich können wir über Erweiterungen nachdenken, wenn es wirklich Defizite gibt. Ein Punkt wäre, die Übernahme des Instruments der Directors Disqualification in das bundesdeutsche Recht zu erwägen. Darüber werden wir diskutieren, wenn wir den Antrag im Ausschuss beraten. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Hirte. – Bevor ich dem Kollegen Jacobi das Wort erteile, möchte ich feststellen, dass die Fraktion Die Linke um eine Kurzintervention gebeten hat, die ich hiermit erlaube. Der Kollege Straetmanns hat das Wort.

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Ich kann zwei Punkte aus Ihrem Beitrag so nicht stehen lassen: Erstens. Sie sprachen vom „puren Sozialismus“. Den finden wir natürlich grundsätzlich gut. ({0}) Zweitens. Ich möchte zwei Zeugen für eine vielleicht nicht sozialistische Position, aber für eine scharfe Kritik am herrschenden Kapitalismus anführen. Da wäre zum einen Herr Klaus Schwab, Gründer und Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums in Davos, zu nennen. Jetzt passen Sie mal auf, was der gute Mann gesagt hat: Kein Chef soll mehr als 20-mal so viel verdienen wie sein schlechtest bezahlter Angestellter … ({1}) So geht es auch. Zum anderen kann ich Ihnen den Hinweis nicht ersparen – ich glaube, Sie sind Katholik –, dass Papst Franziskus in seinem Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ auch davon gesprochen hat, dass diese Wirtschaft tötet und die Gier nach Macht und Besitz keine Grenzen kennt. ({2}) Danke. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Hirte, ich bin sicher, Sie werden antworten.

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das mache ich gerne. – Lieber Herr Kollege Straetmanns, wir sind hier nicht in der Kirche. Das muss man als Erstes sagen. Vielen Dank für den Hinweis auf den Papst. Sie haben wiederholt, dass es auch andere gibt, die die Tariforientierung von Vorstandsvergütungen verteidigen. Ich möchte ganz deutlich sagen: Ich bin der Meinung, dass wir hier Exzesse haben. – Ich habe gesagt, was die Orientierungsgröße sein müsste. Ich habe ganz deutlich gesagt, dass das, was Sie vertreten – der formale, pauschalierende Ansatz –, nicht der richtige Weg ist. Wir müssen anders vorgehen und das Problem so lösen, wie es marktwirtschaftlich richtig ist, also mit marktwirtschaftlichen Instrumenten. Bezugsgröße könnten Preise sein, die an ordentlichen, vernünftigen Märkten gebildet werden. Darüber kann man nachdenken. ({0}) Das sollten – das war meine Eingangsbemerkung an den Kollegen Ulrich – vor allen Dingen auch die Aufsichtsräte in den betreffenden Gesellschaften tun. Auch sie tragen eine Verantwortung. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, auch Ihnen, Frau Kollegin Haßelmann, für Ihren Zwischenruf. – Als nächster Redner hat der Kollege Fabian Jacobi, AfD-Fraktion, das Wort. ({0})

Fabian Jacobi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004767, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man, wie es angeblich im Fernen Osten der Fall sein soll, den Ausspruch „Mögest du in interessanten Zeiten leben“ als Fluch versteht, dann leben wir seit mindestens einem Jahrzehnt in der Tat in interessanten Zeiten. Denn mindestens schon so lange gibt hierzulande eine Krise der nächstfolgenden, noch gravierenderen Krise die Klinke in die Hand. So haben die jüngeren Krisen, namentlich die sogenannte Flüchtlings- oder Migrationskrise und die sogenannte Euro-Krise, treffender: Staatsschuldenkrise, ({0}) beide ausgelöst durch eine verantwortungslose Regierungspolitik, die vorangegangene Krise fast schon vergessen gemacht. Es war die sogenannte Finanzkrise, besser: Bankenrettungskrise. Sie feierte kürzlich ihr zehnjähriges Jubiläum. Aus diesem Anlass hat verdienstvollerweise jemand von der Grünenfraktion hier im Hause bei der Bundesregierung nachgefragt, was die große Sause um IKB, Hypo Real Estate, WestLB und andere eigentlich die Allgemeinheit gekostet habe, mit dem Ergebnis, dass auf diesem speziellen Deckel bisher etwa 60 Milliarden Euro stehen – Ende noch offen. Obwohl auch in der Bankenkrise vieles am Regierungshandeln zu kritisieren war, geht diese in ihrem Ursprung auf private Akteure zurück, nämlich die Vorstände der Banken, die durch unseriöse Geschäftspraktiken und das Eingehen unmäßiger Risiken die Notlage erst verschuldeten, aus der die Regierung sie dann retten zu müssen glaubte. Damit sind wir beim Gegenstand dieses Tagesordnungspunkts, den Vorständen. Vier Anträge sind heute zu behandeln. Über den Antrag der Linken ist nicht viel zu sagen. Er ist kurz, schlicht und unterkomplex. ({1}) Man will in altbekannter sozialistischer Manier die Vorstandsbezüge staatlich festlegen. Das ist plumper Links­populismus, den wir als freiheitlich und marktwirtschaftlich orientierte Partei natürlich ablehnen. ({2}) Der Antrag der Grünen ist schon ambitionierter. Er erkennt, dass hohe Vergütungen und eine Abwälzung von Misserfolgen auf die Allgemeinheit zusammen Fehlanreize setzen und zu verantwortungslosem Handeln führen – so weit richtig. Er krankt aber ebenfalls an dem sozialistischen Irrglauben, dass die Entscheidung, welche Vergütungen überhöht seien, Politikern obliege. Skurril wirkt in dem Antrag die Denkweise, dass die gesamten Erträge eines Unternehmens eigentlich irgendwie dem Staat gehörten und die vom Unternehmen an seine Mitarbeiter gezahlten Vergütungen dem Staat entzogen würden, was zu Ende gedacht zu einer staatlichen Festlegung nicht nur der Vorstandsvergütungen, sondern eigentlich sämtlicher Gehälter führen müsste. Auch dem Antrag der Grünen werden wir daher wohl nicht nähertreten. ({3}) Interessanter ist der Antrag der FDP. Hier wird anerkannt, dass es bei der Festlegung der Vorstandsvergütungen durch die Aufsichtsräte nach dem Motto „Man kennt sich, man hilft sich“ zu einer mitunter fragwürdigen Höhe der Vergütung kommen kann. Deshalb soll nach diesem Antrag die Vergütungspolitik der Zustimmung der Hauptversammlung und damit der Unternehmenseigentümer bedürfen. Dieser Antrag erscheint sinnvoll. Wir werden ihm voraussichtlich zustimmen. ({4}) Damit komme ich zu unserem eigenen Antrag. Er hat einen anderen Blickwinkel als die anderen Anträge. Er beschäftigt sich nicht mit der Vergütung der Vorstände. Wer eine große Verantwortung trägt, der darf auch ordentlich verdienen, und wie viel genau, müssen allemal die Eigentümer des Unternehmens entscheiden. Allerdings muss er die Verantwortung dann tatsächlich tragen und im Falle grober Fehlleistungen auch die Konsequenzen. ({5}) Daran hapert es. Das liegt nicht daran, dass es im Gesetz keine Haftungstatbestände für Vorstände gäbe; die gibt es, und sie sind als solche auch ausreichend. Was fehlt, ist die Durchsetzung; denn Geschädigter ist zunächst die Aktiengesellschaft selbst. Eine Haftung des Vorstands müsste vom Aufsichtsrat geltend gemacht werden, wozu häufig geringe Neigung besteht, oder von den Aktionären. Allerdings sind die Bedingungen dafür derzeit so ungünstig ausgestaltet, dass es kaum jemals geschieht. Unser Gesetzentwurf zielt darauf ab, die Bedingungen für eine Geltendmachung der Vorstandshaftung durch die Anteilseigner so zu verbessern, dass Vorstände bei groben Fehlleistungen mit einer Inanspruchnahme zu rechnen haben. Wohin es führt, wenn Vorstände mit astronomischen Summen jonglieren, aber nicht ernsthaft eine persönliche Haftung befürchten müssen, das haben wir in der Bankenkrise erlebt. Unser Gesetzentwurf soll mit dazu beitragen, eine Wiederholung unwahrscheinlicher zu machen. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Jacobi. – Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Johannes Fechner, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Zu den wichtigsten Elementen unserer Gesellschaft gehört, dass die Bürgerinnen und Bürger Vertrauen in unser Wirtschaftssystem haben, in unsere soziale Marktwirtschaft. Um es ganz deutlich zu sagen: Dieses Vertrauen ist gefährdet. Denn wenn ein Autokonzern erst bei den Abgaseinrichtungen betrügt, sich dann vor Schadensersatzzahlungen drückt und Nachrüstungen verweigert, andererseits aber dem Konzernchef fast 9 Millionen Euro Jahresgehalt zahlt, dann ist klar, dass die Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft verlieren. ({0}) Das dürfen wir nicht zulassen. Deswegen müssen wir die Explosion der Managergehälter stoppen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Die SPD setzt sich schon seit langem für schärfere gesetzliche Begrenzungen von Managergehältern und Boni ein, und sie hat auch konkrete Vorschläge dazu unterbreitet. Natürlich können wir wegen der Vertragsfreiheit keinem Unternehmen genaue Gehaltssummen vorschreiben; aber wir können stoppen, dass extreme Managergehälter, wie es nach heutiger Rechtslage möglich ist, auch noch indirekt durch Steuergelder subventioniert werden. Weil Gehälter als Betriebsausgaben abgesetzt werden können, mindert sich dadurch die Steuerlast des Unternehmens, und zwar umso mehr, je höher die Managergehälter sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das müssen wir stoppen. ({2}) Wir wollen eine Begrenzung. Wir wollen, dass Managergehälter nur noch bis maximal 500 000 Euro als Betriebsausgaben absetzbar sind, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Und wir wollen klare Regeln, wer die Managergehälter festsetzt. Deshalb sollte die Hauptversammlung, die die Eigentümer des Unternehmens vertritt, beratend bei der Vergütungspolitik mitwirken können und Vorschläge an den Aufsichtsrat machen. ({4}) Uns ist wichtig, dass der Aufsichtsrat das entscheidende Gremium bleibt; denn dort ist die Arbeitnehmerseite vertreten und damit beteiligt. Der Aufsichtsrat muss die klare Kompetenz haben, die Vergütung letztendlich festzusetzen. Sie sehen, wir haben zahlreiche Vorschläge, wie wir die Explosion von Managergehältern stoppen können. Es ist ärgerlich, dass unser Koalitionspartner diese Vorschläge blockiert. Aber wir sind uns sicher, dass die Zeit für unsere Vorschläge kommen wird; denn das Vertrauen unserer Bürgerinnen und Bürger in unsere soziale Marktwirtschaft wird nur bestehen bleiben, wenn wir die Explosion der Managergehälter stoppen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Die Anträge der Linken und der Grünen gehen in die richtige Richtung, wenngleich sie sich schon, wie die SPD in früheren Wahlperioden, die Mühe hätten machen können, einen Gesetzentwurf zu präsentieren. Allerdings habe ich verfassungsrechtliche Bedenken, wenn wir gesetzlich die Managergehälter an das Durchschnittsgehalt koppeln. Das ist verfassungsrechtlich schwierig. Das sollte besser innerhalb der Unternehmen festgelegt werden. Die Zielrichtung des FDP-Antrags ist klar: Sie wollen, dass die Gehaltsexplosionen munter und ungebremst weitergehen. Sie wollen keinerlei Deckel. ({6}) Sie wollen keinerlei Begrenzung der steuerlichen Absetzbarkeit, obwohl es doch offensichtlich ist, dass in Deutschland Managergehälter gezahlt werden, die völlig unangemessen sind und die dafür sorgen, dass die Menschen kein Vertrauen mehr in unsere soziale Marktwirtschaft haben. Besser können Sie von der FDP nicht dokumentieren, dass Ihnen das Allgemeinwohl egal ist und dass Sie, wie immer, nur Politik für die Besserverdienenden machen. ({7}) Das wollen wir nicht. Wir werden das verhindern. Wenn wir das Vertrauen der Bürger in die soziale Marktwirtschaft stärken und erhalten wollen, dann müssen wir die Exzesse bei den Managergehältern stoppen. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Reinhard Houben, FDP-Fraktion. ({0})

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gibt es Fußballergehälter, die für Außenstehende nicht nachvollziehbar sind? – Ja. Gibt es Einkommen von Musikern, Schauspielerinnen oder Models, die für Außenstehende nicht nachvollziehbar sind? – Ja. Gibt es Managergehälter, die für Außenstehende nicht nachvollziehbar sind? – Ja. Aber die Politik hat weder das Recht noch die Pflicht, entsprechende Grenzen festzulegen; ({0}) denn die Gehälter und Bonuszahlungen werden von den Unternehmen gezahlt, also von den Eigentümern. Und wenn ein Unternehmen einer Spitzenkraft ein hohes Gehalt zahlen will, dann ist es das gute Recht des Unternehmens, dies zu tun. ({1}) Und wenn das Unternehmen zu viel oder auch viel zu viel zahlt, dann ist auch das legitim. Kaufmännische Unvernunft gehört nun einmal auch zur unternehmerischen Freiheit. ({2}) Diejenigen, die sich in diesen Fällen beklagen können, sind die Eigentümer, deren Geld verschleudert wird. Die Politik geht das im ersten Schritt nichts an. Unser Ansatz ist es daher, die Eigentümer zu stärken; denn diese haben ein elementares Interesse an einem vernünftigen Umgang mit Managerbezügen. Sie entscheiden, was ihnen die Arbeit der Vorstände wert ist. Daher sollte das Votum der Eigentümer, anders als von der Koalition bisher vorgesehen, unbedingt verbindlich sein. Die Verteidiger der Arbeitnehmerbeteiligung brauchen hier keine Angst zu haben. Der Aufsichtsrat soll weiterhin die Bezüge festsetzen und dafür verantwortlich sein. Aber mit einer verbindlichen und verpflichtenden Entscheidung der Hauptversammlung stellen wir das System vom Kopf auf die Füße. So unterliegt auch der Aufsichtsrat einer verschärften Kontrolle durch die Eigentümer. Aber eigentlich, meine Damen und Herren, geht diese Neiddebatte in die vollkommen falsche Richtung. Was wir in Deutschland brauchen, ist eine Debatte über Ehrgeiz. Wir brauchen eine Debatte über den Willen zum Aufstieg, über Bildung, Gründergeist, Unternehmertum und Wagemut. ({3}) Statt permanent das Misstrauen in die Wirtschaft zu schüren, sollten wir etwas tun, um junge Menschen zu ermutigen, verantwortungsvolle Positionen in der Wirtschaft zu übernehmen. Sie sollen Risiken eingehen, sie sollen Neues schaffen. Deutschland braucht den Hunger nach eigenem und größerem Erfolg und keine neidgetriebene Begrenzung von Spitzengehältern. ({4}) Erlauben Sie mir, einige Bemerkungen zu Ihren Äußerungen zu machen. Herr Ulrich – in seiner beruflichen Vergangenheit IG-Metall-Geschäftsführer – und Herr Dr. Fechner, Sie führen also ausgerechnet VW und Herrn Winterkorn als Beispiel an. Herzlichen Glückwunsch! Welches Unternehmen in Deutschland wird denn stark durch die Politik beeinflusst? ({5}) Das ist doch der VW-Konzern durch das Gesetz zur Bevorzugung Niedersachsens als Anteilseigner. Durch all die Sprüche, die ich in der Richtung höre – das muss ich Ihnen als mittelständischer Unternehmer sagen –, fühle ich mich nur auf den Arm genommen. ({6}) Wenn ein Herr Winterkorn mit den Stimmen der niedersächsischen Ministerpräsidenten aus Ihrer Partei und mit den Stimmen der IG-Metall-Vertreter solche Gehälter und solche Zusagen bekommen hat, dann dürfen Sie sich nicht hierhinstellen und so tun, als ob das ein großes Unrecht sei. Das ist einfach unehrlich. ({7}) Herr Hirte, eine letzte Bemerkung. Schade, dass Sie nicht auf unseren Antrag eingegangen sind. Im Jahr 2013 hat die Union einem Änderungsantrag zur Aktienrechtsnovelle, der im Grunde unserem heute vorliegenden Antrag entspricht, zugestimmt. Haben Sie also heute Abend doch den Mut, dem FDP-Antrag zuzustimmen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Kerstin Andreae. ({0})

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon bezeichnend, dass zu diesem Thema heute vier Vorlagen der Opposition vorliegen, aber nichts von der Koalition. Herr Hirte, Sie haben gesagt: Wir müssen darüber nachdenken, wie man das mal machen kann. – Das haben Sie mir vor drei Jahren in einer Debatte über genau das gleiche Thema auch schon gesagt. Und Herr Fechner hat gesagt, die SPD habe Vorschläge vorgelegt, wie die Abzugsfähigkeit begrenzt werden solle. Ich sehe Ihr Dilemma: Die CDU/CSU macht nicht mit. Aber Sie müssen anerkennen, dass die Frage, wie in diesem Land entlohnt wird, das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen in diesem Land zutiefst berührt. Wenn die Betreuung von Kindern gering entlohnt wird, aber die Betreuung unseres Geldes massiv entlohnt wird, dann haben wir in diesem Land ein Gerechtigkeitsproblem. Ich möchte, dass Sie einen Vorschlag machen, wie wir das aufgreifen. ({0}) Nun gibt es ja immer die sogenannte Selbstverpflichtung. Der Deutsche Corporate Governance Kodex verliert allerdings an Relevanz. Das ist schade. Wir bedauern das, weil wir diesen Kodex richtig gefunden haben. Er steckt aber in der Krise, und Unternehmen wenden sich davon ab. Wenn das so ist, dann müssen wir überlegen, was wir verpflichtend machen. Wir sind der Meinung, dass die Vergütungspolitik geregelt werden muss; denn da läuft ja etwas aus dem Ruder. Wir sagen nicht, dass die Politik entscheiden soll, wie hoch die Vorstandsgehälter sind. Das ist nicht unser Punkt. Die Vertragsfreiheit – Herr Fechner hat das ja gesagt – ist ein hohes Gut. Eine Begrenzung der Abzugsfähigkeit würde aber bedeuten, dass die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler nicht jedes exzessive Managergehalt mitfinanzieren. Darum geht es in unserem Antrag. ({1}) Dass die Hauptversammlung das letzte Wort haben soll, finden wir absolut richtig. Dann machen Sie doch einmal einen entsprechenden Vorschlag. Von der Justizministerin bekommen wir aber einen Vorschlag, in dem es nur um eine Empfehlung und nicht um eine letztliche Entscheidung geht. Ich bin einmal sehr gespannt, wie die Koalition hier zu einer Lösung kommt. Natürlich ist die Hauptversammlung als Versammlung der Eigentümer, an der die kritischen Aktionäre teilnehmen können und bei der Transparenz und Öffentlichkeit geschaffen werden, der richtige Ort, um diese Diskussion zu führen und diese Entscheidung zu treffen, nicht der Inner Circle des Aufsichtsrats. Insofern wünsche ich dabei gutes Gelingen. Wir sind der Meinung, dass die Hauptversammlung das letzte Wort haben soll. ({2}) Ein weiterer Punkt ist die Rückholklausel. Warum wird einer Beteiligung an den Erfolgen nicht eine Beteiligung an den Verlusten gegenübergestellt, insbesondere da, wo es in der Verantwortung der Manager liegt? Dann bringt man nämlich Risiken und Chancen wieder zusammen. Gesetzlich ist das möglich; wir haben andere Fälle. Wir hätten gerne diese Rückholklausel, diese Claw­back-Klausel. Das kann die Union im Übrigen auch unterstützen. Es ist ja ein Vorschlag von Ihnen, den wir geteilt haben. Sie haben gesagt: Natürlich müssen Risiken und Chancen zusammengebracht werden, und es muss auch eine Beteiligung an den Verlusten geben. – Dann warte ich doch einmal auf einen Vorschlag von Ihnen. ({3}) Es wird aber immer noch nachgedacht. ({4}) Letzter Punkt. Es gibt eine Umfrage der UN zu den Agenda-2030-Zielen. Wir diskutieren ja immer wieder über soziale und ökologische Nachhaltigkeitsziele. Bei dieser Umfrage wurden weltweit die CEOs gefragt. Sie haben ein ganz klares Bekenntnis dazu abgegeben, dass positive Unternehmensentwicklung mit Nachhaltigkeit im ökologischen und sozialen Bereich verknüpft werden muss. Shell – wahrlich kein grünes Unternehmen – hat beschlossen, dass ab 2020 die Auszahlung von Boni an die Einhaltung von CO 2 -Emissionen geknüpft wird. Dieses Vorgehen soll kein Einzelfall bleiben. Deswegen sind wir der Meinung, dass Boni sich auch an der Frage ökologischer und sozialer Nachhaltigkeitsstrategien eines Unternehmens orientieren müssen. Das hat nicht nur einen ökologischen und sozialen Nutzen; es hat einen zutiefst ökonomischen Nutzen. Damit müssten Sie vorangehen. ({5}) Denn klar ist, dass wir nur mit verbindlichen Regeln Fairness schaffen, die Mitfinanzierung durch Steuerzahlende stoppen und eine sinnvolle Verknüpfung von nachhaltigem Unternehmenserfolg und Vergütung fördern. Genau das schlagen wir Ihnen heute mit unserem Antrag vor. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat der Kollege Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, es ist richtig: Managergehälter bewegen die Menschen in diesem Land, und zwar immer dann, wenn die Höhe Anlass zu Unverständnis gibt. Kollege Houben, meines Erachtens werden wir dem Thema nicht gerecht, wenn wir Debatten dieser Art pauschal als Neiddebatten abtun. Gerade als christlich-sozialer Politiker glaube ich schon, dass die Managergehälter dann eine Frage der Politik sein müssen, wenn es um sozialen Frieden und am Ende auch um soziale Gerechtigkeit geht. ({0}) Wir haben – da muss man ehrlich sein – Fälle im Kopf, bei denen die Leistung nicht mit der Vergütung zusammenpasst oder eine Vergütung in einer so astronomischen Höhe gezahlt wird, dass man diese Dimension nur noch schwer erklären kann. Deshalb war es richtig, schon 2009 das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung auf den Weg zu bringen. Danach hat der Aufsichtsrat die Pflicht, bei Managergehältern darauf zu achten, dass ein angemessenes Verhältnis zu den Aufgaben und der Leistung des Vorstandsmitglieds sowie zu der Lage des Konzerns besteht. Heute, zehn Jahre später, muss man aber bei ehrlicher Betrachtung feststellen, dass da selbstverständlich noch Anlass zur Feinsteuerung besteht. Wir haben in den nächsten Wochen und Monaten Gelegenheit – darauf ist nur vereinzelt eingegangen worden –, genau das unter Beweis zu stellen. Denn wir warten ja auf den offiziellen Gesetzentwurf aus dem Justizministerium zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Houben?

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, sehr gerne.

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, dass Sie mir die Möglichkeit geben, eine Frage zu stellen, Herr Hoffmann. – Habe ich Sie richtig verstanden, dass jetzt auch die CSU dafür kämpft, die Gehälter der Fußballer beim FC Bayern München durch die Politik zu beschränken?

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Kollege Houben, ich bin auf Ihre Aussage eingegangen, mit der Sie daraus eine Neiddebatte gemacht haben. Das wird der Debatte nicht gerecht. Über Fußballer habe ich noch gar nicht gesprochen. Wenn Sie aber zuhören, werde ich am Ende gern auf dieses Thema zurückkommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden also in den nächsten Wochen und Monaten Gelegenheit haben, genau darüber zu diskutieren, nämlich im Zuge der Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie. Bislang gibt es einen Referentenentwurf. Auf den offiziellen Entwurf aus dem Ministerium warten wir. Der Referentenentwurf enthält durchaus besondere Bausteine, die man als den richtigen Weg bezeichnen kann. Beispielsweise soll die Vergütungspolitik grundsätzlich von der Hauptversammlung gebilligt werden müssen. Im Einzelfall soll es auch die Möglichkeit geben, dass zum Beispiel der Aufsichtsrat von dieser gebilligten Vergütungspolitik abweicht, wenn das zur nachhaltigen Unternehmensentwicklung erforderlich ist. Außerdem soll vorgeschrieben werden, dass ein jährlicher Vergütungsbericht nicht nur vorgelegt, sondern auch mit einem Votum der Hauptversammlung versehen werden muss. Dieser Bericht muss dann offengelegt werden und zehn Jahre lang jedem zugänglich sein. Ich glaube schon, dass man sagen kann: Transparenz könnte eine echte Chance zur Schaffung einer maßvollen Vergütungspolitik sein. Kollege Fechner, Ihre hier getroffene Aussage „Wir würden ja gern; aber wir können nicht wegen der Union“ habe ich nicht verstanden. Denn das SPD-geführte Justizministerium dreht an dieser Stelle an einer Schraube, die ich persönlich kritisch sehe. Gemäß Artikel 9a Absatz 3 der zweiten Aktionärsrechterichtlinie können nämlich die Mitgliedstaaten entscheiden, ob das Votum der Aktionärsversammlung bindend ist oder nicht. Das Justizministerium will davon in der Art und Weise Gebrauch machen, dass dieses Votum der Aktionärsversammlung nicht bindend sein soll. Ich wünsche mir, dass wir da noch Zeit investieren und noch ein bisschen Bewegung hineinbringen, weil ich glaube, dass das eine effektive Stelle sein könnte. ({0}) Zu den Anträgen, vor allem zu dem Antrag der Linken, will ich nur wenige Sätze sagen. Da komme ich auch gleich zu den Fußballern, Kollege Houben. Ich merke schon, wie gespannt Sie darauf warten. ({1}) Diese Anträge sind nicht ausgereift, weil Sie mit dem Rasenmäher drübergehen. Sie schütten das Kind mit dem Bade aus, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es ist hier wie beim Fußball. Wir stehen in einem internationalen Wettbewerb. Wir wollen den Wirtschaftsstandort Deutschland, den Wirtschaftsstandort Europa stärken. Da brauchen wir für die einflussreichen Positionen die besten Leute. Auch im Fußball bekomme ich nur die besten Stürmer, wenn ich sie am Schluss auch angemessen und konkurrenzfähig bezahle. Das bedeutet eben nicht, einfach streng durchzuregulieren. Wir alle kennen Debatten, in denen auch beim Fußball irgendwann gesagt wird: Die Leistung stimmt im Moment mit der Bezahlung nicht überein. Ganz am Ende will ich noch einen Satz zu VW sagen; dieses Beispiel wird ja immer wieder genannt. Ich bin sehr dankbar für den von Ihnen vorgetragenen Einwand. Aber wir dürfen, liebe Kolleginnen und Kollegen, eines nicht vergessen: In einem Rechtsstaat können, egal ob wir entsprechende Regelungen im Aktienrecht haben oder nicht, solche Fälle nur abgearbeitet werden, wenn man eine justiziable Sachverhaltsaufklärung hat. Es ist dann egal, ob es um Schadensersatz geht oder um Regulierungsmaßnahmen, die vielleicht der Aufsichtsrat oder die Mitgliederversammlung vornehmen kann. Das sollten wir bei der Debatte nicht vergessen. Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie hier vorgaukeln, dass man Fälle wie VW sofort ahnden kann, wenn man entsprechende gesetzliche Regelungen schafft. Auch da wird es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen kommen, und die werden langwierig. Das werden wir bei VW noch erleben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Groß, SPD-Fraktion. ({0})

