Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Von Thomas Edison ist der Satz überliefert: „Der Wert einer Idee liegt in ihrer Umsetzung.“ Das gilt selbstverständlich auch für die Ideen, die wir als Bundesregierung im Rahmen der Digitalisierung gestalten und vor allem auch umsetzen wollen. Deswegen haben wir nach der Digitalen Agenda der letzten Legislaturperiode erstmals eine Umsetzungsstrategie vorgelegt, die definieren soll, was wir wollen, aber vor allem auch, wie wir es umsetzen wollen. Denn wir haben festgestellt, dass der ganz besondere Wert darin liegt, konkrete Schritte zu gehen. Wir formulieren nachprüfbare Schritte zu allen einzelnen Handlungsfeldern.
Die Umsetzungsstrategie gibt es sowohl ausgedruckt
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– auf Papier, ganz analog – als auch digital – digital-made-in.de –, Herr Kollege, weil wir unsere Digitalisierung eben „sowohl-als-auch“ gestalten und nicht „entweder-oder“.
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– Wir wollen das niederschwellig für diejenigen machen, die sich nicht ein iPad für über 1 000 Euro leisten können.
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Unser Ziel ist ganz klar: Wir wollen jede Bürgerin und jeden Bürger in die Lage versetzen, den digitalen Wandel selbstbestimmt mitgestalten zu können und vor allem verantwortungsvoll mit den Risiken umzugehen. Dafür braucht es zuallererst digitale Bildung, auch und gerade in unseren Schulen.
Der Weg für den DigitalPakt Schule ist nun geebnet. Das war überfällig. Ich gebe zu, dass das zeitweise auch eine sehr unschöne Diskussion war. Wir können auch nicht damit zufrieden sein, sondern wir müssen uns schon ein bisschen davon lösen, zu meinen, dass wir innerhalb der Bundesländer miteinander in einem Wettbewerb stehen und miteinander konkurrieren.
Unsere erste Konkurrenz sind auch nicht unbedingt Frankreich oder Großbritannien – wobei in Großbritannien schon jedes Kind 50 Minuten Programmierunterricht in der Grundschule hat –, sondern wir haben den sogenannten War of Talents, der global ist und der uns auch als Deutschland, aber vor allem auch als Europa in eine Sandwichposition bringt zwischen dem Silicon Valley auf der einen Seite und vor allem China auf der anderen Seite. Da geht es nicht nur darum, dass wir uns daran messen lassen, sondern wir müssen uns auch daran messen lassen wollen.
Es geht auch nicht mehr nur darum, dass wir sagen: „Mathe, Deutsch und eine Fremdsprache sind wichtig“, sondern wir müssen unseren Kindern auch einen digitalen Kanon von Grundfertigkeiten mit auf den Weg geben, weil es eben nicht nur um die alteingeübten Schulfächer geht. Es geht auch um „Computational Thinking“, es geht um Programmieren, es geht um Datenanalyse, es geht um Robotik, es geht um Kollaboration. Es geht auch um solche Themen wie digitale Ethik, neue Formen der Problemlösung, unternehmerisches Handeln, Durchhaltevermögen. Diese Liste könnte man immer so weiterführen.
Wir müssen uns auch ganz besonders um die Eltern kümmern; denn man merkt immer wieder sehr stark, dass schon in den unteren Stufen darauf geachtet wird: In welchem Bereich und in welchem Beruf wird mein Kind in 10 oder 15 Jahren tätig sein? Ich weiß, dass es für viele nicht beruhigend ist, wenn man ihnen dann sagt, dass die Berufe, in denen ihr Kind dann tätig sein wird, bislang überhaupt noch nicht existieren. Das heißt, wir haben im Moment nicht diesen besonderen Riss zwischen den Bundesländern, den wir manchmal haben. Zeitweise haben wir ihn noch nicht einmal zwischen den einzelnen Schulen, sondern in den einzelnen Klassenzimmern.
Ich habe auf der Bildungskonferenz, die im letzten Jahr im Kanzleramt stattgefunden hat, festgestellt, dass der Wunsch aller Beteiligten war, dass sich hier auch der Bund noch stärker einbringt, weil wir eben einen Grundwertekanon brauchen. Da sind auch wir als Bundespolitiker mehr denn je gefragt, auch wenn das vielleicht noch nicht jeder Landesvertreter gerne hören möchte.
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Natürlich endet die digitale Kompetenz nicht in der Schule, sondern es geht auch um die Weiterbildung. Da haben wir die Nationale Weiterbildungsstrategie; darüber wurde schon viel berichtet. Aber es geht auch um das Thema „Innovation und digitale Transformation“. Auch hier haben wir ganz klare Ziele, besonders im Bereich der künstlichen Intelligenz. Da wollen wir nicht nur in der Forschung führend sein – das sind wir in großen Teilen –, sondern wir wollen auch bei den universitären Ausgründungen besser werden, um auch da ein weltweit führendes Niveau zu haben, um die Entwicklung zu prägen. KI ist der wichtigste Innovationstreiber, der jetzt schon Branchen und Märkte komplett umpflügt, also keinen Stein auf dem anderen lässt. Wir sind hier in der ersten Liga, was die Forschung betrifft. Wir investieren aber trotzdem noch mehr: in die Forschung, in die Entwicklung und in die Anwendung.
Die 3 Milliarden Euro sind auch schon oft angesprochen worden. Aber wenn man sich einmal anschaut, wie es mit der Kofinanzierung von Projekten durch die Industrie, durch regionale Förderprogramme der Bundesländer aussieht, stellt man fest: Da haben wir unter dem Strich sofort schon 6 Milliarden Euro. Das ist in Europa absolute Spitze. Wir schaffen zudem 100 zusätzliche KI-Professuren. Auch das ist ein ganz klares Signal an die Forscherszene. Ich darf an dieser Stelle auch einen Gruß nach Heidelberg schicken, nämlich an die Forscherinnen und Forscher, die jetzt auch dafür sorgen, dass beispielsweise Brustkrebs besser erkannt werden kann. Wir können schon sehr stolz auf das sein, was an unseren Universitäten geleistet wird.
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Aber Digitalisierung ist nicht nur Technik – sie ist auch kein Selbstzweck –; vielmehr steht für uns jede Bürgerin und jeder Bürger im Mittelpunkt. Wir wollen dadurch eine Lebenserleichterung schaffen. Wir wollen eine Gesellschaft im digitalen Wandel. Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass wir im Hinblick auf unsere Werte – deswegen haben wir in Deutschland ja auch eine Datenethikkommission – mittel- und langfristig auch global die Gewinner sein werden. Auch wenn wir in unserer Kultur, wenn es um die tatsächliche Umsetzung geht, vielleicht nicht in Jahrhunderten denken, wie das andere Nationen machen, müssen wir uns vielleicht doch davon lösen, nur in reinen Geschäftsjahren zu denken, und müssen ein bisschen darüber hinausgehen.
Ich hoffe, zum Thema „Digitaler Staat“ werden wir bald eine Extradebatte haben; dazu komme ich jetzt leider nicht mehr.
Abschließend möchte ich – neben der Technik, neben der Ethik und neben den Werten – gerne noch darauf hinweisen, dass, abgewandelt von der berühmten Rede von Roman Herzog, ganz dringend ein digitaler Ruck durch Deutschland gehen muss, dass wir auch neue Wege gehen müssen, neu denken müssen, Gewohntes hinterfragen müssen. Vielleicht wird das schon bei den kommenden Haushaltsberatungen der Fall sein, wenn es darum geht, mehr für Investitionen auszugeben und weniger für konsumtive Ausgaben. Da können wir das zeigen. Vielleicht lassen wir auch im Sinne einer Generationengerechtigkeit mit dem Schwerpunkt Zukunftsthemen eine KI den nächsten Bundeshaushalt aufstellen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Joana Cotar, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Digitalisierung gestalten, Arbeit 4.0, Gigabit-Gesellschaft, Big Data, Disruption – Buzzwörter, die mittlerweile in keiner einzigen Bundestagsrede mehr fehlen dürfen. Sie sollen zeigen: Wir haben verstanden! Die Regierung kümmert sich.
Die Reden klingen gut, die Versprechen sind groß. Doch die Realität sieht – leider – anders aus. Das wichtige Querschnittsthema Digitalisierung wird in dieser Bundesregierung eben nicht wirklich ernst genommen. Das wird auch in diesem Umsetzungspapier sehr deutlich: Es ist reines Stückwerk und keine koordinierte Strategie – symptomatisch für die Digitalpolitik der Bundesregierung.
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Es gibt in Deutschland kein Digitalministerium, in dem alle Fäden zusammenlaufen; jeder kocht sein eigenes Süppchen. Es gibt eine Digitalstaatsministerin ohne eigenes Budget, eine Abteilung für Digitalpolitik im Kanzleramt, ein Digitalkabinett und einen Digitalrat. In allen Ministerien gibt es unzählige Referate, Abteilungen, Projekte, Kommissionen und Agenturen, die sich um die Digitalisierung kümmern. Alle wollen sie mitreden, und niemand hat den Überblick. Und genau das ist einer der Hauptgründe, warum all die schönen Versprechen in Sachen Digitalisierung, die wir seit Jahren hören, nicht umgesetzt werden. Etwas zur Chefsache zu erklären, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, sieht wirklich anders aus.
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Ein Beispiel. Jahr für Jahr verspricht uns die Regierung schnelles Netz für alle. Schon 2009 versprach Angela Merkel „flächendeckendes Breitband für alle bis 2010“; 2010 wurde das Versprechen wieder einkassiert. Dafür versprach die Kanzlerin dann, dass bis 2014 75 Prozent der Haushalte über „mindestens 50 Megabit“ verfügen sollten. Bald gab sie zu: Auch das wird nichts. – Dann ein neues Versprechen: Spätestens 2025 werde Deutschland mit Gigabitnetzen die beste digitale Infrastruktur der Welt haben. Und schon jetzt wissen wir: Auch dieses Ziel wird nicht erreicht werden. Eine Bankrotterklärung, liebe Bundesregierung!
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Bei Internetgeschwindigkeiten liegt Deutschland im internationalen Vergleich auf Platz 25 hinter Ländern wie Rumänien oder Lettland. Beim Mobilfunk sieht es nicht viel besser aus; das weiß jeder Bürger, der verzweifelt versucht, auf Bahnfahrten längere Telefonate zu führen.
Eines der wichtigsten Themen der heutigen Zeit: Cybersecurity. Ohne Sicherheit ist diese schöne neue Welt nichts wert. Auch die Regierung möchte die Cybersicherheit stärken und gründet dafür – mal wieder – eine Agentur; wir haben davon ja so wenig. Gleichzeitig möchte die Regierung aber nur ihr bekannte Sicherheitslücken in IT-Produkten nicht schließen, sondern nutzen, wohl wissend, was für Schäden solche Exploits anrichten können. Und Backdoors in Soft- und Hardware werden auch nicht abgelehnt; die Überwachung muss schließlich umfassend sein. Mit Verlaub, so steigern Sie die Sicherheit nicht, so fahren Sie auch das Thema Cybersecurity vor die Wand, meine Damen und Herren.
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Wenn ich dann lese, dass man sich in dem Papier auch über das Internet auslässt und die Medienkompetenz der Menschen stärken will, dann schlage ich vor, dass wir gleich hier im Bundestag und auch auf EU-Ebene beginnen. Wer allen Ernstes die Freiheit des Internets mit der Einführung von Upload-Filtern zerstören möchte, wer Zensur im großen Stil einführen möchte, weil er nicht verstanden hat, dass Algorithmen völlig ungeeignet sind, um Urheberrechtsverletzungen zu erkennen, der sollte bei digitalen Themen schlichtweg den Mund halten, liebe Kollegen von der Union und der SPD.
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Im Koalitionsvertrag haben Sie Upload-Filter als unverhältnismäßig abgelehnt, nur um dann auf EU-Ebene umzufallen und die Anwendung genau dieser Filter zu beschließen. Eine Petition mit fast 5 Millionen Unterschriften interessiert Sie nicht. Beschwerdemails von jungen Menschen werden ignoriert, ja, mehr noch, diese Menschen werden von Ihnen wahlweise als Bots oder als Mob beschimpft. Schämen Sie sich, meine Damen und Herren! Schämen Sie sich in Grund und Boden!
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Ihr Koalitionsvertrag ist das Papier nicht wert, auf dem er steht, und das ist mit dieser visionslosen Umsetzungs-„Strategie“ für die Digitalisierung leider nicht anders: Viele Worte, verstreute Einzelmaßnahmen, wenig dahinter. So bringen Sie Deutschland nicht nach vorne, und das Nachsehen hat wieder einmal der Bürger.
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Nächster Redner ist der Kollege Sören Bartol, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Besuchertribünen und vor dem Fernseher! Deutschland gilt ja in vielen Fragen als fortschrittlich: unsere sozialen Sicherungssysteme, die duale Ausbildung, Handwerk, Maschinenbau und unsere Universitäten. Für das Thema Digitalisierung gilt das nicht. In den meisten Digitalrankings befindet sich Deutschland im Mittelfeld; in manchen taucht es gar nicht auf. Kurzum, es besteht Nachholbedarf. Deutschland kann, will und muss digitaler werden.
Die gute Nachricht: Wir sind dabei.
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In ihrer Umsetzungsstrategie „Digitalisierung gestalten“ hat die Bundesregierung konkret auf fünf Handlungsfeldern zusammengefasst, was jetzt und in den nächsten Jahren passieren muss. Nur so können wir als Gesellschaft unsere Lebensqualität weiter steigern, unser wirtschaftliches und ökologisches Potenzial entfalten und den sozialen Zusammenhalt bewahren.
Dafür brauchen wir eine kluge Bildungs- und Industriepolitik und eine intelligente Steuergesetzgebung. Nach der gestrigen Einigung im Vermittlungsausschuss steht mit dem 5 Milliarden Euro starken Digitalpakt beispielsweise das nötige Geld für den Bildungsbereich jetzt endlich bereit. Unsere Schulen können es brauchen. In Finnland etwa gehören interaktive Tafeln zum Alltag. Es wäre schön, wenn sie auch in unseren Klassenzimmern bald zum Standard gehörten, wenn sich Schülerinnen und Schüler nicht nur zu Hause, sondern auch in der Schule im digitalen Zeitalter befänden.
Bildung und Qualifizierung sind neben digitaler Infrastruktur die Schlüsselelemente, damit alle von der Digitalisierung profitieren. Folgerichtig stehen sie im Zentrum der Arbeitsmarktpolitik unseres Bundesarbeitsministers. Qualifizierungsoffensive und Nationale Weiterbildungsstrategie stellen sicher, dass sich nicht nur Berufe, sondern auch Menschen verändern und weiterentwickeln können. Finanziert wird das von der Bundesagentur für Arbeit. Wir sichern so auch die Zukunft der Arbeit. Das ist wichtig für den Einzelnen und für unsere Unternehmen, die dringend ausreichend und gut ausgebildete Fachkräfte benötigen. Kurz, es passiert jetzt das, was passieren muss für unsere, für Deutschlands digitale Zukunft.
Selbstverständlich sind auch die Unternehmen gefragt, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen. Es ist wichtig, dass sie jetzt auf neue Produkte setzen und in Innovationen investieren. Dabei geht es nicht nur darum, bestehende Geschäftsmodelle zu digitalisieren, nein, es geht auch darum, neue digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln. Hier brauchen wir steuerliche Anreize. Dafür werden wir zum Beispiel die steuerliche Forschungsförderung insbesondere für kleine Unternehmen zügig auf den Weg bringen.
Im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung auch ihre Strategie zur künstlichen Intelligenz vorgestellt, und die Enquete-Kommission KI wurde hier im Deutschen Bundestag ins Leben gerufen. Die KI-Strategie hat eine zentrale Bedeutung für Deutschlands Zukunft. Künstliche Intelligenz gilt als Schlüsseltechnologie, um unseren Wohlstand zu wahren und global wettbewerbsfähig zu bleiben.
Zugegeben, auch hier sind wir spät dran. Dafür gehen wir dieses Thema jetzt umso konsequenter an. An der Seite Frankreichs haben wir hier die Chancen, uns gut aufzustellen. Dafür werden wir unsere Expertise und Infrastruktur ausbauen und für mehr qualifizierte Arbeitskräfte im Bereich KI sorgen. Mit den in der KI-Strategie vorgesehenen zwölf KI-Zentren, mit 100 zusätzlichen Professuren und einem deutsch-französischen KI-Cluster tun wir genau das. Die hierfür vorgesehenen 3 Milliarden Euro sind gut investiert. Studien besagen, dass wir unser Bruttoinlandsprodukt alleine durch die KI bis 2030 um 11 Prozent steigern können. Das heißt, wir müssen unsere KI-Strategie jetzt zügig umsetzen und sie mit einer klugen Datenpolitik unterstützen.
Daten sind die Grundlage, die Basis jeglicher KI. Wer die Daten hat und mit ihnen umgehen kann, der hat die Macht und der sorgt für die Innovationen von morgen. Genau das beobachten wir, wenn wir uns die wachsenden Marktanteile der Tech-Giganten anschauen. Deshalb müssen wir über Anreizsysteme nachdenken, wie Unternehmen und Forschungseinrichtungen in Deutschland qualitativ hochwertige Daten bekommen und damit auch arbeiten können. Daten sind bisher meist in der Hand einiger weniger Konzerne, vorwiegend aus China und den USA. Deren angloliberalen oder staatlich-autoritären Ansatz können wir weder nachahmen, noch wollen wir das. Diese Konzerne haben aber auch auf dem europäischen Markt quasi eine Monopolstellung erreicht. Das verhindert Innovationen mittelständischer europäischer Unternehmen. Das kann weder im Sinne des Staates noch der Gesellschaft und auch nicht im Sinne der Wirtschaft sein.
Deshalb sorgen wir jetzt für die richtigen Rahmenbedingungen, und wir sorgen dafür, dass gesellschaftlich am Ende alle von der Digitalisierung und dem dadurch erwirtschafteten Wohlstand profitieren.
Herr Kollege Bartol, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von der AfD?
Ja.
Bitte.
Herzlichen Dank für die Genehmigung der Zwischenfrage. – Ich habe eine konkrete Frage an Sie. Sie sagen: Es muss überall was getan werden, gerade in Unternehmen usw. usf. – Was machen Sie denn konkret? Sie haben über Infrastruktur und ihre Bedeutung gesprochen. Bitte vergegenwärtigen Sie sich mal die Zahlen. Es gibt in Asien Länder – nehmen wir mal Japan und Südkorea als Beispiele –, die 50 bis über 70 Prozent Glasfaseranschlüsse haben. In Deutschland sind wir – ich gehe davon aus, dass Sie es wissen – bei circa 2 Prozent. Was macht der Staat, um hier eine entsprechende Infrastruktur bereitzustellen? Gerade die mittelständische Wirtschaft braucht das, vor allem – das ist ja auch ein Thema Ihrer Partei; auch ich halte das für sinnvoll – bei Themen wie Homeoffice. Was machen Sie in dem Fall, um die Anbindung der Mitarbeiter zu gewährleisten? Was tun Sie? Welche Ziele haben Sie?
Oder mal ganz konkret: Bis wann wird die Zahl dieser Anschlüsse erhöht? Bis zu welchem Jahr haben wir mindestens 30 Prozent Glasfaseranschlüsse? Bis zu welchem Jahr 50 Prozent? Werden Sie doch bitte einmal konkret, statt immer nur abstrakt weiterzureden. Ich bitte um konkrete Aussagen.
Herr Präsident, ich halte die Uhr jetzt für eine Stunde an, um die Infrastrukturstrategie der Koalition zu erklären.
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Eine Stunde wird es nicht werden, Herr Bartol.
Das war ja auch nur ein kleiner Spaß. – Das ist eine typische AfD-Frage: Immer schön Fake News und falsche Daten einflechten.
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Ganz ehrlich, Sie müssen einfach mal das zur Kenntnis nehmen, was wir machen. Wir haben nicht ein Breitbandförderprogramm, sondern wir sind jetzt wieder in einer Runde. Wir haben eine ganz klare Glasfaserstrategie. Wir kommen da auch voran.
Natürlich – ich selber habe das auch gesagt – müssen wir auch im Infrastrukturbereich besser werden. Wichtig ist auch, dass wir uns, wenn wir über 5G und andere Themen reden, nicht nur auf urbane Zentren konzentrieren, sondern natürlich auch auf die Anschlüsse in der Fläche in diesem Land. Genau das tut die Bundesregierung, genau das tut die Koalition in ihren Diskussionen in den Fachausschüssen. Wir haben eine Digitalstrategie.
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Das ist übrigens nicht die erste; wir hatten auch davor schon eine Strategie. Wir folgen unserer Strategie und schließen die Dinge Punkt für Punkt ab.
Und natürlich kommen wir auch voran. Sie müssen das Ganze einfach mal zur Kenntnis nehmen. Natürlich schließen wir immer mehr Menschen an das schnelle Internet an. Das können Sie nicht wirklich bestreiten. Natürlich werden wir am Ende in Deutschland ein flächendeckendes und gut funktionierendes 5G-Netz haben. Wir stellen jetzt die Weichen, um das zu erreichen. Das, was Sie tun, ist, den Standort schlechtzureden, ohne eigene Antworten zu präsentieren.
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Dazu habe ich jedenfalls von meiner Vorrednerin wirklich gar nichts gehört.
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Das war es; ich war eigentlich auch schon am Ende meiner Rede.
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Vielen Dank für die Frage. Dadurch konnte ich das noch mal ausführen. Vielleicht gibt Ihr nächster Redner oder Ihre nächste Rednerin konkrete Antworten. Wir sind gespannt auf Ihre Ideen zur Zukunft Deutschlands.
Danke schön.
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Nächster Redner ist der Kollege Frank Sitta, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Umsetzungsstrategie „Digitalisierung gestalten“ hat die Bundesregierung eine Bestandsaufnahme von Vorhaben mit Digitalbezug vorgelegt. Das ist so weit ganz schön. Eine solche Übersicht hatten wir bisher noch nicht. Vielen Dank erst mal dafür!
Wenn das hier aber eine Strategie sein soll, dann muss ich leider davon ausgehen, dass es keine Strategie gibt, und ich muss wahrscheinlich auch davon ausgehen, dass es keine mehr geben wird. Sie haben hier ein Sammelsurium vorgelegt von in Art, Bedeutung und Umfang äußerst unterschiedlichen Maßnahmen ohne jegliche Priorisierung, ohne jegliche Gewichtung. Hier stehen zentrale Vorgaben wie künstliche Intelligenz und die so dringende und wichtige Unterstützung des deutschen Mittelstands bei der digitalen Transformation neben banalen Einzelprojekten wie „Verpackung und Kühlschrank denken mit“. Geclustert sind diese Maßnahmen nicht etwa nach inneren Zusammenhängen, nach verwandten Daten und Strukturen, sondern – man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen – nach Schlagworten des Koalitionsvertrags. Sie schauen mit diesem Papier noch nicht mal über die Referatsgrenzen einzelner Ministerien hinweg. Ich glaube, eine Strategie ist das hier Vorliegende nicht.
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Aber wer soll in Deutschland, in der deutschen Bundesregierung eigentlich eine wirkliche Strategie entwickeln? Bei aller Sympathie, Frau Staatsministerin Bär, ich würde es Ihnen persönlich wünschen und auch zutrauen, aber im Kanzleramt ist solch eine Koordinierungsrolle völlig fehl am Platz. Wir müssen das Silodenken der Bundesregierung endlich beenden. Solange Sie Themen wie künstliche Intelligenz, digitale Start-ups und 5G getrennt voneinander sehen, werden wir mit innovationsoffeneren Ländern nicht in einen Dialog und erst recht nicht in einen Wettbewerb treten können.
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Sie stellen hier eine Strategie nach der anderen vor, und zur selben Zeit werden in Deutschland Bestellknöpfe von Onlineanbietern verboten. Und wir wundern uns tatsächlich, warum es noch immer kein europäisches Google gibt? Wie soll unter solchen Rahmenbedingungen die digitale Transformation in Deutschland und Europa gelingen? Wir müssen endlich an die verkrusteten Strukturen ran. Wir brauchen jemanden, der ständige fachliche Koordination auf allen Ebenen und über alle Fachbereiche hinweg sicherstellt. Das könnte nur ein Digitalministerium in Deutschland leisten. Wenn wir über den Tellerrand schauen wollen, wenn wir wollen, dass aus Big Data Smart Data wird, dann müssen wir dafür sorgen, dass wir auf allen Ebenen, auch auf der politischen, digital effizienter aufgestellt sind.
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Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutschland muss digitaler werden, ja, es muss zukunftsfit gemacht werden. Wir nennen dieses Deutschland „Smart Germany“. Als Serviceopposition werden wir Ihnen dieses Konzept in den nächsten Wochen und Monaten hier im Deutschen Bundestag vorstellen. Wir haben damit ja bereits begonnen.
Ich bitte Sie im Namen der Freien Demokraten nur um eins: Nehmen Sie das vorliegende Papier als das, was es ist, als einen ersten Ausgangspunkt, eine Bestandsaufnahme. Mehr ist es leider nicht. Bitte lösen Sie auch das bestehende Missverhältnis auf. Auf der einen Seite wird von einer künstlichen Intelligenz gesprochen, die droht, uns alle aufzuessen; diesen Eindruck habe ich manchmal. Auf der anderen Seite plädieren Sie jetzt hier dafür, dass diese künstliche Intelligenz den Finanzminister und die Haushälter ersetzt. Das alles ist sehr abenteuerlich. Ich freue mich auf weitere Strategien in den nächsten Monaten.
Vielen Dank.
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Anke Domscheit-Berg, Die Linke, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben mit der digitalen Revolution gerade einen der größten gesellschaftlichen Umbrüche seit Jahrhunderten. Eine der wichtigsten Aufgaben der Regierung bestünde darin, festzulegen, wohin die Reise geht, und davon einen übergreifenden strategischen Plan abzuleiten, mit dem sie das Land auch gut in die Zukunft steuern kann. Was diese Bundesregierung jedoch vorgelegt hat, ist nicht einmal die Simulation einer gemeinsamen Strategie. Es ist eine 150 Seiten umfassende Loseblattsammlung von Digitalisierungsmaßnahmen.
Von diesen unzusammenhängenden Einzelmaßnahmen enthält nicht eine einzige die simplen Mindestinformationen: wann sie anfängt, wann sie aufhört, was sie kostet und was eigentlich ihr Ergebnis sein soll. Die qualitativen Unterschiede dabei sind riesig. Das BMZ wird lobenswert konkret, aber andere Projektbeschreibungen sind der blanke Hohn. So nennt Gesundheitsminister Spahn für die Maßnahme „Förderung von digitalen Kompetenzen in Heilberufen“ zwei praktisch inhaltsfreie Umsetzungsschritte, nämlich erstens Priorisierung möglicher Maßnahmen und zweitens Umsetzung von Maßnahmen. Ja, was denn eigentlich?
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Minister Spahn scheint auf Fakten nur dann Wert zu legen, wenn er Frauen bevormunden kann. Bei seiner sinnlosen Studie zu seelischen Folgen von Abtreibungen weiß er nämlich ganz genau, wie viel Geld in welcher Zeit er ausgeben will; es sind übrigens 5 Millionen Euro in drei Jahren.
Offensichtlich hat niemand die vielen Maßnahmen koordiniert; sonst hätten die beiden Bundesministerien, die jeweils ein Projekt zur Förderung der Digitalkompetenz älterer Menschen im ländlichen Raum beschreiben, sicher gemeinsame Sache gemacht. Dann hätten alle Ministerien und nicht nur das Umweltministerium digitale Beteiligungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger geplant, und alle, nicht nur das Bildungsministerium, würden anstreben, ihre Arbeitsplätze attraktiver zu machen für Menschen, die nicht aus der Kreidezeit kommen. Dann stünde der Begriff „Open Source“ auch nicht nur als Floskel in der Einleitung des Kapitels „Moderner Staat“ in der Unterrichtung der Bundesregierung, ohne dass ein einziger Umsetzungsschritt genannt wird. Nur bei einer einzigen Maßnahme geht es überhaupt um die Förderung von Open Source, nämlich in Afrika. Warum nur in Afrika? Warum nicht auch bei uns?
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Wie wenig die Bundesregierung weiß, was sie tut, merkt man, wenn man sich im Detail anschaut, wie sie ihre großspurigen Ziele umsetzen will. Bis 2025, so steht es in der Umsetzungsstrategie, soll in ganz Deutschland ein gigabitfähiges Netz vorhanden sein, auch im dünn besiedelten ländlichen Raum. Dafür will man Anreize für Glasfaserinvestitionen schaffen. Gleichzeitig will die Bundesnetzagentur der Telekom erlauben, in der Hausverkabelung die Datenübertragung aus Glasfasernetzen ihrer Konkurrenz bis zur Hälfte zu drosseln, damit ihr eigenes, kupferbasiertes Netz schneller wird. Zu diesem sogenannten Vectoring sagt uns der EU-Rechnungshof, dass es den Ausbau von Glasfaser in Deutschland aktiv behindert hat, gefördert mit Steuergeld. Das ist exakt das Gegenteil von einem Anreiz für Glasfaserinvestitionen und so irre, dass man es überhaupt niemandem mehr beschreiben kann.
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Die Förderung kommunaler Glasfasernetze – ein bewährtes Erfolgsrezept aus Schweden – kommt dagegen gar nicht vor. Man glaubt ja weiterhin, dass der Markt auch die digitale Daseinsvorsorge hinbekommt. Die Konsequenz: 80 000 Euro verlangt die Deutsche Telekom für die Verlegung von 200 Meter Glasfaser in einer Schule im bayerischen Wiesenthau. Für die Bundesregierung ist das natürlich kein Problem; denn wenn die Telekom Kasse macht, freut sich der Finanzminister, da er immer noch größter Einzelaktionär ist. Nur Gigabitnetze bis 2025 kriegen wir so garantiert nicht.
Große Töne auch beim Mobilfunk: Deutschland soll 5G-Leitmarkt werden, die Funklöcher sollen endlich verschwinden. Ja, wie denn? In der Umsetzungsstrategie steht:
Dafür treffen wir mit den Mobilfunknetzbetreibern klare Absprachen über eine bessere 4G-Flächenabdeckung … und setzen … Akzente für den Ausbau der 5G-Technologie.
Als Mitglied im Beirat der Bundesnetzagentur weiß ich, was das heißt: 1 000 Basisstationen für 5G sollen Anbieter aufbauen, ein Dreißigstel der bisherigen Netze. Das ist in der Tat erst mal nur ein Akzent. Funklöcher verschwinden offenbar, weil sie bald „akzentfreie Versorgung“ heißen.
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Die Ausrichtung der Digitalisierung auf das Gemeinwohl fehlt weitgehend in der Umsetzungsstrategie, egal ob bei Glasfaser, Mobilfunk oder der Förderung von Start-ups. Ein Förderprogramm für gemeinwohlorientierte Start-ups sucht man vergeblich, obwohl jedes zweite Sozialunternehmen staatliche Fördergelder als die am allerschwersten zugängliche Finanzierungsquelle nennt und jedes dritte soziale Start-up überhaupt keine eigenen Einnahmen hat. Wenn die Digitalisierung aber, wie es behauptet wird, vor allem Menschen dienen soll, müssen gerade soziale Innovationen zum Beispiel für Bildung oder Umwelt eine Chance bekommen, da sie gesellschaftlichen Nutzen stiften, für Risikokapitalgeber aber völlig uninteressant sind, weil ihr Zweck gerade nicht in der Profitmaximierung liegt.
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Kurz gesagt: Das Papier bleibt im unzusammenhängenden Klein-Klein und adressiert keine der wirklich großen Fragen dieser gewaltigen Transformation. So fehlte der Mut, sich der Frage zu stellen, wie wir unser Sozialsystem umgestalten wollen, können und müssen, damit es auch morgen noch funktioniert, wenn wir unsere Arbeitsplätze mit Robotern teilen.
Diese Strategie ist leider eine Verschwendung kostbarer Zeit, die wir so dringend brauchen, um weitsichtige und kluge Politik für die Zukunft unseres Landes zu machen.
Im Übrigen finde ich, dass Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen absolut nichts im Strafrecht verloren haben.
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§ 219a muss weg. Heute haben wir die Gelegenheit dazu; dieses Haus kann namentlich darüber abstimmen. Ich sehe vor allem in die Richtung der SPD. Fragen Sie Ihr Gewissen! Stimmen Sie der Abschaffung von § 219a zu!
Vielen Dank.
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Dieter Janecek, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Lieber Sören Bartol, die Rede zur künstlichen Intelligenz hätte letzte Woche ganz gut gepasst. Und liebe Doro Bär, ich hätte heute gerne was zum Thema gehört; das heißt nämlich „Umsetzungsstrategie für die Digitalisierung in Deutschland“. Es wäre ganz gut, wenn wir zur Sache sprechen, wenn wir über Digitalisierung reden, und nicht nur über Allgemeinplätze.
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Vielleicht ein Satz zum Zustand heute. Nach den Entscheidungen zu Upload-Filter und Leistungsschutzrecht rufen deutsche Start-ups zum Protest gegen diese Bundesregierung auf. Das ist der Zustand der Digitalisierung in Deutschland im Jahr 2019.
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Schauen wir uns mal den Koalitionsvertrag an, und gehen wir auf diese Umsetzungsstrategie ein. Sie haben ein neues Papier vorgelegt – es hat 156 Seiten – mit einer ganzen Reihe von Vorschlägen. Sie haben aber auch einen Koalitionsvertrag, und Sie haben die Strategie Künstliche Intelligenz. Normalerweise versucht man, wenn man etwas voranbringen will – da gebe ich dem Kollegen von der FDP recht –, es zu priorisieren, mit Budgets zu unterlegen, Ziele aufzuschreiben und zu sagen: Gestern war ich dort, und morgen bin ich da.
Im Koalitionsvertrag haben Sie das Prinzip „Digital First“ für die digitale Verwaltung vereinbart. Es wäre schön, mal zu hören, welche Leistungen und Services 2019/2020 für die Bürger und Unternehmen angepasst werden.
Auch das Thema Ende-zu-Ende-Verschlüsselung steht im Koalitionsvertrag. Deutschland soll Verschlüsselungsland Nummer eins werden. Das kenne ich von der CSU: Champions League! Wenn man die ganze Zeit in die Champions League will, dann muss man auch mal so spielen und auf dem Platz liefern.
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„Security by Design“ soll laut Koalitionsvertrag gesetzlich verankert werden, und bis 2025 soll es einen flächendeckenden Glasfaserausbau geben. Dann ist diese Legislatur schon rum. Aber was passiert denn in dieser Legislatur? Was passiert jetzt? Wie kommt der ländliche Raum ans Netz?
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Es geht um WLAN in allen öffentlichen Einrichtungen des Bundes. Und – viele von uns fahren ja auch mal mit dem Zug – es wäre schön, auch in den Zügen WLAN zu haben, damit man dort arbeiten kann. Das wäre doch was. Wann kommt das? Wo ist die Strategie?
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Zum bundeseinheitlichen E‑Ticket für den ÖPNV. Wir Grüne fordern einen Mobilpass. Wir wollen, dass man eine Leistung bundesweit abrufen kann und überall durchkommt. Wo ist da Ihre Initiative? Wann geht das endlich voran?
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Sie haben geschrieben – auch das unterstützen wir –, Sie wollen den E‑Sport vollständig als eigene Sportart mit Vereins- und Verbandsrecht anerkennen. Wo ist da die Initiative? Wann kommt das?
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Ihr Strategiepapier enthält 111 Einzelmaßnahmen, aber Sie leisten einfach keine Priorisierung. Keiner weiß im Jahre 2019, wo Sie 2020 oder 2021 stehen. Beispiel Datenökonomie: Dazu haben Sie im Strategiepapier 56 Wörter geschrieben. Da steht ganz allgemein: Wir wollen die Fragestellung analytisch-konzeptionell aufarbeiten und strategische Ziele definieren. – Das kann man für jedes Themenfeld der Bundesregierung so schreiben. Das ist aber keine Strategie.
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Ich bitte Sie herzlich: Kommen Sie endlich voran! Liefern Sie! Wir wollen Anschluss finden an die skandinavischen Staaten, an Österreich, an Estland. Wir wollen nicht weiter im unteren Feld der Bundesliga spielen, demnächst vielleicht sogar in der zweiten Liga, wenn es so vorangeht.
Danke schön.
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Nadine Schön, CDU/CSU, ist die nächste Rednerin.
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Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben heute erstmals die Gelegenheit, im Plenum über die Umsetzungsstrategie der Bundesregierung zu beraten, die im November vergangenen Jahres vorgelegt worden ist. Wenn sich die Zuhörer auf den Tribünen oder am Fernsehen jetzt fragen: „Worüber reden die?“, dann gibt es zwar die Möglichkeit, das gedruckte Exemplar zu lesen. Aber viel schöner ist eigentlich die Homepage www.digital-made-in.de . Da sieht man sehr transparent, was diese Umsetzungsstrategie alles beinhaltet.
Ich will zunächst einiges richtigstellen, was die Vorredner falsch gesagt haben. Bemerkenswert finde ich, Herr Sitta, dass die FDP grundsätzlich sagt, dass wir zu kurz denken und nicht ambitioniert genug sind. Aber wenn Frau Bär von Flugtaxis redet oder davon, KI auch in der Bundesverwaltung einzusetzen, kritisieren Sie gleich: „Das ist viel zu abgehoben“ oder „Wie kann man denn so weit denken?“. Sie müssen sich schon entscheiden, ob Sie Zukunft wollen oder nicht.
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Wirklich gut an der Strategie ist, dass zum ersten Mal alle Maßnahmen der Bundesregierung sehr transparent aufgearbeitet und übersichtlich gegliedert werden. Es werden Ziele definiert mit Zeitplan und Umsetzungsschritten. Das Ganze ist dynamisch und wird kontinuierlich weiterentwickelt. Diese Strategie besteht eben nicht aus einer Summe von Einzelmaßnahmen, die völlig unkoordiniert nebeneinander stehen. Zum ersten Mal gibt es den Ansatz, das Ganze nach Handlungsfeldern zu sortieren. Es wird auch nicht das alte Ressortdenken aufgegriffen. Nein, es werden Handlungsfelder definiert, und in diese Handlungsfelder fließen die Maßnahmen aller Ressorts ein. Das gab es noch nie, das ist neu; das macht die Sache transparent und führt zum ersten Mal dazu, dass wir Themen vernetzt bzw. ressortübergreifend denken. Das ist doch das, was die Digitalisierung von uns verlangt: nicht mehr in Silos, in Ressorts zu denken, sondern vernetzt zu denken, Projekte gemeinsam anzugehen und gemeinsam voranzubringen.
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Natürlich erfolgt auch eine Priorisierung. Schauen Sie einmal in das Handlungsfeld „Digitale Bildung“. Da finden Sie ganz oben als erste Priorisierung das Thema „Digitalpakt“. Der Digitalpakt war die prioritäre Maßnahme dieser Bundesregierung. Es lag nicht an uns, dass es so lange gedauert hat, das durchzusetzen. Doch jetzt sind wir mit den Ländern endlich zu einem Ergebnis gekommen. Seit gestern steht fest, dass die Bundesgelder in die Länder fließen können. Da können wir also einen Haken dranmachen; das haben wir umgesetzt. Jetzt müssen die Länder nur noch etwas aus dem Geld machen.
Was erwarten wir in den nächsten Wochen und Monaten? Zum einen muss die Strategie fortgeschrieben werden. Was umgesetzt wurde, muss abgehakt werden, damit diejenigen, die sich die Strategie anschauen, auch sehen, wie die Weiterentwicklung ist.
Zum anderen muss die Strategie an einigen Punkten konkreter werden; denn bei einigen Maßnahmen fehlten mir die konkreten Umsetzungsschritte, beispielsweise beim Thema „Experimentierklauseln im Arbeitszeitgesetz zur Erprobung flexibler Arbeitszeitmodelle“. Das ist ein ganz typisches Thema, für das wir kein Geld brauchen, bei dem wir aber mit Flexibilität und dadurch, dass wir alte Zöpfe abschneiden, wirklich Bewegung in unser Land bringen. Es geht darum, wie wir Zukunft gestalten und unseren Arbeitsmarkt und unsere Arbeitszeitgesetze so aufstellen, dass sie den modernen Anforderungen Genüge tun. Hier wünsche ich mir vom zuständigen Bundesminister Heil, dass er konkrete Umsetzungsschritte in die Strategie einfügt und diese auch schnellstmöglich umsetzt. Nur dann kann die Strategie auch mit Leben gefüllt werden.
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Die Strategie muss auch weiterentwickelt werden, was den zeitlichen Horizont angeht. Wir können nicht beim Jahr 2021 stehen bleiben. Die Frage ist doch: Wie wollen wir in 10, 15 oder 20 Jahren leben? Da stellt man sehr schnell fest, dass vieles, was wir heute getrennt denken, zukünftig zusammen gedacht werden muss, seien es die Energiewende, die Änderungen bei der Mobilität, das Thema „vernetztes Wohnen zu Hause“, die Anforderungen einer alternden, immobiler werdenden Gesellschaft. All diese Themen müssen zusammen gedacht werden. Deshalb ist es wichtig, dass wir hier die langen Linien ziehen, dass wir schauen, wie wir in 10, 15 oder 20 Jahren leben wollen, damit wir die Vernetzung besser gestalten und schon heute die Weichen stellen können, um diese Ziele zu erreichen.
Die Digitalisierungsstrategie muss Teil der klimapolitischen Strategie, der geopolitischen Strategie und auch der industriepolitischen Strategie werden, und sie muss mindestens in den europäischen Kontext gestellt werden; denn wenn man sich den Plan der chinesischen Regierung zu China 2025 anschaut, wenn man sich die Entwicklung in den USA anschaut, wenn man die Unruhen und die technologische Aufrüstung in der Welt sieht, dann wird eines ganz klar: Die Welt sortiert sich neu. Deshalb muss Deutschland gemeinsam mit Europa Akteur in der Welt sein. Die Digitalisierungsstrategie ist eines der ganz wichtigen Instrumente bei dieser Entwicklung.
Schließlich muss die Strategie haushalterisch unterlegt werden. An der Stelle besorgt mich eines schon: Der Finanzminister hat festgestellt, dass wir ein Finanzloch von 25 Milliarden Euro haben; aber das erste Projekt, bei dem er vorschlägt, zu sparen, ist ein digitales, nämlich der Digitalfonds. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Projekt der Digitalisierungsstrategie steckt Zukunft. Ich will mich in 10 oder 15 Jahren nicht von meinen Söhnen fragen lassen: Warum hast du die Hand gehoben für eine Grundrente, für den Solidaritätszuschlag, für Betriebsrenten und was auch immer,
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aber warum hast du nicht dafür gesorgt, dass Gelder bereitstehen für KI-Forschung, für den Breitbandausbau und für Wachstumskapital?
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Das sind die wirklich wichtigen Sachen, die wir umsetzen müssen. Die Maßnahmen, die in dieser Strategie enthalten sind, bestimmen die Zukunft Deutschlands. Dafür müssen wir auch die nötigen Haushaltsmittel bereitstellen.
Wir freuen uns auf die weitere Umsetzung der Strategie. Als Unionsfraktion sind wir dabei.
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Nächster Redner ist der Kollege Uwe Schulz, AfD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorgelegte Umsetzungsstrategie der Bundesregierung ist für jemanden wie mich, der aus der realen Unternehmenswelt kommt, spannend, und zwar allein aus handwerklichen Gesichtspunkten; denn hier wird gezeigt, wie es nicht geht. Es werden Einzelthemen und Bruchstücke aneinandergereiht, es werden Vorstudien mit Erkenntnissen verknüpft. Die logische Abfolge von Vision, Ziel, Strategie und Umsetzung fehlt völlig. Ich kann Ihnen sagen: Mein im Bundestag in nur 17 Monaten erworbenes Bild wird bestätigt: Kaum jemand in diesen weichen Sesseln hat die Funktionsweise komplexer Organisationen jemals erlebt.
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Die in munteren Worten formulierte Umsetzungsstrategie nährt sich einerseits aus der leider gefloppten Digitalen Agenda und andererseits aus den Ergebnissen der Enquete-Kommission 2013. Meine Damen und Herren, wir schreiben das Jahr 2019. Beleuchtet werden also mehr als sechs Jahre Erkenntnisse, angereichert mit Schwerpunktthemen aus den Ministerien. In der realen Welt, meine Damen und Herren, würde jeder Vorstandschef die Flucht ergreifen müssen, allein wenn die Hauptaktionäre nur das Vorwort seiner Umsetzungsstrategie lesen würden.
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Machen wir uns bewusst: Unsere Welt befindet sich in einem Zustand der maximalen Veränderung. Daher haben Wirtschaft und Bevölkerung einen Anspruch darauf, zu wissen, in welchem Rahmen und unter welchen Bedingungen sie sich zukünftig bewegen müssen. Aktives Veränderungsmanagement zu betreiben, wäre eigentlich das Gebot der Stunde. Aber wirklich verändern kann nur, wer weiß, was er will, und wer seine Ideen und Zusammenhänge auch beschreiben kann. Ich sehe aber eher Ahnungslosigkeit. Ich sehe Ahnungslosigkeit im Megaprojekt der Gegenwart, das ausnahmslos alle gesellschaftlichen und politischen Themenfelder umfasst und betreffen wird.
Unsere Unternehmen erwarten von der Regierung zu Recht verlässliche ordnungspolitische Rahmenbedingungen. Die Bürger hingegen müssen wissen, dass lebenslange Anstellungsverhältnisse ausgedient haben und neue Modelle für soziale Absicherungen zu schaffen sind. Und Eltern müssen in der Welt der Digitalisierung auf neue Ausbildungswege für ihre Kinder vertrauen können. Aber hier? Keine Klammer über den vielen Herausforderungen, keine Verzahnung einzelner strategischer Ansätze! Alles in allem, meine Damen und Herren, handelt es sich um eine handwerkliche Schlechtleistung.
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Das sieht man auch beim Blick in die Einzelziele: Schwammige Formulierungen, politische Umschreibungen, aus denen man sich jederzeit herauswinden kann, prägen das Bild. Was ich vor allem vermisse, sind Zahlen und Beträge,
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die einen Überblick über die Kosten der Umsetzung und den beabsichtigten Nutzen geben. Somit vermeiden die Autoren des Kataloges eine klare Messbarmachung. „Nur nicht festlegen“ ist das Prinzip.
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Noch etwas fällt dem geübten Blick auf, meine Damen und Herren: Der Umsetzungskatalog ist in Beraterdeutsch verfasst. Aufmachung und Aussagen entsprechen dem Werkzeugkoffer von McKinsey, Roland Berger und Co.
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Dieses Werk ist gezimmert von genau diesen Leuten, denen seit 2014 mehr als 700 Millionen Steuereuro in die Hälse geworfen wurden. Nun aber läuft uns die Zeit davon, und solides Vorgehen ist gefragt. Mir jedenfalls wäre ein ehrliches, ein nüchternes Amtsdeutsch in einem solchen Dokument lieber als diese inhaltslose Marketingsprache.
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Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Die Regierung muss nun endlich den Mut aufbringen, mit dem Bürger in den Diskurs zu gehen, und sie darf auch mal zugeben, dass sie noch nicht weiß, was auf uns alle zukommt. Was Deutschland braucht, ist ein umfassender digitaler Masterplan, aber kein Stückwerk, wie es die Bundesregierung vorlegt.
Vielen Dank.
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Dr. Jens Zimmerman, SPD, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Digitalisierungsstrategie legt einen der wesentlichen Grundsteine für die Zukunft in Deutschland; ich glaube, da sind wir uns alle hier im Haus einig. Sie legt die Grundlagen nicht nur für die Zukunft unserer Wirtschaft, sondern auch für die Zukunft des Zusammenlebens im Land, für die Zukunft der Gesundheit, für die Zukunft vieler Bereiche, die davon betroffen sein werden. Es ist deshalb ein Kraftakt, eine solche Strategie mit allen Ministerien zu entwickeln. Das ist auch keine Überraschung; denn – und ich glaube, das haben wir alle schon in unserer Ausschussarbeit gemerkt – in allen Ausschüssen spielt das Thema Digitalisierung eine herausgehobene Rolle. Insofern ist es richtig, diese Aktivitäten in einer gemeinsamen Strategie zu bündeln, meine Damen und Herren.
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Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sticht ein Bereich sofort ins Auge, nämlich die Zukunft der Arbeit. Wir alle wissen: In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird sich auf den Arbeitsmärkten, in den Betrieben einiges ändern. Und für uns ist klar: Digitalisierung in den Betrieben ist nur gemeinsam mit den Beschäftigten, den Betriebsräten und den Gewerkschaften zu gestalten. Für das Arbeitsministerium, für Hubertus Heil und sein Team, sage ich: Wir sind da auf einem guten Weg.
Ich nenne die Lieferdienste als Beispiel für die Plattformökonomie. Viele hier im Raum haben mit Sicherheit zu später Stunde diese Dienstleistungen in Berlin schon in Anspruch genommen.
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Aber man muss sich doch einmal die Frage stellen: Wie ist da eigentlich die betriebliche Mitbestimmung geregelt? Es kann doch nicht sein, dass Menschen ausschließlich für eine Plattform arbeiten und ihnen am Ende sämtliche Rechte der Mitbestimmung nicht gewährt werden. Das wird es mit uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht geben.
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Dieses Problem anzugehen, ist keine Ankündigung, sondern – das kann man ganz klar sagen – Hubertus Heil als Minister arbeitet daran. Hier müssen wir unsere Gesetzgebung verändern.
Bei der Digitalisierung – das zeigt sich ganz klar – geht es nicht nur um Infrastruktur, es geht um alle Lebensbereiche. Wenn ich mir die Infrastruktur als Basis des Ganzen anschaue, dann stelle ich fest, dass diese Debatte heute Morgen doch sehr merkwürdig ist. Ich nenne eine Zahl – es wurden ja angeblich zu wenig Zahlen genannt –: Wir werden heute hier im Hohen Hause als Ergebnis des Vermittlungsausschusses beschließen, 5 Milliarden Euro für den DigitalPakt zur Verfügung zu stellen. Der Bund gibt 5 Milliarden Euro an die Länder – bei denen zweifelsohne die Zuständigkeit für Bildung liegt –, weil es ein so wichtiges Thema ist. Das ist eine konkrete Zahl, und dieses Geld wird jetzt auch fließen.
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Zu dem geschätzten Kollegen Janecek sage ich: Wer war denn derjenige, der bei diesem Thema blockiert hat? Das war doch bis zum Schluss Herr Kretschmann aus Baden-Württemberg.
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Ich bitte Sie also, an dieser Stelle keine Krokodilstränen zu vergießen. – Ich nenne ein anderes Thema: 5G. Da steht jetzt die Versteigerung an. Wir, viele Kolleginnen und Kollegen, setzen uns im Beirat der Bundesnetzagentur dafür ein, dass die weißen Flecken in der Fläche geschlossen werden. Aber woher kommt denn jetzt schon wieder Protest wegen der Handystrahlung? Da würde ich mir von euch, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, eine klare Aussage wünschen.
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Auch an dieser Stelle diskutieren wir momentan über den entscheidenden Punkt: Was machen wir mit den weißen Flecken, wo es am Ende keinen Mobilfunkempfang gibt? Wir müssen dann auch darüber reden, öffentliches Geld in die Hand zu nehmen, um die letzten weißen Flecken – hier sitzen ganz viele Kolleginnen und Kollegen aus dem ländlichen Raum – zu schließen. Am Ende muss auch Geld aus dem Digitalfonds dafür bereitgestellt werden.
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Wenn ich mir also anschaue, was alles in dieser Digitalisierungsstrategie steckt – was man in vier Minuten herausarbeiten kann –, dann sage ich: Wir haben damit eine gute Basis für die digitale Zukunft in Deutschland gelegt. Das heißt nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen. Das heißt nicht, dass wir schon ganz oben in der Tabelle stehen. Aber es ist auch bei weitem nicht so, wie es hier von Teilen der Opposition dargestellt wurde.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
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Manuel Höferlin, FDP, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wir wollen die Digitalisierung treiben“, sagte die Staatsministerin vorhin. Wir reden heute über die Umsetzungsstrategie zur Digitalisierung, die wir vorliegen haben. Ich dachte immer – viele sagen das auch –, es gebe einen Mangel an Kompetenz und Erkennungsbewusstsein in der Bundesregierung. Ich glaube – das ist heute wieder klar geworden –: Es ist vielleicht sogar noch schlimmer; denn die Probleme werden ja richtigerweise erkannt.
Im Koalitionsvertrag haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der GroKo, eine hervorragende Problemanalyse niedergelegt, und auch in diesem Papier haben Sie in 111 Einzelmaßnahmen genau beschrieben, wo die Probleme liegen. Was allerdings fehlt, ist der erste Teil des heutigen Tagesordnungspunktes, nämlich die Umsetzung. Das ist das Tragische an dieser Situation: dass Sie die Probleme erkennen, wissen, was gemacht werden müsste, aber eben kein „digitaler Ruck durch Deutschland“ geht, wie Frau Bär gerade sagte, den Sie antreiben. Stattdessen verfassen Sie ein Papier, aus dem keine Folgen resultieren. Das ist tragisch.
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Es ist im Kern ein Man-müsste-mal-Papier, und das wird dem Thema wirklich nicht gerecht. Sie haben auf 156 Seiten Dinge beschrieben, die die derzeitige Mammutaufgabe in Deutschland, in Europa und in der Welt darlegen, nämlich die digitale Transformation von Wirtschaft, Gesellschaft und auch von Politik. Gerade in der Politik findet sie bei Ihnen überhaupt nicht statt. Sie sagen: Jeder ist jetzt Digitalminister. – Wir haben 14 Ressortchefs, einen Kanzleramtschef, eine Staatsministerin, also 16 an der Zahl. Die Staatsministerin für Digitalisierung und der Bundesminister für besondere Aufgaben sind da, ansonsten sind – zu Recht – die Staatssekretäre da. Das heißt, das ist heute eben nicht Chefsache im Kabinett.
Sie haben darüber hinaus noch viele Stuhlkreise einberufen: einen Digitalrat, eine Datenethikkommission, eine Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft, KI-Expertenworkshops und, und, und.
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Man könnte denken, von diesen vielen Beratern würde externer Rat einfließen. Ich habe das gegenüber der Bundesregierung einmal abgefragt, und die Antwort war: Ja, die tagen halbjährlich, aber es gibt keinen wirklichen Rückkanal. – Da fragt man sich: Was soll da passieren? Das erklärt aber auch, warum Sie heute in der Lage sind, 111 Projekte aufzuschreiben, die Sie, na ja, aus den Ministerien eingeholt haben. Da hat jeder geschrieben, was er gerne zum Digitalen beitragen möchte. Aber es gibt keine übergeordnete Strategie.
Das genau ist das Kernproblem, das wir in den letzten Jahren gesehen haben. Wir waren vier Jahre im Bildungsurlaub; wir waren nicht hier.
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Aber Sie haben bereits in der letzten Legislatur eine Digitale Agenda aufgelegt, und Sie hätten erkennen müssen – das muss man Ihnen wirklich ankreiden –, dass die letzten vier Jahre gezeigt haben, dass eine Koordination, ein gemeinsames Vorangehen – und jeder dieser 111 Punkte ist wichtig – fehlt. Trotz Kenntnis und Erkenntnis haben Sie es sträflich unterlassen, eine Strategie aufzusetzen. Das ist wirklich dramatisch.
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Ich greife ein paar konkrete Themen heraus. Glauben Sie wirklich, dass Sie mit diesem Konzept bzw. Nichtkonzept bis 2022 sämtliche Leistungen der digitalen Verwaltung anbieten können? Sie haben es in den letzten Jahren nicht geschafft, zehn Leistungen umzusetzen. Glauben Sie wirklich, dass wir bis 2025 ein Recht auf gigabitfähiges Internet für die Bürger etablieren können, wie Sie schreiben, obwohl Sie das Ziel der letzten Jahre, 50 Megabit in der Breite zu schaffen, nicht erreicht haben? Die digitale Infrastruktur ist löchrig wie ein Schweizer Käse, mal ganz abgesehen davon, dass es sehr merkwürdig ist, dass Sie ein solches Ziel für die übernächste Legislatur formulieren. Das ist keine Strategie; das ist ein Verschieben auf übermorgen.