Michael Groß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004045, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war ja eine interessante Debatte. Man konnte sehr genau nachvollziehen, wer hier wen schützen möchte. Ich fange einmal bei den Grünen und bei den Linken an. Wir sind inhaltlich natürlich nahe beieinander; aber die Grünen hätten ja bei Jamaika all das durchsetzen können, was sie heute hier gefordert haben. ({0}) Wir haben einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht. Ich wäre gespannt gewesen, was Sie in einer Koalition mit FDP und Union erreicht hätten. Herr Houben, ich habe Ihnen sehr gut zugehört. Ich hoffe, Sie haben nicht gemeint, dass diejenigen, die als Friseurin, als Reinigungskraft, als Pflegerin, in der Stadtreinigung arbeiten, nicht leistungsfähig sind. Sie haben ja gesagt, wir müssten Leistung belohnen. Ich hoffe, Sie sind auch dafür, dass wir durch eine starke Mitbestimmung die Löhne anheben. ({1}) Es geht hier um Maß und Mitte in den Betrieben, und es geht darum – das haben Sie vielleicht zur Kenntnis genommen –, dass die Löhne der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eben nicht so stark ansteigen wie die Spitzengehälter der Vorstandsmitglieder in den DAX-Unternehmen. Gerade hatten wir das Thema „soziale Marktwirtschaft“. Ich kann da nur Ludwig Erhard zitieren, der einmal gesagt hat: Wir haben den Aufstieg mit der sozialen Marktwirtschaft geschafft. Mein Vater war Betriebsratsvorsitzender auf einer Zeche in Marl-Brassert. Ich habe ihn in den 1970er-Jahren gefragt: Was hältst du davon, wenn dein Standortleiter mehr verdient? – Da hat er gesagt: Das Dreifache ist okay; der leistet mehr. – Heute ist die Situation so, dass Vorstände wie der Chef der Deutschen Post 232-mal mehr verdienen. Das ist für uns Sozialdemokraten unverhältnismäßig. ({2}) Das spiegelt auch nicht die Leistungsfähigkeit dieser Menschen wider. Sie können argumentieren, dass diese Menschen mehr Verantwortung haben und zeitlich vielleicht auch mehr arbeiten; aber dadurch wird es nicht gerecht. Maß und Mitte heißt eben auch, dass die Menschen in dieser Gesellschaft darauf vertrauen können, dass wir so etwas regulieren. ({3}) Johannes Fechner hat deutlich gemacht, was wir als Sozialdemokraten uns vorstellen können. Da geht es auch um die steuerliche Absetzbarkeit der Gehälter und der Altersbezüge derjenigen, die in den Vorständen arbeiten. Wir sagen eindeutig: So etwas wollen wir nicht mehr. Der Kollege Hoffmann hat es ja gesagt: Es geht um die soziale Marktwirtschaft. Es geht darum, die Zukunft so zu gestalten, dass die Menschen das Gefühl haben, es gehe sozial gerecht zu. Ich hoffe, wir schaffen es in den Koalitionsgesprächen, die Aktionärsrechterichtlinie noch zu verbessern. Sie können ja mitmachen. Sie können unserem Vorschlag folgen, und dann bekommen wir eine gute Gesetzgebung zum Thema „Unterbindung der Gehaltsexzesse“ hin. Das ist unser Ziel als Sozialdemokraten. ({4}) Auf die Aktionärsrechterichtlinie sind Sie schon eingegangen; darauf will ich nicht mehr hinweisen. Es geht um das Thema „Transparenz zwischen Gesellschafter und Aktionären“. Es geht darum, dass insbesondere die Vorstände dazu gezwungen werden, Vergütungssysteme aufzustellen, und sich letztendlich auch dazu verpflichten, Berichte vorzulegen, die Einkommensentwicklung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter offenzulegen, und zwar im Verhältnis zur Einkommensentwicklung der Vorstände und Vorstandsvorsitzenden. Das ist nur richtig so, damit wir auch sehen, wie sich das entwickelt. Wir Sozialdemokraten sagen: Wir brauchen noch andere Instrumente. Sie haben unser Sozialstaatskonzept zur Kenntnis genommen. Wir müssen über höhere Mindestlöhne reden. Wir müssen auch darüber reden, dass natürlich einige im Haus den Solidaritätszuschlag abschaffen wollen für 10 Prozent der Reichsten. Das würde dazu führen, dass diejenigen, die 6 Millionen Euro im Jahr verdienen, 160 000 Euro weniger Steuern zahlen müssten. Das ist, glaube ich, nicht das, was wir alle wollen. Das ist sozial ungerecht. Deswegen lehnen wir das ab. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache. Wir kommen – Tagesordnungspunkte 11 a und 11 c – zur Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 19/7979 und 19/8282 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse. Die Federführung ist allerdings strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen möchten eine Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Ich lasse über den Überweisungsvorschlag der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen, Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie, abstimmen. Wer stimmt dafür? – Das sind die Linken und die Grünen. Dagegen? – Alle übrigen Fraktionen. Enthaltungen? – Keine. Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt. Wir stimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, ab. Wer stimmt dafür? – Das sind AfD, FDP, CDU/CSU und SPD. Dagegen? – Linke und Grüne. Keine Enthaltungen. Damit sind die Überweisungsvorschläge angenommen. Zum Tagesordnungspunkt 11 b sowie zum Zusatzpunkt 8. Interfraktionell wird hier Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 19/8233 und 19/8269 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Metin Hakverdi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004289, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Europäischen Investitionsbank meinen Dank für ihren Beitrag zur europäischen Integration aussprechen. Die Europäische Investitionsbank ist so alt wie die Europäischen Gemeinschaften. Mit einer Bilanzsumme von mehr als 500 Milliarden Euro ist sie ein wichtiger Kreditgeber bei der Finanzierung öffentlicher Investitionen in der EU, aber auch außerhalb der Europäischen Union. Als Reaktion auf die Euro-Krise sprang sie ein und stellte 60 Milliarden Euro für Investitionen bereit. Damit leistete sie einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Erholung der Euro-Zone und der ganzen EU. Ende 2014 hat die Europäische Investitionsbank zusammen mit der Europäischen Kommission den Europäischen Fonds für Strategische Investitionen an den Start gebracht. Auch das war eine wichtige wirtschaftliche Unterstützung. Wir befassen uns heute aus zwei Gründen mit der Satzung der Europäischen Investitionsbank. Die gute Nachricht ist, dass wir die Leitungsstruktur – Neudeutsch heißt das ja heute Governance – im Hinblick auf die Herausforderungen der Zukunft verändern wollen. Unter anderem geht es darum, dass die Anzahl der stellvertretenden Mitglieder des Verwaltungsrates erhöht wird. Außerdem sollen die stellvertretenden Mitglieder und Sachverständigen stärker in die Entscheidungsprozesse der Bank eingebunden werden. Ich verspreche mir davon, dass es bessere, mehr von Know-how getragene Entscheidungen der Bank geben wird. Der zweite Grund für die Satzungsänderung ist nicht so positiv. Das Vereinigte Königreich verlässt – voraussichtlich – die Europäische Union. Während wir hier sprechen, wird in Westminster debattiert. Sollte das Vereinigte Königreich ausscheiden, darf es am gekennzeichneten Kapital der Bank keinen Anteil mehr haben. Der britische Anteil von 39,2 Milliarden Euro muss dann von den verbleibenden Mitgliedstaaten der EU aufgefangen werden. Der deutsche Anteil an der Kapitalersetzung wird rund 7,5 Milliarden Euro betragen. Der einzuzahlende Teil von 830 Millionen Euro wird von der Europäischen Investitionsbank selbst übernommen. Die Erhöhung des deutschen Anteils am abrufbaren Kapital von 6,7 Milliarden Euro ist als Bundesgarantie im Haushaltsgesetz 2019 hinterlegt. Kolleginnen und Kollegen, leider ist der Brexit noch immer auf unserer Agenda. Die britische Instabilität macht sich auch in der EU bemerkbar. Bisher ging es immer um Austritt und die Nordirland-Frage. Jetzt stellt man aber schon Fragen bezüglich der Legitimität des Europäischen Parlaments im Falle einer Fristverlängerung. Bleibt das Vereinigte Königreich bis nach den Wahlen des Europäischen Parlaments Mitglied der Europäischen Union, dann müssten dort auch Wahlen zum Europäischen Parlament stattfinden. Was ist, wenn das nicht passiert? Was ist, wenn EU-Bürger, die im Vereinigten Königreich leben, nicht an den Europawahlen teilnehmen können? Ich kenne Juristen, die sagen, das sei alles gar kein Problem. An der Legalität der Entscheidung des Europäischen Parlaments ändere das überhaupt nichts; das sei alles legal. Aber ich frage hier: Reicht uns das? Wollen wir wirklich den Populisten in die Hände spielen? Ich will das nicht. Wir sollten deshalb vorsichtig sein. ({0}) Ich weiß nicht, wie man sich in London endgültig entscheiden wird; niemand weiß das. Die Abstimmungen dieser Woche im House of Commons bestärken mich in meiner Annahme, dass es keine Einigung in Westminster geben wird. Wir können uns hier gegenseitig unsere Wunschszenarien vortragen. Doch das bringt nichts; denn wir entscheiden nicht. Wir, die EU, müssen uns jetzt darauf konzentrieren, was wir machen können, was in unseren Verantwortungsbereich fällt. Ich plädiere deshalb mit Nachdruck dafür, dass wir, genauer gesagt: der Rat, mit einer Verlängerung der Artikel-50-Frist äußerst zurückhaltend umgehen. ({1}) Die Wahlen zum Europäischen Parlament in diesem Jahr werden voraussichtlich die wichtigsten Europawahlen, die wir je hatten. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, die Legitimität dieser Wahlen nicht zu beschädigen. Die Krise des britischen Parlaments darf nicht zur Krise europäischer Institutionen werden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Stefan Keuter. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die EU-Kommission, die Bundesregierung und die Europäische Investitionsbank wollen diese Satzungsänderung. Die letzten fünf Monate ist in der Sache nicht sehr viel passiert, und jetzt sollen wir hier in nur 27 Minuten Gesamtdebattenzeit in zweiter und dritter Lesung dieses Gesetz durchpeitschen. Was liegt dem zugrunde? Das Vereinigte Königreich wird aus der Europäischen Union ausscheiden, ob der eine oder andere es will oder nicht. Dadurch fällt das Eigenkapital der Europäischen Investitionsbank um circa 40 Milliarden Euro auf 203 Milliarden Euro. Dies führt auch zu Veränderungen in der Zusammensetzung des Verwaltungsrates. Was würde ein Wirtschaftsunternehmen der freien Wirtschaft hier tun? Es würde sich konsolidieren, es würde schrumpfen, und es würde das Geschäft auf einer verminderten Kapitalbasis machen. Nicht so in der Europäischen Union. Hier geht es darum, möglichst schnell das Eigenkapital wieder aufzustocken und die Verwaltungsratsposten zu besetzen. Wir haben gerade eben gehört – Herr Hakverdi sagte es –, das sei in das Haushaltsgesetz eingestellt. Nein, das ist nicht so. Wir reden mal Klartext: Wir reden über 7,5 Milliarden Euro größtenteils an Bürgschaften, die uns Deutsche, die deutschen Steuerzahler, dieses Abenteuer kosten wird. Das Nächste ist: Wir reden über die Schaffung von zusätzlichen stellvertretenden Verwaltungsratsposten: Es geht um eine Aufstockung von derzeit 18 auf dann 31. Wissen Sie, was? Wenn ich das höre, werde ich richtig ärgerlich. Wir brauchen keine Schaffung von neuen Versorgungsposten für hohe EU-Beamte. ({0}) Wir brauchen auch keine neuen Haftungsrisiken für den deutschen Steuervollzahler. Die Bundesregierung gibt ja immer ihr Credo aus, wir hätten nichts zu befürchten, unsere Gelder seien sicher. Ich möchte an dieser Stelle im Zusammenhang mit dem Thema Bürgschaften nur an das Griechenland-Debakel erinnern, an die Target‑II-Salden, die inzwischen die 1‑Billion-Euro-Grenze erreicht haben, und an unsere Bürgschaften, die wir diversen EU-Sicherungsmechanismen erteilt haben. Ich warne an dieser Stelle ganz ausdrücklich: Die Zinsen haben bereits den Nullpunkt erreicht. In einer angeblich guten wirtschaftlichen Situation sollte man das Instrument der möglichen Zinssenkungen schaffen, um künftig in konjunkturelle Entwicklungen einzugreifen. Aber unsere Konjunktur strauchelt bereits jetzt. Wir steuern Richtung Rezession, und die nächste Bankenkrise ist keine Frage des Ob, sondern des Wann, also wie schnell sie kommt. ({1}) Wir brauchen keine Aufblähung von EU-Institutionen. Wir brauchen ein Europa der Vaterländer. Wir brauchen eine Bundesregierung und ein Parlament, das die Interessen des deutschen Volkes vertritt – so wie die AfD-Bundestagsfraktion. ({2}) Wenn dem so wäre, müssten Sie dieses Gesetz ablehnen – so wie wir das tun. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der CDU/CSU hat das Wort der Kollege Dr. Hermann-Josef Tebroke. ({0})

Dr. Hermann Josef Tebroke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004912, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir aus deutscher Sicht die Voraussetzungen schaffen, damit der Vertreter bei der EU für die Satzung stimmen kann, die uns jetzt als Vorschlag von der Europäischen Investitionsbank vorgelegt worden ist. Dabei geht es zum einen darum, Rücksicht auf den leider zu erwartenden Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und damit auch aus der EIB zu nehmen. Es geht zum Zweiten darum, Verbesserungen in der internen Organisation vorzunehmen. Wir sprechen heute von Governance-Strukturen. Dieses Thema ist keineswegs neu, Herr Kollege Keuter, sondern wir haben uns schon länger damit befasst. Wir haben uns zum Beispiel im Dezember letzten Jahres in der Vorberatung im Finanzausschuss mit diesem Thema befasst. Wir haben auch in dieser Woche diese Angelegenheit auf der Tagesordnung des Finanzausschusses gehabt. Aber ich kann mich jetzt nicht daran erinnern, dass es aus den Reihen der AfD dazu auch nur einen einzigen Beitrag gegeben hätte. ({0}) Ich möchte im Übrigen an dieser Stelle ganz deutlich machen – auch Herr Kollege Hakverdi hat es schon angesprochen –, dass die EIB seit rund 60 Jahren sehr erfolgreich unterwegs ist. Sie hat knapp 3 000 Mitarbeiter; ihre Bilanzsumme beträgt knapp 500 Milliarden Euro. Die Anteilseigner der EIB haben ein Eigenkapital von etwa 240 Milliarden Euro gezeichnet. 70 Milliarden Euro davon sind eingezahlt oder thesauriert. Die EIB verzeichnet Ergebnisse in Höhe von 2,5 bis 3 Milliarden Euro per annum. Die EIB legt sehr sorgfältig darüber Rechenschaft ab, in welchen Bereichen die Mittel investiert werden, sodass sich auch Bürgerinnen und Bürger – Politiker und Parteien sowieso – einen guten Eindruck davon verschaffen können, wie das Engagement der EIB aussieht. Dieses Engagement der EIB, zum Beispiel in den Bereichen Umwelt und Klima oder Innovation und Forschung, gerade für kleine und mittelständische Unternehmen, gereicht sehr wohl zum Vorteil der europäischen Integration, aber auch jedes einzelnen Landes, im Übrigen auch des Vereinigten Königreichs, das mit dem Ausscheiden aus der EU einige Nachteile in Kauf nehmen wird. Das Geschäft mit Großbritannien hat schon nachgelassen, und Großbritannien erwägt die Gründung einer eigenen Infrastrukturbank, was einige Nachteile mit sich bringt, weil eben Synergien nicht genutzt werden können. Auch die Bundesrepublik Deutschland hat von der EIB profitiert. In den vergangenen 60 Jahren sind dort über 1 000 Förderprojekte gelaufen. Die EIB finanziert direkt, oder sie finanziert mithilfe des Europäischen Investitionsfonds oder auch gestützt über den Europäischen Fonds für Strategische Investitionen und ermöglicht damit gerade im innovativen Bereich Mittelbereitstellungen, auch in der Bundesrepublik Deutschland. Nehmen wir das Jahr 2017, aus dem jetzt gerade Zahlen vorliegen. Es geht um Mittel in Höhe von 6 Milliarden Euro. Wir gehen davon aus, dass damit tatsächlich Investitionen vervielfacht um einen Faktor von vier bis fünf bewegt werden. Über den Europäischen Fonds für Strategische Investitionen kommt eine weitere Milliarde Euro hinzu, vervielfacht um den Faktor 2,3. Auch und gerade im innovativen und risikoreichen Bereich sind allein für 2017  2 Milliarden Euro zu verzeichnen; somit werden etwa 7 Milliarden Euro bewegt. Es gibt prominente Beispiele in der Pharma- und Biotechindustrie, die wir immer auch wieder in diesen Reihen gefördert sehen wollen. Ich verweise auf den Ausbau erneuerbarer Energien, zum Beispiel auf die Finanzierung der Renaturierung der Emscher; viele von Ihnen kennen den Fluss. Alleine dafür stehen 450 Millionen Euro bereit, und das ist gut bereitgestelltes Geld. ({1}) Wir stellen fest: Die EIB ist erfolgreich. Sie ist stark im Verbund. Sie ist auch deswegen erfolgreich, weil sie sich bei einem Rating von Triple A und einer ausgesprochen günstigen, satten Kapitalausstattung gut refinanziert. Wir stellen aber auch fest – das soll an dieser Stelle sehr deutlich gesagt werden; es wurde im Übrigen auch im Finanzausschuss wiederholt so vorgetragen –, dass bei der Governance durchaus noch Luft nach oben ist. Das ist der Grund, weswegen wir seitens der Union diese Satzungsänderung befürworten: Sie sieht in diesem Bereich einige Verbesserungen vor; Herr Kollege Hakverdi hat sie aufgezeigt. Nicht nur in der Satzung selbst sollen diese Änderungen aufgezeigt werden; wenn Sie sich die Erwägungsgründe durchlesen, sehen Sie, dass die Richtung da sehr deutlich angezeigt wird. Ich möchte daran erinnern, dass wir wiederholt und erst kürzlich auch unser Vertreter im Rat der Gouverneure der EIB mit großem Nachdruck darauf hingewiesen hat, wie dringend notwendig es ist, dass hier Verbesserungsmaßnahmen einzuleiten sind. Dann komme ich zum letzten Punkt, nämlich zur Sicherung der Kapitalausstattung. Wenn das Vereinigte Königreich nicht mehr an der EIB beteiligt sein kann, dann hängen 40 Milliarden Euro in der Luft. Ich glaube, es ist gut – das ist die Position der Union –, wenn wir diese Kapitalposition füllen, allein um deutlich zu machen, dass wir weiterhin – das ist ein Signal an den Markt – zur EIB stehen, dass wir möchten, dass sie weiterhin dieses erfolgreiche Fördergeschäft betreibt. Wir sehen auch nicht, wie der Vorredner gesagt hat, dass hier Versorgungsposten eingerichtet werden oder dass eine Konsolidierung angesagt ist. Nein, wir setzen weiterhin auf die EIB. Wir würden seitens der Bundesregierung einer solchen Kapitalersetzung zustimmen – das war auch das Votum aus dem Finanzausschuss –, wenn sich eben auch die Governance-Strukturen verbessern. Dazu gibt es eine Beschlussfassung aus dem Finanzausschuss, regelmäßig aus dem Direktorium Berichte zu bekommen, wie diese Verbesserung aussieht. Das ist im Sinne der EIB; das ist im Sinne der Europäischen Union. Die EIB ist wertvoll. Die Kapitalausstattung ist wichtig. Die Gover­nance-Strukturen sind noch wichtiger. Das Gesetz ist ein guter Beitrag auf diesem Weg. Deswegen empfehlen wir die Zustimmung zu diesem Gesetz. Wir als Union stehen voll dahinter. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat der Kollege Frank Schäffler, FDP-Fraktion. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieses Gesetz ist ein guter Hebel für Deutschland. Es ist deshalb ein guter Hebel für Deutschland, weil das Triple A, das die EIB am Kapitalmarkt hat, letztendlich fast ausschließlich der deutschen Bonität geschuldet ist. Deshalb haben wir an dieser Stelle einen ganz wesentlichen Hebel, um die Governance innerhalb der EIB-Struktur zu verbessern. Ich halte es für zwingend notwendig, dass die EIB am Ende nicht nur stärker vom Verwaltungsrat kontrolliert wird, sondern dass sie bei ihren Investitionen, die sie in Europa tätigt, auch stärker auf Ineffizienzen achtet und zu vermeiden versucht. Der Europäische Rechnungshof hat in einem Gutachten neulich dargelegt, dass ein Drittel der Investitionsmittel, die auf europäischer Ebene in Häfen, Straßen und andere Dinge investiert werden, ineffizient eingesetzt werden. Ein Großteil dieser Maßnahmen wird von der EIB kofinanziert. Ich glaube, wir können in Europa nur Akzeptanz gewinnen, wenn es uns gelingt, dass diese Mittel effizient eingesetzt werden, dass sie so eingesetzt werden, dass der Euro auch tatsächlich Wirkung zeigt und eben nicht verschwendet wird. Das ist, glaube ich, ganz entscheidend in diesem Verfahren und auch im Zuge der Europawahl, die ja jetzt ansteht. ({0}) Das heißt, wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie ihren Einfluss in der EIB geltend macht, dass diese Governance-Strukturen jetzt Zug um Zug eingeführt werden, dass die Erhöhung des gezeichneten Kapitals, die Deutschland übernimmt, auch Wirkung zeigt, dass der Governance auf Ebene der EIB am Ende auch tatsächlich Rechnung getragen wird. Das ist auch eine zwingende Voraussetzung für unsere Zustimmung. Wir unterstützen dieses Gesetz und hoffen, dass die Bundesregierung an dieser Stelle endlich Farbe bekennt und liefert. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Die Linke hat das Wort der Kollege Jörg Cezanne. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Europäische Investitionsbank finanziert seit über 60 Jahren verschiedenste Projekte in verschiedenen Bereichen der Europäischen Union, aber auch zum Teil in Ländern des globalen Südens. Es geht um Innovation und Wissen. Es geht um Umwelt und Klimaschutz. Es geht um die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen und der europäischen Infrastruktur. Über den Europäischen Investitionsfonds unterstützt die Bank auch Risikofinanzierungen für innovative und aufstrebende Unternehmen. Das ist zunächst einmal gut. ({0}) Damit leistet sie einen Beitrag, die anhaltende Investitions- und Innovationsschwäche in der Europäischen Union wenigstens ein bisschen zu mildern. Aus unserer Sicht ist da noch viel mehr nötig. Der Europäische Fonds für Strategische Investitionen ist da bei weitem nicht ausreichend. Wir brauchen ein groß angelegtes Zukunfts- und Investitionsprogramm in der Europäischen Union. ({1}) Kritisch sehen wir die fortgesetzte Finanzierung von Projekten der öffentlich-privaten Partnerschaft. Diese halten wir grundsätzlich für fraglich, da sie Eigentumsfragen aufwerfen, die wir für sehr problematisch halten. Die Rechnungshöfe verschiedener Länder haben auf die teuren ÖPP-Projekte hingewiesen. Diese sind häufig teurer, als wenn man es in staatlicher Aufsicht selbst machen würde. Das wäre ein Kritikpunkt. Nichtregierungsorganisationen aus verschiedenen europäischen Ländern haben im vergangenen Jahr zum 60. Geburtstag der Investitionsbank andere Forderungen zur Governance-Struktur aufgelistet: keine Finanzierung fossiler Energieträger, öffentliche Beteiligung stärken, mehr Transparenz, besonders bei Geschäften, die über Geschäftsbanken und Investmentfonds abgewickelt werden. Das halten wir auch für richtig. Da wäre eigentliche eine weitergehende Satzungsänderung sinnvoll gewesen. ({2}) Wir reden heute über die Europäische Investitionsbank, weil die Bank durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU knapp 40 Milliarden Euro an Kapital verliert. Das soll durch die übrigen Mitgliedstaaten ausgeglichen werden. Die tatsächlich einzuzahlende Summe ist dabei sehr viel niedriger. Für Deutschland beträgt sie 830 Millionen Euro, die durch einbehaltene Gewinne der EIB gedeckt werden. ({3}) In diesem Sinne halten wir diesen Gesetzentwurf für eine vernünftige Vorgehensweise. Man kann noch mehr daraus machen. Daran werden wir Sie dann erinnern. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Dr. Danyal Bayaz spricht für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Danyal Bayaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Europäische Investitionsbank ist eine wichtige Förderbank und eine wichtige europäische Institution. Deswegen ist es auch gut, dass die Kapitalausstattung jetzt erst einmal stabil bleibt, auch wenn die Briten mit dem Brexit die Bank sozusagen verlassen. Es ist auch gut, dass wir an der Governance-Struktur arbeiten; denn ich glaube, wir brauchen mehr Mehrheitsentscheidungen statt Einstimmigkeitsprinzip – so sollte es ja auch in der Steuerpolitik sein. Ich finde: Ja, auch wir, auch europäische Institutionen müssen insgesamt noch besser und effektiver funktionieren. Schauen wir uns angesichts der Entwicklungen im britischen Unterhaus doch einmal die wirtschaftliche Lage dort an. Anfang dieser Woche gab es eine ziemlich interessante Studie: Alleine im Finanzbereich kostet der Brexit die City of London knapp 5 000 Arbeitsplätze. 270 Finanzunternehmen haben schon auf den Kontinent gewechselt oder wollen dies tun. Sie bringen 900 Milliarden Euro Kapital mit. Sie gehen nach Dublin, nach Amsterdam, nach Paris oder nach Frankfurt. Ich finde, wir sollten daraus verstärkt die Lehre ziehen: Der Schlüssel für eine erfolgreiche Wirtschafts- und Finanzpolitik liegt auf der Ebene der Europäischen Union. Deswegen – das muss ich sagen – ist die Antwort der Vorsitzenden der CDU auf die Vorschläge von Herrn Macron an dieser Stelle schlicht zu wenig, meine Damen und Herren. ({0}) Ich bezweifle auch, ob die Bundesregierung insgesamt die richtigen Prioritäten setzt. Der Finanzminister redet viel über nationale Bankenchampions. Der Wirtschaftsminister legt eine „Nationale Industriestrategie“ vor. Ich finde, wer eine klare Ansage an den chinesischen Staatskapitalismus und an die US-amerikanische digitale Superpower machen möchte, muss auf Innovationen made in Europe, auf die Europäische Union setzen. Warum ist zum Beispiel kein europäischer Venture-Capital-Fonds bei der EIB angesiedelt, also staatliches Geld, um privates Risikokapital zu ergänzen? Dann schaffen wir es auch einmal, die großen Finanzierungsrunden für Wachstums­phasen in Start-ups mit 5, 10 oder 15 Milliarden Euro zu finanzieren. Das können wir gerade nicht stemmen, zumindest nicht mit europäischem Kapital. Meistens muss ausländisches Kapital einspringen. Das wäre einmal eine intelligente Industriepolitik: innovativ und europäisch, statt national und Old Economy. ({1}) Noch einmal zur Investitionsbank und zum Thema Nachhaltigkeit. Die Bank gibt ja mittlerweile auch Nachhaltigkeitsanleihen aus. Das ist gut. Aber sie finanziert auch immer noch in fossile Energieträger; es geht um 14 Milliarden Euro Investitionen in den letzten Jahren. Das Europäische Parlament hat letztes Jahr ein Auslaufen dieser Investitionen gefordert. Mein Appell an die Bundesregierung an dieser Stelle ist: Treten Sie in den Gremien der EIB auch konsequent für Divestment ein. Staatliche Investitionspolitik, gerade auch europäische, hat immer Vorbildfunktion. Manche im Haus würden sagen: Das ist eine Aufgabe für Profis. – Warum sage ich das? Morgen ist wieder Freitag, das heißt, es wird viele Fridays-for-Future-Demos geben. ({2}) Also, seien Sie auch einmal Profi, und werden Sie dieser Vorbildfunktion gerecht, meine Damen und Herren. Danke schön. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Jens Zimmermann. ({0})

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden in dieser Debatte über die Satzungsänderung der EIB. Es ist am Ende der Debatte wichtig, klarzumachen, warum wir das tun müssen. Wir müssen es in erster Linie natürlich tun, um die Strukturen zu verbessern; das ist ein Unterfangen, das, glaube ich, hier im Hohen Hause eine große Mehrheit findet. Aber der Hintergrund besteht im Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union. Die Meldungen aus London sind gerade wieder spannend. Die Kolleginnen und Kollegen haben den dritten Tag in Folge einen Abstimmungsmarathon. Eben gerade haben sie beschlossen, dass sie den 29. März 2019 doch nicht als Brexit-Datum wollen. Stattdessen möchten sie eine Verlängerung. Das ist eine interessante Wendung dieser Geschichte. Aber es zeigt einmal mehr, was passiert, wenn die Populisten die Überhand gewinnen, wenn das Ganze am Ende den gesunden Menschenverstand verliert. Auch aus einer so sinnvollen Institution wie der Europäischen Investitionsbank, die es seit 60 Jahren gibt, fliegt Großbritannien bei einem Brexit einfach raus. Wir sollten uns alle klarmachen, was es heißt, wenn am Ende aus einer verrückten Idee wie dem Brexit reale Politik wird, meine Damen und Herren. ({0}) Ich kann für die SPD sagen: Wir stehen hinter der Institution der Europäischen Investitionsbank. Wir sind der Meinung: Wir brauchen mehr europäische Investitionen, um das gemeinsame Zusammenleben in Europa zu verbessern, und nicht weniger, wie es eben hier von dieser Stelle wieder gefordert wurde. Wir sehen im Moment fast jeden Tag: Großbritannien leidet unter dem Himmelfahrtskommando Brexit. Deswegen ist es ganz wichtig, auch an dieser Stelle immer wieder zu sagen: Wir stehen bei Europa. Wir glauben, es ist die Zukunft auch für Deutschland. Der Austritt aus der Europäischen Union ist ein Irrweg. Es ist gut, dass es nur eine Fraktion gibt, die diesen offenbar ebenfalls gehen will. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Alexander Radwan. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema wurde schon mehrfach genannt: die Satzungsänderung der EIB aufgrund des Ausscheidens des Vereinigten Königreichs. Daraus folgend geht es um die Anpassung der Handlungsfähigkeit, der Kapitalausstattung, die notwendig ist, um die Arbeitsfähigkeit der EIB als eines wertvollen Faktors der ökonomischen Entwicklung in Europa aufrechterhalten zu können. Die Governance muss angepasst und weiterentwickelt werden, um entsprechende Kontrollen herbeizuführen. Dies ist notwendig, weil die EIB zukünftig mehr Aufgaben übernehmen wird. Ich erinnere nur an den Investitionsfonds, den sogenannten Juncker-Plan, in dem die EIB entsprechende zusätzliche Aufgaben übernommen hat. Es ist außerdem notwendig, dass wir sehr stark darauf achten, ob es wirklich einen Mehrwert gibt, ob zusätzliche Investitionen durch die EIB ausgelöst werden oder ob nur Investitionen substituiert werden, die eh geflossen wären. Auch von deutscher Seite müssen wir einen kritischen Blick darauf werfen, ob die EIB dieser Aufgabe nachkommt. Man kann auch kreativ an dieses Thema gehen. Der EU-Finanzrahmen wird durch das Ausscheiden Großbritanniens an sich gleich bleiben, aber der Anteil wird fehlen, sodass die EIB zukünftig auch einen Beitrag zu europäischen Finanzierungen leisten kann, um die Gesamtbelastung des europäischen Haushalts zu minimieren. Ich denke, man kann hier kreative, neue Gedanken hineinbringen, um die EIB voranzubringen. Dass die EIB eine entsprechende Aufgabe und eine gute Geschichte hat, ist belegt. Sie hat massiv dazu beigetragen, die europäische Wirtschaft und damit auch die deutsche Wirtschaft zu stabilisieren, meine Damen und Herren. Es ist letztendlich ein Treppenwitz, wenn ausgerechnet die AfD regelmäßig der Meinung ist, sie müsse hier für die deutsche Wirtschaft argumentieren. ({0}) Meine Damen und Herren, wir erleben gerade beim Brexit, wie sich das ökonomisch auswirkt. Eine Partei, die letztendlich dieses Chaos auf Kontinentaleuropa ausweiten möchte, die den Dexit möchte, die der Meinung ist, sie müsse für die europäische und für die deutsche Wirtschaft argumentieren – so wie der Herr Keuter, der gemeint hat: ich vertrete die Interessen Deutschlands –, ist letztendlich eine Partei, die sagt: Wir zerstören den europäischen Binnenmarkt. ({1}) Sie sind der Meinung, das europäische Projekt an sich soll so nicht weitergehen. Darum wollen wir hier schlicht und ergreifend klarmachen: Sie vertreten nicht die Interessen der europäischen Wirtschaft. Sie vertreten nicht die Interessen der deutschen Wirtschaft. ({2}) Sie schaden ihr.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kleinwächter?

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Bitte, Herr Kollege.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Kollege Radwan, darf ich Sie darüber in Kenntnis setzen, dass die AfD mitnichten eine Partei des Dexits ist, sondern dass wir eine fundamentale Reform der Europäischen Union hin zu einer besseren Zusammenarbeit der Nationalstaaten fordern, ({0}) eine Zusammenarbeit der souveränen Nationen, die eben nicht darauf beruht, dass von oben diktiert wird, sondern dass von unten geschaffen wird und die Bedürfnisse der Bürger respektiert werden? ({1}) Bevor Sie also die AfD wegen ihrer angeblichen Haltung zu einem Dexit und des angeblichen Verbreitens von Chaos in der Europäischen Union angreifen, darf ich Sie daran erinnern, dass wir genau das Gegenteil von Chaos wollen, nämlich eine geplante und strukturierte fundamentale Reform der Europäischen Union. Sind Sie nicht der Ansicht, dass eine solche Reform tatsächlich vonnöten wäre? ({2})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich frage mich ab und zu, ob man sich bestimmte Sachen oder Fake News so lange vorbeten muss, bis man selber daran glaubt. Ich glaube, Sie sind in diesem Stadium angekommen und von der Realität komplett abgetaucht. ({0}) Hören Sie sich Ihre Äußerungen selber an. Der Kollege, der hinten sitzt, hat bei uns im Finanzausschuss auf meine Frage: „Wollen Sie aus der Europäischen Union ausscheiden?“, selber gesagt – er hat sich sogar explizit noch einmal gemeldet –: Ja, wir wollen aus der Europäischen Union ausscheiden. ({1}) Schauen Sie sich doch selber mal an, welchen Geist Sie in Ihren Reihen haben, und kämpfen Sie dafür, dass die Europäische Union funktioniert und keinen Schaden nimmt – Schaden für Deutschland, Schaden für die deutsche Wirtschaft, Schaden für die Arbeitnehmer. ({2}) Sie sind ein Schaden für Deutschland und keine Alternative. Besten Dank, meine Damen und Herren. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Erteilung der Zustimmung nach § 7 Absatz 2 in Verbindung mit Absatz 1 des Integrationsverantwortungsgesetzes zu dem Vorschlag einer Satzungsänderung der Europäischen Investitionsbank vom 15. Oktober 2018. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8319, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/7838 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind CDU/CSU, SPD, Grüne, Linke und FDP. Wer ist dagegen? – Die AfD. Enthaltungen? – Keine. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind wieder alle Fraktionen mit Ausnahme der AfD. Wer stimmt dagegen? – Das ist die Fraktion der AfD. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren! Beste Fernsehzeit: 20 Uhr, die Zeit für die „Tagesschau“. Wir machen das heute mal von hier vorne. Sie von den Altfraktionen werden gleich wahrscheinlich wieder in Ihre Mottenkisten greifen und unserem Gesetzentwurf allerhand entgegenhalten: zu kurz, zu weit gesprungen, nicht zu Ende gedacht, rassistisch, frauenfeindlich, sexistisch – weiß der Henker, was da noch alles kommt. ({0}) Alles geschenkt. Aber, meine Damen und Herren, zu Recht hat dieser Gesetzentwurf von uns einen Vorwurf verdient: Der Vorschlag, die Amtszeit des Bundeskanzlers auf acht Jahre zu begrenzen, kommt zu spät – zu spät für Deutschland und zu spät für unsere Demokratie. ({1}) Meine Damen und Herren, acht Jahre sind grundsätzlich für jeden Bundeskanzler in Deutschland genug. Im konkreten Fall der noch kurze Zeit amtierenden Bundeskanzlerin Merkel wäre Deutschland sehr gedient gewesen, wenn sich diese Amtszeit auf, sagen wir mal, vier Jahre beschränkt hätte. Was hätte unserem Land, unseren Bürgern alles erspart werden können? Wahnwitzige Energiewenden hin und her, wahnwitzige Euro- und EU-Politik, wahnwitzige Verteidigungs- und Außenpolitik wären uns erspart geblieben. Aber auch wenn Merkels Amtszeit erst 2013 ausgelaufen wäre, stünde unser Land deutlich besser da als nach knapp 14 Jahren mit immer derselben Frau im Kanzleramt. ({2}) Es hätte wohl keine illegale wahnwitzige Grenzöffnung gegeben. Millionen Menschen aus fremden Kulturen wären nicht in unser Land und unsere Sozialsysteme geflutet. ({3}) Viele Menschen – Mädchen, Frauen, Jungen, Männer – würden noch leben. Sie wären nicht Opfer der Messerzuwanderung, ({4}) sie wären keine Opfer von Mord und Terror geworden. ({5}) Die rund 40 Milliarden Euro jährlich, die für den Multikultiwahn verpulvert werden, würden für deutsche Belange eingesetzt werden. Es würde keine katastrophale Sicherheitslage in unserem Land geben. ({6}) Bahnhöfe, Volksfeste, Weihnachtsmärkte kämen nach wie vor ohne Mauern, ohne Poller, ohne Merkel-Klötze und ohne bewaffnetes Sicherheitspersonal aus. Das wäre Deutschland ohne Merkel, meine Damen und Herren. ({7}) Wenn Merkels Treiben 2013 geendet hätte, wären viele deutsche Steuermilliarden nicht in Fässer ohne Boden wie Griechenland geflossen, ({8}) und es hätte auch keinen Verfassungsbruch wie die Ehe für alle gegeben. ({9}) Meine Damen und Herren, die Liste dessen, was in Deutschland und in der Welt besser wäre ohne Merkel, lässt sich nahezu endlos fortsetzen. ({10}) Ein Gutes allerdings – und ich denke, da werden Sie mir zustimmen – hat die unendliche Geschichte Merkel allerdings: Hätte diese Frau bereits 2012 abgedankt, gäbe es die AfD nicht. ({11}) Da klatscht keiner. Komisch. Das haben die nicht verstanden. Aber egal. ({12}) Genug zur Vergangenheit, meine Damen und Herren, ein Blick nach vorne: Wir debattieren ein Thema, das von erheblicher staatspolitischer und demokratischer Bedeutung ist. Mit diesem Antrag wollen und werden wir – hören Sie von den Spezialdemokraten gut zu – mehr Demokratie wagen, so wie Ihr Willy Brandt es vor ziemlich genau 50 Jahren ankündigte. ({13}) Unser Antrag steht in der Tradition von Willy Brandt: Demokratie ist die Herrschaft auf Zeit, und zwar begrenzte Zeit. Und damit sind nicht zehn Jahre und mehr gemeint, sondern deutlich weniger. Als Regierungschef ist der deutsche Bundeskanzler die mächtigste politische Person in Deutschland. Er bestimmt nicht nur die Tagespolitik, sondern er hat auch ein parteipolitisches Netzwerk, da er meistens auch Parteivorsitzender ist, und damit lässt sich die Gewaltenteilung natürlich wunderbar umgehen und überwinden. Es wurde leider versäumt, dieser Machtfülle des Bundeskanzlers eine Befristung beizufügen. Artikel 67 Absatz 2, der eine faktische Kündigungsfrist von zwei Tagen vorsieht, ist untauglich. In der Realität hatten wir in den letzten 70 Jahren acht Bundeskanzler, davon drei mit weit über zwölf Jahren Amtszeit. Solche Amtszeitenlängen kennen wir – woher? – nur von irgendwelchen afrikanischen Potentaten, die normalerweise selbst sehr wenig demokratisch legitimiert sind. ({14}) Die Folgen zu langer Amtszeiten sind deutlich. Es bilden sich Netzwerke, es entwickeln sich Abhängigkeiten. Mit zunehmender Amtsdauer eines Bundeskanzlers kommen nicht die fähigsten Leute in die Ämter, ({15}) sondern die willfährigsten und die devotesten. Schauen Sie sich das Kabinett an. – Es ist ja gar kein Minister da. Okay. ({16}) Das alles haben natürlich auch einige andere vor uns, mit uns und nach uns erkannt. Die CSU fordert eine Begrenzung der Amtszeit eines Bundeskanzlers, ebenso wie die Junge Union sie fordert und der Chef der FDP sie im Sommer gefordert hat. Auch angesehene Staatsrechtler wie Herr Papier sagen, acht Jahre müssten reichen. Und auch Helmut Schmidt soll bereits 1981 – 1981 war Relotius noch nicht geboren – dem „Spiegel“ gesagt haben, sieben oder acht Jahre seien genug. ({17}) Genug nun auch – es blinkt hier vorne – dieser tollen Rede, meine Damen und Herren. Im Sinne dieser Rede lassen Sie uns also heute von hier aus mehr Demokratie wagen und mit der Begrenzung der Amtszeit eines Bundeskanzlers einen Schritt gehen, der längst überfällig ist. Stimmen Sie bitte im Namen unserer Demokratie und unserer Bürger unserem Antrag zu. Schließlich sehen Sie an dieser Debatte selbst, dass es ohne Frau Merkel wunderbar funktioniert. Diese Dame ist nämlich genauso wenig anwesend wie ihr gesamtes Kabinett. Ich wünsche noch einen schönen Abend. Wiedersehen! ({18})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Philipp Amthor. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe eigentlich gedacht, dass mit dem Aschermittwoch die Karnevalszeit vorbei ist, aber die AfD entscheidet sich mal wieder für politischen Ganzjahreskarneval. ({0}) Als ich den Gesetzentwurf gelesen habe, ({1}) habe ich gedacht: Na ja, wenn die AfD jetzt eine Forderung der Jungen Union und der CSU übernimmt, ist das schon mal eine Garantie dafür, dass sie nicht ganz abwegig ist. – Aber nachdem ich Ihren Auftritt gesehen habe, musste ich schon sagen: Für einen schlechten AfD-Aschermittwoch ist er einen Versuch wert, für den Bundestag ist er echt schwach. ({2}) Lieber Herr Brandner, ich war mir mit Kollegin Haßelmann von den Grünen gerade einig, dass wir fast positive Erwartungen hatten, dass wir wirklich ein bisschen mehr Niveau erwartet hatten. Denn ganz so niveaulos, wie es Ihr Auftritt heute war, ist Ihr Gesetzentwurf eigentlich nicht. Von der Sache her ist es durchaus legitim, über eine Amtszeitbegrenzung zu diskutieren. Es gibt Argumente dafür, es gibt Argumente dagegen. Diese kann man staatsrechtlich abwägen, und Sie sehen anhand der Beschlüsse, die wir innerhalb der Jungen Union treffen, dass es auch einige gute Argumente für eine Amtszeitbegrenzung gibt, etwa eine spürbarere Dynamik, vernünftige, planbare Übergänge und auch weniger Turbulenzen bei der Amtszeitbeendigung. Das sind allerdings politikpraktische Argumente, und dass es Ihnen nicht um diese, sondern um tagespolitische Kleingeistigkeit geht, hat Ihr Gesetzentwurf wieder einmal gezeigt. Sie reden von einem Versäumnis der Mütter und Väter des Grundgesetzes. In Wahrheit geht es Ihnen aber gar nicht um das Grundgesetz, sondern Sie haben erneut den Versuch gestartet, um gegen Angela Merkel zu hetzen, und das ist intellektuell echt schwach. ({3}) Worum es Ihnen wirklich geht, zeigt die Polemik, mit der Sie hier agiert haben. Wenn die Welt wirklich so einfach wäre, wenn diese tollen Kausalitäten, die Ihrer Ansicht nach belegen sollen, woran Angela Merkel alles schuld sei, zutreffen würden, dann kann ich nur sagen: Mit einer solchen Kleingeistigkeit lässt sich keine vernünftige Politik machen. Die CDU stellt sich jetzt schon auf für die Zukunft. Überlegen Sie sich langsam etwas Neues, und lassen Sie diese stillose Hetze gegen unsere Bundeskanzlerin. ({4}) Ich möchte Ihnen Folgendes sagen, um doch noch sachlich auf Ihren Gesetzentwurf einzugehen: Die Argumente, die Sie für die Amtszeitbegrenzung vorgebracht haben – es gibt legitime und gute Argumente dafür; die hätten sie bei der CSU nachlesen können –, sind ziemlich schwach. Sie sagen, die parlamentarische Kontrolle würde darunter leiden, wenn ein Bundeskanzler mehr als zweimal wiedergewählt würde. Da kann ich nur sagen: Worunter leidet parlamentarische Kontrolle? Unter schlechter Sacharbeit. Trauen Sie sich als Opposition etwas zu. Trauen Sie sich als Parlamentarier etwas zu. An Ihnen liegt es, die Regierung zu kontrollieren. Angela Merkel kann aus Ihrer Sicht ja an vielem schuld sein, aber dass Sie es hier nicht hinkriegen, eine vernünftige parlamentarische Kontrolle auszuüben, liegt nur an Ihnen. Das ist ganz allein Ihre Aufgabe. ({5}) – Ja, die nehmen wir auch wahr, Herr Kleinwächter. Ich will Ihnen aber auch sagen: Das Argument „Mehr Demokratie wagen“ überzeugt mich in keiner Weise. Es gibt politikpraktische Argumente, die für eine Amtszeitbegrenzung sprechen. Aber mehr Demokratie? Offensichtlich ist die Begrenzung der Amtszeit eines Bundeskanzlers erst einmal nicht mehr Demokratie, sondern eine Beschränkung der Auswahl des zukünftigen Bundeskanzlers, ({6}) und sie bedeutet eine Beschränkung für die zukünftigen Abgeordneten. Denn es ist schon eine steile These, zu sagen: Wir mit unserer demokratischen Legitimation wissen schon heute ganz genau, dass in 10 oder 20 Jahren die Abgeordneten jemanden, der zweimal Bundeskanzler war, nicht ein drittes Mal wählen können. – Also, dafür mag es irgendwie vernünftige Argumente geben, aber die demokratische Legitimation anzuführen, geht völlig fehl. Wir haben wirklich die Grundoffenheit gehabt, im Innenausschuss sachlich darüber zu diskutieren, aber dann machen Sie auch vernünftige Arbeit, und bringen Sie vernünftige Argumente vor; denn über diese kann man dann reden. Aber mit diesem klassischen argumentum ad personam auf Angela Merkel zu zielen, ist einfach zu wenig. ({7}) Die Frage der Amtszeitbegrenzung für den Bundeskanzler ist in der Tat ein Stück weit eine theoretische Diskussion für Sie. Worin sich die Kollegen hier einig sind – das ist das Gute –, ist, dass eine Amtszeitbegrenzung für den Bundeskanzler für die AfD niemals relevant wird. Wir werden dafür arbeiten, dass das nie ein Thema für Sie wird. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der FDP hat das Wort der Kollege Dr. Stefan Ruppert. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man sich Sorgen um die AfD machen wollte – ich gehöre nicht zu denen, die sich Sorgen um die AfD machen –, dann würde man sich wohl fragen: Über was wollen Sie eigentlich reden, wenn Sie sich nicht mehr an Angela Merkel abarbeiten können? ({0}) Die verfassungstheoretische Frage, ob es gut ist, im Präsidial- oder – wie in unserem Fall – im Kanzlersystem eine Amtszeitbegrenzung einzuführen, ausschließlich wegen einer Person zu erörtern, zeigt, offen gesagt, mit welch kleiner Münze Sie argumentieren. ({1}) Es fällt auf, dass es Zeiten in der Politikgeschichte der Bundesrepublik gab, in denen wir sehr intensiv darüber geredet haben, wie wir mehr Demokratie erreichen können. Es gab Menschen, die sich an der Idee des Plebiszits erfreuten und die repräsentative Demokratie darum ergänzen wollten. Es gab Leute, die gesagt haben: Wir müssen andere Formen der Teilhabe entwickeln. Im Moment sind wir in einer Phase, in der wir nur über Beschränkungen der Demokratie nachdenken. Wir debattieren Gesetzesvorschläge von Ihnen, die sich nur damit beschäftigen, wie wir die Gesellschaft oder die Abgeordneten in ihren Möglichkeiten einschränken können, demokratische Wahlen zu treffen. Ich finde, das allein ist schon bemerkenswert. Übrigens muss ich der linken Seite sagen: Auch das Parité-Gesetz gehört in diese Tradition; denn auch darin steht nicht, wie gewählt werden soll, sondern was dabei herauskommen muss. Warum machen wir diese Einschränkungen der Demokratie, der Wahlfreiheit und der allgemeinen Wahlrechtsgrundsätze eigentlich in Folge? Ich glaube, das lässt tief blicken. ({2}) Wenden wir uns nun den Argumenten für eine Wahlzeitbeschränkung – dafür gibt es Argumente – zu: Wenn wir an zu lange Kanzlerschaften denken, dann denken wir an die späten Jahre der Kanzlerschaft Konrad Adenauers und an die späten Jahre der Kanzlerschaft Helmut Kohls. Jetzt erleben wir die späten Jahre der Kanzlerschaft von Angela Merkel. Es ist doch im Stil nicht in Ordnung, dass ein französischer Präsident eine europäische Frage aufwirft und eine Vision für Europa entwickelt und er die Antwort darauf, auf die er seit vielen Monaten wartet, dann nicht von der deutschen Regierungschefin, sondern von einer Parteivorsitzenden bekommt. Welches Stilgefühl ist das eigentlich? Insofern gibt es schon einige Kritikpunkte an der späten Kanzlerschaft von Angela Merkel. ({3}) Wenn Sie sich Strukturen anschauen, dann stellen Sie fest, dass die Zahl der Parlamentarischen Staatssekretäre in ihrer Amtszeit gigantisch gestiegen ist. Um das Parlament zu disziplinieren, es zu entmachten, hat man starke Parlamentarier in den Bereich der Exekutive gezogen. Wir hatten ja vier Jahre Bildungsurlaub. Als ich aber 2017 wieder hierhergekommen bin, habe ich mich gewundert, wie stark sich regierungstragende Fraktionen in den letzten Jahren selbst entmachtet haben. Wenn jemand in der Flüchtlingskrise ein kritisches Argument geäußert hat, war seine parlamentarische Karriere ja nicht nur in der Exekutive, sondern in der Fraktion vorbei. Das lässt in der Tat tief blicken. ({4}) Insgesamt kämpfen wir also dafür, dass die Gesellschaft hoffentlich mehr Frauen ins Parlament bringt und dafür sorgt, dass politischer Wechsel alle paar Jahre stattfindet und wir nicht in die Agonie einer späten Kanzlerschaft fallen; denn die asymmetrische Demobilisierung, dieses Abwarten und Taktieren, ist doch in Wahrheit der Grund dafür, dass wir gesellschaftliche Debatten nicht mehr ernsthaft und auch nicht mehr im Widerspruch führen. Dieses Einschläfernde an der Politik der letzten Jahre ist im Kern das, was mich wütend macht, weil es die Ränder der Demokratie stärkt und die Mitte schwächt. Wir müssen uns über die Fragen unserer Gesellschaft auseinandersetzen, aber nicht über die Beschränkung der Wahlfreiheit diskutieren. Insofern bin ich gegen Ihren Gesetzentwurf. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Mahmut Özdemir. ({0})

Mahmut Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie, Herr Brandner, haben gegen Ausländer gepöbelt. Sie haben gegen Asylsuchende gepöbelt. Sie haben gegen die gleichgeschlechtliche Ehe gepöbelt. Wagen Sie es nicht, den Namen Willy Brandts oder den Namen Helmut Schmidts in Ihren Mund zu nehmen! ({0}) Dagegen verwahren wir uns. Die AfD will die Anzahl der Amtsperioden des Bundeskanzlers empfindlich beschränken. Das ist eine Idee, die grundsätzlich aus der Abteilung „kreatives Verfassungsrecht“ kommt. Über Parteigrenzen hinweg finden sich dazu irgendwie irgendwo Fürsprecher, aber auch Kritiker. Nach einem Reifeprozess findet hin und wieder eine solche Idee auch den Weg ins Gesetzblatt. Der Begrenzung der Anzahl der Amtsperioden des Bundeskanzlers wird dieses Schicksal wohl nicht vergönnt sein. Ich möchte zu Beginn eine Feststellung treffen, um die sich meine Rede auch ranken wird: Der Deutsche Bundestag ist der Souverän, stellvertretend für das Wahlvolk. In nahezu jeder Regel dieses Verfassungsgefüges wird der Deutsche Bundestag zuerst genannt. Erst dann, nach seinen Beschlüssen und Feststellungen, kommen ihm Nachgelagerte, Beauftragte oder Delegierte. Ich begrüße es außerordentlich, dass wir hier verfassungsrechtliche Debatten führen. Man kann das formell tun, beispielsweise anhand von Zulässigkeitsregeln. Man kann es aber auch materiell anhand von Rechten und Pflichten tun. Dieser Gesetzentwurf hingegen knüpft lediglich formell an die verflossene Dauer einer Kanzlerschaft an und nimmt aufgrund der Tatsache, dass eine Person bis zu acht Jahre oder zwei Wahlperioden das Amt des Bundeskanzlers bekleidet hat, eine unbändige Ansammlung von Macht an. Die AfD will damit das Vorurteil nähren, dass Kanzler an ihrem Stuhl kleben und unser Verfassungsgefüge nicht in der Lage ist, diesem zu begegnen. Das ist höchst unanständig, das ist falsch und auch mit dem Selbstverständnis von Parlamentariern und Parlamentsgremien einfach nicht in Einklang zu bringen. Die Funktion des Deutschen Bundestages ist es unter anderem, Gesetze zu beschließen, aber eben auch, den Kanzler oder die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland zu wählen und gleichermaßen gegebenenfalls durch ein konstruktives Misstrauensvotum abzuwählen. Aus meiner Sicht wird von der AfD-Fraktion mit der Begrenzung auf höchstens eine Wiederwahl des Kanzlers ein schwerwiegender Eingriff in das Demokratieprinzip verlangt. Es handelt sich um den Eingriff in die Wählbarkeit von Kandidatinnen und Kandidaten für das Kanzleramt, die durch eine zwar vertretbare, am Ende aber doch willkürliche Beschränkung der Anzahl von Amtsperioden erreicht werden soll. Dieser Eingriff ist rechtfertigungsbedürftig und braucht mindestens Verfassungsbelange von gleichem Range. Begründet oder gerechtfertigt wird diese Einschränkung lediglich mit dem Argument, dass die Macht, die durch das Amt wachse, nach spätestens zwei Wahlperioden auch entzogen werden sollte – und zwar als Selbstzweck. Mehr führen Sie zur Begründung einfach nicht an. Die Kanzlerschaft daher isoliert zu betrachten, ist völlig sachfremd und abwegig. Bei jeder Wahl bzw. bei jeder Kanzlerkandidatur, ob aus dem Amt heraus oder als Anwärter, muss der Kandidat zunächst einmal seine eigene Partei und danach das Wahlvolk überzeugen, dann gegebenenfalls eine Koalition schmieden, die Wahl im Deutschen Bundestage gewinnen und das spätestens alle vier Jahre unter dem Damoklesschwert eines konstruktiven Misstrauensvotums wiederholen. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen! Noch mehr Beschränkungen bzw. Bedingungen in das Grundgesetz zu schreiben, halte ich, ehrlich gesagt, für sinnfrei und sinnwidrig. ({1}) Ich spiele das Spielchen aber gerne mit. Folgt man der gegenteiligen Auffassung, muss man folgenden Widerstreit auflösen: Erstens beschneidet man das passive Wahlrecht eines amtierenden Bewerbers oder einer amtierenden Bewerberin, sich erneut für die Kanzlerschaft zur Verfügung zu stellen. Zweitens beschneiden wir das Recht des Wahlvolkes indirekt, aber auch des Deutschen Bundestages direkt, indem wir einen Amtsinhaber oder eine Amtsinhaberin diesem Votum im Deutschen Bundestag oder dem Wählervotum gänzlich entziehen. Im Übrigen halte ich es für urdemokratisch und notwendig, dem Wahlvolk die Frage zu stellen, ob es einer Kanzlerin oder einem Kanzler durch das Votum bei einer Bundestagswahl eine Parlamentsmehrheit zur Verfügung stellt, dieses möglicherweise erschwert oder eine Parlamentsmehrheit möglicherweise auch gänzlich entzieht. Dieses urdemokratische Recht müssen wir dem Wahlvolk zubilligen und dürfen es ihm nicht durch eine Beschränkung der Anzahl von Amtsperioden nehmen. ({2}) Diese beiden Rechte kollidieren daher in ihrem urdemokratischen Gehalt von Freiheit und von Freiheit der Wahl. Ich persönlich komme in der Gesamtabwägung nicht zu dem Ergebnis, dass es notwendig ist, zusätzliche Begrenzungen der Kanzlermacht formell durch Befristung oder Begrenzung vorzunehmen. All Ihre Vergleiche, die Sie im Gesetzentwurf anstellen, gehen im Übrigen völlig fehl und sind teilweise auch grob falsch. Dazu im Einzelnen. Sofern Sie die Befehlsgewalt des Kanzlers oder der Kanzlerin über die Streitkräfte im Verteidigungsfall beschreiben, verkennen Sie in Ihrem Gesetzentwurf völlig, dass die deutsche Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist, dass die Feststellung des Verteidigungsfalls vom Deutschen Bundestag und vom Bundesrat getroffen wird und die Befehls- und Kommandogewalt erst dann auf die Bundeskanzlerin oder den Bundeskanzler übergeht. Lesen Sie dazu Artikel 115a und Artikel 115b Grundgesetz, und korrigieren Sie gegebenenfalls Ihren Gesetzentwurf, wenn Sie ihn vielleicht irgendwann irgendwie noch einmal aufwärmen wollen! ({3}) Sie schreiben über das Initiativmonopol der Bundesregierung bei der Erstellung des Haushaltsgesetzes und verkennen dabei völlig, dass es ausschließlich dem Deutschen Bundestag vorbehalten ist, hinsichtlich des Gesamtplans oder der Einzelpläne Veränderungen oder Feststellungen vorzunehmen. Das heißt: Sie verkennen, dass wir den Regierungswillen, der im Haushaltsgesetz zum Ausdruck kommt, mit einem einfachen Beschluss des Deutschen Bundestages auch brechen können. Des Weiteren – und da musste ich schmunzeln – will die AfD vermeiden, dass es ein Netzwerk von finanziellen Abhängigkeiten gibt. Der Gesetzentwurf soll vermeiden, dass es Seilschaften und finanzielle Abhängigkeiten gibt. Da habe ich echt geschmunzelt. Das finde ich reichlich anmaßend von einer Partei, deren Mandatsträgerschaft es schafft, sich mit Spenden aus dem Ausland den Weg in den Deutschen Bundestag zu bahnen. Das ist anmaßend. ({4}) Ich sage Ihnen eines: Keine Machtfülle eines Staats­amtes kann das Vertrauen in den Staat oder die Politik so erschüttern oder verletzen wie der Anschein, dass man sich mit Geld aus dem Ausland Zutritt zu einem der vornehmsten Häuser des Parlamentarismus in diesem Land verschafft. Das ist schändlich. ({5}) Zusammenfassend bedeutet das: Von Verfassungs wegen entsteht keine Machtfülle. Die Machtfülle einer Kanzlerschaft entsteht nicht durch eine stetige Wiederwahl, sondern höchstens dann, wenn Verfassungsorgane ihre Funktion nicht erfüllen, ({6}) es also eine unkontrollierte Verfassungsmacht gibt. Das ist das Einzige, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf zum Ausdruck bringen könnten; aber selbst das haben Sie verfehlt. Ihr Gesetzentwurf erinnert mich an Bertolt Brecht und sein Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens. ({7}) Sie streben sehr, aber Sie sind jedenfalls immer wieder unzulänglich. In diesem Sinne: Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Wir werden den Gesetzentwurf natürlich ablehnen. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Niema Movassat hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss sagen: Ich wäre ja für eine Begrenzung der Zeit der AfD hier im Parlament. Bringen Sie einen solchen Antrag ein, dann stimmen wir auch zu. ({0}) Als ich den AfD-Gesetzentwurf gelesen habe, war ich ein bisschen irritiert. Es ist ja eigentlich so, dass AfD-Anträge immer dasselbe Schema haben. Sie suchen sich eine Minderheit, auf die Sie dann draufdreschen. ({1}) Und tatsächlich: Im heutigen AfD-Gesetzentwurf ist erst mal nichts dazu drin. Keine Flüchtlinge werden erwähnt etc. Aber Sie haben das dann in der Regel nachgeholt, und das war ja sozusagen auch abzusehen. Legen Sie doch irgendwann mal eine neue Schallplatte auf! ({2}) Sie wollen also heute die Amtszeit der Bundeskanzlerin auf zwei Wahlperioden begrenzen. Das ist eine Forderung, gegenüber der wir Linke nicht grundsätzlich verschlossen sind. Aber Ihr Ansinnen ist ja in Wirklichkeit, Ihre „Merkel muss weg“-Parole in ein Gesetz zu gießen. Das hat Ihre Rede, Herr Brandner, hier sehr eindrucksvoll bewiesen. Wir Linke stehen natürlich auch in deutlicher Opposition zu Angela Merkels unsozialer Politik, ({3}) das ist kein Geheimnis, aber aus anderen Gründen als die AfD. Für die AfD scheint vor allem die Person Merkel ein echtes Trauma zu sein. Sie sollten das bei Gelegenheit wirklich austherapieren lassen. ({4}) Wenn die Forderung für eine Begrenzung der Amtszeit eines Kanzlers vonseiten der AfD kommt, dann steckt dahinter keine ernsthafte demokratietheoretische Auseinandersetzung. Die Fantasie, sich die AfD als Demokratieförderer vorzustellen, endet spätestens da, wo Sie mit Neonazis paktieren und fordern, deutsche Staatsbürger in Anatolien zu entsorgen. ({5}) In der Sache finde ich eine Diskussion über die Amtszeit von Regierungschefs legitim, aber ich bin skeptisch, muss ich sagen, ob eine starre Festsetzung einer bestimmten Amtsdauer unbedingt demokratiefördernd ist. ({6}) Ja, ich hätte mir natürlich die Abwahl der CDU-Kanzlerschaft und von Angela Merkel gewünscht, aber dadurch, dass die Mehrheit Die Linke gewählt hätte, also durch Abwahl statt durch Amtszeitbegrenzung. ({7}) Die Bevölkerung hat in diesem Land die Wahl, welcher Partei sie ihre Stimme gibt und wen sie damit faktisch zum Kanzler macht und wie oft sie die Person zum Kanzler macht. Die Bevölkerung entscheidet also über die Amtsdauer von Kanzlerin oder Kanzler, und das funktioniert auch. Immerhin wurden so früher oder später Gerhard Schröder und Helmut Kohl abgewählt, über eine Wahl. Ich traue den Bürgerinnen und Bürgern zu, über die Amtszeit von Kanzlern zu befinden. Die AfD hat dieses Vertrauen in die Bevölkerung offenbar nicht. ({8}) In der Begründung Ihres Gesetzentwurfes sprechen Sie auch die problematische Verflechtung der Koalitionsfraktionen und der Regierung an, also die fehlende Unabhängigkeit der Unions- und SPD-Fraktion von der Regierung. Das ist in der Tat ein Problem, aber das hat nichts damit zu tun, wie oft jemand zum Kanzler gewählt werden darf. Auch Ihr Vergleich im Gesetzentwurf mit den USA für eine Amtszeitbegrenzung hinkt. Die USA haben ein anderes politisches System, nämlich eine Präsidialdemokratie. Die Machtfülle des US-Präsidenten, der Regierungschef ist, der Staatsoberhaupt ist, der Commander in Chief ist, ist eine ganz andere Machtfülle, als die Kanzlerin sie hat. Die Amtszeitbegrenzung in den USA ist ein Resultat der Machtfülle des US-Präsidenten, einer Machtfülle, die die Kanzlerin nicht hat. Ich sage Ihnen: Wer Demokratie stärken will, der muss mehr Formen der direkten Demokratie einführen, ({9}) der muss die Rechte des Parlamentes stärken. Dafür setzt sich die Linke ein. ({10}) Das Problem bei der AfD ist doch folgendes: Ihre Forderung nach Begrenzung der Amtszeit des Kanzlers ist in Wirklichkeit personengebunden; das haben Sie ja gerade hier auch ausgeführt, Herr Brandner. Würde katastrophalerweise Bernd Höcke da sitzen, dann wären Sie auch für eine tausendjährige Amtszeit. Ihr Anliegen ist unglaubwürdig. Danke schön. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort jetzt die Kollegin Britta Haßelmann. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube nicht, dass irgendjemand im Haus die Erwartung hatte, dass es hier eine intellektuelle Auseinandersetzung über eine sehr grundlegende Verfassungsfrage geben würde, oder? Wenn auf dem Gesetzentwurf Stephan Brandner derjenige ist, der als Erster oben genannt wird ({0}) und dann hier auch noch redet, dann hat, glaube ich, niemand von uns die Erwartung, dass es wirklich um eine grundsätzliche Abwägung in der Frage geht, wie der Verfassungsrahmen für die Wahl und die Amtszeit einer Bundeskanzlerin oder eines Bundeskanzlers aussehen soll. ({1}) Meine Damen und Herren, allen, die sich nicht mehr daran erinnern, will ich noch mal den Tag der Wahl der Kanzlerin in Erinnerung rufen. Da gab es einige Abgeordnete der AfD, die meinten, ihren Stimmzettel bzw. ihre Neinstimme auf dem Herrenklo fotografieren zu müssen. ({2}) Ich glaube, der Kollege Brandner gehörte auch dazu. Ich habe es nicht mehr ganz so in Erinnerung, aber es war an Peinlichkeit und Geschmacklosigkeit und an Würdelosigkeit gegenüber dem Amt nicht zu überbieten, meine Damen und Herren. ({3}) Deshalb, lieber Mahmut Özdemir und auch andere Vorredner, glaube ich: Dieser schlechte Gesetzentwurf und auch diese niveaulose Rede sind in aller Form schon gewürdigt worden. Eigentlich ist dazu genug gesagt worden. Meine Damen und Herren, ich habe null Erwartungen an den Kollegen. Er hat ja gerade zum Ausdruck gebracht, dass wir an intellektueller Darlegung nicht viel erwarten können, wenn es um solche verfassungsrechtlichen Grundsatzfragen geht. Wenn man sich Fragen der Akzeptanz unserer lebendigen Demokratie wirklich stellen will, dann sind Kanzlerinnen- und Kanzlerwahlen oder die Frage der Amtszeitbegrenzung aus meiner Sicht, aus unserer Sicht nicht der relevanteste Punkt, obwohl sicherlich jede und jeder, die oder der meiner Generation angehört, vielleicht schon einmal gedacht hat, dass Herr Kohl ganz schön lange im Amt war, und sich bei der ein oder anderen Bundestagswahl sicherlich einen anderen Ausgang gewünscht hat. ({4}) Aber die Mehrheit des Hauses hat dann so entschieden. Sie, Herr Özdemir, haben ja gerade dargelegt und auch ausgeführt, dass das eine Frage der Wahlfreiheit der Parlamentarierinnen und Parlamentarier ist. Ich glaube, wenn man über die Akzeptanz unserer lebendigen Demokratie und über den lebendigen Parlamentarismus sprechen will, dann sollte man über die repräsentative Demokratie und ihre Ergänzung durch Bürgerbeteiligung reden und über die Frage: Wie können wir Bürgerinnen und Bürgern mehr Mitwirkungsrechte geben? ({5}) Wir sollten über Fragen von Kontrolle reden, meine Damen und Herren; denn ich glaube, dass gerade die Frage der Kontrollfunktion und des Spannungsverhältnisses des Parlamentes insgesamt gegenüber der Regierung eine ganz zentrale Frage für den lebendigen Parlamentarismus ist, für unser Parlament insgesamt und für das Spannungs- und das Machtverhältnis zwischen einer Bundesregierung und einem lebendigen Parlament. ({6}) Da gibt es viele Fragen, die zu diskutieren wären: Wie ist es zum Beispiel mit der Kontrolle der Geheimdienste? Wie ist es mit der Kontrolle der vielen Gesellschaften des Bundes? Ich erinnere nur daran, dass wir in der Vergangenheit unsere parlamentarischen Kontrollrechte gegenüber der Bahn vor dem Bundesverfassungsgericht einklagen mussten. Wir diskutieren aktuell über die vielen Versäumnisse in der Bahnpolitik. Wir als Parlament mussten erst mal beim Bundesverfassungsgericht unsere, aus meiner Sicht selbstverständlichen Kontrollrechte gegenüber der Bahn durchsetzen. Ich bin sehr froh, dass diese Entscheidung so getroffen wurde. Ich glaube, dass es für ein lebendiges Parlament wirklich relevant wäre, solche Fragen zu diskutieren. Das gilt auch für Fragen der Transparenz im Hinblick auf ein Lobbyregister und ({7}) im Hinblick auf einen legislativen Fußabdruck: Wer wirkt an Gesetzgebungen mit? Wie entsteht ein Gesetz? Wie viele externe Einflussnahmen gibt es? Wir sollten nicht die Zeit damit verbringen, dass sich die AfD weiter an der Kanzlerin Merkel abarbeitet. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Frauke Petry.