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Was wir dringend brauchen, sind eine echte Koordinierung, ein echter Zeitplan und eine Strategie. Wir schlagen vor, dass Sie endlich darauf hören und ein federführendes und koordinierendes Digitalministerium einführen, das die Ressorts und Projekte verbindet, einen Strategieplan entwickelt, Projektmanagement macht und die Dinge nicht in die übernächste Legislatur verschiebt. Dazu ist das Thema zu wichtig, meine Damen und Herren. Lassen Sie uns das bitte gemeinsam machen.
Danke schön.
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Tabea Rößner, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was Sie uns hier stolz präsentieren, ist ein mit heißer Nadel genähter Flickenteppich. Es fehlen die wirklich innovativen und begeisternden Ideen, die den Menschen Lust auf Digitalisierung machen und einen Weg in die Zukunft weisen. Und es fehlt der Blick fürs Ganze.
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Liebe Nadine Schön, Ihre Rede kam mir so bekannt vor. Ich glaube, Sie haben sie so ähnlich schon zur Digitalen Agenda in der letzten Wahlperiode gehalten.
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Aber auch damals sind Sie ja schon kläglich gescheitert.
Lieber Sören Bartol, nehmen wir den Glasfaserausbau. Wenn Sie nicht jahrelang in die komplett falsche Richtung gegangen wären – Stichwort „Vectoring“ –, wären wir beim Glasfaserausbau schon weiter.
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Darum geht es jetzt: Wir müssen die digitale Infrastruktur schnell voranbringen, und dafür muss man Geld in die Hand nehmen.
Als Netz- und Verbraucherpolitikerin schmerzt mich aber eines ganz besonders, nämlich dass das Justiz- und Verbraucherministerium bei der Benennung konkreter Vorhaben im Vergleich zu allen anderen Ressorts das Schlusslicht bildet. Gerade mal fünf Projekte der gesamten Strategie liegen federführend beim Ministerium von Frau Barley. Eines davon – Verbraucherinformation, das ist wichtig, klar – ist fortlaufend. Bei zwei anderen teilt man sich die Federführung. Die beiden übrigen sind Prüfvorhaben. Ist Ihnen da wirklich nicht mehr eingefallen?
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Ich weiß, Frau Barley ist auf dem Absprung nach Europa, und Digitalisierung ist auch nicht so ihre Leidenschaft. Aber ich muss sie da warnen: Gerade die wichtigen digitalen Themen werden eben in Brüssel entschieden. Da muss sie sich doch anders aufstellen.
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Eine Leerstelle, die mich aus Ihrer Umsetzungsstrategie buchstäblich anschreit, ist der gesamte Bereich „Open Data, Open Government und offene Standards“. Im Koalitionsvertrag hatten Sie ja noch ein paar gute Ideen. Da haben Sie zum Beispiel die Einführung regionaler Open-Government-Labore für mehr Bürgerbeteiligung und die Einführung eines zweiten Open-Data-Gesetzes versprochen. Davon findet sich aber wirklich gar nichts mehr in der Umsetzungsstrategie wieder. Dieses Loch im Flickenteppich zeigt den Bürgerinnen und Bürgern, dass Ihnen nichts so egal ist wie dieser Bereich. Was für ein Armutszeugnis!
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Wo es aber hingehen muss, das haben wir gerade in unserem frisch eingebrachten Antrag zu offenen Standards aufgezeigt. Obwohl offene Standards in vielen Lebensbereichen unendliche Möglichkeiten eröffnen, vernachlässigt die Bundesregierung genau dieses Thema sträflich. Sie lassen so wichtige Chancen der Digitalisierung ungenutzt. In unserem Antrag führen wir konkrete Beispiele auf, wie eine echte, am Gemeinwohl orientierte Digitalstrategie aussehen sollte, damit auch alle Bürgerinnen und Bürger an der Digitalisierung teilhaben können.
Zum Schluss will ich noch auf einen ganz besonderen Punkt eingehen, nämlich darauf, wer diesen Flickenteppich eigentlich verbockt hat. Meine schriftliche Frage hat ans Licht gebracht, dass an der Erstellung der Umsetzungsstrategie maßgeblich die Unternehmensberatung Capgemini beteiligt war. Die Beraterseuche, die sich bereits durch das Verteidigungsministerium, das BAMF und die KI-Strategie zieht, hat also auch die Umsetzungsstrategie ergriffen.
Auf die Bundesregierung wirft das jedenfalls kein gutes Licht. Es fehlt im Kabinett ganz offenbar an eigener Expertise; diese muss aber dringend aufgebaut werden, sonst sind wir auf absehbare Zeit dazu verdammt, für teures Geld mit zusammengeschusterten und ambitionslosen Digitalisierungsplänen abgespeist zu werden. Im Übrigen gehört die Zuständigkeit für Computerspiele nicht ins Verkehrsministerium.
Vielen Dank.
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Tankred Schipanski, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn der Debatte zwei, drei Worte zu der Urheberrechtsrichtlinie sagen. Sie wurde in der Debatte schon angesprochen. Sie wissen: Das Ziel dieser Urheberrechtsrichtlinie war es, das Urheberrecht an die heutige technische Entwicklung anzupassen. Dieses Ziel wurde aus digitalpolitischer Sicht nur ungenügend erreicht. Das haben die Digitalpolitiker aller Fraktionen umfangreich, in den sozialen Netzwerken, auf verschiedenen Podien, deutlich gemacht.
Ich denke, wir müssen jetzt aber da hinschauen, wo das Ganze entschieden wird, nämlich nach Brüssel. Wir müssen dort, bei unseren Kollegen, einfach noch mal intensiv für die besseren Argumente, insbesondere mit Blick auf Artikel 13 und Artikel 11 der Urheberrechtsrichtlinie, werben.
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Ich möchte aber auch zur Versachlichung der Diskussion beitragen, was Artikel 13 betrifft. Es wird gesagt: Er zerstört das Internet. – Ich glaube, dass das wahrhaftig übertrieben ist. Die neuen Haftungsregeln tragen aber nicht dazu bei, dass Meinungsvielfalt größer wird und Benutzerfreundlichkeit steigt.
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Ein Blick auf unsere eigentliche Debatte: Digitalisierung gestalten bedeutet Zukunft gestalten. Es bedeutet konkret, jetzt dafür zu sorgen, dass die Lebensqualität der Menschen in Deutschland weiter steigt, dass wir unseren wirtschaftlichen Wohlstand sichern und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen. Genau diese Ziele hatte die erste Digitale Agenda aus dem Jahre 2014 vor Augen. Wir haben sie in einem konkreten Aufgabenbuch zur zweiten Digitalen Agenda ganz konkret weiterentwickelt; das ist die Umsetzungsstrategie, um die es heute geht. Die FDP war eben 2014 nicht mit dabei. Von daher kann man vielleicht verstehen, warum Sie bei dem Wort „Strategie“ immer ganz aufgeregt sind. Wir legen hier im Parlament die Priorisierung fest. Ich finde das Aufgabenbuch gut. Als Ausschuss Digitale Agenda können wir nämlich mit einem guten Monitoring genau darauf schauen: Wo stehen wir? Wo geht es hin? Und wie läuft das Ganze?
Einiges haben wir schon auf den Weg gebracht, lieber Dieter Janecek, auch in dieser Legislatur: den Relaunch des Breitbandförderprogramms, die Mittel für die Game-Förderung, die konkreten Maßnahmen für die Strategie „Künstliche Intelligenz“, den DigitalPakt Schule und die Vorbereitung der 5G-Versteigerung. Ich denke, wir sind da auf einem sehr guten Wege.
Dennoch: Für die Menschen soll spürbar werden, wie sich der Alltag durch Digitalisierung verbessert. Da brauchen wir mehr Entschlossenheit, mehr Zusammenhalt und mehr Akzeptanz. Zu jedem dieser drei Punkte möchte ich Ihnen ein Beispiel nennen.
Das erste Beispiel – Nadine Schön hat es gesagt –: mehr Entschlossenheit für Investitionen in die Zukunft. Auch hier geht der mahnende Blick Richtung Finanzminister. Dies müssen die prioritären Maßnahmen sein, die hier in dieser zweiten Digitalen Agenda stehen. Das sind Zukunftsinvestitionen. Das muss unsere Priorität im Haushalt sein.
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Meine zweite Botschaft zum Stichwort „mehr Zusammenhalt, weniger föderale Streitigkeiten“. Die Digitalisierung wartet nicht auf Deutschland. Viel zu oft aber erweist sich der Föderalismus als Bremse. Ich finde es traurig, dass bei diesem wichtigen Zukunftsthema die Bundesratsbank wiederum leer ist; denn wir benötigen hier wirklich gemeinsame Anstrengungen von Bundestag und Bundesrat. Jens Zimmermann ist auf den DigitalPakt Schule und auf die Erfolge, die wir gemeinsam erzielt haben, eingegangen. Ich möchte Ihnen aber auch das Thema „digitale Verwaltung“ in Erinnerung rufen. Wir haben uns die Kompetenz für das Onlinezugangsgesetz teuer erkauft. Jetzt müssen wir es auch gemeinsam gestalten; dazu lade ich insbesondere die Bundesländer ganz herzlich ein.
Drittes Thema. Wir brauchen mehr Akzeptanz für die Digitalisierung in unserer Gesellschaft. Man sagt uns Deutschen ja sehr gerne ein generelles Misstrauen gegenüber technischen Neuerungen nach. Ich glaube, das trifft nur dort zu, wo ihr Nutzen nicht klar ist. Niemand benutzt eine App, die ihm keinen Vorteil bringt. Das hat Doro Bär, glaube ich, zu Recht betont: Digitalisierung ist kein Selbstzweck. – Sie ist vielmehr ein Mittel zum Zweck. Sie hilft uns, Probleme zu lösen. Sie erleichtert uns den Alltag, indem sie uns stupide Arbeiten abnimmt. Sie spart Zeit. Der digitale Wandel bietet genau diese Chancen. Das ist der Hebel, um mehr Akzeptanz für den Einsatz digitaler Technologien und für die Anwendung künstlicher Intelligenz bei den Menschen zu erreichen.
Die Digitalisierungsstrategie stellt den konkreten Nutzen für den Einzelnen in das Zentrum; sie stellt den Menschen in das Zentrum. Von diesem Nutzen dürfen wir nicht nur lesen können, sondern wir müssen ihn spüren können. Dafür werden wir gemeinsam arbeiten.
Vielen Dank.
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Elvan Korkmaz, SPD, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier sind 154 Seiten Umsetzungsstrategie der Bundesregierung. Das ist ein deutliches Zeichen, dass wir nicht reden, sondern handeln.
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Unser Bekenntnis ist klar. Ich zitiere:
Leistungsfähige Infrastrukturen sind Lebensadern unserer Gesellschaft. Dazu zählen besonders digitale Netze.
Ich bin überzeugt: Digitalisierung gelingt dann – und nur dann –, wenn sie bei jedem in unserem Land ankommt.
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Was heißt das konkret? Ganz einfach: Auch die kleinste Milchkanne braucht Netz.
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Die Mähdrescherstadt Harsewinkel liegt in meinem Heimatkreis. Deshalb weiß ich, dass die Zukunft der Landwirtschaft von einem guten Netz in der Fläche abhängt. Ich nenne die Stichworte: autonom fahrende Mähdrescher oder die Übertragung von Echtzeitdaten vom Acker direkt ins Büro. Ich lade die Bildungs- und Forschungsministerin auch gerne mal zu einem Besuch zu uns ein. Als Sozialdemokratin setze ich mich schließlich für die Qualifizierung und Weiterbildung für jedermann ein.
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Wie so oft: Wenn man in Zukunft Dinge besser machen möchte, muss man – das ist schon mal ein guter erster Schritt – aus Fehlern der Vergangenheit lernen: Der Ansatz des privatwirtschaftlichen Netzausbaus ist weitestgehend gescheitert. Das müssen wir uns eingestehen. Wir haben dort, wo es sich für Unternehmen lohnt, Leitungen und ansonsten einen Flickenteppich, der nur mühsam und mit viel Aufwand geknüpft werden kann. Wirtschaftlichkeit ist der falsche Maßstab, wenn es um Daseinsvorsorge geht.
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Ich habe die Diskussionen um weiße oder graue Flecken gerade in ländlichen Regionen satt. Ich kann Menschen in Hesselteich nicht mehr guten Gewissens erklären, warum sie nur eine unzureichende und in manchen Fällen sogar gar keine Internetversorgung haben. Heute ist die digitale Anbindung Grundversorgung. Sie ist Daseinsvorsorge wie die Versorgung mit Wasser, Strom oder Heizung.
Das Gleiche gilt auch für die Wirtschaft. Kein Unternehmen wird sich in Regionen ansiedeln, in denen es Strom und fließendes Wasser, aber kein Internet gibt. Der ausschlaggebende Standortfaktor ist schon lange nicht mehr die nächste Autobahnauffahrt, sondern die Datenautobahn. So mancher hat es auch schon verstanden. Ich habe da ein schönes Beispiel, das mich persönlich sehr freut. Den einen oder anderen wird es nicht wundern, es kommt natürlich aus meinem Heimatkreis: Die Stadt Halle hat sich auf den Weg gemacht und ist selbst aktiv geworden, wartet nicht auf Unternehmen und baut das Netz selbst flächendeckend aus, damit gar nicht erst weiße Flecken entstehen. Wir als Bund – das wünsche ich mir – sollten genau solche Beispiele aufgreifen, fördern, sichtbar machen und den Kommunen Raum für Erfahrungsaustausch geben.
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Ich zitiere noch einmal die Umsetzungsstrategie:
Unser Ziel ist die Anbindung für alle – von überall und zu jeder Zeit.
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Aber so viele Worte zur Infrastruktur sollten auch reichen. Das ist schließlich Daseinsvorsorge. Das muss jetzt kommen. Das hat hier hoffentlich auch der Letzte verstanden. Die eigentliche Frage ist doch: Was kommt jetzt? Wie schaffen wir es, dass alle gleichermaßen vom technischen Fortschritt profitieren und nicht abgehängt werden? Digitalisierung ist schließlich kein Selbstzweck. Sie muss das Leben der Bürgerinnen und Bürger vor Ort einfacher machen.
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Drei Schlaglichter aus der Umsetzungsstrategie: Digitale Behördengänge erleichtern den Alltag, intelligente Netze schaffen die Energiewende vor Ort, vernetzte Verkehrsträger lösen das Freiheitsversprechen für alle ein.
Bei all den Chancen dürfen wir aber zwei Punkte nicht aus den Augen verlieren: Erstens. Digitalisierung muss alle Städte und Kommunen erreichen. Ich möchte keine hochtechnologisierten smarten Städte und analoge gallische Dörfer. Zweitens. Ich möchte auch, dass das bei jedem Menschen ankommt. Ich möchte nicht auf der einen Seite die „Smarties“ und der anderen die „Abgehängten“ haben.
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Kurz: Digitalisierung darf unsere Gesellschaft nicht spalten. Die Umsetzungsstrategie der Bundesregierung ist da eine solide Grundlage.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich dem Kollegen Uwe Kamann das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürger! Die fehlende Digitalisierungsstrategie ist in der Vergangenheit heftig kritisiert worden. Das Thema hatte nicht den notwendigen Stellenwert, und es gab und es gibt immer noch eine Vielzahl von Gremien, die ohne ganzheitliche Verantwortung vor sich hin werkeln. Was wirklich fehlt, ist ein Digitalministerium. Die Ministerin haben wir ja schon einmal.
Was die Bundesregierung mit ihrer Umsetzungsstrategie vorgelegt hat, zeigt den Wunsch nach einem echten Aufbruch, und das ist lobenswert. Alle kritischen Bereiche sind adressiert worden, und die Benennung der Themenfelder erscheint bei genauer Betrachtung handwerklich sauber ausgearbeitet, wenn auch leider ohne Priorisierungskonzept. Was aber leider erkennbar fehlt, sind wichtige Kontrollmechanismen. Gesteckte Ziele können nur geprüft und überwacht werden, wenn sie sauber beschrieben werden und mit einem konkreten Zeit- und echten Umsetzungsplan versehen sind.
Was in der Industrie Standard ist, muss in Teilen der Bundesregierung anscheinend noch verinnerlicht werden. Wie soll denn die Umsetzung kontrolliert werden? Wo sind die zeitlichen Sollbruchstellen, an denen Kurskorrekturen vorgenommen werden müssten? Wie wird der Erfolg insgesamt bemessen?
Die Bundesregierung will sich im Rahmen ihrer Umsetzungsstrategie auf Schwerpunkte konzentrieren, die die Ministerien als solche identifiziert haben – ein richtiger und vernünftiger Ansatz. Gleichwohl hat man jede Menge Fragezeichen vor den Augen, wenn man an die damit verbundenen Prozesse denkt. Jedes Ministerium solle digitalpolitische Maßnahmen umsetzen, und es sollen Synergieeffekte zwischen den Ministerien – auch in Kooperation mit Wirtschaft und Wissenschaft – greifen. Das klingt in meinen Ohren nach einer Mammutaufgabe für ein Heer von Beratern.
Wie sollen diese Synergieeffekte identifiziert und gestaltet werden? Ist das vielleicht eine Aufgabe für Frau Bär als Staatsministerin für Digitalisierung, das Potenzial der Synergieeffekte greifbar zu machen? Wollen und können Sie, Frau Bär, den Koordinationsdreiklang Ministerien, Wissenschaft und Wirtschaft orchestrieren? Notwendig ist der angekündigte Umsetzungsplan für die angesprochenen Lösungsmaßnahmen. Wann wollen Sie den vorlegen? Ohne Konstruktionszeichnung ist der Ingenieur hilflos. Das gilt auch für die Konstruktion einer Digitalisierungsstrategie.
Die Bundesregierung hat bislang beim Thema Digitalisierung häufig nicht den besten Eindruck vermittelt, was man unter anderem daran erkennt, dass von dem flächendeckenden Ausbau schneller Gigabitnetze weiter geträumt werden darf. Wer unbekanntes Terrain wie 5G positiv besetzen will und erobern möchte, muss neue Wege gehen, muss querdenken, muss Verantwortung in kompetente Hände legen.
Mein Fazit bis heute: Ein erster wichtiger und richtiger Schritt ist getan. Endlich liegt ein Lastenheft vor. Jetzt heißt es, schnellstmöglich die Umsetzungsschritte detailliert darzustellen und zügig umzusetzen, sonst steht diese Bundesregierung am Ende der Legislatur mit leeren Händen da.
Vielen Dank.
Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stefan Sauer, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste auf der Besuchertribüne! Digitalisierung gestalten ist verbunden mit der Aufforderung, Orientierung zu schenken. Wir wünschen uns einen modernen Staat, eine leistungsfähige Wirtschaft und einen guten Arbeitsmarkt. Nach 70 Jahren erfolgreicher sozialer Marktwirtschaft stehen wir heute vor einer großen Herausforderung: einer Weiterentwicklung dieser Erfolgsgeschichte auf digitalem Boden unter Einbindung der künstlichen Intelligenz.
Die digitale Arbeits- und Wirtschaftswelt von morgen in Verbindung mit dem digitalen Alltag aller Bürger braucht in allen Generationen digitale Kompetenz bis hin zur Medienkompetenz und zu einem angemessenen Sicherheitsdenken. Die besondere Herausforderung liegt darin, dass wir in nahezu allen Lebensbereichen Veränderungen zu erwarten haben. Zur Digitalisierung lässt sich feststellen: Wir müssen schneller und konsequenter in der Umsetzung werden. Dem stimme ich zu. Wir müssen aber auch akzeptieren: Wer Chancen nutzen will, muss auch Risiken eingehen.
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Mit der Denke von gestern werden wir das Morgen nicht gestalten; denn der Transfer von der analogen Welt in die digitale Welt braucht gesetzliche Änderungen und den Abbau von Bürokratie, die Veränderungsbereitschaft der Gesellschaft, unermüdliche Forschungsaktivitäten, unternehmerisches Engagement und Risikobereitschaft und ergänzend die finanzielle Unterstützung des Staates zum Anschub von Investitionen und bei der Schaffung von digitalen Netzen.
Die digitalen Netze sind neben Wasser, Abwasser, Strom und Gas bereits heute eine unverzichtbare Grundversorgung. „Made in Germany“/„Made in Europe“ muss neben den großen Playern USA und China Akzente setzen, damit wir auf dem Weltmarkt weiterhin eine zentrale Rolle spielen und den Wohlstand sichern.
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Nur wer Technik selbst entwickelt, kann diese mitgestalten. Unsere Werte müssen hierbei geteilt werden. Die Ethik muss in die Technik implementiert werden. Der Bürger erfährt über die Medien, dass wir in Berlin über Digitalisierung diskutieren: ja, ein Digitalkabinett, ein Digitalrat, eine Datenethikkommission, eine Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“, eine Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“. Begriffe wie „5G“, „nationales Roaming“ und „Blockchain“ komplettieren die Unsicherheit. Das Bedürfnis nach Orientierung wächst täglich. Einigkeit besteht nach meiner Wahrnehmung darin, dass die künstliche Intelligenz kommt und dass sie Digitalisierung in der Fläche und in jedem Haushalt braucht. Ja, Frau Korkmaz, da würde ich mir wünschen, dass wir gerade in der aktuellen Diskussion um das lokale Roaming Ihren Finanzminister ein bisschen stärker davon überzeugen können, dass wir uns hier zu bewegen haben.
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Ebenso muss gelten, dass die künstliche Intelligenz dem Menschen dienen muss. Doch wo ist der Mensch in der Digitalisierung betroffen? Was sind seine Chancen und Risiken? Die heute diskutierte Umsetzungsstrategie ist eine Antwort darauf; denn wenn wir den Menschen in den Mittelpunkt stellen, ihn abholen, einbinden und auch entwickeln, uns mit den Sorgen, Ängsten und Unsicherheiten auseinandersetzen und diese auch abbauen, dann schenken wir Perspektive und Orientierung.
Was betrifft mich wo, wie kann ich mich einbringen und entwickeln, wo ist mein persönlicher Nutzen der Digitalisierung? Das vorliegende Papier dokumentiert das auf rund 155 Seiten. Es ist faktisch ein Maßnahmenpaket und gliedert sich in fünf Handlungsfelder. Unser Anspruch muss sein: Alle Menschen sollen die Chance der Digitalisierung nutzen können. Sie sollen den digitalen Wandel selbstbestimmt mitgestalten und den Umgang mit den Risiken beherrschen. Dafür braucht es einen Überblick. Nun ist abgebildet, welches Ministerium an welchen Vorhaben arbeitet, welche Zielgruppen welchen Nutzen erfahren. Für die, die noch weiter interessiert sind, sind die Ziele und die Umsetzungsschritte beschrieben, und in einem Teil wird auch für die, die nicht immer dabei waren, etwas über die Historie gesagt.
Fazit: Es ist ein Kompass für den interessierten Bürger und die Unternehmen. Ich danke all denen, die das zusammengestellt und abgebildet haben, und allen Ministerien, die daran arbeiten, insbesondere unserer Staatsministerin Dorothee Bär.
Danke schön.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 19/5810 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offenbar der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Geschichte der Demokratie in Deutschland beginnt nicht im Jahr 1949. Die Jahrhunderte, die unserer heutigen Ordnung vorausgingen, waren angefüllt von vielfältigen Herrschaftsformen. Es gab Fortschritte und Rückschläge beim Ringen, zuerst um die Mitbestimmung des Volkes im monarchischen Staat, späterhin um die Selbstbestimmung des Volkes in der Republik.
In all dieser Zeit galt in Deutschland das, was in der Menschheitsgeschichte weithin üblich war und vielfach noch ist: eine Unterteilung des Volkes in Stände, Klassen und Schichten, nach Religionen und Geschlechtern. Dabei definierte die Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer solchen Gruppe auch seine Rechtsstellung im Gemeinwesen. Selten war es möglich, dass Einzelne von einer Gruppe in eine andere überwechselten, etwa durch Erhebung in den Adelsstand, durch Freilassung eines Leibeigenen oder auch durch Religionswechsel. Für die meisten jedoch war mit der durch Herkunft und Geburt bestimmten Gruppenzugehörigkeit auch ihre Rechtsstellung in der Gesellschaft lebenslanges Schicksal. Die Geschichte der Demokratie in Deutschland ist die Geschichte des Kampfes um die Aufhebung dieser Spaltungen des Volkes, dieser Unfreiheit des Einzelnen.
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Mit dem Grundgesetz ist dieser Kampf um Freiheit und Gleichheit an sein logisches Ende gekommen. Es kennt im Hinblick auf die Teilnahme des Einzelnen an der Demokratie keine Unterteilung des Volkes mehr.
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Damit verwirklicht das Grundgesetz zugleich die Befreiung des Einzelnen aus dem Zwang der Gruppenzugehörigkeit. Die Republik kennt nur einen relevanten Status: den des Staatsbürgers. Der demokratische Souverän ist das Staatsvolk in seiner Einheit. Es äußert seinen Willen in demokratischen Wahlen. Demokratisch sind Wahlen dann, wenn sie neben anderen zwei ganz elementare Grundbedingungen erfüllen: Sie müssen frei und gleich sein.
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Frei ist die Wahl, wenn die Willensbildung von unten nach oben, vom Bürger zum Staat verläuft und der Staatsbürger in der Wahl seine eigene, souveräne Entscheidung trifft. Eine Wahl, bei der vorgegeben wird, dass das Wahlergebnis bestimmten Kriterien entsprechen muss, ist keine freie Wahl.
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Gleich ist die Wahl, wenn das Recht, zu wählen und sich zur Wahl zu stellen, den Staatsbürgern in gleicher Weise zukommt. Eine Wahl, bei der das Gesetz die Staatsbürger in verschiedene Klassen einteilt, ist keine gleiche Wahl.
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Zwischen dem einzelnen Staatsbürger und dem Staat stehen die Parteien. Weil faktisch der Weg in ein Parlament fast ausschließlich über das organisierte Zusammenwirken in den Parteien führt, kommt den Parteien eine besondere Rolle zu. Parteien sind gerade nicht beliebige private Vereine. Deshalb hat das Grundgesetz auch für die Parteien eine klare Regelung getroffen. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Das heißt, auch Wahlen in Parteien müssen frei und gleich sein.
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Erst recht und umso mehr gilt das dort, wo die Parteien Kandidaten für Parlamente aufstellen. Damit sind wir bei dem Grund angekommen, der unseren Gesetzentwurf notwendig macht: Parteien in Deutschland versuchen, die Entwicklung unserer Demokratie umzukehren und zurückzudrehen.
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Sie wollen das Volk wiederum spalten und den Einzelnen bei der Ausübung seiner demokratischen Rechte wiederum an seine Gruppenzugehörigkeit binden. Sie halten Wahlen ab, bei denen mittels sogenannter Quoten den Wählern vorgeschrieben wird, nach welchen Kriterien gewählt werden muss, und den Bewerbern, ob sie kandidieren dürfen oder nicht. Diese Wahlen sind keine demokratischen Wahlen.
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Die innere Ordnung dieser Parteien entspricht nicht, wie es das Grundgesetz verlangt, demokratischen Grundsätzen. Als wäre das nicht schlimm genug, praktizieren sie dieselben undemokratischen Verfahren auch bei der Aufstellung von Parlamentskandidaten. Sie korrumpieren damit die demokratische Natur unserer Parlamentswahlen. Wahlen nach Quoten sind ein Angriff auf die demokratische Grundordnung Deutschlands.
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Es ist unsere Verantwortung als Volksvertreter, diesen Angriff abzuwehren. Unser Gesetzentwurf sieht vor, dass in den Gesetzen, in den Wahlgesetzen und im Parteiengesetz, klargestellt wird, was sich eigentlich von selbst versteht, was aber von einigen Parteien bewusst missachtet wird: dass die Parteien niemandes demokratische Rechte beschneiden dürfen aufgrund der Eigenschaften, die das Grundgesetz in seinem Artikel 3 Absatz 3 aufzählt. Also: keine Einschränkung demokratischer Rechte wegen des Geschlechtes, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und Herkunft, des Glaubens oder der Behinderung. Wie gesagt: Eine völlig banale Selbstverständlichkeit!
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Nun versuche ich, einiges vorwegzunehmen, was in nachfolgenden Redebeiträgen vorhersehbarerweise vorgetragen werden wird, zum Beispiel dies: Es gibt Juristen, die meinen, die Vorgabe des Grundgesetzes, dass auch in den Parteien demokratische Regeln gelten müssen, dürfe man nicht so eng sehen. Parteien müssten sich entsprechend ihrer jeweiligen Ideologie verhalten können, und wenn die Ideologie der Partei es mit der Demokratie nicht so genau nehme, dann müsse die Partei das eben auch ausleben dürfen.
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Ja, diese Meinung gibt es. Sie ist aber falsch.
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Wenn eine Partei eine Ideologie vertritt, nach der die Regeln der Demokratie missachtet oder abgeschafft werden sollen, dann darf man dieser Partei nicht die Möglichkeit geben, das auszuleben, sondern dann muss sich um diese Partei der Verfassungsschutz kümmern. Im Extremfall muss diese Partei verboten werden.
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Dann wird vermutlich gleich vorgetragen werden, speziell für die von den Parteien praktizierte Diskriminierung wegen des Geschlechtes gebe es eine Rechtfertigung, nämlich den sogenannten Gleichstellungsauftrag, der angeblich im Grundgesetz enthalten sei. Auch diese Meinung gibt es. Auch diese Meinung ist falsch.
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– Lesen Sie einfach das Grundgesetz. Es kennt dieses Wort nicht.
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Es gab vor langer Zeit einmal den Versuch, das Wort „Gleichstellung“ in das Grundgesetz hineinzuschreiben. Dieser Versuch ist zum Glück gescheitert.
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Seitdem versuchen diejenigen, die damals diesen Versuch unternommen haben, das durch die Hintertüre doch noch durchzusetzen, indem sie so tun, als seien Gleichberechtigung und Gleichstellung dasselbe. Das ist reine Propaganda.
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Solange Menschen Individuen mit freiem Willen sind und keine normierten Klone à la „Schöne neue Welt“, so lange lässt sich statistische Gleichverteilung nur durch Zwang erreichen, also gerade durch die Abschaffung gleicher Rechte. Gleichstellung und Gleichberechtigung schließen sich deshalb gegenseitig aus.
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Der erfundene Gleichstellungsauftrag rechtfertigt keinesfalls den Bruch elementarer demokratischer Regeln.
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Ich möchte zum Abschluss den Blick weg von der Ebene der abstrakten juristischen Begriffe auf die Ebene der Menschen richten. Um die geht es.
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Wir leben ja in Zeiten, in denen Regierungsparteien – Sie grinsen, Frau Nahles; aber ich schaue Sie an – es unternehmen, das Volk wieder zu spalten und gegeneinander zu treiben. Sie teilen die Staatsbürger ein, erst in Männer und Frauen, demnächst noch in andere Kategorien. Sie nehmen uns die Freiheit, die das Grundgesetz doch garantiert, die Freiheit, uns von Ihnen nicht solchermaßen einteilen zu lassen.
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Sie wollen zur Sicherung Ihrer Herrschaft einen Geschlechterkonflikt anzetteln, und Sie wollen in diesem, von Ihnen selbst geschürten Konflikt keine Neutralität akzeptieren und keine Verweigerung. Die Verfassung schützt aber die Freiheit und die Würde des Einzelnen, die Würde derjenigen, die sich dem verweigern, die sich nicht nötigen lassen wollen zum Zwangsdienst in Ihrem absurden Geschlechterkrieg.
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Es ist unsere Verantwortung als Gesetzgeber, dafür zu sorgen, dass dieser Schutz durch die einfachen Gesetze effektiv gewährleistet wird. Dafür sorgt unser Antrag.
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Das Quotendenken ist ein Gift, eine Säure, die unsere freiheitliche Gesellschaft zerfrisst.
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Dieses Gift hat unsere Rechtsordnung, unsere bürgerliche Freiheit bereits an vielen Stellen angegriffen.
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Hier und heute geht es um den Kern der politischen Freiheit, um die Freiheit der Wahl, und es geht um die Würde des Einzelnen als Staatsbürger. Bekennen Sie sich zur Freiheit, zur Demokratie, zur Würde des Einzelnen! Unterstützen Sie unseren Antrag!
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Ansgar Heveling, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bis Mittwochnachmittag kannte ich nur den Titel des Gesetzentwurfs, zu dem wir heute debattieren.
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Der AfD geht es um die Gleichberechtigung im Wahlrecht und in den politischen Parteien? Da konnte man doch sehr gespannt sein, was da kommt.
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Wenn man die Rede des Kollegen Jacobi gehört hat, dann erkennt man zumindest eines: dass das, was unsere Verfassung ausmacht, dass sie nämlich Hinweise zur Abwägung gibt, offensichtlich bei der AfD überhaupt nicht funktioniert, sondern es nur darauf ankommt, eine Position zu vertreten, nicht in Ausgleich zu bringen. Das ist gerade das, was unsere Verfassung ausmacht:
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dass sie unterschiedliche Verfassungsgüter darstellt. Und diese müssen miteinander in Ausgleich gebracht werden.
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Dementsprechend schert der Gesetzentwurf der AfD das über einen Kamm, wo wir richtigerweise differenziert hinsehen müssen.
Zunächst zu Quoten innerhalb von Parteien. Die innere Ordnung der Parteien muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Es ist richtig, dass dazu natürlich auch die Wahlrechtsgrundsätze – allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen – für innerparteiliche Wahlen gelten.
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Aber für Parteien gilt noch ein zweiter wichtiger Grundsatz, nämlich die sogenannte Tendenzfreiheit von Parteien, ebenfalls in unserer Verfassung verbrieft, und zwar in Artikel 21, mit den Worten: Die Gründung einer Partei ist frei. – Dazu gehört es, dass die inneren Strukturen mit Blick auf die Tendenz der Partei eigenständig ausgerichtet werden dürfen. Mit Blick auf die Ziele meiner Politik als Partei kann ich die Zusammensetzung der Parteiorgane selbst bestimmen.
So haben es die Satzungen der einzelnen Parteien unterschiedlich geregelt. In der Satzung meiner Partei steht: Uns in der CDU ist es wichtig, die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern in der CDU durchzusetzen.
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Und deshalb haben wir uns selbst dazu verpflichtet, dass Frauen an Parteiämtern in der CDU und an öffentlichen Mandaten mindestens zu einem Drittel beteiligt sein sollen. Das ist eine politische Entscheidung, die uns als Partei nicht verboten werden darf, genauso wie andere Parteien andere Ziele in ihre Satzung schreiben können, die dann auch nicht verboten werden dürfen. Ich gehe aber davon aus, dass die innerparteilichen Verhältnisse anderer Parteien der AfD eigentlich nicht so sehr am Herzen liegen wie die Frage der Listenaufstellung für die Bundestags- und Europawahl.
Jetzt wird es kurz etwas technisch: Das Parteiengesetz verweist für die Aufstellung von Wahlbewerbern erstens auf die Wahlgesetze und zweitens auf die Satzungen der Parteien. Im Bundeswahlgesetz selbst finden sich keine Regelungen hierzu. Das ist ja gerade das, was die AfD mit ihrem Gesetzentwurf ändern möchte. Aber es kommt auch auf die Satzungen an. In unserer Satzung haben wir in der CDU Regelungen für die Verwirklichung der Gleichstellung von Männern und Frauen getroffen. Bei den Plätzen für Direktkandidatinnen und -kandidaten ist auf eine ausreichende Beteiligung hinzuwirken.
Für die Aufstellung der Listen haben wir keinen strikten Wechsel zwischen den Geschlechtern vorgesehen, was andere Parteien zulässigerweise machen dürfen. Aber wir haben festgelegt, dass das vorschlagsberechtigte Gremium auf drei Plätze mindestens eine Kandidatin vorschlagen soll. Gegenkandidaturen sind unabhängig vom Geschlecht möglich. Und wenn man diese Quoten nicht erfüllen kann, dann muss sich das vorschlaggebende Gremium erklären.
Das ist die Freiheit der Parteien. Die Freiheit der Parteien wirkt sich bis in das Aufstellungsverfahren aus. Es ist eine Wertentscheidung, Teil des politischen Programms, mit welchen Kandidatinnen und Kandidaten eine Partei antritt.
Zum Schluss noch zum drittem Änderungsvorschlag, einer Änderung im Abgeordnetengesetz und mittelbar der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Damit soll in die Selbstorganisation der Fraktionen eingegriffen werden.
Nach dem Abgeordnetengesetz sind die Fraktionen verpflichtet, ihre Organisation und Arbeitsweise auf den Grundsätzen der parlamentarischen Demokratie aufzubauen und an diesen auszurichten.
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Wie verhält es sich mit der Besetzung von Fraktionsämtern und dort eventuell einzuhaltenden Quoten? Auch das sind politische Wertentscheidungen. Da legen manche Fraktionen zum Beispiel eine Doppelspitze fest. Das kann eine Fraktion für sich natürlich festlegen. Wir haben es anders entschieden. Aber wir berücksichtigen bei der Besetzung von verschiedenen Ämtern auch unterschiedliche Aspekte: Männer, Frauen, Wirtschaft, Arbeitnehmer, Süden, Norden, jung, Seniorität, auch Konfession usw. Das ist das gute Recht der Fraktionen. Als Fraktion sind wir auch davon überzeugt, dass wir zu den besten Entscheidungen kommen, wenn wir unsere Ämter so besetzen, dass möglichst viele unterschiedliche Perspektiven eine Stimme haben.
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Und deshalb möchte ich der Grundthese des Gesetzentwurfes widersprechen, dass innerparteiliche und innerfraktionelle Regelungen zur Ämter- und Kandidatenbesetzung gegen die Grundsätze der Demokratie und das Diskriminierungsverbot verstoßen.
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Sie sind vielmehr ein Beitrag zur Verwirklichung der Gleichstellung.
Erlauben Sie mir eine Bemerkung zum Schluss: „Gesetze zur Wiederherstellung“ machen wir in diesem Parlament heutzutage aus gutem Grund ohnehin nicht mehr.
Vielen Dank.
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Dr. Stefan Ruppert, FDP, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin jemand, der sich mit AfD-Vorlagen immer sachlich auseinandersetzen will.
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Deshalb beginne ich mit der Frage, wann Ihr Gesetz in Kraft treten soll. Sie sagen: Es muss sofort in Kraft treten.
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Sofort, damit die Listen von Grünen, SPD und Linken nicht zugelassen werden, die eine – in welcher Form auch immer – vorgesehene Quote für die bevorstehende Europawahl zum Gegenstand haben. Sie schließen also mit dem sofortigen Inkrafttreten Ihres Gesetzentwurfs bereits aufgestellte Listen von Parteien für die Europawahl aus.
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Damit haben Sie schon mal die Hälfte dieses Hauses von der politischen Mitwirkung ausgeschlossen.
Sie wissen, dass das nicht zulässig ist. Das sagt Ihnen die Venedig-Kommission.
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Es sagt Ihnen aber auch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, dass im Vorfeld von Wahlen ein Eingriff in das Wahlsystem nicht zulässig ist.
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Also, die erste Hälfte dieses Hauses haben Sie mit dem sofortigen Inkrafttreten und der Aufforderung, die so aufgestellten Listen nicht zuzulassen, von den Wahlen bereits ausgeschlossen.
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In Ihrer Begründung gehen Sie dann aber auch auf die Quoren, die es in den Parteien gibt, ein. Also auch CDU und CSU dürfen nach Ihrer Vorstellung an den Wahlen mit ihren bereits aufgestellten Listen zur Europawahl nicht teilnehmen, weil auch dort aus Ihrer Sicht unsachliche und unzulässige Aufstellungskriterien eine Rolle gespielt haben. Es bleiben AfD und FDP, die nach Ihrer Vorstellung noch bei der Europawahl mitmachen dürfen.
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Jetzt machen Sie aber einen weiteren Fehler. Sie verweisen nämlich auf Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes und sagen: Jemand, der eine gewisse politische Meinung vertritt, darf auch nicht aufgestellt werden. – In Ihrem Bundesvorstand gibt es einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit verschiedenen Organisationen, in dem steht: Gewisse Kandidaten dürfen wegen ihrer politischen Meinung nicht aufgestellt werden. – Somit scheidet auch Ihre Liste bei der Europawahl aus.
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Jetzt könnten Sie sagen: Liebe FDP, jetzt habt ihr den paradiesischen Zustand erreicht, dass nur noch ihr antreten dürft, weil ihr weder ein Quorum noch eine solche Festlegung habt. – Aber auf solch einen politischen Sieg wollen wir als Demokraten gerne verzichten. Deswegen sollen alle mitmachen dürfen, die antreten können.
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Sie monieren beim Parité-Gesetz, dass der Staat in die Gesellschaft übergreift, und machen genau das Gleiche. Warum soll nicht eine Partei nur mit Frauen, nur mit Männern, nur mit Befürwortern einer bestimmten Position oder einer bestimmten Herkunft antreten? Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe und nicht die Aufgabe des Staates, festzulegen, wer bei einer Wahl antreten darf, solange er sich an die Verfassung hält.
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Insgesamt also ein handwerklich zutiefst schlechter, zutiefst verfassungswidriger Entwurf.
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Es ist immerhin begrüßenswert – ich habe es noch mal kontrolliert –, dass die Mehrzahl der Juristen Ihrer Fraktion bewusst nicht auf Ihrem Gesetzentwurf steht, wahrscheinlich aus Scham dafür, was Sie gemacht haben.
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Auch Ihre Fraktionsvorsitzenden haben nicht unterschrieben, weil sie wahrscheinlich wissen, dass es falsch ist.
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Insgesamt ist das also ein Gesetzentwurf, der zutiefst verfassungsfeindlich ist
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und der andere, die sich in Selbstorganisation und Selbstbestimmung
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ein eigenes Verfassungs- bzw. Parteistatut geben, vom politischen Wettbewerb ausschließen will. Anderes ist man von Ihnen nicht gewohnt.
Am Ende noch ein Wort: Ich bin froh, wenn in Deutschland nicht festgelegt wird, was bei Wahlen rauskommt,
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sondern nur, wie sie durchgeführt werden sollen.
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Deswegen bin ich auch zutiefst gegen ein Parité-Gesetz. Das wollte ich am Ende auch noch gesagt haben.
Vielen Dank.
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Mahmut Özdemir, SPD, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich frage mich oft, warum Sie das Grundgesetz und dessen Auslegung und Wortlaut kritisieren und immer das Wort „Freiheit“ in den Mund nehmen. Sie müssten eigentlich der größte Fan der Freiheit des Grundgesetzes sein; denn es gibt Ihnen die Möglichkeit, dieses Haus mit den größten Dummheiten der Welt zu überziehen.
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Wenn man über das Bundeswahlgesetz oder über das Parteiengesetz redet, das Gegenstand in diesem Haus ist, und der Name der AfD-Fraktion fällt, dann denke ich oder denken alle dort draußen zuvörderst an Themen wie: Verdacht auf verdeckte Parteienfinanzierung, dubiose Goldgeschäfte zur Umsatzsteigerung,
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Spenden an die AfD aus dem Ausland. Und wenn Sie Kandidat innen brauchen, dann müssen Sie schon im Ausland wildern gehen.
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Dass die AfD-Fraktion sich jetzt anschickt, der Verhinderung von Gleichberechtigung von Männern und Frauen Vorschub zu leisten und sich in innerste Angelegenheiten von Parteien einzumischen, verwundert angesichts dieser eigenen erheblichen Unzulänglichkeiten.
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Zugegeben: Verfassungsrechtliche Debatten sind schwierig. Es gibt nicht immer ein Richtig und Falsch; angesichts so vieler schlechter Juristen ist das auch kein Wunder. Aber Vergleiche sind auch immer schwierig anzustellen. Deshalb versuche ich einen Vergleich, gegen den man sich schwerlich wehren kann. Der Frauenanteil in den Fraktionen beträgt bei den Grünen 58 Prozent, bei den Linken 54 Prozent, bei der SPD 42 Prozent, bei der FDP 24 Prozent, bei der Union 20 Prozent und bei der AfD 11 Prozent. Selbst die Fraktion mit dem zweitgeringsten Frauenanteil ist immer noch fast doppelt so gut wie die AfD.
Herr Kollege Özdemir.
Entweder Sie haben nicht genug Frauen in Ihren Reihen, die eine Kandidatur anstreben, oder die Frauen meiden die AfD.
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Beides kann man den Frauen dieses Landes auf keinen Fall vorwerfen.
({1})
Herr Kollege Özdemir, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von Storch?
Ich würde die Zwischenfrage gestatten, wenn sie zuvor eine meiner Fragen beantwortet, wenn das geht.
Das kann sie schlecht. Sie kann nicht Ihre Fragen beantworten. Also, lassen Sie die Zwischenfrage zu, ja oder nein?
Ich würde gerne testen wollen, ob sie ihren Gesetzentwurf selber gelesen hat.
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Ich würde Sie jetzt bitten, mit Ja oder Nein zu antworten.
Dann gestatte ich es nicht.
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– Sie hätte sich ja stellen können.
100 Jahre nachdem Marie Juchacz als erste Parlamentarierin, als Freie und Gleiche in diesem Haus gesprochen hat, möchte ich meine Redezeit dazu nutzen, Ihnen darzulegen, wofür die SPD steht
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und welche Haltung wir zu dem Thema haben, anstatt sie zu verschwenden.
Wir wollen den Frauenanteil im Deutschen Bundestag unter Beachtung folgender Grundsätze erhöhen: Die Quotenregelungen, die die Parteien des Deutschen Bundestages festgelegt haben – und einige praktizieren sie; wir haben es gerade gehört –, möchten wir harmonisieren und zu einer gesetzlichen Regel ausgestalten. Die hohen verfassungsrechtlichen Hürden im Hinblick auf die Eingriffe wollen wir aber auch politisch und verfassungsrechtlich würdigen. Die bisherige Praxis der durch den vorliegenden Gesetzentwurf verächtlich gemachten Parteien, die dem Wahlvolk bei jeder Wahl geschlechtsbezogen quotierte Listen vorlegen, ist im Übrigen zu keiner Zeit auch nur ansatzweise von Wahlleitungen oder der Verfassungsrechtsprechung beanstandet worden.
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Der Schutzauftrag von Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz muss mit den Wahlrechtsgrundsätzen in Artikel 38 Grundgesetz innerhalb unseres Systems von Erst- und Zweitstimmen in Einklang gebracht werden. Die Frauenanteile in den Fraktionen zeigen, dass es bereits jetzt möglich ist, mehr und echte Gleichberechtigung herzustellen, wenn alle Parteien dazu verpflichtet würden, ihre Listen zu quotieren.
Die primäre Möglichkeit, ein Bundestagsmandat zu erreichen, ist allerdings immer noch das Direktmandat. Hier entscheiden sich die Parteien in ihren Gliederungen und vergeben eine einzige Kandidatur je Wahlkreis. Welches Verhältnis unter Männern und Frauen der direkt gewählten Abgeordneten am Ende zustande kommt,
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ist ausschließlich dem Wählerwillen vorbehalten, und das tastet derzeit auch niemand an.
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Quoten im Rahmen von Listen verursachen Unwuchten, aber genau das ist ihre Aufgabe: eine Unwucht zum Ausgleich einer anderen Unwucht. Sie greifen in die demokratischen Mehrheitswahlergebnisse ein, indem sie einen möglicherweise überlegenen Zählwert eines Stimmergebnisses im Hinblick auf den Erfolg, der sich realisieren soll, verkürzen. Wenn man jedoch die Rahmenbedingungen parteiinterner Wahlen gemeinsam setzt, dann kann man sich auf eine solche Auseinandersetzung bei Entscheidungen und Spitzenkandidaturen – dazu zähle ich jetzt auch einfach mal die Direktmandate – einstellen. Dafür garantieren sie diesen benachteiligungsfreien Zugang. Diesen benachteiligungsfreien Zugang müssen wir im Übrigen auch auf die Landeslisten ausdehnen und vollstrecken.
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Die praktizierte Umsetzung des heute geltenden Wahlrechtes von Grünen, Linken und SPD führt heute schon verfassungsrechtssicher zu einer Steigerung des Frauenanteils des gesamten Deutschen Bundestages und wird ein jedes Mal im Rahmen einer demokratischen Entscheidung von der jeweiligen Parteibasis bestätigend fortgeschrieben.
Seien wir doch mal ehrlich – und das wäre meine Frage an Sie gewesen, Frau von Storch –: Sie schaffen es in Ihrem Gesetzentwurf nicht, mehr als zwei Fundstellen beizubringen, die von einer Unzulässigkeit wahlrechtlicher Geschlechterquoten sprechen. Diese zwei Fundstellen sind auch noch in sich derartig verwoben, dass sie aufeinander verweisen. Wenn Sie hier Gesetzentwürfe vorlegen, dann bitte ich Sie: Arbeiten Sie handwerklich, wissenschaftlich und politisch auch präzise.
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Nicht alles, was umstritten ist, ist gleichzeitig auch rechtswidrig oder verfassungswidrig. Es ist ein Diskurs. Keine Quote hat je eine Mandatsträgerin oder einen Mandatsträger hervorgebracht, sondern es war stets der Mut einer jeden Frau und eines jeden Mannes, sich in einem chancengerechten – chancengerechten! – Wettbewerb in der demokratischen Auseinandersetzung zu stellen, um für ihre oder seine Überzeugung zu werben und mit diesen Überzeugungen aufgestellt und am Ende auch gewählt zu werden.
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Folgt man hingegen dem AfD-Entwurf, verstößt man gegen den grundgesetzlichen Schutzauftrag der Gleichberechtigung. Im Übrigen verstößt man gegen diverse Regelungen des Parteiengesetzes – Kollege Heveling hat es gerade dargestellt; deshalb spare ich mir das jetzt –, und nebenbei – und das ist besonders verwerflich – tritt man 100 Jahre hart erkämpftes Frauenwahlrecht.
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Das ist die AfD-Position, und das sollen alle Frauen in diesem Lande auch hören.
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Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl ist keine Gleichmacherei, sondern die Herstellung von Gleichheit von Chancen. Ein Anwendungsdefizit, wie der Gesetzentwurf es darlegt, ist aus meiner Sicht nicht erkennbar.
Unsere Verfassung ist dem Wandel zugänglich; sie lebt davon. Sie ermöglicht uns so ein Leben in Frieden, Fortschritt und Wohlstand und sorgt für Schutz vor Diskriminierung. Sofern dieser Wandel von einem gesellschaftlichen Wandel begleitet wird, schaffen wir es auch, für mehr Gleichberechtigung in unseren Parlamenten zu streiten. Ich denke, die Zeit ist reif. Sie sind von gestern.
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Zum Glück hat das Grundgesetz auch gegen Ewiggestrige seine eigenen Vorkehrungen getroffen. Das werden wir bei der nächsten Wahl hoffentlich auch merken. Die Frauen in unserem Land werden goutieren, was Sie heute hier veranstaltet haben.
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Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Beatrix von Storch, AfD.
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Ich höre, Sie freuen sich schon auf meine Intervention; ich auch.
Herr Kollege, Sie sprachen von politischer Präzision, die wir an den Tag legen sollten, und das möchte ich gerne tun. Ich möchte in politischer Präzision Ihre Einlassungen in den Kontext Ihrer sonstigen Gesetzesinitiativen stellen.
Sie reden einer Quote für Frauen das Wort. Die kann nur 50 Prozent betragen. Das stelle ich in den Kontext Ihrer anderen Initiativen, die jetzt offiziell ein drittes Geschlecht eintragen lassen wollen, das „divers“ heißt. Ich frage mich, wie das bei den Quoten berücksichtigt werden soll. Sie können schlechterdings nicht eine 50‑Prozent-Quote für Männer und für Frauen ansetzen und gleichzeitig sagen, es gibt noch ein drittes Geschlecht, das Sie gerne „divers“ nennen wollen. Das heißt, Sie müssen schon erklären, wie hoch die Quoten für die Diversen sein sollen.
Dann muss das Ganze im Kontext der Definition der Diversen gesehen werden; denn Sie legen ja Wert darauf, dass „divers“ derjenige ist, der sich selbst als „divers“ definiert. Das heißt, unabhängig von der Biologie kann man sich dem Geschlecht „männlich“, „weiblich“ oder „divers“ zuordnen, was wiederum bedeutet: Für wen gilt eigentlich die Frauenquote, wenn sie am Ende vielleicht 33 Prozent beträgt und 33 Prozent auf „divers“ entfällt? Wer ist im Sinne Ihres Quotensprechs eigentlich eine Frau und ein Mann? Kann nicht auch ein biologischer Mann die Frauenquote für sich in Anspruch nehmen, wenn er sich selbst, zumindest am Wahltag oder beim Aufstellungsparteitag, als Frau definiert?
Sie werden das gleich als lächerlich abtun. Aber diese Fragen stellen sich, und das Lächerliche an dieser Geschichte, das ist Ihre Gesetzesinitiative, das sind Ihre Definitionen, und die werden anhand der konkreten Beispiele klar. Also bitte: Wie hoch sind die Quoten für die Diversen, und wer ist ein Diverser? Wer ist Mann und wer ist Frau im Rahmen Ihrer 50‑Prozent-Quotenregelung?
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Herr Kollege Özdemir, Sie können erwidern.
Ich kann erwidern, aber ich muss nicht
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auf eine derartige Diskriminierung erwidern.
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Es ist schon erstaunlich, dass Sie sich Gedanken über Diskriminierung machen. Ich denke, es ist ein hohes Zeichen von Toleranz, wenn man diese – –
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Herr Kollege Baumann, der Sinn einer Kurzintervention ist, dass man darauf antworten kann. Die Antwort müssen Sie schon zulassen.
Jetzt bitte Herr Özdemir.
Ich habe festgestellt, dass man Ihnen sehr viel erklären kann, dass die Erkenntnis bei Ihnen allerdings sehr langsam reift. Deshalb komme ich Ihnen lieber mit dem Ergebnis und sage Ihnen: Wenn Sie mit Ihrem Gesetzentwurf ohnehin schon Geschlechterquoten für Männer und Frauen ablehnen, müssen Sie die Gedanken, die Sie sich gerade lauthals gemacht haben, nicht mir vortragen. Wir werden eine anständige Lösung dafür finden.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Doris Achelwilm, Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Anwesende! Frauen wählen erheblich seltener die AfD, als es Männer tun. Sie sind auch wenig in der AfD-Fraktion vertreten. Von daher sind Frauen schon mal das eindeutig klügere Geschlecht, um das an dieser Stelle vorwegzunehmen.
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Für die Männerpartei AfD sind Frauen ein politisches Risiko. Das hat vor allem einfache, handfest egoistische Gründe; denn mit jeder Frau, die zum Beispiel über die Quote in den Bundestag kommt, muss einer von Ihnen seinen Sessel hier abtreten, auf dem Sie so gerne sitzen und männliche Präsenzkultur demonstrieren.
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Die Verteilungsfrage zwischen Männern und Frauen darf aus Sicht der AfD nicht gestellt werden, weil es für rechte Männer wie Sie eben am einfachsten ist, wenn alles bleibt, wie es ist, oder wieder wird, wie es einmal war. Und genau deshalb legt die AfD heute ein lupenreines „Anti-Frauen-Gesetz“ vor. Was für ein Trauerspiel und wie leicht zu durchschauen!