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Unterschied zwischen Republik und Monarchie ist die zeitliche Amtsbegrenzung. Im alten Athen und Rom wurden die Ämter jährlich neu besetzt. Im Schweizer Bundesrat rotiert das Amt des Bundespräsidenten bis heute. Der US-Präsident darf höchstens zwei Amtszeiten regieren. ({0}) Klar ist: Ein Regierungschef, der zu lange im Amt bleibt, droht das Machtmonopol an sich zu reißen. Aber, meine Damen und Herren, die zeitliche Begrenzung ist nicht das zentrale Problem. Wichtiger ist die Frage, wem die Macht wie in die Hände gelegt wird. Anders als bei der Amtszeitbegrenzung ist das Grundgesetz hier sehr deutlich, wenn es die Abgeordneten zu jenen Volksvertretern erklärt, die allein ihrem Gewissen verantwortlich sein sollen und den Bundeskanzler wählen. Das Grundgesetz spricht von einer Mitbestimmung der Parteien, nicht von ihrer dominanten Monopolstellung. ({1}) Dass Parteien über den Fraktionszwang die Stellung des unabhängigen Abgeordneten ausschalten, ist gerade nicht der Grundgedanke unserer Verfassung. Liebe AfD, Ihr Antrag ist mutlose Makulatur; denn er trifft nicht den Kern des Problems. ({2}) Die Vernünftigen unter Ihnen wissen das ganz genau. Was wir wirklich brauchen, ist ein Kanzler, der von den Bürgern gewählt und nicht von Parteien aufgestellt und bestimmt wird. Frei nach Machiavelli ziert eine Republik üblicherweise mehr fähige Bürger als eine Monarchie, weil sie die Tüchtigsten bevorzugt. Die Parteiendemokratie belohnt nicht Mut, Verdienst und Rückgrat; sie hat im Gegenteil Angst vor diesen Eigenschaften und belohnt eher jene, die im ideologischen Gleichschritt marschieren, die eine angebliche Parteitreue über inhaltliche Loyalität, die Duckmäusertum über Pflichtbewusstsein stellen. Sie stempelt menschlich abwertend all diejenigen, die aus diesem System ausbrechen, angstgetrieben als Verräter, egal in welcher Partei. ({3}) So werden alle klassischen Parteien schließlich zu bürgerfernen Apparaten im sich selbst ernährenden Politikbetrieb, und die Bürger ahnen und wissen das. Wir brauchen keine bloße Begrenzung der Amtszeit; wir brauchen eine geistige Wende, die persönliche Verantwortung großschreibt, ({4}) die Persönlichkeit und nicht Parteimitgliedschaften, die politische Projekte statt Apparate in den Mittelpunkt rückt. Freie Bürgerlisten bei allen Wahlen und Volksabstimmungen brächten uns deutlich weiter, damit jene Fachleute und Eliten in Parlamente einziehen, die unser Land frei vom Parteienzwang regieren. Bei einem so gewählten Bundeskanzler wäre die Amtszeit dann immer noch eine wichtige, aber nur noch eine zweitrangige Frage. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat als nächster Redner das Wort der Kollege Christoph de Vries. ({0})

Christoph Vries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einmal mehr hat die AfD wieder gute Ideen, wie Deutschland noch demokratischer werden kann; „vermeintlich gute“ kann man aber nur sagen. Schon bei der direkten Demokratie auf Bundesebene wollten Sie Vorreiter sein, gemeinsam mit der Linkspartei natürlich. Nun wollen Sie dem Bundeskanzler an die Amtszeit, wahrscheinlich vor allen Dingen einer ganz bestimmten Bundeskanzlerin, die Ihnen schon lange ein Dorn im Auge ist. Ich glaube, man kann sagen: Mit der AfD und Angela Merkel ist es wie mit dem „Spiegel“ und Helmut Kohl. Beide waren der festen Meinung, dass diese Kanzler weg müssen, und erklärten das bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Doch die Wähler haben das immer wieder anders gesehen und honorierten die herausragenden Leistungen christdemokratischer Kanzler in Deutschland mit ihrem Votum. Das ist am Ende auch das, was in unserem Land, in der Demokratie zählt, meine Damen und Herren. ({0}) Insofern ist der Wunsch des Wählers auch das wichtigste Argument gegen Amtszeitbegrenzung. Jede Amtszeitbegrenzung ist ein Misstrauensvotum gegenüber dem Souverän. Das ist doch völlig klar. Zugespitzt kann man sagen: Der Gesetzentwurf der AfD unterstellt, der Bürger wisse nicht, wann es an der Zeit ist, einen Kanzler oder eine Kanzlerin abzuwählen, und deswegen müsse man jetzt das Recht auf Wiederwahl beschränken. Ich sage ganz deutlich: Wir Christdemokraten teilen dieses Menschenbild nicht. Wir glauben an den mündigen Bürger, der seine Wahlentscheidung bei den Wahlen in Deutschland ganz bewusst trifft. Mit Blick auf Form und Stil der Auseinandersetzung in Ihrer Partei wäre es vielleicht auch ratsam, sich zunächst einmal in innerparteilicher Demokratie zu üben. Ich glaube, ehrlich gesagt, da gibt es noch ganz erheblichen Nachholbedarf. Aber lassen wir uns mal auf den Gedanken einer Amtszeitbegrenzung ein. Man kann argumentieren – Sie haben es auch gemacht –, dass Frankreich und die USA solche Begrenzungen kennen. Auch Russland als Ihr urdemokratisches Vorbild kennt eine solche Amtszeitbegrenzung. Aber – das ist schon gesagt worden – die Vergleiche hinken. Die Unterschiede liegen auf der Hand. Wir haben in diesen Ländern direkt vom Volk bzw. von Wahlmännern gewählte Präsidenten, die Staatsoberhäupter sind, die über der Regierung stehen und die weitreichende Befugnisse haben, auch ohne Parlamentszustimmung. Diese Präsidenten vereinigen ein hohes Maß an Macht auf sich. Dann kann eine Amtszeitbegrenzung sinnvoller Bestandteil der Gewaltenteilung sein, obwohl man mit Blick auf den amtierenden amerikanischen Präsidenten und seinen Vorgänger auch Zweifel haben kann, ob das Sinn macht. Aber in Deutschland ist das anders. Wir haben eine Kanzlerin, die nicht einmal sichere Herkunftsstaaten für Asylbewerber festlegen kann. Auch unser Bundesparlament kann das nicht. Wollte die Kanzlerin an einer Grenze eine Mauer bauen – manche haben solch absurde Ideen –, dann würde sie es auch nicht durchsetzen können. Was bedeutet das? Das System von Koalitionsvereinbarungen, ‑regierungen, einem einflussreichen Bundesrat in unserem föderalen Gefüge und generell starken Parlamentsbefugnissen machen eine Amtszeitbegrenzung nicht nur unnötig, sondern eigentlich völlig überflüssig. Das, was Sie im Gesetzentwurf geschrieben haben, nämlich die unterstellte Monopolisierung der Macht, ist ein reines Luftschloss. ({1}) Ich habe das beschrieben. Das hat weder was mit dem Verfassungsrecht noch mit der Verfassungswirklichkeit in Deutschland zu tun, meine Damen und Herren. ({2}) Vielleicht ein Gedanke, der noch nicht gefallen ist. Wenn wir uns die Verhandlungspositionen deutscher Regierungschefs anschauen, insbesondere auf internationaler Ebene: Sie fußen nicht auf Macht; sie fußen auf Einfluss, den sie haben. Womit hängt das zusammen? Das hängt auch mit der Kontinuität der Amtszeiten zusammen, die viele Kanzler in Deutschland gehabt haben, ob es Adenauer war, ob es Helmut Kohl war oder ob es Angela Merkel jetzt ist. Wir würden uns auf internationaler Ebene ein Bein stellen, wenn wir diese Kontinuität per Gesetz unterbinden würden. ({3}) Ich glaube, das ist ein Gedanke, der hier noch gar nicht genannt wurde. Wir können zusammenfassen. Eine Amtszeitbegrenzung ist weder nötig noch sinnvoll. Sie beschränkt das Recht des Wählers, einen erfolgreichen Regierungschef – viele von denen haben wir gestellt – wiederzuwählen. Sie ist im Grunde unserem politischen System in Deutschland wesensfremd. Deswegen kann ich klar sagen: Wir Christdemokraten lehnen den Gesetzentwurf ab. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte über eine grundsätzliche Frage unseres Verfassungsgefüges hat was mit Respekt vor diesem Parlament zu tun. Dieser Gesetzentwurf und Ihre Rede, Herr Kollege Brandner, waren respektlos. So können wir nicht über grundlegende Fragen in diesem Haus diskutieren. ({0}) Ja, politische Ämter sind stets Mandate auf Zeit. Das ist auch der Grundgedanke, der das Grundgesetz durchzieht, indem es politische Macht auch an Wahlen knüpft. Es gibt in unserem Grundgesetz die Amtszeitbegrenzung beispielsweise für den Bundespräsidenten und für die Richter des Bundesverfassungsgerichts – das aus gutem Grund, weil beide nicht wieder abberufen werden können, weil das auf der einen Seite die Souveränität des Staatsoberhauptes und auf der anderen Seite die richterliche Unabhängigkeit sicherstellt. Unsere Verfassungsmütter und ‑väter haben die Amtszeit des Bundeskanzlers nicht mit einer Amtszeitbegrenzung versehen. Sie sind gar nicht auf die Idee gekommen, weil das Grundgesetz automatisch mehrere Aspekte eingebaut hat, wonach die Amtszeit des Bundeskanzlers unmittelbar auch mit dem Vertrauen des Parlaments zu tun hat – mit der Vertrauensfrage, dem konstruktiven Misstrauensvotum und der Verankerung in den Fraktionen, die die Regierung bilden, und natürlich mit der Stärke des politischen Rückhalts. Und ja, es lässt sich natürlich trefflich streiten, ob aus politischen Gründen heraus eine Erneuerung im Amt des Bundeskanzlers opportun erscheint oder nicht. Aber wir können nicht jede Frage, die die Parteien lösen müssen, gleich in die Verfassung schreiben, sondern es ist auch Aufgabe des Parlaments, über die Fraktionen dann eine Erneuerung herbeizuführen, wenn diese angezeigt ist. Ich meine, das ist eine Frage, die von konkreten Personen unabhängig ist. Ganz im Gegenteil: Der Umstand, dass wir in 70 Jahren Grundgesetz insgesamt nur acht Kanzler hatten, ist doch ein Ausweis von großer Stabilität. Und die politische Stabilität in diesem Land hat auch dazu geführt, dass wir Frieden, Freiheit und Wohlstand haben. Das sollten Sie niemals aus den Augen verlieren. ({1}) Ihr Gesetzentwurf ist teilweise auch sachlich falsch. Sie schreiben beispielsweise, dass der Bundeskanzler ein direktes Durchgriffsrecht auf das Ausgabengebaren der Ministerien hat. Sie haben Artikel 65 Grundgesetz nicht gelesen, nach dem wir das Ressortprinzip haben und jeder Bundesminister selbst und eigenverantwortlich seine Regierungsarbeit voranbringen kann. Sie wissen auch gar nicht genau, was Sie wollen. Sie schlagen auf der einen Seite eine Zeitspanne für die Anzahl der Kanzlerjahre vor, und auf der anderen Seite rekurrieren Sie auf die Zahl der Wahlen. Beides hat aber große Schwächen. Zum einen: Was bedeutet denn „Wahl“? ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen, Herr Kollege. – Aber ich muss mich schon arg wundern. Liegt es am Politbetrieb, dass Sie so betriebsblind und realitätsfern sind? ({0}) Kennen Sie den Begriff „Amtsbonus“? Wissen Sie, dass Demokratierechtler immer sagen, ({1}) dass leider eine lange Amtszeit nachher immer darauf ausgerichtet ist, wiedergewählt zu werden? Gerade der zitierte Kanzler Kohl – manche kannten gar keinen anderen – ist verantwortlich für einen Reformstau in unserer Republik, weil immer wieder alles bei ihm demokratiepraktisch sogar auf die Wiederwahl ausgerichtet wurde. Sie reden vom Ressortprinzip. Ich rede von der Richtlinienkompetenz des Kanzlers, meine Damen und Herren. Und wie kommt es, wenn Sie von einem starken Parlament und starken Parlamentariern sprechen, dass Sie eben das Paradebeispiel geliefert haben? 7,5 Milliarden Euro Haftung für diese Investitionsbank prügeln Sie hier in 27 Minuten durch. Meine Damen und Herren, wenn wir dann noch darüber sprechen, dass wir diesen Vergleich wählen – und es ist sehr unredlich, was Sie hier mit dem Kollegen Brandner machen –, dann müssten Sie mir doch zustimmen, dass Sie einige Demokratieprinzipien und Erwägungen großer Verfassungsrechtler hier einfach unter den Tisch fallen lassen. ({2})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich stimme Ihnen in gar keinem Punkt zu. Sie haben in dem, was Sie gesagt haben, unrecht. ({0}) Zum einen: Sie missachten das Parlament. Sie haben gerade gesagt: Hier wird ein Gesetz zur Europäischen Investitionsbank durchgeprügelt. – Das Wort „prügeln“ ist nicht der richtige Ausdruck dafür, dass eine große Mehrheit dieses Hauses nach Beratungen im Ausschuss hier eine Entscheidung getroffen hat. Das ist antidemokratisch, wenn Sie so argumentieren. ({1}) Zweitens bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, wie die Wahlergebnisse der Jahre 1983 bis 1994 ausgefallen sind. Dort haben Christdemokraten und Christsoziale immer unter Führung von Helmut Kohl eine deutliche Mehrheit im Deutschen Bundestag bekommen. Das ist der Souverän, der so entschieden hat. Es mag Ihnen nicht passen, aber das ist Geschichte. Im Übrigen haben die Kanzlerschaft von Helmut Kohl und die Regierungen von CDU, CSU und FDP in dieser Zeit unserem Land und Europa sehr gutgetan. ({2}) Und darüber hinaus: Ja, es gibt die Richtlinienkompetenz. Aber es gibt eben auch das Ressortprinzip. Sie können sich beim Grundgesetz nicht das herauspicken, was Sie gerne hätten, sondern Sie müssen die Verfassung und die Verfassungswirklichkeit so nehmen, wie sie ist, und so beschreiben. ({3}) Mein letzter Punkt. Was bedeutet „Wahl“? „Wahl“ bedeutet natürlich die Wahl im Deutschen Bundestag. Aber wie ist es mit einem konstruktiven Misstrauensvotum? Dabei stehen im Prinzip auch zwei zur Wahl: derjenige, der den Kanzler herausfordert, und der amtierende Kanzler. Wollen Sie also, wenn Sie auf zwei Wahlen begrenzen, dann auch nur noch zweimal ein konstruktives Misstrauensvotum zulassen? Das sind alles offene Fragen, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf nicht behandelt haben. Deswegen lehnen wir ihn aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Wenn ich abschließend außerhalb der verfassungstheoretischen Debatte noch etwas sagen darf – ich sage das für meine Fraktion und mit großem Stolz –: Ich bin froh, dass in den letzten 14 Jahren Angela Merkel Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland war, ({4}) weil das Frieden und Wohlstand gebracht hat und unser Land nicht da stünde, wo es steht, wenn wir nicht diese Erfolge erzielt hätten. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/8275 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Christine Lambrecht (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003167

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem Gesetzentwurf, den ich Ihnen heute in der ersten Lesung vorstelle, streben wir ein ausgewogenes Verhältnis an zwischen dem Interesse der Unternehmen, sich kostengünstig zu finanzieren, und dem Interesse der Anleger, ausreichend geschützt und informiert zu werden. Dieses Ziel verwirklichen wir in einem Zusammenspiel von europäischen und nationalen Regulierungen. Um was geht es konkret? Ab dem 21. Juli 2019 soll sich für Unternehmer und Anleger einiges ändern, und ganz konkret: Für kleine und mittelständische Unternehmen, für KMUs, soll in Zukunft statt dem normalen Prospekt der sogenannte EU-Wachstumsprospekt verwendet werden. Dazu gelten reduzierte inhaltliche Anforderungen, und es gibt eine standardisierte Aufmachung, sodass KMUs den EU-Wachstumsprospekt leichter erstellen können. Es wird also für sie kostengünstiger, einen solchen Prospekt zu erstellen, und die Finanzierung über den Kapitalmarkt wird dann eben auch für KMUs interessanter und attraktiver. Der Schwerpunkt dieses EU-Wachstumsprospekts soll auf leicht verständliche, wesentliche und relevante Informationen begrenzt sein. Auch das ist Anlegerschutz; denn der Anleger erhält so eine bessere Übersicht über die Auswahlmöglichkeiten, die ihm zur Verfügung stehen. ({0}) Meine Damen und Herren, auch für Daueremittenten, die den Kapitalmarkt bereits häufig nutzen, soll es Erleichterungen geben, und auch da soll es ein einheitliches Registrierungsformular geben. ({1}) Wenn dieses dann rechtzeitig veröffentlicht wird, spart sich der Daueremittent den Halbjahres- oder den Jahresfinanzbericht. Es wird also auch in diesem Fall einfacher, und das Emissionsverfahren wird einfacher. Denn dieses Registrierungsformular kann dann auch als Prospekt genutzt werden. Die BaFin muss dann in Zukunft innerhalb von fünf Tagen entscheiden und nicht wie bisher innerhalb von zehn Tagen. Das bedeutet auch, dass günstige Marktfenster genutzt werden können, weil ja nicht mehr so lange auf die Entscheidung gewartet werden muss. ({2}) Meine Damen und Herren, das hört sich jetzt so an, als hätten davon nur die Emittenten etwas. Nein, auch die Anleger haben etwas davon; denn das einheitliche Registrierungsformular ist ein jährliches Dokument, in dem sie Informationen über die Organisation, die Geschäftstätigkeit, die Finanzlage, den Ertrag, die Zukunftsaussichten, die Führung und Beteiligungsstruktur von Unternehmen finden, also alle relevanten Informationen, die ein Anleger braucht, um die entsprechende Entscheidung treffen zu können. ({3}) – Da kommt richtig Schwung in die Debatte; sehr schön! Für Sekundäremissionen soll es einen vereinfachten Prospekt geben. Das ist unter dem Blickwinkel des Anlegerschutzes unserer Einschätzung nach auch hier wieder gerechtfertigt. Die Anleger haben Zugang – denn da haben sie ja Zugang – zu laufenden Offenlegungen des Unternehmens. Das erfolgt ja schon. Es bedarf also hier keines weiteren umfassenden Prospekts, da viele Informationen schon öffentlich zugänglich sind. Das reduziert die Kosten von Unternehmen, ohne wiederum die Interessen der Anleger zu beschneiden. Auf diese Ausgewogenheit kommt es uns an. Meine Damen und Herren, es geht auch darum, dass wir bei den Wertpapierangeboten für eine Erleichterung sorgen. Bei den Obergrenzen für prospektfreie Angebote soll ein Gleichlauf hergestellt werden. Die Schwellenwerte für die beiden nationalen Ausnahmen, die es bereits gibt, werden vereinheitlicht. Wenn man sich alle Maßnahmen im Detail anschaut – dazu werden wir in den nächsten Tagen in den Beratungen im Finanzausschuss kommen –, wird man feststellen – ich habe es zu Beginn gesagt –, dass es durch die vorgesehene Änderung gelingen wird, einen ausgewogenen Ausgleich zwischen den Interessen der Unternehmen und denen der Anleger herzustellen. Ich freue mich auf die Beratungen und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Kay Gottschalk. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Kollegen! Liebe Bürger! Heute sprechen wir, neun Monate nach der letzten Erörterung, wieder mal über die EU-Prospektverordnung. Sehr verehrte Frau Kollegin Lambrecht, Sie ahnen, was kommt: Sie gaukeln hier den Anlegern vor, sie hätten einen erhöhten Schutz. Ich möchte zunächst aus dem Gesetzentwurf zitieren: Da die EU-Prospektverordnung unmittelbar gilt, werden zahlreiche Vorschriften des Wertpapierprospektgesetzes aufgehoben, deren Regelungsinhalt sich nun in der EU-Prospektverordnung findet. Sicherlich: Für einen fanatischen EU-Junkie ({0}) – davon habe ich hier heute wieder ganz viele gesehen, Herrn Hakverdi ganz vorne – klingt so was wie Honig für die Ohren. Da gehen die Herzen vieler EU-Fanatiker hier auf. Aber mir als deutschem – ich betone: als deutschem – Bundestagsabgeordneten bleibt bei solchen Aussagen regelrecht die Spucke weg. Meine Damen und Herren, eine EU-Verordnung tritt also in Kraft, und dafür werden Vorschriften eines Gesetzes aufgehoben. Nochmals: Die Freunde des EU-Superstaates werden an solchen Tagen jubilieren. Echte Subsidiarität sieht anders aus. Gestatten Sie auch mir hier einen Ausflug – das haben Sie auch gemacht –: Ich hoffe, meine Damen und Herren da draußen, Sie werden den Subsidiaritätsfeinden, die hier im Parlament sitzen, am 26. Mai eine gehörige Abfuhr erteilen. Wählen Sie tatsächlich populistisch; denn wir vertreten Ihre Meinung, meine Damen und Herren. Hier im Parlament werden ganz andere Meinungen vertreten. ({1}) Aber zurück zu Ihrem Gesetzentwurf. Als grundlegende Zielsetzung wird von Ihnen immer der Anlegerschutz aufgeführt, und der sollte in der Tat bei einem solchen Gesetzentwurf auch die Oberhand haben. Es wird darauf abgezielt, die sogenannte Informationsasymmetrie zwischen Anlegern und Emittenten bzw. Anbietern abzubauen. Diesem Ziel kann man zunächst vollkommen zustimmen; die Sozialdemokraten sollten das eigentlich auf jeden Fall machen. Aber, meine Damen und Herren, schon am 7. Juni letzten Jahres habe ich hier mehrmals gefragt: Wie steht es um den Anlegerschutz, wenn er greifen muss? Das ist ähnlich wie bei der Bankenkrise oder unserem Vorschlag, den Sie vorhin gar nicht erwähnt haben, nämlich dass man die Haftung von Managern erhöht. Das gleiche Beispiel hier: Immer wenn Ihre Gesetze zum Tragen kommen sollen, wie bei Prokon, S&K oder jüngst bei P&R – 3,5 Milliarden Euro von Anlegern sind hier verloren gegangen –, dann bleiben Ihre Waffen stumpf. Und warum? Dreh- und Angelpunkt ist und bleibt – ich werde nicht müde, das zu wiederholen – die BaFin; denn die BaFin suggeriert mit genau diesen komischen Prospekten etwas. Dabei – Sie haben es ja eben dargelegt – wird nur materiell geprüft: auf Vollständigkeit, Verständlichkeit und Kohärenz. Jetzt geht das noch viel einfacher: Das ist gleich der Prospekt. – Sie gaukeln den Menschen vor, hier gäbe es eine Prospekthaftung, aber das ist eben nicht der Fall. Sie sollten die 2 200 Beamten, die Sie bei der Grundsteuer einsetzen wollen, der BaFin zur Verfügung stellen, damit sie eben auch materiell-inhaltlich überprüft, was das Produkt bietet; denn darauf kommt es an und nicht darauf, wie schön die Schleifen drum herum sind. Meine Damen und Herren, gestehen Sie doch zu – Sie haben im Zusammenhang mit dem EU-Gesetz wieder von Harmonisierung und Vereinheitlichung gesprochen –: Ein spanischer, ein zypriotischer oder ein griechischer Beamter würde wahrscheinlich anders prüfen als ein Beamter in Weimar, in Berlin oder in Hamburg. Zu guter Letzt, meine Damen und Herren: Sie sollten den Anlegerschutz wirklich aufrechterhalten. Dieses Scheinheiligkeitsplacebogesetz Teil II lehnen wir ab – wir sind gegen diese „Verbrüsselungsgefahr“ für unsere Kapitalmärkte –; denn letztlich wird damit nur der Anlegerschutz reglementiert und heruntergefahren. Wir lehnen den vorliegenden Gesetzentwurf ab. Danke schön. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Matthias Hauer. ({0})

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der deutsche Mittelstand ist der Motor für unsere Wirtschaft und Garant für Arbeitsplätze in Deutschland. Damit der Motor läuft, brauchen Unternehmen in Deutschland früher oder später frisches Kapital: um zu wachsen, um neue Märkte zu erschließen, um neue Produkte zu entwickeln. Die EU-Prospektverordnung vereinfacht den Zugang zu einer größeren Vielfalt an Finanzierungsquellen. Das begrüßen wir als Unionsfraktion ausdrücklich. ({0}) In Deutschland beschaffen sich Unternehmen das notwendige Kapital noch weitgehend über Bankkredite, nur zu weniger als 20 Prozent über die Kapitalmärkte. Unser Anliegen ist es, gerade kleinen und mittleren Unternehmen die Kapitalaufnahme über die Finanzmärkte zu erleichtern. Dazu haben wir schon im letzten Jahr – wir haben es gehört – die Optionen der Verordnung genutzt. Seitdem muss grundsätzlich erst ab einem Volumen von 8 Millionen Euro ein aufwendiger und kostenintensiver Wertpapierprospekt erstellt werden. Diese Schwelle haben wir angehoben. Den Spielraum, den uns das EU-Recht damals gegeben hat, haben wir weitgehend ausgenutzt. Das war gut für den Mittelstand in Deutschland, und das ist auch gut für den Verbraucherschutz in Deutschland. ({1}) Bei dem heute vorliegenden Gesetzentwurf geht es um weitere Anpassungen auf Grundlage der Prospektverordnung. Die Erstellung von Wertpapierprospekten soll künftig einfacher werden. Die Prospekte sollen nutzerfreundlicher gestaltet werden. Das reduziert bürokratischen Aufwand bei der Prospekterstellung und die damit verbundenen Kosten. Denn mehrere Hundert Seiten für einen solchen Prospekt sind keine Seltenheit, und das ist eine Hürde, die für kleine und mittlere Unternehmen oft schlicht zu hoch ist. Zudem wird mit dem EU-Wachstumsprospekt ein neues Prospektformat gezielt für kleine und mittlere Unternehmen EU-weit eingeführt: mit deutlich reduzierten inhaltlichen Anforderungen, in standardisierter Form und in leicht verständlicher Sprache. An diese sinnvollen Vorgaben aus der EU passen wir das nationale Recht nun an. Ich sage auch: Wir passen es gerne an. Bei den Ausführungen des Kollegen Gottschalk bekam man den Eindruck, dass der Kapitalmarkt an nationalen Grenzen haltmacht. Das ist schlicht Unsinn. ({2}) Die Regelungen aus dem letzten Jahr werden im Wesentlichen beibehalten. Sie werden aber an zwei Stellen noch verbessert. Banken, Sparkassen und börsennotierte Emittenten müssen bislang für öffentliche Wertpapierangebote weder einen Prospekt noch ein Informationsblatt veröffentlichen, wenn der Gesamtgegenwert weniger als 5 Millionen Euro beträgt. Diese Schwelle soll nun auf 8 Millionen Euro erhöht werden. Wir als Union hatten das schon in den Beratungen im letzten Jahr angeregt; ({3}) denn die stärkere Regulierung der Institute rechtfertigt eine Vereinfachung. Wir begrüßen ausdrücklich, dass das Finanzministerium unsere Forderungen nun umsetzt. ({4}) Auch bei den Einzelanlageschwellen gibt es weniger Bürokratie. Bei Bezugsrechtsemissionen an bestehende Aktionäre wird auf Einzelanlageschwellen als weitere Bedingung der Prospektausnahme verzichtet. Viele Unternehmen, die bereits einen Prospekt erstellt haben, werden zukünftig von den Schwellen ausgenommen. Auch das Thema Einzelanlageschwellen hatte ich in den Beratungen letztes Jahr kritisch angesprochen. Dass jetzt in einem besonders unsinnigen Fall darauf verzichtet wird, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Wir sollten die Schwellen aber grundsätzlich hinterfragen. Sie führen dazu, dass Privatanleger bei prospektfreien Angeboten zwischen 1 Million und 8 Millionen Euro maximal 1 000 Euro investieren dürfen; wenn sie ein höheres Einkommen oder Vermögen haben, dann maximal 10 000 Euro. Das ist eine Bevormundung, die wir so nicht wollen. Unsere Meinung wurde auch bestätigt durch die Sachverständigen in der Anhörung und auch durch einige SPD-geführte Bundesländer, durch den Bundesrat insgesamt, der kritisiert hat, dass die Entscheidungshoheit von Privatanlegern eingeschränkt wird. Wir als Koalition hatten das Bundesfinanzministerium im Ausschussbericht darum gebeten, dieses Thema zu evaluieren und uns bis Anfang 2019 einen entsprechenden Bericht vorzulegen. Leider liegt die Evaluation immer noch nicht vor. Das ist sehr schade, weil gerade diese Vorgaben über die der EU-Prospektverordnung hinausgehen. Auch zu einem zweiten Thema liegt der Bericht noch nicht vor. Das Finanzministerium hatte zugesagt, zu prüfen, ob die neue Prospektfreiheitsgrenze auf GmbH-Anteile und weitere Vermögensanlagen ausgeweitet werden sollte. Das ist uns besonders wichtig, weil in Deutschland die meisten kleinen und mittelständischen Unternehmen in der Rechtsform der GmbH geführt werden. Hier geht es darum: Wir brauchen weniger Bürokratie anstatt mehr Bürokratie. Auch da steht die Evaluation noch aus. Ich sage abschließend: Bei diesem Gesetzgebungsverfahren muss gelten: Am Ende muss eine Lösung mit besseren Finanzierungsmöglichkeiten für unseren Mittelstand, mit einem starken Verbraucher- und Anlegerschutz stehen. Dafür setzen wir uns als CDU/CSU ein. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Frank Schäffler. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum zweiten Mal legen Sie heute einen Gesetzentwurf vor, der den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union vorbereitet. Zum zweiten Mal nutzen Sie die Chance nicht, um hier endlich mal etwas politisch Substanzielles voranzubringen. Das ist Klein-Klein, was Sie hier machen. Das ist ganz kleines Karo. Sie setzen faktisch das um, was auf europäischer Ebene eh umgesetzt werden muss. ({0}) Dabei liegen die Probleme eigentlich auf dem Tisch. Wir hatten am Montag dieser Woche eine Anhörung zum Thema Blockchain, ICOs, Bitcoins und anderen Kryptowährungen. Dafür müssten und könnten Sie an dieser Stelle jetzt die organisatorischen und rechtlichen Rahmenbedingungen schaffen, damit eine wachsende Industrie sich in Deutschland ansiedelt und eben nicht in Offshorebereiche ausweicht, also nicht nach Malta, nach Luxemburg oder nach Liechtenstein auswandert, sondern sich endlich auch hier in diesem Land ansiedelt, Arbeitsplätze schafft und investiert. ({1}) Dafür ist nicht entscheidend, dass wir Änderungen an der Prospektverordnung vornehmen, sondern dafür ist entscheidend, dass sich die BaFin vernünftig aufstellt. ({2}) Wenn sich in der BaFin sage und schreibe eine Person damit beschäftigt, diese junge Industrie zu beaufsichtigen, zu überwachen und letztendlich Genehmigungen zu erteilen, dann sagt das viel mehr über den Standort Deutschland aus als all das, was die Bundeskanzlerin und der Finanzminister hier tagtäglich von sich geben. ({3}) Deshalb ist es entscheidend, dass Sie hier endlich ans Arbeiten kommen, dass Sie endlich Änderungen vornehmen, dass Sie endlich regieren und nicht nur verwalten. Das, glaube ich, ist das Entscheidende. Wir werden entsprechende Vorschläge in den Finanzausschuss einbringen und die Erkenntnisse aus der Anhörung am Montag einbauen. Ich glaube, dann wird daraus vielleicht ein guter Gesetzentwurf. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Schäffler. – Schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen. Nächster Redner: Hubertus Zdebel für die Fraktion Die Linke. ({0})

Hubertus Zdebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004449, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Diskussion um die Umsetzung der EU-Prospektverordnung in nationales Recht geht in eine zweite Runde. Ein recht sperriges, aber für den Anlegerschutz sehr wichtiges Thema. Und um es gleich zu sagen: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vertut die Bundesregierung die zweite Chance auf mehr finanziellen Verbraucherschutz. ({0}) Unsere Hauptkritikpunkte, die wir schon vergangenes Jahr vorgetragen haben, bleiben nach wie vor bestehen. ({1}) – Ich habe dazu hier geredet. Erstens. Wertpapierprospekte sind zwar sehr umfangreich, ({2}) sie erfüllen aber für Verbraucherinnen und Verbraucher vor allem dann eine wichtige Funktion, wenn ihnen bei einer Anlageentscheidung finanzieller Schaden droht oder schon entstanden ist; ({3}) denn Prospekte dienen als Haftungsgrundlage und damit als Basis für Schadensersatzansprüche. Dies darf nicht durch eine allzu großzügige Prospektfreiheit ausgehebelt werden. ({4}) Deswegen erscheint uns die Schwelle von 8 Millionen Euro deutlich zu hoch, ab der ein Prospekt erst erstellt werden muss, erst recht, wenn man sich vor Augen führt, dass im Rahmen der Kapitalmarktunion vor allem kleine und mittelständische Unternehmen, kleine gemeinnützige Projekte und Start-ups gefördert werden sollen. Wir gehen aber eher davon aus, dass primär größere Unternehmen profitieren, auch vor dem Hintergrund, dass die meisten kleinen und mittleren Unternehmen sich eher klassisch über Kredite ihrer Hausbank finanzieren. ({5}) Zweites Argument. Das kurze Infoblatt, das bei Herausgaben im Wert von 100 000 Euro bis 8 Millionen Euro statt eines Prospekts genügt, reicht für eine fundierte Anlageentscheidung nicht aus. ({6}) Drittens. Das Grundproblem bei allen Prospekten und Infoblättern bleibt aber ihre mangelnde Standardisierung. Das gilt auch für die Risiken und Kosten. Wir Linken fordern, dass alle Infoblätter bzw. Prospekte finanzinstrumentübergreifend vergleichbar sein müssen. Das ist jetzt nicht der Fall und wird auch in dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht geregelt. ({7}) Viertens. Einen gravierenden Mangel sehen wir weiterhin bei der Sprachenregelung für Prospekte ab 8 Millionen Euro Herausgabevolumen. Um Schadensersatzansprüche vernünftig geltend machen zu können, brauchen Verbraucherinnen und Verbraucher endlich das Recht auf eine vollständige Übersetzung des Prospekts in die deutsche Sprache. Das ist auch nicht gewährleistet. ({8}) – Dann erklären Sie mal den Menschen, was sich hinter sehr juristischen Fachbegriffen auf Englisch verbirgt. Zusammenfassend lässt sich sagen: Im Kleinen gibt es zwar auch positive Aspekte in diesem Gesetzentwurf, wie die Abschaffung des unvollständigen Verkaufsprospekts. Aber Entscheidendes wird mit diesem Gesetzentwurf nicht geleistet. ({9}) Von Ihrem Vorschlag am meisten profitieren dürften die wertpapierherausgebenden Anbieter und Firmen. Die Regierung sitzt weiter der Regulierungs-Fata-Morgana auf, dass Prospekte und Infoblätter allein schon einen guten Verbraucherschutz bedeuten. Vor diesem Hintergrund ist meines Erachtens klar, wie wir zu diesem Gesetzentwurf stehen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Zdebel. – Nächster Redner: Stefan Schmidt für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Stefan Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004877, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im letzten Jahr haben wir bereits die Prospektverordnung für Unternehmen beschlossen und haben, wie ich finde, eine ausgewogene Lösung für beide Seiten gefunden, sowohl für die Unternehmen als auch für Anlegerinnen und Anleger. Im heute vorliegenden Gesetzentwurf geht es in erster Linie um Banken. Ich muss sagen: Hier kann doch noch einiges nachgebessert werden. Zuallererst ein paar Worte zur Anhebung der Schwelle von 5 Millionen auf 8 Millionen Euro, ab der die Prospektpflicht gilt. So ein Prospekt ist aufwendig, ganz klar. Ich kann aber nicht nachvollziehen, warum die Bundesregierung die neue Schwelle komplett ausreizen will; ({0}) denn die Alternative zum Prospekt ist doch das dreiseitige Wertpapier-Informationsblatt. ({1}) Das ist in meinen Augen viel zu kurz und schützt Anlegerinnen und Anleger nicht ausreichend. ({2}) Erst recht schützt dieses Wertpapier-Informationsblatt nicht, wenn das Ganze im Rahmen der Anlagenvermittlung und ohne eine Beratung stattfindet. Hier sollten wir nachbessern und endlich einen Weg finden, von der provisionsbasierten Anlagenvermittlung wegzukommen hin zu einer ausschließlichen Honorarberatung. ({3}) Ein weiterer Punkt ist die Herausgabe der Prospekte in einer internationalen Finanzsprache anstatt Deutsch. Das bekommt beim näheren Hinschauen einen bitteren Beigeschmack; denn kommt es zu einem Schadensersatzprozess, muss vor Gericht der gesamte Prospektinhalt in Deutsch vorgetragen werden. Dann übernimmt nicht der Emittent die Kosten für die Übersetzung, sondern der Anleger oder die Anlegerin muss dafür aufkommen. Können Sie mir mal erklären, wie im Falle eines Prozesses ein Kleinanleger oder eine Kleinanlegerin so einen Prospekt, manchmal 300 oder 400 Seiten stark, für mehrere Tausend Euro übersetzen lassen soll? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. ({4}) Ein letzter Punkt. Es ist für mich einfach nicht nachvollziehbar, warum es für fehlerhafte Angaben in einem dreiseitigen Informationsblatt mehr als zehn Haftungsausschlüsse geben muss. Ich erwarte von den Banken, dass in einem so kurzen Blättchen wirklich alle gemachten Angaben richtig sind. ({5}) Zusammenfassend: Nehmen wir die Interessen der Anlegerinnen und Anleger ernst, und nutzen wir die Chance, klare und einheitliche Regeln für Finanzprodukte, Informationsstandards und die Gleichheit vor dem Gesetz zu schaffen! Wir von Bündnis 90/Die Grünen haben viele konstruktive Vorschläge gemacht. Schauen Sie sich diese doch noch mal an! Dann wird das vielleicht doch noch ein guter oder sogar besserer Gesetzentwurf. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Stefan Schmidt. – Die nächste Rednerin, Sarah Ryglewski, sehen wir jetzt nicht live, weil sie ihre Rede zu Protokoll gibt. Das war die Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0}) – Tja, jetzt können Sie sich als Redner entscheiden, ob Sie vorweg einen Applaus wollen. Der nächste Redner, Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion, gibt seine Rede nicht zu Protokoll, sondern spricht. ({1})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon im vergangenen Sommer haben wir uns ja eingehend mit der Ausübung der Optionen bei der EU-Prospektverordnung auseinandergesetzt. Bei dieser Ausübung der Optionen ging es darum, Schwellenwerte zu vereinheitlichen und vor allem auch Entbürokratisierung zu erreichen. Die uns von der EU angebotenen Optionen haben wir umfänglich genutzt und haben es vermieden, über die EU-Richtlinie hinaus noch Regelungen zu treffen. Es war also eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie. Das war richtig und notwendig. In Zukunft unterliegen alle Emissionen ab einem Wert von 8 Millionen Euro der Prospektverordnung. Da müssen also umfangreiche Emissionsprospekte erstellt werden. Für Emissionen von 100 000 Euro bis 8 Millionen Euro ist zukünftig ein Wertpapier-Informationsblatt ausreichend. Zwei Punkte haben wir aber damals schon diskutiert, und auch heute müssen wir über diese zwei Punkte noch mal diskutieren. Wir haben eigentlich gebeten, diese zwei Punkte noch vor dieser Diskussion zu evaluieren, damit wir das Ergebnis der Evaluation in unsere Beratungen miteinbeziehen können. Der Evaluationsbericht war seitens des Bundesfinanzministeriums bis Anfang 2019 angekündigt. Gekommen ist leider, liebe Frau Kollegin Lambrecht, noch kein Evaluationsbericht. Dieser sollte schnell nachgeliefert werden. Zum einen geht es um die Frage der Einzelanlageschwellen für sogenannte nicht qualifizierte Anleger, also für Privatanleger. Um Privatanleger zusätzlich zu schützen, gibt es diese Schwellen. Aber bei prospektfreien Anlagen zwischen 1 Million und 8 Millionen Euro – der Kollege Hauer hat es ausgeführt – können, je nach Höhe der Anlage, nur 1 000 Euro oder maximal 10 000 Euro investiert werden. Diese Einzelanlageschwellen sind unserer Meinung nach nicht richtig. Deswegen sollten wir sie anheben oder gar abschaffen. ({0}) Wir haben darüber mit der SPD eine Diskussion geführt. Die SPD ist hier für eine Beibehaltung, wir sind für eine Abschaffung. Deshalb sollte diese Frage ja evaluiert werden. Übrigens gibt es diese Einzelanlageschwellen in anderen Ländern der Welt gar nicht. Wenn heute ein vermögender und erfahrener Anleger investieren will, dann hat auch er nur die Möglichkeit, 1 000 Euro zu investieren. Die zweite Frage, die offen ist – sie war auch damals wesentlich –, ist die Frage der GmbHs. Kleinere und mittlere Unternehmen sollten in die Vereinfachungsregelung einbezogen werden. Wenn man den Zugang zu Investitionen für GmbHs verbessern will, also die Start-up-Szene und Crowdfunding stärken will – in Deutschland gibt es hier eine Bewegung, die wir unterstützen sollten –, dann müssen wir darüber reden, ob nicht auch hier Erleichterungen vorgenommen werden können. Nach dem jetzigen Stand können von Aktiengesellschaften Emissionen bis 8 Millionen Euro ohne Prospekt auf den Markt gebracht werden, bei GmbHs nur bis 100 000 Euro. Das ist ein Verhältnis von 1 : 80. Deswegen ist es notwendig, dass wir die Evaluation hierzu abwarten, sie diskutieren und dann nachbessern. Denn gerade bei GmbHs haben die Anleger noch mehr Einwirkungsmöglichkeiten, noch mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten. Insofern müsste das eben genannte Verhältnis zwischen AGs und GmbHs eigentlich eher andersrum sein. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Evaluation ist deswegen notwendig. Wenn wir in die nächste Beratung gehen, brauchen wir die Evaluation, damit wir Lösungen für die beiden grundsätzlichen Fragen miteinander bestimmen können. Ich möchte nicht einem Gesetz zustimmen, mit dem wir Existenzgründer und Start-ups aus dem Land herausbringen, weil hier eben nicht investiert werden kann, ({2}) sondern ich möchte ein Gesetz, mit dem Start-up-Unternehmen und Existenzgründer gefördert werden. ({3}) Deswegen wollen wir die Evaluation schnell bekommen und sie dann in den Gesetzentwurf miteinbeziehen, damit wir eine Stärkung des deutschen Mittelstands und der deutschen Wirtschaft erreichen. Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sebastian Brehm. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/8005 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Frank Müller-Rosentritt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das von Deutschland ausgegangene schlimmste Menschheitsverbrechen, die Shoah, brachte über 6 Millionen Jüdinnen und Juden den Tod. Sie machte Millionen zu Flüchtlingen ohne Heimat. Bei der Gründung des Staates Israel 1948 entstand ein jüdischer demokratischer Staat, eine neue Heimat für Millionen Juden. Deutschlands beispiellose historische Verantwortung für Israel erklärte die Bundeskanzlerin 2008 vor der Knesset zum Teil der deutschen Staatsräson. Dafür hat sie die vollste Unterstützung der Fraktion der Freien Demokraten hier im Deutschen Bundestag. ({0}) Auch Bundesaußenminister Heiko Maas wird gern mit dem Satz zitiert, er sei wegen Auschwitz in die Politik gegangen. Er bezieht regelmäßig Position gegen Antisemitismus. Auch dafür erhält er die vollste Unterstützung der Fraktion der Freien Demokraten hier in diesem Hohen Haus. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich lade Sie dazu ein, heute in diesem Parlament über Parteigrenzen hinweg ein klares Zeichen in die Welt zu setzen, indem wir alle zusammen die Bundesregierung zur praktischen Umsetzung unserer besonderen Verantwortung für Israel auffordern. ({2}) Seit Jahrzehnten instrumentalisieren zahlreiche Mitgliedstaaten die UN, um Israel zu delegitimieren, und sie sind damit seit Jahrzehnten auch erfolgreich, nicht zuletzt aufgrund der deutschen und europäischen Unterstützung. Wir reden hier von der Delegitimierung des einzigen demokratischen Staates im gesamten Nahen Osten, der von zahlreichen Feinden umgeben ist, die ihm das Existenzrecht absprechen. Doch Israels Existenzrecht darf für keinen von uns in diesem Hohen Hause jemals zur Debatte stehen. ({3}) Im vergangenen Jahr verabschiedete die UN-Generalversammlung insgesamt 26 Resolutionen, in denen sie Staaten verurteilt, weil sie vermeintlich gegen Grundsätze der Vereinten Nationen verstoßen. Doch nicht etwa Diktaturen oder Bürgerkriegsländer, in denen Menschenrechte Tag für Tag auf schlimmste Art und Weise verletzt werden, sind häufigster Gegenstand dieser Resolutionen. Nein, in sage und schreibe 21 von 26 Resolutionen des vergangenen Jahres wird einzig und allein Israel verurteilt. Und Deutschland? Deutschland stimmte in 16 Fällen zu. Länder wie Syrien, Nordkorea oder Iran waren der Generalversammlung lediglich je eine Verurteilung wert. Meine Damen und Herren, jedes Jahr verabschieden die Vereinten Nationen mehr Resolutionen gegen Israel als gegen alle anderen Staaten dieser Welt zusammen. Leute, das ist absurd! ({4}) Legte man die Beschlüsse der UNO zugrunde, wäre Israel der schlimmste Menschen- und Völkerrechtsverletzer dieser Welt, weit vor allen diktatorischen Regimen. Während die Bundesregierung derzeit regelmäßig das Regime im Iran hofiert, lässt sie bei den Vereinten Nationen jede Unterstützung für Israel vermissen. Durch die überwiegende Zustimmung der Bundesregierung zu einseitig antiisraelischen Resolutionen verkommt für mich die deutsche Staatsräson international gegenüber Israel zur Floskel. So kann es nicht weitergehen. Lassen Sie uns also heute Abend gemeinsam ein Zeichen setzen und zeigen, wie stark dieses Parlament hier ist. Es ist Zeit, dass Deutschland bei der UNO sein Abstimmungsverhalten ändert. Geben Sie heute Abend der Bundesregierung dafür einen ganz klaren Handlungsauftrag. ({5}) Andere Demokratien zeigen, dass es anders geht, allen voran unsere kanadischen Freunde mit dem liberalen Premierminister Trudeau. Kanada hat sich nämlich der Verurteilungswelle gegen Israel im letzten Jahr nicht mehr angeschlossen. Auch Deutschland und die EU müssen diesen Weg gehen. Geben Sie der Bundesregierung für diesen Weg heute ein klares Mandat! Israel darf bei aller berechtigten Kritik an der aktuellen Regierung in Israel nicht länger mit anderen Standards gemessen werden als alle anderen Länder. Ich weiß, dass auch zahlreiche Kollegen anderer Fraktionen, insbesondere der CDU/CSU – lieber Roderich Kiesewetter, lieber Norbert Röttgen –, mit diesem Abstimmungsverhalten überhaupt nicht glücklich sind. Deshalb lade ich heute euch dazu ein, die Chance zu nutzen, daran etwas zu ändern. ({6}) Lassen Sie uns heute Abend der Bundesregierung einen klaren Handlungsauftrag geben, das Abstimmungsverhalten der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Israel bei der UNO zu ändern und die deutsche Staatsräson gegenüber Israel endlich mit faktischem Handeln zu unterlegen. Damit kann die Regierung gleich nächsten Montag beginnen, wenn im UN-Menschenrechtsrat acht Resolutionen abgestimmt werden, von denen sich schon wieder fünf allein gegen Israel richten. ({7}) Es liegt in Ihrer Hand, das heute Abend zu ändern. Geben Sie dieser Bundesregierung ein ganz klares Mandat! Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Müller-Rosentritt. – Nächster Redner: Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor fast genau einem Jahr haben wir in unserem Parlament sehr würdig den 70. Jahrestag der Gründung Israels begangen. Wir haben dazu einen gemeinsamen Antrag der Koalition und der FDP verabschiedet. Das Parlament hat diesem Antrag bei Enthaltung einer Fraktion fraktionsübergreifend zugestimmt. Dieser Antrag ist nach wie vor gültig und in jeder Hinsicht umsetzbar. In diesem Antrag steht auch: Die sichere Existenz Israels gehört zur Staatsräson unseres Landes und ist für uns nicht verhandelbar. – Und das bleibt so. ({0}) Wir schützen in internationalen Organisationen Israel und israelische Interessen vor ungerechtfertigten Angriffen. Im nächsten Monat übernimmt die Bundesrepublik Deutschland den Vorsitz im Weltsicherheitsrat. Auch dort stehen Themen aus dem Nahen und Mittleren Osten ganz oben auf der Tagesordnung. Und wir sind uns bewusst, dass wir Israel fördern und stützen müssen im Rahmen seiner Repräsentanz in internationalen Organisationen. Ich glaube, dafür steht jede Fraktion in diesem Hause ein, ganz besonders aber die Union. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antrag der FDP beinhaltet einige Punkte, die Beachtung verdienen. Es ist zutreffend: Die Generalversammlung der Vereinten Nationen und der Internationale Menschenrechtsrat haben ein sehr, sehr einseitiges Abstimmungsverhalten. Aber was folgt denn daraus? Der Antrag der FDP enthält einige sehr erstaunliche Formulierungen. Ich habe noch nie einen Antrag zu außenpolitischen Fragen im Bundestag gesehen, der sich ausschließlich auf Zahlen, auf quantitative Erhebungen stützt. Es geht hier nur um die Anzahl der Anträge. Der Antrag enthält aber kein Wort in Richtung einer Beurteilung des Nahostfriedensprozesses, nicht eine Anmerkung zum Scheitern des Nahostfriedensprozesses, nicht eine Anmerkung dazu, warum die Palästinenser radikal eine Internationalisierungsstrategie fahren, indem sie insbesondere Staaten des Globalen Südens instrumentalisieren für ihre israelkritische Position. Die FDP fordert jetzt in ihrem Antrag, dass wir die Rolle Kanadas übernehmen sollen. ({2}) Kanada hat einen Nachbarn im Süden und im Norden den Nordpol. Wir haben als Land in der Mitte Europas die Verantwortung, eine gemeinsame europäische Position zu erarbeiten. Kritisch ist – das wissen wir selbst –, dass es in der Europäischen Union eine ganze Reihe von Staaten gibt, die sich in den letzten Jahren palästina­freundlich und israelgegnerisch oder gar israelfeindlich aufgestellt haben. ({3}) Unsere Aufgabe ist es doch nicht, aus diesen Verträgen auszusteigen und abstinent zu werden, uns quasi eine weiße Weste zu machen, sondern es ist unsere Aufgabe, uns in die Bresche zu werfen, für Israel Stimmungen aufzunehmen, mit Israel kritisch über die Siedlungspolitik zu sprechen ({4}) und auf der anderen Seite nicht zuzulassen, dass die Vereinten Nationen dauerhaft instrumentalisiert werden von einer völlig konfusen palästinensischen Politik. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten deshalb mit kühlem Kopf an diesen Antrag gehen. Wir sollten uns als Bundestag auf das beziehen, was wir vor einem Jahr zum 70. Jahrestag parteiübergreifend verabschiedet haben, und uns nicht instrumentalisieren lassen durch eine rein quantitative Erhebung, was in welchen Anträgen abgeht. Für uns ist vielmehr wichtig, dass wir erstens innerhalb Europas für eine israelfreundliche Stimmung sorgen und zweitens die Bedenken, die gegen Israel vorgetragen werden, Israel gegenüber deutlich machen, ({6}) uns dabei aber ganz klar in der Form positionieren: Das Existenzrecht Israels und auch eine Zweistaatenlösung sind für uns nicht verhandelbar. – Deshalb lassen wir uns auch nicht instrumentalisieren. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung des Kollegen von der FDP-Fraktion? ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich erlaube ich das. Wir wollen doch eine lebendige Debatte, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Kiesewetter. – Lieber Roderich, du hast ja soeben die Sicherheit des Staates Israel angesprochen. Mich würde in dem Zusammenhang interessieren, weil du das eben so betont hast, was eigentlich genau die außenpolitische Linie dieser Bundesregierung ist. Ich nenne mal ein Beispiel: Am Vormittag wird im Plenum seitens der Bundesregierung erzählt: Wir stehen an der Seite Israels. – Am Abend desselben Tages gehen Vertreter dieser Bundesregierung in die iranische Botschaft und feiern 40 Jahre islamische Revolution. – Was ist eigentlich die Position Ihrer Bundesregierung? Wofür stehen Sie, und was konkret tun Sie für die Sicherheit des Staates Israel? ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Kollege Djir-Sarai, lieber Bijan. – Das genau ist der Punkt. Bei Ihnen haben wir nur die Wahl zwischen Schwarz und Weiß. Wenn ein Staat ein Jubiläum hat, dann gilt es, das auf diplomatischer Ebene angemessen anzunehmen. ({0}) Aber bei Israel geht es darum, dass wir das Existenzrecht Israels, das durch den Iran gefährdet wird, eindeutig schützen und die Art und Weise, wie der Iran das Existenzrecht Israels gefährdet, ansprechen, auch bei Veranstaltungen anlässlich eines Jubiläums. Ich sitze nicht auf der Regierungsbank. Ich bin Parlamentarier, und ich vertrete hier die Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Und dazu gehört, dass wir alles tun müssen, damit im Nahen und Mittleren Osten der Friedensprozess wieder in Bewegung kommt. Dazu gehört auch, dass wir die Gesprächskanäle offen halten, lieber Kollege Djir-Sarai, auch zum Iran. Deshalb müssen wir alles tun, damit die Stimme Israels eine starke Unterstützung erfährt, genauso wie wir die berechtigten Anliegen und die berechtigte Kritik an Israel rüberbringen müssen. Die Herausforderung, vor der wir angesichts Ihres Antrages stehen, ist: Sie geben diesem Parlament keine Chance, ihn zu beraten, weil Sie Sofortabstimmung beantragen. Das ist der eigentliche Fehler Ihres Antrages. – Herzlichen Dank. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will den Gedanken aber aufgreifen. Entscheidend ist, dass wir aus diesem Hause ein klares Signal nach Tel Aviv und nach Jerusalem senden, dass wir an der Seite Israels stehen, dass wir aber auch die Interessen Israels in den internationalen Verhandlungen wahren. Israel erkennt unsere Teilhabe in den internationalen Verhandlungen an, weil wir den größten Schaden aus den Verhandlungen heraushalten. Das ist unsere Aufgabe, und das machen wir nicht, indem wir uns dort zurückhalten. Abschließend sage ich: Wir lehnen Ihren Antrag ab, weil Sie uns keine Chance zur Mitberatung geben, weil Sie auf Sofortabstimmung bestehen. In diesem Sinne: Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihr Antrag enthält viele gute Punkte. Lassen Sie uns im Laufe des Jahres einen neuen Anlauf nehmen. Lassen Sie uns aber vor allen Dingen nicht zurückfallen hinter den Antrag, den wir mit breiter Mehrheit im Frühjahr letzten Jahres verabschiedet haben. Herzlichen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Roderich Kiesewetter. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Dr. Anton Friesen. ({0})