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Der – nun ja – Gesetzentwurf ist kaum der Rede wert, aber für die AfD wohl so etwas wie ein stimmiges Gegenmodell zum Parité-Gesetz, das jetzt in Brandenburg mit den Stimmen von Grünen, SPD und Linken beschlossen wurde. Ein Parité-Gesetz hat das Ziel, gegen die strukturelle Benachteiligung von Frauen Regeln zu finden, damit Frauen und Männer in möglichst gleicher Zahl im Parlament vertreten sind. Es gibt dafür auf europäischer Ebene Vorbilder, wie in Frankreich. Aber auf Bundesebene ist Brandenburg das erste Land, das mit einem Gesetz die nötige Gleichstellung der Geschlechter so voranbringt, wie es das Grundgesetz fordert.
Dass es diesen Durchbruch gibt, ist ein historischer Erfolg der Frauenbewegung. Wir als Linke sind sehr dankbar für die verfassungsrechtliche Arbeit aller Beteiligten und den Mut dieser Initiative.
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Geschlechterparitätisch besetzte Parlamente sind kein Selbstzweck, sondern eine Frage von mehr Gerechtigkeit.
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Mit 50 Prozent Frauen im Parlament gäbe es wahrscheinlich nicht diese skandalöse Politik gegenüber Erzieherinnen, Hebammen und Pflegekräften. Verhütungsmittel wären keine so einseitig auf Frauen abgewälzte Angelegenheit. Hygieneprodukte für Menschen mit Uterus würden wohl nicht mit 19 Prozent besteuert, und der schädliche § 219a würde spätestens heute endlich abgeschafft, statt zementiert.
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Klar ist auch: Ein höherer Frauenanteil im Parlament erschafft noch kein feministisches Utopia. Aber er bringt Erfahrungen, Interessen und Blickwinkel für gesellschaftlich notwendige Aufgaben mit, die systematisch zu kurz kommen.
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Strukturelle Benachteiligung ist keine Nebensache, sondern bedeutet konkrete Ausschlüsse, Abwertungen, Doppelbelastungen en masse. Sie findet statt, wenn unbezahlte Familienarbeit weit überwiegend von Frauen geleistet wird und es keine ausreichende öffentliche Infrastruktur für Kinder und Pflegebedürftige gibt, wenn ein Beruf schlechter bezahlt wird, weil er mehrheitlich von Frauen ausgeübt wird, und wenn in einer Gesellschaft, in der Frauen ein geringeres Einkommen haben als Männer, genau die Ehen steuerlich belohnt werden, in denen der Gehaltsunterschied zwischen dem Mann und der Frau besonders groß ist. Diese Mechanismen halten sich äußerst hartnäckig. Es braucht starke Vertreterinnen von Gegeninteressen, um sie abzustellen.
Süddeutsche.de schrieb vor kurzem über die AfD – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:
Die Partei … predigt ein völkisch-nationalistisches Frauenbild.
Und so ist es.
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In diesem völkischen Familienbild sollen Frauen ihr Glück im Privaten oder zumindest immer Männern nachgeordnet finden. Das ist auch die Zielvorstellung, die dem Entwurf der AfD zugrunde liegt.
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Konsequent weitergedacht wird dieses Leitbild der AfD-Bundestagsfraktion von einem gewissen Elliott Murray, der im Landesvorstand der AfD-Jugendorganisation in Hessen war. Er wünschte sich in einem Chatverlauf, der in dieser Woche öffentlich wurde, die Abschaffung des Frauenwahlrechts, also des allgemeinen Wahlrechts. Kein Einzelfall! Der AfD-Landtagsabgeordnete Heiner Merz aus Baden-Württemberg sieht es ganz ähnlich und schrieb – ich zitiere erneut –:
Quoten nützen übrigens nur unqualifizierten, dummen, faulen, hässlichen und widerwärtigen Frauen …
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Dieser Frauenhass gehört zum Programm und zur Praxis der AfD. Die Angriffe von rechts gegen reproduktive Gerechtigkeit,
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körperliche Selbstbestimmung und die Gleichstellung der Geschlechter haben aber auch Mehrheiten gegen sich, die sich gerade neu organisieren. Statt Ignoranz und schlechter Kompromisse brauchen wir zügige Maßnahmen ganz konsequenter Gleichstellung.
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Viele Abgeordnete hier im Haus – das ist immer wieder in den Medien zu lesen – befürworten ein Paritätsgesetz auch auf Bundesebene. Das ist kein großzügiges Entgegenkommen, sondern sollte selbstverständlich und für uns alle handlungsleitend sein.
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Das Grundgesetz verlangt schon lange die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Artikel 3 Absatz 2. An diese Verpflichtung sind auch die Parteien gebunden. Und natürlich ist auch in den Parteien, die schon Quotenregelungen haben, noch einiges zu tun. Familienfreundliche Sitzungstermine, eine ganz andere Redekultur, die politische Aufwertung vermeintlich frauenspezifischer Bereiche wie Soziales, Kultur, Bildung sind nur einige Beispiele.
Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten: mit Frauenstreiks – da, wo sie notwendig sind –, mit schönen, ausschweifenden Claire-Waldoff-Abenden und zielstrebigen überparteilichen Initiativen von Frauen, wie es sie jetzt auch im Bundestag gibt.
Diesen AfD-Entwurf braucht allerdings kein Mensch.
Vielen Dank.
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Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich wundert an dieser Debatte und diesem Beitrag und auch an diesem qualitativ schlechten Gesetzentwurf der AfD eigentlich nichts.
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Zur Qualität dieses Gesetzentwurfs hat mein Kollege Stefan Ruppert schon einiges gesagt. Ist der schlecht – lächerlich schlecht!
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Wollte man sich ernsthaft damit beschäftigen, wäre es vertane Zeit.
Wir haben viele Gründe, meine Damen und Herren, über Fragen des Wahlrechts zu reden, über Fragen des Parteienrechts, über die Frage der Selbstorganisation der Fraktionen, über ein Frauenstatut – wir können gern mit all denen, die ernsthaft an der Debatte interessiert sind, über das Frauenstatut der Grünen reden –, über unsere Quotenregelung und all das, was bei uns sehr viel Zuspruch erntet, und über unsere Erfahrungen, die wir damit gemacht haben.
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Aber, meine Damen und Herren, darauf kommt es denen doch gar nicht an, den Damen und Herren von der AfD – oder sagen wir lieber: den Herren von der AfD. Gucken Sie sich den Gesetzentwurf an! Herr Heveling, Sie haben es gesagt: Gestern Nachmittag kam er dann auch irgendwann mal. – Sie haben lange dafür gebraucht.
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Die Qualität hat es nicht verändert.
30 Unterzeichner trägt dieser Gesetzentwurf, davon 28 Männer, zwei Frauen. Der Gesetzentwurf ist ein ziemlich schlechter Versuch, das Parlament, die Parteien und die Menschen in unserem Land zu „trollen“. Aber wir sind hier nicht auf Twitter und auch nicht im AfD-Newsroom. Wir führen hier ernsthafte Debatten über solche Fragen, meine Damen und Herren.
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Und noch etwas unter dem Stichwort „wundern“. Wundert uns das? Wer schreit hier eigentlich am lautesten nach solchen Fragen und Empfindlichkeiten?
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In Baden-Württemberg sind von 19 Abgeordneten der Fraktion der AfD zwei Frauen. In Mecklenburg-Vorpommern ist unter den 13 Abgeordneten gar keine Frau.
Frau Kollegin!
In Sachsen-Anhalt ist es eine Frau von 21 Abgeordneten. In Schleswig-Holstein ist unter den vier Abgeordneten keine Frau,
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in Hessen unter den 18 Abgeordneten eine Frau, im Saarland, meine Damen und Herren, unter den drei Abgeordneten null Frauen, und im Deutschen Bundestag immerhin unter 92 Abgeordneten zehn Frauen. Wollen wir glauben, dass diese Herren was zum Thema Gleichstellung zu sagen haben? Nein!
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Frau Kollegin Haßelmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung des Kollegen Ehrhorn von der AfD?
Nein, ich habe keine Lust auf Fortbildungsprogramme.
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– Ich mache mal weiter; ich habe das Gefühl, wir sind ganz gut am Kern der Debatte.
Meine Damen und Herren, die Zahlen aus den Landtagen habe ich Ihnen genannt. Jetzt komme ich noch zu ein paar Zitaten aus den Reihen der AfD: „Frauenwahlrecht abschaffen und die Links-Grünen haben Probleme“, Frauen hätten „eh nichts im Beruf verloren“ – aus der „FAZ“ –, „Der Grund, warum ich für die Wiederabschaffung des Frauenwahlrechts bin. Alles Heulsusen“, „Quoten nützen nur unqualifizierten, dummen, faulen, hässlichen und widerwärtigen Frauen“. Meine Damen und Herren, warum sollen wir uns eigentlich ernsthaft mit Ihnen über solche Fragen auseinandersetzen?
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Das ist doch eine Zumutung – intellektuell und unter Gleichstellungsgesichtspunkten sowieso.
Jetzt zum Kern der Sache. Ich finde es gut, meine Damen und Herren, dass wir uns im Deutschen Bundestag mit dem Grundgesetz befassen. Von den Grundsätzen dieses Grundgesetzes – das scheinen Sie nicht verinnerlicht zu haben – möchte ich aus Artikel 3 zitieren:
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
Sowie:
Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
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Der vorliegende Gesetzentwurf ist nichts anderes als der Versuch, diesen Artikel 3, seine Auslegung und den Förderauftrag, der im Gesetz klar benannt ist, zu diskreditieren.
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Glauben Sie ernsthaft, das würden wir hier im Parlament zulassen? Glauben Sie ernsthaft, die Frauen in dieser Gesellschaft würden das zulassen? Deshalb geht Ihnen in Bezug auf die Diskussion zum Thema Gleichstellung in unserer Gesellschaft doch auch so die Flatter,
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weil Sie ja in erster Linie von Männern gewählt werden. Gucken Sie sich diese Zitate doch an! Die müssen wir alle verbreiten, damit jede Frau weiß, womit sie konfrontiert ist, wenn sie diese Herren unterstützt.
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Meine Damen und Herren, deshalb ist es wichtig, dass wir über den Artikel 3 reden.
Ich habe auch keine Sorge, mit Ihnen über das Parteiengesetz zu reden. Sie haben da ganz schön viel Nachholbedarf. Ich bin gespannt auf die ganzen Prüfungen, die gerade im Hinblick auf Ihre sogenannte Parteispendenaffäre laufen.
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Meine Damen und Herren: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes ... benachteiligt werden“. Diejenigen, die von Ungleichheit profitieren, haben schon immer die Freiheit ins Feld geführt, um nichts verändern zu müssen. Hier sieht es jetzt wieder genauso aus.
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Beim Gleichheitsgebot im Grundgesetz, da setzen wir an, das nehmen wir sehr ernst. Deshalb sind die Debatten über Frauenförderung und deren Qualität, über Quoten und auch über ein Paritätsgesetz interessant, wichtig, notwendig und gut. Denn warum sollten wir uns mit einem Frauenanteil von 30,9 Prozent im Bundestag abfinden? Ich finde es gut, dass Frauen darüber diskutieren – und vielleicht auch ein paar Männer.
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Vielleicht kommen wir auch zu einem Ergebnis, aber sicher nicht mit Ihnen von der AfD.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Haßelmann. – Wir wurden gerade vonseiten der Regierungsbank darauf hingewiesen, dass es aus der AfD einen Zwischenruf gab, bei dem von – Zitat – „natürlicher Auslese“ gesprochen wurde.
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Wir werden das im Ältestenrat ansprechen, weil wir jetzt nicht identifizieren können, von wem das kam.
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Danke, dass Sie uns darauf hingewiesen haben.
Ich möchte Sie bitten, sich an die Grundregeln des politischen und demokratischen Umgangs zu halten.
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Nächster Redner: Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin, vielen herzlichen Dank. – Sehr verehrte Kollegen! Ich habe wirklich versucht, mich mal ernsthaft mit den Fragen zu beschäftigen:
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Gibt es einen Sinn? Was bringt der Gesetzentwurf? Ist er abzubuchen unter „Es war ein Wochenende auf Meskalin mit einem Wünsch-dir-was-Workshop“? – Das könnte man alles sagen; das ist in Ordnung. Die Intention, die dahintersteht, offenbart sich dann aber doch sehr schnell: Durch Disruption unserer Verfassung, eine Neuordnung nach einem Baukastensystem, wollen Sie genau das Gegenteil von dem machen, was dieses Grundgesetz eigentlich will.
Das ist tatsächlich ein Kunstgriff der AfD, der wirklich nur in der Chaostheorie verborgen sein kann. Ich will doch noch einmal sagen – das ist das pädagogische Prinzip der Wiederholung –: Artikel 3 des Grundgesetzes eignet sich gar nicht, um ihn heranzuziehen und an dieser Stelle darauf hinzuweisen: Da müsst ihr euch alle daran halten.
Die AfD sagt jetzt das Gegenteil, nämlich: Es soll ein Gesetz geben, das an den Artikel 3 – Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichheit von Mann und Frau – gerade nicht anknüpft. – Wie wäre es denn mal mit dem Satz: „Wir lassen – egal bei welcher Form von Organisation – Gesetze ohne jegliche Anknüpfung an den gesamten Grundrechtskatalog zu; schließen wir doch gleich Artikel 1 bis 20 aus“? – Nein, die Grundrechte in diesem Land sind Individualrechte, Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat.
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Gerade wenn es um die Auswirkungen im Parteiengesetz geht, hat sich der Staat bei absoluter Satzungsautonomie – dieses Wort besteht aus zwei Teilen, nämlich aus „Satzung“ und „Autonomie“; das heißt, ich bin selbst dafür verantwortlich, was ich in meiner Satzung regele; das nennt man Staatsfreiheit – dazu verpflichtet, sich aus diesen Ordnungsmechanismen rauszuhalten.
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– Zu dem Thema Staatsziel komme ich schon noch. – Er soll sich auch bei der Frage raushalten, wie sich die Parteien auf diesem Weg gesellschaftspolitisch organisieren. Dazu bedarf es eben gerade keiner Vorgabe durch die AfD, und schon gar nicht durch dieses absolut abstruse Ansinnen.
Es gibt eben keine Vorgaben zur Besetzung. Frau Haßelmann sitzt doch nicht an diesem Platz, weil man Männern verboten hätte, bei den Grünen zu kandidieren.
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Nein, wir gehen mal davon aus, dass sie sich diesen Platz tatsächlich erarbeitet und verdient hat. Aber hallo!
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– Das Lob hole ich mir irgendwann schon wieder ab, Frau Haßelmann, keine Angst.
Jetzt sind wir sehr schnell bei dem Punkt, dass man in diesem Land tatsächlich unterschiedlicher Auffassung sein darf. Parité ist etwas, was ich für zutiefst verfassungswidrig halte; damit bin ich nicht alleine.
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Den Vorschlag von Herrn Oppermann, Wahlkreise doppelt zu besetzen, halte ich nicht nur unter Verfassungsaspekten für äußerst schwierig.
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Schauen wir uns mal an, was in diesem Land tatsächlich passiert: Rein statistisch stehen in 90 Prozent aller Direktwahlkreise in diesem Land Frauen zur Wahl. Es geht also nicht um die Frage, was ich dem Wähler abringe, sondern um die Frage: Gibt es Barrieren, die ich beseitigen muss? Hier kommt Artikel 3 erneut ins Spiel. Es geht nämlich um die Aufgabe, den Zugang zur Politik, zur Teilhabe am Staatswesen und an der Gesellschaft als auch in die Parlamente zu erleichtern. Das heißt, auch für Frauen sind diese Hindernisse und Barrieren in der Tat niederzuhalten. Das Gegenteil ist aber der Fall.
Bei diesem Antrag geht es beileibe nicht nur um die Frauen und die Frage, wo sie hingehören – das ist nicht die einzige Intention dieses Antrages –, sondern es geht schon sehr viel weiter. Ihre Intention ist nämlich, in Bezug auf das Staatswesen und dessen Organisation alles auszuschließen, was in irgendeiner Art und Weise nicht in Ihr Weltbild passen könnte.
Die Fragen des Wahlrechts, der Gleichberechtigung und der Funktionen innerhalb dieses Staates eignen sich aber in keinster Weise, um die Verfassung als Spielplatz zu benutzen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Michael Frieser. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Dr. Jürgen Martens.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon angeklungen – Kollege Ruppert hat es dargestellt –: Ihr Gesetzentwurf, meine Damen und Herren von der AfD, beruht schon auf einer fachlich und juristisch grundfalschen Annahme. Danach sollen Wahlvorschläge, die etwa Frauen oder andere Gruppen begünstigen, per se wegen dieser Begünstigung verfassungswidrig sein. Dem ist nicht so. Das ist schlicht eine falsche Behauptung, die Sie in den Raum stellen.
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– Herr Jacobi, nehmen Sie doch mal die Urteile von Verfassungsgerichten in diesem Land wenigstens zur Kenntnis, bevor Sie hier solche Gesetzentwürfe vorlegen! Das haben Sie aber offensichtlich nicht getan.
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Parteien zum Beispiel sind kein Teil der öffentlichen Gewalt und unterliegen auch keiner unmittelbaren Grundrechtsbindung, anders als staatliche Gewalt. Das interessiert Sie nicht, oder?
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Der Gesetzgeber verfügt auch im Bereich des Wahlrechts über Gestaltungsbefugnis, verfassungsrechtlich gewünschte Ziele, etwa die in Artikel 3 Grundgesetz genannte Förderung von Frauen, zu erreichen und dabei bestimmte Gruppen zu fördern. Die Förderung der einen Gruppe und die damit verbundene – ja – Benachteiligung anderer Gruppen macht diese Förderung aber nicht per se unzulässig. Das war übrigens Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Auch das scheint Sie nicht zu interessieren, meine Damen und Herren.
Es gibt für Parteien natürlich die Möglichkeit, Angebote an den Wähler zu machen – die er übrigens nicht annehmen muss – und Quoten aufzustellen. Es gibt sogar Parteien, die sich ausdrücklich an bestimmte Bevölkerungsgruppen wenden, wie etwa Seniorenparteien, die ausdrücklich die Ziele von älteren Menschen in diesem Land politisch befördern wollen. Dass sie nicht gewählt worden sind, liegt eben am Wähler. Aber den Parteien verbieten können Sie das jedenfalls nicht.
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Auch ein Paritätsgesetz sehen wir kritisch,
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sehr kritisch. Denn es ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers, dem Volk als Souverän mittels Gesetzgebung vorzuschreiben, wen es in welcher Zusammensetzung zu wählen hat oder nicht.
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Wir werden sehen, inwieweit sich tatsächlich so etwas durchsetzen lässt.
Die Repräsentation und Teilhabe von Männern und Frauen ist ungleich, richtig. Wir Liberalen verzichten dabei noch auf Quoten. Ja, darüber streiten wir. Aber es einfach zu verbieten, um damit einer Diskussion von vornherein aus dem Weg zu gehen, das ist ein Weg, den wir so nicht mittragen.
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Und was wir bestimmt nicht mittragen, ist die offensichtliche Strategie der AfD, die hinter dem Gesetzentwurf steht: eine gesellschaftspolitische Rückwärtsrolle in die 50er-Jahre zu machen, bei der die Frau zu gehorchen und Kinder zu kriegen hat und in der Politik den Mann bitte nicht stören darf.
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Das machen wir bestimmt nicht mit,
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geschweige denn, dass wir uns den Überlegungen, die bei Ihnen ventiliert werden, anschließen, das Frauenwahlrecht insgesamt infrage zu stellen. In diese Welt werden Sie hier keinen mitnehmen können.
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Vielen Dank, Dr. Martens. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Philipp Amthor.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn der Legislaturperiode wollte uns die AfD ja noch jagen. Jetzt sehen wir an einem Gesetzentwurf, dass Sie sich große Sorgen um unsere parteiinternen Verfahren machen. Es ist wirklich schon rührend, dass Sie sich so sehr um uns kümmern.
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Genauso rührend ist, dass Sie sich jetzt große Sorgen um die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau im Wahlrecht machen, und bemerkenswert ist, dass Sie angesichts eines Frauenanteils von 11 Prozent in der eigenen Fraktion als größtes Problem in diesem Feld die angeblich zu große Benachteiligung von Männern ausmachen. Das ist schon eine interessante Schwerpunktsetzung; das muss man sagen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will aber ganz im Ernst sagen: In der Debatte und auch in den Punkten, die die AfD vorgebracht hat, sind auch richtige Punkte enthalten. Denn – das will ich ganz klar sagen – eine verpflichtende Quote im Wahlrecht, im Bundestagswahlrecht ist sicherlich nicht das erste Instrument der Wahl, um die politische Beteiligung von Frauen zu steigern.
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Ich halte es sogar für falsch und für respektlos gegenüber den Frauen, die wir haben. Das ist gar nicht nötig.
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Mit Blick auf das Brandenburger Paritätsgesetz, das hier mehrfach angesprochen wurde und nach dem Listenplätze zwangsweise alternierend an Männer und Frauen vergeben werden sollen, kann ich nur sagen: Das ist an verfassungsrechtlicher Dummheit kaum mehr zu überbieten.
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Die Verfassungswidrigkeit ist diesem Brandenburger Paritätsgesetz auf die Stirn geschrieben,
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und die superschlaue Brandenburger Landesregierung hat dieses niedliche Gutachten vorgelegt. Schauen Sie sich das an!
Ich würde das auch gerne sehen, Herr Amthor, bevor Sie es zeigen.
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– Danke schön.
Es ist schön bunt illustriert, auch sehr lesenswert. Damit hat nämlich die rot-rote Regierung alle Staatsrechtslehrer und deren Meinung mal eben weggefegt. Hier haben zwei Studentinnen ein superschlaues Gutachten geschrieben. Ich kann Ihnen nur sagen: nicht nur bunt illustriert, sondern auch verfassungsrechtlicher Kikifax. So was wollen wir im Deutschen Bundestag nicht.
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Deswegen kann ich nur sagen: Wer ein Paritätsgesetz so wie in Brandenburg macht und die Verfassung mit Füßen tritt wie Rot-Rot, der gehört abgewählt, und wir werden daran arbeiten, dass das im September auch erfolgt.
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Gesetzliche Quoten à la Brandenburg – das hat die AfD richtig erkannt – sind nicht die richtige Lösung. Wenn es um Quoten in Parteien geht, liebe Kollegen, würde ich allerdings zu etwas mehr Gelassenheit raten. Ich bin kein Fan von parteiinternen Quoten, und wir brauchen das in der Union auch nicht.
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Aber es ist – das ist auch angesprochen worden – Teil der politischen Freiheit und der Parteienfreiheit, sich für solche Quoten zu entscheiden. Wichtig ist dann aber, finde ich: Es ist ein Stück weit Betriebsrisiko der Parteien, wie viele Unternehmer, wie viele Frauen, wie viele Ostdeutsche und wie viele Junge man als Kandidaten und in den entsprechenden Ämtern beteiligt.
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Eines muss aber auch klar sein: Für dieses Risiko trägt man dann selbst Verantwortung. Wenn man so wie Sie in der AfD – das zeigt im Innenausschuss ein Blick in die Reihen – keine einzige Frau im Ausschuss hat, dann muss man sich auch nicht über ein Wahlergebnis wundern, bei dem nur ein Drittel der Wähler Frauen sind und nicht die Hälfte. Das hat dann eben auch Konsequenzen.
Ich kann nur sagen: Frauen sind ein wesentlicher Teil unserer Gesellschaft.
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Deswegen müssen Frauen auch ein wesentlicher Teil der Politik sein, als Wählerinnen und als Gewählte. Ich kann mit Blick auf die tollen Frauen in meiner Fraktion nur sagen: Das kriegen die auch ganz ohne Quote hin.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich jenseits dieser ideologischen Debatte zum Schluss noch etwas Grundsätzliches sagen. Ich finde, es ist gefährlich, wenn man von der Prämisse ausgeht, dass jeder Wähler am besten nur durch Angehörige seiner eigenen sozialen Gruppe vertreten wird. Das führt in die Abgründe identitärer Demokratiemodelle.
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Als männlicher Abgeordneter vertrete ich selbstverständlich auch Frauen,
({7})
und die Frauen hier vertreten selbstverständlich auch Männer, und die Jüngeren vertreten die Älteren. Das sollte auch Ihr Anspruch sein.
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Herr Amthor, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Frau Hendricks?
Gerne.
Herr Kollege Amthor, es ist schon sehr mutig von Ihnen, wenn Sie im Hinblick auf die Frauen in Ihrer Fraktion so sprechen. Es ist selbstverständlich so: Die Frauen in Ihrer Fraktion sind klug. Der aber dann folgende Halbsatz: „Das kriegen wir auch ganz ohne Quote hin“ ist ja wohl nachgewiesenermaßen nicht richtig,
({0})
weil in der CDU/CSU-Fraktion bedauerlicherweise nur 20 Prozent Frauen sind.
Was die Wirkung der Direktwahlkreise angeht, will ich Ihnen gerne das Beispiel des Landes Baden-Württemberg nennen. Dort gibt es 38 Wahlkreise, und da sind 3 Frauen und 35 Männer von der CDU gewählt worden, überall natürlich nicht mit 50 Prozent Zustimmung, aber mit relativer Mehrheit, weswegen in Baden-Württemberg eine ganze Reihe von Überhangmandaten entstanden sind. Es bedeutet aber jedenfalls, dass die CDU nur in 3 von 38 Wahlkreisen Kandidatinnen aufgestellt hat.
({1})
Herr Amthor.
Frau Hendricks, es ist in der Tat so – uns betrübt das –
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– nein, das ist so –, dass durch das Wahlergebnis, das wir haben, der Anteil der Jüngeren und der Anteil der Frauen in unserer Fraktion zurückgegangen ist.
({1})
Aber wissen Sie, was das Wichtige ist? Ich werde mich nicht dafür schämen, dass wir die Direktwahlkreise in der Bundesrepublik Deutschland gewonnen haben,
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und ich bin nicht derjenige, der den Parteimitgliedern vor Ort vorschreibt, wen sie aufstellen. Es ist richtig, dass wir alle noch besser darin werden müssen, wie wir Frauen beteiligen, und Frauen sind eben auch im Parlament eine wichtige Unterstützung, auch für uns in der Fraktion. Aber das ist eine Frage, die parteiintern zu organisieren ist statt durch Quoten. Da finde ich, das entscheidet am Ende der Wähler, Frau Hendricks.
({3})
Auch wenn Sie anscheinend glauben, dass man diese Interessen nur vertreten darf, wenn man einer bestimmten Gruppe angehört, will ich Ihnen ganz deutlich sagen, dass Artikel 38 des Grundgesetzes uns ein klares Bild vorgibt: Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. – Das ist auch der Anspruch: Männer vertreten auch Frauen, und Frauen vertreten auch Männer, und das ist auch das Richtige. Am Ende entscheiden es nicht Quoten, sondern am Ende müssen es die Parteien und zuallererst die Wähler entscheiden.
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Darauf setzen wir. Demokratiekonform geht dies durch gute Personalpolitik der Parteien. Die machen in der Union Frauen und Männer.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Amthor. – Nächste Rednerin: Josephine Ortleb für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! 100 Jahre Frauenwahlrecht: Was heute Selbstverständlichkeit ist, nämlich dass die Hälfte der Bevölkerung nicht mehr vom Wahlrecht ausgeschlossen ist, musste vor 100 Jahren erkämpft werden. Dieser Kampf setzte sich im Parlamentarischen Rat fort. Die Gleichberechtigung hat Verfassungsrang bekommen. Benachteiligung von Frauen ist nicht mehr unsichtbar. Vielmehr steht seit 1994 der aktive Auftrag zu Gleichberechtigung weit vorne im Grundgesetz.
({0})
Er bildet einen Grundpfeiler unserer Gesellschaft, und dieser Pfeiler zeichnet sich, wie es sich für eine moderne Verfassung gehört, durch seine Dynamik aus. Unser Grundgesetz setzt in Artikel 3 Absatz 2 einen Begriff der materiellen Gleichheit voraus und keinen der formellen Gleichheit.
Durch Artikel 3 Grundgesetz und insbesondere dessen zweiten Absatz versteht sich der deutsche Staat als ein moderner Staat, der Emanzipation durch Förderung anstrebt. Er bleibt nicht bei dem eindimensionalen formellen Verständnis der Gleichheit, den die AfD-Fraktion formuliert, stehen.
({1})
Das Grundgesetz kann auch hier mehr, als die Kolleginnen und Kollegen der AfD wahrhaben wollen. Aber das ist wohl dieser Unterschied zwischen Verfassungspatriotismus und dem sogenannten Patriotismus zu meiner Rechten,
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der es einfach nicht fassen kann, dass sich die Gesellschaft in den letzten 70 Jahren gewandelt hat.
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Es ist unsere Verantwortung, auf diese Veränderungen Antworten zu geben, und zwar nicht die Antworten von vorgestern, sondern die Antworten für morgen,
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Antworten, die wir den vielen Frauen schuldig sind, Antworten, die die vielen Frauen zu Recht einfordern. Das zeigt die Petition, die der Deutsche Frauenrat ins Leben gerufen hat. Die größte deutsche Frauenlobby fordert uns zum Handeln auf.
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Für uns als SPD-Fraktion ist klar: Ein modernes, ein paritätisches Wahlrecht ist ein Teil dieser Antwort.
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Frankreich hat es vorgemacht. Brandenburg hat gezeigt, wie es geht – wenn man will. Und wir wollen ein Parité-Gesetz;
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denn es geht um die gleiche Teilhabe von Frauen im Parlament und damit um die gleiche Teilhabe an der politischen Macht:
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Teilhabe an Entscheidungen, in denen die Lebensrealitäten von Frauen auch eine Rolle spielen müssen, Teilhabe an Debatten, in denen die weibliche Stimme gerne überhört wird, Teilhabe an einem öffentlichen Raum, der bisher mehrheitlich von Männern dominiert war. Wir Frauen wollen nicht nur die Hälfte des Kuchens, sondern wir wollen die Hälfte der Bäckerei!
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Diese Teilhabe an der politischen Macht kommt nicht von alleine. Auch die Parteien sind gefragt. Als Bindeglied zwischen Gesellschaft und den staatlichen Institutionen sind es momentan die Parteien, die Gleichberechtigung organisieren müssen. Drei der hier vertretenen Parteien – unter anderem meine Partei – haben dazu klare Regeln aufgestellt: Regeln, die keine Einschränkungen darstellen, sondern unsere politische Verantwortung widerspiegeln, die Verantwortung, die ganze Gesellschaft abzubilden.
({10})
Ob bei der Listenaufstellung oder bei der Nominierung der Kandidatinnen und Kandidaten in den Wahlkreisen: Der Anspruch an Parität fängt früh an und ist komplex, ein Anspruch, der infolge von struktureller Benachteiligung notwendig ist. Bei den letzten Bundestagswahlen waren nur 29 Prozent aller Kandidierenden weiblich, und in den Wahlkreisen gab es nur 17 Prozent weibliche Kandidierende. Kein Wunder also, dass der Bundestag so aussieht, wie er aussieht. Wer diese strukturelle Benachteiligung bekämpfen will, muss alle Möglichkeiten nutzen. Und wenn die AfD nun diese Möglichkeiten – zumindest indirekt – beschneiden will, zeigt dies, dass sie nicht dazu in der Lage ist, Antworten für morgen zu geben.
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– Genau, diese Erkenntnis ist wenig überraschend; das ist mir auch klar. Was mich allerdings überrascht und auch erschreckt, sind die Begriffe, mit denen vonseiten der AfD argumentiert wird. Wer in einem Gesetzentwurf von „Klassen“ oder „Sonderrechten“ spricht, der kann Gleichberechtigung nicht verstanden haben.
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Die Förderung von Frauen zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung ist kein Sonderrecht, sondern ein Grundrecht.
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Es ist keine Wohltätigkeit, Frauen Zugang zu Institutionen zu gewähren, sondern staatlicher Auftrag von Verfassungs wegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was dieser Gesetzentwurf der AfD zeigt, ist eines: Alles, was wir in den letzten Jahrzehnten erkämpft haben – gegen alle Widerstände –, alles, was unsere liberale Gesellschaft ausmacht, ist nicht in Stein gemeißelt. Es kann morgen verschwinden, wenn wir nicht auf unsere Erfolge aufpassen.
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Es beginnt mit ein paar scheinbar kleinen Änderungen, mit Veränderungen der Sprache, mit der Formulierung von Sonderrechten, und es endet in einem Rollback zurück in ein anderes Jahrhundert. Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt deutlich, in welche Zeit sich die AfD-Fraktion zurückwünscht: in eine Zeit, in der politische Macht männlich, weiß und heterosexuell war.
({15})
Dieser Gesetzentwurf ist nicht nur hinsichtlich der Rechtschreibung im letzten Jahrhundert stecken geblieben,
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sondern auch im Blick auf unsere gesamte Gesellschaft.
Wenn wir das nächste Mal hier im Deutschen Bundestag eine Feierstunde für die Einführung des Frauenwahlrechts haben, will ich, dass genauso viele Frauen wie Männer mitfeiern.
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Denn statt Blumen und der Präsente: Es müssen mehr Frauen in die Parlamente.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Josephine Ortleb. – Die letzte Rednerin in dieser sehr lebendigen Debatte: Petra Nicolaisen für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorredner haben ja bereits sehr umfassend juristisch zum Gesetzentwurf der AfD Stellung genommen. Ich mache es daher kurz und sage: Der Gesetzentwurf geht inhaltlich gänzlich an dem vorbei, was uns in diesem Haus eigentlich beschäftigen sollte, nämlich gleichberechtigte Teilhabe in unserer und für unsere Gesellschaft in allen Bereichen und auf allen Ebenen,
({0})
und eben auch in politischen Parteien und hier bei uns im Bundestag. Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist eine wesentliche Frage von Gerechtigkeit und Demokratie.
Ein Blick auf den derzeitigen Frauenanteil im Deutschen Bundestag – das ist vorhin schon erwähnt worden – zeigt, dass es auch nach 100 Jahren Frauenwahlrecht noch keine gleichberechtigte politische Teilhabe von Frauen gibt.
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Wen wundert es? Der Vorschlag der AfD hilft uns bei dem, worum es im Kern wirklich einmal geht, nicht weiter. Er könnte sogar das Gegenteil bewirken und lässt, wie schon eingangs erwähnt, völlig außer Acht, dass innerparteiliche Regelungen zur Besetzung von Ämtern und Kandidaten gerade einen Beitrag zur Verwirklichung der tatsächlichen Gleichstellung darstellen.
Nicht dass ich nun unbedingt eine Freundin von Quoten oder Paritätsgesetzen bin
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– ich bin ja noch nicht fertig –, aber die Erhöhung des Frauenanteils sowohl in Parteien als auch im Deutschen Bundestag muss vorangetrieben werden. Über das Wie wird derzeit viel diskutiert.
({3})
Der hier vorliegende Gesetzentwurf ist sicherlich keine Bereicherung dieser Diskussion.
({4})
Es werden verschiedene Möglichkeiten angeführt, insbesondere auch eine verstärkte politische Beteiligung im Zuge einer möglichen Wahlrechtsreform. Ungeachtet der Frage der Erforderlichkeit und der Umsetzbarkeit betreten wir damit allerdings ein komplexes verfassungsrechtliches Spannungsfeld.
Ein Vorschlag ohne eine verordnete Quote oder eine erzwungene Ergebnisgleichheit kommt von unserer Justizministerin aus Schleswig-Holstein. Danach soll jede Partei zwei Direktkandidaten aufstellen, jeweils eine Frau und einen Mann. Wählerinnen und Wähler geben eine Erststimme ab und können entscheiden, ob sie die Frau oder den Mann wählen. Ich persönlich begrüße, dass diese Diskussion jetzt endlich an Fahrt aufgenommen hat, und bin gespannt, wie sie sich weiterentwickelt.
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Auch unsere Bundeskanzlerin hat die Debatte angestoßen, verbindlichere Wege aufzuzeigen und fortzuschreiben, um Frauen in die Partei, damit in die Politik und somit letztendlich auch in den Bundestag zu bekommen; denn wenn sich mehr Frauen in Kommunal-, Kreis- und Landespolitik engagieren, könnte dies eine gute Grundlage sein, um Frauen die Bundespolitik schmackhaft zu machen und sie dafür zu gewinnen.
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Es gibt durchaus auch wirklich gute Beispiele. Ich führe an dieser Stelle meine CDU-Landesgruppe Schleswig-Holstein an: vier direktgewählte Frauen aus elf Direktwahlkreisen.
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Genau das ist der Ansatz, um Frauen Politik schmackhaft zu machen, den ich am sympathischsten finde. Mir persönlich geht es darum, dass wir Frauen für Politik begeistern, und zwar auf allen politischen Ebenen. Als Volkspartei müssen und wollen wir die gesamte Bevölkerung repräsentieren, und diese besteht in unserem Land nun einmal nicht nur aus Männern, sondern zur Hälfte aus Frauen.
Lieber Kollege Amthor, eine Anmerkung sei mir an dieser Stelle gestattet: Wir als Frauen unterstützen nicht nur, wir machen Politik.
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Vielen Dank, Petra Nicolaisen.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7936 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist allerdings strittig. Darüber müssen wir jetzt beschließen. Die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat, die Fraktion der AfD wünscht Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der AfD, also Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Zugestimmt hat die AfD, dagegengestimmt haben die Fraktionen der FDP, der CDU/CSU, der Grünen, der SPD und der Linken.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP, Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat. Wer stimmt für diesen Überweisungsbeschluss? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Die Fraktionen Die Linke, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP haben für den Überweisungsvorschlag gestimmt, die AfD war dagegen. Das heißt, Federführung hat der Ausschuss für Inneres und Heimat.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Alle Kinder haben das Recht, gut aufzuwachsen. Sie haben das Recht auf gleiche Chancen und Bildung von Anfang an. Sie haben das Recht auf Schutz und auf gewaltfreie Erziehung. Diese Rechte sicherzustellen und umzusetzen, auch für Kinder und Jugendliche, die keinen optimalen Start ins Leben haben, ist die gemeinsame Verantwortung von Politik und Gesellschaft.
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Deshalb wollen und werden wir die Kinder- und Jugendhilfe noch besser aufstellen: für die Menschen, die dazu beitragen, dass Kinder- und Jugendhilfe gelingt.
Die in diesem Bereich Tätigen machen eine sehr anspruchsvolle, verantwortungsvolle und sehr gute Arbeit. Dafür brauchen sie gute und auch praxistaugliche rechtliche Rahmenbedingungen.
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Und wir machen das vor allem für die Kinder und Jugendlichen. Es geht zum Beispiel um Kinderschutz, um Inklusion, um Kinder, die nicht in ihrer Herkunftsfamilie leben, um die Zusammenarbeit im Hilfesystem. Das Gute ist: Wir fangen nicht bei null an. Wir haben mit den wertvollen und wichtigen Anregungen zum Kinder- und Jugendstärkungsgesetz und den Fachdebatten der letzten Jahre eine wirklich gute Grundlage für den bereits begonnenen Reformprozess.
Und wir haben aus den Diskussionen der letzten Jahre gelernt. Daher haben wir im November 2018 einen wirklich breiten Beteiligungsprozess gestartet, der dem eigentlichen Gesetzgebungsverfahren vorgeschaltet ist und wichtige Erkenntnisse für diesen liefern soll. Kern ist die Arbeitsgruppe „Mitreden – Mitgestalten“, die aus über 60 Mitgliedern besteht und deren Leitung und Koordination mir anvertraut wurde. Versammelt sind dort viele Stimmen und Interessen: Vertreterinnen und Vertreter aus Fachverbänden der Kinder- und Jugendhilfe, der Gesundheitshilfe, der Behindertenhilfe, der Bundesministerien, der Länder und Kommunen und natürlich auch der Träger der freien Wohlfahrtspflege.
Gemeinsam sprechen wir sehr strukturiert und auch zielorientiert über die Anforderungen an ein wirklich modernes und noch leistungsfähigeres Kinder- und Jugendhilferecht. Wir führen eine breite Diskussion über einen noch besseren Kinderschutz und mehr Kooperation, über ein wirksames Hilfesystem mit weniger Schnittstellen, über eine, falls notwendig, gute Unterbringung außerhalb der Familie, die die Kindesinteressen wie ihre Bindungen wahrt, die Eltern unterstützt und die Familien stärkt.
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Und es geht natürlich auch um eine gestärkte Prävention im Sozialraum. Inklusion als Querschnittsthema begleitet uns bei den gesamten Beratungen.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen: Die Jugendämter und Familiengerichte leisten wertvolle und gute Arbeit. Es gibt jedoch Fälle, die auch an Abgeordnete und das Ministerium herangetragen werden, die aufhorchen lassen. Uns ist es wichtig, dass Eltern, Kinder und Jugendliche bei diesem Reformprozess auch gehört werden. Wir wollen aus ihren Erfahrungen mit der Kinder- und Jugendhilfe und dem Familiengericht lernen, um das Kinderschutzsystem in Deutschland noch besser zu machen.
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Genau deshalb richten wir aktuell eine unabhängige wissenschaftliche Anlaufstelle beim Institut für Kinder- und Jugendhilfe ein, die ab April für die Betroffenen erreichbar ist. Ihre Erfahrungen werden parallel zum Dialogprozess ausgewertet und auch in den AG-Prozess eingespeist.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen also: Im gesamten Prozess setzen wir auf Mitwirkung und auch auf höchste Transparenz. Auf der Webseite „ www.mitreden-mitgestalten.de “ werden alle finalisierten Arbeitspapiere, die Ergebnisse und auch die Protokolle der AG-Sitzungen öffentlich gemacht. Darüber hinaus gibt es weitere Beteiligungsformate für die Fachöffentlichkeit und Module auch zur Befragung von Fachkräften sowie Familien. Bis Ende 2019 wollen wir die Arbeit dieser AG abschließen. Dann wird es einen Bericht mit Handlungsempfehlungen geben. Ich finde, das ist eine wirklich gute Grundlage für den dann zu erarbeitenden Gesetzentwurf.
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Wir werden viel Energie und natürlich auch Kompromissbereitschaft – das liegt zu Recht an der Zusammensetzung der AG – von allen Beteiligten brauchen. Ich bin jedenfalls sehr zuversichtlich, dass das gelingt. Die bisherigen Sitzungen stimmen mich optimistisch. Denn allen Beteiligten liegt das Wohl von Kindern und Jugendlichen am Herzen, und genau so bringen sie ihr gesamtes Wissen, ihre Expertise in den Beteiligungsprozess ein. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die sich auf diese Weise daran beteiligen.
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Die Diskussionen in der AG verlaufen in streitbarer, aber vor allem in von wirklich gegenseitigem Respekt getragener Atmosphäre. Ich finde, so darf und so sollte es weitergehen.
Mit dem breiten Beteiligungsprozess bereiten wir den Weg für eine noch bessere Kinder- und Jugendhilfe. Wir denken vom Kind, wir denken vom Jugendlichen aus, und wir berücksichtigen und stärken seine Bindungen. Das Kindeswohl ist Richtschnur bei der Gestaltung eines wirksamen Hilfesystems, das die Familie stärkt und Kinder schützt. Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten, dass alle Kinder in unserem Land und alle Jugendlichen gut aufwachsen – für starke Kinder und für starke Familien.
Ich freue mich jedenfalls, dass uns der Antrag der Koalitionsfraktionen darin unterstützt, damit jedes Kind es packt. Herzlichen Dank auch dafür.
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Vielen Dank, Caren Marks. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Johannes Huber.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die heutige Debatte ist eine Folge der eigentlich abgewählten Großen Koalition der vergangenen Wahlperiode. War sie damals noch voll des Lobes für das entworfene Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, so bezeichnet die heutige Große Koalition es nur noch als Vorarbeit. Wir sagen Danke, dass Sie auf die Entschlusskraft der AfD gewartet haben.
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Als Bürgerpartei vertreten wir die Anliegen der öffentlichen Petitionen an den Bundestag.
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So können wir uns durchaus mit Ombudsstellen für Betroffene in der Kinder- und Jugendhilfe anfreunden, soweit damit die soziale Teilhabe von Eltern und Kindern gewährleistet wird. Wir wollen aber nicht, dass Eltern und ihre Kinder in der Debatte um die Kinderrechte gegeneinander ausgespielt werden. Es ist ein Skandal, dass Bundesfamilienministerin Giffey eine Broschüre gefördert hat,
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in der es darum geht, in Kitas an einer Gesinnungskontrolle von Eltern zu arbeiten, wie es eine Vertreterin der Amadeu-Antonio-Stiftung hier im Bundestag ausgedrückt hat.
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Genauso lehnen wir den Vorschlag Ihrer Fraktion, also der Grünen, ab, Kinder zu eigenständigen Leistungsberechtigten mit Antragsrecht zu machen. Denn damit würden familiäre Bindungen aufgelöst und ganze Familien gespalten werden.
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Die Zugriffsmöglichkeiten der Grünen beim Thema Kinder sollte man sowieso beschränken.
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Vor allem in Deutschland, wo die Erfolgschancen für Kinder mit am stärksten vom Status der Eltern abhängen, sollte klar sein: Wer Kinder und Jugendliche wirklich stärken will, der muss zuerst die Eltern von der Steuerlast und der Zeitknappheit entlasten.
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Auch als Mitglied der Kinderkommission kann man sehr schnell erkennen, wie mit allen vorliegenden Anträgen auf dem Rücken der Schwächsten ideologische Politik betrieben wird. Mit Ihren Inklusionsträumereien sind Ihnen sogar behinderte Kinder offenbar nicht zu schade, um sie für Ihre Ideologie einer sozialistischen Gleichmacherei einzusetzen.
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Unterstützungsangebote individuell und bedarfsgerecht auszugestalten, bedeutet für uns ganz klar, Förderschulen und ein gestuftes Schulsystem auszubauen, damit Kinder durch entsprechend ausgebildetes Personal passgenau die Förderung bekommen, die sie benötigen.
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Die AfD erteilt aber auch anderen sozialen Experimenten von freien Trägern der Jugendhilfe eine Absage, wenn sie sich zu linksradikalen Keimzellen entwickeln.
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– Hören Sie zu.
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Zum Beispiel erhält das Alternative Jugendzentrum in Chemnitz im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe jährlich 500 000 Euro. Das sind 500 000 Euro für ein Zentrum, welches die einschlägig bekannte Band „Feine Sahne Fischfilet“ beherbergt und in dem die Rotfaschisten der sogenannten Antifa Kongresse abhalten können, zum Beispiel zur Vorbereitung der Demonstrationen beim G-20-Gipfel in Hamburg, oder Seminare, die Titel tragen wie „Militanz, Gewalt und die Frage: Politische Gegner ignorieren, blockieren oder verhauen?“
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Wenn es die Kinder- und Jugendhilfe der Großen Koalition sein soll, eine Rotfront zu züchten, dann ist sie jedenfalls erfolgreich. Mit dem Grundgesetz hat das aber nichts mehr zu tun.
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Immerhin haben Sie alle im Einklang erkannt, dass asylsuchende Kinder, Jugendliche und Frauen in Aufnahmeeinrichtungen in Deutschland wieder Gewalt erfahren müssen. Suchen wir die Ursache, so landen wir bei den so liebevoll angekündigten Fachkräften, leider Gottes bei sehr vielen Leuten, die eher qualifiziert mit Messern umgehen können. Allein diese Tatsache ist die selbst ausgestellte Bankrotterklärung dieser Bundesregierung.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Hier hilft es auch wenig, an den Symptomen herumzudoktern und Träger von Asylunterkünften jetzt Schutzkonzepte entwickeln zu lassen. Wer während des Asylverfahrens in und außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche verübt, der muss unverzüglich abgeschoben werden. Erst wenn Sie das verstanden haben, hat Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland eine Zukunft.
Vielen Dank.
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Nächster Redner in der Debatte: Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! In einer Parallelwelt kann man glücklich leben, aber wir sind hier in der realen Welt. Wir wollen für die Kinder und für die Familien etwas tun.
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Deswegen ist das geplante Gesetz wichtig.
Für uns als Gesetzgeber – das war auch unser Ansinnen als Union – ist es wichtig, dass wir die Bürgerinnen und Bürger bei solchen Gesetzesvorhaben stärker beteiligen. Das gilt insbesondere für Gesetze, durch die massiv in die Grundrechte der Menschen eingegriffen werden kann. Dazu gehören insbesondere die Gesetze zur Kinder- und Jugendhilfe und zum Familienrecht. Denn hier wird etwas geregelt, was für die Menschen wichtig ist: das Verhältnis von Kind, Eltern und Staat. Es geht um die Aufgabe des Wächterstaates, der gelegentlich in die Familie eingreifen muss, aber nicht zu früh eingreifen darf. Diese Abwägung zwischen Schutz der Familie und Wächterstaat betrifft ein hochsensibles und auch sehr spannungsgeladenes Gebiet.
Für die Menschen ist es wichtig, zu erkennen, dass sie bei einem ihre Interessen in besonderer Weise betreffenden Gesetzesvorhaben mitgenommen werden. Denn es geht dabei auch um das Vertrauen in den Rechtsstaat, das Vertrauen in die Familiengerichte und das Vertrauen in die Jugendämter. Ich glaube, da haben wir jetzt gemeinsam eine große und wichtige Aufgabe vor uns.
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Denn jede Jugendhilfemaßnahme, jeder familiengerichtliche Eingriff hat Auswirkungen auf die Familie, auf die Eltern und auch massive Auswirkungen auf die Kinder.
Ich komme aus Hamburg. In Hamburg gab es viele tragische und schlimme Fälle, zum Beispiel die Horrorgeschichten von Yagmur, die zu früh zu den leiblichen Eltern zurückkam und totgeprügelt wurde, und von Chantal, die zu lange bei Pflegeeltern blieb, die drogenabhängig waren. Es gab in Deutschland den Fall, dass ein pädokrimineller Täter, der auf einem Campingplatz lebte, ein Pflegekind vom Jugendamt zugesprochen bekam. Es gab auch den Fall, dass eine Mutter mit ihrem einschlägig vorbestraften kriminellen Freund ihren Sohn an andere Männer verkauft und sich selbst an ihm vergangen hat. Das alles sind Horrorgeschichten, die, auch wenn es Einzelfälle sind, nicht passieren dürfen.
Unsere Aufgabe als Staat und auch als Gesetzgeber ist es, zu überprüfen, was im System verändert werden muss, damit die Anzahl solcher Fälle minimiert wird. Damit es am besten keinen solchen Fall mehr gibt.
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Denn der Staat muss unterstützen, und zwar nach Möglichkeit früh, zielgenau und am Bedarf orientiert, damit wir Familien stärken, damit wir die Eltern und damit auch die Kinder stärken.
Es gibt auch eine andere Seite. Jede Mutter und jeder Vater weiß, dass Kinder relativ häufig fragen: Wann kommt Mama wieder? Wann kommt Papa wieder? Sie alle wissen, dass Sie nervös werden, wenn Sie drei Minuten lang nicht wissen, wo Ihr Kind ist. Stellen Sie sich vor – diese Fälle gibt es –, dass ein Kind vom Jugendamt aus der Schule abgeholt wird, ohne dass die Eltern davon in Kenntnis gesetzt wurden. Man sagt den Eltern nicht, wo es ist, und man unterbindet jeden Kontakt zu dem Kind. Das sind auch Einzelfälle. Aber sie sind tragisch, und es sind insbesondere für die Kinder Horrorfälle, die tiefe Traumata hinterlassen.
Offenburg und Stralsund sind zwei schöne Städte. Was haben die gemeinsam? Ungefähr 60 000 Menschen wohnen jeweils in diesen beiden Städten. Im Jahr 2017 gab es in Deutschland 61 000 Inobhutnahmen. Das ist die Größe von Stralsund oder von Offenburg. Da werden Kinder aus einer Familie geholt, da werden Kinder von ihren Eltern getrennt – in den meisten Fällen wahrscheinlich zu Recht. Wenn das Kindeswohl gefährdet ist, muss der Staat eingreifen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Kinder misshandelt werden, dass sie geprügelt werden oder dass sie sexuellen Missbrauch erleiden. Aber: Jeder einzelne Fall ist auch ein sensibler Fall, bei dem man genau abwägen muss.
Die Fachwelt spricht mittlerweile von Vorverlagerung der Interventionsgrenze; das klingt so abstrakt und theoretisch. Aber Vorverlagerung der Interventionsgrenze meint, dass Kinder gegebenenfalls schon etwas früher aus der Familie geholt werden. Die Gewichtung, die zwischen der Elternposition und der Position der Kinder auch im Hinblick auf die Fragestellung „Was darf der Staat?“ besteht, könnte sich möglicherweise verschieben.
Diese Reform des SGB VIII, des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, ist so wichtig und muss in der Gesellschaft breit debattiert werden – mit Trägern, Verbänden, Kommunen, Ländern, aber auch mit den Menschen. Diese Menschen müssen uns sagen, was falsch läuft. Sie müssen etwas adressieren und sagen: Mir ist etwas passiert. – Man wird den Einzelfall nicht auflösen können, man wird ihn auch nicht nachprüfen können; das ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist vielmehr, zu überlegen: Gibt es vielleicht strukturelle, systemische Probleme? Haben wir bei den Gesetzen möglicherweise etwas übersehen? Wie können wir diese Erfahrungen einbinden?
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Es wurde schon angesprochen: Wir hatten einen Reformversuch bereits in der letzten Legislaturperiode unternommen. Ich muss sagen: Seit November 2018 läuft ein wirklich besserer Reformprozess hinsichtlich der Beteiligung der Fachleute. Durch die Beteiligung der Betroffenen wird die Reform jetzt noch besser werden. Dieses Kompliment auch in Richtung des Familienministeriums mache ich gerne; denn es ist ein wichtiger Prozess.
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Wie sieht die Beteiligung aus? Es geht darum, dass sich Betroffene bei einer Anlaufstelle melden können, um uns Parlamentariern zu sagen, was gut läuft und was nicht gut läuft. Wir werden die Berichte in einem ersten Schritt sammeln und schauen: Was ist passiert? Im zweiten Schritt werden sie von Experten wissenschaftlich ausgewertet werden. Die sagen uns dann: Wir werden daraus ableiten, wo es gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt.
Wir werden dann diesen Veränderungsbedarf identifizieren und in das Gesetzgebungsverfahren einbringen – das ist das Entscheidende –, wo wir sagen können: Das ist uns noch mitgeteilt worden. Das sind Dinge, die den Menschen wichtig sind. – Denn – das sage ich noch einmal –: Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist ein sehr wichtiges Gesetz – für uns sowieso das wichtigste –, weil es in die Familiensituation, in die Situation von Kindern eingreift. Deswegen muss man bei einer Reform alles bedenken.
Bei der Entwicklung des SGB VIII, des geltenden KJHG, hat man sich sehr lange Zeit genommen und sehr breit diskutiert. Das war gut so. Das Gesetz ist gut. Heute sind wir aber an einem Punkt angekommen, wo wir es weiterentwickeln müssen. Das wollen wir genau so gut machen. Deswegen ist uns als Union die Beteiligung der Betroffenen wichtig.
Ich freue mich auf die Beratung und auf den hoffentlich positiven Beschluss hier im Deutschen Bundestag.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Marcus Weinberg. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Daniel Föst.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Ministerin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist allerhöchste Zeit für die Reform der Kinder- und Jugendhilfe. Der Reformbedarf wird täglich größer. Das sieht man auch daran, dass CDU/CSU und SPD jetzt in Hektik verfallen.
Dabei liegen wir inhaltlich gar nicht so weit auseinander. Aber Ihr Antrag, werte Kollegen, geht nicht weit genug. Nach insgesamt neun Jahren Ihrer gemeinsamen Regierungsarbeit hätte ich schon gedacht, dass man sich einen ambitionierteren Zeitplan als bis zum Ende dieser Legislaturperiode gibt.
Auch inhaltlich frage ich mich: Warum werden Sie nicht konkreter? Warum sind Sie nicht mutiger?
({0})
Hier geht es schließlich um das Schicksal, um das Leben von Kindern und um das Wohl von Familien. Über Jahrzehnte hat sich auf kommunaler, Landes- und Bundesebene ein Sammelsurium von Maßnahmen und Strukturen entwickelt, das heute nicht mehr treffsicher und effizient wirkt. Wir geben momentan mehr als 40 Milliarden Euro für die Kinder- und Jugendhilfe aus, und trotzdem kommt es immer wieder zu Fällen, in denen das System versagt.