Dr. Anton Friesen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004720, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Zuhörer! Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar. Und wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben. So sprach Bundeskanzlerin Merkel vor der Knesset im Jahre 2008. Mehr als zehn Jahre später sekundierte Außenminister Maas, dass der Platz Deutschlands immer an der Seite Israels sein werde. Meine Damen und Herren, nirgendwo wird der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Schein und Sein so deutlich wie in der deutschen Israel-Politik. ({0}) Solidaritätsbekundungen gibt es umsonst. Man kann sich aber nichts dafür kaufen; denn jenseits der wohlfeilen Worte stimmt Deutschland gegen Israel, wenn es hart auf hart kommt. In der Stunde der Bewährung braucht kein Hahn dreimal zu krähen, bis Deutschland die eigene Staatsräson verrät. ({1}) 2018 hat Deutschland in der UN-Generalversammlung 16 antiisraelischen Resolutionen zugestimmt und sich bei vier weiteren enthalten – von insgesamt 21 Resolutionen gegen Israel. Nicht anders ist auch das Bild im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, in dem solche illustren Menschenrechtsverteidiger wie China, Kuba, Pakistan und Saudi-Arabien Mitglieder sind. Auch dort bekommt Israel den Großteil der Verurteilungen ab, und Diktaturen kommen einfach davon. Oft wird von Vertretern der Bundesregierung gesagt, man wolle ja Schlimmeres verhindern und müsse daher bei solchen Machwerken mitmachen. Das ist genau die gleiche Argumentation wie die, dass man sich einer Straßengang anschließt, um diese unter Kontrolle zu halten. ({2}) Wann folgt denn die erste Resolution, die die Hamas verurteilt, Herr Außenminister? Angeblich wolle Deutschland sich einem Resolutionsentwurf der Vereinigten Staaten anschließen, wie es auf meine Nachfrage im Unterausschuss Vereinte Nationen hieß. Man darf gespannt sein. Und überhaupt: Fällt Ihnen, fällt diesem Hohen Hause etwas auf? Fällt Ihnen auf, wie wohlfeil Solidaritätsbekundungen nach außen sind, wenn man nicht in der Lage ist, diesen im eigenen Lande Taten folgen zu lassen? Außenpolitik fängt im Inneren an. Israel wird am Brandenburger Tor verteidigt. ({3}) Es ist eine bittere Ironie, nein, es ist Zynismus der Geschichte, dass ausgerechnet Deutschland eine Migrationspolitik betreibt, die den massenhaften Import von islamischem Antisemitismus ermöglicht. ({4}) Schon jetzt werden israelische Flaggen verbrannt, Kippa-Träger werden auf offener Straße angepöbelt, und Synagogen werden angegriffen. Wir sagen: Gebt Judenhass keine Chance. Wir wollen keine französischen Verhältnisse in Deutschland. ({5}) Wir müssen in Deutschland jegliche Form des Antisemitismus bekämpfen. Das ist für mich als Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft ein Herzensanliegen. ({6}) Aber ganz besonders müssen wir uns um die am schnellsten wachsende Form kümmern, und das ist der islamische Antisemitismus. ({7}) Radikale Imame gehören ausgewiesen, ausländische Moscheefinanzierung muss gestoppt werden, und die muslimische Masseneinwanderung muss beendet werden. ({8}) Wir sollten und wir müssen im Inneren anfangen, damit wir nach außen glaubwürdig sind. ({9}) Vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner: Dr. Nils Schmid für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Nils Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Friesen, bevor Sie sich hier als Vorkämpfer gegen Antisemitismus aufspielen, sollten Sie erst einmal in Ihren eigenen Reihen für Ordnung sorgen. ({0}) Ausgewiesene Antisemiten sitzen für die AfD in Landtagen, zum Beispiel in Baden-Württemberg – nur damit das einmal klar ist. Daher brauchen wir von Ihnen keine Krokodilstränen zum Thema Antisemitismus. ({1}) Die FDP hat einen Antrag gestellt, der aus meiner Sicht die große Einigkeit in diesem Hause zum Thema Israel, die anlässlich des 70‑jährigen Geburtstags der Staatsgründung noch einmal dokumentiert worden ist, leider etwas beiseiteschiebt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich habe mich schon ein bisschen über diesen Antrag gewundert; denn dahinter steckt der Versuch, die Standhaftigkeit der Regierung in ihrer Freundschaft zu Israel zu relativieren. Sie haben in Ihrer Rede ja selber darauf hingewiesen, Herr Müller-Rosentritt. Sie unterstellen einer Regierung, deren Bundeskanzlerin das Existenzrecht Israels zum Teil der deutschen Staatsräson erklärt hat und deren Außenminister wegen Auschwitz in die Politik gegangen ist, dass sie die Interessen Israels zu wenig berücksichtigt. Diese Unterstellung muss ich für die Regierung – und übrigens auch für die Vorgängerregierungen unter liberaler Regierungsbeteiligung – entschieden zurückweisen. ({2}) Denn im Kern geht es doch darum, wie wir in diesen internationalen Formaten, die Sie zu Recht angesprochen haben und die eine Schlagseite zulasten von Israel haben, ({3}) diesen Auftrag, dem wir uns alle verpflichtet fühlen, am besten umsetzen. Ich halte es für eine gute Übung der deutschen Regierung und für eine Selbstverständlichkeit, dass sich auch diese Bundesregierung grundsätzlich im EU-Rahmen an Verhandlungen über Resolutionen der UNO oder der Unterorganisationen der UNO beteiligt. Genau das entspricht ja unserem Ansatz einer multilateralen Ordnung, einer Stärkung von multilateralen Organisationen und einer regelbasierten Weltordnung. Das muss auch für die UN gelten – mit allen Unzulänglichkeiten, die sie hat und die ja gerade dann zutage treten, wenn bei den knapp 200 Staaten dieser Welt mit jeweils einer Stimme insbesondere in Fragen, bei denen es um Israel geht, diese Einseitigkeit entsteht. Trotzdem ist sie das beste verfügbare multilaterale Instrumentarium, das wir haben. Deshalb ist es richtig, dass Deutschland auf Dialog und Bereitschaft zur Auseinandersetzung auch mit gegensätzlichen Positionen in diesen Foren setzt und dass Deutschland sich im Rahmen der EU und dann auch im Rahmen der UNO dafür einsetzt, einen Konsens herzustellen und dort, wo es geht, auch israelische Positionen und Anliegen möglichst weitgehend einzubringen. Ein fehlender EU-Konsens würde die Dinge auch nicht besser machen. Wenn wir innerhalb der EU keine einheitliche Position hätten, dann könnten wir erst recht nicht das, was uns wichtig ist, im UN-Format einbringen. Deshalb würde das die Haltung der EU und die Verhandlungsposition in den multilateralen Foren schwächen. Eines ist auch klar: Sollten Resolutionstexte das Existenzrecht Israels negieren, wäre das immer eine rote Linie. Das haben wir auch in diesen Verhandlungen stets durchgehalten. ({4}) Sowohl die israelische Seite als auch die palästinensische Seite haben uns immer wieder signalisiert, dass diese Aufgabenwahrnehmung durch Deutschland durchaus Anerkennung findet. Die israelische Seite hat auch immer wieder ausdrücklich den Einsatz deutscher Regierungen, in diesen Formaten auf eine vernünftige Beschlussfassung hinzuwirken, anerkannt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, deshalb halte ich Ihren Antrag in der Stoßrichtung für überzogen. Wir müssen ihn leider ablehnen. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Schmid. – Nächster Redner für die Fraktion Die Linke: Stefan Liebich. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Um es gleich vorweg zu sagen: Es ist natürlich absurd, wenn die übergroße Zahl der Verurteilungen von Menschenrechtsverletzungen in der UN-Generalversammlung oder im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen sich mit Israel befasst. Es ist bitter, wenn die Anträge hierfür von Regierungen solcher Staaten kommen, die zu diesem Thema besser ganz still wären. ({0}) Ich verstehe wirklich jeden und jede in Haifa oder in Tel Aviv, die sich darüber aufregen. Nun hat die FDP einen Vorschlag gemacht, wie man damit umgehen soll. Er geht aus meiner Sicht aber in die falsche Richtung. Ich schließe mich hier ein bisschen der Argumentation von Roderich Kiesewetter an. Wir können doch das Missverhältnis der Resolutionen nicht dadurch lösen, dass wir die deutsche Bundesregierung auffordern, künftig Anträgen, die sie richtig findet, nicht mehr zuzustimmen, nur weil eine bestimmte Anzahl überschritten ist. Es muss doch um den Inhalt und nicht um die Anzahl gehen. ({1}) Es gibt dafür übrigens einen anderen Weg. Es wäre doch viel besser, Deutschland brächte selbst aktiv Anträge ein gegen Menschenrechtsverletzungen, zum Beispiel bezogen auf den Iran – da gibt es gerade einen aktuellen Anlass, nämlich die Verurteilung einer Menschenrechtsanwältin zu einer langen Haftstrafe und Peitschenhieben – und auf Saudi-Arabien, wo kritische Blogger verurteilt werden, oder Anträge gegen die Todesstrafe in Vietnam, in Japan, in China oder in Bundesstaaten der Vereinigten Staaten von Amerika. ({2}) Überall mit ein und demselben Maßstab messen, das sollte die Richtschnur sein – aber davon ist die Bundesregierung leider weit entfernt. Mir ist allerdings auch wichtig – das will ich hier auch nicht verschweigen –, dass wir aufpassen, dass die UN-Debatte nicht von einer anderen Debatte ablenkt. Ich habe bei manchen Akteuren aus der israelischen Regierung das Gefühl, dass genau das passieren soll. Es gibt ja einige in Israel, die es anders sehen. Wir hatten kürzlich ein Gespräch – einige von Ihnen auch; Herr Müller-­Rosentritt hat ihn ebenfalls getroffen – mit dem langjährigen Botschafter Israels, Ilan Baruch. Er hat uns genau davor gewarnt; er warnte uns nämlich vor Ablenkmanövern, die die Kritik am israelischen Besatzungsregime in den Palästinensergebieten disqualifizieren sollen. Um den Bogen weiter zu spannen: Da geht es nicht mehr nur um die UNO, sondern auch um die Europäische Union. ­Baruch hat gesagt, die Regierung von Benjamin ­Netanjahu versucht mit den rhetorischen Attacken auf die EU, die wirklich zentralen Themen von der Agenda zu wischen, nämlich dass es einen palästinensischen Staat nur geben wird, wenn Israel die Siedlungen in der Westbank räumt. ({3}) Netanjahu, der gerade wegen Bestechlichkeit, Betrug und Untreue angeklagt wurde, hat sich längst von dem Ziel der Bildung von zwei lebensfähigen Staaten verabschiedet. Unsere Partei, Die Linke, verteidigt das Existenzrecht Israels gegenüber jedermann und tritt für die Bildung und Anerkennung eines Staates Palästina, wie sie die UNO beschlossen hat, ein. ({4}) Die Zeiten sind nicht gut für eine Zweistaatenlösung. Aber wir dürfen sie nicht aufgeben; denn es gibt keine bessere Alternative. Zurück zum Antrag der FDP. Sie schlagen ja auch vor, dass die Bundesregierung sich in der EU besser koordinieren soll, damit man dort zu einem gemeinsamen Abstimmungsverhalten kommt. Hier ist Israel auch interessant; denn es ist gerade Israel, das – absurderweise über die ungarische Orban-Regierung – immer wieder versucht, diese Gemeinsamkeit zu zerstören. Ja, ich finde, Israel hat eine faire Behandlung verdient, es sollte nicht nach anderen Standards behandelt werden als andere Länder – nicht schlechter, aber auch nicht besser. Aus verständlichem Ärger über das bisherige Agieren in der UNO nun aber die UNO pauschal abzuwerten oder gar UNO-Teilorganisationen wie die UNESCO zu verlassen, das halte ich für den falschen Weg. Ich hätte Ihren Antrag gerne im Ausschuss diskutiert. Das wollen Sie nicht. Deswegen muss man den Verdacht haben, dass es hier um ein reines Symbol geht. Dem werden wir nicht folgen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Stefan Liebich. – Nächster Redner für Bündnis 90/Die Grünen: Omid Nouripour. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der FDP gründet auf einer Überzeugung, die meine Fraktion teilt: dass Deutschland unverbrüchlich für die Sicherheit und das Existenzrecht Israels einsteht, ohne Wenn und Aber. ({0}) Diese Verpflichtung erwächst aus der Wertegemeinschaft der Demokratien, und sie erwächst aus den Lehren aus dem dunkelsten Kapitel der Geschichte unseres Landes, nämlich der industriellen Vernichtung von Millionen von Jüdinnen und Juden in der Shoah. Die Geburt des Staates Israel war auch eine Antwort genau auf diese Katastrophe. Meine Damen und Herren, die Vereinten Nationen sind als Lehre aus zwei Weltkriegen gegründet worden. Sie sind der wichtigste und erfolgreichste Ansatz, um Konflikte in der Weltgemeinschaft friedlich zu regeln. Das gelingt ihnen viel zu oft nicht. Aber sie haben Beachtliches geleistet. ({1}) Unsere Antwort auf diese Probleme muss deshalb sein, diese Institution besser zu machen, sie zu stärken und bessere Lösungen zu finden. ({2}) Sie haben dazu in Ihrem Antrag viele richtige Ansätze. Ja, die Zahl der VN-Beschlüsse, die sich mit Israel befassen, ist in der Tat absurd, wenn man es mit anderen Staaten vergleicht. Und wenn der Iran und Saudi-Arabien mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Israel zeigen, dann bräuchten sie weit mehr als die vier anderen Finger, um auf sich selbst zu zeigen. – Daran müssen wir etwas ändern. ({3}) Trotzdem werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen können. Ich zitiere aus dem Antrag. Sie fordern, „das eigene nationale Abstimmungsverhalten daran auszurichten, dass Länder aufgrund faktischer Basis und eines auf den Völker- und Menschenrechten fußenden einheitlichen Maßstabes für ihr Handeln verurteilt werden“. Das heißt, Sie wollen das Abstimmungsverhalten danach richten, wie der Maßstab in Gebrauch eigentlich ist. Aber es gilt das materielle Völkerrecht und nicht ein neuer, einheitlicher Maßstab ({4}) Was Sie da aufschreiben, würde bedeuten, dass in letzter Instanz Vetomächte wie Russland und China am Ende des Tages über unsere Menschenrechtspolitik in den Vereinten Nationen entscheiden. Wenn Russland eine Resolution des Sicherheitsrates zur Krim blockiert, dürfen wir dann nichts mehr zur Lage im Jemen sagen? Wenn China wegen Tibet etwas blockiert, dürfen wir uns dann nicht mehr mit Venezuela befassen? Das ist das, was sich aus dem Text Ihres Antrages ergibt, und das ist keine Politik, die die Vereinten Nationen stärkt. ({5}) Ich hätte mir gewünscht, dass wir die Chance bekommen, das miteinander zu diskutieren und möglicherweise zu heilen. Die Tatsache, dass Sie auf Ausschussberatungen tatsächlich jetzt verzichten, verunmöglicht das. Deshalb werden wir uns heute enthalten. ({6}) Die Vereinten Nationen brauchen dieser Tage unsere Unterstützung. Nicht jede Kritik an den Vereinten Nationen ist so richtig wie die Kritik, die Sie in Ihrem Antrag formulieren. Für Donald Trump und viele Nationalisten ist die Frage der Unwucht in der Befassung der Vereinten Nationen mit Israel eigentlich nur ein Instrument von vielen, um die Vereinten Nationen und um den Multilateralismus zu verunglimpfen. Dem können wir nicht folgen. ({7}) Es bleibt uns nichts anderes übrig, als mit dem sehr schwierigen Geschäft der Vereinten Nationen die bestmöglichen Lösungen zu finden. Das gilt im Übrigen auch für den israelisch-palästinensischen Konflikt. Die Verrechtlichung durch die Vereinten Nationen ist ein Beitrag, um perspektivisch zu einer Lösung zu kommen. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir auch in den Vereinten Nationen die Besatzungspolitik und den völkerrechtswidrigen Siedlungsbau durch Israel als Hindernisse auf dem Weg zum Frieden klar verurteilen – so wie den Terror der Hamas oder die verheerende Lage der Bürgerrechte unter der PA auch. Es ist richtig, dass wir diskutieren, wie wir Israel in den Vereinten Nationen vor bigotten Anschuldigungen schützen. ({8}) Aber eines dürfen wir dabei nicht tun, nämlich den Trumps dieser Welt helfen, die Vereinten Nationen zu schwächen. Denn ohne die Vereinten Nationen würde unser Bekenntnis zur universalen Geltung der Menschenrechte im luftleeren Raum verhallen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Omid Nouripour. – Nächster Redner: Dr. Andreas Nick für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Existenzrecht Israels ist für uns unumstößlich und ein Pfeiler deutscher Politik. Unser Ziel ist ein Leben aller Menschen im Nahen und Mittleren Osten ohne Angst und in Würde. Deutschland wird sich weiter für eine Lösung des Nahostkonflikts auf Basis einer Zweistaatenlösung einsetzen. So ist der zentrale Bezugspunkt deutscher Nahostpolitik im aktuellen Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD klar beschrieben. Daran hat sich selbstverständlich auch das deutsche Abstimmungsverhalten in den Vereinten Nationen zu orientieren. Wir handeln in den Vereinten Nationen gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union und auf der Grundlage abgestimmter EU-Positionen. Wir tun dies in der Kontinuität deutscher Außenpolitik, für die nicht zuletzt auch große liberale Außenminister wie Hans-Dietrich Genscher und der unlängst verstorbene Klaus Kinkel stehen. Ich hoffe doch sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP – wenn Sie vielleicht auch mal zuhören könnten, Graf Lambsdorff –, ({0}) dass dieser Antrag am Ende nicht so zu verstehen ist, dass die heutige FDP sich aus dieser Kontinuität deutscher Außenpolitik in Nahost verabschieden möchte. Denn mit Ihrem Antrag verhält es sich ein wenig so wie mit einem Eisberg: Das eigentlich Problematische verbirgt sich unter der Wasseroberfläche. Denn den Subtext zu Ihrem Antrag, den liefern andere. So ist in einschlägigen Publikationen unter Bezugnahme auf die diesem Antrag vorangegangene Anfrage, Herr Müller-Rosentritt, von Ihnen, davon die Rede, die Bundesregierung setze – das zitiere ich jetzt wörtlich – „ihren internationalen Kampf zur Delegitimierung Israels bis zum Endsieg“ – Ende des Zitats – fort. ({1}) Sie sollten sich schon einmal fragen, für wen und für was Sie hier eigentlich die Stichworte liefern! ({2}) Damit schaden Sie nur Ihrem durchaus berechtigten Anliegen, die Rolle Israels in den Vereinten Nationen zu stärken. Denn darin stimmen wir – das ist in dieser Debatte ja schon deutlich geworden – in diesem Hause weit überwiegend überein. So haben wir es vor weniger als einem Jahr in dem Antrag „70 Jahre Gründung des Staates Israel …“ beschlossen mit der Formulierung, dass wir „Israel und legitime Interessen Israels in internationalen Organisationen vor einseitigen Angriffen … schützen“ wollen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Dr. Nick, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Herrn Müller-Rosentritt?

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön, Herr Müller-Rosentritt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Müller-Rosentritt, bitte.

Frank Müller-Rosentritt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie haben mich ja gerade zitiert, sehr geehrter Herr Kollege. Könnten Sie bitte die Quelle des Zitates nennen? Denn mir ist nicht bewusst, dass ich im Leben jemals solche Wörter verwendet habe. Das liegt mir völlig fern.

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann hätten Sie mir richtig zuhören sollen, statt sich in Gespräche zu vertiefen. Ich habe nicht Sie zitiert ({0}) – zuhören, Otto –, sondern ich habe gesagt: Sie liefern die Stichworte für andere. Ich habe gesagt: In einschlägigen Publikationen ist unter Bezugnahme auf Ihre Anfrage davon die Rede. – Dann habe ich dieses Zitat gebracht. ({1}) Wir haben ja auch hier in der Debatte erlebt, wie man mit Bezug auf Ihre Beiträge hier andere Argumentationen verwendet. Hätten Sie es uns erspart, eine Diskreditierungsstrategie gegenüber der Bundesregierung mit Ihrem Antrag zu verbinden, hätten wir darüber in der Sache doch vernünftig miteinander reden können. ({2}) Dass Sie eine Sofortabstimmung beantragt haben, zeigt ja, dass Sie an einer sachlichen Beratung im Ausschuss nicht interessiert sind. Sie müssen sich auch die Frage gefallen lassen, ob Sie mit der Beantragung der namentlichen Abstimmung eigentlich nur die Grundlage für die nächste Verhetzungsstrategie gegen diejenigen Kollegen des Hauses legen wollen, die diesem Antrag heute aus guten Gründen nicht zustimmen. ({3}) – Das habe ich auch niemals behauptet, Herr Müller-­Rosentritt. Da müssen Sie einfach zuhören. ({4}) – Es ist im Protokoll sicherlich eindeutig zu erkennen, was ich zitiert habe. Wenn Sie – auch zu dieser fortgeschrittenen Tageszeit – nicht zuhören können, dann tut es mir leid. Lesen Sie es bitte im Protokoll nach. Es ist von mir völlig eindeutig artikuliert worden. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So, jetzt geht Ihre Rede weiter.

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist wahr: Israel hat in den Vereinten Nationen einen schweren Stand. Die Mehrheitsverhältnisse zugunsten des eher israelkritischen globalen Südens, jedenfalls in der Generalversammlung, verursachen geradezu ein systemimmanentes Problem in den Vereinten Nationen; denn dies wird instrumentalisiert und führt zu zahlreichen unausgewogenen Anträgen. Unser Ziel ist es, dass Israel wie jedes VN-Mitglied behandelt und nicht einseitig pauschal verurteilt wird. Wir unterstützen Israel dabei, als vollwertiges Mitglied der Vereinten Nationen anerkannt zu werden und eine aktive Rolle in den VN wahrzunehmen. Jetzt reden wir doch mal über die Praxis dieser Antragsberatung, auf die Sie sich beziehen. Es ist doch so: Die palästinensische Seite ist regelmäßig bereit, israelkritische Resolutionsinhalte deutlich abzuschwächen, wenn im Gegenzug auch eine Zustimmung durch die EU-Mitgliedstaaten stattfindet. Gerade deshalb – auch das gehört zur Wahrheit – kommt die israelische Regierung regelmäßig auf uns zu, um ihre konkreten Anliegen an uns heranzutragen, damit wir diese in den Verhandlungsprozess für diese Resolutionen einbringen. Das festzustellen, gehört zur intellektuellen Redlichkeit. ({0}) Unser Verhalten in dieser Frage orientiert sich an klaren Kriterien. Sie müssen mit den Positionen der EU vereinbar sein. Sie dürfen Unterorganisationen nicht unnötig politisieren und instrumentalisieren. Selbstverständlich sind Resolutionstexte, die das Existenzrecht Israels negieren oder infrage stellen, für uns immer eine rote Linie. Dafür brauchen wir Ihren Antrag nicht. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Nick. – Nächster Redner in der Debatte: Frank Schwabe für die SPD-Fraktion. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich weiß wirklich nicht, was Sie sich bei dieser Debatte gedacht haben. Wenn Sie dem Deutschen Bundestag die Gelegenheit geben wollten, über internationale Organisationen zu diskutieren und über die Unzulänglichkeiten, die es dort gibt – sie gibt es zuhauf in internationalen Organisationen –: Na gut, das können wir machen. Dass sie aber den Eindruck erwecken wollen, Deutschland handele gegen die Interessen Israels, ist wirklich absurd, und es ist schädlich für die Interessen Israels, aber auch Deutschlands, und es ist nicht die Wahrheit, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Was Sie mit einer namentlichen Abstimmung ohne Debatte in den Ausschüssen bezwecken wollen, kann man vielleicht vermuten; aber auch das ist überhaupt nicht förderlich für das Miteinander hier und auch überhaupt nicht förderlich für unsere Beziehungen zu Israel. Die Wahrheit ist doch: Die deutsche Außenpolitik befindet sich jedenfalls in dieser Frage – es ist schon erwähnt worden – in der Kontinuität der von der FDP gestellten Außenminister. Wir haben Klaus Kinkel heute Morgen hier gemeinsam gedacht. Ich würde sagen: Selbst der denkbar unvernünftigste FDP-Außenminister käme nicht auf die Idee, so unvernünftig zu sein, einen solchen Antrag zu stellen. Ich weiß, dass in Ihren eigenen Reihen darüber heftige Diskussionen stattfinden und dass es in Ihren eigenen Reihen Kopfschütteln darüber gibt. ({1}) Das Wohlergehen Israels gehört, auch durch unsere schreckliche Geschichte bedingt, zu den Grundfesten Deutschlands. Das wird in diesem Hause auch nicht bestritten, von wenigen Ausnahmen, die es leider gibt, abgesehen. Deutschland unterstützt Israel militärisch und diplomatisch, insbesondere auch im Rahmen einer gemeinsamen ausgewogenen Position in der EU gerade gegenüber den UN-Gremien. Wer das irgendwie infrage stellt, dem empfehle ich, zumindest einmal nach Yad Vashem, in die Holocaustgedenkstätte, zu gehen; dann versteht man, warum Deutschland diese Position hat und auch immer haben muss. ({2}) Zur deutschen Politik gehört aber auch, dass wir für Frieden, Freiheit und die umfassende Durchsetzung von Menschenrechten im Nahen Osten in dieser Region eintreten, gerade im Interesse Israels. Deswegen engagieren wir uns bei der UN-Organisation UNRWA. Wir sind diejenigen, die versuchen, ein Stück weit das auszugleichen, was die USA unter Trump zurzeit leider nicht liefern. Wir fördern dezentrale Friedens-, Verständigungs- und Entwicklungsprojekte. Wir versuchen, Palästinensern zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen. Wir fördern gemeinsame Organisationen, zum Beispiel von Angehörigen aus beiden Bereichen, aus Palästina und aus Israel, die Verwandte durch den Konflikt verloren haben. Wir sind diejenigen, die versuchen, im Sinne Israels eine Zweistaatenlösung international abzusichern. Die Kritik, die Sie von der FDP voranbringen, wird nach meiner Auffassung jedenfalls international nicht breit geteilt, in Wahrheit – das ist ganz interessant – auch nicht von der israelischen Regierung, die durchaus versucht, die deutsche Rolle dahin gehend zu nutzen, dass wir gesprächsfähig mit Israel und den Palästinensern sind, um auch im Sinne Israels solche Beschlüsse entsprechend zu beeinflussen. Ja, die internationale Politik ist kompliziert. Ja, es gibt gegenüber Israel eine skandalöse Unwucht bei vielen UN-Institutionen. Trotzdem brauchen wir diese UN-Institutionen, und wir sollten sie eben nicht delegitimieren. Deutschland steht an der Seite Israels für Frieden und Freiheit in der Region. Ich finde, wir sollten nicht durch sehr seltsame Debatten und Anträge das entsprechend unterminieren. Das ist die breite Botschaft des Hauses. Wir stehen an der Seite Israels und treten für das Existenzrecht Israels ein. Das ist, glaube ich, die Botschaft. Die sollten wir mit dieser Debatte und mit einer solchen namentlichen Abstimmung nicht kaputtmachen. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Schwabe. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben noch zwei Redner vor uns. Ich würde Sie bitten, solange Platz zu nehmen. Es ist extrem unruhig hier im Raum. Das gilt vor allem für den Bereich zwischen CDU/CSU und FDP. Ich würde Sie wirklich bitten, Platz zu nehmen. Es ist extrem laut hier. Sonst rufe ich einfach niemanden auf. Also, wir sind mitten in einer Debatte. Wir haben noch zwei Redner, die reden wollen und das Recht dazu auch haben, und deswegen bitte ich Sie, jetzt Platz zu nehmen, und zwar alle, auch Herrn Dobrindt und andere, und dem nächsten Redner zuzuhören. Das ist Mario Mieruch, der fraktionslos ist.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ausgerechnet wir Deutsche, die wir immer wieder unsere besondere Verantwortung für Israel betonen, machen auf dem internationalen Parkett leider eine ziemlich schlechte Figur. Unsere Repräsentanten in Gestalt unseres Bundespräsidenten oder unseres Außenministers scheinen die Fettnäpfchen regelrecht zu suchen. Dann ist es ausgerechnet US-Präsident Donald Trump, der den von Israel völlig zu Recht kritisierten Iran-Deal längst über Bord geworfen hat, und unsere Bundesregierung verteidigt ihn bis heute. Trump ist es ebenfalls, der in der UN-Vollversammlung dank Vetovollmacht die israelfeindlichen Resolutionen blockiert. Entgegen der vielen salbungsvollen Worte, die wir heute hier gehört haben, werden wir aber an unseren Taten gemessen, und die bestimmen sich durch eine anscheinend sehr irrationale Außenpolitik, die mittlerweile irgendwie per se eine Gegenposition zu den Amerikanern einnimmt, insbesondere zum Beispiel durch die fortwährende und auch weiter auszubauende Unterstützung des palästinensischen Flüchtlingshilfswerks UNRWA, einer Organisation, die durch Vetternwirtschaft, Korruption und zuletzt auch einen Skandal in Form antisemitischer Schulbücher auffiel, die früher einmal 500 000 Flüchtlinge, heute 5 Millionen Flüchtlinge betreut und die mit fast 30 000 Mitarbeitern gleich dreimal so viele Mitarbeiter wie das internationale Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat. Wie hier eine Motivation zu einer tatsächlichen Lösung der Palästinenserfrage gefunden werden soll, das bleibt wahrscheinlich noch eine ganze Weile ein großes Rätsel. So steht im Koalitionsvertrag, dass diese Große Koalition die Reform der UNRWA im Grunde genommen so ausgestalten möchte: mehr Geld; mehr Geld, welches wissentlich auch für Terrorfinanzierung und den Unterhalt von Märtyrerfamilien genutzt wird, statt für strukturelle Änderungen. ({0}) Man spendet, die Empfänger interessieren wenig. Wohin das Geld geht, ist egal. Kritische Anfragen, Einzelanfragen oder Anfragen von Fraktionen, beantwortet das Auswärtige Amt unzureichend, ausweichend oder am liebsten gar nicht. Es ist alles ein klein wenig seltsam, was in der Realität passiert. Im Sinne des Staates Israel ist eine solche Politik ganz sicher nicht. Wir von der blauen Partei halten die reine Kritik am UN-Abstimmungsverhalten für zu kurz gesprungen. Deutschland sollte ein klares, starkes Signal senden, wenn wir unsere Verantwortung wirklich wahrnehmen wollen. Das findet sich zum Beispiel in der Anerkennung der Hauptstadt Jerusalem; auch hier sind die Amerikaner wieder ein großes Stück weiter. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Mieruch. – Der letzte Redner in der Debatte – ich möchte Sie bitten, ihm zuzuhören – ist Christian Schmidt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob ich für die ganz große Mehrheit der Mitglieder des Hauses spreche, aber ich vermute, dass ich das tue. Liebe Kollegen in der FDP-Fraktion, dass Sie zu dem Antrag, der die Beschreibungen und Aufforderungen dessen, wie wir uns zum Staat Israel stellen bzw. stellen sollen, beinhaltet, ganz breite Zustimmung bekommen, steht außer Frage. Dass Sie das aber in eine Kritik an dem Weg der Bundesregierung kleiden, hat einen Impetus, der in eine Richtung verweist, die nicht zutreffend ist. ({0}) In der berüchtigten Resolution 3379 der UN-Generalversammlung aus dem Jahr 1975 – Sie haben sie sicherlich im Kopf – ist der Zionismus als eine Form des Rassismus definiert worden. Sie zielte darauf ab, den Staat Israel zu delegitimieren. Es bleibt dabei: Nicht der Zionismus ist Rassismus, sondern der Antizionismus ist der Bruder des Antisemitismus. Die westlichen Staaten stimmten dagegen. ({1}) – Ich will damit sagen, lieber Kollege, dass es sich nicht schickt, dieses Thema, das Abstimmungsverhalten bei einzelnen Anträgen und Debatten im Sicherheitsrat oder in der Generalversammlung der Vereinten Nationen, in Aufgeregtheit zu diskutieren, dass Sie und ich unserem gemeinsamen Impetus weitaus mehr dienen, wenn wir nicht Ja oder Nein sagen, sondern Perspektiven entwickeln. Deswegen wäre es sinnvoll, wenn wir heute über diese Frage nicht abstimmen, sondern uns gemeinsam hinsetzen und nüchtern betrachten, welche Punkte – auch in unserem Verhalten gegenüber den europäischen Partnern; da bin ich ganz bei Ihnen – geändert werden müssen, woran wir appellieren müssen und wo wir Abwägungen treffen müssen. Natürlich ist ein Beschluss der Generalversammlung der Vereinten Nationen vielen Einflüssen ausgesetzt. Die Bundesregierung tut sehr, sehr viel, dass diese Einflüsse im Ergebnis nicht zu einem Beschluss führen, der sich gegen Israel richtet. Das wird nicht immer funktionieren. Es wird aber immer der Ansatz der Bundesregierung und unser aller Ansatz sein. Natürlich ist das Existenzrecht des Staates Israel Staatsräson in unserem Land und wird es auch bleiben, nicht nur am Sonntag oder am Schabbes, sondern die ganze Woche über. All denen, die meinen, Israel vorführen zu können und das wollen, müssen wir entgegentreten. Wir sollten das gemeinsam tun. Deswegen gebietet politische Klugheit für mich persönlich, heute nicht auf die schnelle Nummer einer namentlichen Abstimmung zu setzen. Vielmehr frage ich mich – ich weiß nicht, ob das nach den Regeln der Geschäftsordnung möglich ist; ich bin ja kein Parlamentarischer Geschäftsführer oder Bundestagspräsident –, ob wir uns heute Abend nicht einen Moment Zeit nehmen und sagen sollten: Lasst uns doch noch mal drüber schlafen, ({2}) weil wir im Kern das, was Sie wollen, nämlich zu Israel zu stehen, alle unterstützen. Ich bitte darum. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Christian Schmidt. – Da es keinen Antrag in Ihrem Sinne gab, kommen wir jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/7560 mit dem Titel „Deutsches und europäisches Abstimmungsverhalten in Bezug auf Israel bei den Vereinten Nationen neu ausrichten“. Mir liegen mehrere Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vor. Die Fraktion der FDP verlangt namentliche Abstimmung. Dann bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Ich frage: Sind die Urnen besetzt? – Ja, sie sind besetzt. Dann eröffne ich die Abstimmung.

Christine Lambrecht (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003167

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz der fortgeschrittenen Zeit möchte ich dennoch in der gebotenen Kürze einige einführende Bemerkungen zu diesem Gesetzentwurf machen. Steuerbefreiungen für Strom, der aus erneuerbaren Energieträgern und in sogenannten Kleinanlagen erzeugt wird, werden von der EU-Kommission als staatliche Beihilfen eingeordnet, weshalb die EU-Kommission bei uns eine zügige Rechtsanpassung anmahnt. Dieser Aufforderung kommen wir mit diesem Gesetzentwurf nach. Ohne diese Anpassung könnten wir keine Stromsteuerbefreiungen mehr gewähren. Deswegen besteht dringender Handlungsbedarf. Der Gesetzentwurf, der heute in erster Lesung beraten wird, sieht vor, die bisherige Struktur grundsätzlich beizubehalten, das heißt, der in sogenannten Kleinanlagen bis 2 Megawatt erzeugte Strom ist weiter steuerbefreit – dem Gedanken der Energiewende folgend jedoch nur dann, wenn der Strom aus erneuerbaren Energieträgern oder mittels hocheffizienter Kraft-Wärme-Kopplung erzeugt wird. Die Steuerbefreiung für große Erneuerbare-Energien-Anlagen mit einer Leistung von mehr als 2 Megawatt wird vereinfacht und unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien neu gefasst. So ist es auch in Zukunft möglich, dass Strom steuerbefreit ist, der in großen Anlagen, zum Beispiel Klärgasanlagen, erzeugt und vor Ort vom Anlagenbetreiber zum Eigenverbrauch verwendet wird. ({0}) Für im privaten Bereich erzeugten Strom, zum Beispiel aus den auf Einfamilienhäusern installierten Photovoltaikanlagen, ergeben sich keine Änderungen. Der in diesem Fall zum Eigenverbrauch erzeugte Strom bleibt grundsätzlich ohne Formalitäten und ohne Verpflichtungen gegenüber der Zollverwaltung weiterhin steuerfrei. ({1}) Darüber hinaus werden punktuelle Änderungen im Energiesteuergesetz, im Stromsteuergesetz sowie in den relevanten Durchführungsverordnungen vorgenommen. Meine Damen und Herren, von Bedeutung ist insbesondere die Schaffung von Heilungsmöglichkeiten bei der Durchführung von Steueraussetzungsverfahren. So werden künftig geringfügige Verfahrensabweichungen als unschädlich betrachtet. Unter Umständen fällt hier keine Energiesteuer an bzw. kann bereits entstandene Energiesteuer erlassen oder erstattet werden. Mit diesem Gesetz, dessen Inhalt ich jetzt ganz komprimiert beschrieben habe, reagieren wir, wie gesagt, auf die Einlassung der EU-Kommission, die die bisherige Regelung als Beihilfe gewertet hat. Durch diese Änderungen können die sinnvollen, die politisch gewollten Steuerbefreiungen weiter gewährt werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Christine Lambrecht. – Nächster Redner: Dr. Bruno Hollnagel für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Bruno Hollnagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004760, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Verehrte Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Vor 20 Jahren hat die rot-grüne Regierung das Stromsteuergesetz erlassen. Die Absicht war es, den Strom teurer und die Arbeit billiger zu machen. Zum 20-jährigen Jubiläum darf ich Ihnen herzlich gratulieren: Sie haben vollen Erfolg gehabt. Die Arbeit ist so billig geworden, dass viele nicht davon leben können, und Strom ist so teuer geworden, dass 344 000 Haushalte ihn nicht mehr bezahlen können. Ihnen wurde der Strom abgeschaltet. Darüber hinaus gibt es 6,6 Millionen Androhungen einer Stromsperrung. Der Strompreis hat sich dank der grünen Ideologie während der letzten 20 Jahre mit einem Anstieg auf 174 Prozent fast verdoppelt. Deutschland hat diesbezüglich in Europa eine einsame Spitze eingenommen. Das muss ein Ende haben. ({0}) Eine weitere Idee der Stromsteuer war es, diejenigen nicht zu besteuern, die den Strom aus erneuerbaren Energien zum Eigenbedarf produzieren. Diese Praxis galt 20 Jahre. 20 Jahre war das so in Ordnung. Doch dank der EU soll sich das nun ändern. Wie? Durch neue bürokratische Auflagen in Form von jährlich einzureichenden Befreiungsanträgen. Die produzierten Kosten liegen beim Staat durch vermehrten Verwaltungsaufwand in einer Höhe von geschätzten 15 Millionen Euro. Bei circa 35 000 Stromproduzenten kommen weitere 12 Millionen Euro hinzu, weil sie jährliche Genehmigungen einfordern müssen. Das Ergebnis: Die Stromerzeugung dieser Gruppe bleibt zwar stromsteuerfrei, zukünftig wird sich allerdings der bürokratische Aufwand bei Staat und Privaten erhöhen. ({1}) Die gefräßige EU-Bürokratie schlägt einmal mehr zu. Das ist Ressourcenverschwendung, ({2}) wie sie für die EU-Bürokratie typisch ist. ({3}) Wir sagen ganz einfach: Schluss mit der Bürokratieausweitung. Die Strompreise müssen gesenkt werden. Wir werden geeignete Schritte unternehmen, um das zu gewährleisten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Stefan Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004877, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein paar Worte muss ich schon noch dazu loswerden. Energiewende und Bürokratieabbau sind nämlich nicht die Stärken dieser Bundesregierung, und das zeigt dieser Gesetzentwurf wieder einmal recht deutlich. Keine Frage: Nicht alles an dem Gesetzentwurf ist schlecht, zum Beispiel schafft er an einigen Stellen Klarheit, mehr Rechtssicherheit. Aber mal ganz ehrlich: Ein großer Wurf ist dieser Gesetzentwurf trotzdem nicht. ({0}) Das Stromsteuergesetz ist unglaublich komplex, intransparent und praxisfern. Schon heute sind viele Anlagenbetreiberinnen und Anlagenbetreiber auf die Hilfe von Anwaltskanzleien angewiesen, damit sie ihre Anlagen ohne Rechtsverstöße betreiben können. Das ist doch absurd. ({1}) Und genau diese grundlegenden Probleme löst der Gesetzentwurf nicht. ({2}) Stattdessen verliert sich die Bundesregierung mal wieder in zu viel Klein-Klein und schafft an vielen Stellen zusätzliche Bürokratie und Unklarheiten, und auf Rechtsberatung wird man mit diesem Vorschlag auch in Zukunft nicht verzichten können. Erneuerbare-Energien-Anlagen und dezentrale Energieversorgung müssen aber bürokratiearm sein. Nur so schaffen wir die Energiewende. Nur so schaffen wir es, unsere Klimaschutzziele zu erreichen. ({3}) Warum also verkomplizieren Sie alles noch weiter, anstatt dieses schon jetzt undurchdringbare Dickicht aus Stromsteuerbefreiungen zu lichten? Ja, die EU verlangt von uns, die Stromsteuerbefreiungen zu ändern. Das wäre doch die Gelegenheit, um die Stromsteuer insgesamt infrage zu stellen und den großen Wurf zu machen. ({4}) Wir müssen unser System von Abgaben, Umlagen und Steuern im Energiebereich grundlegend überarbeiten. ({5}) Deswegen geht die FDP mit ihrem Vorschlag, die Stromsteuer zu senken bzw. abzuschaffen, in die richtige Richtung, ({6}) aber die Lösung lautet eben nicht, die Stromsteuer losgelöst von allen anderen Steuern und Umlagen einfach abzuschaffen. Das wird die Energiewende nicht voranbringen. ({7}) Stattdessen sollten wir auf der einen Seite die Stromsteuer senken, die EEG-Umlage abschaffen, auf der anderen Seite müssen wir fossile Energien wie Kohle und Öl konsequent nach dem CO 2 -Ausstoß bepreisen. Mit anderen Worten: Die Lösung ist der CO 2 -Preis, und zwar ein CO 2 -Preis, der logisch, bürokratiearm, effektiv und sozial gerecht ist. ({8}) Und wenn Sie da weder uns Grünen noch Ihrer eigenen Umweltministerin glauben wollen, dann glauben Sie doch an dieser Stelle zumindest Ihrer – übrigens recht teuer bezahlten – Expertenkommission für Forschung und Innovation. Die fordert nämlich genau das Gleiche, nämlich einen CO 2 -Preis. Da geht es lang. So funktioniert effektiver Klimaschutz. Vielen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Stefan Schmidt. – Der nächste Redner für die SPD-Fraktion, Bernhard Daldrup, gibt seine Rede zu Protokoll. ({0}) Damit schließe ich die Debatte. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/8037 und 19/8268 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Lars Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004748, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man muss den Kollegen der Linken schon fast dankbar dafür sein, einen solchen Antrag hier einzureichen, zeigt und beweist er doch, welch tiefes Misstrauen und sogar Verachtung die Linken gegenüber unserer Polizei haben. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Entschuldigen Sie bitte. – Sie waren jetzt deutlich lauter als der Redner. Das ist ein bisschen schwierig. ({0}) – Sie haben ihn schon beruhigt. Gut. Also, Herr Herrmann hat das Wort