Ich begrüße, dass die GroKo aus dem Dornröschenschlaf erwacht ist und das Thema „Reform der Jugendhilfe“ jetzt diskutieren möchte.
({1})
Allerdings halte ich Ihren Ansatz zugegebenermaßen für zu mutlos und zu wenig ambitioniert.
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Ihr Antrag besteht zu großen Teilen aus Punkten, mit denen Sie Ihr eigenes Wirken begrüßen. Gut, immerhin macht es mal jemand. Alles andere ist schwammig formuliert und ist eine bloße Absichtserklärung, wie auch in den vergangenen Jahren. Ich möchte das an einigen Beispielen mal verdeutlichen.
Erstes Beispiel. Dankenswerterweise haben Sie die Forderung der FDP übernommen, die Jugendhilfe endlich mal zu evaluieren. Aber warum denn bitte so zurückhaltend? Ich zitiere: „Im Rahmen einer wissenschaftlichen Begleitung sollen … Erfahrungen gesammelt und … ausgewertet werden.“ Was bitte soll das sein? Ein neuer Fragebogen für Jugendamtsleiterinnen und Jugendamtsleiter? Warum machen wir das nicht konkret? Wir brauchen eine belastbare Datengrundlage, was die Kinder- und Jugendhilfe in welchem Bereich kostet, was funktioniert und was nicht, wo man etwas besser machen kann. Wir brauchen eine umfassende wissenschaftliche Studie.
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– Dann schreiben Sie es rein, Herr Weinberg. Dann können wir auch zustimmen.
Zweites Beispiel. Sie fordern eine bessere Abstimmung zwischen Bund, Ländern und Kommunen – das ist ja immer begrüßenswert –, um auch die Mitarbeiter zu unterstützen. Warum machen wir das nicht gleich konkret? In der Kinder- und Jugendhilfe fehlt es an einer übergeordneten Instanz, die Jugendämter berät und ihnen zur Seite steht. Jugendämter machen einen guten Job und stehen unter extremem Stress. Aber die Standards zwischen den einzelnen Bundesländern und Kommunen sind sehr unterschiedlich. Es fehlt an konkreter, fallbezogener Unterstützung. Wir Freie Demokraten wollen eine solche Instanz.
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Drittes Beispiel: die wichtige Aus- und Weiterbildung. Warum werden Sie auch da nicht konkret? Gerade für die Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes, die wirklich vor schwierigen Einzelfallentscheidungen stehen, müssen wir spezielle Weiterbildungsmöglichkeiten schaffen, damit es einen bundesweit einheitlichen Standard gibt.
Schon diese drei Beispiele zeigen, wie wichtig eine fundierte und umfassende inhaltliche Befassung mit diesem Thema wäre. Aber ich verstehe nicht, warum Sie derart in Hektik verfallen, dass Sie diesen Antrag ohne Debatte in den Ausschüssen durch das Parlament jagen wollen.
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Haben Sie Angst, dass wieder in den Zeitungen steht – ich zitiere –: „In der vergangenen Legislaturperiode war die Reform des Kinder- und Jugendhilferechts … am Widerstand von CDU und CSU gescheitert“, so wie es gestern in der „Welt“ zu lesen war?
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Oder wollen Sie eine ordentliche Befassung in den Ausschüssen vermeiden, weil das eine Scheinreform wird, weil das ein Teil Ihrer Schöne-Namen-Gesetze ist? Beides wird dem wichtigen Thema nicht gerecht.
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Aus den genannten Gründen und weil wir von Ihnen nicht ganz so begeistert sind wie Sie selber, das Thema aber sehr wichtig ist und Sie mit kleinen Schritten in die richtige Richtung gehen, werden wir uns nachher bei der Abstimmung enthalten.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Kollege Föst. – Nächster Redner: Norbert Müller für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute den Antrag der Koalitionsfraktionen, das Sozialgesetzbuch VIII weitgehend zu reformieren. Das SGB VIII ist das Kinder- und Jugendhilferecht. Es entstand im gewollten Bruch mit dem repressiven Charakter der alten Jugendfürsorge und verfolgt im Kern einen sozialpädagogischen und modernen Ansatz.
Die Gesellschaft soll Familien, Eltern, Kindern und Jugendlichen helfen und sie von ihren Bedürfnissen ausgehend stärken – und das sowohl allgemein wie beispielsweise in der Kita und im Hort als auch im Krisenfall. In gründlichen Hilfeplanverfahren sollen die bestmöglichen Lösungen für Kinder und ihre Familien in Krisensituationen gefunden werden. Augenhöhe, Beteiligung, Familien und deren Problemlagen ernst nehmen – das sind die Stärken des SGB VIII, und die wollen wir behalten.
({0})
Zuletzt hat die Große Koalition in der vergangenen Legislaturperiode einen Reformversuch dieses sehr komplexen Systems gestartet. Doch das SGB VIII wurde von der Fachwelt und den Zehntausenden Erzieherinnen und Erziehern, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, die täglich mit ihm arbeiten, gegen neoliberale Aushöhlung verteidigt. Dabei stand die Linke stets an der Seite der Betroffenen.
({1})
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Kerstin Kubisch-Piesk und Heike Schlizio-Jahnke von der Aktion „Weiße Fahnen“ aus Berlin zu begrüßen, die auf der Tribüne Platz genommen haben. Die beiden stehen für zahlreiche Kolleginnen und Kollegen, die gegen eine Aushöhlung der Kinder- und Jugendhilfe, gegen schlechte Standards in den Jugendämtern und für eine bessere Situation der Beschäftigten gekämpft haben. Bleibt tapfer! Bleibt dabei! Ihr habt uns an eurer Seite.
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Versuche, das SGB VIII im Sinne einer neoliberalen Sozialpolitik à la Agenda 2010 zu reformieren, gab es genug. Wenn CDU/CSU und SPD jetzt eine Reform des Kinder- und Jugendhilferechts ankündigen, wird dies von vielen Betroffenen als Drohung verstanden, und dazu haben sie auch allen Grund. Ich erinnere an die mehrmaligen Versuche, die Kinder- und Jugendhilfe zu regionalisieren. Regionalisierung ist nichts anderes, als bundesweit geltende Rechtsansprüche von Eltern und Kindern zu ändern oder faktisch in die Zahlungsfähigkeit und -willigkeit von Kommunen zu geben.
Mit dem sogenannten Kinder- und Jugendstärkungsgesetz haben Sie in der letzten Wahlperiode dem eine Krone aufgesetzt. Im Kern war dies der Versuch, den sozialpädagogischen Ansatz des SGB VIII ein für alle Mal zu schreddern. Die Linke wird aber eine „Verhartzung“ der Kinder- und Jugendhilfe nicht mitmachen. Und da möchte ich Sie korrigieren, Kollege Föst: Es war nicht die CDU/CSU, die das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz gestoppt hat. Das waren Linke und Grüne im Bundesrat, die dafür gesorgt haben, dass es bis heute nicht in Kraft treten konnte, und das war auch sehr gut so.
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Den Reformbedarf leiten Sie immer wieder aus einer angeblichen Kostenexplosion – das hat die FDP gerade mustergültig gemacht – der Kinder- und Jugendhilfe her. In Wahrheit gibt es gar keine Kostenexplosion. Gestiegen sind die Kosten im Kitabereich – das wollten wir aber alle –, allein 2016/2017 um 3 Milliarden Euro. Diese Steigerung hat aber im Wesentlichen nicht der Bund getragen, sondern die Länder, Kommunen und Eltern. Andere Kosten, wie zum Beispiel die für die Heimunterbringung, sind teilweise rückläufig oder steigen nur im Bereich des Inflationsausgleichs.
Im Gegenteil: In den Jugendämtern haben die Kommunen teilweise gespart, bis es quietscht. Heute fehlen Tausende Kolleginnen und Kollegen in den Jugendämtern und im Allgemeinen Sozialen Dienst. Die Verbleibenden sind mit Mehraufgaben – ich erwähne beispielhaft das Bundeskinderschutzgesetz – belastet worden, die wir alle wollten. Nur, die personelle Ausstattung hat dafür keiner mitgegeben.
Was bedeutet das konkret? Überarbeitete Kolleginnen und Kollegen entscheiden dann häufig nach Aktenlage. Individuell angepasste Hilfe kann immer weniger gewährt werden. Wenn aber einem Kind etwas geschieht – darauf hat der Kollege Weinberg hingewiesen –, wird als Erstes nach der Verantwortung des Jugendamtes gefragt: Wo war eigentlich das Jugendamt? – Die Folge: Im Zweifel nehmen Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter heute ein Kind früher in Obhut, auch weil sie immer noch keine ausreichende Rechtsabsicherung haben. Das verursacht dann am Ende Mehrkosten.
Klar ist auch: Wer in der Kinder- und Jugendhilfe spart, der organisiert institutionelle Kindeswohlgefährdung, und das muss aufhören.
({4})
Wir Linke wollen eine echte Stärkung des Kinder- und Jugendhilferechts. Das bedeutet, dass wir mehr finanzielle Ressourcen brauchen. Wer Kinder in der Kinder- und Jugendhilfe stärken will, der stärkt ihre Mitbestimmung, anstatt ihre Rechtsansprüche auf Hilfen auch noch einzuschränken.
Wir wollen den Kinderschutz durch präventive Arbeit stärken, zum Beispiel durch eine dringend notwendige bessere Ausstattung der offenen Kinder- und Jugendarbeit und durch eine bessere Ausstattung der Jugendverbände.
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Wer die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen beseitigen will, der muss ernsthaft darangehen, Armut von Kindern und Jugendlichen zu beseitigen.
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Nur das gewährleistet am Ende auch volle gesellschaftliche Teilhabe, und da wird es lebenspraktisch: Jeder vierte Jugendliche zwischen 18 und 25 lebt in Armut. Damit ist der Anteil größer als bei den unter 18‑Jährigen. Viele von ihnen sind sogenannte Care Leaver. Care Leaver sind Jugendliche, die die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe verlassen haben. Häufig tun sie dies aber nicht freiwillig. Vielmehr leisten die Kommunen aus Spargründen keine Hilfen für junge Volljährige. Diese Rechtsansprüche wollten Sie sogar noch abschwächen. Manche jungen Leute landen dann in der Wohnungslosigkeit oder direkt auf der Straße.
Das Jugendwohnen wollten Sie mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz gleich mit abschaffen. Das kann es doch nicht sein. Wir brauchen gerade für die jungen Volljährigen verlässliche Rechtsansprüche auf Hilfen.
({7})
Darüber hinaus brauchen wir auch Beschwerdestellen. Denn wo Menschen arbeiten, passieren Fehler, so auch in den Jugendämtern. Wenn im Jugendamt gespart wird, werden am Ende Leistungen gekürzt. Hier braucht es niederschwellige Anlaufstellen, um Fehler korrigieren zu können.
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Zu guter Letzt: Ich verstehe ja das Ansinnen der Koalitionsfraktionen, ein ordentliches Reformvorhaben auf den Weg zu bringen, und das ist nach dem Murks der letzten Wahlperiode – das ist bereits angedeutet worden – auch aller Ehren wert. Mein Vertrauen in die Bundesregierung ist allerdings nach dem, was wir hier in den letzten Jahren erlebt haben, außerordentlich gering. Aber dann geht Ihr Antrag so nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der SPD. Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz darf nicht mehr Grundlage in der Debatte sein, und insofern ist es auch überhaupt nicht in Ordnung, hier eine Befassung in den Ausschüssen zu blockieren.
In diesem Sinne: Es gibt einiges zu tun. Lassen Sie es uns gemeinsam anpacken, möglichst mit einer angemessenen Beratung in den Ausschüssen und ohne eine heutige Sofortabstimmung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Norbert Müller. – Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Katja Dörner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zunächst einmal freue ich mich darüber, dass wir heute für unsere parlamentarischen Verhältnisse zu prominenter Zeit und relativ ausführlich über die SGB‑VIII-Reform diskutieren.
Die Kinder- und Jugendhilfe hat diese Aufmerksamkeit nämlich mehr als verdient. Die Leistung, die sie für unsere Gesellschaft, vor allem natürlich für die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien erbringt, aber auch die Herausforderungen, vor denen sie steht, gehören öffentlich breit diskutiert. Der Reformprozess zum SGB VIII gehört in die Öffentlichkeit; er geht nämlich sehr viele an.
({0})
Ich denke, Transparenz und breite Diskussionen sind umso wichtiger, weil in der letzten Legislatur bei diesem sensiblen Thema viel Milch vergossen worden ist. Insofern ist es wichtig, dass dieses verlorengegangene Vertrauen wiederhergestellt wird.
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Ob das mit dem jetzt vom Ministerium auf den Weg gebrachten Prozess in einem engen Zeitkorsett überhaupt möglich ist, da habe ich größere Fragezeichen, und der heute vorgelegte Antrag der Koalitionsfraktionen macht diese Fragezeichen nicht kleiner.
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Ich – das muss ich schon sagen – finde den Zeitpunkt für diesen Antrag sehr seltsam. Der Beteiligungsprozess ist längst angelaufen – das haben wir schon gehört –, die sogenannte 50er-Gruppe hat schon getagt, alle Treffen sind terminiert, Studien wurden in Auftrag gegeben etc. Aber offensichtlich knirscht es in der Koalition oder mit dem Ministerium oder bei beiden. Denn jetzt soll dem Ministerium holterdiepolter qua Direktabstimmung – wir dürfen noch nicht einmal im Ausschuss darüber diskutieren – offensichtlich noch einiges mit auf den Weg gegeben werden. Da soll beispielsweise innerhalb kürzester Zeit eine Kommission auf den Weg gebracht werden, die ebenso in kürzester Zeit Erfahrungsberichte aus der Jugendhilfe und aus familiengerichtlichen Verfahren einsammeln soll, welche dann wissenschaftlich fundiert ausgewertet und noch flott in den Prozess einspeist werden sollen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann doch gar nicht funktionieren, und deshalb haben wir sehr große Fragezeichen.
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Deshalb haben wir heute einen Antrag mit konkreten Vorschlägen vorgelegt, wie die Beteiligungsrechte in der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere die Beteiligungsrechte der Kinder und Jugendlichen selbst, gestärkt und Beschwerden erleichtert werden können. Es macht unseres Erachtens wenig Sinn, auf der Bundesebene einmalig Erfahrungen und Beschwerden einzusammeln. Was wir in der Jugendhilfe tatsächlich brauchen, sind flächendeckend Ombudschaften, die die Betroffenen konkret und vor Ort dabei unterstützen, zu ihrem Recht zu kommen. Das fordern wir mit dem Antrag, den wir mit in das Verfahren geben.
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Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn es der Koalition und der Bundesregierung tatsächlich um die Umsetzung von Erkenntnissen geht – übrigens solcher, die sich auch mit den Erfahrungen der Betroffenen decken –, dann sollten sie dringend die Ergebnisse und Vorschläge des Dialogforums Pflegekinderhilfe und die Vorschläge des Wissenschaftlichen Beirats des Familienministeriums zur Pflegekinderreform umsetzen.
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Hier hat es nämlich einen langen und intensiven Prozess gegeben, mit dem Ziel, dieser besonders sensiblen Gruppe von Kindern und Jugendlichen für ihre Entwicklung mehr Kontinuität und Stabilität zu geben. Ich hoffe, dass es in diesem Prozess der Reform des SGB VIII gelingt, die Bedürfnisse und Rechte dieser Kinder endlich in den Mittelpunkt zu stellen,
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und dass die guten Vorschläge, die vorhanden und weitgehend unstrittig sind, nicht einfach wieder vom Tisch gewischt werden.
Gleiches gilt für die jungen Volljährigen, die sogenannten Care Leaver; sie wurden schon erwähnt. Auch hier liegt der sehr gut begründete Vorschlag, den Rechtsanspruch klar bis zum 23. Lebensjahr zu formulieren, auf dem Tisch. Auch hier gibt es überhaupt kein Erkenntnisdefizit, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Bundesregierung müsste endlich handeln, und dazu fordern wir sie auch auf.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Koalitionsvertrag von Union und SPD macht mir mit Blick auf das SGB VIII auch an anderer Stelle Sorgen. Es reicht aus unserer Sicht nicht, nur Schnittstellen zu beseitigen. Wenn wir das SGB VIII jetzt tatsächlich anfassen und reformieren, dann muss ein inklusives SGB VIII dabei herauskommen. Kinder mit Behinderung werden immer noch von einem Amt zum anderen geschoben, weil sich niemand zuständig fühlt und niemand die Kosten übernehmen will. Der alltägliche Kampf von Eltern behinderter Kinder um Unterstützung muss ein Ende haben, und deshalb müssen wir das SGB VIII zu einem Gesetz machen, und zwar für alle Kinder, mit und ohne Behinderung und unabhängig von der Art der Behinderung. Wir wollen ein Gesetz für alle Kinder und Jugendlichen – das ist für mich der Kern des SGB VIII –, und das muss mit dieser Reform endlich auf den Weg gebracht werden.
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Abschließend will ich noch auf zwei sehr positive Aspekte im Antrag der Koalitionsfraktionen zu sprechen kommen.
Erstens: die ausdrückliche Nennung der aktuellen Stellungnahme der Kinderkommission zur Qualitätssicherung in Kindschaftsverfahren. Ich finde, die Kinderkommission hat sehr gute Vorarbeit geleistet; das ist eine große Unterstützung. Wir sollten das beherzigen, und diese Vorschläge auch umsetzen.
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Zweitens: die interfraktionelle Arbeitsgruppe zu Kindern psychisch kranker Eltern. Ich habe vor zwei Wochen im Rahmen der Aktionswoche „Vergessenen Kindern eine Stimme geben“ ein tolles Projekt von Caritas und Diakonie für Kinder psychisch kranker Eltern in Bonn besucht. Es ist sehr deutlich geworden, dass auch diese Kinder oft durchs Raster fallen, weil die Hilfesysteme nicht kooperieren. Und weil auch da die Zuständigkeiten nicht klar sind, wird vieles auf dem Rücken der Kinder und der Familien ausgetragen. Es gibt viel zu wenig niedrigschwellige Angebote. Das müssen wir ändern. Ich weiß, dass sich das nicht nur an das SGB VIII, sondern auch sehr stark an das SGB V richtet. Der aktuelle Reformprozess sollte aus meiner und unserer Sicht ein Vehikel sein, diese Schnittstellenprobleme endlich zu beseitigen.
({10})
Das wären wirkliche Fortschritte für die Kinder und Jugendlichen in diesem Land.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Katja Dörner. – Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion: Ulli Bahr.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Unser Kinder- und Jugendhilferecht, das SGB VIII, ist auch nach mehr als einem Vierteljahrhundert noch immer ein modernes Gesetz, auf das wir stolz sein können. Es ist ein sehr großer Werkzeugkasten, der hilft, Familien zu stärken, die Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung zu sichern, Eltern zu unterstützen und zu befähigen und Infrastruktur zu schaffen, damit Kinder gute Bedingungen für ihr Aufwachsen vorfinden.
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Aber nichts ist so gut, dass es nicht noch besser werden könnte. Fast jedes fünfte Kind und fast jeder vierte Jugendliche – das wurde gerade erwähnt – lebt in Armut. Das packen wir in dieser Wahlperiode energisch an: mit unserem Starke-Familien-Gesetz und bald mit einem Einstieg in eine echte Kindergrundsicherung.
({1})
Dazu gehört auch, die Kinder- und Jugendhilfe behutsam weiterzuentwickeln und sich genau anzusehen, was gut läuft und was nicht. Das aus meiner Sicht in Teilen zu Recht kritisierte und nie in Kraft getretene Kinder- und Jugendstärkungsgesetz verdient eine zweite Chance, und die beginnt mit einem umfangreichen Dialog und Beteiligungsprozess; Staatssekretärin Caren Marks hat es ausführlich erläutert.
Es gibt einige Themen, um die wir uns kümmern müssen. Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für den Kinderschutz ist in den letzten Jahren erfreulicherweise stark gewachsen. Bei Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch wird sowohl in den Familien als auch in den Institutionen immer genauer hingeschaut. Gut so;
({2})
denn Kinderschutz braucht eine Verantwortungsgemeinschaft aller Professionen, die mit den Kindern und ihren Eltern arbeiten. Dabei geht es nicht um Denunziation, sondern um sinnvolle und rechtssichere Kooperation. Wir müssen darüber sprechen, ob die vorhandenen gesetzlichen Regelungen ausreichen oder ob wir nachbessern müssen.
In jedem Fall brauchen die Fachkräfte der Allgemeinen Sozialen Dienste in den Jugendämtern, die verantwortlich Kinderschutzfälle klären, Wertschätzung, Zeit und eine Leitungskultur, in der nicht die Angst vor Fehlern, sondern das Vertrauen in Fachlichkeit und helfende Supervisionsangebote das Handeln bestimmen. Nur dann kann es gelingen, mit Kindern wie mit ihren Familien eine gute Beziehungsebene herzustellen und die Beteiligten dafür zu gewinnen, Hilfeangebote auch anzunehmen. In diesem Kontext werbe ich dafür, flächendeckend unabhängige Ombudsstellen einzurichten,
({3})
an die sich Kinder, Jugendliche und ihre Erziehungsberechtigten bei Konflikten mit dem Jugendamt oder mit den Anbietern einzelner Hilfen wenden können und die vermittelnd eingreifen können, wenn Beziehungen nachhaltig gestört sind und kein Vertrauensverhältnis vorhanden ist.
Ein Dauerthema in unserem versäulten Sozialsystem sind auch die Schnittstellen. Eine Gruppe will ich herausgreifen, die besonders unter unklaren Zuständigkeiten und Verschiebebahnhöfen leidet: Das sind die Kinder mit psychisch erkrankten oder suchtkranken Eltern. Davon gibt es schätzungsweise 3 bis 4 Millionen Kinder. Diese haben mindestens einen Elternteil, der zumindest zeitweise psychische Probleme oder Suchtprobleme hat. Ohne Zusammenarbeit von Psychiatrie, Gesundheitssystem, Suchthilfe und Jugendhilfe fliegen diese Kinder lange Zeit oft völlig unter dem Radar und erhalten keine Hilfe. Nur in wenigen Modellprojekten gelingt bislang die Zusammenführung von Hilfen aus den Bereichen Reha und Gesundheit für die Eltern und der Jugendhilfe für die Kinder. Eine eigene Arbeitsgruppe – das wurde erwähnt – von Fachleuten und mit Vertretern aus allen betroffenen Häusern erarbeitet jetzt Vorschläge, wie wir das ändern können. Auch diese Ergebnisse sollen in den Dialogprozess einfließen.
Von Schnittstellen und unklaren Zuständigkeiten sind besonders auch junge Volljährige, die Care Leaver, betroffen. Der 15. Kinder- und Jugendbericht spricht hier sogar von einem „Übergangsdschungel“. Junge Menschen, die nicht im Heim oder in Pflegefamilien aufgewachsen sind, können oft bis weit ins dritte Lebensjahrzehnt auf die Unterstützung ihrer Familien bauen. Von benachteiligten jungen Volljährigen erwarten wir dagegen, dass sie besonders schnell selbstständig werden sollen. Das ist nicht logisch und nicht nachhaltig. Auch das rechtliche Verhältnis und die Unterstützung von Pflegekindern, ihren Pflegefamilien und ihren Herkunftsfamilien müssen wir wieder auf die Tagesordnung setzen. Der gerade erschienene Abschlussbericht der Hamburger Enquete zu Kinderschutz und Kinderrechten macht das zu einer seiner Kernforderungen.
Der Elefant im Raum, der auch in unserem Antrag nicht ausbuchstabiert ist, bleibt die inklusive Lösung. Es ist fachlich unstrittig, dass die Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder da sein soll, allen Teilhabe ermöglichen soll und muss.
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Wie die Eingliederungshilfe für körperlich und geistig behinderte Kinder unter das Dach der Kinder- und Jugendhilfe gebracht werden kann, dazu gibt es aber noch viel Diskussionsbedarf. Im Dialogprozess sitzen die Behindertenverbände mit am Tisch. In jedem Fall wird im nächsten Jahr das neue Bundesteilhabegesetz vollumfänglich in Kraft treten. Schnittstellen zum SGB VIII müssen angepasst werden, und wir brauchen einen Fahrplan, wie es mit der inklusiven Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe weitergehen soll.
Schließlich befassen wir uns auch mit Prävention im Sozialraum. Das bedeutet, Quartiere zu stärken, gleiche Lebensbedingungen sicherzustellen und eine starke offene Kinder- und Jugendarbeit mit freien und öffentlichen Trägern für einen vorbeugenden Kinderschutz und für Chancen, nicht nur im Villenviertel. Da wird Kreativität gefragt sein: Die Kommunen sind zuständig und sollen es auch bleiben. Aber das Geld muss irgendwo herkommen. Individuelle Rechtsansprüche dürfen in Augsburg nicht anders behandelt werden als in Erfurt.
Das ist schon eine mächtige Agenda, die aber auf vielfältige Vorarbeit und Expertise aufbauen kann. Ich war bei den ersten beiden Sitzungen der AG im Ministerium dabei. Ich werbe wirklich dafür, dem neuen Dialogprozess eine Chance zu geben. Wir sollten dabei auch Probleme lösen, die uns schon lange auf den Nägeln brennen, zum Beispiel so offensichtliche Fehlanreize wie die Selbstbeteiligung von Jugendlichen in Pflegefamilien oder Heimen, die momentan 75 Prozent des Geldes, das sie in Schüler- oder Ferienjobs oder als Ausbildungsvergütung verdienen, abgeben müssen.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss. – Das finden aber nicht nur die Kolleginnen und Kollegen von der FDP zum Haareraufen. Ich freue mich auf den Prozess, auf die geballte Fachlichkeit online und offline, auf einen neuen Anlauf und bin mir sicher: Ergebnisorientiert und gemeinsam kommen wir ans Ziel.
Danke sehr.
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Vielen Dank, Ulrike Bahr. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Martin Sichert.
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Wertes Präsidium! Meine Damen und Herren! Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass die Regierungsparteien die Regierung auffordern, zu handeln und entsprechende Gesetzentwürfe vorzulegen.
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Es ist doch Murks, dass die Staatssekretärin Marks hier einen Antrag vorträgt, in dem sie die Regierung, der sie selbst angehört, zum Handeln auffordert. Wir sind hier doch nicht in der demokratiefeindlichen EU, in der das Parlament schon dadurch entmachtet ist, dass nur die Kommission Gesetze vorschlagen darf. Sie von der Union und SPD haben die Mehrheit hier im Bundestag. Wenn Sie wollen, dass etwas Gesetz wird, dann machen Sie einen konkreten Gesetzesvorschlag, und bringen Sie diesen ein. Die Bundesregierung hat das dann umzusetzen.
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Das wäre Ihr Job als Abgeordneter, und nebenbei bemerkt: So funktioniert Gewaltenteilung.
Sie wollen sich aber anscheinend die Arbeit nicht machen, genauso wie die Linkspartei, die am liebsten erst einmal alle Lobbyisten zusammenrufen will. Mit so viel Feigheit und Faulheit wird es keine benötigten Reformen geben; denn dafür bräuchten Sie den Mut, klar zu formulieren, was Sie wollen, und Sie müssten endlich einmal aufhören, die Verantwortung auf Dritte abzuwälzen.
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Übrigens, meine Damen und Herren von der Union und der SPD: Dass Sie meinen, es braucht eine Aufforderung des Parlaments, damit sich in der Regierung etwas bewegt, zeigt, wie sehr Sie Ihrer eigenen Bundesregierung misstrauen.
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So wie Ihnen der Mut fehlt, klar zu sagen, dass Sie wie die Mehrheit der Bürger im Land kein Vertrauen in die Regierung haben, so fehlt Ihnen leider auch der Mut zu echten Reformen. Sie drehen immer nur ganz kleine Rädchen.
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Um das zu kaschieren, geben Sie Ihren Gesetzesvorhaben dann ganz wolkige Namen: Gute-Kita-Gesetz, Starke-Familien-Gesetz oder Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. Hören Sie doch auf, Ihre Gesetzentwürfe „Super-megagutes-hyperstarkes-Stärkungsgesetz“ zu nennen! Machen Sie lieber vernünftige Gesetze, die die Probleme der Menschen in diesem Land lösen!
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Und tun Sie das nicht halbherzig, sondern konsequent!
Ich gebe Ihnen einmal ein Beispiel: Pflegekinder haben oft eine verdammt schwere Kindheit hinter sich mit Erfahrungen, die ich wirklich niemandem wünsche. Sie kommen teilweise aus verwahrlosten Elternhäusern, oder ihre Eltern sind gestorben. Viele dieser Kinder haben ein unfassbar schweres Schicksal, das sogar viele Erwachsene aus der Bahn werfen würde. Wie viel schwerer muss solch eine Erfahrung dann erst für zarte Kinderseelen sein?
Wenn ein solches Kind dann versucht, sein Leben in geregelte Bahnen zu lenken, und eine Ausbildung anfängt, dann nimmt der Staat ihm drei Viertel – drei Viertel! – des Gehalts weg. Sie bringen den Kindern, die eine verdammt harte Kindheit haben, bei, dass sich Arbeiten nicht lohnt.
Die Statistik spricht Bände: Drei Viertel der Pflegekinder landen über kurz oder lang im Sozialleistungsbezug. Wie soll es denn auch anders sein, wenn man ihnen von Anfang an beibringt, dass sich Arbeiten nicht lohnt?
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Und wofür das Ganze? Für Einnahmen von knapp 800 000 Euro im Jahr bundesweit, Einnahmen, die wahrscheinlich nicht einmal reichen, um den bürokratischen Aufwand für diesen Schwachsinn zu finanzieren.
Letzte Legislaturperiode gab es von Ihnen einen halbherzigen Vorschlag dazu. Sie wollen den Kindern nun nur noch die Hälfte statt drei Viertel des Gehalts wegnehmen. Ja keine richtige Reform wagen! So etwas nennen Sie dann Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. Was für ein Hohn! Schaffen Sie solch einen bürokratischen Unsinn doch einfach komplett ab!
Der Jugendliche, der im eigenen Elternhaus aufgewachsen ist, kann sein Gehalt nutzen, um für den Führerschein zu sparen oder um sich das neueste Smartphone zu kaufen, während dem Jugendlichen, der bei Pflegeeltern aufgewachsen ist, der Großteil weggenommen wird. Dass man Kindern, die es sowieso schon schwer haben, dann auch noch bewusst Steine in den Weg legt, ist keinem Menschen in diesem Land zu vermitteln.
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Sie reden doch immer von Menschlichkeit. Wo ist sie denn, wenn man sie tatsächlich braucht? Schämen Sie sich eigentlich nicht dafür?
Halbherzige Politik ist fehl am Platz. Es braucht ein echtes Herz für Kinder. Handeln Sie bitte endlich mal konsequent! Haben Sie den Mut zu echten Reformen!
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Machen Sie nicht immer nur kleine Reförmchen! Delegieren Sie Verantwortung nicht immer an Dritte; denn Deutschland ist ein wundervolles Land, und es hat eine deutlich bessere Politik verdient.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin: Bettina Wiesmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor allen Dingen hat dieses wundervolle Land eine differenzierte Debatte verdient, die wir eigentlich über weite Strecken hier begonnen hatten.
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Diese würde ich jetzt gerne fortführen und Ihnen von der AfD etwas Aufmerksamkeit empfehlen.
Unser Antrag, von CDU/CSU und der SPD, nimmt auch Bezug – das wurde dankenswerterweise schon kurz erwähnt – auf die Kinderkommission des Bundestages, die unter meinem Vorsitz im Herbst nach entsprechender Befassung einstimmig – einstimmig! vielen Dank dafür – eine Stellungnahme zur Qualitätssicherung in Kindschaftsverfahren an Familiengerichten beschlossen hat. Danke an alle Beteiligten.
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Solche Verfahren, die oft hochstrittig und emotional geführt werden und besonders für Kinder und Jugendliche enorm belastend sein können, stellen höchste Anforderungen an die Qualifikation und menschliche Befähigung der beteiligten Professionen. Genau deshalb haben wir uns mit den wichtigsten Berufsgruppen ausführlich beschäftigt, die an diesen Verfahren mitwirken – mit Verfahrensbeiständen, mit psychologischen Sachverständigen und auch mit den Richtern selbst.
Ich habe außerdem mit 15 Kindern und Jugendlichen über ihre Erfahrungen bei und mit Familiengerichten sprechen können. Sie sagten – ich fasse es ein wenig zusammen –, man höre ihnen nicht zu, man verdrehe ihnen das Wort im Mund, man schicke sie ständig in ein anderes Heim oder zu anderen Pflegefamilien, man trenne sie ohne Begründung von ihren Geschwistern, man lasse sie nicht nach Hause und vieles mehr. Vor allem beklagten sie – und das ist mir besonders wichtig –, dass man ihnen nicht erkläre, was geschieht, und dass sie keine Chance bekämen, Fragen zu stellen.
Jetzt zum Allgemeineren: Kinder oder Jugendliche als Subjekt und Objekt familiärer Konflikte sind ohnehin in einer nur schwer selbst zu erfassenden Situation, und sie bekommen offenbar mitunter den Eindruck, sie würden für etwas, das sie nicht zu verantworten haben, aber auch nicht einordnen können, noch bestraft. Geholfen wird ihnen, wenn es so läuft, sicherlich nicht immer. Und Vertrauen in den Rechtsstaat, dem diese jungen Menschen in der Regel bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal begegnen, entsteht ganz sicher nicht.
Nun wissen wir aber – das zu sagen, ist mir auch sehr wichtig –, dass die meisten beteiligten Jugendamtsmitarbeiter, die meisten Richter, die meisten Verfahrensbeistände und auch Gutachter in bester Absicht und in der Regel tatsächlich zum Wohle der Kinder und Familien handeln.
Dennoch gibt es wichtige Hinweise auf strukturelle Mängel, und ich will einige nennen: Erstens. Weder das Familienrecht noch die psychologischen Aspekte bei der Befragung von hochemotionalisierten Familien oder gar kleinen Kindern, die darauf nämlich einen Anspruch haben, gehören zum Pflichtausbildungsstoff der betroffenen Juristen. Trotzdem kann ein Richter mit nur einem einzigen Jahr Berufserfahrung zum Familienrichter bestellt werden.
Zweitens. Den psychologischen Sachverständigen fehlt der juristische Sachverstand. Noch 2018 gab es keine einzige Professur für Rechtspsychologie in Deutschland. Inzwischen gibt es zwei oder drei; das ist aber noch zu wenig.
Drittens. Es fehlt an verpflichtenden Qualitätsstandards für Verfahrensbeistände. Auch wahren diese oft nicht die vorgeschriebene strikte Neutralität. Kinder werden an der Auswahl ihres Verfahrensbeistands nicht beteiligt.
Und viertens. Die Anhörungsrechte von Kindern, die bestehen, werden teilweise ignoriert, oder die Kinder werden unter Umständen gehört, die eine einfühlsame Befragung behindern. Viele Kinder kennen diese Rechte auch gar nicht.
Um diese Befunde zu erhärten, ist uns die vorgeschlagene umfassende wissenschaftliche Untersuchung, die wir hier noch durch die Schaffung einer Anlaufstelle für Betroffene im Rahmen des begonnenen breiten Beteiligungsprozesses ergänzen, so besonders wichtig. Darüber hinaus enthält die Stellungnahme der Kinderkommission bereits eine Reihe sehr handfester Ansatzpunkte für Verbesserungen, die wir auch verfolgen wollen.
Sie fordert Bund und Länder unter anderem auf, zusammen mit Kindern und Jugendlichen einen Ratgeber für Kinder in familienrechtlichen Verfahren sowie eine Handreichung für Kindesanhörungen zu erarbeiten, die Eingangsvoraussetzungen für Familienrichter anzuheben und eine Fortbildungspflicht für Richter einzuführen, die Aus- und Fortbildungsstrukturen für die Akteure am Familiengericht zu stärken, die Interessenvertretung zum Beispiel von Kindern in der Obhut der Jugendhilfe oder von Herkunftseltern von Kindern, die fremduntergebracht sind, zu fördern, Möglichkeiten zu Beschwerde und Beratung von Kindern, Herkunftseltern und Pflegeeltern zu schaffen, zum Beispiel auch durch unabhängige Ombudsstellen, und schließlich Lehre und Forschung im Familienrecht und in der Rechtspsychologie auszubauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Stellungnahme der KiKo berührt nur einen, aber einen sehr wichtigen Aspekt der von uns geforderten Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Und, ja, sie betrifft auch die Zuständigkeit der Länder; aber wir sollten dabei immer bedenken: Es hilft niemandem, weder den Eltern noch den Kindern, wenn die Verantwortung hin und her geschoben wird.
Der hier vorgeschlagene partizipative Ansatz wird allen helfen: den jungen Menschen, die Gehör und mehr Rücksicht finden, den Richtern und Verfahrensbeiständen, die mehr Sicherheit gewinnen, den Gutachtern, die zielgenauer arbeiten können, den Angehörigen, die besser begründete Entscheidungen leichter akzeptieren können, und dem Rechtsstaat, der auf das Vertrauen der gerade heranwachsenden künftigen Staatsbürger elementar angewiesen ist.
Frau Kollegin, denken Sie an – –
Ich komme zu meinem allerletzten Satz. – Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Ihre Anträge sind sicherlich wohlgemeint, und ich freue mich weiterhin über die Übereinstimmung in vielen Dingen; aber, liebe Linke, wir brauchen weder eine Enquete-Kommission, die Jahre benötigt, und auch keine Generalüberholung unseres differenzierten und leistungsfähigen Systems zur Familienunterstützung durch die Hintertür. Wir brauchen ein systematisches Vorgehen, liebe Grüne, das die Ermittlung des konkreten Reformbedarfs vor die Verkündung der Lösungen stellt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Wiesmann. – Nächster Redner: Matthias Seestern-Pauly für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Sehr geehrte Frau Parlamentarische Staatssekretärin! Zu Anfang möchte ich einen Satz an die Kollegen der AfD richten. Ich habe Ihnen, Herr Sichert, sehr aufmerksam gelauscht, und ich finde es beeindruckend, welches Bild Sie vom Parlament haben. Man kann der Union und der SPD ja vieles vorwerfen.
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Man kann unterschiedlicher Meinung über die Qualität von Anträgen sein. Es ist aber völlig legitim, dass ein eigener Antrag aus einer dieser Fraktionen vorgebracht wird. Wir sind als Parlament kein Abnickverein der Regierung. Deswegen ist es absolut legitim.
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Darüber hinaus nun zur Sache: Wir als Freie Demokraten vertreten seit jeher die Auffassung, dass verschiedene Blickwinkel, verschiedene Perspektiven hilfreich und wichtig bei der Problemlösung sind. Dies gilt insbesondere für einen derart komplexen und sensiblen Bereich wie den der Kinder- und Jugendhilfe. Ein Jugendamtsmitarbeiter hat natürlich einen anderen Blickwinkel auf derzeitige Probleme als beispielsweise eine Familienrichterin. Eine Ärztin hat andere Fragen und Erwartungen als ein Lehrer. Jeder bringt sein eigenes Wissen ein, jeder hat seine eigene Sicht. Genau diese Vielfalt der Betrachtung ist auch wichtig; denn nur so kommen wir gemeinsam zu einer umfassenden Lösung. Das ist uns auch in der KiKo – wir haben es gerade gehört – gut gelungen.
Deswegen freut es uns auch, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, dass Sie unsere Sicht der Dinge teilen und dies auch seinen Niederschlag in dem Antrag findet. Sie schreiben in Ihrem Antrag richtigerweise, dass Sie alle Akteure miteinbeziehen wollen: Kinder und Eltern, Richter und Mediziner, Fachkräfte aus Bildung und Sozialarbeit.
Aber das, was Sie in Ihrem Antrag richtigerweise fordern, verpassen Sie hier im Parlament:
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Indem Sie diesen Antrag derart brachial durchs Parlament peitschen wollen, anstatt diesen durch die Beratung im Ausschuss zu verbessern, nehmen Sie Kindern und Jugendlichen Chancen.
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Sie haben gerade selbst gesagt: Man muss differenziert debattieren, man muss alles bedenken – das waren Zitate meiner Vorredner von der Union. Sie zeigen damit nämlich, dass Sie offensichtlich überhaupt gar kein Interesse daran haben, sinnvolle Ergänzungen in Ihren Antrag aufzunehmen.
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Diese Debatte wäre aber notwendig; denn wie mein Kollege Daniel Föst gerade in seiner Rede ausgeführt hat, gibt es durchaus Punkte bzw. Ergänzungen, die zu einem besseren Ergebnis und somit zu einem besseren Antrag im Interesse unserer Kinder und Jugendlichen führen würden. So könnten wir nämlich weiteres Stückwerk in der Kinder- und Jugendhilfe kurzfristig vermeiden.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, Sie verweigern sich jedoch der Debatte, anstatt sich ihr in üblicher Weise zu stellen. Sie verweigern Eltern, Kindern und Jugendlichen die Chance auf bessere Vorschläge, indem Sie keine anderen Sichtweisen zulassen. Sie verweigern all das ohne Not. Aber die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe hat es verdient, hier im Parlament angemessen diskutiert und beraten zu werden.
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Ein solches Vorgehen wie Ihres ist nicht angemessen. Es ist dem demokratischen Umgang untereinander nicht angemessen, und es ist diesem wichtigen Thema nicht angemessen.
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Zeigen Sie, dass dieses Parlament die Kinder- und Jugendhilfe ernst nimmt! Stimmen Sie für eine Überweisung des Antrags in die Ausschüsse und damit für eine lebendige Demokratie!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Seestern-Pauly. – Nächster Redner: Martin Patzelt für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste im Haus! Meine Redezeit ist gerade um eine Minute gekürzt worden, jetzt muss ich sehen, wie ich das hinkriege.
Das kriegen Sie hin.
Als mir 1990 im Land Sachsen-Anhalt die Verantwortung übertragen wurde, die öffentliche Erziehung in Sachsen-Anhalt zu verändern, war das ein glücklicher Moment, weil ein Vierteljahr vorher das neue KJHG im Osten eingeführt wurde. Im Westen wurde es erst zum 1. Januar 1991 eingeführt. Warum war ich so glücklich? Ich war verantwortlich dafür, die repressiv aufgestellten Kinderheime, Jugendwerkhöfe und Spezialheime mit dem gleichen Personal und den gleichen Leitungen in eine neue Erziehungsform mit einer neuen Sicht vom Menschen überzuleiten. Das war ein sehr herausfordernder Prozess. Was uns in der Zeit sehr geholfen hat, war, dass wir den Blick auf den Menschen verändert haben. Alle Fortbildungen, die ich organisiert habe, waren zunächst zum Menschenbild: Wer ist der Mensch, und was heißt Erziehung für diesen Menschen?
Da ziehe ich jetzt, um das etwas abzukürzen, Bilanz. Herr Müller, da muss ich Ihnen einfach widersprechen, ich habe mir die Zahlen genau angesehen: Die Hilfen zur Erziehung sind in den letzten zehn Jahren um 100 Prozent gestiegen.
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Die Zahl der Inobhutnahmen ist um 120 Prozent gestiegen. Ich sage das nicht, weil das mehr Geld kostet. Das ist gar nicht der Punkt. Das Geld wurde ja immer da ausgegeben, wo es nötig war. Ich sage das, weil wir uns die Fragen stellen müssen: Wie kommt es denn eigentlich zu diesem Zuwachs? Müssen wir nicht die Frage nach der Kompetenz unserer Erziehungssysteme, unserer öffentlichen Erziehung stellen, wenn zum Beispiel junge Volljährige sehr lange weiter in Obhut verbleiben, obwohl sie schon lange Hilfen bekommen haben? Und müssen wir nicht fragen: Liegt es an der Kompetenz und den Erziehungsmöglichkeiten der Eltern? Diese Fragen sind in der Diskussion überhaupt noch nicht aufgetaucht.
Ich habe gestern eine Studie der Bertelsmann-Stiftung gesehen, in der 8- bis 14-jährige Kinder repräsentativ befragt wurden. 50 Prozent sagten, sie hätten Angst vor Armut. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme aus einer armen Familie. Ich habe meine Eltern nie klagen hören, dass wir arm sind. Die haben mit spitzem Bleistift gerechnet, und die haben uns als Kinder an den Aufgaben beteiligt, die wir in der Familie hatten.
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Die haben uns Sicherheit gegeben. Das ganze Diskutieren um die Armut! Jetzt kommt die Zahl: 96 Prozent dieser Kinder, die befragt wurden, haben ein eigenes Zimmer, haben einen eigenen Computer, haben eine eigene Arbeitsecke. 96 Prozent haben keinen Grund, sich vor Armut zu fürchten, aber sie fürchten sich, weil wir ständig schreien und darüber diskutieren, dass alle oder so viele Kinder in Deutschland so arm seien.
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Hier stellt sich schon die Frage: Wie gehen wir eigentlich mit unseren Heranwachsenden um? Geben wir ihnen Schutz, Geborgenheit und Zutrauen?
Jetzt nenne ich noch eine Zahl aus dieser Befragung: Jedes dritte Kind hat Angst vor Gewalt, vor Mobbing und vor Ausgrenzung, und das in einer Zeit, in der Kinder eigentlich behütet aufwachsen. Ich habe in einer der letzten „Zeit“-Ausgaben mit großem Interesse die Lebensgeschichte des Jungen Josh gelesen, der mit 17 Jahren an einer Überdosis Drogen gestorben ist. Das erging im Jahr 2017 1 272 jungen Menschen ebenso: Sie sind gestorben. Dieser Josh ist ein Beispiel dafür: aufgewachsen in einem sehr behüteten Elternhaus als Einzelkind, nachweislich von den Eltern gepflegt, betreut, seinen Schwierigkeiten nachgegangen. Aber er war stark introvertiert, er hat sich nur mit seinem Computer beschäftigt, er hatte wenig Kontakte nach außen.
Zwei verschiedene Formen der Reaktion auf Angst gibt es, sagen Psychologen: Regression und Aggression. Wir haben eine Fülle von heranwachsenden Kindern, die regressiv reagieren, die den Anforderungen des Lebens gar nicht mehr gewachsen sind, weil sie in Angst aufwachsen, eine Angst, die wir ihnen nicht nehmen können. In dieser Befragung wurde auch gefragt, was sich denn die Kinder im Alter von 8 bis 14 Jahren wünschen. Sie haben gesagt: Zuwendung, Beteiligung, Zeit, Aufmerksamkeit und Sicherheit. Das sind Kategorien, die wir ihnen als Gesetzgeber nur bedingt zur Verfügung stellen können. Wir müssen eine große Auseinandersetzung mit allen führen, die an der Erziehung beteiligt sind, insbesondere mit den Eltern. Erziehung ohne Eltern – selbst wenn die Eltern Schaden an ihren Kindern verursacht haben – ist nicht möglich.
Herr Patzelt.
Jetzt ist die Zeit um?
Ja, schon lange.
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Nehmen Sie das einfach mit auf den Weg, dass wir in dieser Triade Jugendamt, Erziehungshilfe, Eltern und Kinder den Dialog führen. Unser Antrag zeigt den richtigen Weg.
Danke.
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Vielen Dank, Martin Patzelt. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir die Debatte zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe mit so viel Empathie führen. Ich möchte abschließend das Augenmerk auf einen besonderen Aspekt lenken: Es geht um die Inobhutnahmen durch die Jugendämter. Das ist eine verfassungsrechtlich schwierige Konstellation, weil wir uns im Spannungsfeld zwischen der elterlichen Sorge und dem Schutz der Familie einerseits und den Grundrechten des Kindes auf der anderen Seite bewegen.
Der Dreh- und Angelpunkt für uns ist ausschließlich das Kindeswohl. Wir wissen, dass den Eltern das Wohl ihrer Kinder mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Einrichtung. Aber es gibt leider Fälle, in denen Eltern das Wohl ihrer Kinder nicht garantieren können oder wollen. Da muss der Staat eingreifen. Aber diesem Eingriff sind strenge und enge Grenzen gesetzt. Es geht bei Inobhutnahmen um die Wiederherstellung der Familie, um die Besserung der Beziehung zwischen Eltern und dem Kind.
Wir müssen die Einbeziehung der Perspektive von Betroffenen stärken. Gerade weil Inobhutnahmen zunächst einmal ohne richterlichen Vorbehalt geschehen und damit ohne präventive Rechtskontrolle, kommt allen eine besondere Verantwortung zu. Wir müssen uns also fragen: Wie können wir Jugendämter weiterentwickeln? Was können wir für die Qualifikation der Pflegefamilien tun? Aber wir müssen auch die Perspektiven der Eltern und Großeltern berücksichtigen. Auch sie haben ein Recht, zu wissen, wo sich ihr Kind befindet, ob es ihm gut geht, was mit seiner Erziehung passiert. Auch wenn große Defizite in der Erziehung vorliegen: Elternliebe erkaltet nicht. Auch diese Perspektive müssen wir im Reformprozess berücksichtigen, meine Damen und Herren.
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Und: Ja, wir brauchen auch einen stärkeren Schwerpunkt auf all den Fragen der Prävention, ein starkes Frühwarnsystem in den Sozialräumen. Wir brauchen gute Nachbarschaften und Menschen, die hinschauen und sich kümmern. Wir müssen wieder stärker eine Gesellschaft werden, die nicht nur auf sich, sondern auch auf die anderen sieht – im Interesse unserer Kinder. Auch das muss ein wichtiger Bestandteil des Reformprozesses werden.
Bei der Frage der Reform der Kinder- und Jugendhilfe muss auch über die Aufwendungen gesprochen werden. Auch diese Debatte darf am Ende des Tages nicht unter den Tisch fallen. Im Jahr 2017 haben Bund, Länder und Gemeinden 48,5 Milliarden Euro aufgewandt, viele Milliarden davon auch für die Kinderbetreuung, für Kindertageseinrichtungen und Kindertagesstätten. Ich meine, es gehört zu den großen sozialpolitischen Errungenschaften unseres Landes, dass wir im Interesse unserer Familien und Kinder diese Aufwendungen tätigen. Wir sollten sehr viel intensiver darüber sprechen, dass wir allein in diesem Bereich fast 50 Milliarden Euro für unsere Familien zur Verfügung stellen. Das sollte nicht ungehört bleiben. Aber wir müssen uns fragen, ob zu einer ehrlichen Politik nicht auch gehört, zu prüfen, ob wir das gleiche Ergebnis, dass wir die gleiche Stärkung von Familien mit einer Politik hinbekommen, die die Kostendynamik vielleicht etwas abfedert. Deshalb müssen wir stärker auf Prävention in den Sozialräumen setzen. Wir müssen darauf achten, dass wir frühzeitig erkennen, wenn etwas in der Familie falsch läuft. Dadurch können wir die Rolle des Kindes in den Familien stärken und Familien ertüchtigen, ihren Weg in der Gesellschaft zu suchen.
({1})
Das ist der entscheidende Dreh- und Angelpunkt bei der Reform der Kinder- und Jugendhilfe. Vor diesem Hintergrund bin ich allen Akteuren, die sich hier mit viel Herzblut einbringen, dankbar.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Ullrich. – Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/7904 mit dem Titel „Kinder- und Jugendhilfe weiterentwickeln, Perspektive der Betroffenen und Beteiligten mit einbeziehen“. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Abstimmung in der Sache, die Fraktionen Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen und FDP wünschen Überweisung, und zwar federführend an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und zur Mitberatung an den Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie an den Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen.
Nach ständiger Übung stimmen wir zuerst über die Überweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die von den Fraktionen Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen und FDP beantragte Überweisung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Überweisung ist abgelehnt. Zugestimmt haben die Fraktionen Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und AfD, dagegengestimmt haben die Fraktionen der CDU/CSU und SPD.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/7904. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von SPD und CDU/CSU, dagegengestimmt haben die Fraktionen der Linken und der AfD, enthalten haben sich FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Der Antrag ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 b sowie Zusatzpunkt 2. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/7909 und 19/7921 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Juli 2017 berichtete die Tageszeitung „taz“ über Genrietta Liakhovitskaia. Sie war damals 79 Jahre alt. Genrietta lebt von Sozialhilfe und hat für Lebensmittel nur 2 Euro pro Tag zur Verfügung. Als sogenannter jüdischer Kontingentflüchtling muss sie zweimal pro Jahr nach Russland reisen, um ihre dortige Rente persönlich abzuholen. Das kostet sie jedes Mal viel Geld. Der wachsende Antisemitismus in Sankt Petersburg und die Hoffnung auf Medikamente gegen ihre Asthmaerkrankung trieben sie 1996 nach Deutschland. Damals war sie 58 Jahre alt. Aber ihr wissenschaftlicher Abschluss wurde nicht anerkannt. Sie durfte nicht als Physikerin arbeiten, engagierte sich aber als Seniorenvertreterin in Berlin-Mitte. Und am meisten ärgert sie, dass ihre Arbeitsleistung in der Sowjetunion für die Rente nicht anerkannt wird.
({0})
Das nimmt ihr ihre Würde.
So wie ihr geht es vielen älteren und betagten Jüdinnen und Juden in Deutschland. Zwischen 1991 und 2006 waren 216 000 jüdische Zuwanderinnen und Zuwanderer und ihre Familienangehörigen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufgenommen worden. Mehr als die Hälfte von ihnen ist akademisch gebildet und hoch qualifiziert, und rund 115 000 von ihnen waren schon damals zwischen 40 und 79 Jahre alt. Der Runde Tisch der DDR, der Ministerrat der DDR und die Ministerpräsidentenkonferenz hatten die Jüdinnen und Juden explizit nach Deutschland eingeladen.
Meine Damen und Herren, angesichts der Shoah haben wir die historische Verantwortung, jüdisches Leben in Deutschland wieder möglich zu machen und zu fördern.
({1})
Die Tatsache, dass die jüdischen Kontingentflüchtlinge gekommen sind, ist ein großes Glück und eine Bereicherung für Deutschland.
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Aber es gibt ein großes Problem: Viele der Jüdinnen und Juden, die damals kamen, haben trotz hoher Qualifikation und vieler Arbeitsjahre so geringe Rentenansprüche, dass davon eine eigenständige Sicherung des Lebensunterhaltes im Alter nicht möglich ist und sie sehr oft ergänzende Grundsicherung im Alter beziehen müssen, also Sozialhilfe oder Rentner-Hartz‑IV.
Warum ist das so? Nun, es gibt mit den betroffenen Nachfolgestaaten der Sowjetunion keine Sozialversicherungsabkommen, so wie es sie mit anderen Staaten gibt, beispielsweise Albanien oder Serbien. Gäbe es sie, dann würden beispielsweise die Erwerbszeiten aus Russland auch für die Rente in Deutschland angerechnet. Das ist aber nicht der Fall. Die Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die mit den Jüdinnen und Juden oft im selben Betrieb, am selben Arbeitsplatz und an derselben Werkbank gearbeitet haben, erhalten hingegen Renten nach dem sogenannten Fremdrentengesetz. Hier werden die im Herkunftsland zurückgelegten Zeiten in deutsche Renten umgewandelt. Aber auch diese sogenannten Fremdrenten der Spätaussiedler wurden 1991 und 1996 insgesamt um 40 Prozent abgesenkt, und viele von ihnen leben deshalb in Altersarmut. Auch hier gibt es dringenden Handlungsbedarf.
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Aber dass die dem sogenannten deutschen Sprach- und Kulturkreis zugerechneten Zuwanderer aus Russland Renten nach dem Fremdrentenrecht erhalten und die jüdischen Zuwanderer nicht, ist und bleibt ungerecht.
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Meine Damen und Herren, die Eingliederung der vor 1989 aus der DDR Geflohenen, die Eingliederung der Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler und die Eingliederung der jüdischen Einwanderinnen und Einwanderer ist jeweils eine direkte Folge des Zweiten Weltkriegs und der Verantwortung für die deutsche Geschichte. Das sagt unser ehemalige Kollege Volker Beck, und ich finde: Er hat recht.