Lars Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004748, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herzlichen Dank. – Für Sie sind offenbar alle Polizeibeamten potenzielle Rassisten, die böswillig arglose Bürger mit Migrationshintergrund durch rechtswidrige Kontrollen diskriminieren. ({0}) Als ehemaliger Polizist im Streifendienst sage ich Ihnen aber ganz klar: Wenn ich aus der Polizeilichen Kriminalstatistik weiß, dass der Anteil von nichtdeutschen Tatverdächtigen beispielsweise im Bereich der Rauschgiftdelikte innerhalb eines Jahres um 13,5 Prozent angestiegen ist, und mir ebenfalls bekannt ist, dass der Rauschgifthandel in meinem Revier in den Händen von nordafrikanischen und afghanischen Staatsangehörigen liegt, dann ist es durchaus naheliegend, dass eben nicht eine Touristengruppe aus Japan Adressat einer polizeilichen Kontrolle wird, sondern dass der Dunstkreis der Top Fünf der Polizeilichen Kriminalstatistik ein nettes Gespräch mit mir gewonnen hat. Das ist ganz einfach. Und das, sehr verehrte Kollegen von den Linken, hat nichts mit rassistischem Profiling zu tun, sondern das nennt sich polizeiliche Erfahrung. Das ist das, was Sie nicht haben. ({1}) Darüber hinaus suggerieren Sie in Ihrem Antrag, dass die Polizei bisher ohne jegliche Kontrolle und Aufsicht alles tun und lassen könne, was sie wolle, und die Bürger hilflos der polizeilichen Willkür ausgesetzt seien. Sehr geehrte Damen und Herren, niemand steht über dem Gesetz – auch nicht die Polizei. Wer die gesetzlichen Befugnisse überschreitet, bricht oder falsch anwendet, muss sich entsprechend verantworten, und dass das bei unserer Polizei auch so ist, daran gibt es für meine Fraktion und mich nicht den geringsten Zweifel. Weiterhin stehen diverse Rechtsmittel wie das Instrument der Dienst- bzw. Fachaufsichtsbeschwerde sowie die gerichtliche Überprüfung polizeilichen Handelns ausreichend zur Verfügung und werden auch rege genutzt. Ich selbst musste schon oft genug Stellungnahmen verfassen und habe mir dabei die Finger wundgeschrieben. Bemerkenswert finde ich ebenfalls die Tatsache, dass gerade aus Ihren Reihen die Empörung groß darüber war, weil eine Partei eine Internetseite einrichtete, auf der Vorfälle an Schulen für den Fall dokumentiert werden können, dass Lehrer mutmaßlich gegen die Neutralitätspflicht verstoßen, und nun wollen Sie, die Linken, sogar eine staatliche Denunzierungsstelle gegen Polizeibeamte etablieren. ({2}) Sie sollten sich lieber mal an die eigene Nase fassen. ({3}) Aber zurück zum Weltbild der Linken gegenüber unseren Polizisten und zu dem künftigen potenziellen Nutzerkreis einer solchen Denunzierungsstelle. So schrieb die Linken-Politikerin Hannah Bruns nach einer Demonstration von Kurden in Berlin auf Facebook Folgendes – ich zitiere –: Und wieder haben die Bullenhunde auf der LLL Demo kurdische Genossen mitgenommen. Aber es kommt der Tag, an dem diese Schweine für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden. ({4}) Weg mit dem Verbot der PKK! Ganz Berlin hasst die Polizei! ({5}) Auch die Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke, äußert sich zu den Ausschreitungen beim G-20-Gipfel in Hamburg wie folgt – Zitat –: Die Polizeiführung lässt ihre Hundertschaften mit schwerem Gerät durch die Straßen der Hansestadt marodieren … Die Eskalation geht eindeutig von den Behörden aus. Es geht mit unserer hochverehrten Kollegin Ulla Jelpke, ({6}) Fraktion Die Linke, weiter. Als sich Asylbewerber aus Eritrea in Bamberg zusammenrotteten und in Tötungsabsicht auf die dort eingesetzten Polizisten losgegangen sind, fällt Frau Jelpke nichts anderes ein, als die Polizei zu kritisieren und auf ihrer Internetseite und auf Twitter Folgendes zu schreiben – Zitat –: Mindestens elf Verletzte, traumatisierte Geflüchtete, ein hoher Sachschaden – das ist die Bilanz eines vollkommen unverhältnismäßigen und brutalen Polizeieinsatzes im Ankerzentrum Bamberg in der vergangenen Nacht. Ich fordere eine lückenlose Aufklärung dieser Polizeiaktion und ein Ende der Kriminalisierung von Schutzsuchenden. Zitat Ende. Ebenfalls sehr aufschlussreich ist die Aussage des Linkenpolitikers Martin Dolzer, um die Motivation der Antragsteller hier noch einmal zu verdeutlichen. Als ein Polizist in Hamburg von einem afrikanischen Drogendealer mit einem Messer angegriffen wird, schießt dieser in Notwehr dem Angreifer ins Bein, und der Linke Martin Dolzer spricht von einem „rassistisch motivierten Hinrichtungsversuch“ durch die Polizei. ({7}) Ganz ehrlich: Was, Frau Kipping und Frau Jelpke, ist bei Ihnen schiefgelaufen? Was genau funktioniert bei Ihnen nicht, dass Sie so einen Hass und so eine Hetze gegen unsere Polizei ausführen? ({8}) Kurzum: Es gibt weder einen Bedarf noch sonst irgendeine Notwendigkeit für diesen Antrag. Die Polizei verdient unser Vertrauen und unsere Unterstützung. Wir als AfD-Fraktion stehen hinter unserer Polizei, hinter unseren tapferen Frauen und Männern, die jeden Tag ihre Haut für unsere Sicherheit zu Markte tragen. ({9}) Ich habe noch zehn Sekunden und eine Nachricht für meinen Bruder: Bruderherz, alles Gute zum Geburtstag. Wir trinken später einen. Vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächste Rednerin wäre Susanne Mittag für die SPD-Fraktion. Sie gibt ihre Rede zu Protokoll . ({0}) Dann würde Konstantin Kuhle für die FDP-Fraktion folgen. Konstantin Kuhle gibt seine Rede zu Protokoll , gefolgt von Dr. Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen. Sie gibt ihre Rede zu Protokoll . ({1}) Michael Kuffer für die CDU/CSU-Fraktion gibt seine Rede zu Protokoll , und Michael Brand für die CDU/CSU-Fraktion gibt seine Rede zu Protokoll .  – Vielen Dank. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7119 an den Ausschuss für Inneres und Heimat vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht um die Einbringung eines Gesetzentwurfs, und ich glaube, auch zu vorgerückter Stunde sollten wir als Bundesregierung dazu ein paar Ausführungen machen. ({0}) Nicht erst die jüngsten Vorfälle um das massenhafte Hacking persönlicher Daten beispielsweise von Politikerinnen und Politikern haben gezeigt: Die Herausforderungen der Digitalisierung sind vielfältig. Sie sind in der Mitte der Gesellschaft, ja offenbar auch in der Mitte dieses Hauses längst angekommen. Digitalisierung betrifft alle Lebensbereiche. Sie bietet Chancen und birgt Risiken. Der Anspruch, den Bürgerinnen und Bürger zu Recht an den Staat und an die Regierung haben, ist, dass der digitale Wandel aktiv gestaltet wird. Ich will zwei Stichworte nennen, nämlich zum einen den großen Bereich E-Government mit dem Mammutprojekt des Online-Zugangsgesetzes. Dabei geht es um 575 Dienstleistungen der öffentlichen Hand – Bund, Länder, Kommunen –, die bis 2022 digitalisiert sein sollen. ({1}) Ich will aber zum anderen auch die anstehende Novellierung des IT-Sicherheitsgesetzes nennen. Das sind zwei Projekte, die äußerst wichtig sind. Man hätte sie vielleicht noch früher angehen können. Das gebe ich gerne zu. ({2}) Aber es ist doch gut, dass wir sie nun gemeinsam anpacken. Wir sollten gemeinsam ins Gelingen verliebt sein. Das hoffe ich jedenfalls, meine Damen und Herren. ({3}) – Ja, Daumendrücken ist da nicht genug. Es gibt auch FDP-Verantwortung in Kommunen und Ländern. Sie müssen mitmachen. Nur ein Fünftel der Dienstleistungen liegt in der Verantwortung des Bundes. Also, bitte machen Sie mit, und drücken Sie nicht nur die Daumen! ({4}) Nachdem wir das geklärt haben, sage ich: Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger auch in vielen anderen Bereichen in die Lage versetzen, die Herausforderungen, die mit der Digitalisierung verbunden sind, beherzt anzupacken. Ein ganz wichtiger Bereich ist dabei die Identifikation im Netz. Früher, in der realen, analogen Welt, hatten wir dafür sozusagen den realen Ausweis. Es stellt sich aber immer stärker die Frage, wie ich mich in der digitalen Welt ausweise. Man kann natürlich sagen: Wir überlassen das alles den Internetkonzernen oder der Privatwirtschaft. – Das geht aber nicht; denn es geht hier um sensible Daten. Es gibt dabei Missbrauchsgefahren. Aus diesem Grunde halte ich es für eine Kernaufgabe des Staates, das Thema „Identifikation im Internet“ in Angriff zu nehmen. Auch das ist eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. Es gibt deshalb seit 2010 die Onlineausweisfunktion des Personalausweises. Ich weiß, dass diese jahrelang sehr schleppend angenommen wurde. Das lag sicherlich nicht an mangelndem Datenschutz. Da haben wir international und europäisch einen sehr hohen Standard. Und ich freue mich, dass diese Funktion gerade in letzter Zeit immer stärker genutzt und freigeschaltet wird. Es ist eine Funktion der Zukunft und bietet die Möglichkeit, eben nicht alles, was die Identifikation im Netz betrifft, über Facebook und andere Internetgiganten abzuwickeln. Vielmehr besteht die Möglichkeit, dieses staatliche Angebot anzunehmen. Ich glaube, das ist der Weg der Zukunft. Es ist ein guter Weg; denn er beinhaltet starken Datenschutz und belässt dem Bürger die Hoheit über die Daten. Wenn man diese eID-Funktion des Personalausweises nutzen will, muss man sie aktiv freischalten und auch im Einzelfall aktiv entscheiden: Ich gebe die Daten frei. Das alles haben wir für deutsche Staatsbürger, die einen Personalausweis haben, eingeführt. Es gibt diese Funktion bisher aber nicht für EU-Ausländer, die in Deutschland leben, arbeiten, Geschäfte abwickeln und vor allen Dingen E-Government-Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen oder müssen, weil es keine praktikablen Alternativen gibt. Deswegen wollen wir diese eID-Funktion auch für die Chipkarte für EU-Ausländer und insbesondere die Angehörigen des europäischen Wirtschaftsraums anbieten. Damit wollen wir eine Lücke schließen. Die Nutzung ist natürlich freiwillig. Ich will aber betonen: Das ist kein Ausweisdokument. Wir wollen also nicht für knapp 400 Millionen EU-Ausländer bzw. EU-Bürger einen zweiten Personalausweis zur Verfügung stellen. Das wäre anmaßend. Das ist übrigens auch die Aufgabe der jeweiligen Heimatstaaten. Wer aber in Deutschland E-Government-Leistungen in Anspruch nehmen möchte, muss auch die Möglichkeit haben, diese Chipkarte zu nutzen. Wir gehen damit, glaube ich, einen wichtigen Schritt. Ich will nur ganz kurz auf einen anderen Punkt eingehen: Deutsche Staatsangehörige, die dauerhaft im Ausland wohnen, können erstmalig im Personalausweis auch eine Auslandsadresse eintragen lassen. Auch sie haben damit einfacheren Zugang zu den E-Government-Dienstleistungen. Da die FDP, wenn ich es richtig sehe, zu diesem Thema noch sprechen wird, will ich gerne noch zwei, drei Sätze zum Antrag der FDP sagen. Dabei geht es zum einen um den Personalausweis. Dieser wird, glaube ich, in Ihrem Antrag zu sehr in den Mittelpunkt gerückt. Der Kern im ersten Teil Ihres Antrags ist die allgemeine Frage der Digitalisierung von Verwaltungsdienstleistungen. Das ist ein wichtiger Punkt. Ich habe etwas dazu gesagt. Es hängt nicht alles am Personalausweis. Es ist aber ein wichtiger Bereich. In Ihrem Antrag fordern Sie, dass der Personalausweis auf das Smartphone übertragen werden kann. Dazu gibt es ein aktuell laufendes Forschungsprojekt der Bundesregierung, das sogenannte OPTIMOS-Projekt. Sie fordern, die Onlineausweisfunktion des Personalausweises allgemein nutzerfreundlicher zu machen. Auch dazu gibt es eine klare Aussage im Koalitionsvertrag. Insofern ist alles, was Sie vorschlagen, nicht ganz falsch. Es ist aber eigentlich überholt; denn es passiert bereits. Abschließend möchte ich sagen: Ich wünsche mir, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung zügig beraten wird; denn es ist ein eiliges Thema. Er ist eine gute und praktische Erleichterung für EU-Bürger und ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Digitalisierung unserer Verwaltungsdienstleistungen. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Krings. – Nächster Redner: Martin Hess für die AfD-Fraktion. ({0})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu der von der Regierung geplanten Einführung eines EU-Personalausweises gilt es zwei Dinge festzustellen: Erstens. Vor einem Monat gab es eine Werbekampagne für einen virtuellen EU-Pass. SPD-Minister dieser Bundesregierung haben hierfür ihr Konterfei zur Verfügung gestellt, und der Kollege Martin Schulz hat eindeutig benannt, was mit dieser Kampagne bezweckt war. Er schrieb: Dafür, dass es diesen schönen Pass eines Tages geben wird, kämpft die SPD seit 1925. ({0}) Genau in diese Richtung geht auch Ihr Entwurf. Die Einführung einer Identitätskarte für Unionsbürger ist nämlich ein weiterer Schritt auf dem Weg zu Ihrem wahren Ziel. Es geht Ihnen darum, eine europäische Staatsbürgerschaft zur realisieren. Das erkennt man auch klar an einem entscheidenden Satz in Ihrem Gesetzentwurf: Weitere private und öffentliche Einsatzbereiche sollen erschlossen werden … Eines ist auch klar: Sie wollen diese europäische Staatsbürgerschaft nicht als Ergänzung zur deutschen, sondern als eigene Staatsbürgerschaft. Aber genau diese europäische Staatsbürgerschaft – das sage ich mit aller Deutlichkeit – kann es nicht geben; denn es existiert kein europäisches Staatsvolk. ({1}) Deshalb werden wir uns auch entschlossen allen Versuchen entgegenstellen, unsere deutsche Staatsbürgerschaft durch eine europäische zu ersetzen. Zweitens. Jetzt kommen wir zum eigentlichen Problem: Sie verlangen von EU-Bürgern höchste Sicherheitsstandards, wenn es um die Feststellung und den Beleg ihrer Identität geht. Leistungen unseres Staates sollen für EU-Bürger – und das ist auch richtig so – nur bei einem eindeutigen Nachweis der eigenen Identität erbracht werden. Gleiches gilt selbstverständlich übrigens auch für Deutsche. Aber zeitgleich bekommen Hunderttausende Drittstaatler, ({2}) die Sie über unkontrollierte Grenzen mit gefälschten oder ohne Identitätspapiere nach Deutschland einreisen lassen, Sozialleistungen in unvorstellbarem Ausmaß. Dass das in einem Rechtsstaat möglich ist, ist und bleibt ein Skandal. ({3}) Während Sie sich Gesetze ausdenken, um den Identitätsnachweis für EU-Bürger zu perfektionieren, stellt ein erheblicher Teil dieser ohne Identitätspapiere in unser Land eingereisten Personen ein massives Sicherheitsproblem dar. Unter diesen Leuten befinden sich Kriegsverbrecher, die wegen Überlastung der Sicherheitsbehörden selbst nach Meldungen an das Bundeskriminalamt nicht konsequent verfolgt werden. 5 000 Hinweise des BAMF haben nur zu 129 Ermittlungen geführt. So etwas nenne ich politisches Totalversagen. Hören Sie endlich auf mit diesem sicherheitspolitischen Amoklauf. ({4}) Setzen Sie die Prioritäten richtig. Kümmern Sie sich statt um den EU-Personalausweis um die Sicherheit und den Schutz unserer Bürger. Sorgen Sie dafür, dass die sich in unserem Land aufhaltenden Kriegsverbrecher schnellstens ermittelt und in ihre Heimatländer abgeschoben werden, und verhindern Sie, dass IS-Kämpfer, die in Kriegsgebieten Menschen bestialisch ermordet haben, wieder nach Deutschland zurückkehren. Der Innenminister hat in diesem Plenum versprochen, alles Menschenmögliche zu tun, um die Bevölkerung unseres Landes zu schützen. An diesem Versprechen wird sich die Regierung messen lassen müssen. Es gibt nur eine Möglichkeit, unsere Bürger effektiv vor IS-Rückkehrern zu schützen: Entziehen Sie diesen Massenmördern die deutsche Staatsbürgerschaft, und zwar sofort. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion wäre Saskia Esken. Sie gibt ihre Rede zu Protokoll. ({0}) Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Manuel Höferlin – wird live dabei sein. ({1})

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat ein europaweites Problem entdeckt und sich eine deutsche Lösung dafür ausgedacht. Das, habe ich im ersten Moment gedacht, ist typisch GroKo. Deutsche, die nicht in Deutschland wohnen, können derzeit nicht ihre Adresse in ihrem deutschen Personalausweis eintragen lassen. Genauso können auch EU-Bürger, die in Deutschland wohnen, ihre Daten nicht eintragen lassen. Deswegen wird unter anderem dieser Vorschlag gemacht. Das Problem schreit ja geradezu nach einer europäischen Lösung. Stattdessen gibt es eine neue Plastikkarte als Insellösung für Deutschland. Ich glaube, das ist nicht zielführend, meine Damen und Herren. ({0}) Dabei steht in der Begründung des Gesetzentwurfes ganz richtig: Das Problem liegt in den unterschiedlichen Standards in Europa und in der mangelnden Anerkennung dieser Standards untereinander. Warum versucht denn die Bundesregierung nicht, das Problem europäisch zu lösen? Das bleibt mir völlig unklar. ({1}) Die Gesellschaft insgesamt wird mobiler. Menschen arbeiten hier, wohnen dort. Das ist ganz normale Realität. Um diese europäische ID-Karte, die jetzt vorgeschlagen ist und die ja auch digital funktionieren soll, zu bekommen, muss man laut dem Entwurf persönlich zum Amt, zur ausgebenden Stelle gehen und sie dort beantragen. Wer einen Personalausweis beantragt hat, weiß: Wahrscheinlich muss man dann nach sechs Wochen wiederkommen, um sie abzuholen. Das ist nicht der Anspruch. Das kann er auch nicht sein. Da gibt es digital noch viel Luft nach oben, meine Damen und Herren. ({2}) Deshalb schlagen wir Freie Demokraten in unserem Antrag auch die Weiterentwicklung zu einem Smart Perso vor. Der kann dann wie eine Wallet benutzt werden. Sie kennen das. Man kann also Funktionen des Personalausweises auch in dieser Wallet abspeichern. Man kann aber auch noch mehr Dinge damit tun. Das wäre eine digitale Lösung. Man kann nämlich dort auch Urkunden, Dokumente etc. mit unterbringen. Dann sind die zertifiziert abgespeichert, und man kann sie auch digital einsetzen. Angepasst auf den jeweiligen Fall könnte man auch Bestandteile dieser vertrauenswürdigen Speicher entsprechend herausgeben. Das ist auch eine Frage des Datenschutzes, und das gibt es eben derzeit nicht – auch nicht mit dem E-Personalausweis. ({3}) Das wäre praktisch; denn man könnte eine solche Identifizierung auch offline benutzen. Das ist vielleicht gar nicht so blöd, wenn ich mir die Funklöcher bei uns in der Region ansehe. Von daher ist das eine schlaue Sache. Man könnte diese Idee aber auch auf alle EU-Bürger ausweiten. Es geht nicht um eine EU-Identität, aber vielleicht um eine deutsche Technologie, die man EU-weit ausrollen könnte. Die Technologie, die diese Karte bereitstellt, könnte dann verwendet werden, um in der ganzen Europäischen Union in jedem Land die Identität zu bescheinigen. Dann könnte man auch innerhalb der ganzen Europäischen Union seine Identität nachweisen, seine persönlichen Dokumente abspeichern und sich am Ende damit identifizieren oder eben Dokumente vorlegen. ({4}) Das, meine Damen und Herren, wäre eine echte Digitalisierung von Personalausweisen und von ID-Karten. Das hätten wir uns gewünscht, und in diese Richtung geht auch unser Antrag. Vielleicht können Sie sich davon etwas abgucken, Herr Krings. Das würde uns sehr freuen. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Manuel Höferlin. – Nächste Rednerin: Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke. Sie gibt ihre Rede zu Protokoll . Nächster Redner: Dr. Konstantin von Notz für Bündnis 90/Die Grünen – wird reden. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Endlich auch online verbindliche Behördengänge abwickeln oder Verträge abschließen zu können, das Ganze umgesetzt im Rahmen einer echten E-Government-Strategie, sowohl national wie auf EU-Ebene: Im Jahr 2019 müsste das eigentlich selbstverständlich sein. Und dennoch kommen wir hier in Deutschland seit Jahren nicht aus dem Quark, meine Damen und Herren. ({0}) Ich will auf einen Aspekt eingehen, den der Kollege Höferlin eben noch nicht angesprochen hat, damit wir uns ergänzen; denn ich finde, es liegt schon eine gewisse Ironie darin, dass der vorliegende Gesetzentwurf für Unionsbürger, für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht und im Ausland lebende Deutsche zwar erstmalig eine Gleichberechtigung durch das Angebot des elektronischen Identitätsnachweises schafft, diese aber gleichzeitig klar privilegiert. Denn die Nutzung des unverbindlichen Angebots der Identitätskarte ist für diese Personengruppen tatsächlich freiwillig. Das ist ein ganz zentraler Punkt; denn die übrigen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger können sich genau das eben nicht aussuchen. Die letzte Große Koalition hat die Wahlfreiheit bei der Freischaltung der Online-Ausweisfunktion gegen unseren Widerstand zu einem Zwang gemacht. Da kann ich als Vertreter der Grünenfraktion nur sagen: Wir haben wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass sich hierdurch nicht nur die IT-Risiken für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger erhöhen, sondern zudem ihr Recht missachtet wird, selbst entscheiden zu können, ob man diese Funktion nutzen will oder eben nicht. Die damalige Entscheidung der Bundesregierung folgte der Logik, dass der, der keine eklatanten Sicherheitslücken will, eben zu seinem Glück gezwungen werden muss. Und eine solche bürgerrechtlich fragwürdige Zwangsbeglückung ist mit uns nicht zu machen, meine Damen und Herren. ({1}) Sie ist mit uns nicht zu machen, weil klar ist, wohin die Reise gehen soll. Das ist derzeit in Brüssel gut erkennbar. Die gerade dort in Verhandlungen befindliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Einbringung von Fingerabdrücken in Personalausweise hebelt die zum Schutz der Bürgerrechte gewährte Freiwilligkeit komplett aus. Damit gehen wir einen entscheidenden Schritt in Richtung Vollbiometrisierung aller 500 Millionen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, und das ist bürgerrechts- und am Ende auch freiheitsfeindlich, meine Damen und Herren. Diese Strategie läuft Gefahr, letztendlich nicht mehr, sondern weniger Sicherheit zu schaffen, weil hierdurch Raum für Missbrauch und Manipulation eröffnet wird. Wie leicht es ist, diese Daten zu manipulieren, hat vor einigen Jahren der CCC gezeigt, indem er die biometrischen Fingerabdrücke des damaligen Innenministers und heutigen Präsidenten dieses Hohen Hauses entwendet und dupliziert hat. Biometrische Daten sind unveränderliche persönliche Merkmale, Herr Krings. Einmal digitalisiert und in den falschen Händen schaffen sie dauerhafte Risiken für die Betroffenen. Deswegen: Grundsätzlich finden wir es gut, dass beim hier vorliegenden Gesetzentwurf die Freiwilligkeit ausdrücklich im Gesetz steht. Gleichzeitig fordern wir Sie aber auf, für diese Freiwilligkeit in Deutschland und auf EU-Ebene zu streiten. Ganz herzlichen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Konstantin von Notz. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Josef Oster. Er gibt seine Rede zu Protokoll . ({0}) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/8038 und 19/8265 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind einverstanden? – Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Betrug im Zusammenhang mit Mitteln der Europäischen Union gefährdet genau das, was wir mit Europa erreichen wollen: die Lebensbedingungen in der EU verbessern, für nachhaltiges Wirtschaftswachstum sorgen und Arbeitsplätze schaffen. Der Betrug am Haushalt der Europäischen Union schadet nicht nur Brüssel, sondern geht zulasten der Mitgliedstaaten sowie der Bürgerinnen und Bürger, auch bei uns in Deutschland. Wir müssen daher gemeinsam für einen wirksamen Schutz der EU-Gelder sorgen. Jeder einzelne Mitgliedstaat ist in der Verantwortung; denn mehr als 90 Prozent des EU-Haushalts werden auf nationaler Ebene verwaltet. Gerade Deutschland als großer Nettozahler muss seiner Verantwortung gerecht werden und seinen Beitrag für einen wirksamen, auch strafrechtlichen Schutz des EU-Haushaltes leisten. Dazu ist unser geltendes Recht bereits jetzt in der Lage, und deshalb sieht der heute zu beratende Gesetzentwurf zur Umsetzung der sogenannten PIF-Richtlinie auch nur geringfügige Änderungen vor, die dann zusammen mit dem bestehenden deutschen Strafrecht eine solide Grundlage für die Arbeit der Europäischen Staatsanwaltschaft sein werden. Der Gesetzentwurf beschränkt sich auf eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie; denn auch beim Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union müssen strafrechtliche Maßnahmen verhältnismäßig sein, und sie dürfen nicht zu grundlegenden Verwerfungen in den nationalen Strafrechtssystemen führen. Dies hatte auch bereits der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 21. September 2012 betont, die zu Beginn der Verhandlungen auf zu weitgehende Vorgaben des damaligen Richtlinienentwurfs hinwies. Die Bundesregierung hat der Bitte des Bundesrates entsprochen und sich bei den Verhandlungen in Brüssel dafür starkgemacht, dass es nicht zu unangemessenen Vorfeldstrafbarkeiten und zu Brüchen mit den grundlegenden Wertungen des deutschen Vermögensstrafrechts kommt. Das deutsche Strafrecht ist den Anforderungen an einen wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union ausreichend gewachsen. Wir haben uns daher nicht nur bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene dafür eingesetzt, dass die Vorgaben der Richtlinie mit dem deutschen Strafrechtssystem kompatibel sind. Wir haben auch bei der Erstellung des heute zu beratenden Gesetzentwurfs auf dem geltenden Strafrecht aufgebaut und, wo nötig, Anpassungen vorgenommen. Die noch erforderlichen Regelungen sollen mit dem Gesetz zur Stärkung des Schutzes der finanziellen Interessen der Europäischen Union in Artikel 1 und durch kleinere Anpassungen im Strafgesetzbuch in Artikel 2 geschaffen werden. Der Gesetzentwurf sieht in seinem Artikel 1 insbesondere die Einführung zweier neuer Straftatbestände vor. Künftig sollen die missbräuchliche Verwendung von Mitteln der Europäischen Union und die rechtswidrige Verminderung von Einnahmen der EU unter bestimmten Bedingungen auch dann unter Strafe stehen, wenn die strengeren Voraussetzungen des Strafgesetzbuches in Deutschland nicht erfüllt sind. Der Straftatbestand der missbräuchlichen Verwendung von Mitteln der Europäischen Union schützt Ausgaben der EU, die keine Subventionen sind und daher nicht unter den geltenden Straftatbestand des Subventionsbetrugs des § 264 Strafgesetzbuch fallen. Der Straftatbestand der rechtswidrigen Verminderung von Einnahmen der Europäischen Union stellt es unter Strafe, wenn jemand eine für die Verwaltung von EU-Einnahmen zuständige Stelle täuscht und dadurch Einnahmen verkürzt. Damit wird auch für EU-Einnahmen, die keine Steuern sind, ein ähnlich starker Schutz wie für Steuereinnahmen geschaffen. Diese neuen Straftatbestände sollen ausschließlich für Taten gelten, die gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtet sind. Das allgemeine Strafrecht soll neben diesen neuen Straftatbeständen uneingeschränkt weiter anwendbar sein. Nach meiner Wahrnehmung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelungen, das zur Umsetzung der PIF-Richtlinie noch Erforderliche klar zu umgrenzen. Das mag nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass wir bereits bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene auf die Kompatibilität zwischen deutschem Strafrecht einerseits und den Vorgaben aus Brüssel andererseits bedacht waren. Deshalb bitte ich Sie herzlich um Unterstützung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat der Kollege Tobias Matthias Peterka das Wort. ({0})