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Professor Micha Brumlik, Dr. Sergey Lagodinsky und er haben im April 2018 den Aufruf „Gerechtigkeit für jüdische Zuwanderer im Rentenrecht!“ gestartet. Diesen Aufruf haben über hundert Prominente aus ganz Deutschland unterzeichnet: unter anderem Henriette Reker, die Kölner Oberbürgermeisterin, Gerhart R. Baum, Bundesinnenminister a. D., der Schriftsteller Günter Wallraff, der Kabarettist Jürgen Becker, der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, der Schriftsteller Navid Kermani und Oded Horowitz, der Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein, um nur einige Wenige namentlich zu nennen.
Diesen Aufruf habe ich zum Anlass genommen, mit meinen geschätzten Kollegen Markus Kurth und Johannes Vogel eine gemeinsame parlamentarische Initiative auf den Weg zu bringen, um die Alterssicherung von Jüdinnen und Juden zu verbessern. Habt vielen Dank dafür!
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Ganz besonders danke ich den drei Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Petra Pau, Claudia Roth und Wolfgang Kubicki, dass sie unseren gemeinsamen Antrag unterstützen und ihn gestern auf Einladung der Bundespressekonferenz der Öffentlichkeit vorgestellt haben. Herzlichen Dank an alle drei!
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Meine Damen und Herren, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke sind sich in dieser Frage einig: Wir fordern die Bundesregierung gemeinsam auf, umgehend zu handeln, um die Alterssicherung der jüdischen Kontingentflüchtlinge schnellstmöglich zu verbessern oder dem Bundestag einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Wir haben unterschiedliche Präferenzen, welcher Weg beschritten werden möge.
Erstens. Linke und Grüne bevorzugen die Aufnahme in das Fremdrentenrecht und die Gleichstellung mit den Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern.
Zweitens. Die FDP setzt eher auf den im Koalitionsvertrag von Union und SPD bereits verabredeten Härtefallfonds, der die jüdischen Kontingentflüchtlinge und die Spätaussiedler explizit nennt.
Drittens. Alle drei Fraktionen fordern die Bundesregierung auf, sofort einen neuen Anlauf für Sozialversicherungsabkommen mit den betroffenen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu machen. Das wäre der Königsweg.
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Liebe Bundesregierung, liebe CDU/CSU und SPD, das sind drei Lösungswege. Beschreiten Sie einen davon oder einen vierten Weg, wenn er Ihnen geeigneter erscheint. Lösen Sie das Problem, egal wie.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Matthias W. Birkwald. – Bevor ich Herrn Straubinger das Wort erteile, möchte ich den schon zitierten Volker Beck hier bei uns im Haus herzlich begrüßen.
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Jetzt hat der Kollege Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute den Antrag von FDP, Linken und Bündnis 90/Die Grünen – eine seltsame politische Formation, die wir hier erleben müssen.
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– Ja, das ist völlig ungewohnt. – Aber es geht um ein Ziel, das wir auch verstehen. Die jüdischen Kontingentflüchtlinge sollen gemäß Ihrem Antrag hinsichtlich ihrer Alterssicherung in irgendeiner Form des Sozialrechts bessergestellt werden. Es ist auch großartig, wenn mit einem Antrag aufgezeigt wird, wie die Zielstellung erreicht werden kann, dies jedoch letztendlich zwischen den Fraktionen nicht mehr kompatibel ist, sondern nur noch mehrere Möglichkeiten aufgeworfen werden.
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Herr Kollege Birkwald hat gerade dargestellt, dass Linke und Grüne eine Fremdrentenrechtspräferenz haben und die FDP eine mögliche Fondslösung anstrebt.
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Von daher zeigt sich: Wir haben möglicherweise ein gleiches Ziel, aber gleichzeitig die Schwierigkeit, uns für die am besten geeigneten Maßnahmen zu entscheiden.
Ich möchte darlegen, dass man anhand des Antrags sieht, dass das Thema sehr komplex ist und nicht nur einseitig von den Betroffenen her gesehen werden kann; denn hier ist die Gesamtheit aller in der Rentenversicherung Versicherten sowie aller, die einer sozialen Unterstützung bedürfen, mit zu betrachten. Dazu gehören auch viele weitere Gruppierungen, die möglicherweise betroffen sind. Das zeigt sehr deutlich, wie schwierig die Aufgabe des Findens einer möglichen Lösung ist.
Wenn es um das Rentenrecht geht, muss man den Grundgesetzartikel 3 besonders betrachten. Dort heißt es: Wesentlich Gleiches ist gleich zu behandeln,
({3})
und wesentlich Ungleiches ist ungleich zu behandeln. – So haben wir im Koalitionsvertrag niedergelegt – das steht auch hier im Antrag –, bei schwierigen Fällen in der Grundsicherung im Rentenüberleitungsprozess eine Unterstützung durch eine Fondslösung zu prüfen.
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Das ist das, was wir in der Koalition vereinbart haben.
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Warum haben wir dies so vereinbart? Aber zuerst möchte ich darlegen, dass Deutschland in einer großartigen humanitären Leistung und humanitären Geste 215 000 Personen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, aber auch aus Russland aufgenommen hat,
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zu Recht aufgenommen hat, weil sie in ihren Herkunftsländern entweder Diskriminierungen ausgesetzt waren oder Antisemitismus, der in diesen Ländern herrscht, erleiden mussten. Dem haben wir uns in unserer Verantwortung vor der Geschichte und in unserer Verantwortung vor der Shoah auch gestellt. Daher haben wir diese Personen zu Recht aufgenommen. Das zeigt sehr deutlich, dass wir ein humanitärer Staat sind und uns einer Lösung der damit verbundenen Probleme nicht verschließen.
Das gilt aber auch für andere Personen. Das gilt für syrische Kriegsflüchtlinge genauso wie für ehemalige Bootsflüchtlinge aus Vietnam. Das gilt genauso für ehemalige Botschaftsflüchtlinge aus Albanien, die ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Humanität in Deutschland Aufnahme gefunden haben. Das ist meines Erachtens schon ein sehr entscheidendes Moment, das in der Diskussion auch betrachtet werden muss.
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Jetzt wird von den Antragstellern angeführt, dass das Angewiesen-Sein auf die Grundsicherung entwürdigend und den Menschen vor allen Dingen nicht zumutbar sei. Ich kann mich noch daran erinnern, wie die Grundsicherung unter Rot-Grün eingeführt wurde. Dort hieß es: Wir kehren ab von der Sozialhilfe, um im Wesentlichen mit ein bisschen Unterstützung den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Mit der Grundsicherung sollte Teilhabe an einem menschenwürdigen Leben in Deutschland erreicht werden, zwar nicht üppig, aber menschenwürdig. – Das ist meines Erachtens der entscheidende Gesichtspunkt. Daher soll man diese Grundsicherungsleistung, die mittlerweile 1 Million Menschen aufgrund des Alters oder aufgrund der Erwerbsunfähigkeit in Anspruch nehmen, nicht so herabwürdigen. Das ist eine große soziale Leistung für die Menschen, die wir hier leisten.
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Dann der Vorschlag, das Fremdrentengesetz hier mit anzuwenden. Es ist bezeichnend, dass der Kollege Birkwald zwar Präferenz dafür gezeigt, aber dann trotzdem aufgezeigt hat, dass er dies ob der Kürzung der Anerkennung der Arbeitsleistungen im Herkunftsland auf 60 Prozent, die wir im Fremdrentengesetz vorgenommen haben, für nicht ausreichend hält. Ich frage mich schon, was Ihr Vorschlag soll. Es ist natürlich richtig, dass Leistungen nach dem Fremdrentengesetz mittlerweile zum Teil auch über Grundsicherungsleistungen aufgestockt werden müssen, weil in einzelnen Bereichen die Rente nicht reicht, insbesondere wenn man in München, Düsseldorf oder Hamburg wohnt. Auch das zeigt die Unvollkommenheit dieser Lösung.
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Es ist ferner festzustellen, dass das Fremdrentenrecht für deutsche Volkszugehörige die Grundlage ist, die infolge der Nachkriegssituation in Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion Diskriminierungen ausgesetzt waren und zur Ausreise genötigt wurden oder ausreisen mussten. Das ist die Anerkenntnis für die Deutschen, das steht auch hier im Gesetz. Es hat jeder, der zu uns kommt, die Möglichkeit, prüfen zu lassen, ob er dem deutschen Fremdrentenrecht unterliegt. Das ist jedem möglich. Für jüdische Zuwanderer gilt zusätzlich: Wenn sie einer NS-Verfolgung ausgesetzt waren, dann gibt es zusätzliche Entschädigungsleistungen, die nicht auf die Grundsicherung angerechnet werden. Also, wir haben hier entsprechende Instrumente. Gleichwohl werden wir den vorliegenden Antrag in der parlamentarischen Beratung einer Prüfung unterziehen und bewerten.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Matthias Birkwald, Die Linke, das Wort.
Ich habe zwar eben schon geredet, aber von Herrn Kollegen Straubinger kam eben so viel Kritik zum Thema Fremdrentenrecht, dass ich darauf hinweisen muss, dass es am vergangenen Freitag eine Entschließung des Bundesrates zur Neubewertung der rentenrechtlichen Vorgaben für Spätaussiedler gegeben hat. Unter Punkt 4 steht:
In die Prüfung einzubeziehen wären Möglichkeiten der Verbesserung der rentenrechtlichen Situation von jüdischen Zugewanderten aus Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion, einschließlich einer Gleichstellung mit Spätaussiedlern im Fremdrentengesetz.
Warum habe ich mich gemeldet? Herr Kollege Straubinger, dieser Satz ist auf Initiative Bayerns und der CSU in diesen Entschließungsantrag aufgenommen worden.
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Ich würde Sie herzlich bitten, sich zunächst mit Ihren Kollegen aus dem Land Bayern zu verständigen. Die haben es anscheinend verstanden.
Herzlichen Dank.
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Kollege Straubinger, wollen Sie darauf erwidern? – Das ist nicht der Fall.
Dann spricht als Nächstes die Kollegin Ulrike Schielke-Ziesing für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Bürger! Der uns heute vorliegende Antrag der drei Fraktionen ist ungewöhnlich – ungewöhnlich wegen seiner Unbestimmtheit. Grüne, Linke und FDP haben sich auf eine Beschreibung des Istzustandes geeinigt. Eine weitere Einigung war anscheinend nicht möglich; denn es werden der Bundesregierung mehrere Handlungsalternativen aufgezeigt. So wie ich der „taz“ entnehmen konnte, möchte die FDP eine Fondslösung für Härtefälle, die Linken eine Änderung im Fremdrentengesetz, und die Grünen wünschen den Abschluss von Sozialversicherungsabkommen.
Im Koalitionsvertrag heißt es, dass auch für die Gruppe der jüdischen Kontingentflüchtlinge ein Ausgleich durch eine Fondslösung geschaffen werden soll. Aber wann die Koalition hier tätig wird, das steht in den Sternen. Daher ist es gut, dass das Problem erkannt und angegangen wird; denn es ist dringend nötig, hier schnell zu handeln.
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Im Zeitraum von 1991 bis 2004 sind etwa 210 000 Kontingentflüchtlinge inklusive ihrer Familienangehörigen nach Deutschland eingewandert. Gerade die älteren Zuwanderer konnten in Deutschland zumeist nur geringe eigene Rentenanwartschaften aufbauen. Jüdische Kontingentflüchtlinge werden derzeit rentenrechtlich schlechter behandelt als Spätaussiedler. Das wirkt sich dann natürlich auch auf die Höhe ihrer Rente aus.
Da es keine Sozialversicherungsabkommen zwischen Deutschland, Russland und den meisten anderen postsowjetischen Staaten gibt, werden ihre Rentenansprüche, die sie vor der Einwanderung nach Deutschland erworben haben, nicht anerkannt. Dies führt in vielen Fällen zu so niedrigen Renten, dass die Betroffenen auf die Grundsicherung im Alter angewiesen sind. Dies bedeutet eine rentenrechtliche Schlechterstellung gegenüber der Gruppe der Spätaussiedler, deren Sozialversicherungsansprüche aus den Herkunftsstaaten bei der Rentenberechnung in Deutschland berücksichtigt werden.
Eine naheliegende Lösung hinsichtlich einer Besserstellung wäre eine Aufnahme in das Fremdrentengesetz, so wie es auch mit den Spätaussiedlern gehandhabt wurde. Damit würden die sich im Rentenalter befindenden Kontingentflüchtlinge endlich nicht mehr schlechter als die Spätaussiedler gestellt. Die jüngere Generation der jüdischen Flüchtlinge hat sich mehrheitlich beruflich wie gesellschaftlich gut integriert und wird nicht auf das Fremdrentengesetz angewiesen sein.
Laut der „Jüdischen Allgemeinen“ verfügen rund 15 000 jüdische Kontingentflüchtlinge über ein zu geringes Einkommen, um für ihren Lebensunterhalt aufkommen zu können. Hier ist die Bundesregierung aufgerufen, zu handeln. Die Frage ist, warum bisher nichts getan wurde.
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Seit 2017 hat die Koalition beispielsweise allein in zwei Titeln des Kapitels 1101 – hier geht es um Leistungen nach SGB II – im Haushaltsplan über 560 Millionen Euro an Ausgaberesten angehäuft. Die Mittel sind also vorhanden; allein es fehlt, wie so oft, der klare Wille. Wichtig ist dabei natürlich, dass die Kosten für die Gleichstellung mit den Spätaussiedlern aus Steuermitteln zu finanzieren sind, nicht aus SV-Beiträgen, da es sich hier um versicherungsfremde Leistungen handelt.
Meine Damen und Herren von den Grünen und der FDP, Sie waren ja schon einmal auf Bundesebene in Regierungskoalitionen. Warum haben Sie sich nicht schon damals um die jüdischen Kontingentflüchtlinge gekümmert? Warum fällt Ihnen erst heute diese Problematik auf? Die FDP möchte einen Härtefallfonds. Warum haben Sie damals keinen geschaffen?
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Die Grünen wollen den Abschluss von Sozialversicherungsabkommen. Warum sind Sie nicht zu Ihrer Zeit tätig geworden? Ihnen und der jetzigen Regierungskoalition ist vorzuwerfen, dass Sie in den letzten 20 Jahren bei diesem Thema geschlafen haben.
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Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss. Eventuell können sich die drei Antragsteller bis dahin ja auf eine gemeinsame Lösung einigen.
Vielen Dank.
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Ich erteile das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Kerstin Griese.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir sprechen hier über ein Thema, das auch mir sehr am Herzen liegt: die Alterssicherung der Menschen, die als jüdische Bürgerinnen und Bürger aus der Sowjetunion zugewandert sind. Ich erinnere mich gut: Als ich damals in Düsseldorf als Historikerin in der Mahn- und Gedenkstätte tätig und eng mit der jüdischen Gemeinde dort verbunden war – ich bin es heute noch –, kamen ganz neue Herausforderungen auf diese Gemeinde zu, als so viele russische Zuwanderer kamen. Die Gemeinde hat sich rasant vergrößert. Ein Blick in die Geschichte zeigt die Dimension: Die jüdische Gemeinde in Düsseldorf hatte vor 1933 etwa 5 500 Mitglieder. Die eine Hälfte konnte vor den Nationalsozialisten fliehen; fast die gesamte andere Hälfte wurde ermordet. Es waren später nur noch 57 jüdische Bürger, die nach 1945 eine neue Gemeinde gründeten.
Wir alle wissen, dass die Zuwanderung der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ab Beginn der 1990er-Jahre die jüdischen Gemeinden in Deutschland hat wieder aufblühen lassen. Alleine in Düsseldorf hat sich 1991 die Zahl der Mitglieder verfünffacht. Heute ist sie mit 7 500 Mitgliedern die drittgrößte Gemeinde in Deutschland. In meiner Heimatstadt Ratingen gibt es heute den Jüdischen Kulturverein „Schalom“, der fast ausschließlich russischstämmige Mitglieder hat. Übrigens hat mich bisher niemand von ihnen auf das Problem Alterssicherung angesprochen.
Fakt ist: Die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion haben Deutschland mit ihrer Zuwanderungsentscheidung wieder eine Chance auf ein reiches religiöses und kulturelles jüdisches Leben gegeben, und dafür sind wir dankbar.
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Sie sind nach Deutschland gekommen in einer Situation verstärkter antijüdischer Angriffe in der sich auflösenden Sowjetunion. Einige Dissidenten waren jüdische Intellektuelle. Viele Juden hatten im Pass als Nationalität den Eintrag „Hebräer“. Die weitaus meisten haben die Sowjetunion in Richtung Israel oder USA verlassen. Etwa 220 000 kamen ab 1990 als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Etwa 85 000 von ihnen wurden Mitglieder der jüdischen Gemeinden.
Die jüdischen Gemeinden in Deutschland haben eine hervorragende Integrationsarbeit geleistet. Sie haben ihnen bei der Suche nach Wohnungen, nach Jobs und nach Ausbildung geholfen; sie haben Sprach- und Religionskurse angeboten. Gerade die Kinder der Zugewanderten haben heute beruflich sehr gut Fuß gefasst. Bei dieser Integrationsleistung hat der deutsche Staat diese Gemeinden finanziell unterstützt. Das ist richtig und gut so. Auch das soll gesagt werden.
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Die Älteren, die nach Deutschland gekommen sind, haben aber keine Rentenzeiten hier zurücklegen können. Sie waren deshalb im Alter auf die Grundsicherung angewiesen und sind es auch noch heute. Ich will das ausdrücklich nicht schlechtreden; denn es ist eine gute und richtige Seite unseres Sozialstaates, dass jemand im Alter Grundsicherung bekommt, auch wenn er keine Rentenansprüche erwerben konnte.
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Eine auskömmliche Alterssicherung aufzubauen, ist für alle Menschen, schwierig, wenn sie erst später im Leben nach Deutschland gekommen sind.
Wir müssen bei dieser Debatte auch im Blick behalten, dass als Kontingentflüchtlinge auch die vietnamesischen Boatpeople 1985, die albanischen Botschaftsflüchtlinge 1990 und zuletzt die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge gekommen sind. Ich sage in aller Ernsthaftigkeit: Eine Gruppe besserzustellen – das auch noch mit dem meines Erachtens historisch nicht nachvollziehbaren Argument, sie seien alle deutschstämmig –, kann neue Ungerechtigkeiten schaffen. Das ist das Gefährliche an dieser Debatte. Wir dürfen und wollen es nicht zulassen, dass Gruppen gegeneinander ausgespielt werden.
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Ich kann nachvollziehen, dass Verbesserungen für jüdische Zugewanderte für notwendig gehalten werden. Wir haben schon in der letzten Wahlperiode ausführlich darüber diskutiert. Die zuständigen Berichterstatter haben sich mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland getroffen. Wir haben den Vorschlag, auf jüdische Kontingentflüchtlinge das Fremdrentengesetz anzuwenden, diskutiert und darüber, diese Gruppe den Spätaussiedlern gleichzustellen. Es ist immer wieder klar geworden, dass eine rentenrechtliche Lösung nicht der richtige Weg ist.
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Das Fremdrentengesetz ist eine absolute Ausnahme und sollte nicht verlängert oder erweitert werden. Deshalb bin ich irritiert, dass die Linkspartei, die dieses Gesetz sonst kritisiert, den vorgelegten Ansatz gut findet. Ich bin auch skeptisch, ob es gut ist, diese Forderung weiterhin in den Mittelpunkt zu stellen und damit immer wieder Erwartungen zu wecken, die man meines Erachtens nicht verantworten kann.
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In Ihrem vorliegenden Antrag werden verschiedene Ansätze genannt. Sie haben sich noch auf keinen geeinigt, der in Betracht gezogen werden soll. Das zeigt mir, dass auch Sie wissen, dass es keine einfachen Antworten gibt. Der Abschluss eines Sozialversicherungsabkommens wäre sicherlich die beste Lösung für die Probleme mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion; denn dann würden Rentenansprüche aus dem Ausland hierher übertragen. Innerhalb der Europäischen Union ist das ja so, sodass der Rentenexport, wie es heißt, mit Estland, Lettland und Litauen problemlos klappt.
Wir haben zum Beispiel bei den Nicht-EU-Staaten ein Sozialversicherungsabkommen mit Moldau. Wir haben auch mit der Ukraine schon ein Abkommen unterzeichnet. Mit Russland konnte trotz mehrerer Verhandlungsrunden – vieler Verhandlungsrunden in den letzten Jahren – kein Sozialversicherungsabkommen geschlossen werden. Allerdings erlaubt auch das russische Recht unter bestimmten Voraussetzungen eine Rentenzahlung an Personen im Ausland. Nach Erkenntnissen des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages werden 97 000 russische Renten nach Deutschland gezahlt.
Wie Sie sehen, ist die Bundesregierung sehr aktiv und bestrebt, Sozialversicherungsabkommen zu schließen. Dazu gehören natürlich immer zwei Seiten, und mit Russland ist das leider noch nicht gelungen, was auch an der schwierigen außenpolitischen Lage liegt.
Die dritte Möglichkeit, die Sie in Ihrem Antrag auch nennen, ist ein Härtefallfonds, den wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Ich will Ihnen ganz klar sagen: Wir arbeiten daran. Wir haben eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe errichtet, die sich mit der Umsetzung einer Fondslösung für Härtefälle zunächst in der Rentenüberleitung Ost/West beschäftigt. Dazu werden Gespräche zwischen dem Bund und den Ländern geführt. Der Abschluss wird zum Ende dieses Jahres angestrebt, und die Erkenntnisse werden auch in eine Lösung für die Gruppe der jüdischen Kontingentflüchtlinge einfließen.
Lassen Sie mich noch auf eines hinweisen: Selbstverständlich erhalten auch die jüdischen Kontingentflüchtlinge, wenn sie Holocaustüberlebende sind, Entschädigungszahlungen; auch das sollte nicht vergessen werden. Diese Leistungen werden nicht auf die Grundsicherung angerechnet und gelten für alle, die Überlebende des Holocaust sind.
Sie sehen: Die Bundesregierung kommt ihrer Verantwortung gerade bei einem so wichtigen Thema nach.
Ich kann die Antragsteller nur aufrufen, die Komplexität des Themas zu sehen und gemeinsam an einer guten Regelung zu arbeiten, aber nicht Gruppen gegeneinander auszuspielen, auch nicht Versprechen zu machen, die nicht erfüllbar sind und neue Ungerechtigkeiten hervorrufen würden. Denn auch die Folgen muss man bedenken: Wenn man das Fremdrentengesetz hier ausweiten würde, würde man neue Ungerechtigkeiten schaffen.
Uns liegt daran, dass alle Menschen im Alter sozial gut abgesichert sind. Uns liegt daran, dass Integration gelingt. Daran müssen und werden wir alle gemeinsam arbeiten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Der nächste Redner ist der Kollege Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Zusammenbruch der totalitären Sowjetunion Anfang der 1990er-Jahre war ein Geschenk. Er war ein Geschenk, da er die Befreiung Osteuropas bedeutete. Er hat die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands ermöglicht, und er war auch der Hintergrund, vor dem das möglich wurde, worüber wir heute reden,
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nämlich dass Anfang der 1990er-Jahre Jüdinnen und Juden in großer Zahl von Deutschland eingeladen wurden, Mitbürgerinnen und Mitbürger zu werden. Dass diese Einladung in so großer Zahl angenommen wurde, ist ein Geschenk, für das wir alle dankbar sein sollten.
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Die vielen jüdischen Gemeinden, die es in unserem Land Gott sei Dank wieder gibt, haben von dieser Einwanderung enorm profitiert. Dass es lebendiges jüdisches Leben in Deutschland – auch in so großer Zahl – wieder gibt, ist etwas, wofür wir alle angesichts der Shoah und der schrecklichen Verbrechen, die Deutsche in der Vergangenheit begangen haben, dankbar sein sollten.
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Daraus folgt dann aber auch Verantwortung. Das gilt gerade dieser Tage, wo neuer und alter Antisemitismus wachsen, wo Bedrohungen und, ganz konkret, tätliche Angriffe zunehmen. Das heißt für mich und für uns als Freie Demokraten dreierlei: erstens Härte des Rechtsstaats gegenüber den Tätern, zweitens unser aller Widerspruch im Alltag gegen Antisemitismus und drittens ein klares politisches Bekenntnis zum jüdischen Leben in Deutschland.
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Dazu können wir mit dem Thema, über das wir heute reden, zumindest einen kleinen Beitrag leisten. Denn in der Tat: Über 200 000 Jüdinnen und Juden sind seit Anfang der 1990er-Jahre zu uns nach Deutschland gekommen. Anders als bei anderen Staaten mit derart organisierter Einwanderung ist es eben wirklich ein Problem, dass es nicht, wie zum Beispiel mit der Türkei und anderen Ländern, ein Sozialversicherungsabkommen gibt und dass deswegen Beschäftigungszeiten in der ehemaligen Sowjetunion hier für die Rente nicht angerechnet werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn dann trotz langem Arbeitsleben häufig Grundsicherungsbezug die Regel ist – und das bei Menschen, die ganz gezielt, ganz besonders und ganz zu Recht auch in sehr hohem Alter nach Deutschland eingeladen wurden –, dann ist das ein Problem, das wir nach unserer Überzeugung angehen müssen.
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Deshalb legen wir drei Oppositionsfraktionen hier heute einen interfraktionellen Antrag vor. Es wurde schon gesagt: In der Tat, gerade in der Rentenpolitik könnten wir oft nicht weiter auseinanderliegen. – Das hier ist aber ein Thema der besonderen Art; denn für uns ist jüdisches Leben in Deutschland kein Thema des Parteienwettbewerbs, sondern der Staatsräson und deshalb ein besonderes Thema, das deshalb auch besonderer Maßnahmen bedarf.
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In der Tat sind unterschiedliche Lösungen denkbar. Ja, wir Freie Demokraten glauben auch, dass in Abwägung dieses schwierigen Themas die Fondslösung wahrscheinlich die beste Lösung ist. Lieber Kollege Max Straubinger, dass dagegen keine grundlegenden Bedenken bestehen können, zeigt der Koalitionsvertrag; denn schon da wird eine Fondslösung adressiert. Das heißt, möglich muss es sein, wenn bisher auch nur als Prüfauftrag.
Ich will für alle drei Antragsteller, glaube ich, sagen – das haben wir gestern auch bei der Vorstellung klar gesagt –: Wir alle sind bereit, auch einem Modell zuzustimmen, das wir möglicherweise nicht präferieren. Nur ein einziger Weg darf keine Option sein, nämlich weiteres Nichthandeln.
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Das Thema ist lange bekannt, in der Tat. Die Betroffenen sind teils hochbetagt. Es eilt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Bundesregierung, liebe Kerstin Griese, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wir drei Oppositionsfraktionen sagen Ihnen heute jede konstruktive Unterstützung bei dem Thema zu. Wir fordern Sie aber auch auf: Handeln Sie, und zwar bald!
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Das Wort hat für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Markus Kurth.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt zwei Möglichkeiten, wie man mit Anträgen und politischen Angeboten umgeht: Man kann sie rundheraus ablehnen oder aber, wenn einem bei einer offen ausgesprochenen Ablehnung nicht so wohl ist, Hinderungsgründe benennen und bürokratische Hemmnisse errichten. Dann kann man Komplexität beklagen und klagen, dass, wie in diesem Fall, die Antragsteller unterschiedliche Lösungswege aufzeigen. Es wird dann oft auch kritisiert, dass das so uneindeutig sei. Man kann letzten Endes sogar, was ich besonders geschichtsvergessen finde – ich führe gleich dazu aus –, Artikel 3 des Grundgesetzes bemühen, den Gleichheitsgrundsatz, um, wie in diesem Fall, die jüdischen Kontingentflüchtlinge unzulässigerweise mit vietnamesischen Boatpeople zu vergleichen.
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Das ist traurig und auch ein Stück weit beschämend, weil es nicht in Rechnung stellt, vor welchem historischen Hintergrund wir diese Debatte führen.
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Gerade der Blick auf den Gleichheitsgrundsatz in Artikel 3 Grundgesetz und der Vergleich der jüdischen Flüchtlinge aus der früheren Sowjetunion mit den deutschen Spätaussiedlern zeigt, dass es sich um sehr, sehr ähnliche Gruppen mit ähnlicher Herkunft handelt, wenn sie auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten nach Deutschland gekommen sind.
Der Publizist und Historiker Micha Brumlik hat sehr schön dargelegt, dass sowohl die Deutschen, die ab dem hohen Mittelalter in das damalige Zarenreich auswanderten, als auch die aschkenasischen Juden aus dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation kamen. Das heißt: Beide hatten dasselbe Herkunftsgebiet. Und: Die Jüdinnen und Juden, die im späten Mittelalter insbesondere die Städte am Rhein verließen, taten dies nicht freiwillig; das kann man sagen. Wir wissen von den Pogromen, die es dort gegeben hat.
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Insofern handelt es sich um Wanderungsgeschichten, die eng miteinander verwoben sind.
Das ist auch der Grund, warum diese beiden Gruppen nach dem Zweiten Weltkrieg, der Urkatastrophe des Nationalsozialismus und der Shoah nach Deutschland gingen oder auch von uns nach Deutschland eingeladen wurden. Das ist also sehr eng miteinander verwoben, sehr vergleichbar, und deswegen ist es gerade mit Bezug auf den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes sehr gerechtfertigt, beide Gruppen nach dem Fremdrentenrecht zu behandeln.
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Ich finde, dass uns diese historische Verantwortung immer präsent sein muss, und das war bei den drei Antragstellern, wenngleich mit unterschiedlichen Lösungsansätzen – Johannes Vogel hat das ausgeführt –, immer der Fall.
Auch andere europäische Länder zeigen dies. Jüdinnen und Juden sind beispielsweise im Zuge der Reconquista, wie es damals hieß, also der Rückeroberung der Iberischen Halbinsel, aus Städten wie Granada vertrieben worden. Sie wurden seinerzeit – Ende des 15. Jahrhunderts – vor die Wahl gestellt, ihren Glauben aufzugeben oder aber unter Zurücklassung all ihres Besitztums das Land zu verlassen.
Schon im Jahr 2015 haben Spanien und Portugal den Jüdinnen und Juden, die heute nachweisen können, dass ihre Vorfahren auf der Iberischen Halbinsel gelebt haben, das Recht auf Staatsangehörigkeit und auch rentenrechtliche Ansprüche aus den Herkunftsländern zugesprochen. Ich finde das außerordentlich vorbildlich.
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Wenn man diesen geschichtlichen Hintergrund betrachtet, wird einem sehr klar, dass ein Vergleich mit syrischen Kriegsflüchtlingen, albanischen Botschaftsflüchtlingen und vietnamesischen Boatpeople vollkommen unzulässig ist.
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Es wäre wirklich sehr schade und bitter, wenn sich der Verdacht aufdrängen würde – das tut er bei mir im Moment ein wenig –, dass diese anderen Kontingentflüchtlingsgruppen bloß herangezogen, instrumentalisiert werden, um hier ein Anliegen, das sogar im Koalitionsvertrag steht, auf die lange Bank zu schieben oder ganz wegzudrängen.
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In diesem Sinne bitte ich wirklich sehr darum, dass wir jetzt keine Scheindebatten führen, sondern ernsthaft überlegen, wie dieses Anliegen umgesetzt werden kann und wie wir dieser historischen Verantwortung gerecht werden können. Lassen Sie uns gemeinsam darüber reden.
Ende der letzten Legislaturperiode haben sich die vier demokratischen Fraktionen zusammen um die Frage der Auszahlung sogenannter Ghettorenten gekümmert. Das ist aus meiner Sicht eine gute Vorlage. Wir sollten einen runden Tisch aller demokratischen Fraktionen in dieser Sache bilden. Nicht irgendwelche Bund-Länder-Arbeitsgruppen, sondern wir hier im Deutschen Bundestag sollten uns alle gemeinsam über die Fraktionsgrenzen hinweg zusammensetzen und wirklich konstruktiv daran arbeiten.
Wir sehen ja auch, dass wir von der Gesellschaft unterstützt werden, zum Beispiel von der Initiative „Zedek Gerechtigkeit“. Ich denke, wir müssen hier Ernsthaftigkeit zeigen. Dieser Ernsthaftigkeit müssen wir in der gesamten politischen Debatte gerecht werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Kurth. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Jana Schimke, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt in Deutschland eine besondere historische Verantwortung, wenn es um jüdisches Leben hierzulande geht. Das ist unstrittig, und dem werden wir jedes Jahr mehrfach im Rahmen verschiedener Gedenkveranstaltungen gerecht. Das zieht sich durch das gesamte Bildungswesen in Deutschland, etwa in den Schulen, und das zeigt sich natürlich auch an der Ausgestaltung unseres Sozialrechts. Es ist heute schon mehrfach angeklungen: Wir haben für die Überlebenden des Holocausts verschiedene Regelungen geschaffen – auch im Rentenrecht. Ich denke, damit wird sehr deutlich, wie groß unsere historische Verantwortung ist und wie wir dieser gerecht werden.
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Die Debatte, die wir heute führen, ist aber nicht nur eine Debatte, in der es um historische Verantwortung geht, sondern sie ist vor allen Dingen eine Debatte, die mal wieder die Tücken, die Besonderheiten und das aufzeigt, was es letztendlich manchmal so schwierig und anspruchsvoll macht, unser Sozialrecht zu erklären.
Ich muss ganz ehrlich sagen: Das, was ich in dem Antrag der FDP, der Grünen und der Linken gelesen habe, waren im Grunde genommen nichts anderes als warme Worte. Auch Sie scheitern an der schwierigen rechtlichen Lage, die wir hier haben, wobei sie eigentlich gar nicht so schwierig ist; sie ist nämlich eigentlich sehr offensichtlich. Aber auch Sie, Herr Birkwald – und Sie kennen sich bestens aus –, sind nicht in der Lage gewesen, hier eine rechtlich und fachlich korrekte Antwort zu geben und einen entsprechenden Vorschlag zu machen. Ihr Antrag wird den Anforderungen fachlich und sachlich letztendlich nicht gerecht.
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Worum geht es? Es geht um das sogenannte Fremdrentengesetz, das nichts anderes als ein Kriegsfolgengesetz ist. Ziel war es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nach dem Bundesvertriebenengesetz anerkannten Personen eine Entschädigung zukommen zu lassen. Es ging um Menschen, die ihre Heimat verloren hatten, die eine Deutschstämmigkeit vorzuweisen hatten, die auch einem Vertreibungsdruck nach dem Zweiten Weltkrieg unterlegen waren und aus diesem Grund nach Deutschland gekommen waren und hier einen entsprechenden Anspruch hatten, über gewisse Rentenanwartschaften zu verfügen.
Die jüdischen Kontingentflüchtlinge, um die es hier heute geht, sind davon aber nicht erfasst. Ich kann nur darum bitten, die Dinge, die Themen und die Probleme nicht miteinander zu vermengen, sondern ganz genau zu schauen, welches Gesetz welchen Anspruch formuliert und an welche Zielgruppe es sich vor allen Dingen richtet. Der Antrag widerspricht dem Sinn und Zweck des Fremdrentengesetzes, und deswegen werden wir diesen Antrag hier heute ablehnen.
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Die sogenannten jüdischen Kontingentflüchtlinge hatten nach dem Zweiten Weltkrieg eben keinen Vertreibungsdruck. Ja, sie wurden diskriminiert, ohne Frage, es gab aber eben keinen Druck der Vertreibung nach Deutschland. Es gibt auch keine sogenannte Volkszugehörigkeit, wie sie im Gesetz festgeschrieben ist.
Ich möchte auch hier erwähnen – das finde ich einen sehr wichtigen Gedanken, auch wenn Sie das so kritisiert haben, Herr Kurth –: Natürlich ist das eine Gruppe, für die wir eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Kontingentflüchtlingen schaffen würden. Das kann man nicht einfach so wegwischen. Das muss man anerkennen, und man muss dann auch entsprechend handeln.
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Die historische Verantwortung, die wir gegenüber Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland haben, rechtfertigt eine Änderung des Fremdrentengesetzes, so wie Sie es sich wünschen, eben nicht – und schon gar nicht die Änderung der Intention des Fremdrentengesetzes. Ich frage mich, ehrlich gesagt, schon, welches Sozial- und auch Rechtsstaatsverständnis die Antragsteller haben, wenn sie uns hier solche Vorschläge unterbreiten.
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Ich möchte abschließend noch – ich will es mal so sagen – eine weitere Aussage tätigen, die Ihnen möglicherweise ganz und gar nicht gefällt.
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Es geht auch hier wieder einmal um die Grundsicherung in Deutschland. Ich frage mich immer: Warum ist es entwürdigend, Grundsicherung in Anspruch zu nehmen?
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Das ist etwas, wofür unsere Solidargemeinschaft aufkommt, um bedürftigen Menschen in Deutschland zu helfen. Was ist denn daran, bitte schön, so unwürdig?
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Ich bitte darum, dieses wichtige Instrument unseres Sozialstaats hier nicht immer schlechtzureden.
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Ich möchte Ihnen eines entgegnen, Herr Birkwald: Möglicherweise geht es Ihnen gar nicht um die heute hier besprochene Gruppe, sondern darum, das Instrument der Grundsicherung weiter in Misskredit zu bringen.
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In diesem Sinne: Lassen Sie uns sachlich bleiben und die richtigen Entscheidungen treffen.
Vielen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Pascal Kober.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Einwanderung von Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach Deutschland ist eine historische Entwicklung, über die wir uns freuen und für die wir sehr dankbar sind.
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Wir haben diese Menschen eingeladen, und sie sind gekommen, weil sie Vertrauen in unseren demokratischen Rechtsstaat und in unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung hatten.
Es ist Bestätigung, aber es ist vor allen Dingen Verpflichtung, dass wir alles dafür tun, dass alle Menschen in dieser Gesellschaft auch von dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung geprägt leben können, und dass wir alle Angriffe auf diese freiheitlich-demokratische Grundordnung entschieden verteidigen.
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Wir haben 200 000 Menschen gewonnen. Sie machten Deutschland zu ihrer Heimat, haben die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und beleben unsere jüdischen Gemeinden, die sie heute vielfach mitprägen und bereichern. Sie knüpfen so an eine reiche Tradition an, die Deutsche in der Vergangenheit einseitig und brutal zerstört hatten.
Naturgemäß konnten die älteren jüdischen Zuwanderer, die teilweise jahrzehntelang in Staaten der Sowjetunion gearbeitet haben, in vergleichsweise wenigen Jahren nicht so viele Rentenversicherungsansprüche erarbeiten, dass es für sie für eine Rente über Grundsicherungsniveau reicht. Auf die äußerst geringen Rentenzahlungen, die sie im kommunistischen System erworben haben, welches bekanntermaßen implodiert ist, haben sie wegen ihrer Auswanderung oftmals keinen Anspruch. Sozialversicherungsabkommen mit den betreffenden früheren Staaten der Sowjetunion gibt es nicht.
Mangels Anerkennung von Berufsausbildungen – ein Problem, mit dem wir uns noch immer plagen, wenn es um Zuwanderung geht – haben sie außerdem in Deutschland nicht unbedingt eine Arbeit finden können, die ihrem Qualifizierungsniveau entsprochen hat. Ihren Kindern und Enkelkindern geht es gut. Sie helfen heute ganz wesentlich mit, unseren Sozialstaat zu tragen. Aber was ist mit der Großelterngeneration? Hier sollte es unser aller Interesse sein, diesen Menschen – für deren Entscheidung, zu uns zu kommen, und das Vertrauen, das sie in uns gesetzt haben, wir dankbar sind – entgegenzukommen.
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Für die Art der Umsetzung gibt es verschiedene Wege; es gibt nicht nur einen Weg. Es gibt die Lösung im Fremdrentengesetz, aber es gibt auch eine Fondslösung oder die Möglichkeit, Sozialversicherungsabkommen mit den Nachfolgestaaten zu schließen. Es gibt auch die Möglichkeit – das eint uns als Antragsteller –, irgendeine andere Lösung zu finden,
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liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition; auch der würden wir zustimmen. Aber machen Sie sich endlich auf den Weg, eine Lösung zu formulieren! Die Zeit drängt. Die Menschen, um die es hier geht, haben nicht mehr unendlich Zeit, zu warten. Liebe Koalitionäre, liebe Bundesregierung, werfen Sie Ihr Herz über die Hürde! Machen Sie was in dieser Frage! Es geht hier um ganz konkrete Menschen.
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Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Ralf Kapschack.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Eines ist klar: Ohne den Holocaust würden wir heute vermutlich nicht über dieses Thema reden. Aus diesem unfassbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wegen der Ermordung von mehreren Millionen Juden, ergibt sich eine besondere historische Verantwortung Deutschlands gegenüber Menschen jüdischen Glaubens. Auch deshalb ist jede Relativierung und jede Verharmlosung dieser Gräueltaten eine Verhöhnung der Opfer und ihrer Angehörigen.
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Ich sage das konkret an die AfD: Es gibt keine Entschuldigung dafür, diese Zeit als einen Vogelschiss der Geschichte zu bezeichnen oder die Erinnerung daran als Schande.
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Weil die Nazis jüdisches Leben in unserem Land weitgehend ausgelöscht hatten, gab es den Wunsch, dieses Leben, diese Kultur und die jüdischen Gemeinden in Deutschland wieder zu stärken. Das war damals, Anfang der 1990er-Jahre, der Grundgedanke, der zu der Regelung für jüdische Kontingentflüchtlinge führte.
Viele Frauen und Männer jüdischen Glaubens, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion, sind daraufhin nach Deutschland gekommen; wir haben es gehört: rund 200 000. Sie haben das jüdische Leben in Deutschland wiederbelebt und sind in ihren Gemeinden angekommen. Das begrüßen wir sehr. Viele von ihnen haben seitdem aber nur geringe Rentenansprüche erworben. Viele kamen damals in einem Alter, wo das auch schwierig war. Dass eine Reihe von ihnen jetzt in der Grundsicherung ist, empfinden sie als ungerecht; das kann ich gut verstehen. Es ist ein schwieriges Thema. Es geht um alte Menschen, die Hilfe erwarten. Allerdings – das sage ich auch ganz offen – gibt es nach meiner Einschätzung keine praktikable Lösung, die alle Probleme löst.
({2})
– Markus Kurth, hör doch mal zu! – Der Antrag von FDP, Linken und Grünen ist grundsätzlich in Ordnung. Ich warne aber davor, Erwartungen zu wecken, die nur schwer erfüllt werden können.
({3})
Einen Vergleich mit den Spätaussiedlern zum Beispiel, wie er aktuell von manchen angestellt wird, halte ich nicht für zielführend. Wir haben es vorhin gehört: Spätaussiedler werden nach dem sogenannten Fremdrentengesetz beurteilt. Dieses Gesetz ist eine absolute Ausnahme, und die Kriterien des Fremdrentengesetzes treffen – bei allem Verständnis – auf jüdische Zuwanderer kaum zu. Ausschließlich jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion in das Fremdrentengesetz einzubeziehen, wäre außerdem eine Ungleichbehandlung im Vergleich zu anderen Flüchtlingen und Zuwanderern. Es geht nicht darum, eine Gruppe gegen eine andere auszuspielen, sondern das ist schlicht und ergreifend Fakt. Im Übrigen ist fraglich, ob eine Regelung über das Fremdrentengesetz in allen Fällen dazu führen würde, die Grundsicherung zu vermeiden. Es mag banal klingen, aber für jüdische Kontingentflüchtlinge gilt ebenso wie für alle anderen Personen, dass eine gesetzliche Rente grundsätzlich nur dann gezahlt wird, wenn entsprechende Beiträge geleistet wurden.
Herr Kollege Kapschack, der Kollege Kurth würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Bitte.
Danke, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Mir fällt durchaus auf, dass die letzten Rednerinnen und Redner der Koalition sich immer über das Fremdrentenrecht ausgelassen haben und es nutzen, um ihre Bedenken aufzubauen. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass in dem gemeinsamen Antrag von Freien Demokraten, der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ausdrücklich mehrere Lösungswege genannt sind, zu denen im Übrigen auch – Herr Vogel hat das ja sehr deutlich gemacht – die im Koalitionsvertrag befindliche Härtefallfondslösung gehört!
({0})
Selbstverständlich schätze ich das Argument – das ist ja auch wichtig –, dass man nicht alle Probleme lösen kann, wie Sie, Herr Kapschack, gesagt haben. Aber wir, die wir das Fremdrentengesetz bevorzugen, nehmen auch gerne die zweitbeste Lösung. Hauptsache, es kommt zu einer Lösung.
Danke.
({1})
Ich glaube, meine Antwort kommt im weiteren Vortrag. Ich werde nämlich genau auf diese Punkte eingehen.
({0})
Insofern wäre es lohnend gewesen, Sie hätten einfach weiter zugehört.
Grundsätzlich gilt auch für jüdische Kontingentflüchtlinge – ich habe es eben gesagt –, dass sie nur dann einen Anspruch auf eine gesetzliche Rente haben, wenn auch Beiträge geleistet worden sind. Wenn es sich allerdings um Holocaustüberlebende handelt, erhalten sie Entschädigungsleistungen, die ihre Situation finanziell verbessern.
Zu dem Punkt, dass wir eine gemeinsame Lösung entwickeln wollen, wofür ich ja sehr viel Sympathie habe: Wir haben bei der Debatte zu den Ghettorenten vor einigen Jahren gemerkt, wie schwer es ist, eine Regelung zu finden, die von allen Betroffenen für akzeptabel gehalten wird. Aber wir haben auch gemerkt: Wir finden eine breite Mehrheit in diesem Haus, wenn wir es wirklich wollen.
({1})
Am besten wäre es natürlich – damit komme ich zu den Punkten, die Markus Kurth eingefordert hat –, wir könnten ein Sozialversicherungsabkommen mit Russland schließen. Dann könnten dort erworbene Rentenanwartschaften hier berücksichtigt werden. Ein solches Abkommen wird es in absehbarer Zeit aber nicht geben. Trotzdem wollen wir natürlich etwas tun. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, einen Härtefallfonds auch für jüdische Kontingentflüchtlinge einzurichten. Das ist aus unserer Sicht der richtige Weg.
({2})
Daran arbeitet die Bundesregierung, und sie wird dazu einen Vorschlag vorlegen. Ein solcher Fonds wird zwar nicht alle Probleme lösen, aber das wäre ein großer Schritt in die richtige Richtung. Wichtig ist – da bin ich ganz bei den antragstellenden Fraktionen –, dass ein solcher Härtefallfonds in absehbarer Zeit diskutiert wird. Das sind wir in der Tat den Menschen schuldig.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Der Kollege Uwe Witt von der AfD-Fraktion gibt seine Rede zu Protokoll. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so.
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Frank Heinrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Ich bin der letzte Redner in dieser Debatte und möchte einmal zusammenfassen, was wir hier gehört haben. Für mich ist es übrigens eine einzigartige Situation, dass sich die drei Oppositionsfraktionen bei einem solchen Anliegen vereinigen.
Die Problembeschreibung ergibt sich wie folgt: Kontingentflüchtlinge – ich möchte es rein sachlich beschreiben – sind Flüchtlinge, die in festgelegter Anzahl, als Kontingent, nach Deutschland übersiedeln dürfen. Dafür gibt es verschiedene Beispiele, die heute schon genannt wurden: vietnamesische Bootsflüchtlinge 1985, albanische Botschaftsflüchtlinge 1990, Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien in den Jahren 2013 und 2014 und eben, über die wir heute reden, Kontingentflüchtlinge jüdischen Ursprungs aus der ehemaligen Sowjetunion. Kollege Birkwald hat die Zahlen in ihrer Größe genannt.
Zuwanderern reichen im Alter die eigenen Einkünfte sehr oft nicht aus. Vor allem wenn ein Großteil des Erwerbslebens im Ausland stattgefunden hat und dort erwirtschaftete Renten und Einkünfte nicht nach Deutschland gezahlt werden oder zu gering sind, fallen sie in die Grundsicherung im Alter. Für jüdische Kontingentflüchtlinge wie für alle, ob zugewandert oder nicht, gilt, dass eine gesetzliche Rente nur gezahlt wird, wenn dafür vorher entsprechende Beiträge gezahlt worden sind. Jüdische Zuwanderer empfinden die Grundsicherung dann – wie andere wahrscheinlich auch – als entwürdigend und fordern eigenständige deutsche Renten.
Jetzt liegen drei unterschiedliche Lösungsvorschläge auf dem Tisch, die Sie in Ihrem Antrag dargestellt haben.
Der erste Vorschlag – von Ihnen von den Linken – ist die Aufnahme ins Fremdrentengesetz; einige meiner Kollegen haben darauf schon Bezug genommen. Das ist auch der Wunsch vieler jüdischer Zuwanderer und wird vom Zentralrat der Juden unterstützt. Die Bundesregierung – das hat die Parlamentarische Staatssekretärin sehr deutlich gemacht – sieht darin keine stimmige Lösung und hat das bisher aus nachvollziehbaren Gründen, wie ich finde, abgelehnt, weil es ein Kriegsfolgengesetz ist und darin möglicherweise eine Ungleichbehandlung ohne sachlichen Grund im Vergleich zu anderen Flüchtlingen und Zuwanderern besteht – so die Argumentation.
Der zweite Vorschlag in diesem Antrag – von Ihnen von den Grünen – ist, Sozialversicherungsabkommen mit den betroffenen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu schließen. Das wäre tatsächlich eine gute Lösung. Es gibt Länder, mit denen wir bereits Sozialversicherungsabkommen geschlossen haben. Das war zuletzt mit Indien und Brasilien der Fall. Wir sind, wie wir vorhin gehört haben, auch mit der Ukraine einige Schritte vorangekommen. In den Ländern erworbene Rentenansprüche können dann ebenso geltend gemacht werden wie die in Deutschland erworbenen Rentenansprüche. Aber – jeder im Raum wird das nachvollziehen können – im Moment ist es unrealistisch, mit Russland ein allumfassendes Sozialversicherungsabkommen zu schließen. Durch die Sanktionen infolge der Ukraine-Krise liegen die Verhandlungen dazu seit Jahren auf Eis. Sollte sich die politische Lage entspannen, wären wir gerne dazu bereit. Dann wäre das sowohl für die Bundesregierung als auch für uns als Fraktion ein Ansatz, der weiterverfolgt werden würde. Aber wir wollen das nicht einfach abwarten.
Der dritte Vorschlag ist die Fondslösung der FDP, die Sie, Herr Vogel, hier dargestellt haben. Sie haben auch darauf verwiesen, dass wir dies im Koalitionsvertrag erwähnen. Dort steht:
Für Härtefälle in der Grundsicherung im Rentenüberleitungsprozess wollen wir einen Ausgleich durch eine Fondslösung schaffen. Entsprechendes wollen wir auch für die Gruppe der Spätaussiedler und der jüdischen Kontingentflüchtlinge prüfen.
Merke: im Rahmen der Rentenüberleitung! Die Staatssekretärin Griese hat vorhin darauf hingewiesen, dass wir in der Prüfungsphase sind und danach aus dem, was wir gelernt haben, Umsetzungsvorschläge erarbeiten.
Es wäre ein erster Schritt, für Härtefälle in der Grundsicherung im Rentenüberleitungsprozess – das ist nicht zu vergessen – einen Ausgleich durch eine Fondslösung zu schaffen. Aber zu einer von den Betroffenen als gerecht empfundenen Fondslösung zu kommen, halten wir bis jetzt noch für sehr, sehr schwierig.
Die Prüfung eines Ausgleichsfonds als zweiten Schritt fußt auf den Erfahrungen und Ergebnissen des ersten Schrittes: Härtefälle müssen definiert werden. Worin können Härten bestehen, die besonders auf jüdische Kontingentflüchtlinge zutreffen? Das gilt es abzuwägen.
Das Bild, das ich bei der Vorbereitung dieser Rede vor Augen hatte, war – der eine oder andere kennt das noch – ein Mobile, das man in der Wohnung aufhängt. Das will sehr gut ausbalanciert sein. Wir wissen: In der Politik ist das sehr oft so, ganz besonders aber im Rentenrecht. Die CDU/CSU steht zu dieser Vereinbarung im Koalitionsvertrag und möchte eine rentenrechtliche Verbesserung für diese Gruppe. Wir nehmen den Koalitionsvertrag ernst; aber er ist aus verschiedenen Gründen noch nicht einmal ein Jahr alt. Die antragstellenden Fraktionen geben in ihrem Antrag selbst zu, dass sie unterschiedlicher Auffassung sind, was den richtigen Weg anbetrifft, und den suchen wir mit. Die angestrebte Fondslösung, die wir benannt haben, worauf Sie richtig hingewiesen haben, darf dann allerdings nicht mit heißer Nadel gestrickt sein. Dafür ist der Sachverhalt viel zu komplex – wie das von mir genannte Mobile.
Wir möchten und werden etwas für diese Härtefallgruppe tun, müssen aber auch schauen, was möglich ist, nicht zuletzt finanziell. Die Kraftanstrengungen der Vergangenheit sollen nicht vergessen werden. Aber die sensible Balance gebietet uns, das sehr ordentlich zu machen.
({0})
Es darf keine Opfergruppe gegen eine andere ausgespielt werden. Auch aufgrund der besonderen Verantwortung gegenüber Jüdinnen und Juden in unserem Land müssen wir der Verantwortung gerecht werden, nicht zu diskriminieren. Auch wenn wir das in diesem Fall in positiver Hinsicht tun würden, müssen wir das politisch begründen.
Ich komme zum Schluss. Wir haben damals aus Barmherzigkeit und Betroffenheit Menschen geholfen, in unser Land zu kommen. Das ist hier mehrfach applaudiert worden. Nun zeigt sich an diesem Beispiel, wie langfristig und nachhaltig geplant werden muss, wenn man Menschen dauerhaft aufnimmt und ihnen eine Perspektive geben will. Wir nehmen den Antrag sehr ernst und werden, wie schon angekündigt, nach dem Koalitionsvertrag handeln. Wir werden allerdings erst prüfen und dann handeln.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7854 an den Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die namentliche Abstimmung ist weit entfernt. Es lohnt sich noch, sich hinzusetzen. Das wird es uns auch erleichtern, einen Überblick über das Abstimmungsverhalten zu bekommen. Wenn Sie also bitte Platz nehmen, können wir zügig abstimmen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was heute vorliegt, ist kein legitimes Ergebnis eines Vermittlungsausschusses. Es liegt hier vielmehr eine neue Gesetzesinitiative vor, da wesentliche Inhalte dieses neuen Gesetzentwurfs nicht zuvor in einer Debatte im Bundestag verhandelt wurden. Damit sind die Abgeordneten der Fraktionen in ihren Rechten wesentlich verletzt. Wir verlangen deshalb die Absetzung dieses Tagesordnungspunktes von der heutigen Tagesordnung.
({0})
Wir verweisen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Dezember 2018 zur Biersteuer. Da ist so etwas Ähnliches passiert.
Danke.
({1})
Wird dazu das Wort gewünscht? – Kollege Stefan Müller von der CDU/CSU-Fraktion, bitte schön.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin etwas verwundert über den Antrag, der hier sozusagen wie „Kai aus der Kiste“ vorgetragen wurde. Auf einmal, Herr Baumann, wird von Ihnen behauptet, dass über diesen Antrag nicht abgestimmt werden dürfe, weil er nicht den formalen Regeln entspreche.
({0})
Ich kann nur feststellen: Wir haben in der Sache mehrere Wochen darüber gerungen. Es hat zwei Durchgänge im Vermittlungsausschuss gegeben. Es hat mehrere Sitzungen der Arbeitsgruppe gegeben, in der auch die AfD vertreten war. Ich kann mich übrigens nicht erinnern, dass es dort eine einzige Wortmeldung der Vertreter der AfD gegeben hätte.