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Zu später Stunde wieder einmal ein Umsetzungsgesetz, nun zur Stärkung der finanziellen Interessen der Europäischen Union: schöne technokratische Fragestellung, vorbildlich ausgearbeitet vom vorbildlichen Musterschüler Bundesrepublik Deutschland. Ohnehin, viel musste nicht geändert werden im deutschen Strafrecht. Also: Mission erfüllt? Nächster Tagesordnungspunkt? Nein, so leicht lassen wir Sie hier nicht vom Haken, und das nicht etwa wegen der Wortkombination: finanziell, Schutz, Europäische Union; denn es ist grundsätzlich korrekt ausgeführt, dass gerade der Nettozahler Deutschland vor der Geldverschwendung durch lax kontrollierte oder schlicht illegale Finanzflüsse der Union zu schützen ist. Wir stellen nicht zuletzt durch die Bruttonationaleigenmittel den mit Abstand größten Beitrag zu dem Füllhorn von Subventionen, Beihilfen und sonstigen Zuwendungen, die in allen Ecken der Union gerne angenommen werden. ({0}) Nun erlauben Sie mir die Vermutung, dass lokale Beamte in Palermo, Athen oder auch Marseille – hören Sie mir einmal zu – ({1}) vielleicht nicht immer den vollsten technokratischen Eifer an den Tag legen, wenn es um die Überprüfung von EU-Projekten geht. ({2}) Und in Brüssel wird garantiert auch nicht jedes gelieferte Zahlenwerk ohne Zuarbeit vor Ort nachvollzogen werden können. Daher ist es viel spannender, wie diese Geschichte in anderen Staaten der Union umgesetzt wird. Betreffend die Änderungen bei uns: Es ist zumindest die schadensgleiche Vermögensgefährdung sehr gewagt. Diese wird nötig zur Vorverlagerung der Versuchsstrafbarkeit, der missbräuchlichen Verwendung und der rechtswidrigen Einnahmenverminderung. Darüber sollte man noch einmal nachdenken. ({3}) Eindeutig abzulehnen ist jedoch vor allem die Stoßrichtung an sich, die verfolgt wird. Das Ganze ist nämlich im Zusammenhang mit der Europäischen Staatsanwaltschaft zu sehen. Hier werden kleine, aber emsige Schritte zur allmählichen Eigenstaatlichkeit der Europäischen Union gegangen. Diese Staatsanwaltschaft soll nämlich nicht nur die Delikte aus diesem Umsetzungsgesetz verfolgen, sondern nach dem Willen – das wissen Sie auch – der Kommission auch recht bald dazu übergehen, terroristische Straftaten europaweit zu verfolgen. Das würde interessant werden. Sind die Gelbwesten Terroristen oder vielleicht die Katalanen? Unter Umständen kommen auf dem Fuße weitere grenzüberschreitende Tatbestände hinzu. Wie weit dieser Begriff ausgelegt wird, kennen wir seit Jahren von Artikel 114 AEUV, der Generalermächtigung des grenzüberschreitenden Binnenmarkts. Im Zweifel auch hier immer kontra Eigenstaatlichkeit der Union, zumindest als fester Erwägungsgrund ist das streng genommen schon lange überfällig. Das Lissabon-Urteil lässt auch hier grüßen. Wir bleiben dran. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Die nächsten Reden von den Kollegen Jan-Marco Luczak, Jürgen Martens und Friedrich Straetmanns gehen zu Protokoll . ({0}) Da auch die Rede von Alexander Hoffmann zu Protokoll geht, ist die Kollegin Canan Bayram die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt. ({1})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde diskutieren wir, wenn man so will, eine Selbstverständlichkeit. Die Rede des AfD-Vertreters hat deutlich gemacht, dass wir uns größtenteils einig darüber sind, dass die Umsetzung dieser Richtlinie ein richtiger und wichtiger Schritt ist und dass wir uns auch durch die Phobie der AfD vor der Europäischen Union nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen. ({0}) Was Sie hier gemacht haben, haben Sie auch in Brüssel gemacht: Europa-Bashing, unvorbereitet, desinteressiert. Das ist AfD, und das ist das, wogegen die weiteren Fraktionen im Deutschen Bundestag stehen. ({1}) Ich will kurz erläutern, wofür dieser Gesetzentwurf ist und weswegen wir dafür sind: Er bekämpft den Betrug und die Korruption zulasten der Europäischen Union und soll wirksam dazu beitragen, dass die Gelder, die im Rahmen der Subventionen vergeben werden und aus Steuereinnahmen in den Mitgliedstaaten stammen, tatsächlich bei den Bürgerinnen und Bürgern in der Europäischen Union ankommen. Und das ist doch erst mal gut, oder nicht? ({2}) Die europäische Antikorruptionsbehörde hat für den Zeitraum 2010 bis 2017 tatsächlich empfohlen, insgesamt 6,6 Milliarden Euro zugunsten des EU-Haushaltes wieder einzuziehen. Dem lag zugrunde, dass tatsächlich auch Missbrauch betrieben wird. Aber die Konsequenz daraus kann doch nicht sein, dass man die Europäische Union bekämpft. Das wäre doch die falsche Antwort. Nein, man muss Korruption und Missbrauch bekämpfen, ({3}) und das muss man gegebenenfalls auch durch eine europäische Staatsanwaltschaft tun. Wie denn sonst? Das ist doch wohl keine Frage. ({4}) Abschließend kann man natürlich ausführen, dass wir in Deutschland ein Regelwerk haben, das schon im Einklang mit der Vorgabe der Richtlinie steht. Deswegen – das hat ja auch der Staatssekretär hier ausgeführt – sind wir in unserem nationalen System schon so weit, dass wir nur noch kleinere Veränderungen vornehmen müssen, durch die die Veruntreuung von EU-Fördergeldern verhindert wird. Hier haben wir, wenn Sie so wollen, unsere europäischen Hausaufgaben schon gemacht, und das ist doch erst mal ein erfreulicher Zustand. ({5}) Meine Damen und Herren, wir begrüßen, dass die EU-Kommission die Auswirkungen der Richtlinie evaluieren will, und wir sind der Ansicht: Wenn es die Bundesregierung mit dem Vorhaben, den Missbrauch zulasten des EU-Haushaltes zu bekämpfen, tatsächlich ernst meint, dann muss sie auch die Verpflichtung zur Mitwirkung an der Evaluierung in dem Gesetzentwurf festschreiben. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das war der TOP 19. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/7886 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor 20 Jahren wurde der Euro eingeführt, unsere gemeinsame Währung, die trotz aller Widrigkeiten ein großer Erfolg ist. Der Euro wurde in der gemeinsamen Überzeugung eingeführt, dass man durch den gemeinsamen wirtschaftlichen und sozialen Austausch und durch den gemeinsamen Schutz gegen Währungsspekulationen viel erreichen kann, und wir sagen ganz klar: 20 Jahre Euro sind ein Grund zum Feiern. ({0}) Allerdings ist man bei der Einführung des Euro nur einen halben Schritt gegangen. Wir haben gerade in der Finanzkrise vor zehn Jahren gesehen, dass unsere gemeinsame Währung nicht so krisenfest ist, wie wir sie brauchen. Deswegen sagen wir klar, dass zum Beispiel die Abkehr von einer harten und falschen Sparpolitik dringend erforderlich ist, weil sie die Krise am Ende verlängert und verschärft hat. Wir sagen klar: Das muss sich ändern. ({1}) Wir wollen aber auch, dass unsere gemeinsame Währung, der Euro, institutionell weiter vertieft wird, weil es nicht angehen kann, dass man zwar eine gemeinsame Währung und eine gemeinsame Währungspolitik hat, während alles andere – Finanzpolitik, Sozialpolitik, Steuerpolitik und Haushaltspolitik – Sache der Nationalstaaten bleibt. Das funktioniert in der Währungsunion nicht und wird früher oder später scheitern. Deswegen sagen wir klar: Wir wollen auch diese Politiken Stück für Stück europäisieren. ({2}) Das hat auch die EU-Kommission bzw. Jean-Claude Juncker erkannt; das hat Emmanuel Macron erkannt. Sie haben konkrete, gute Vorschläge dafür gemacht. Das Problem ist aber: Sie haben keinen Partner im größten Land der Euro-Zone; sie haben keinen Partner bei der Bundesregierung. Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag zwar einen Aufbruch versprochen, doch davon ist nichts zu spüren. ({3}) Überall gibt es nur ein Nein; es wird ausgebremst und verzögert. Die deutsch-französischen Beziehungen sind deswegen trotz aller Gesichtswahrung leider auf einem Tiefpunkt. Wir sagen hier klar: Diese Blockadehaltung der Bundesregierung gegenüber unserem Europa muss endlich enden. ({4}) Wenn schon nicht die Bundesregierung auf Macron antwortet, dann machen wir Grünen das eben heute. Wir haben einen konkreten Antrag vorgelegt, in dem wir klar sagen, wie man mit klugen Reformen die Wirtschafts- und Währungsunion reformieren und sinnvolle Investitionen tätigen kann, um unseren Euro zu stabilisieren. Erstens. Wir wollen, dass es einen Haushalt für den Euro gibt, der wirklich stabilisiert und investiert. Wir wissen auch, dass es einen deutsch-französischen Vorschlag für ein Euro-Zonenbudget gibt, aber im Kern ist das eine Luftnummer. Es ist alles unklar; nichts ist geklärt: Die Höhe ist völlig unklar, die Finanzierung ist völlig unklar, und es ist völlig unklar, was damit finanziert werden soll. Es ist auch völlig unklar, ob eigene Einnahmen erzielt werden sollen. Wir sagen: So geht es nicht. ({5}) Was man braucht, ist eine makroökonomische Stabilisierung. Wir schlagen vor, die Europäische Union, die Euro-Zone, auf der Ausgabenseite gegen Finanzkrisen zu stabilisieren, indem man in europäische Gemeingüter – Mobilität, Sicherheit, sozialer Ausgleich, erneuerbare Energien – investiert. Gleichzeitig muss man auf der Einnahmenseite über konjunkturabhängige Steuern – zum Beispiel Mindeststeuern für Unternehmen – und die Bekämpfung von Steuerbetrug für eine Stabilisierung sorgen. So muss man einen Euro-Haushalt gestalten. ({6}) Zweitens. Wir wollen eine Arbeitslosenrückversicherung als weiteren Stabilisator. Hier stellt sich die Frage an das SPD-Finanzministerium, was daraus eigentlich geworden ist. Man hört davon einfach nichts mehr. Auch da gehen Sie auf Tauchstation. Drittens wollen wir einen demokratischen Währungsfonds, damit sich Europa von der Troika und vom IWF unabhängig macht. Viertens setzen wir uns dafür ein, dass Steuerhinterziehung und aggressive Steuervermeidung wirksam bekämpft und gerade auch digitale Konzerne endlich richtig besteuert werden. Das ist eine zentrale Frage der Gerechtigkeit, ({7}) und ich fordere die Bundesregierung – besonders Olaf Scholz – auf, das nicht weiter auszubremsen, sondern sich für Gerechtigkeit und Steuergerechtigkeit einzusetzen. ({8}) Fünftens wollen wir, dass die Banken endlich hart reguliert werden; wir wollen die Vollendung der Bankenunion und eine harte Eigenkapitalquote für zu große Banken. Da passt es nicht, dass Olaf Scholz jetzt ein neues deutsches Megainstitut aus Commerzbank und Deutscher Bank gründen will. Das ist der falsche Weg und die falsche Lehre aus der Krise. ({9}) Bei Europa geht es aber nicht nur um Finanztechnik. Europa ist für uns auch eine Wertegemeinschaft. Wir wollen, dass das Kernprojekt, der Euro, in Europa vertieft wird und erfolgreich bleibt, weil Europa für uns für Frieden, Austausch und Wohlstand steht, und wir wollen, dass diese Versprechen auch eingelöst werden. Deswegen fordern wir Sie klar auf: Handeln Sie endlich, und hören Sie auf mit der Blockadehaltung! Vielen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat als Nächstes das Wort der Kollege Eckhardt Rehberg. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Spektrum der Forderungen und Vorstellungen, wie Europa, die Euro-Zone, weiterentwickelt werden soll, ist groß: Die Linke fordert Schuldenschnitte für Krisenstaaten und die Finanzierung von Staatshaushalten, ohne zu sagen, was auf den deutschen Steuerzahler zukommen würde, die Grünen fordern riesige Investitionsbudgets – 1 Prozent vom BIP –, auch ohne zu sagen, was dadurch auf den deutschen Steuerzahler zukommen würde, und die AfD will ein komplettes Rollback der Bankenunion. ({0}) Für die CDU/CSU ist eines klar: Jede weitere Vertiefung der Euro-Zone muss auf Grundsätzen basieren und regelbasiert sein. Ein Europa ohne Grundsätze und ohne Regeln hat keine Zukunft. ({1}) Wir wollen nicht, wie Linke und Grüne, einfach das Geld großzügig in Europa verteilen und sämtliche Risiken und Haftungen vergemeinschaften. ({2}) Es muss dafür klare Prinzipien geben: Erstens. Risiko und Haftung gehören untrennbar zusammen. Zweitens. Jeder zusätzliche Euro muss einen Mehrwert haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ehe man über neues Geld redet, muss man auch mal darüber reden: Wir haben in dieser Förderperiode einen EU-Haushalt von über 1 Billion Euro. Davon liegt aktuell ein Viertel brach. Die Mittel sind zwar gebunden, aber nicht ausgegeben. Da muss man sich doch die Frage stellen: Wie effizient ist die Europäische Kommission? ({3}) Wie effizient arbeiten Programme wie Strukturfonds, wie EFRE, ESF, ELER usw. usf.? Genau das ist der Punkt. Man darf eben nicht in Brüssel ständig nach neuem Geld rufen, sondern man muss dafür sorgen, dass das Geld, das im europäischen Haushalt vorhanden ist, auch sinnvoll und vernünftig ausgegeben wird: für Wachstum, für junge Menschen in Europa, damit sie in Arbeit kommen, für Bildung und Forschung usw. ({4}) Ich glaube, das ist die vorrangige Aufgabe, die wir aktuell haben. ({5}) Stichwort „Europäische Investitionsbank“, Stichwort „Juncker und EFSI“: Auch dort liegen noch Mittel zuhauf, und die müssen ausgegeben werden. Deswegen geht es nicht um immer neue Instrumente und um ein neues Euro-Zonenbudget ohne konkrete Unterlegung, und wir dürfen aus meiner Sicht auch weiter keine Doppelstrukturen und Ineffizienzen zulassen. Drittens. Wir können die Mitgliedstaaten nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. ({6}) Ich finde, jeder hat auch noch eine Eigenverantwortung. ({7}) Je mehr Geld wir ausschütten und je mehr Hoffnungen und Erwartungen wir ohne Konditionen wecken, desto mehr sehen wir – Stichwort „Italien“ –, wie dieses Europa auch gereizt und ausgereizt wird. Damit komme ich zu meinem vierten Punkt. Die Mitgliedstaaten müssen sich an Regeln halten. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Glaubwürdigkeit entsteht nur, indem man Regelbrüche nicht nur nicht zulässt, sondern auch ahndet. Übrigens – ich denke anderthalb Jahrzehnte zurück –: Der erste Regelbrecher war Gerhard Schröder, der damals die Maastricht-Kriterien ganz bewusst gebrochen hat. ({9}) Deswegen verstehe ich die Naivität einiger Akteure nicht, die meinen, mit immer neuen Instrumenten und immer neuen Strukturen Europa voranzubringen. Lieber Kollege Sven-Christian Kindler, auch Deutschlands Beitrag in Europa ist nicht unendlich. Im Haushalt wurde Vorsorge für den Brexit getroffen, nämlich dass wir dann 25 Prozent der Finanzierung des EU-Haushalts übernehmen. Keine Vorsorge ist für „0,1 Prozent mehr vom BNE“ getroffen. Das sind noch mal 4 Milliarden Euro. Keine Vorsorge ist für europäische Projekte getroffen, wie zum Beispiel für einen verstärkten Schutz der Außengrenzen, wofür wir sind. Keine Vorsorge haben wir für eine europäische Verteidigungsstruktur, für mehr Klimaschutz und für mehr Bildung und Forschung getroffen. Man muss sich auch ehrlich machen. Wer dies von Deutschland fordert, der muss auch definieren, wo der deutsche Beitrag herkommen soll, und darf das nicht einfach in den Raum stellen, weil der deutsche Steuerzahler schon irgendwie dafür aufkommt. Mein letzter Punkt ist ein ganz wichtiger Punkt für uns – da hat die Europäische Kommission, finde ich, sich vor gut anderthalb Jahren mit dem Nikolauspaket selber einen Tort angetan –: Für uns sind die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages nicht verhandelbar. Hier gilt das, was das Bundesverfassungsgericht sagt. Deswegen von dieser Stelle aus einen schönen Gruß an Brüssel: Wir werden darauf pochen, dass unsere Beteiligungsrechte, die deutlich weiter gehen als die des französischen Parlaments und die der meisten anderen Parlamente in Europa, gewahrt bleiben. Ohne die Wahrung unserer Beteiligungsrechte wird es keine Fortentwicklung der Europäischen Union geben. Danke. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Dr. Bruno Hollnagel. ({0})

Dr. Bruno Hollnagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004760, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine kleine Vorbemerkung: Ich habe in unserem Antrag einen Fehler gemacht. Die 8 Prozent beziehen sich natürlich auf die Bilanzsumme. – Wer arbeitet, macht auch mal einen Fehler. Meine Damen und Herren, am 21. Mai 2018 forderten 154 Wirtschaftsprofessoren – ich zitiere –: „Der Euro darf nicht in die Haftungsunion führen.“ Die Professoren – darunter die renommierten Professoren Hans-Werner Sinn und Clemens Fuest – kritisierten insbesondere die Einsetzung des Europäischen Stabilitätsmechanismus als Rückversicherung für die Sanierung von Banken und die geplante Vergemeinschaftung der Einlagensicherung. Die Professoren bestätigten damit die Position der AfD. ({0}) Theo Waigel sagte schon am 13. April 1998: Jedes Land haftet allein für seine Schulden. Es wird in der Währungsunion keine zusätzlichen Finanztransfers geben. Dieses Versprechen, das unter dem Beifall der CDU/CSU gegeben wurde, haben Sie gebrochen. ({1}) Wir wollen die Einhaltung von Verträgen. Wir wollen die Einhaltung der No-bailout-Klausel. Wir von der AfD wollen keine Transfer- und Haftungsunion in Europa. Auch wir wollen die Beibehaltung des Prinzips der Subsidiarität und der Eigenverantwortlichkeit. ({2}) Die CDU/CSU- und die SPD-Fraktion schrieben noch am 23. Februar 2016 in einem Antrag – ich zitiere –: Der Deutsche Bundestag erwartet daher von der Kommission, dass eine gemeinsame … Einlagensicherung oder Einlagenrückversicherung … unterbleibt. Jetzt wollen Sie eine europäische Einlagensicherung. Sie haben eine verhängnisvolle Kehrtwende vollzogen. Wir lehnen die europäische Einlagensicherung ab; denn wir wollen nicht, dass deutsche Sparer für Zombiebanken in Griechenland haften. ({3}) Die CDU/CSU und die SPD äußerten sich in diesem Haus am 8. Juni 2018 dahin gehend, dass vor der In­stallation einer gemeinsamen Einlagensicherung die notleidenden Kredite, die sogenannten NPLs, signifikant gesenkt werden müssten. Das klingt gut, verfehlt aber das Ziel; denn bei einem Zinssatz von 0 Prozent bleiben Strukturmängel und damit die Risiken vieler Kredite unentdeckt. Die Schlüsselfrage nach der Widerstandsfähigkeit gegen Zinssteigerungen oder Konjunkturschwächen wird bei der Fokussierung auf derzeit notleidende Kredite ausgeblendet. Das ist grob fahrlässig. ({4}) Sie wollen, dass die EZB die Kontrolle über die Banken hat. Wer die Banken kontrolliert, muss neutral sein. Ist die EZB neutral? Nein, sie ist nicht neutral, weil sie Gelder an Banken ausleiht. Sie ist befangen und deswegen nicht geeignet, die Banken zu kontrollieren. ({5}) Frau Kollegin Tillmann, die leider nicht da ist ({6}) – oh, wunderbar; schönen guten Abend –, ({7}) sprach unter anderem über die Gläubigerbeteiligung bei Banken. Ja, das wollen auch wir; denn wer an Gewinnen partizipiert, muss natürlich auch die Verluste tragen. Wir sind aber nicht für eine Verlustbeteiligung von Bankkunden. Wer bei Lidl, Penny oder Aldi einkauft oder bei Shell tankt, der haftet als Kunde ja auch nicht für diese Firmen. Warum soll das bei Banken eigentlich anders sein? ({8}) Wir wollen den Schutz der Kontoinhaber und der Steuerzahler. Dieser Schutz ist alleine durch die Banken und deren Eigentümer sicherzustellen. Der Staat hat nur die Kontrolle zu übernehmen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die staatliche Kontogarantie in Höhe von 100 000 Euro ist irreführend; denn der Staat sind die Bürger, und wir Bürger wollen nicht für das Versagen von Banken haften, ganz gleich in welcher Form. ({9}) Wir wollen für circa 1 500 deutsche Banken die Aufsicht in nationaler Verantwortung. Nur bei den wenigen international agierenden Banken können wir uns eine Erweiterung vorstellen. Meine Redezeit ist leider zu Ende. ({10}) Ich bedanke mich dafür, dass Sie zugehört haben, und wünsche Ihnen einen schönen Abend. Danke schön. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. Die Rede von Johannes Kahrs geht zu Protokoll . ({0}) Ich erteile das Wort der Kollegin Ulla Ihnen für die FDP-Fraktion. ({1})

Ulla Ihnen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004765, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 20 Jahre Euro: Darauf ist Kollege Kindler eingegangen, und das ist sicherlich Anlass für den Antrag der Grünen und dafür gewesen, ihre Thesen zur Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion vorzulegen. Aber, lieber Kollege Kindler, ich darf darauf verweisen: Wir Freien Demokraten haben bereits vor über einem Jahr ({0}) unseren Antrag zur Stärkung der fiskalpolitischen Regeln eingebracht. ({1}) Zugleich haben wir auf problematische Vorschläge der Europäischen Kommission hingewiesen, die auf einen Abbau der Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages bei der Beschlussfassung über ESM-Kredite, also bei der Bereitstellung von Krediten für finanziell in Not geratene Staaten, hinauslaufen. Dieses Thema ist heute mindestens so aktuell wie im vergangenen Jahr. Gerade ist die Euro-Gruppe dabei, weitreichende Änderungen am ESM-Vertrag auszuarbeiten. Heute stimmt zudem das Europäische Parlament über einen Antrag zum ESM ab, der unter anderem die Überführung des ESM in den EU-Rechtsrahmen und damit eine weitreichende Kontrolle durch das Europäische Parlament vorsieht. Damit würde zugleich die Stellung der nationalen Parlamente substanziell geschwächt, und zwar auch die des Bundestages. Ich denke, wir sind uns einig, dass wir das nicht zulassen können. ({2}) Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Entwicklungen möchte ich noch mal auf zwei Punkte unseres Antrages von Anfang 2018 eingehen: Erstens: der Parlamentsvorbehalt. Für die Bereitstellung von finanziellen Hilfsleistungen muss der Parlamentsvorbehalt des Deutschen Bundestages uneingeschränkt gelten. ({3}) Der Bundestag muss über das Geld der deutschen Steuerzahler entscheiden und niemand sonst. Daher muss auch das Vetorecht Deutschlands im Gouverneursrat weiter bestehen, und es darf nicht aufgeweicht werden. Das ist die rote Linie, die auch das Bundesverfassungsgericht – Kollege Rehberg hat es angesprochen – 2014 vorgegeben hat. ({4}) Ich appelliere daher an die Bundesregierung, alles daranzusetzen, dass der Parlamentsvorbehalt in einem geänderten ESM-Vertrag ohne Abstriche erhalten bleibt. ({5}) Zweitens ein paar Worte zum vieldiskutierten Euro-Zonenbudget. Natürlich muss die europäische Integration vorangetrieben werden, aber der Bundesfinanzminister scheint zu glauben, dass ein mit Einnahmen aus einer Finanztransaktionsteuer und einer Digitalsteuer gefüllter Euro-Zonenhaushalt der EU wieder mehr Leben einhaucht. Das ist ganz bestimmt ein Trugschluss. ({6}) Einen Punkt aus unserem Antrag hat die Bundesregierung in den bisherigen Verhandlungen zum Euro-Zonenbudget sogar beherzigt. Sie hat sich dafür eingesetzt, dass ein Euro-Zonenbudget nur zur Förderung von Reformen und Investitionen genutzt werden, aber keine gesamtwirtschaftliche Stabilisierungsfunktion haben darf. Das ist im Sinne der Steuerzahler begrüßenswert. Bei unserem Antrag von 2018 haben wir nicht vorhersehen können, dass sich der Bundesfinanzminister in Brüssel unter anderem für das Euro-Zonenbudget, eine europäische Arbeitslosenrückversicherung, vorsorgliche ESM-Kreditlinien, Mindeststeuern, die Finanztransaktionsteuer, eine Digitalsteuer – alles Initiativen zur Haftungsvergemeinschaftung und für neue Steuern – und zudem auch noch für die Aufhebung der Einstimmigkeit in der Steuerpolitik einsetzen würde. ({7}) Wir als Freie Demokraten haben nicht vorhergesehen, dass sich eine Bundesregierung so schnell von Maastricht abwendet. ({8}) Unser Antrag setzt dagegen auf eine Kultur der finanziellen Eigenverantwortung in Europa, steht für klare fiskalische Regeln und stellt den Parlamentsvorbehalt und die demokratische Legitimation sicher. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die Kollegen Alexander Ulrich und Antje Tillmann haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. ({0}) Der nächste Redner ist der Kollege Metin Hakverdi für die SPD-Fraktion. ({1})

Metin Hakverdi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004289, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Euro ist nicht nur ein Stück europäische Integration, er ist viel mehr als das: Er ist unsere globale währungspolitische Lebensversicherung. Die Finanzkrise nahm 2008 mit der Pleite von Lehman Brothers ihren Lauf und hat uns 2013 fast den Euro gekostet. Mit unserer gemeinsamen Währung standen wir ein Stück weit am Abgrund. Mit sehr viel Engagement und sehr viel gelebter europäischer Solidarität konnten wir das Allerschlimmste abwenden. Wäre der Euro gescheitert, hätte sich die Europäische Union als globaler Akteur verabschiedet. Das Rennen hätten andere gemacht. Die nationalen Währungen der europäischen Mitgliedstaaten wären zum Spielball verantwortungsloser Marktteilnehmer geworden. Die Rettung des Euro war deshalb die Rettung unserer deutschen währungspolitischen Souveränität. Es ist besser, nach der eigenen Pfeife als nach der Pfeife anderer zu tanzen. Ich nenne hier China, aber auch die USA. ({0}) In Zukunft wird man aber auch an Ländern wie Indien nicht vorbeikommen. Wieso ist aber unsere gemeinsame Währung so stark unter Druck geraten? Das ist ja die Frage, die man sich hier heute stellen muss. Nun, das hat auch mit nationalistischer Rhetorik bei der Einführung der Währungsunion zu tun. Aus innenpolitischen Gründen hat man auf europäische Kriseninstrumente verzichtet. Damit war der gemeinsame Währungsraum in der Krise nicht handlungsfähig, was wir dann auch gemerkt haben. Im Zuge der Krise haben wir das dann alles nachholen müssen: Wir haben die Bankenunion auf den Weg gebracht, wir haben einen Europäischen Stabilitätsmechanismus etabliert, mit dem Europäischen Semester haben wir eine wirtschaftspolitische Koordinierung auf europäischer Ebene geschaffen usw. Alle diese Maßnahmen waren richtig, und dennoch waren wir auf die Unterstützung der EZB angewiesen. Es wäre töricht, heute an der Krisenfestigkeit des europäischen Finanzraumes nicht weiterzuarbeiten. Das wollen die FDP und die AfD aber. Sie wollen die Uhren zurückdrehen. Sie wollen eine weitere Stabilisierung des europäischen Finanzraumes wieder in die Hände einzelner Nationalstaaten legen, und das ist falsch. ({1}) Kolleginnen und Kollegen, bereits vor zwei Jahrzehnten zeichnete sich die Systemkonkurrenz zwischen den USA und China ab. Europa droht heute zwischen zwei Supermächten zerrieben zu werden. Schon damals war die nationalstaatliche Rhetorik innerhalb der EU wahrscheinlich unverzeihlich. Heute ist sie es erst recht. Wer heute nationale Lösungen propagiert, handelt gegen die nationalen Interessen unseres Landes. ({2}) Er riskiert wegen politischer Positionsgewinne die Stabilität unserer Zukunft. Daher werden wir die Anträge der AfD und der FDP heute ablehnen. Die aktuell stabile finanzpolitische Lage sollte unsere Reformanstrengungen nicht bremsen. ({3}) Ich finde es gut, dass im Finanzministerium an der Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus gearbeitet wird. Genau das war mit der CDU/CSU im Koalitionsvertrag vereinbart. Wir wollen den Euro-Raum weiter stabilisieren. So schützen wir das Geld unserer Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Mit unseren europäischen Partnern haben wir uns verständigen können. In Zukunft soll der ESM die makroökonomische und finanzielle Situation seiner Mitglieder prüfen können. Er soll seinen Mitgliedern technische und sonstige nichtfinanzielle Unterstützung gewähren können. Reformiert werden auch die vorsorglichen ESM-Instrumente. Wichtig ist natürlich auch die Letztsicherung für den Einheitlichen Bankenabwicklungsmechanismus. Mit all diesen Maßnahmen versichert man sich gegen künftige Krisen. Die Zugänge sind schwer, und es gibt erhebliche Auflagen. Im besten Fall sollen sie nie greifen. Wichtig ist, dass sie da sind, wenn wir sie brauchen. ({4}) Kolleginnen und Kollegen, bei der Debatte um die Weiterentwicklung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion geht es immer um die Frage, wohin wir unser Land für die Zukunft führen wollen. Wenn Sie wollen, dass unser Land zwischen den Weltmächten zerrieben wird, dann arbeiten Sie weiter gegen die EU. Wollen Sie aber ein starkes Deutschland, ein prosperierendes Deutschland, ein Deutschland, das seinen Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit und Wohlstand schafft und sichert, dann helfen Sie uns, Europa stark zu machen. Dafür steht meine Fraktion. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: der Kollege Alexander Radwan, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute um halb zwölf zum wiederholten Male das Thema „Bankenunion und Einlagensicherung“, diesmal mit verschiedensten Anträgen. Das zeigt das Spektrum dieses Hauses. Der Kollege Eckhardt Rehberg hat es ja schon dargestellt: Das beginnt damit, dass wir in die Transferunion sollen, und reicht bis dahin, dass Deutschland geldmäßig dementsprechend noch mehr leisten soll. All diejenigen, die das fordern, brauchen nicht zur Europawahl anzutreten und zu fordern, das Vertrauen der Menschen in Deutschland in die Europäische Union zu stärken. Genau das Gegenteil erreichen sie dadurch. ({0}) Wir sehen, dass die Union schon seit langer Zeit – ausgehend von Finanzminister Schäuble – ein Hort der Stabilität in Europa ist. ({1}) An den Prioritäten, die seit Jahren vorgegeben werden, orientiert sich heute Europa. Ich nenne zum Beispiel den Abbau der NPLs. Aus dem Antrag der AfD habe ich gelernt – das habe ich jetzt auch wieder gehört –: Der Abbau der NPLs ist gar nicht so wichtig; das ist eher ein Nebenkriegsschauplatz. – Das ist ein interessanter Ansatz. Zum Thema Null-Prozent-Gewichtung bei Staatsanleihen. Eine Abkehr davon ist der richtige Ansatz. Ich würde mich freuen, wenn die FDP ihren neuen Buddy Macron ermutigen würde, ({2}) die deutsche Bundesregierung auf dem Weg zu unterstützen, dass Staatsanleihen zukünftig risikoorientiert unterlegt werden und nicht bei 0 Prozent bleiben. Solche Appelle wären weitaus sinnvoller als Appelle an die Bundesregierung. ({3}) Lassen Sie mich kurz auf etwas eingehen, was ich wirklich bemerkenswert finde. Die AfD hat in ihrem Antrag gefordert, der EZB die Aufsicht über europäische Großbanken zu entziehen. Darüber haben wir im Ausschuss schon diskutiert; Kollege Hollnagel hat das heute angesprochen. Aber das steht nicht im vorliegenden Antrag. Schreiben Sie hinein, dass wir Europa brauchen! Das wäre ein Fortschritt. Aber vielleicht bricht Ihnen ja der Stift ab, wenn Sie so etwas schreiben. Sie sagen auch, Sie wollen die Aufsicht primär nationalisieren. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, meine Damen und Herren. Die AfD sagt: Die Aufsicht in Griechenland, in Portugal und in Italien muss auf nationaler Ebene erfolgen, eine europäische Supervision ist zurückzuführen. – Gleichzeitig suggerieren Sie, die Finanzmärkte seien dann sicher. Meine Damen und Herren, das ist an Idiotie nicht zu überbieten. ({4}) Die Finanzkrise hatte ihren Ursprung, weil die Aufseher eben nicht wussten, was auf den anderen Märkten passiert. Es ist daher das Gebot der Stunde, dass die Aufseher nach einheitlichen Regeln arbeiten, die Risiken rechtzeitig kennen und wissen, wo diese liegen, und zwar grenzüberschreitend. Ein Zurückfahren der Aufsicht auf die nationale Ebene ist genau das Gegenteil von dem, was wir brauchen. ({5}) Meine Damen und Herren, die AfD ist dabei – wenn ihr Vorschlag durchginge –, den Grundstein für die nächste Finanzkrise zu legen. ({6}) Ihr Vorschlag ist eine Gefahr für Deutschland, eine Gefahr für den deutschen Steuerzahler. Besten Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Radwan. – Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zunächst zu den Tagesordnungspunkten 20 a und 20 d. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/8283 und 19/8272 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 20 b. Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Erhalt der nationalen Einlagensicherung – Keine Transfer- und Haftungsunion in Europa“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/8347, den Antrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/2573 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind bis auf die AfD alle übrigen Fraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das ist die AfD. Enthaltungen? – Keine. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Tagesordnungspunkt 20 c. Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Europas fiskalpolitische Regeln stärken – Transferunion verhindern“. Hier empfiehlt der Ausschuss in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1898, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/583 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Das sind Linke, SPD, Grüne und CDU/CSU. Gegenprobe! – FDP. Enthaltungen? – AfD. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.