({1})
Das heißt, wenn Sie schon nicht in der Sache etwas dazu beitragen wollten,
({2})
hätte es wenigstens die Gelegenheit gegeben, in der Arbeitsgruppe und übrigens auch gestern Abend im Vermittlungsausschuss Ihre Bedenken vorzutragen. Das haben Sie nicht getan.
({3})
Ich kann nur darüber spekulieren, warum das so ist. Es ist die übliche Methode der AfD, in nichtöffentlichen Sitzungen keine Vorschläge zu machen oder gar nichts zu sagen, dann aber zu glauben, hier vor dem Parlament Dinge vortragen zu können, die keine Rolle gespielt haben.
({4})
Wir werden diesen Antrag ablehnen. Es ist alles korrekt. Wir können heute über das im Vermittlungsausschuss gefundene Ergebnis abstimmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Wird von den anderen Fraktionen das Wort gewünscht? – Das ist nicht der Fall.
Dann lasse ich über den Antrag des Kollegen Baumann abstimmen. Wer für diesen Antrag ist, den Tagesordnungspunkt abzusetzen, den bitte ich um das Handzeichen. Das ist die Fraktion der AfD. Wer ist dagegen? – Das sind die übrigen Fraktionen des Hauses.
({0})
Damit ist der Antrag des Kollegen Baumann abgelehnt.
Die Berichterstatter zu diesem Punkt sind im Bundestag der Kollege Andreas Jung und im Bundesrat die Staatsministerin Doris Ahnen.
Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zu Erklärungen nach § 10 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses gewünscht wird. Der Erste, der sich zu Wort gemeldet hat, ist der Kollege Grosse-Brömer, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gestern im Vermittlungsausschuss ein kluges und gutes Vermittlungsergebnis erzielt – ohne die AfD.
({0})
Dieses Ergebnis steht heute zur Abstimmung, so wie es das Verfahren vorsieht. Wenn wir gleich zustimmen – dies hoffe ich –, dann wird es möglich, dass die Schulen in Deutschland 5 Milliarden Euro aus dem DigitalPakt bekommen. Dies ist also eine sinnvolle Investition in die Innovationsfähigkeit und Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
Damit nicht genug: Wir haben uns auch auf eine Förderung des sozialen Wohnungsbaus und auf eine Förderung des Personennahverkehrs verständigt. Dabei geht es um die Themen, die die Menschen in Deutschland interessieren und berühren: Mobilität und bezahlbares Wohnen. Jeder, der sich ernsthaft mit diesem Vermittlungsergebnis auseinandersetzt, wird zu dem Ergebnis kommen, dass dieses Ergebnis – bei allen Schwierigkeiten, die es vorher gegeben hat – gut für die Menschen in Deutschland ist.
({1})
Ich will darüber hinaus auf zwei Dinge hinweisen, die auch mit diesem Ergebnis zusammenhängen. Wir haben es bei sehr unterschiedlichen Ausgangslagen und Interessenlagen zwischen Bund und Ländern geschafft, eine Einigung zu erzielen.
({2})
– Wissen Sie, „Kuhhandel“, Herr Brandner, ich frage mich immer mehr, warum Sie Vorsitzender des Rechtsausschusses sind, wenn Ihnen nicht einmal verfassungsrechtliche Grundsätze klar sind.
({3})
Der Vermittlungsausschuss ist in der Verfassung vorgesehen, wie der Name es sagt, zur Vermittlung unterschiedlicher Interessen. Nennen Sie es „Kuhhandel“. Ich nenne es ein verfassungsrechtlich vorgesehenes und sinnvolles Verfahren.
({4})
Arbeiten Sie an Ihren verfassungsrechtlichen Grundkenntnissen und an Ihren Zwischenrufen. Das kann ich Ihnen als gute Empfehlung mitgeben.
({5})
In der Sache, liebe Kolleginnen und Kollegen, war das gestern Abend auch ein Beispiel für funktionierenden Föderalismus. Wir hatten sehr unterschiedliche Auffassungen. Wir geben Geld, weil die Länder es wünschen. Wir waren nicht immer der Auffassung, dass es richtig verwendet wurde. Deswegen haben wir gesagt, dass wir Kontrollrechte brauchen, was die Länder wiederum als Einmischung in ihre Kompetenzen empfinden. Teilweise kann ich das verstehen. Uns ist es geglückt, ein sehr gutes Ergebnis zu erarbeiten. Ich kann mich bei der Arbeitsgruppe, die auch in dieser Hinsicht exzellent gearbeitet hat, nur bedanken. Das war gute Arbeit und ist ein toller Erfolg.
({6})
Abschließend möchte ich noch eines sagen – auch das ist ein tolles Ergebnis dieses Vermittlungsausschusses –: Wir haben unter Beweis gestellt, dass die Politik in Deutschland bei – ich habe sie angesprochen – sehr schwierigen Themen über Fraktionsgrenzen hinweg handlungsfähig ist. Leider hat sich eine Fraktion, hat sich eine Partei wieder herausgehalten, möglicherweise zu Recht; dies wurde durch die Zwischenrufe belegt. Vorgesehene verfassungsgemäße Verfahren – in diesem Fall führt solch ein Verfahren zu guten Ergebnissen für Deutschland – müssen ohne die AfD stattfinden,
({7})
weil sie sich daran nicht beteiligen will mangels Interesse an Kompromissen, die in einer Demokratie notwendig sind. Vielleicht sagen die Briten deswegen: „the best of both worlds“. Wir müssen manchmal Kompromisse suchen, auch wenn es schwerfällt. Wir dürfen die Gesellschaft nicht spalten. Das würde diesem Land nicht guttun. Ich bin dafür, für dieses Ergebnis zu stimmen.
Vielen Dank.
({8})
Als Nächster hat sich zu Wort gemeldet der Kollege Dr. Götz Frömming, AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst richtigstellen, was hier vorhin gesagt worden ist: Selbstverständlich hat sich die AfD im Vermittlungsausschuss geäußert, und zwar in der ersten Sitzung grundsätzlicher Art, dass wir uns an dieser Grundgesetzänderung nicht beteiligen.
({0})
Meine Damen und Herren, dass wir Ihnen bei Ihrer Herumpfuscherei am Grundgesetz nicht geholfen haben, ist doch wohl selbstverständlich. Das mussten Sie dann schon selber tun, aber wir haben sehr aufmerksam zugehört.
({1})
Gestern Abend hat der Vermittlungsausschuss ohne Debatte entschieden, und heute Mittag, keine 24 Stunden später, stehen wir hier und sollen ohne Debatte darüber abstimmen.
({2})
So hatten Sie das geplant. Das ist unserer Demokratie nicht würdig. Das entspricht nicht den Grundsätzen eines guten Parlamentarismus.
({3})
Die meisten von Ihnen wissen doch gar nicht, worüber sie abstimmen. Das ist doch gestern Abend erst verschickt worden, Sie konnten das noch gar nicht richtig prüfen. Wir vermissen eine ordentliche Debatte in der Sache, weil sich der vorliegende Gesetzentwurf substanziell von dem Gesetzentwurf unterscheidet, über den wir hier vor Monaten debattiert und abgestimmt haben. Das betrifft sowohl die Finanzierung, den Wegfall der 50‑50-Regel. Das betrifft aber auch andere Bestandteile des Gesetzentwurfes. Zum Beispiel soll von Qualität jetzt gar nicht mehr die Rede sein. Auch das ist eine grundsätzliche Änderung.
({4})
Die Parlamentsöffentlichkeit ist keine Kleinigkeit. Nach Artikel 42 unseres Grundgesetzes ist sie ein wesentliches Element des demokratischen Parlamentarismus. Die Kungelrunden der sogenannten A- und B-Länder, in denen das meiste verhandelt worden ist, sind, glaube ich, das Gegenteil von dem, was unser Grundgesetz mit Parlamentsöffentlichkeit meint.
({5})
Vor wenigen Tagen hat das Bundesverfassungsgericht – mein Kollege Baumann hat das schon angesprochen – den Vermittlungsausschuss in einem wegweisenden Urteil in die Schranken gewiesen, weil er sich schon in der Vergangenheit mehrfach die Rechte eines Sonderparlaments angemaßt hat. Offenbar haben Sie dieses Urteil noch nicht studiert; denn da geht es genau um das, was wir hier und heute erleben. Der Vermittlungsausschuss hat eigene Gesetzeskompromisse ausgearbeitet, die dann vom Bundestag in Windeseile durchgewunken worden sind. Die betreffenden Gesetze wurden übrigens inzwischen als verfassungswidrig erklärt. Vielleicht bedenken Sie das, wenn wir gleich abstimmen.
({6})
Wir vermissen eine Debatte aber auch, weil der Bürger als der eigentliche Souverän in diesem Land seine Kontrollfunktion nun gar nicht richtig wahrnehmen kann. Er muss die Möglichkeit haben, die Entscheidung, die wir hier treffen, nachzuvollziehen. Es geht hier nicht um eine Kleinigkeit. Es geht um einen erheblichen Eingriff in unser Grundgesetz. Es geht um die Strukturen und den seit 1949 bewährten Aufbau unseres Staates, an dessen föderalen Grundfesten Sie rütteln wollen. Einige von Ihnen wollen nicht nur daran rütteln, je nach Couleur wollen Sie sie sogar zum Einsturz bringen. Das heißt bei den Linken „Abschaffung des Kooperationsverbots“. Bei der FDP spricht man von „Investitionen in Köpfe“ – eine besonders dämliche Formulierung, wie ich finde
({7})
Man kann von Glück sagen, dass die AfD gemeinsam mit weitsichtigen Ministerpräsidenten der Länder hier seit Monaten dagegengehalten hat und so das Schlimmste noch verhindert werden konnte. Das eigentliche Ziel, die bessere digitale Ausstattung der Schulen, wäre natürlich auch auf ganz anderem Wege erreichbar gewesen. Auch die Ministerpräsidenten wissen das. Sie saßen da gestern nach der Abstimmung mit hängenden Köpfen.
({8})
Da hätte man fragen müssen: Warum jubeln Sie denn nicht? Sie bekommen doch die Milliarden vom Bund. – Ich will Ihnen sagen, warum sie nicht gejubelt haben: Sie haben sie mit diesen Milliarden erpresst, und Sie fahren damit einen Frontalangriff gegen unseren Staat und gegen unseren Föderalismus.
({9})
Meine Damen und Herren, es geht Ihnen in Wahrheit gar nicht um eine nachhaltige Verbesserung unseres Bildungssystems. Es geht Ihnen um billige Punkte beim Wähler. Es geht Ihnen um Macht und Geld und um das Kräfteverhältnis zwischen Bund und Ländern, an dem Sie rütteln wollen, während Sie den Bürgern vormachen, es ginge um das Wohl des Landes, es ginge um die Schulen und unsere Kinder. Die Enttäuschung wird kommen, und sie wird groß sein. Die 5 Milliarden Euro, die Sie hier vorgesehen haben, werden versickern wie das Wasser in der Wüste.
({10})
Das Hauptproblem ist, dass hier das Zweiebenensystem der Verfassung, Bund und Länder, schrittweise aufgelöst werden soll und durch ein Dreiebenensystem zwischen Bund, Ländern und Kommunen ersetzt werden soll, bei dem der Bund unmittelbar in die Kommunen hineinregieren und sie politisch führen will. Die AfD-Fraktion lehnt dies ab. Wir machen da nicht mit. Inhaltlich machen wir nicht mit; denn wir sind die Partei, die hier und heute zu unserem Grundgesetz und zum Föderalismus steht. Wir lehnen auch die Art und Weise, wie Sie diese Grundgesetzänderungen hier durch den Bundestag peitschen wollen, ab.
Vielen Dank.
({11})
Für die SPD-Fraktion hat sich zu Wort gemeldet der Kollege Carsten Schneider.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit das einmal klar ist: Wir haben ein ganz einwandfreies Verfahren gemacht.
({0})
Wir haben als Bundestag beschlossen, das Grundgesetz zu ändern. Ich komme inhaltlich gleich noch darauf. Wir haben es zum Bundesrat übergeleitet. Dieser hat den Vermittlungsausschuss zur Klärung unterschiedlicher Auffassungen angerufen. Dann haben wir eine offizielle Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses eingesetzt. In dieser war auch die AfD Mitglied. Herr Kollege Müller hat schon gesagt, dass sich die AfD dort allerdings überhaupt nicht beteiligt hat, dass sie die Chance, mitzugestalten, nicht wahrgenommen hat. Das ist etwas, das Sie sich selbst aufs Butterbrot schmieren müssen.
Aber heute herzugehen und dem Deutschen Bundestag als Verfassungsorgan vorzuwerfen, er würde die Verfassung brechen, weil er sich an die geregelten Verfahren hält, ist eine Sauerei.
({1})
Warum diskutieren wir das heute am Donnerstag? Es wurde gestern um 19.20 Uhr beschlossen. Sie hatten genügend Zeit, das zu lesen.
({2})
Wir hatten auf Wunsch anderer Fraktionen eine Fristverkürzung für heute vereinbart. Dieser Fristverkürzung, dem heutigen Aufsetzen dieses Punktes auf die Tagesordnung, hat die AfD zugestimmt. Sie haben dem zugestimmt! Bei Ihnen weiß die rechte Hand doch nicht, was die linke macht.
({3})
Das ist doch hier kein Staatsschauspiel.
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– Setzen Sie sich! Es reicht.
({5})
Sinn der Sache ist eines: Wir wollen Fortschritt. Fortschritt, meine Damen und Herren, bedeutet in diesem Fall nicht die Ordnung, die Herr Frömming gerade vorgestellt hat, wo der Bund keine Chance hat, den sozialen Wohnungsbau zu finanzieren. Das wollen wir nicht. Wir wollen, dass der soziale Wohnungsbau in Deutschland finanziert wird.
({6})
Wir wollen im Übrigen auch – dafür hat die SPD sehr lange gekämpft, und ich bin froh, dass wir jetzt den Konsens im Bundestag und im Bundesrat haben –, dass wir im Bildungsbereich Geld für Investitionen in den Schulen ausgeben können, damit die Schulen auf den neuesten Stand kommen. Wir tragen einen kleinen Teil bei, die Länder tragen den größten Teil dazu bei. Aber wir wollen und können jetzt auch einen Beitrag leisten. Deswegen bitte ich Sie, zuzustimmen.
Vielen Dank.
({7})
Für die FDP-Fraktion hat sich der Kollege Dr. Marco Buschmann zu Wort gemeldet.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses vom gestrigen Abend markieren einen guten Tag für die Bildung in Deutschland, und sie markieren einen guten Tag für unser gesundes Verfassungsleben in Deutschland. Das lasse ich mir nicht kaputtreden, egal von wem.
({0})
Es markiert einen guten Tag für die Bildung in Deutschland, weil wir erstmals eine Rechtsgrundlage haben, um als Bund und Länder mit Finanzhilfen auf dem Gebiet der Bildung gemeinsam zu kooperieren. Damit ist die Rechtsgrundlage für den DigitalPakt geschaffen. Das ist Fortschritt und eine gute Nachricht für die Menschen in diesem Land!
({1})
Diese Rechtsgrundlage ermöglicht es, nicht nur in Beton und Kabel, sondern auch in Know-how und Köpfe zu investieren. Das ist eine gute Nachricht für die Menschen in Deutschland!
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Diese Rechtsgrundlage ermöglicht es, dass die Mittel nicht degressiv, also abschmelzend, ausgereicht werden, sondern über den gesamten Programmverlauf gleichbleibend ausgereicht werden können. Das ermöglicht Planbarkeit und Verlässlichkeit bei den Programmträgern. Das ist eine gute Nachricht für die Menschen in Deutschland!
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Außerdem bekennen wir uns im Grundgesetz bei diesen Maßnahmen erstmals auch zu einem Ziel, nämlich zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der kommunalen Bildungsinfrastruktur, also der Schulen. Auch das ist eine gute Nachricht für die Menschen in Deutschland!
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Es ist nicht nur in der Sache, in diesem konkreten Verfahren, eine gute Nachricht, sondern es ist auch ein Erfolg unseres Verfassungslebens. Einige Kollegen haben angedeutet, wie groß der Konflikt zwischen Bund und Ländern war, den es am Anfang gab: Auf der einen Seite wollte man keine Verfassungsänderung, auf der anderen Seite gab es die Vorschläge, die wir hier diskutiert hatten. Dass der Vermittlungsausschuss seiner verfassungsmäßigen Aufgabe erfolgreich nachgekommen ist, kann man nur kritisieren, wenn man obstruieren will und hier nicht für gute Politik streiten möchte.
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Es ist auch ein guter Tag für unser Verfassungsleben, meine Damen und Herren. Denn ich glaube: Gestern könnte der Anfang vom Ende von einer ganz unguten Entwicklung sein, nämlich vom Exekutivföderalismus. Wir alle haben doch noch in unguter Erinnerung, wie die Verhandlungen zum Bund-Länder-Finanzausgleich abgelaufen sind. Die Bundeskanzlerin saß mit den Chefs der Exekutiven, den Ministerpräsidenten, zusammen. Da gab es Kungelrunden, da gab es Kaminrunden, und da mussten Bundestag und Bundesrat nachvollziehen, was vorgegeben worden ist. Jetzt sitzen endlich wieder die Institutionen im Pilotensessel des Verfahrens, die die Verfassung vorsieht, nämlich dieses Parlament und der Bundesrat. Das ist eine gute Nachricht für unser Verfassungsleben!
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Wer Verfassungspatriot ist, muss sich über die Leistungsfähigkeit unserer Institution freuen. Bei dem, der das nicht tut, kann sich jeder ausrechnen, wie er es mit der Verfassung hält.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Liebe Kollegen, wir sind immer noch weit weg von der namentlichen Abstimmung. Es lohnt sich nach wie vor, sich hinzusetzen und nicht dort hinten herumzustehen. Bitte nehmen Sie Platz.
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch für die Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Linke begrüßt, dass es gestern im Vermittlungsausschuss zu einer Einigung kam; denn wir haben eigentlich viel zu lange geredet, um Selbstverständliches zu klären. Wir brauchen mehr Initiative, mehr Geld und mehr Zusammenarbeit im Bereich der Bildung. Es gibt eindeutige Gewinner: Das sind unsere Kinder und Enkel, und das finden wir gut, meine Damen und Herren.
({0})
Wir sagen Ihnen: Bundestag und Bundesrat müssen auch weiterhin alles dafür tun, damit unsere Kinder und Enkel eine bessere Schul- und Hochschulbildung bekommen.
Dieser lange Anlauf war ja nur nötig, weil 2006 bei der Föderalismuskommission II CDU und SPD das unsinnige Kooperationsverbot festgelegt haben. Die Linke hat schon damals gesagt: Das ist eine ärgerliche Bildungsbremse. – Und diese Bildungsbremse muss endlich gelöst werden, meine Damen und Herren.
({1})
Es kann nicht genug Quellen geben, um die Zukunft unserer Kinder und Enkel zu sichern. Natürlich können wir zum Teil auch die Sorgen der Länder verstehen. Sie wollen keine Kompetenzen an den Bund verlieren, und häufig können sich Bundesländer keine Fifty-fifty-Kofinanzierung leisten. Darum ist das zu Recht geändert worden.
Meine Damen und Herren, aber auch der Bundestag muss dafür Sorge tragen, dass das Geld, das wir für die Schulen bereitstellen, wirklich in den Schulen ankommt. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass das Geld, das der Deutsche Bundestag für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung stellt, auch beim sozialen Wohnungsbau ankommt. Ich denke, beide Seiten haben da eine große Verantwortung.
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Wir wissen alle, dass die 5 Milliarden Euro, die jetzt für den DigitalPakt beschlossen wurden, nicht ausreichen werden, um unser Bildungssystem auf die digitalen Herausforderungen vorzubereiten. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass mit der Digitalisierung nicht alle Probleme des Lebens gelöst werden. Zum Glück gibt es auch noch eine analoge Welt. Ich denke dabei an fehlende Lehrerinnen und Lehrer, wofür wir gemeinsam Lösungen finden müssen. Wir brauchen also nicht nur einen DigitalPakt, sondern auch einen Analogpakt, meine Damen und Herren.
({3})
Da immer gefragt wird: „Wo soll denn das ganze Geld herkommen?“, sage wir Ihnen als Linke eindeutig: Wir brauchen nicht mehr Geld für die Rüstung, wir brauchen mehr Geld für die Bildung. Ich möchte, dass unsere Zukunft in den Klassenzimmern, in den Ausbildungsstätten, an den Hochschulen und Universitäten und nicht auf den Schlachtfeldern entschieden wird.
Meine Damen und Herren, die Linke stimmt zu.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Britta Haßelmann für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich erst mal mit den Unwahrheiten aufräumen, die die AfD heute wieder zum Besten gibt.
({0})
– Ich würde an Ihrer Stelle zuhören. Vor allen Dingen würde ich – wir sind ja im Februar 2019 – endlich mal anfangen, sich mit der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages und mit der Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses zu beschäftigen.
({1})
Denn – das ist interessant –: Wieder einmal versucht die AfD mit dieser Methode – die kennen wir hier im Parlament ja schon –, das Parlament und die Verfassungsorgane verächtlich zu machen. Es ist von Kungelei, von unsauberen Verfahren die Rede. Meine Damen und Herren, an diesem Verfahren, an der heutigen Wahl ist nichts unsauber.
({2})
Ein Blick in die Geschäftsordnung würde das deutlich machen. Ich rate Ihnen, die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses einfach mal zu lesen.
({3})
Schauen Sie sich mal den § 10 der Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses an. Das haben Sie ja nicht gemacht, weil Sie sonst einen solchen Antrag heute nicht gestellt und vor allen Dingen diese Art der Argumentation – Kungelrunde, alles im Geheimen, ohne Aussprache – nicht gewählt hätten. Die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses in Kombination mit unserer Geschäftsordnung sieht ein klares Verfahren dafür vor, wie Ergebnisse des Vermittlungsausschusses im Deutschen Bundestag beraten werden.
Sorry, da helfen auch drei Parlamentarische Geschäftsführer bei Ihnen nicht, um dessen endlich mal Herr zu werden, verdammt noch mal.
({4})
Sie können es einfach nicht, und das ist ein Problem. Das ist auch ein Problem für Ihre Fraktion. Sie bringen sich heute wieder in Schwierigkeiten.
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Was ist das für eine Nummer? Sie haben am Dienstag diesem Verfahren zugestimmt. Kollege Grosse-Brömer hat in der Parlamentarischen Geschäftsführerrunde gefragt – und zwar alle –: Wenn am Mittwoch eine Einigung im Vermittlungsausschuss zustande kommt, sind dann alle mit dem Fristverzicht einverstanden, und werden wir das dann am Donnerstagmorgen hier beraten? – „Ja“, war die Antwort, meine Damen und Herren. Hier heute so einen Hermann zu machen, das geht nicht.
({6})
Kümmern Sie sich mal darum! Machen Sie mal Ihre Arbeit! Das wäre angesagt. – Meine Damen und Herren, so viel dazu.
({7})
Der Vermittlungsausschuss sieht eine Ergebnisberatung ohne Aussprache vor. Das war heute vorgesehen. Von einer Kungelrunde kann also keine Rede sein.
Herr Müller, zu Ihren Ausführungen noch eine Ergänzung: Die Kollegen haben sich bei den zwei VA-Arbeitsgruppensitzungen, die länger als zehn Stunden gedauert haben, einmal gemeldet, und zwar um Wert darauf zu legen, dass im Protokoll steht, dass sie sich an der Diskussion nicht beteiligt haben. So sieht die Sache nämlich aus, meine Damen und Herren.
({8})
Insofern finde ich das alles ziemlich bemerkenswert, dass man sich angesichts einer solchen Darstellung und Verhaltensweise hier so aufspielt.
Jetzt zur Sache. Wir haben im Vermittlungsausschuss einen Kompromiss erzielt, und das ist ein guter Wert; denn wir haben die Frage des modernen Bildungsföderalismus damit ein Stück weitergebracht. Wir haben den Eltern, den Lehrern, den Schülerinnen und Schülern das deutliche Signal gegeben, dass Bund und Länder gemeinsam Verantwortung tragen und sich den Herausforderungen im Bildungswesen stellen, und das ist gut so, meine Damen und Herren.
({9})
Diesem Kompromiss haben am Ende bis auf die zwei Vertreter der AfD – sie haben gestern im Vermittlungsausschuss nicht einmal eine Aussprache gewünscht – alle im Vermittlungsausschuss zugestimmt. Daran sieht man doch, wie breit getragen dieser Kompromiss – das heißt, wir gestalten einen modernen Bildungsföderalismus – ist.
Jetzt geht es doch darum, auch beim DigitalPakt sofort deutlich zu machen, dass wir das, was wir verhandelt haben, nämlich die Investitionen, die Sachmittel des Bundes und der Länder, für Kabel, aber auch für Personal vorsehen. Das muss jetzt auch für den DigitalPakt folgen.
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Meine Damen und Herren, wir alle sind doch zufrieden mit dem Ergebnis und freuen uns, dass die Länder es auch sind. Ich finde, hier zeigt sich, dass es nicht immer die Ministerpräsidentenkonferenz sein muss. Vielmehr: Bundestag, Bundesrat und Vermittlungsausschuss sind die Verfassungsorgane, und das ist auch gut so.
({11})
Das waren die Erklärungen nach § 10 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses.
Der Abgeordnete Andreas Jung hat als Berichterstatter eine schriftliche Erklärung zu Protokoll gegeben. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7940. Gemäß § 10 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses ist bei Änderungen des Grundgesetzes über jede Abweichung des Einigungsvorschlages vom Wortlaut des vom Bundestag beschlossenen Gesetzes zunächst einzeln mit einfacher Mehrheit abzustimmen. Danach findet eine namentliche Schlussabstimmung über den Einigungsvorschlag im Ganzen statt. Dann ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich.
Wir kommen zunächst zu den einfachen Abstimmungen. Hier genügt die einfache Mehrheit. Ich rufe auf die Ziffer 2 der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses. Dort geht es in der Nummer 1 um Artikel 104b Absatz 2 Satz 5 – neu – und Satz 6 Grundgesetz. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Dafür waren alle Fraktionen des Hauses bei Gegenstimmen der AfD.
Nummer 2. Es geht um Artikel 104c Grundgesetz. Wer stimmt dafür? – Das sind wieder alle Fraktionen des Hauses außer der AfD. Wer stimmt dagegen? – Die Fraktion der AfD. Damit ist auch Nummer 2 angenommen.
Nummer 3. Es geht um Artikel 104d – neu – Grundgesetz. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Bei Gegenstimmen der AfD mit den Stimmen der übrigen Fraktionen ist Nummer 3 angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über Nummer 4. Da geht es um Artikel 125c Absatz 2 Satz 3 und Satz 5 – neu –, Absatz 3 – neu – Grundgesetz. Wer stimmt dafür? – Das sind wieder alle Fraktionen mit Ausnahme der AfD. Wer stimmt dagegen? – Die Fraktion der AfD. Damit ist Nummer 4 angenommen.
Wir kommen jetzt zur Ziffer 1 der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses, Abstimmung über die Bezeichnung des Gesetzes. Wer stimmt dafür? – Das sind wieder alle Fraktionen mit Ausnahme der AfD. Wer stimmt dagegen? – Das ist die AfD – Enthaltungen? – Keine. Ziffer 1 der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses ist angenommen.
Wir stimmen nun ab über den Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses im Ganzen, und zwar in einer namentlichen Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Jetzt sind die Urnen besetzt. Ich eröffne die namentliche Abstimmung über die Beschlussempfehlung im Ganzen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von unseren französischen Nachbarn und Freunden hätte die deutsche Bundesregierung in den letzten Monaten viele gute neue Ideen für Europa übernehmen oder zumindest diskutieren können. Sie aber haben sich leider den schlechtesten aller Vorschläge zu eigen gemacht, den Vorschlag der französischen Regierung, sich doch bitte nicht beim weltweiten Export von Kriegswaffen gegenseitig im Wege zu stehen.
Da treffen Sie notgedrungen schon mal eine richtige Entscheidung und verhängen einen Exportstopp für Saudi-Arabien, und dann verteidigen Sie diese Entscheidung nicht eine einzige Minute. Stattdessen erklären Sie still und heimlich gegenüber der französischen Regierung, dass so was nie wieder vorkommt – aus Sorge um die geplanten gemeinsamen Rüstungsprojekte. Und das leugnen Sie dann auch noch gegenüber den Parlamentariern. Gestern hieß es auf unsere Frage noch, so ein Dokument gebe es nicht. Dabei habe ich es jetzt hier in meiner Hand. Es ist überschrieben mit „Common Understanding“ und beinhaltet, kurz gesagt, die gegenseitige Zusage, dem anderen nicht reinzureden. Dass am Anfang des Textes auf den Gemeinsamen Standpunkt der EU zu Rüstungsexporten hingewiesen wird, ist der glatte Hohn. Dieser Gemeinsame Standpunkt ist verbindliches EU-Recht und besagt unter anderem, dass die Menschenrechtslage in Empfängerländern berücksichtigt werden muss.
Was wir in Europa brauchen, ist die Durchsetzung dieses gemeinsamen Standards, indem wir endlich eine europäische Ausfuhrkontrolle einführen.
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Dass es auf die europäische Außengrenze ankommt, haben Sie bei der Einreise von Kriegsflüchtlingen auch gefordert. Und genauso brauchen wir bei Kriegswaffen eine gemeinsame Ausfuhrkontrolle.
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Das wäre mal ein zielführender Vorschlag gewesen. Stattdessen wollen Sie zurück in die 70er-Jahre, in die Zeiten als die Verteidigungsminister Helmut Schmidt und Michel Debré die Dinge bilateral unter vier Augen geregelt haben. Das soll nicht allen Ernstes Ihr Maßstab für europäische Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert sein, oder?
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Dabei ist gegen eine engere Zusammenarbeit der Streitkräfte ja grundsätzlich nichts einzuwenden; denn Streitkräfte, die miteinander verzahnt sind, können schon mal keinen Krieg gegeneinander führen. Und die Konsolidierung der europäischen Rüstungsindustrie könnte zu mehr Effizienz mit weniger Mitteln führen. Man könnte also dadurch Geld sparen, wenn man wollte. Sie aber wollen nur mehr Geld für Rüstung ausgeben, sowohl national als auch aus dem EU-Haushalt. Da machen wir Grünen nicht mit.
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Sie sind schlicht auf dem falschen Weg, wenn Sie deutsche Exportkontrolle als Schwäche verkaufen. Es gibt vielmehr zunehmend politische Debatten über Rüstungsexporte, auch in Frankreich, in den USA und anderswo. Erst im Sommer letzten Jahres, am 18. Juli, hat der Auswärtige Ausschuss der Assemblée nationale eine Anhörung zum Thema Rüstungsexportkontrolle durchgeführt, und die Ausschussvorsitzende hat danach öffentlich erklärt, dass mehr parlamentarische Mitsprache und Kontrolle in diesem Bereich notwendig seien. 90 französische Abgeordnete aus mindestens vier Fraktionen haben eine Initiative für einen Untersuchungsausschuss zum Jemen-Krieg und ein Waffenembargo gegenüber Saudi-Arabien unterschrieben. Selbst im Kongress der USA hat der Auswärtige Ausschuss mit Mehrheit für ein solches Embargo gestimmt. Diese Parlamentarier und Demokratinnen sind unsere Verbündeten, und das sollten auch Ihre Verbündeten sein.
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Sie fallen Ihnen stattdessen in den Rücken und machen sich mit denen gemein, die vor allem das nationale Wirtschaftsinteresse im Blick haben. Dabei gefährden Sie auch noch unsere gemeinsamen europäischen Sicherheitsinteressen, wenn Sie die künftigen deutsch-französischen Kampfpanzer und das geplante Luftkampfsystem in Drittstaaten exportieren. Was glauben Sie denn, wozu diese Drittstaaten diese Systeme haben wollen? Erdogan hat sich seine Leopard-Kampfpanzer auch nicht in die Vitrine gestellt. Und wo immer Nachbarländer überfallen oder Menschenrechte verletzt werden: Es wird Auswirkungen auf uns hier in Deutschland und in Europa haben. Das sollte spätestens nach sechs Jahren Syrien-Krieg jetzt jeder verstanden haben.
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Lassen Sie Deutsche und Franzosen gerne einen gemeinsamen Panzer oder ein gemeinsames Jagdflugzeug für den europäischen Markt bauen. Das ist wirtschaftlich nicht so uninteressant, dass man dazu unbedingt auf den Export an die Saudis oder sonst wen angewiesen wäre. Hören Sie endlich auf, die eigenen Standards kleinzureden und zu missachten! Setzen Sie sich stattdessen dafür ein, dass wir eine effektive europäische Rüstungskontrolle bekommen! Dass wäre nicht nur werte-, sondern gleichzeitig auch interessengeleitete Außen- und Sicherheitspolitik.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland ist nicht die USA, und Deutschland ist auch nicht China, sondern Deutschland
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– ja – kann und will nur im europäischen Verbund und multilateral erfolgreich sein. Das ist unser Ansatz und unsere Aufgabe. Deshalb, Frau Kollegin Keul, nützt es überhaupt nichts, wenn Sie hier mit dem moralischen kategorischen Imperativ unterwegs sind und dort, wo es Ihnen gefällt, europäische Dinge bemühen, aber da, wo es Ihnen nicht passt, Europa konterkarieren.
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Außen- und Sicherheitspolitik, um die es ja im Wesentlichen geht, ist keine Quartalsveranstaltung. Vielmehr braucht sie langjährige Zuverlässigkeit und Verlässlichkeit, und sie kann auf europäischer Ebene nur gemeinsam erfolgen.
Deshalb sage ich als Parlamentarier ganz klar, auch in Richtung unseres Koalitionspartners: Die Entscheidung zu Saudi-Arabien, die Sie angesprochen haben, war ein deutscher Alleingang; sie war nicht europäisch abgestimmt. Und deshalb ist sie zum Scheitern verurteilt, und es untergräbt Europa – das haben Sie bemüht – in diesem ganz konkreten Fall. Denn: Was ist die Situation? Deutschland hat im Alleingang die Ausfuhren ausgesetzt. Die Franzosen, die Engländer, die Spanier haben es nicht getan. Wir haben in diesem Verteidigungs- und Sicherheitsbereich Kooperationsprojekte. Deshalb kommen jetzt unsere Verbündeten – die Briten, die Franzosen und auch die Spanier – und sagen, wir seien nicht zuverlässig, und Claims, sozusagen gerichtliche Schadensersatzforderungen, gegenüber Deutschland im zweistelligen Milliardenbereich stünden kurzfristig im Raum.
Das hat für mich überhaupt nichts mit europäischer Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik zu tun. Wir brauchen hier keine nationalen Alleingänge. Vielmehr brauchen wir entsprechende europäische Zusammenarbeit. Wie muss diese aussehen? Kurzfristig wird das, was wir jetzt haben, nämlich dazu führen, dass es teuer werden kann, wenn wir uns nicht eines Besseren und einer europäischen Antwort besinnen. Mittel- und langfristig wird das, was schon voll im Gange ist, dazu führen, dass es keine Kooperationsprojekte mehr gibt.
Den offensichtlich auch von Ihnen, Frau Keul, befürworteten gemeinsamen Ansatz, mit Frankreich ein Kampfflugzeug und einen Panzer der Zukunft zu entwickeln,
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wird es nur geben, wenn man sich nicht nur auf die technischen Kriterien, sondern auch über die Endverwendung gemeinsam verständigt. Ansonsten werden die Franzosen das mit uns nicht machen.
Wir werden in diesem Hause mit sehr großer Zustimmung – wahrscheinlich auch mit Ihrer Zustimmung, sie ist zumindest avisiert – den Élysée-Vertrag II beschließen. Nach dem Élysée-Vertrag I, in dem die Versöhnung im Mittelpunkt stand, konzentriert sich der Élysée-Vertrag II in vielen Fragen auf Konvergenz, auf Zusammenarbeit. Diese ist in der Außen- und Sicherheitspolitik und in der Verteidigungspolitik essenziell; denn wir werden niemals so viel Geld in die Bundeswehr stecken können – wir wollen es wahrscheinlich auch gar nicht –, dass wir als Deutschland selber in der Lage wären, eine eigenständige Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie zu halten, die alle Elemente in allen Bereichen abdeckt.
Wir sind auf die Kooperationen angewiesen – mindestens so sehr wie die anderen, wahrscheinlich sogar noch mehr. Und was machen wir? Wir sagen: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.
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Sie sagen: Wenn die Franzosen oder die Briten Ihre Vorstellungen von Exportbedingungen nicht sofort übernehmen, dann machen wir mit denen nichts gemeinsam.
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Das wird aber ganz sicher so nicht funktionieren. Vielmehr müssen wir in Europa zusammenfinden, um gemeinsam zu konstruieren. Wir brauchen deshalb auch keine strengeren Rüstungsexportbedingungen; wir brauchen bessere Rüstungsexportbedingungen,
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die europäisch entsprechend abgestimmt sind.
Wir brauchen sie zunächst für die deutsch-französischen Projekte. Ich finde sehr gut, was Schmidt und Debré damals, in den 1970er-Jahren, gemacht haben. Das ist ein richtiger Ansatz; er gilt auch im 21. Jahrhundert als richtig. Auch eine De-minimis-Regelung ist richtig, damit nicht wegen jeder Schraube oder jedem Schleifring die Kooperation torpediert wird; denn sonst wird nämlich nichts stattfinden. Dann wird „German-free“ das Schlagwort sein. Das findet heute schon statt; in vielen Bereichen werden diese Dinge ohne deutsche Beteiligung gemacht. Damit erreichen wir das Gegenteil: keine kollektive und keine multilaterale Außen- und Sicherheitspolitik. Damit schießen wir uns im wahrsten Sinne des Wortes ins eigene Knie. Dann sind wir nicht mal moralisch auf großer Flughöhe, sondern erreichen das Gegenteil.
Wir als Union wollen eine verlässliche und gute europäische Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Deshalb müssen wir auch die Frage des Endverbleibs innerhalb Europas gemeinsam lösen. Wir sind dazu bereit.
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Der Kollege Norbert Kleinwächter hat das Wort für die AfD-Fraktion.
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Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nicht alles, was gedruckt steht, ist wahr. Diesen Leitsatz geben wir unseren Kindern oft mit auf den Weg, und gerade in Zeiten der Relotius-Affäre beim „Spiegel“ müssen wir feststellen: Fake News sind nicht eine Domäne der sogenannten alternativen Medien, sondern sind auch im Herzen der sogenannten Qualitätsmedien vorhanden.
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Das ist insbesondere deswegen wichtig, weil sich die Aktuelle Stunde, die die Grünen beantragt haben, eben auch auf Recherchen des „Spiegel“ stützt. In heutigen Zeiten müssen wir eben alles hinterfragen.
Wenn die Recherchen zutreffend sind – da hätte ich mir, ehrlich gesagt, ein eindeutiges Eingeständnis von Herrn Dr. Pfeiffer gewünscht; das kam nicht –, dann ist das kein handfester Skandal, sondern dann ist das das Eintreten des Falles, den die AfD von Anfang an gesehen hat, nämlich dass der Vertrag von Aachen, den Merkel und Macron am 22. Januar unterzeichnet haben, nicht vornehmlich der deutsch-französischen Freundschaft dient, sondern vor allem französischen Interessen, die knallhart gegen die deutschen gestellt werden.
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Wir haben in den letzten Wochen eindrucksvoll gesehen, wie das aussieht: bei der Debatte um Nord Stream 2 – ich darf daran erinnern –, bei Macrons Aussage, Deutschland würde er mit atomaren Waffen nicht verteidigen. Jetzt sehen wir es eben auch in der Debatte um Rüstungsexporte.
Ich sagte es schon damals:
Die Ortswahl? Macrons Idee. Der Vertrag? Macrons Idee. Die Zielsetzung? Macrons Idee. Seine Idee einer vertieften Europäischen Union – Deutschland zahlt, Frankreich schafft an – soll mit aller Vehemenz durchgesetzt werden.
Ich sagte das hier am 17. Januar und landete damit im Faktenfinder der Tagesschau, in einem Artikel mit dem Titel „Irreführende Behauptungen“ – Qualitätsmedien eben. Nur einen Monat später zeigt sich der wahre Geist von Aachen, und er ist – Kompliment! – bei den Grünen auch schon angekommen.
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Vor einem Monat wollte das in diesem Haus hier wirklich keiner glauben. CDU/CSU, FDP und Grüne warben als Erste massiv für diesen Vertrag. Die Jamaika-Möchtegern-Koalition gerierte sich als Wurmfortsatz des Sonnenkönigs.
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Jetzt erkennen es die Grünen im Titel dieser Aktuellen Stunde an. Sie heißt: „Haltung der Bundesregierung zu einem vermeintlich französisch-deutschen Abkommen zur Industriekooperation“. Französisch-deutsch – es geht um französische Interessen.
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Mein Respekt, dass Sie das, spät aber endlich, erkannt haben!
Aber bevor Sie sich aufregen: Worum geht es denn inhaltlich konkret? In Aachen war nämlich nicht alles eitel Sonnenschein. Vielmehr machte Macron einen Geheimvertrag zu Rüstungsexporten zur Bedingung für die Unterzeichnung des Vertrages.
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Macrons hochgelobte Freundschaft und Liebe zu Deutschland war also nicht so bedingungslos, wie er uns das immer weismachen wollte.
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Merkel unterschrieb dann Folgendes über den Export deutsch-französischer Rüstungsgüter:
Die Parteien werden sich nicht gegen einen Transfer oder Export in Drittländer stellen, es sei denn in Ausnahmefällen, wenn ihre direkten Interessen oder nationale Sicherheit gefährdet sind.
Das heißt übersetzt – ich mache das jetzt mal sehr einfach –: Wir bezahlen erheblich für die Entwicklung von Systemen. Wir stellen den Franzosen auch unsere Technologie zur Verfügung, exportieren also unser Know-how, und die Franzosen verkaufen die Systeme dann in Länder, in denen Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
40 Prozent der französischen Rüstungsexporte gingen in den letzten zehn Jahren in den Nahen und Mittleren Osten, vor allem nach Saudi-Arabien. Dort ist die Steinigung noch ein probates Mittel der Bestrafung. Ungefähr 30 Prozent gingen an Asien; nur 10 Prozent gingen an europäische Nachbarländer bzw. in die EU. Die französische Naval Group hat auch kein Problem, mit dem saudischen Hersteller SAMI gemeinsame Projekte zu machen. Das passiert also von französischer Seite mit unserer Technologie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz ehrlich: Anzunehmen, dass die Vereinbarungen im Aachener Vertrag keine Zusatzdokumente oder keine weiteren Absprachen erfordern würden und dass diese vor allem auch noch in unserem Sinne wären, das ist ungefähr so weitsichtig, wie zu glauben, dass man durch Schuleschwänzen das Klima rettet.
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Fakt ist: Der Aachener Vertrag hat die deutsch-französische Freundschaft nicht beflügelt. Das Verhältnis ist so schlecht wie lange nicht und in einer Dauerkrise. Der Aachener Vertrag ist inhaltlich und ideell tot, bevor er überhaupt ratifiziert ist.
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Merkel und Macron haben dem deutsch-französischen Verhältnis erheblichen Schaden zugefügt. Für uns ist es daher eine staatsbürgerliche Pflicht, die Ratifizierung des Vertrages zu verweigern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen keine Deals gegen unsere Prinzipien. Wir wollen keine Hinterzimmerpolitik.
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Genau diese wird aber andauernd gemacht. Nicht alles, was gedruckt steht, ist wahr. Das gilt insbesondere für den deutsch-französischen Vertrag und für die Verlautbarungen darüber.
Herzlichen Dank.
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Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Kollege Florian Post.
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Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Grundsätzlich bleibt mal festzuhalten, dass das jetzt im Raum stehende Abkommen eine ganz klare Verbesserung zu den Regelungen von Schmidt/Debré ist. Zu der Zeit, in der das Schmidt-Debré-Abkommen galt, hatte Deutschland nämlich gar keine Möglichkeit, bei gemeinsamen Projekten ein Veto einzulegen oder mitzusprechen. Insofern ist es eine ganz klare Verbesserung.
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Den Kolleginnen und Kollegen der Grünen möchte ich den Tipp geben: Reden Sie doch auch mal mit Ihrem Parteifreund Daniel Cohn-Bendit, dem Berater des französischen Präsidenten! Der sieht das nämlich ganz anders als die Kollegin Katja Keul, deren Rede ich gerade gehört habe.
Für die SPD ist klar, dass wir uns zu einem gemeinsamen europäischen sicherheits- und verteidigungspolitischen Ansatz bekennen und dass wir uns auch zu einer europaweit integrierten Verteidigungsindustrie, die dann auch arbeitsteilig stattfindet, klar bekennen. Das stärkt das politische Gewicht Europas gerade in einer Zeit, in der wir uns angesichts des amerikanischen Unilateralismus nicht mehr auf unseren wichtigsten Bündnispartner, die USA, uneingeschränkt verlassen können.
Aber wir als SPD – das macht auch den klaren Unterschied zur Union aus, lieber Joachim Pfeiffer, das muss ich hier ansprechen – sehen die rüstungs- und verteidigungspolitische Komponente nicht als Mittel der Industriepolitik. Das unterscheidet uns ganz klar, und das unterscheidet uns auch von den französischen Freunden.
Das Problem ist, dass wir natürlich eine gemeinsame Rüstungsexportkontrolle in Europa anstreben. Aber das weitere Problem ist natürlich auch – das sieht jeder –, dass jedes Land eine eigene Rüstungsexportkontrolle und eigene Grundsätze hat. Natürlich werden gerade zwischen Deutschland und Frankreich diese Unterschiede sehr deutlich. Es wäre in der Tat völlig naiv, zu glauben, dass wir unsere deutschen Grundsätze hier bis ins letzte Komma durchsetzen können.
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Aber genauso wenig kann es natürlich die Konsequenz sein, lieber Joachim Pfeiffer, dass wir dann schon in vorauseilendem Gehorsam sagen, dass wir unsere Grundsätze vollständig über Bord werfen, weil wir sie eh nicht durchsetzen können. Das kann es natürlich nicht sein.
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Genauso unmöglich – das muss ich auch in aller Deutlichkeit sagen – finde ich es, wenn Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen oder Bundeskanzlerin Angela Merkel im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz zu dem Thema sagen, dass bei gemeinsamen Projekten idealerweise ein gemeinsamer Ansatz für Rüstungsexporte zu entwickeln sei, aber man eben, so Frau von der Leyen, nicht davon ausgehen kann, dass „deutsche Maximalpositionen“ eine Mehrheit finden könnten, und wir sollten uns auch nicht so vorkommen – Zitat Ursula von der Leyen –, „als seien wir moralischer als Frankreich oder menschenrechtspolitisch weitsichtiger als Großbritannien“.
Dazu möchte ich antworten, dass unsere Grundsätze, die Grundsätze der SPD, Konsequenz der deutschen Geschichte und der friedenspolitischen Überzeugung unserer Partei sind und wir selbstverständlich an dem Grundsatz festhalten, dass Waffenexporte in Kriegs- und Spannungsgebiete unterbleiben sollten und verboten werden müssen. Auch wenn es Frankreich in diesem Zusammenhang dann bedauert, dass sie in diesem Fall keine Luft-Luft-Raketen mehr nach Saudi-Arabien liefern dürfen, oder wenn Großbritannien es bedauert, dass sie keine Eurofighter mehr nach Saudi-Arabien liefern dürfen, die dann im Jemen-Krieg dazu eingesetzt werden, Bomben abzuwerfen, dann möchte ich ganz klar sagen, dass gerade auch an diesen Beispielen deutlich wird, dass wir uns hier eben schon – zumindest nach meinem Dafürhalten – in einer moralisch besseren Position befinden.
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– Auf das Papier eingehend: Es ist ja erstaunlich, dass wir eine Aktuelle Stunde mit dem Titel „zu einem vermeintlich … Abkommen“ durchführen. Offiziell haben wir über dieses Papier noch nicht gesprochen.
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Sie haben auch die Aktuelle Stunde nicht beantragt; das waren ja die Kollegen der Grünen. Ich plädiere hier ganz klar dafür, dass wir weiterhin an unseren Grundsätzen festhalten, dass wir mit den französischen Partnern im Gespräch bleiben. Es ist eine klare Verbesserung. So viel steht jedenfalls schon fest: Es ist eine klare Verbesserung im Vergleich zu Schmidt/Debré.
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Da hatten wir überhaupt keine Mitsprachemöglichkeiten. Jetzt haben wir die Möglichkeit, eine De-minimis-Klausel einzuführen.
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Klar ist auch, dass ein in einer solchen Klausel für eine solche Komponente festgelegter Anteil immer gerissen werden würde, auch bei einem gemeinsam zu entwickelnden Kampfjet oder Kampfpanzer, so wie er ja im Raume steht. Hier werden wir es natürlich nicht zulassen, dass derartig sensible Rüstungsgüter nach Saudi-Arabien oder in andere Spannungsgebiete geliefert werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ich danke Ihnen für die heutige Debatte; denn auch wir Freien Demokraten verlangen Aufklärung von der Bundesregierung im Hinblick auf die Linie in der Rüstungsexportpolitik.
Wie stehen Sie zum Thema „Europäisierung, Kooperation und Exportgenehmigungen im Rüstungsbereich“? Die Große Koalition hat es bis heute versäumt, hier einen schlüssigen Kurs festzulegen: Sie schlingern von Einzelfall zu Einzelfall und provozieren damit Irritationen und Unverständnis bei den Unternehmen und in der Bevölkerung.
({0})
Sie haben keine aussagekräftige Position innerhalb der Koalition, und auf der europäischen Ebene bleibt auch vieles fraglich. Damit tragen Sie dazu bei, dass Intransparenz und Unsachlichkeit die Debatte dominieren.
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Natürlich wäre es schön, wenn wir in einer Welt leben würden, in der der Stopp von Rüstungsexporten immer zu einer Verbesserung der Gesamtlage führen würde. Die Welt wird aber leider nicht sicherer, gerechter oder sozialer, wenn wir deutsche Rüstungsexporte gänzlich verbieten.
Die Grünen wissen es doch auch: Sie haben in Regierungsverantwortung damals die Erfahrung gemacht, dass durch Abwägung oft schwierige Entscheidungen zu Rüstungsexporten getroffen werden müssen. Umso mehr wundere ich mich teilweise, wenn ich Ihre Forderungen hier lese.
Doch in einem Punkt sind wir beieinander: Auch wir wollen mehr Transparenz.
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Es kann nicht sein, dass deutsche Rüstungsexportpolitik permanent in der öffentlichen Kritik steht, weil die Entscheidungsgrundlagen nicht transparent und systematisch vorhanden sind. Unternehmen brauchen Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Planbarkeit. Rüstungsexportentscheidungen müssen nach sachlichen Kriterien erfolgen und nicht nach der politischen Stimmungslage, meine Damen und Herren.
({3})
Aber die entscheidende Frage aus meiner Sicht in der Debatte um Rüstungsexporte und ihre Kontrolle ist doch: Wie halten wir es denn mit Europa? Eines ist klar: Eine wehrtechnische Wirtschaft, die in Deutschland mittelständisch geprägt ist, wird es in Zukunft entweder im Rahmen einer europäischen Verteidigungsindustrie geben, oder es wird sie gar nicht mehr geben.
({4})
Europäische Nationen werden sich das Nebeneinander von zum Beispiel drei verschiedenen Kampfflugzeugherstellern nicht mehr leisten können. Wir brauchen einen gemeinsamen europäischen Rüstungsmarkt. Daraus folgt auch die Notwendigkeit einer europaweiten Harmonisierung der Exportbestimmungen zu Rüstungsgütern.
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Wir werden aktiv für unsere restriktive Linie werben müssen. Auch dafür benötigen wir Transparenz. Nur wenn unsere europäischen Partner verstehen, warum und wie wir zu den Entscheidungen kommen, können wir diese Debatte auch offensiv führen. Durch Wegducken ist die Diskussion sicher nicht zu gewinnen, ganz im Gegenteil. Durch Unterlassen werden jeden Tag Menschenrechte weltweit geopfert. Wir fordern deshalb eine sachliche, transparente und europäische Rüstungsexportpolitik, das heißt eine wissenschaftliche, systematische Betrachtung von Rüstungsexporten und ihren Folgen, weil das Sachkenntnis und belastbare Fakten für transparente Entscheidungen liefert. Das ermöglicht unseren Unternehmen, Know-how in Schlüsseltechnologien zu halten und weiterzuentwickeln. Wenn wir weiter nach tagespolitischen Empfindungen entscheiden, was exportiert werden darf und was nicht, oder das Exportgeschäft gänzlich verbieten, setzen wir unsere Verteidigungsfähigkeit und vor allen Dingen unsere Bündnisfähigkeit aufs Spiel.
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In dieser Woche haben wir doch schon erste Alarmzeichen gesehen, indem Jeremy Hunt vorstellig geworden ist. Haben wir dann nächste Woche Monsieur Le Drian vor der Tür? Es kann nicht sein, dass „German-free“ das neue Prädikatssiegel ist.
Liebe Bundesregierung, seien Sie doch bitte auch so ehrlich: Wenn Sie Genehmigungen erteilt haben und diese aufgrund einer neuen Lagebewertung dann stoppen wollen, wie wir es jetzt im Fall Saudi-Arabien haben, dann widerrufen Sie doch bitte die Genehmigungen, sodass die Unternehmen entschädigt werden können.
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Es kann nicht sein, dass diese die Leidtragenden in einem politischen Konflikt sind.
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Zum Verhältnis Frankreich/Deutschland. Die Absichtserklärungen im Aachener Vertrag sind ein erster Schritt, aber wir brauchen jetzt Konkretisierungen. Sigmar Gabriel hat sich damals in seiner Amtszeit einseitig vom Schmidt-Debré-Abkommen gelöst.
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Wir fordern einen Neustart in der französisch-deutschen Zusammenarbeit.
Als Antwort auf die wachsende Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Ungewissheit müssen wir Sicherheitspolitik breiter diskutieren. Ich stimme Frau Merkel zu, wenn sie, wie am vergangenen Wochenende, im Hinblick auf Rüstungsexporte bei der Sicherheitskonferenz in München sagt, dass wir hier in Deutschland noch viele komplizierte Diskussionen vor uns haben. Das ist richtig; aber die Große Koalition muss hier jetzt endlich auch mal Antworten liefern.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die Kollegin Sevim Dağdelen hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
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Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Worum geht es heute in der Aktuellen Stunde? Es geht um ein deutsch-französisches Abkommen, das Rüstungskonzernen gigantische Profite ermöglicht.
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Es geht um 600 Milliarden Euro Umsatz bis 2040 mit neuen Kampfpanzern und einem Luftkampfsystem – auch dadurch, dass die gemeinsamen Rüstungsprodukte problemlos in alle Welt exportiert werden sollen.
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Ich finde, es ist ein Unding, dass die Große Koalition dies alles an der Öffentlichkeit vorbei auf den Weg bringen will.
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Warum weigert sich diese Bundesregierung seit Tagen, dieses Abkommen an uns Bundestagsabgeordnete zu geben? Warum scheuen Sie das Licht der Öffentlichkeit so sehr, und warum diese Geheimdiplomatie?
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Das ist eine dramatische Entwicklung im gesamten Bereich der Rüstungsexporte. Fakt ist: Die Bundesregierung ist durch ein geheimes Zusatzabkommen zum Vertrag von Aachen, also dem neuen Élysée-Vertrag, dabei, die bestehenden Rüstungsexportrichtlinien zu schleifen, damit in Zukunft die gemeinsam produzierten Kriegswaffen leichter in alle Welt exportiert werden können. Was die Bundesregierung mit diesem Abkommen vorhat, ist nichts anderes als der Versuch, die bestehenden Restriktionen für die deutsche Rüstungsindustrie und die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, die aus der Niederlage des deutschen Faschismus erwachsen sind, einfach hinwegzufegen.
Dieses Geheimabkommen ist nichts anderes – nichts anderes! – als ein Angriff auf das Friedensgebot des Grundgesetzes.
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Dieses Friedensgebot des Grundgesetzes umfasst eben nicht nur das Verbot der Vorbereitung eines Angriffskrieges in Artikel 26, sondern sollte in seinem Wesenskern auch verhindern, dass die deutsche Rüstungsindustrie Waffen in Kriegs- und Spannungsgebiete exportiert und Rüstungsexporte zum normalen Mittel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik werden. Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie sehen könnten, was diese Bundesregierung aus diesem Friedensgebot jetzt macht. Ich finde, das ist eine Schande.
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Und ich frage gerade Sie von der SPD-Fraktion: Warum machen Sie das eigentlich mit? Es war doch das SPD-Mitglied im Parlamentarischen Rat, Herr Fritz Eberhard, auf dessen Engagement hin im Grundgesetz ebendieser Bruch mit dem deutschen Faschismus verankert wurde. Nie wieder sollte es so kommen wie 1936, als deutsche Waffen beim Vernichtungskrieg Mussolinis in Abessinien eingesetzt wurden oder im spanischen Bürgerkrieg bei der Unterstützung der Franco-Diktatur gegen die spanische Bevölkerung. Jetzt wollen Sie diese Lehren aus dem Faschismus weggeben wie einen abgetragenen Mantel. Ich finde das schlimm.
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Die Linke sagt: Wir brauchen dieses Friedensgebot des Grundgesetzes; denn nie wieder sollen deutsche Waffen den Diktatoren dieser Welt dazu dienen, ihre Bevölkerungen zu massakrieren oder andere Länder barbarisch zu überfallen.
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Es ist richtig, dass Bundesaußenminister Heiko Maas dem Drängen Großbritanniens jetzt nicht nachgibt und am Ausfuhrstopp nach Saudi-Arabien festhalten will.
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Aber dann können Sie doch nicht an einem Abkommen mitarbeiten, das es in Zukunft unmöglich machen soll, Rüstungsexporte überhaupt einzuhegen.
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Oder wollen Sie behaupten, dass dieses Zusatzabkommen so geheim war, dass selbst das Auswärtige Amt von diesem Abkommen nichts wusste?
({10})
Es ist meiner Meinung nach fatal, dass sich beim anderen Koalitionspartner, der Union, eine Mentalität durchgesetzt zu haben scheint, wie wir sie bei den heute verurteilten kriminellen Mitarbeitern des Waffenherstellers Heckler & Koch finden. Mit dieser Mentalität wollen Sie Kriegswaffen gerade dorthin exportieren, wo diese, zynisch gesprochen, gebraucht werden, und Sie wollen dabei nicht auch noch durch irgendwelche Rüstungsexportrichtlinien gestört werden. Dass sich Angela Merkel, die Bundeskanzlerin, die Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien nach einer aktuellen Meldung offenhält, ist auch – so kann man nur noch sagen – Ausdruck dieser Mentalität.
({11})
Wenn Sie davon sprechen, dass wir uns moralisch nicht gegenüber anderen Ländern erheben sollen, dann muss ich Ihnen sagen: Das sagen Sie doch nur, um ungestört von jeder Moral die Profitinteressen der deutschen Rüstungsschmieden zu bedienen.
({12})
Ich finde, eine Rüstungsexportpolitik, die das Friedensgebot des Grundgesetzes mit Füßen tritt und die Lehren aus dem deutschen Faschismus missachtet, ist unverantwortlich. Kehren Sie um! Stoppen Sie die Rüstungsexporte! Und machen Sie Schluss mit dieser kriminellen Mentalität!
({13})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Klaus-Peter Willsch.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist ja manchmal unerträglich, was man sich hier für einen Quatsch anhören muss, Frau Dağdelen.
({0})
Wissen Sie, Sie brauchen uns hier nicht über das aufzuklären, was die Väter und Mütter des Grundgesetzes beabsichtigt haben. Dafür brauchen wir Sie nicht. Sie waren damals in Pankow und in Karlshorst und in Ostberlin, aber nicht im freien Teil Deutschlands.
({1})
– Ich weiß, dass die Kollegin viel jünger ist als ich und deshalb natürlich nicht persönlich dabei war. Aber Sie müssen sich schon gefallen lassen, dass Sie in eine Traditionslinie gestellt werden, in die Sie gehören.
({2})
Das belegen Sie ja jeden Tag neu.
({3})
Ich will, auch mit Blick auf die Grünen, noch mal daran erinnern, was ich schon bei mehreren Debatten zu diesem Thema gesagt habe.
({4})
Es gelingt Ihnen ja jedes Mal, irgendein Thema zu finden. Mal ist es eine Schraube beim Eurofighter, mal ist es irgendeine Patrone.
({5})
So diskutieren wir hier jede Woche über Rüstungsexporte, obwohl wir, was die Rüstungsindustrie angeht, angesichts unseres außenpolitischen Gewichts und vor allen Dingen auch Außenwirtschaftsgewichts ein Zwerg sind. Jetzt haben Sie also dieses Abkommen gefunden und wollen darüber reden.
Ich will Sie noch mal daran erinnern: Der erfolgreichste Einsatz, den wir hier und die Bundesregierung in den letzten Jahren beschlossen haben, war, was Waffen, was Gerät und was Ausbildung anbelangt, die Ertüchtigung der Peschmerga. So konnten, vor Ort mit Füßen auf dem Grund, die Jesiden vor der Abschlachtung durch den IS geschützt werden.
({6})
Das nehmen Sie nachhaltig nicht zur Kenntnis, aber gut.
({7})
Ich will Ihnen noch mal in Erinnerung rufen, dass die Europäische Union auf mehreren Säulen beruht: Kohle und Stahl, Euratom, später Justiz- und Innenpolitik, dann Handelspolitik und jetzt Einstieg in eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Gerade haben wir bei der Münchner Sicherheitskonferenz erlebt, dass sich wieder alle überschlagen haben in Bekenntnissen zur gemeinsamen europäischen Verantwortung und zu einem gemeinsamen Vorgehen in diesem Bereich. Wenn es aber ernst wird, dann liefern Sie nicht. Ihre Vorsitzende, Frau Annamaria Baerbock – Annalena war es –
({8})
hat gesagt:
Die EU muss unter Beweis stellen, dass sie weltpolitikfähig ist.
Und:
Die Europäische Union muss als Ganzes zu einer eigenen Sicherheitspolitik finden. Das kann nicht die NATO für sie erledigen …
Aber wie wollen wir denn weiterkommen bei diesen Zielen, wenn wir allen, die bereit sind, mit uns da zusammenzuarbeiten, sagen: „Aber bitte nur nach unseren Regeln spielen, eure Regeln wollen wir nicht haben“?
({9})
Sie reden auf der einen Seite so und handeln auf der anderen Seite anders. Das ist unaufrichtig, und damit sollten Sie aufhören.
({10})
Entweder hören Sie auf mit der Prosa auf der Sicherheitskonferenz, oder Sie hören auf mit solchen idiotischen Debatten, wie wir sie hier heute wieder führen.
({11})
Es wartet keiner in Europa auf den erhobenen Zeigefinger der Deutschen, erst recht nicht, wenn er grün angestrichen ist; das will ich Ihnen mal sagen. So kommen wir nicht weiter, wenn wir weiterhin eine Zusammenarbeit bei der Verteidigungspolitik in Europa wollen.
({12})
– Herr Hofreiter, quasseln Sie doch nicht dazwischen. Melden Sie sich, wenn Sie was zu sagen haben, dann kommen Sie dran.
({13})
– Das Beste wäre, wenn er ruhig wäre; das stimmt.
Heute Nachmittag werden wir wieder mit hoffentlich großem Einvernehmen, weil das wichtig ist für die Kameraden vor Ort, verschiedene Mandate verlängern. Da werden die meisten hoffentlich zustimmen.
({14})
Denn es ist wichtig, dass die Soldaten im Einsatz wissen, dass wir als Parlament hinter ihnen stehen.
({15})
Eines, was wir da auch zeigen müssen, ist, dass wir ihnen Ausstattung und Ausrüstung geben, die sie ertüchtigt, den Auftrag zu erfüllen und lange im Gefecht durchzuhalten.
({16})
Wenn wir das allein nicht können, weil wir nicht den großen Markt haben – wenn wir eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben vorschlagen würden, würden wir sie auch auf der falschen Seite finden –,
({17})
dann müssen wir natürlich kooperieren und exportieren. Anderenfalls werden die Franzosen nicht mit uns zusammenarbeiten. Dann können wir uns amerikanische Flugzeuge kaufen
({18})
oder französische oder chinesische oder russische. Aber wir werden keine eigene ordentliche Industrie mehr haben, um im Bereich Sicherheitspolitik unsere Interessen zu verteidigen und unsere Soldaten zu ertüchtigen, damit sie die gefährlichen Aufträge überstehen. Das ist dann mit Ihre Schuld, wenn Sie so weitermachen.
Deshalb appelliere ich an Sie: Hören Sie auf mit diesem unverantwortlichen Gequatsche – hier so und da so –, übernehmen Sie Verantwortung für dieses Land!
Danke sehr.
({19})
Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Rüdiger Lucassen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geheimabkommen hin oder her – es passt zum Stil dieser Bundesregierung, kontroverse Themen nicht in die Öffentlichkeit zu bringen. Die Angst vor dem Wähler ist groß. Doch die Frage der Exportregelung steht natürlich wie ein Elefant im Raum, wenn es um Rüstungskooperation zwischen Deutschland und Frankreich geht. Wer hat das Sagen, wenn gemeinsam entwickelte Panzer und Kampfjets in die Welt verkauft werden? So viel war von Anfang an klar: keine Waffen in Kriegsgebiete. Dieses deutsche Prinzip ist aber mit Frankreich nicht zu machen. So ist es halt mit der blinden Aufgabe nationaler Souveränität.
({0})
Irgendwann ist man nicht mehr Herr im eigenen Haus.
Beim Thema Waffenexport geht es jetzt auch für die EU-Fetischisten des linken Lagers ans Eingemachte. Jetzt muss man dort abwägen: Weniger national heißt mehr deutsche Waffen ins Ausland – eine schwierige Entscheidung, meine Damen und Herren. Nicht so für die AfD. Wir akzeptieren, dass eine heimische wehrtechnische Industrie gewisse Exportquoten braucht, um existieren zu können.
({1})
Die Bundeswehr selbst kann allein nicht mehr genügend Rüstungsgüter abnehmen. Um Entwicklung und Produktion bezahlen zu können, muss Deutschland auch verkaufen.
Das wirkliche Problem bei dieser vielbeschworenen französisch-deutschen Rüstungskooperation ist die Aufgabe nationaler Schlüsseltechnologien und Kernfähigkeiten zugunsten Frankreichs.
({2})
Wir sehen hier, dass die Bundesregierung Verträge mit unserem Nachbarn unterzeichnet, die durch die Bank weg zum Nachteil unserer eigenen wehrtechnischen, vor allen Dingen mittelständischen Industrie sind und damit zum Nachteil der nationalen Sicherheitsvorsorge. Das wird es mit der AfD nicht geben.
({3})
Richtig ist, dass Deutschland eine rein nationale Rüstung nicht unterhalten kann. Deutschland wird beispielsweise allein keinen Kampfjet der sechsten Generation mehr bauen können. Auch in Kooperation mit Frankreich und Spanien werden wir einen solchen technologischen Schritt nicht mehr gehen. Erstens fehlt in Europa dazu das Know-how, und zweitens ist die Entwicklung einfach nicht bezahlbar. Der Vertrag dazu, den die Verteidigungsministerin mit ihrer französischen Kollegin letzten Sommer unterzeichnet hat, ist das Papier nicht wert, auf dem er steht.
({4})
Aber selbst diese Augenwischerei hat für Deutschland schon sicherheitspolitische Folgen. Bereits wenige Wochen nach der Unterzeichnung dieses Abkommens drohte Frankreich der Bundesregierung, Deutschland solle nicht seine alten Tornado-Kampfjets durch amerikanische F-35 ersetzen – die beste Lösung zwar für die nächsten 30 Jahre, wie auch der letzte Inspekteur der Luftwaffe, Karl Müllner, immer wieder sagte, aber für seine Fachexpertise hat ihn die Verteidigungsministerin in den vorzeitigen Ruhestand geschickt. Falls Deutschland doch die F-35 kauft, werde Frankreich die gemeinsame Kooperation sofort beenden.
({5})
In einer normalen Beziehung nennt man so etwas Erpressung. Aber so läuft das eben mit der Aufgabe nationaler Souveränität: Man ist nicht mehr Herr im eigenen Haus.
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Dem links-grünen Lager geht es natürlich nicht um die eigene Industrie und die Verteidigungsfähigkeit. Das alles würden Sie lieber heute als morgen aufgeben. Ihnen dämmert jetzt, dass die Franzosen am Ende noch an jedes Regime auf der Welt Waffen verkauft haben, das solvent genug war. Exportstopp an Saudi-Arabien wegen des Mordes an einem Journalisten gibt es in Frankreich nicht. Deswegen befinden sich die Hypermoralisten in diesem Haus jetzt in einem Dilemma. Das ist der Grund für diese Aktuelle Stunde.
Vielleicht kann ich Ihnen mit einem Rat helfen, sich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Vielleicht ist das Problem mit den Rüstungsexporten nur eine Frage des Framings. Wie wäre es mit einem Das-Gute-Rüstungsexportgesetz?
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Die SPD unterstützt Sie bestimmt dabei.
Danke schön.
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Der Kollege Dr. Nils Schmid ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein vermeintliches Geheimabkommen zwischen Deutschland und Frankreich zur Rüstungskooperation steht zur Debatte. Wir wissen nicht genau, was drinsteht. Tatsache ist, dass nach Presseberichten ein Abkommen nicht vorliegt, sondern ein Schriftwechsel zwischen Élysée-Palast und Kanzleramt über Grundzüge möglicher zukünftiger Rüstungszusammenarbeit.
Ich will für die SPD-Fraktion festhalten: Es spricht überhaupt nichts dagegen, dass das Kanzleramt oder das federführende Wirtschaftsministerium dem Parlament in geeigneter Form diese Information zur Verfügung stellt, meine verehrten Damen und Herren.
({0})
Es spricht überhaupt nichts dagegen. Man muss nur festhalten: Es gibt kein Abkommen, sondern es gibt Regierungsabsprachen, wie man dieses Thema weiter behandelt. Ich glaube, um diese Frage muss man keine Skandalisierung betreiben.
In der Sache ist für die SPD-Fraktion völlig klar: Der Koalitionsvertrag ist die Richtschnur für das Handeln Deutschlands beim Rüstungsexport. Es gibt drei Punkte, die uns wichtig sind und die die SPD auch im jetzigen Koalitionsvertrag durchgesetzt hat.
Erster Punkt: keine Kleinwaffenexporte in Drittstaaten. Ich würde sagen, wenn wir die letzten Statistiken anschauen, können wir feststellen: Klappt doch schon ganz gut. Es ist gut, dass wir erreicht haben, dass diese Kleinwaffenexporte in Drittstaaten quasi nicht mehr existieren. So ist es richtig.
({1})
Zweitens. Die Jemen-Klausel gilt. Das ist ja stadtbekannt und in den Medien ausgebreitet.
Drittens haben wir eine Schärfung der Rüstungsexportrichtlinien vereinbart. Für die SPD-Fraktion will ich da festhalten: Wir erwarten schon, bevor man in die Weite der europäischen Zusammenarbeit geht, dass man erst einmal die Hausaufgaben in Berlin macht und dass wir vom Wirtschaftsministerium, das federführend in der Sache ist, endlich Antwort darauf bekommen, wie wir diese Schärfung der Rüstungsexportrichtlinien durchsetzen wollen.
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Ich appelliere auch an die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, dass wir diese Überarbeitung der Rüstungsexportrichtlinien ernst nehmen und endlich zu einem Ergebnis führen.
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Diese Rüstungsexportrichtlinien sind dann selbstverständlich Ausgangspunkt für die Verständigung mit europäischen Partnern. Auch das haben wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir eine Verständigung mit den europäischen Partnern wollen. Auch hier gilt: Man sollte nicht so schnell Kompromisse schließen, sondern erst mal sagen, was man selber will, wohl wissend, dass es in Gesprächen zu einer Verständigung kommen muss.
Ich will noch einmal für die SPD sagen: Ausgangspunkt sind die nationalen Rüstungsexportrichtlinien. Vorschnelle Kompromisse wird es nicht geben, sondern wir werden das entlang unserer Vorstellung mit den europäischen Partnern besprechen.
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Zu dieser europäischen Verständigung möchte ich noch drei Anmerkungen machen, weil ich mir über manche Tonlagen in der Debatte Sorgen mache.
Frau Dağdelen, Sie unterstellen der CDU/CSU quasi kriminelle Mentalität beim Thema Waffenexporte. Ich finde, das ist nicht angemessen.
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– Nein, ich will sagen: Ich halte es für nicht angemessen.
Meine erste Anmerkung. Ja, wir haben recht strenge deutsche Vorstellungen. Wenn man die Rüstungsexportrichtlinien, die in Europa gelten, nebeneinander legt, wird man sicherlich feststellen, dass die deutschen recht streng sind. Aber wir sollten aufpassen, dass wir in die Debatten mit den europäischen Partnern nicht zu sehr mit einem moralischen Überlegenheitsgestus hineingehen. Ich will nur auf eines hinweisen: Wenn wir mit den Franzosen reden und erklären, weshalb wir U-Boote nach Israel geliefert haben – mit guten Gründen, das will ausdrücklich festhalten –, dann wird man feststellen, dass die Franzosen in dieser Frage etwas vorsichtiger sind. Insofern: Wir kommen von unterschiedlichen Traditionen. Wir haben unsere Vorstellungen, andere haben ihre eigenen Vorstellungen.
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Wir werden darum ringen. Aber ich rate zur Vorsicht in den deutsch-französischen Gesprächen, wenn wir wirklich zu einer europäischen Verständigung kommen wollen.
Zweitens möchte ich anmerken – auch das bereitet mir ein bisschen Sorge –: Deutschland braucht für eine europäische Verständigung seine Partner. Wir können das ja nicht alleine machen, das ist doch völlig klar. Das gilt im Übrigen für alle Themen und nicht nur für das Thema Rüstungsexporte,
({7})
zu dem der Kollege Pfeiffer so wild und forsch vorgetragen hat. Das gilt natürlich auch für das Thema Euro-Budget; wir wissen ja, welchen Eindruck die Euro-Rettungspolitik bei manchen europäischen Partnern hinterlassen hat. Das gilt auch für energiepolitische Fragen. Wenn wir es also ernst meinen, mit europäischen Partnern zu gemeinsamen Regeln und zu einer Verständigung kommen zu wollen, dann muss gerade uns als deutschen Politikern immer bewusst sein: Jawohl, wir brauchen die europäischen Partner.
Eine dritte Anmerkung zum Schluss – auch darüber müssen wir mit den europäischen Partnern reden –. Wir haben einen Aufwuchs an nationaler Rüstungsindustrie in vielen Ländern auf allen Kontinenten, zum Beispiel in der Türkei, in Südafrika, in Lateinamerika. Das sollte uns auch mit Sorge erfüllen; denn es helfen die besten Rüstungsexportrichtlinien in Europa nichts, wenn Rüstungsgüter anderswo in eigenständigen nationalen Industrien hergestellt und damit dann Konflikte angeheizt werden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Die Kollegin Dr. Franziska Brantner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit Ihrer Erlaubnis lese ich ein kurzes Zitat vor:
Beide Regierungen verpflichten sich in dem Abkommen, einander beim Export von Kriegswaffen nicht zu behindern …
Dieses Zitat stammt aus dem „Spiegel“, aber nicht aus dem vom letzten Samstag, sondern aus einer Ausgabe aus dem Jahr 1972.
({0})
Der „Spiegel“ deckt nämlich interessanterweise zum zweiten Mal Absprachen zu Rüstungsexporten auf. Man könnte sich wundern und fragen: Wiederholt sich die Geschichte?
Es gibt jedoch einen großen Unterschied zwischen 1972 und 2019. Wir haben mittlerweile einen gemeinsamen europäischen Standpunkt zu Rüstungsexporten.
({1})
Darin sind klare Kriterien enthalten, zum Beispiel mit Blick auf Menschenrechte. Das sollten die geltenden Regeln sein für die deutsch-französische Kooperation, und dann auch rechtlich verbindlich.
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Herr Pfeiffer, Sie sagen hier: „Am deutschen Wesen soll die Welt nicht genesen“ und dass wir hier deutsche Gesetze vorantreiben würden. Das stimmt nicht. Uns geht es um eine gemeinsame europäische Politik. Sie ist verankert, sie ist verschriftlicht. Dafür kämpfen wir, nämlich für eine europäische Sicherheit
({3})
und nicht für eine deutsche Sicherheit, Herr Pfeiffer.
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Herr Willsch, wenn Sie sagen, wir brauchen für unsere Soldaten funktionsfähige Waffen, kann ich nur entgegnen: Sagen Sie Ihrer eigenen Ministerin, Frau von der Leyen, einen schönen Gruß. Sie hatte genug Zeit, ihre Hausaufgaben zu machen. Sie haben alles Recht, sich bei ihr zu beklagen.
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Es wurde dann gesagt, es gehe hier nur um das deutsche Gesetz, und dazu sagten Sie, Herr Post, das, was jetzt abgesprochen wurde, sei besser als das Schmidt-Debré-Abkommen.
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Ich verstehe es nicht ganz. Sie haben erst gesagt, Sie würden das Abkommen nicht kennen, und dann haben Sie gesagt, es sei besser als das Schmidt-Debré-Abkommen. Ja, was jetzt? Kennen Sie den Text, oder kennen Sie ihn nicht?
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Wenn Sie jetzt sagen, es ist besser als das Schmidt-Debré-Abkommen: Es war schon damals festgehalten, dass die Lieferungen nicht deutsches Gesetz verletzen dürfen. So viel anders ist das gar nicht. Eigentlich geht es um eine Rückkehr zum Schmidt-Debré-Abkommen. Das haben einige von Ihnen, unter anderem einige CDU/CSU-Abgeordnete, hier eindeutig gefordert.
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Sie haben recht, wenn Sie sagen, Herr Schmid, dass die Deutschen auch ein bisschen aufpassen müssen, dass wir auch unsere eigenen Doppelstandards hier haben. Sie haben total recht. Wir haben dagegen gekämpft, als die Regierung in die Türkei geliefert hat, egal wie diese mit ihrer eigenen Bevölkerung umgeht, egal was sie in Syrien macht. Da hat sie ihre eigenen Doppelstandards. Das ist genauso wenig okay wie das, was die Franzosen mit Saudi-Arabien machen. Sie haben recht, das ist nicht akzeptabel.
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Ja, der Stopp von Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien – Sie haben es angesprochen – war ein Alleingang,
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aber einer Ihrer Regierung. Es war unglaublich, dass Ihre Minister nicht einmal die Franzosen darüber informiert haben, sondern die Franzosen es aus der Presse erfahren haben. Das ist unverschämt. Das macht man nicht unter engen Partnern. Es ist aber Ihre Regierung, die dafür verantwortlich ist, und nicht die Grünen, die jetzt die Umsetzung von europäischem Recht einfordern.
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Damit hier kein Missverständnis entsteht: Wir sind für die deutsch-französische Kooperation. Wenn Sie dafür die Unterstützung der Bevölkerung gewinnen wollen, müssen Sie transparent und öffentlich über den entsprechenden Rahmen diskutieren. Wenn es eines gibt, was giftig für solche gemeinsamen Kooperationen ist, dann ist es Geheimniskrämerei, dann sind es Verabredungen hinter geschlossenen Türen. Das ist genau das, was die Bevölkerung an dieser Kooperation verstört. Hören Sie damit endlich auf! Wenn Sie europäische Kooperationen wollen, dann machen Sie das transparent und auch echt europäisch.
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Wir haben die Texte angefordert. Die Absprachen wurden immer noch nicht öffentlich gemacht. Ich nehme Herrn Schmid beim Wort, der ebenfalls eine Veröffentlichung gefordert hat. Es wäre wirklich an der Zeit, wenn die Bundesregierung, wenn Sie, Herr Maas, Herr Altmaier, uns den Text zukommen lassen würden, damit wir öffentlich darüber diskutieren können. Nur bei Transparenz kann man gemeinsam darüber diskutieren und Unterstützung schaffen.
Wenn Sie Paris entgegenkommen wollen, liebe Bundesregierung, dann machen Sie das doch bitte in anderen Bereichen: Klimaschutz, Digitalsteuer, Stabilisierung der Euro-Zone, höherer Beitrag für den europäischen Haushalt.
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Es gibt ganz viele Bereiche, in denen wir gemeinsame Kooperationen brauchen, wo aber Sie bremsen, wo Deutschland nicht bereit ist, voranzugehen. Auch dabei geht es um Fragen der Sicherheit Europas. Wenn wir es nicht schaffen, unseren gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum zu stabilisieren, betrifft das auch unsere Sicherheit. Aber da blockieren Sie, da machen Sie nichts. Fangen Sie endlich an, echt europäisch zu handeln.
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Als Nächstes hat das Wort der Kollege Henning Otte, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich halte es für notwendig, den Titel dieser Aktuellen Stunde vorzulesen, damit das Wesentliche nicht aus den Augen verloren wird: „Haltung der Bundesregierung zu einem vermeintlich französisch-deutschem Abkommen zur Industriekooperation im Verteidigungsbereich und etwaigen Verabredungen über Rüstungsexporte“. Mit den Wörtern „vermeintlich“ und „etwaig“ soll Unsicherheit suggeriert werden.
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Es ist ja symptomatisch, dass Die Linke schon wieder reinruft, ganz nach dem Motto: Sicher leben wir dann, wenn wir die Feuerwehr abschaffen, weil es dann kein Feuer gibt.
({1})
Eine solche Argumentation wird hier verwendet, um die Rüstungspolitik in ein gewisses Licht zu stellen.
Ich will deutlich zum Ausdruck bringen, dass wir uns dafür entschieden haben, die Peschmerga mit Ausrüstungsmitteln auszustatten, damit sie sich einem Angriff erwehren können.
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Hätten Sie Regierungsverantwortung gehabt, wären die Menschen allesamt durch die Grausamkeit des IS gestorben.
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Wir haben geholfen, und das schafft Frieden, meine Damen und Herren.
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Ich will in den Mittelpunkt stellen, worum es geht. Es geht um Gemeinsamkeit und Kooperation. Der deutsch-französische Ministerrat hat sich schon im Juli 2017 darauf verständigt, eine Koordinierung und Kooperation anzustreben. Es ist ja nicht so, dass hier keine Transparenz herrschen würde, sonst würden wir darüber im Deutschen Bundestag nicht debattieren können. Das machen wir aber gerade. Das ist auch richtig, und das ist wichtig.
Aber noch wichtiger ist, dass wir feststellen, dass sich die sicherheitspolitische Lage enorm verändert hat, leider verschlechtert hat. Es gibt einen Krisenbogen um Europa herum: von der von Russland initiierten Besetzung der Krim und dem furchtbaren Bürgerkrieg über die Grausamkeiten des syrischen Präsidenten Assad bis hin zu Unruhen und Destabilisierung im nordafrikanischen Raum. Das alles hat Auswirkungen auf uns. Vor allem erinnere ich an die gestrige Rede – so viel Erinnerungsvermögen muss erlaubt sein – des russischen Präsidenten Putin, der in seiner Rede zur Lage der Nation nicht nur deutlich gemacht hat, dass der INF-Vertrag verletzt wurde, sondern auch von einer umfassenden Modernisierung im Rüstungsbereich sprach durch Hyperschallraketen und andere Flugkörper, die für uns leider eine Bedrohung darstellen. Wir arbeiten innerhalb Europas und der NATO zusammen, weil das die Garantie für Frieden und Freiheit ist, meine Damen und Herren.
({5})
Wir streben eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik mit einem stärkeren europäischen Pfeiler im transatlantischen Bündnis an, weil wir gemeinsam agieren wollen. Es sind doch auch die Lehren der furchtbaren Krisen und Kriege, dass wir nicht national arbeiten, sondern kooperieren. Hier gibt es noch viele Verbesserungsreserven. Wir haben beispielsweise zu viele Waffensysteme in Europa und innerhalb der NATO. Hier wollen wir effizienter werden, gerade auch deswegen, weil es darum geht, Modernisierung und Digitalisierung voranzubringen.
Konkret geht es auch darum, dass wir die deutsch-französische Kooperation mit dem Future Combat Air System oder auch dem Main Ground Combat System nach vorn bringen. Das heißt, wir wollen gemeinsam Zukunft entwickeln, um deutlich zu machen: Ja, wir wollen die Verteidigungsunion in der Zusammenarbeit und Integration von Truppenteilen. Ja, wir wollen die gemeinsame Ausbildung. Wir wollen auch einen gemeinsamen Einsatz in Krisengebieten, weil wir Stabilität erzeugen wollen und weil wir uns einer wertegebundenen Sicherheits- und Außenpolitik verpflichtet fühlen. Das ist der Kern unserer Politik, meine Damen und Herren, und deswegen wollen wir auch dieses deutsch-französische Abkommen.
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Für uns ist klar, dass Rüstungsexporte auch sicherheitspolitisch begründet sein müssen. Deswegen erinnere ich noch einmal daran, dass die Grundlage das rot-grüne Abkommen von 2002 ist, das nach wie vor gilt, wonach jede Rüstungsexportentscheidung hier im Deutschen Bundestag unmittelbar bekannt zu geben ist.
Wir sagen aber auch: Es gibt Schlüsseltechnologien, die wir in unserem Land halten müssen, um auch unsere Souveränität zu wahren. Aber es geht auch darum – Stichwort „German Free“ –, dass Deutschland nicht aus gemeinsamen Projekten herausgelassen wird. Deswegen fordern wir eine Harmonisierung der Exportrichtlinien in Europa.
Meine Damen und Herren, wir leben in schwierigen Zeiten, und deswegen suchen wir die Kooperation, die Gemeinsamkeiten, um Frieden und Freiheit in Europa zu stärken, in Deutschland zu stärken, damit wir auch künftig unseren Kindern sagen können: Wir haben alles darangesetzt, die Feuerwehr – damit meine ich die Streitkräfte – so stark auszustatten, dass wir Frieden und Freiheit in Europa wahren können.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Petry für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Beginn: Für die SPD steht fest, dass es eine effektive Rüstungskontrolle geben muss und auch geben wird und dass wir keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete exportieren. Das ist ein Grundsatz; dazu steht die SPD.
({0})
Eine Debatte über etwas, was wir nicht kennen, bietet – das haben wir an den Redebeiträgen gemerkt – viel Raum für Spekulationen. Man kann etwas behaupten – man muss den Wahrheitsbeweis ja nicht antreten.
({1})
Und wenn sich nachher herausstellt, dass es nicht stimmt, nimmt man es auch nicht zurück. Man hat es einfach gesagt.
Ich erwarte, dass der Élysée-Vertrag 2.0 – oder der Aachener Vertrag – mit Leben erfüllt wird. In diesem Vertrag – lest ihn doch bitte einmal, liebe Kolleginnen und Kollegen – wird die binationale Zusammenarbeit in vielfältiger Weise geregelt: in der Wirtschaft, in der Bildung, beim Jugendaustausch, auch in der Umwelt- und Energiepolitik sowie in der Außen- und Sicherheitspolitik. Selbstverständlich – dies ist in wenigen Sätzen allgemein beschrieben – gehört dazu, dass man, wenn man dies mit Leben erfüllen will, vereinbart, was das bedeutet und wie man es umsetzen will. Ich erwarte doch geradezu, dass dazu gemeinsame Verabredungen getroffen werden.
({2})
Und ich erwarte selbstverständlich, dass wir, wenn wir über die Ratifizierung des Élysée-Vertrages, des Aachener Vertrages, reden, darüber auch inhaltlich debattieren können; das ist doch ganz klar. Aber bis dahin besteht halt mit dem Verweis auf ein angebliches Geheimpapier die Möglichkeit, Dinge einfach zu behaupten, Nebelkerzen zu werfen und Sonstiges.
Was aber sind meine Erwartungen? Ich erwarte selbstverständlich, dass sich Deutschland und Frankreich dem Gemeinsamen Standpunkt von 2008 verpflichtet fühlen.
({3})
Und ich hoffe, dass das aus dem „Geheimpapier“, wenn wir es denn dann haben, auch klar hervorgeht. – Frau Keul, nehmen Sie Ihre Aussagen zurück, wenn es darin steht? Würden Sie das dann machen?
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Ich glaube, eher nicht.
Ich erwarte, dass die Rüstungsexportregelungen wechselseitig anerkannt werden, dass natürlich von den Franzosen – da haben wir allerdings weniger Einfluss – unsere restriktiven Regelungen anerkannt werden. Auch das muss Bestandteil sein. Das erwarte ich.
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Insoweit sind wir gespannt, wenn wir über das Ganze diskutieren, wie der Élysée-Vertrag umgesetzt und mit Leben erfüllt werden wird. Diese Verfahrensregeln sind notwendig, und da handelt es sich ganz bestimmt nicht um einen Geheimpakt.
Auf den Punkt, dass wir natürlich die Inhalte debattieren werden, haben Nils Schmid und Florian Post schon hingewiesen. Und wir ratifizieren – das Verfahren läuft ja noch.
Frau Dağdelen, eines muss ich klarstellen: Wir haben aus dem Faschismus unsere Lehren gezogen. Ich bitte Sie, uns nichts Gegenteiliges zu unterstellen.
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Ich weise dies für die SPD ausdrücklich zurück. Es ist in Ordnung, wenn man ein bisschen provoziert und etwas Salz an die Suppe gibt, aber das ist ein bisschen zu dick gewesen; das muss ich zurückweisen. Selbstverständlich haben wir die Lehren gezogen. Daran orientiert sich auch unsere Politik, unsere Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere auch bei den Rüstungsexporten.
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Wir stehen für eine effektive Kontrolle, stehen dafür, sie gemeinsam mit unserem Partner Frankreich durchzuführen.
Und die revanchistischen Töne von dieser Seite hier sind hochgradig beleidigend für Frankreich; die kann man auch nicht so stehen lassen.
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Das ist nicht in Ordnung, das muss zurückgewiesen werden. Frankreich ist unser nächster Nachbar, ein ganz wichtiger Partner – wie alle Nachbarn um uns herum auch. Der Vertrag von Aachen – Élysée 2.0 – soll andere ja geradezu animieren, ähnliche Schritte zu gehen und das Zusammenwachsen Europas dadurch zu stärken. Das ist der AfD natürlich nicht recht. Frankreich haben Sie schon zum Erbfeind erklärt. Das ist Revanchismus. Das ist ganz übel, das muss man hier zurückweisen.
({9})
Letztlich sind Sie dafür bekannt.
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Wenn man aus dieser Debatte etwas Positives ziehen kann, dann das, dass wir unsere Vorstellungen darüber austauschen und unsere Standpunkte verdeutlichen. Ich glaube, seitens der SPD und auch der CDU ist das klar gemacht worden. Dass das nicht immer kongruent ist, ist auch klar. Aber letztlich werden wir auf dieser Basis – auch auf Basis unseres Koalitionsvertrages – den Vertrag von Aachen mit Leben erfüllen.
Zum Abschluss: Es bleibt bei den Politischen Grundsätzen, den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern restriktiv zu handhaben. Es bleibt dabei: Der Gemeinsame Standpunkt der EU ist die Basis. So werden wir den Vertrag mit Leben erfüllen, und ich glaube, das wird eine gute Zeit für unsere beiden Länder, wenn wir so verfahren.
Glück auf!
({11})
Vielen Dank. – Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst daran erinnern, dass im Aachener Vertrag mehrere Meilensteine im Bereich der Sicherheits- und Außenpolitik zwischen Deutschland und Frankreich vereinbart wurden: nicht nur strategische Ansätze im Bereich der Außenpolitik, sondern auch eine erweiterte Beistandsklausel im Falle des Angriffs auf einen unserer Partner, ein gemeinsames Auftreten bei den Vereinten Nationen, aber auch der Wille, im Bereich der Rüstungszusammenarbeit enger zu handeln.
Wir verfolgen derzeit das Projekt des gemeinsamen deutsch-französischen Luftabwehrsystems FCAS, Future Combat Air System. Es ist herausragend, dass sich Deutschland und Frankreich bereit erklärt haben, nicht jeder für sich ein System zu entwickeln, sondern in dem sensiblen Bereich der Luftabwehr nur noch gemeinsam zu handeln. 2040 soll dieses System starten.
Wenn wir das auch in die Herausforderung einordnen, dass wir in Europa derzeit 178 Waffensysteme haben und die Overheadkosten und die der Beschaffung einfach zu hoch sind, als dass die Europäer in diesem Bereich wirtschaftlich arbeiten könnten, dann haben wir keinen anderen als den europäischen Weg, der bedeutet, dass wir im Bereich von Rüstungsprojekten zusammenarbeiten müssen. Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist der Nukleus, der Kern, und das Vorbild für ein gemeinsames europäisches Eintreten. Darum geht es.
({0})
Ja, diese Abstimmung ist wichtig, weil unser Ziel darin besteht, gemeinsame europäische Regeln zu schaffen. Unser Ziel ist, dass Europa bei den Rüstungsexporten mit einer Stimme spricht und die Antwort auf die Frage, in welche Bereiche europäische Unternehmen exportieren können, von einer gemeinsamen Beurteilung der Sicherheitslage und der Menschenrechtslage abhängig gemacht wird. Wir müssen uns aber eben auf den Weg machen, dieses Ziel zu erreichen. Das wird nicht von heute auf morgen gehen, und wir müssen uns klarmachen, dass wir bei diesem Weg nicht allein die Position Deutschlands als allein selig machende Position ansehen können, sondern dass wir dazu auch die Abstimmung mit unseren Partnern brauchen, wie das in vielen anderen europäischen Bereichen auch der Fall ist.
Europa bedeutet nicht, dass wir allein unsere Vorstellungen zum Maßstab für das europäische Handeln machen, sondern dass wir auf der Grundlage einer Friedens- und Sicherheitsordnung gemeinsam europäische Maßstäbe entwickeln. Das wird auch im Bereich der Rüstungsindustrie der Fall sein müssen. Hier dürfen wir nicht hinter die Vereinbarungen zurückfallen, die wir schon getroffen haben. Wir dürfen nicht hinter das Schmidt-Debré-Abkommen zurückfallen, und wir dürfen uns in Europa auch nicht entsolidarisieren.
({1})
Auch unsere europäischen Partner erwarten, dass wir vertrauensvoll handeln und dass sie sich auf uns verlassen können. Sie sollen wissen: Auch wenn sich in einem europäischen Kampfpanzer oder einer europäischen Drohne Bestandteile aus deutscher Fertigung finden, scheitert das Projekt nicht an einem Einspruch durch die deutsche Regierung; denn wir wollen uns auf den Weg machen, darüber in Europa gemeinsam zu entscheiden. Ich glaube, das ist eine wichtige Botschaft, die wir im Aachener Vertrag auch im Bereich der Sicherheits- und Außenpolitik finden.
Ja, es ist viel über Souveränität gesprochen worden. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir in Europa mittlerweile natürlich eine gemeinsame, geteilte Souveränität haben. Wir haben auf der einen Seite die Souveränität der Mitgliedstaaten und auf der anderen Seite – auch aufgrund der weltpolitischen Herausforderungen – eine gemeinsame europäische Verantwortung. Die Souveränität der nationalen Mitgliedstaaten kann auf Dauer nur erhalten werden, wenn wir im europäischen Maßstab handeln und Verantwortung übernehmen. Europa schafft gerade den Raum dafür, dass Souveränität bestehen bleibt, und Europa grenzt die Souveränität nicht ein. Das ist das, was uns von Ihnen, der AfD, unterscheidet.
({2})
Ich bitte also, dass wir auch diese Frage sensibel angehen und im europäischen Maßstab begleiten. Ich glaube, dass wir dieses Abkommen zwischen Deutschland und Frankreich nicht schlechtreden dürfen, sondern wir müssen es im Interesse einer gemeinsamen europäischen Friedens- und Freiheitsordnung mit Leben erfüllen und positiv begleiten.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Dr. Ullrich. – Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Süden von Kabul liegt der größte Park der Stadt – 12 Hektar groß. Die Einwohner der Stadt treffen sich dort zum Spazierengehen, es sind Bäume gepflanzt und Sportplätze angelegt worden. Im wiederaufgebauten Chihilsitoon-Palast werden Kulturveranstaltungen angeboten. Es ist einer der Orte in Kabul, in Afghanistan – einem Land, das von Krieg und Konflikten gezeichnet ist –, an dem es relativ normal zugeht und auch relativ sicher ist.
Der Chihilsitoon-Palast spiegelt die Geschichte dieses Landes wie durch ein Brennglas wider. Er war die Sommerresidenz der afghanischen Könige, er war Präsidentenpalast und Gästehaus der Regierung. Während der sowjetischen Invasion wurde er schwer beschädigt, und die völlige Verwüstung folgte während des Bürgerkriegs der 90er-Jahre. Der ganze Garten wurde zu einer einzigen Mondlandschaft.
Die Wende kam 2015: Mit deutscher Unterstützung baute die Aga-Khan-Stiftung Garten und Palast wieder auf. Zumindest an der Stelle in Kabul kehrte Normalität zurück.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir heute, fast 18 Jahre nach dem Beginn des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan, auf denselben blicken, dann reden wir meist über die Rückschläge, die es zu verkraften galt, und von denen gab es viele. Sie stehen auch – und darüber darf man nicht hinwegblicken – in einem krassen Gegensatz zu den hochgesteckten Zielen und Erwartungen, die wir in den letzten Jahren selber hatten.
Worüber wir seltener sprechen, ist das, was sich in den letzten 18 Jahren in Afghanistan auch verändert hat: Die Jungen und Mädchen, die 2001 geboren wurden, sind die erste Generation seit Jahrzehnten, die größtenteils eine Schule besuchen kann.
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Die Lebenserwartung ist von 44 Jahre auf 62 Jahre gestiegen. Im vergangenen Oktober konnten die Menschen in Afghanistan zum dritten Mal seit dem Ende der Talibanherrschaft frei ihr Parlament wählen, und in wenigen Monaten wird die Präsidentschaftswahl folgen.
Ja, natürlich wissen wir alle: All diese Fortschritte – und das sind wirklich Fortschritte – sind fragil. Sie weisen aber alle in eine bessere Zukunft – vor allen Dingen für die Menschen, die in Afghanistan leben.
Wie groß die Sehnsucht nach Normalität dort ist, haben wir im letzten Sommer erlebt. Zum ersten Mal seit 2001 gab es rund um das islamische Opferfest eine dreitägige Waffenruhe. Familienangehörige, die sich lange nicht mehr sehen konnten, konnten sich treffen. Talibankämpfer wagten sich in die Stadt, und vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an die Bilder, die wir gesehen haben: Sie wagten sich nicht nur in die Stadt, sondern sie umarmten Soldaten, es gab Verbrüderungsszenen, und die wurden auf Selfies festgehalten, die in die ganze Welt geschickt worden sind. Das hat uns allen, glaube ich, vor allem eines gezeigt, nämlich dass in Afghanistan Frieden möglich ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es hat sich in diesem Land etwas verändert, und ich bin der festen Überzeugung, dass wir am Beginn einer neuen Phase stehen. Es gibt endlich Bewegung im Friedensprozess. Das hat mit dem mutigen Verhandlungsangebot von Präsident Ghani und den Vorgesprächen des US-Sondergesandten Khalilzad mit den Taliban zu tun.
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Das alles sind kleine Schritte; das wird auch niemand ernsthaft in Zweifel ziehen. Es wird auch damit zu rechnen sein, dass es auch weiterhin Rückschläge geben wird, aber das alles sind Schritte in die richtige Richtung.
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Dass wir erst am Anfang eines sicherlich noch langen Weges bis zu einem möglichen Friedensschluss stehen, ist überhaupt nicht in Zweifel zu ziehen, es ist aber ein Prozess. Er ist in Gang gesetzt worden, und im Moment beteiligen sich daran auch Parteien, die sich bisher noch nicht daran beteiligt haben.
Wir wissen, es führt kein Weg an der Einbeziehung der afghanischen Regierung vorbei. Aber auch da sehen wir letztlich Bewegung; denn ihre Gesprächsbereitschaft ist durch die Einberufung einer Loya Jirga, einer Großen Ratsversammlung, gerade wieder unter Beweis gestellt worden.
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Es mag sein, dass einige glauben, dass unser auch militärisches Engagement mit Beginn dieses Friedensprozesses nicht mehr benötigt wird. Aber das halte ich dann doch für eine gefährliche Illusion;
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denn gerade jetzt in dieser Phase kommt es darauf an, vor allen Dingen der afghanischen Regierung den Rücken zu stärken und so erst einen dauerhaften Friedensprozess möglich zu machen. Wenn wir erreichen wollen, dass es künftig nicht nur um Terrorismusbekämpfung geht und dass Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit nicht weiter unter die Räder kommen, dann ist die Fortsetzung unseres diplomatischen, zivilen und militärischen Engagements ganz entscheidend.
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Deshalb haben wir schon so lange Zeit in Afghanistan Verantwortung übernommen. Es ist Teil unserer Verantwortung, dass Menschenrechte – darüber gibt es in Afghanistan ganz sicherlich viel zu sprechen –, die Rechte von Frauen und Minderheiten, dass die Ansätze von Normalität in Afghanistan – die es eben gibt, wenn auch nicht überall – geschützt werden, und das wollen wir auch tun.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Wochen und Monaten ist viel über den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan spekuliert worden. Dabei ist ganz sicherlich zutreffend, dass es keinen endgültigen Plan für das gibt, was dort öffentlich proklamiert worden ist. Was zutrifft, ist, dass die Amerikaner ihr Engagement in Afghanistan zurzeit überprüfen.
Klar ist aber auch, dass wir alle Änderungen an der NATO-Mission mit den Vereinigten Staaten weiter beraten, beschließen und umsetzen wollen. Das haben wir in allen Gesprächen auf allen Ebenen in Washington und auch im Bündnis noch einmal deutlich gemacht.
({7})
Denn wir sind mit unserem Engagement und mit den Soldatinnen und Soldaten, die dort vor Ort sind, natürlich auch von der Arbeitsteilung mit den amerikanischen Streitkräften abhängig.
({8})
Meine Damen und Herren, natürlich eröffnen die Fortschritte im Friedensprozess perspektivisch die Möglichkeit, das militärische und längerfristig auch das zivile Engagement in Afghanistan nicht nur anzupassen, sondern auch zu reduzieren. Letztlich ist dies das Ziel, das wir damit verfolgen. Entsprechende Szenarien und Handlungsoptionen hat die Bundesregierung auch in dem Papier, das wir dem Bundestag zur Verfügung gestellt haben, noch einmal deutlich aufgezeigt. Für uns bleibt letztlich maßgeblich, dass alle Anpassungen in Unterstützung einer Friedenslösung erfolgen. Das ist auch der Ansatz dieser Mandatsverlängerung.
({9})
Meine Damen und Herren, die Stabilisierung eines Landes wie Afghanistan bei der Geschichte, die dieses Land hat, ist eine Generationenaufgabe. Sie erfordert strategische Geduld, und diese Geduld müssen wir aufbringen – gerade jetzt, wo es erste positive Ansätze gibt –, um die Chancen auf einen dauerhaften Frieden zu erhöhen. Dafür braucht es weiterhin den Einsatz unserer Bundeswehr, und dafür bitte ich Sie heute um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({10})
Für die Fraktion der AfD hat der Kollege Armin-Paulus Hampel das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer und Zuhörer im Deutschen Bundestag! Liebe Gäste! Man ist verleitet, Herr Minister, in Ihren eloquenten Redefluss einzufallen. Denn er war so schön, dass ich mich an Tausendundeine Nacht erinnert fühlte. Mit den Realitäten am Hindukusch – tut mir leid, Herr Maas – hat das leider nichts zu tun.
({0})
Als ich im Jahr 2003 als ARD-Korrespondent nach einigen Jahren der Abwesenheit wieder an den Hindukusch zurückgekehrt bin, bin ich mit meinem Freund, dem damaligen General Friedrich „Fritze“ Riechmann, Leiter des Einsatzführungskommandos, durch das deutsche Camp Warehouse in Kabul gegangen, und er zeigte mir stolz die ganzen Einrichtungen, die die Deutschen innerhalb von kurzer Zeit geschaffen hatten.
Unter anderem fiel mir auf, dass überall 10-Stundenkilometer-Schilder standen. Ich habe gelernt, dass die deutschen Fahrzeuge den ASU-Test bestehen müssen, und es war eine Einheit der Militärpolizei unterwegs, die Geschwindigkeitskontrollen vorgenommen hat – mit Blitzern. Als ich wenig später draußen auf die Dschalalabad Road fuhr, knatterte gerade ein afghanischer Russen-Truck mit Vollgas an mir vorbei, und eine Riesendieselwolke qualmte in den afghanischen Himmel.
({1})
Das war die Realität, im Gegensatz zu unserem Traum, Herr Kollege, wie wir uns Afghanistan vorstellen. Die Afghanen selber haben es sich nie so vorgestellt, meine Damen und Herren. Alles, was wir uns in dem Petersberger Abkommen auf die Fahne geschrieben haben – ich zitiere: staatliche Institutionen wiederherstellen, den Konflikt in Afghanistan beenden, nationale Aussöhnung, dauerhaften Frieden und Stabilität, Menschenrechte achten, Souveränität und territoriale Unversehrtheit Afghanistans gewährleisten –, ist in fast 18 Jahren nicht erfüllt worden. Herr Minister, wie viel Geduld soll man denn in Deutschland nach 18 Jahren dieses Einsatzes noch haben?
({2})
Wenn Sie dann die Entscheidungen, die in den vergangenen Jahren – oder Jahrzehnten, muss man jetzt schon sagen – getroffen worden sind, mit der Realität in Afghanistan vergleichen, dann zeigt sich: Wir haben alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte. Wir haben eine Hauptstadt Kabul entwickelt, die nie eine Hauptstadt war. Der König von Afghanistan war ein Mittler, aber nie ein herrschender Monarch. Wir haben eine zentrale Macht geschaffen, die vorher in Afghanistan nicht existierte. Es waren die unterschiedlichen Volksgruppen, die sich organisiert und abgesprochen haben. Das Stammessystem ist auch heute noch so ausgeprägt wie zuvor. Die Maliks, die Dorfälteren, haben das Sagen, und wir haben versucht, es mit Parlamentariern und einer Verfassung zu toppen, die in Afghanistan leider keinen Erfolg hat, weil die Menschen dort anders denken als wir in unserer Region.
Mir hat sogar mal eine Vertreterin der Friedrich-Ebert-Stiftung gesagt – da fühlen sich die Sozialdemokraten vielleicht angesprochen –, dass es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen sei, gleich ein Parlament, eine Verfassung und so weiter zu erschaffen. Vielleicht hätte man auf die alten Stammesstrukturen zurückgreifen sollen, um dort einen friedlichen Prozess einzuleiten.
Wir haben noch viel mehr gemacht. Ich habe damals in meiner Korrespondentenzeit immer wieder Besucher aus Deutschland, aber auch von den NATO-Streitkräften bei den übelsten Verbrechern erlebt, die dieses Land zu bieten hat, ob das Atta in Masar-i-Scharif war, der da heute sitzt – General Dostum saß vorher dort – oder ein schwerstkrimineller Drogenhändler in Kunduz. Mit diesen Warlords haben wir versucht, in Afghanistan Frieden herzustellen. Was Schlimmeres konnten Sie diesem Land nicht antun. Und glauben Sie mir: Im Parlament sitzen keine anderen als die Vertreter der Warlords, die heute noch in Afghanistan die Strippen ziehen und alles dominieren. Von Demokratie keine Spur, Herr Minister.
({3})
Wirtschaftliche Entwicklung? Ja, in Kabul hat es sie gegeben. Da sind Milliarden hineingeflossen. Das Blöde ist: Es ist nie etwas herausgeflossen, zumindest nicht aus der Hauptstadt. Das Land selber ist im gleichen Zustand wie zuvor, nur dass wir selbst da nicht mehr präsent sind. Vom Camp Warehouse aus sind wir nach Kunduz, Faizabad und Masar-i-Scharif gegangen. Heute haben wir noch eine letzte Position in Masar-i-Scharif. Und für die, die es vielleicht noch nicht wissen: In dem gesamten Afghanistan-Einsatz hat von zehn Bundeswehrsoldaten ein einziger Afghanistan kennen gelernt. Neun Soldaten sind nie aus ihren Camps herausgekommen.
Wir haben eine Struktur geschaffen, die die Afghanen nicht nur ablehnen, sondern bekämpfen, und das in Form einer furchtbaren und grausamen Guerilla, der Taliban, die heute wieder weit über 50 Prozent des Landes kontrollieren. Da hat der ganze militärische Einsatz keinen Sinn gemacht, und die Resultate, die wir heute haben, zerfließen wie in einer Sanduhr.
Aber wir haben eines, meine Damen und Herren: Wir haben über 54 tote Soldaten, und wir haben mehr als ein Dutzend zivile Opfer aus Deutschland zu beklagen. Wo ist das politische Interesse Deutschlands am Hindukusch? Meine Damen und Herren, es gibt keinen Frieden am Hindukusch, und wir haben dort nichts zu suchen. An die Adresse beider Minister sage ich: Holen Sie die Jungs nach Hause!
Danke schön.
({4})
Ich erteile das Wort der Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Hampel, wenn man Ihnen zuhört, wird deutlich: Erstens. Sie ignorieren, dass nicht nur Soldaten, sondern auch Soldatinnen einen hervorragenden Einsatz am Hindukusch leisten.
({0})
– Ja, spotten Sie nur über unsere Soldatinnen! Das zeigt, wes Geistes Kind Sie sind.
({1})
Zweitens. Wenn Ihre sonderbare Anekdote aus dem Jahr 2003 alles ist, was Ihre Argumentation unterfüttert, dann kann ich nur sagen: Das ist dürftig. Ihr düsterer Blick auf Afghanistan, der diesem Land auch jegliche Form von Entwicklung abspricht, trieft nur so von Unwissenheit und Vorurteilen, und es gibt null Lösungsvorschläge. Die Afghanen haben mehr verdient als diesen düsteren Blick.
({2})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen im Hause, die bereit sind, über eine Lösung und einen Fortschritt in Afghanistan zu sprechen: Wir haben letzte Woche beim NATO-Verteidigungsministertreffen in Brüssel dieses Thema ausführlich und intensiv besprochen: die Lage in Afghanistan, aber natürlich auch die Weiterentwicklung des Mandates Resolute Support Mission.
Es war gut, sich noch einmal zu vergewissern, dass die schaurigen Anschläge von 9/11 der Auslöser dafür waren, dass das erste und einzige Mal Artikel 5 des NATO-Vertrages gezogen worden ist, und wir alle unseren amerikanischen Freunden zur Seite standen und heute noch zur Seite stehen. Damals haben wir diesen Einsatz unter dem Grundsatz – Sie kennen ihn alle – „Ge meinsam rein, gemeinsam raus“ begonnen. Deshalb haben wir mit unseren amerikanischen Freunden in Brüssel sehr intensiv darüber gesprochen, dass dies auch beinhaltet: gemeinsam analysieren, gemeinsam die Mission weiterentwickeln und somit auch gemeinsam entscheiden.
Wir alle sind der Meinung gewesen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte noch nicht in der Lage sind, ganz alleine Sicherheit für ihre Bevölkerung herzustellen. Das heißt, die Lage in Afghanistan bleibt weiter schwierig, und unsere Hilfe ist weiter vonnöten. Wir sehen das am zähen Ringen in vielen Provinzen, vor allem auch im Norden. Zwei Drittel der Bevölkerung sind durch die afghanischen Sicherheitskräfte geschützt; aber sie zahlen einen hohen Zoll dafür, ganz ohne Zweifel, und wir sind noch lange nicht am Ziel.
Es gibt aber auch die lange Linie. Die Zahlen, die Heiko Maas eben genannt hat, zeigen, dass sich die Dinge langsam, aber sicher in die richtige Richtung entwickeln. In der Spitze war die internationale Gemeinschaft im Rahmen von ISAF mit 150 000 Soldatinnen und Soldaten dort im Einsatz. Heute sind es nur noch 15 000. Wir sind immer noch nicht am Ziel; aber wir gehen in die richtige Richtung: Die afghanischen Sicherheitskräfte sind immer mehr in der Lage bzw. werden immer mehr in die Lage versetzt, die Sicherheit des Landes selbstständig aufrechtzuerhalten.
Auf der langen Linie zählen für die Bevölkerung im Alltag noch ganz andere Dinge – das sollten wir nicht vergessen –: Die Wirtschaft hat sich in den letzten 18 Jahren deutlich besser entwickelt. Ich bin dankbar für die Beispiele, die Heiko Maas eben angebracht hat. Ich will einige ergänzen, die zeigen, was sich im Leben der Menschen verbessert hat:
Die Kinder- und Säuglingssterblichkeit ist deutlich gesunken. Das ist ein Indikator für bessere Lebensbedingungen und ein Indikator für eine bessere Gesundheitsversorgung im Land.
Das Thema Bildung darf nicht unterschätzt werden. Es hat eine große Bedeutung für dieses Land. Ein Großteil der älteren Generation in Afghanistan zählt zu den Analphabeten; diese Menschen haben keine Chance, sich selber zu informieren. Die junge Generation, diejenigen, die heute 18 Jahre und jünger sind, geht zur Schule. Ganz viele Mädchen sind dabei; undenkbar vor 18 Jahren. Diese jungen Menschen können lesen und schreiben. Das heißt, sie können sich Informationen besorgen, und sie können sich eine Meinung bilden. Das nimmt ihnen in ihrem Leben niemand mehr, und das ist ein ganz großer Fortschritt, den wir gemeinsam erreicht haben.
({3})
Dementsprechend haben wir jetzt auch eine vielfältigere Medienlandschaft im Land. Es passt uns nicht alles, was berichtet wird; aber diese vielfältige Medienlandschaft trägt zu einer positiven Entwicklung bei.
In der Tat haben die Afghanen ihre Parlamentswahlen selbstständig organisiert und abgesichert. Es hat eine dreitägige Waffenruhe gegeben.
Das alles zeigt, wie sehr die Menschen in Afghanistan den Wunsch nach Frieden und Fortschritt in ihrem Herzen tragen. Die Tatsache, dass im März eine Loya Jirga einberufen wird, um die Fortschritte im Friedensprozess breit zu diskutieren, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Afghanistan sich in die richtige Richtung entwickelt. Ich weiß, dass die Ebene der Gespräche – nämlich mit den USA und den Taliban – noch nicht die Ebene ist, die wir erreichen müssen. Wir haben in Brüssel sehr klar besprochen, dass ein echter Friede nur ein afghanischer Friede sein kann, das heißt, dass die afghanische Regierung und die Taliban, die bereit sind, zu sprechen, an einen Tisch gehören und dass das Ergebnis von der gesamten Gesellschaft getragen werden muss.
In der vergangenen Woche haben wir in der NATO auch über das Engagement im Rahmen von Resolute Support Mission gesprochen. Wir Deutsche tragen als zweitgrößter Truppensteller eine breite Verantwortung für den Norden, mit 20 anderen Nationen zusammen. Wir haben viel erreicht, nicht nur im Bereich der Ausbildung, sondern wir haben zum Beispiel auch ein digitales Besoldungssystem für die Sicherheitskräfte eingeführt; das ist ein Schritt im Kampf gegen die Korruption. Wir haben Fortschritte erreicht bei der Qualität der militärischen Führung, der Spezialkräfte und der afghanischen Luftwaffe. Bei all diesen Themen wäre es vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen, dass die Afghanen in wenigen Jahren solche Fortschritte in diesen Bereichen machen.
Unsere Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr haben sehr stark dazu beigetragen. Ich glaube, das ist der richtige Augenblick, ihnen gemeinsam Dank und Respekt zu zollen. Was sie in diesem Einsatz leisten, das ist außergewöhnlich, das ist hochprofessionell, und das zeigt die Treue zur Aufgabe, wofür wir von ganzem Herzen danken.
({4})
Ich möchte noch einen Punkt anbringen, der mir wichtig ist. Das deutsche Engagement zeigt vor allen Dingen immer wieder die Breite des vernetzten Ansatzes, für den wir aus tiefer Überzeugung stehen. Heiko Maas hat eben die Vielfältigkeit dieses vernetzten Ansatzes geschildert. Man kann das in eine beeindruckende Zahl fassen: Seit 2001 hat Deutschland für humanitäre Hilfe, für wirtschaftliche Entwicklung und für den Wiederaufbau dieses Landes über 4 Milliarden Euro eingesetzt. Wir sind der festen Überzeugung, das ist gut eingesetztes Geld. Wir bitten heute um die Fortsetzung dieses Mandates.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Für die Fraktion der FDP hat das Wort die Kollegin Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann.
({0})
Sehr verehrter Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! Der NATO-Rat hat einen Tag nach dem 11. September 2001 den Angriff auf die Vereinigten Staaten zu einem Angriff auf die NATO-Staaten erklärt und damit zum ersten Mal in der Geschichte der NATO den Bündnisfall nach Artikel 5 ausgelöst. Das ist siebzehneinhalb Jahre her. Seit diesem Augenblick wurde dieses Mandat mit unterschiedlichen Schwerpunkten – wohlgemerkt: immer multilateral – verlängert. Das war immer wieder, auch für dieses Haus, eine schwere Entscheidung.
Wenn man den Text des vorliegenden Antrags liest, hat man den Eindruck: Heute bemüht sich die Bundesregierung – das Auswärtige Amt ist federführend – nicht einmal mehr, den Mandatstext der aktuellen Lage im Land anzupassen.
({0})
Nur das Datum wird aktualisiert, und ein paar Textbausteine werden hinzugefügt. Es wird kein Szenario skizziert, was passieren soll, wenn der Präsident der Vereinigten Staaten, der Lead Nation, seinem Tweet Taten folgen lässt und seine Truppen peu à peu aus Afghanistan abzieht und damit natürlich nicht nur die Rahmenbedingungen verändert, sondern auch dem Einsatz schlichtweg die Geschäftsgrundlage entzieht. Unverständlich ist uns auch, warum dieses Mandat nicht für erst einmal sechs Monate verlängert wird, auch wenn es natürlich unangenehm und ein bisschen lästig ist, sich immer wieder hier vor dem Parlament und vor den Soldatinnen und Soldaten zu rechtfertigen; denn bis heute fehlt jede Exitstrategie.
({1})
Meine Damen und Herren, warum dieser Einsatz bis heute trotz mehrfacher Aufforderungen und Wunsch der Opposition nie evaluiert worden ist, ist uns schleierhaft.
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Ich frage die Bundesregierung: Haben Sie eigentlich im Laufe der letzten Jahre einmal kritisch hinterfragt, ob unsere westlichen Vorstellungen von kulturellen Werten und rechtsstaatlichen Prinzipien – diverse Gesellschaft, Gleichberechtigung, ja, auch Zugang zu Bildung – Maßstab für die Menschen in Afghanistan ist? Hat sich die Bundesregierung einmal gefragt, ob sie angesichts der allgemeinen Herausforderungen an Material und Personal ihrer Fürsorgepflicht gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten in diesem Einsatz noch nachkommen kann, und das in einer ja nicht gerade beruhigten militärischen Situation?
Um das an dieser Stelle auch zu sagen: Die Anträge der Fraktionen rechts und links in diesem Hause, Afghanistan umgehend zu verlassen, sind unseriös – das wissen Sie auch –; denn ein überstürzter Abzug ist in der Kürze der Zeit rein praktisch gar nicht machbar. Übrigens wäre er falsch. Es wäre auch unseren NATO-Verbündeten nicht zu vermitteln, wenn wir ohne Rücksprache mit ihnen einfach so gehen; denn das Prinzip ist, gemeinsam rein- und auch gemeinsam wieder rauszugehen.
({3})
Das wäre auch falsch, da sich gerade jetzt Friedensgespräche anbahnen – darauf wurde hingewiesen –, an denen sich auch gemäßigte Taliban beteiligen, leider jedoch noch nicht die Regierung in Afghanistan. Aber möglicherweise lassen sich erstmals föderale politische Antworten finden. Vielleicht tut sich eine Chance auf, dass Afghanistan in Zukunft kein Rückzugsort mehr für Terrorgruppen ist. Letzteres, meine Damen und Herren, ist auch wichtig für die Bundesrepublik Deutschland; denn das berührt uns unmittelbar.
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Ja, es ist sehr viel in Bewegung. Die Regierung bewegt sich in Zeitlupe. Federführend – ich sagte das, Herr Maas – ist das Auswärtige Amt, und – korrigieren Sie mich! – ich glaube, dass Sie als Außenminister bisher noch nicht einmal in Afghanistan waren. Das ist angesichts Ihrer blumenreichen Ausführungen ein erstaunlicher Vorgang. Vor einem Jahr waren wir noch milder, weil Sie gerade angefangen hatten.
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– Ja, aber Reisen und mal vor Ort zu gucken, was ist, bildet. Da muss man sagen: Ihre Kollegin, die Verteidigungsministerin, die sehr oft dort war, ist da schon ein anderes Kaliber.
Wir als Fraktion werden über die Verlängerung des Mandates mit aller Sorgfalt diskutieren. Wie auch immer wir uns entscheiden werden – denn es ist wichtig, eine Entscheidung zu treffen –: Die Zeiten, meine Damen und Herren, eines Weiter-so gehen langsam, aber sicher zu Ende.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Stefan Liebich.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Für ein weiteres Jahr sollen 1 300 Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan geschickt werden. Das Ganze soll 361 Millionen Euro kosten. Nun ist die Bundeswehr bald 20 Jahre am Hindukusch. Wir finden, jedes weitere Jahr ist eines zu viel.
({0})
Das, was wir hier von Heiko Maas und Ursula von der Leyen gehört haben, kann man nur als Gesundbeterei bezeichnen. Das war doch der Blick durch die rosarote Brille.
({1})
Sie kennen unsere generellen Argumente; aber dieses Jahr gibt es natürlich ein neues. Frau Strack-Zimmermann hat damit schon begonnen, und ich will es hier fortsetzen. Heiko Maas sagte neulich:
In Washington hat man mir zugesagt, dass wir in die US-Planungen frühzeitig eingeweiht werden. Dann werden wir uns ansehen, was das für unseren Auftrag bedeutet.
Das glauben Sie doch selber nicht.
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Sie haben doch gesehen, wie Donald Trump agiert – „frühzeitig eingeweiht“ in die Pläne so wie bei Syrien damals.
Ich vermute, es wird wie folgt kommen: Irgendwann in den nächsten Wochen wird hier gegen Mittag ein Tweet eintrudeln, weil dann in Washington Morgen ist, und dann wird Donald Trump mitteilen, was er tut. Und das wird nicht auf Plänen beruhen; denn Donald Trump hat gar keine Pläne für Afghanistan. Er irrlichtert durch die internationale Politik und auch durch die Afghanistan-Politik.
Ich werde hier auch ein paar Tweets hinzufügen. Im Jahr 2012 sagte Trump:
Warum bilden wir diese Afghanen weiter aus, die dann unseren Soldaten in den Rücken schießen? Afghanistan ist eine komplette Verschwendung. Es ist Zeit, nach Hause zu kommen!
Fünf Jahre später heißt es dann:
Ein überstürzter Rückzug würde ein Vakuum für Terroristen schaffen … Unsere Truppen werden um den Sieg kämpfen. Wir werden kämpfen, um zu gewinnen. Der Sieg wird von nun an klar definiert – Feinde angreifen, ISIS auslöschen, al-Qaida zerstören, die Taliban daran hindern, Afghanistan zu übernehmen …
Und jetzt, Anfang dieses Jahres, heißt es, er wolle die Truppen in Afghanistan reduzieren und die Mission letztlich ganz beenden. Und das Schärfste ist, dass die US-Regierung vorbei an der afghanischen Regierung, die hier so gelobt wird, mit den Taliban verhandelt. Wer weiß, was da am Ende für ein Deal herauskommt und ob dann all die von Ihnen genannten Dinge, die sich positiv entwickeln – gerade für Frauen und Mädchen –, überhaupt noch Bestand haben werden? Und wir machen bei diesem Zickzackkurs einfach immerzu mit.
({3})
Ich finde, da war die Bundeskanzlerin deutlich klarer als Sie beide, als sie sagte:
Ich möchte wirklich nicht erleben, dass wir dann eines Tages dastehen und einfach weggehen müssen, da wir dort sehr vernetzte Kapazitäten haben.
Genau so wird es kommen.
Ich will an dieser Stelle auch mal sagen: Die Soldatinnen und Soldaten haben nichts von Ihrem netten Beifall und den Respektbekundungen hier. Sie brauchen einen verlässlichen Plan, an dem sie sich orientieren können; denn sie zahlen mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben den Preis für dieses Durcheinander. Das gilt im Übrigen auch für die afghanischen Sicherheitskräfte – sie sterben in diesen Auseinandersetzungen in Massen –
({4})
und die afghanische Zivilbevölkerung. Im letzten Jahr sind 20 000 Menschen in diesem furchtbaren Krieg ums Leben gekommen. Das sind mehr als in Syrien. Ich kann da wirklich keine positive Entwicklung erkennen.
({5})
Und wie meist, sind natürlich besonders Frauen und Mädchen betroffen. In ihrer Bewerbung für den UN-Sicherheitsrat hat die Bundesregierung gesagt, dass „Frauen, Frieden und Sicherheit“ ein zentrales Thema sei. Hier merkt man nichts davon.
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Uneingeschränkte Solidarität mit den USA – das war damals, im Jahr 2001, das Thema. Und jetzt, wo die USA selber nicht mehr wissen, was sie wollen, können wir auf dieser Basis doch wirklich nicht 1 300 vor allem junge Leute in diesen Krieg schicken.
Ich muss die SPD ansprechen. Am Ende der letzten Wahlperiode war es so, dass Ursula von der Leyen Sie mit dem Argument überzeugt hat, es würden immer weniger Soldatinnen und Soldaten. Noch zum Beginn dieser Wahlperiode hat sie gesagt, wir würden die Tausendergrenze nicht überschreiten. Jetzt sind es 1 300 Soldatinnen und Soldaten. In der Phase, in der über Jamaika verhandelt wurde, habe ich einige von Ihnen getroffen, die gesagt haben: Na ja, jetzt, wenn wir in der Opposition sind, können wir endlich einen Kurswechsel in der Afghanistan-Politik vornehmen. – Nun hat es mit Jamaika nicht geklappt und mit Ihrem Nein auch nicht. Sie von der Sozialdemokratie haben es in der Hand – auf die Union setze ich dort nicht –, diesen Irrsinn zu beenden. Darum bitte ich Sie recht herzlich.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Agnieszka Brugger.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit nun fast 18 Jahren diskutieren wir über die verschiedenen Einsätze in Afghanistan, und seit Jahren drückt sich die Bundesregierung um eine ganz zentrale Frage. Die Fakten sind leider deprimierend: Die Sicherheitslage in Afghan istan hat sich auch in den letzten Jahren noch einmal verschlechtert, nur etwa die Hälfte des Landes ist unter Kontrolle der afghanischen Sicherheitskräfte, es fehlen Erfolge bei der Ausbildung, vor allem ist das politische Vertrauen auf allen Seiten verspielt, und nun kommt auch noch der wirre Trump-Tweet, mit dem der größte Truppensteller den Abzug eigentlich schon angekündigt hat.
Da stellt sich doch schon lange die Frage, was man in diesem Einsatz unter diesen Rahmenbedingungen eigentlich noch realistisch erreichen kann – auch mit dem besten Willen.
({0})
Ich sage das gar nicht mit der Häme, die wir hier bei einigen in dieser Debatte gehört haben; denn mich bedrückt das sehr, gerade wenn ich an die 18 Jahre Einsatzrealität in Afghanistan und an die Menschen in Afghanistan denke.
Und ja, uns Grünen missfällt natürlich auch zutiefst, wie Donald Trump hier Außen- und Sicherheitspolitik betreibt; aber seine falsche und wirre Politik geht ja nicht dadurch weg, dass man sie einfach ignoriert, so wie Sie es in Ihren Reden getan haben. Im Gegenteil: Man muss ihr kluge und vernünftige Vorschläge und Pläne entgegenstellen.
Einmal mehr wird deutlich, wie wichtig es eigentlich gewesen wäre, diesen Einsatz schon vor Jahren unabhängig zu evaluieren, über die eigenen Ziele und auch über eine kluge Abzugsperspektive zu sprechen.
({1})
Aber stattdessen haben Sie einfach beschlossen, diese zentrale Frage auszusitzen.
Auch etwas anderes haben Sie einfach ausgesessen – und das tun Sie nach wie vor –: Die Bundesregierung hat einfach viel zu lange zur absolut falschen US-amerikanischen Eskalationsstrategie der letzten Jahre geschwiegen –
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zu den Geheimoperationen, zu den Luftangriffen, zu dem Prahlen mit Bombenabwürfen von Donald Trump, der die Eskalationsstrategie ja noch hochgefahren hat und damit auch die Ziele der Ausbildungsmission hintertrieben hat.
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Das rächt sich nun ganz besonders; denn Sie waren überhaupt nicht darauf vorbereitet, als diese Tweets kamen, weil Sie eben selbst nie diskutiert haben, wie eine verantwortungsvolle Abzugsperspektive aussehen kann.
Und ja, wenn die USA sich komplett zurückziehen, dann muss auch die Bundeswehr gehen. Aber das ist keine politische Aussage, sondern einfach nur eine Anerkennung militärischer Realitäten. Was wir endlich brauchen, ist eine Diskussion über ein verantwortungsvolles Ende und vor allem auch darüber, was danach kommt und wie man Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit – auch aus der Verantwortung der Vergangenheit heraus – über die nächsten Jahre sicherstellen kann.
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Sie von der Bundesregierung legen in dieser Lage einfach nur das alte Mandat noch einmal neu vor. Immerhin: Sie laden jetzt zu einer Friedenskonferenz nach Deutschland ein. Das ist richtig, und wir begrüßen das; denn am Ende können nur politische Verhandlungen zu einer Lösung führen. Aber die Frage, die ich mir stelle, ist: Warum eigentlich erst jetzt? Wo waren denn in den letzten Jahren diese diplomatischen Initiativen? Warum haben wir davon nichts gesehen?
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Die Afghanistan-Politik dieser Bundesregierung, meine Damen und Herren, kennt vor allem zwei Dinge: Aussitzen und Abschieben. Ich glaube, wir erinnern uns noch alle, wie sich Horst Seehofer als Innenminister an seinem 69. Geburtstag über die 69 Abschiebungen nach Afghanistan gefreut hat. Das war mit das Zynischste,
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was ich in der Politik der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode gesehen habe.
Mittlerweile sind fast 500 Menschen nach Afghanistan abgeschoben worden. Und ganz ehrlich: Ich nehme auch Ihnen, Herr Maas, und Ihnen, Frau von der Leyen, die große Sorge über die ganz schwierige Lage in Afghanistan nicht ab, wenn Sie gleichzeitig in ein Land abschieben,
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das nicht sicher ist und in dem die Menschen doch wieder in Lebensgefahr kommen. Wir Grüne können Sie nur auffordern, diese Abschiebungen endlich zu stoppen;
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denn Afghanistan ist nun mal nicht sicher.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Dr. Reinhard Brandl, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Leitsatz der NATO zu Afghanistan lautet: „together in, together out“. Das ist auch unsere deutsche Position. Für kein anderes Land in der Welt hat Deutschland in den letzten Jahren so viel investiert wie für Afghanistan. Das gilt für den militärischen Einsatz. Das gilt aber auch für die zivile Entwicklungshilfe. Die Summe von 4 Milliarden Euro in den letzten 18 Jahren ist eben genannt worden.
Meine Damen und Herren, in dieser Zeit, in diesen 18 Jahren, ist in Afghanistan fast eine ganze Generation junger Afghanen geboren worden. Auch wenn in Afghanistan im Moment noch vieles im Argen liegt: Es geht dieser Generation besser als allen Generationen in Afghanistan zuvor. Bildung, Gesundheitsversorgung, Lebenserwartung: All das ist auf einem höheren Niveau als jemals zuvor in der Geschichte dieses Landes.
Aber jetzt kann man natürlich sagen: Ja, aber die Drogen, der Terror, die Armut, die Korruption! All das ist in Afghanistan immer noch allgegenwärtig. Auch nach 18 Jahren Einsatz in Afghanistan sind die Probleme nicht gelöst. – Ja, das stimmt. Aber trotzdem bin ich der Überzeugung, dass es dem Land eher gelingt, diese Geißeln abzuwerfen, wenn wir an der Seite der Afghanen noch eine Weile bleiben, als wenn wir alleine und verfrüht abziehen, meine Damen und Herren.
Das ist der erste Grund, warum ich für dieses Mandat bin. Es gilt der Satz: ohne Sicherheit keine Entwicklung. Wir müssen feststellen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht haben. Die Ministerin hat vorher von der afghanischen Luftwaffe gesprochen. Die gab es vorher gar nicht. Aber die Afghanen sind noch nicht in der Lage, dauerhaft eine selbsttragende Sicherheit herzustellen. Solange sie dazu nicht in der Lage sind, müssen wir ihnen noch weiter zur Seite stehen, sonst riskieren wir alles, was wir in den vergangenen Jahren aufgebaut haben. Das ist der erste Grund.
Der zweite Grund ist, dass wir mit der Verlängerung dieses Mandats eine Botschaft an die junge Generation senden: Wir lassen euch nicht im Stich. Wir bleiben an eurer Seite. Wir helfen euch, euer Land aufzubauen. Wir glauben an die Zukunft Afghanistans. – Meine Damen und Herren, das Einzige, was diese Menschen in ihrem Land hält, ist nicht die Situation, wie sie heute ist, sondern es ist die Perspektive, dass es in Zukunft besser wird. Wenn wir jetzt das Signal senden: „Wir ziehen aus Afghanistan ab, wir lassen das Land im Stich, wir glauben nicht mehr an die Zukunft des Landes“, dann senden wir das falsche Signal. Dann wird die Menschen auch nichts mehr in diesem Land halten.
Der dritte Grund, den ich heute nennen will, warum ich weiter für dieses Mandat bin, ist, dass damit auch eine Botschaft an die Taliban verbunden ist. Die Botschaft lautet: Ihr werdet mit eurem Terror das Land nicht zurückgewinnen!
({0})
– Ja, Herr Trittin, das ist die Situation. Frieden in Afghanistan wird es nur am Verhandlungstisch geben.
Damit Verhandlungen Erfolg haben, brauchen wir zwei Dinge. Wir brauchen auf der einen Seite Geduld und einen langen Atem. Auf der anderen Seite müssen auch die äußeren Rahmenbedingungen stimmen. Wenn die Taliban das Gefühl haben, wir würden sowieso irgendwann abziehen, sie müssten nur warten, bis wir weg wären, danach fiele ihnen das Land quasi von selbst wieder zu, dann gibt es doch überhaupt keinen Grund, warum sie sich auf eine politische Lösung einlassen sollten. Aus diesem Grund müssen wir das Signal senden: Wir bleiben so lange, wie die Afghanen brauchen, um die Sicherheitslage selbst herzustellen. Wir zielen auf eine politische Verhandlungslösung.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, „together in, together out“, das ist die Maxime der NATO. Das ist auch unsere deutsche Position. Unsere Position ist nicht „forever in“. Das heißt, auch uns wäre es natürlich recht – das ist unser Ziel –, dass wir die Zahl unserer deutschen Soldaten weiter reduzieren und die Soldaten irgendwann ganz abziehen können und in Afghanistan am Ende nur noch zivile Entwicklungshilfe nötig ist.
Aber unsere Botschaft ist auch: Wir machen das nicht alleine. Wir machen das in enger Abstimmung – „together“ – mit unseren Bündnispartnern. Wir machen es abhängig von der Situation. Im Moment lässt es die Situation noch nicht zu. Wir bleiben deswegen weiter in diesem Land. Ich bitte Sie um Zustimmung für dieses Mandat. Afghanistan braucht uns noch. Wir lassen die Menschen nicht im Stich.
Jetzt danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brandl. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 19/7726, 19/7937 und 19/7908 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Für die SPD ist in dieser Frage klar: Sicherheit für die Menschen hat oberste Priorität. Für uns ist aber auch genauso klar: Der Wolf ist ein heimisches Wildtier.
({0})
Deswegen stehen wir für den Weg, vernünftige Lösungen dafür zu finden, wie wir das Zusammenleben zwischen Wolf und Mensch organisieren können.
({1})
Liebe Liberale, Sie stehen ganz offensichtlich nicht für diesen Weg. Ihr Antrag mit der reißerischen Überschrift zeigt, dass Sie gemeinsame Sache mit den Hetzern der AfD machen.
({2})
Das sollten Sie sich echt gut überlegen.
({3})
– Fragen Sie den Kollegen Busen, was er in der „Bild“-Zeitung zum Besten gegeben hat. Schauen Sie sich an, was für eine Berichterstattung wir in den letzten Tagen dazu gehabt haben. Sie spielen mit den Ängsten. Das ist ein billiges Wahlkampfmanöver mit vermeintlich einfachen Lösungen, durchsichtig und unredlich. Dafür sollten Sie sich schämen!
({4})
Kolleginnen und Kollegen, worum geht es denn eigentlich? Nach mehr als 100 Jahren ist der Wolf in seine Heimat zurückgekehrt. Deswegen ist es richtig, dass wir manche Dinge neu lernen müssen, dass wir das Zusammenleben neu organisieren müssen.
({5})
Dazu sind wir auch immer für Gespräche offen. Für diese Gespräche lassen Sie mich drei Feststellungen machen.
Erstens. Der Wolf ist und bleibt ein streng geschütztes Tier, und zwar nicht nur nach deutschem Naturschutzrecht, sondern auch nach europäischem Naturschutzrecht.
({6})
Deswegen ist es überhaupt keine Lösung, wie Sie in Ihrem Antrag fordern, den Wolf einfach ins Jagdrecht aufzunehmen. Damit werden Sie nicht erreichen, dass der Wolf geschossen werden kann; denn der Schutzstatus ist und bleibt erhalten. Der gute Erhaltungszustand ist noch lange nicht erreicht.
({7})
– Sie wissen das.
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Sie haben das in Ihrem Antrag sogar selber geschrieben. Lesen Sie einmal den Antrag. Genau dieser Passus steht da. Er hindert Sie aber nicht daran, danach die Forderung zu erheben, dass wir beschließen sollen, den Wolf ins Jagdrecht aufzunehmen. Das ist tatsächlich eine reine Augenwischerei.
({9})
Im Übrigen: Selbst mit einer Aufnahme des Wolfs ins Jagdrecht würden Sie kein einziges Schaf vor Rissen schützen. Wie soll das denn funktionieren? Halten Sie dann dem Wolf Ihre Jagdscheine vor? Das wird nicht funktionieren.
({10})
Zweite Feststellung. Schon heute können Problemwölfe geschossen werden.
({11})
– Sie sagen es. Genau in diesen Tagen haben wir einen solchen Fall.
({12})
– Herr Hocker, stellen Sie wenigstens eine Frage. – Also, schon heute haben wir die Situation, dass in Schleswig-Holstein ein Wolf von den Landesbehörden zum Abschuss freigegeben wurde, weil er sich den Menschen genähert hat, weil er wiederholt Schutzmaßnahmen überwunden hat. Deswegen brauchen wir da keine neue Regelung. Der Wolf ist ein heimisches Tier, das eine wertvolle Funktion als Gesundheitspolizei des Waldes erfüllt.
Herr Kollege, der Kollege Hocker würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie das?
Ja bitte, gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege Träger, dass Sie mir erlauben, diese Zwischenfrage zu stellen. – Sie haben eben erklärt, dass das Abschießen einzelner Tiere ja bereits wunderbar funktioniert. Ich möchte Sie fragen, ob Sie mit mir einer Meinung sind, dass es alles andere als wunderbar ist, was Ihr Parteikollege Olaf Lies als Umweltminister in Niedersachsen gerade erleben muss. Er hat die Anweisung zum Abschuss eines Tieres erteilt. Dennoch musste durch ein Verwaltungsgericht festgestellt werden, dass diese Abschusserteilung rechtmäßig ist. Sind Sie mit mir einer Meinung, dass das alles andere als ein einfaches Verfahren ist?
({0})
Ihnen tönt es aus den Reihen des Hauses entgegen, dass wir uns in einem Rechtsstaat befinden. Wenn das Verwaltungsgericht das entscheidet, dann ist das nun mal so.
({0})
Wir haben aber dennoch die Situation – das werden Sie nicht bestreiten –, dass es die Möglichkeit gibt, Problemwölfe zu entnehmen.
({1})
Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es gar nicht so weit kommt, dass wir in solche Situationen geraten. Sie wollten eine Antwort haben,
({2})
die habe ich Ihnen gegeben. – Vielen Dank.
({3})
Dritte Feststellung. Für Lösungen echter Probleme stehen wir zur Verfügung. Zweifelsohne sind Risse von Nutztieren Probleme. Wir haben uns bereits in der Vergangenheit damit beschäftigt, und wir werden es auch weiterhin tun.
Wir hatten erst im letzten Jahr zwei Anhörungen – sowohl im Umweltausschuss als auch im Landwirtschaftsausschuss –, bei denen uns alle Sachverständigen unisono bestätigt haben, dass die Lösung nicht im Abschießen von Wölfen, sondern in der Verbesserung der Maßnahmen des Herdenschutzes besteht.
({4})
Daran sollten wir arbeiten. Wir müssen die Schäfer unterstützen, die ohnehin keine besonders gut verdienende Gruppe in der deutschen Landwirtschaft sind. Dann wird den Leuten wirklich geholfen.
({5})
Frau Klöckner, wir haben einiges zu tun. Sie haben sich in der Vergangenheit wiederholt dazu bekannt, dass Sie den Berufsstand der Schäfer besser unterstützen wollen. Sie können sich sicher sein, dass Sie dabei die SPD-Fraktion an Ihrer Seite haben. Lassen Sie uns das gemeinsam in den Haushaltsberatungen angehen.
({6})
An der Stelle möchte ich auch das Umweltministerium loben. Frau Schulze ist es zu verdanken, dass vonseiten der EU
({7})
die Übernahme von 100 Prozent der Kosten durch die Bundesländer gebilligt wurde: 100 Prozent Kostenübernahme für Herdenschutzmaßnahmen, für Schadensregulierungen – übrigens auch von indirekten Schäden. Das ist der Weg, den wir gehen müssen, um die Konflikte zu minimieren.
({8})
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Thema Fütterungsverbot sagen. Ich finde, das müssen wir als eine vordringliche Maßnahme anpacken. Der Wolf muss ein scheues Wildtier bleiben,
({9})
das letztendlich Angst vor dem Menschen hat. Anders ist das, was Sie suggerieren wollen: dass mehr Menschen Angst vor dem Wolf hätten.
({10})
Zusammenfassend: Für vernünftige Lösungen, für Gespräche stehen wir immer gerne zur Verfügung, für Panikmache nicht.
({11})
Liebe Liberale, Sie sollten sich gut überlegen, mit wem Sie ins Bett steigen. Setzen Sie lieber die Tradition als eine stolze, faktenbasierte, wissenschaftsorientierte Partei fort.
({12})
Bei Ihnen habe ich noch Hoffnungen. Bei anderen habe ich diese Hoffnung aufgegeben.
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Der nächste Redner ist der Kollege Karsten Hilse für die AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Erlaubnis des Präsidenten beginne ich mit einem Zitat:
Fast 200 Tote Jahr für Jahr, und das über viele Jahrzehnte hinweg: im Frieden ein hoher Blutzoll. Russland hatte ihn im 19. Jahrhundert zu leisten. Fast 200 Menschen fielen jährlich dem gefährlichsten Raubtier zum Opfer, das Europa kannte: dem Wolf …
({0})
Das stammt nicht von einer Verschwörungsseite. So beginnt ein Artikel der Zeitung „Welt“ vom 13. Dezember 2018.
In meiner letzten Rede zum Thema Wolfsmanagement habe ich auf mehrere Probleme hingewiesen, die es zu lösen gilt. Erstens: konkret festlegen, welche Tiere geschützt werden sollen. Mit der allgemein gehaltenen Artbezeichnung Canis lupus sind laut Berner Konvention und FFH-Richtlinie alle Wolfsarten, wie zum Beispiel Polarwolf, Indischer Wolf, Arabischer Wolf und Ägyptischer Wolf, als heimisch zu betrachten und streng zu schützen.
({1})
Zweitens: feststellen, welche Tiere hier leben. Mit der Genanalyse, die das Senckenberg-Institut verwendet, ist nicht festzustellen, ob es sich um Wolfsmischlinge handelt.
({2})
– Schreien Sie ruhig, Herr Trittin. Kein Problem. – Hier bedarf es Schädelanalysen, wie von Herrn Gerhards vom Verein Sicherheit und Artenschutz bereits durchgeführt. Das Ergebnis war für alle, die nicht nur links-grüne Tagträumer sind, sondern sich mit dem Thema ernsthaft auseinandersetzen, erwartbar: Alle sechs untersuchten Schädel stammten von Wolf-Hund-Hybriden. Kollegen aus Kanada und Finnland – die sollten es wissen – kamen schon bei der Analyse der zugesandten Fotos zum selben Ergebnis.
({3})
Das größte Problem aber ist, dass es sich um ein unverantwortliches und folgenschweres Experiment handelt,
({4})
ein vorrangig in sehr dünn oder gar nicht besiedelten Gebieten lebendes großes Raubtier in ein dicht besiedeltes Gebiet zu bringen – wohl wissend um die möglichen Folgen. Niemand hat Ihnen das Recht gegeben, dieses Experiment durchzuführen.
({5})
Die Folgen laufen genau wie bei der großen Transformation aus dem Ruder.
({6})
Während die große Transformation Mord, Totschlag und Vergewaltigung in nie dagewesenem Ausmaß und eine Verrohung der Gesellschaft bringt, verursacht das Wolfsexperiment Schäden in Höhe von Hunderttausenden von Euro.
({7})
Was ist seit der letzten Debatte passiert? Und vor allen Dingen: Was ist aus den Forderungen in dem von der CDU eingebrachten Antrag geworden? Gar nichts! Der Wahlverlierer Kretschmer zieht immer noch durchs schöne Sachsen und erzählt den Leuten, was sie zum Wolf hören wollen und dass man sich kümmert. Nebenbei werden noch Wahlgeschenke gemacht, natürlich von dem Geld, was den Bürgern sowieso gehört.
Frau Kramp-Karrenbauer hat bestätigt, dass die CDU ihren Transformationsprozess hin zu einer sozialdemokratischen Partei offensichtlich vollzogen hat.
({8})
Die FDP holt ihren Antrag wieder hervor, nachdem in den Medien berichtet wurde, dass sich die Zahl der Wolfsangriffe in einigen Gebieten verdoppelt hat – wohl wissend, dass diese Bundesregierung nie ein Gesetz vorlegen wird, das Ihre Forderungen enthält. Vernunft bei dieser Bundesregierung? Fehlanzeige!
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Der links-grüne Träumerblock hält am Weiter-so in der Wolfspolitik fest. Der Wolf ist das zu verehrende heilige Tier.
({10})
Derweil werden tausende Nutztiere teilweise bei lebendigem Leibe gefressen.
({11})
Das bringt mich dazu, den Tierfreunden an den Bildschirmen mal deutlich zu machen, dass Wölfe ihre Beute eben nicht immer, wie es Raubkatzen tun, mit einem Kehlbiss töten.
({12})
Die Beute wird oft genug bei lebendigem Leibe gefressen. Die Tiere sterben qualvoll irgendwann an Blut- und Massemangel. Solche Details werden den Wolfspaten in den Großstädten natürlich vorenthalten. Es könnte ja sein, dass ihre monatlichen Spenden ausbleiben und sich einige Wolfsmanager einen neuen Job suchen müssen.
({13})
Was sagt nun aber die betroffene Landbevölkerung? Was macht der Weidetierhalter, wenn Isegrim ihn zum wiederholten Male heimgesucht hat, wenn er am Morgen auf die Weide kommt und er mehrere seiner Schafe gerade noch lebendig, mit aufgerissenen Bäuchen, herausquellenden Gedärmen oder angefressenen Hinterläufen vorfindet? Er schreitet zur Tat.
({14})
Wenn eine Regierung die Menschen mit ihren Sorgen allein lässt und sie gleichzeitig bei der Migrationspolitik tausendfachen Rechtsbruch begeht,
({15})
sinkt die Hemmschwelle der Betroffenen, das Problem allein zu lösen.
So wie einige auf anderen Gebieten die Lehren aus der Geschichte nicht ziehen, aus den Erfahrungen der vorherigen Generationen nicht lernen, so ignorieren Sie auch beim Thema Wolf die bekannten Gefahren – sogar für den Menschen.
({16})
In dem schon erwähnten Artikel heißt es dazu sehr treffend:
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Wolf, unterstützt von Umweltschützern und Naturromantikern, wieder zurückgekehrt in die freie Wildbahn – und man wartet nur, nach Dutzenden Attacken auf Schafe und andere Nutztiere … auf den ersten Angriff auf einen Menschen. Überrascht sein kann davon nur, wer den Kampf der Europäer gegen … Canis lupus nicht kennt oder verdrängt hat.
Vielen Dank.
({17})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin Astrid Damerow.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich werde auf den AfD-Redebeitrag überhaupt nicht eingehen,
({0})
weil jeder Vergleich mit einem Stammtisch auch den Stammtisch beleidigen würde.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nichtsdestotrotz müssen wir uns mit den Sorgen und Ängsten unserer Bürger in Bezug auf den Wolf und die Ausbreitung der Wolfspopulation auseinandersetzen. Das ist unsere Aufgabe, und das müssen wir in gebotener Sachlichkeit auch tun.
Der Bestand der Wölfe, die Zunahme der Wolfspopulation, entwickelt sich bei uns in Deutschland sehr dynamisch. Experten sagen, dass sie sich alle drei bis vier Jahre verdoppeln wird. Das ist auf der einen Seite ein Erfolg für den Natur- und Artenschutz. Auf der anderen Seite stellt uns der Wolf vor Probleme. Er ist ein intelligentes Raubtier, das eben nicht überall konfliktfrei mit uns leben kann.
Tagtäglich haben Weidetierhalter Angst, dass ein Wolf eines ihrer Tiere reißt. In meinem Wahlkreis erleben wir das gerade aktuell. Es ist vorhin angesprochen worden, dass der schleswig-holsteinische Umweltminister einen Wolf zum Abschuss freigegeben hat. Ich will hier aber auch betonen, dass dies ein sehr langer und sehr mühevoller Prozess war, der, finde ich, in Zukunft deutlich unbürokratischer werden muss.
({2})
Für unsere Weidetierhalter ist nur schwer nachzuvollziehen, dass sie ständig in der Beweispflicht sind und ihre Aussagen ständig angezweifelt werden. Hier brauchen wir wesentlich einfachere Regelungen.
({3})
Wenn wir dem Wolf einen Gefallen tun wollen, dann müssen wir zu ganz klaren Vorgehensweisen kommen, und wir müssen vor allen Dingen auch das Problem als Problem anerkennen. Das hat diese Koalition getan, nämlich in ihrem Koalitionsvertrag. Dort haben wir uns auf klare Ziele verständigt, die wir erreichen wollen. Dazu gehört übrigens auch – das will ich in Richtung FDP sagen –, dass wir auf EU-Ebene darauf hinwirken wollen, dass der Schutzstatus des Wolfes überprüft wird.
({4})
Ebenso haben wir hier im Bundestag im letzten Jahr einen gemeinsamen Koalitionsantrag verabschiedet, in dem wir die Weidetierhaltung noch einmal explizit gestärkt und unterstützt haben.
({5})
Ich hätte mir an der Stelle allerdings gewünscht, dass wir gemeinsam mit dem Koalitionspartner hier einen Schritt weiter gegangen wären und nochmals die Inhalte des Koalitionsvertrages bekräftigt hätten.
({6})
Das ist damals leider nicht gelungen, aber für uns als CDU/CSU gelten die Inhalte des Koalitionsvertrages. Deshalb möchte ich in erster Linie auch an unsere Bundesumweltministerin und an die SPD appellieren, den Koalitionsvertrag endlich umzusetzen und die nötigen Vorbereitungen für eine bundesgesetzliche Regelung zu treffen. Unsere Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner hat dazu ihre Vorschläge gemacht, und es ist hohe Zeit, dass wir hier zu einer Einigung auf Regierungsebene kommen.
({7})
Denn die Menschen in meinem Wahlkreis, in all unseren Wahlkreisen erwarten von uns eine klare Linie.
Im Übrigen lassen Sie mich an der Stelle noch anmerken: Weidetierhaltung und Schutz von Weidetieren sind das eine, aber es gibt auch Regionen in der Bundesrepublik, in denen das nicht so einfach ist. Ich schaue jetzt zum norddeutschen Raum und zu den Meeresanrainern. Dort brauchen wir freilaufende Schafe, um den Deichschutz auch in Zukunft zu gewährleisten. Darauf haben wir – das gebe ich zu – noch keine schlüssigen Antworten. Auch hier müssen wir noch deutlich mehr tun.
Wir haben die Möglichkeit, unterhalb der EU-Regelungen bundesgesetzlich tätig zu werden. Insofern ist das Mindeste, was wir tun müssen, die bundesgesetzlichen Regelungen, die wir haben, voll auszuschöpfen. Wir müssen das Vertrauen unserer Weidetierhalter und im Übrigen der Bürger, die keine Landwirtschaft betreiben, in unsere Fähigkeit stärken, den Wolf hier heimisch zu halten. Gleichzeitig müssen wir immer betonen, dass der Schutz von Menschenleben und auch die Lebensfähigkeit der Menschen in diesen Regionen Vorrang haben müssen. Dazu gehört, dass wir auch über wolfsfreie Zonen reden müssen. Sei es drum. Damit müssen wir uns auch auseinandersetzen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Für die Fraktion der FDP hat das Wort der Kollege Karlheinz Busen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Träger, ich kann ja Ihre Aufregung verstehen. Wenn man sich zu solchen Schlachtrufen verleiten lässt, dann hat das mit vielem zu tun, beispielsweise mit Umfragewerten, mit der Regierungsbeteiligung usw. Aber wenn Sie unseren Antrag richtig gelesen hätten, dann wüssten Sie, dass wir den Wolf nicht abschaffen wollen. Wir wollen die Population regulieren, genau wie die jeder anderen Tierart. In unserem Antrag geht es um das Stoppen der unkontrollierten Population. Darum geht es uns.
({0})
Wir fordern die Aufnahme des Wolfes in das Jagdrecht, und das ist nicht allein die klare Haltung der FDP, sondern das steht wörtlich auch im Positionspapier der CDU aus November 2018.
({1})
Liebe Kollegen der Union, heute haben Sie die Chance, Ihre eigenen Positionen umzusetzen, indem Sie unserem Antrag zustimmen.
({2})
Die SPD hat ja schon gesagt, dass es in Ihrem Koalitionsvertrag steht: Die Sicherheit des Menschen hat Vorrang vor dem Wolf und oberste Priorität. Dabei führt eine Zustimmung zu unserem Antrag nicht gleich zum Abschuss von Wölfen, wie das aus der grünen Ecke gerne suggeriert wird. Vielmehr wollen wir den längst überfälligen ersten Schritt zu einem aktiven Wolfsmanagement gehen.
({3})
1 079 bestätigte Wolfsrisse im Jahr 2016, 1 667 im Jahr 2017, 2 200 Wolfsrisse im Jahr 2018, über die öffentlich berichtet wurde! Die Zahlen sprechen für sich. Nichts zu tun, ist keine Option.
({4})
Das unkontrollierte Wachstum der Wolfspopulation bekommen wir mit einzelnen Entnahmen natürlich nicht in den Griff. Wir brauchen feste Verbreitungsgebiete und eine aktive Bejagung von Wölfen außerhalb dieser Bereiche.
({5})
Das können wir auch national regeln, weil ein günstiger Erhaltungszustand schon bei weitem erreicht ist.
({6})
Völlig utopisch sind die Forderungen von Grünen, Linken und der SPD, den Herdenschutz bis in den letzten Winkel auszuweiten.
({7})
Eine Kulturlandschaft – hören Sie zu, Herr Trittin –, die von meterhohen Zäunen mit einer Gesamtlänge von mehreren Tausend Kilometern zerschnitten und zergliedert wird, lehnen wir entschieden ab.
({8})
– Frau Tackmann, gucken Sie mal in Bayern nach. Die Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft hat ausgerechnet, dass 57 000 Kilometer Zäune allein in Bayern notwendig wären. Bundesweit würden viele Hundert Millionen Euro an Kosten entstehen.
Utopisch wäre es auch, Millionen von Euro für Herdenschutzhunde auszugeben, zumal es so viele ausgebildete Hunde gar nicht gibt, wie man sie eigentlich bräuchte. Der grenzenlose Wolfsschutz dieser Hobbytierschützer und Balkonbiologen ist nur mit einem Wort zu erklären: Ideologie.
({9})
Verlassen wir uns doch auf die 390 000 Jägerinnen und Jäger bundesweit, die ehrenamtlich Natur- und Tierschutz leisten. Sie haben eine umfassende Ausbildung absolviert. Das ist besser, als den unkoordiniert tätigen Beamten am Schreibtisch Wolfsmanagementthemen zu überlassen. Wir müssen endlich denen vertrauen, die täglich aktiven Arten- und Tierschutz betreiben und davon etwas verstehen.
({10})
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die Sorgen der Menschen im Land ernst nehmen. Wenn ich höre, dass Frau Schwarzelühr-Sutter sagt: „Machen Sie aus einer Mücke keinen Elefanten“, dann zeigt das, dass sie die Sache nicht ernst nimmt.
({11})
Wölfe stellen eine reale Gefahr für den Menschen dar, und das ist Fakt. In Panik versetzte Wildtiere können beträchtliche Schäden anrichten
({12})
und im Straßenverkehr die schwersten Unfälle verursachen. Das größte Problem ist aber die Bundesregierung. Frau Klöckner und Frau Schulze streiten sich. Ich weiß, dass Frau Klöckner auf unserer Seite ist,
({13})
aber das Bundesumweltministerium hat eine ganz andere Meinung. Frau Klöckner kommt aus dem ländlichen Raum, und Frau Schulze kommt aus der Stadt. Die hat wahrscheinlich noch nie ein Wildtier gesehen. Das ist das große Problem.
({14})
Also, lassen Sie uns ein Signal an diese zerstrittene Bundesregierung senden, dass Wölfe aktiver bejagt werden und die Population kontrolliert wird.
Liebe Kollegen der Union, Sie wollen doch sicher nicht, dass die gesamte Weidetierhaltung, der Landschaftsschutz und der Deichschutz nur noch Geschichte sind. Nutzen Sie alle hier im Hause heute die Chance, den Menschen in den Wolfsgebieten klar zu zeigen, welche Position Sie beziehen.
Danke.
({15})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Also die FDP und die AfD Schulter an Schulter gegen den Wolf! Dass ich das noch erleben muss!
({0})
Ja, der Wolf ist ein hochemotionales Thema, und es wäre manchmal gut, wenn die gleiche ungebremste Emotionalität auch bei Kinderarmut, bei perversem Reichtum und bei Rassismus in diesem Land aufkeimen würde.
({1})
Dieser Debatte würde, ehrlich gesagt, etwas mehr Gelassenheit guttun. Immerhin leben zum Beispiel in der rumänischen Stadt Brasov nahe der Karpaten 40 000 Mensch en mit 40 Braunbären in der Nachbarschaft friedlich zusammen. Es geht also, wenn man das will.
({2})
Aber unbestritten ist die Rückkehr des Wolfes eine Herausforderung – auch für uns als Gesetzgeber. Für uns als Linke gehört allerdings der Herdenschutz ins Zentrum der Debatte. Denn es ist völlig egal, was man von der Jagd des Wolfes hält: Auch vor den Wölfen, denen die AfD und die FDP das Lebensrecht immerhin nicht absprechen, müssen die Weidetiere geschützt werden. Deswegen ist wichtig, dass wir an der Seite derer stehen, die sich darum kümmern.
Ich zum Beispiel habe erfahren, wie Herdenschutz, der ja hier immer wieder infrage gestellt wird, funktioniert. Ich war 2011 in Sachsen unterwegs. Dort hat mir ein Schäfer, der seine Schafe zwischen fünf Rudeln hält, erzählt, wie das funktionieren kann. Er hat mir auch erzählt, dass er schon 60 Wölfe gesehen hat, was ungewöhnlich ist. Und trotzdem hat der Herdenschutz funktioniert; allerdings erst nach einem langen Lernprozess, und zwar sowohl diesseits als auch jenseits des Zaunes und mit Herdenschutzhunden.
({3})
Auch hier sage ich wieder: Es geht also, wenn man das will.
({4})
Für Die Linke ist wichtig, dass der Herdenschutz funktioniert; deswegen unterstützen wir die Forderung, die viele Weidetierhalterinnen und Weidetierhalter aufgestellt haben: erstens einen Rechtsanspruch auf angemessene finanzielle Unterstützung bei Herdenschutz und Schadensausgleich, zweitens mehr Rechtssicherheit und drittens mehr für Forschung und Beratung zu tun, und zwar in einem Herdenschutzkomptenzzentrum. Das würde den Weidetierhaltern wirklich helfen.
({5})
Vor allen Dingen muss der Herdenschutz schon vor der Ankunft des Wolfes stehen, damit er gar nicht erst den gedeckten Tisch entdeckt.
Leider ist auf Bundesebene noch nicht viel gelungen. Die Koalition hat zwar im vergangenen Sommer in einem Antrag festgestellt, dass sie eben nicht nur für den Arten-, sondern auch für den Herdenschutz zuständig ist. Aber die damals beschlossene Herdenschutzberatungsstelle ist nicht gekommen, nicht mal die in Aussicht gestellte Erleichterung bei der Haltung von Herdenschutzhunden. Das ist aus meiner Sicht einfach unterlassene Hilfeleistung, und das muss geändert werden.
({6})
Die Situation ist noch viel dramatischer. Ich sage es noch mal: Die Schäferei ist schon lange in der Krise – war es, schon lange bevor der Wolf hier angekommen ist. Sie ist nämlich die große Verliererin einer falschen Agrarpolitik in diesem Land. Ihnen wurde zum Beispiel 2005 die Mutterschafprämie gestrichen. Das hat zu Existenznot und Altersarmut geführt, und daran ändert die Nutzung von anderen Fördermitteln wenig. Genau deshalb gibt es 22 Mitgliedstaaten in der EU, die diese Weidetierprämie weiterhin zahlen. Ich verstehe nicht, dass Deutschland diese Ausnahme nicht zulässt;
({7})
denn diese Ausnahme ist gut zu begründen.
Es ist unbestritten, dass die Schäfereien gebraucht werden. Hier geht es um öffentliches Geld für öffentliche Leistungen; denn kein Deich ist so fest wie ein beweideter, keine Wiese ist so artenreich wie eine beweidete. Beweidete Flächen brennen auch nicht so schnell; und nicht zu vergessen die Lebensmittel und die Wolle, die produziert werden. Schafe sind übrigens die Tiere, die am tierschutzgerechtesten gehalten werden. Insofern: Wir dürfen dem Sterben der Schäfereien nicht länger zuschauen.
({8})
Deshalb ist es gut, dass Rot-Rot in Brandenburg die Deichbeweidung besser fördert und dass Rot-Rot-Grün in Thüringen eine Landesweidetierprämie beschlossen hat. Aber auch der Bund muss hier mehr tun. Wir fordern eine Weidetierprämie; wir bleiben dabei. Ich sage Ihnen von der Koalition, insbesondere der SPD auch: Ihre Verweigerung ist ein Brandbeschleuniger für die Konflikte vor Ort. Deswegen müssen Sie endlich handeln. Wir dürfen die Schäfereien nicht sterben lassen.
({9})
Der Kollege Harald Ebner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Wolf – wir haben es gehört – ist zurück. Ich zitiere Frau Ministerin Klöckner, die gestern in der Regierungsbefragung gesagt hat, das sei ein Erfolg des Natur- und Artenschutzes. Diese Rückkehr ist in der Tat logischerweise alles andere als trivial, und sie ist auch nicht romantisch. Es gibt reale Einschränkungen, und es gibt irrationale, diffuse Ängste. Beides müssen wir berücksichtigen. Und ja, nach der vollständigen Ausrottung des Wolfes in Deutschland steigt seine Population bei Rückkehr zunächst schnell an. Aber dieser Anstieg findet dann, wenn die Reviere besiedelt sind, sozusagen eine obere Grenze.
({0})
Sich jetzt hinzustellen, Herr Kollege Hocker, und zu suggerieren, dass die Wolfspopulation in Deutschland immer weiter exponentiell wachsen würde, widerspricht jeder wissenschaftlichen Erkenntnis. Das ist reine Angstmacherei und hat mit Seriosität nichts zu tun.
({1})
Viel zu selten wird auch über die Gesamtwirkung des Wolfes auf Ökosysteme geredet, auf die Entwicklung von Wildtierpopulationen. Da er in diesen Beständen Jungtiere und alte, schwache oder kranke Tiere jagt, kann er ein Stück weit die Jäger bei der Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgabe unterstützen; zumindest meinen das die Wildbiologen und Förster in den Gebieten, wo hohe Wilddichten zu beklagen sind.
({2})
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, enthält trotz seiner reißerischen Aufmachung auch ein paar gute Punkte. Wolfsmonitoring ist eine gute Sache, und eine weitere Unterstützung der bestehenden Dokumentations- und Beratungsstelle ist wichtig; das ist aber auch nicht besonders bahnbrechend. Was wir aber definitiv nicht brauchen, liebe Kolleginnen und Kollegen von FDP und AfD, sind Scheindebatten, Horrorszenarien ohne konkreten Nutzen für die Weidetierhalterinnen.
Herr Kollege, der Kollege Sepp Müller würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie das?
Gerne.
Sehr geehrter Herr Kollege, Sie sprachen ja von Ängsten, die unbegründet sind. Wenn ich mir den Wolfsmonitoringbericht der grünen Umweltministerin Claudia Dalbert in Sachsen-Anhalt durchlese, darf ich feststellen, dass von 2012 bis 2017 die Populationszahlen in Sachsen-Anhalt um 460 Prozent gestiegen sind.
({0})
Alleine von den jetzt knapp 100 Wölfen leben 60 Prozent auf einem Zehntel der Fläche. Diese Fläche erstreckt sich über den Bereich Anhalt und Wittenberg. Sie meinen, die Ängste seien unbegründet. Ich möchte Sie mit weiteren Zahlen des Wolfsmonitoringberichts konfrontieren und mit einer Frage enden. In dieser Fläche sind 60 Prozent der Nutztierrisse offiziell nachgewiesen worden, unter anderem bei einem Muffelwildbestand im Fläming, bei Wildpferden in der Oranienbaumer Heide; die trächtigen Stuten wurden in den Wulfener Bruch gebracht. Darüber hinaus war ein Dammwildgehege betroffen, welches vollkommen abgeschottet war.
({1})
Von den Schäfern, die weitere 30 Schafe verloren haben, deren jährliches Durchschnittseinkommen sich auf ein Drittel des unsrigen beläuft, ganz zu schweigen.
({2})
Ich stelle Ihnen als Grünen die Frage: Ist es wirklich Ihr Arten- und Tierschutz, die eine Art des Wolfes mehr schützen zu wollen als Muffelwild, Schafswild, Kühe und Dammwild? Ist das wirklich Ihr Ansinnen, oder geben Sie mir recht, dass wir in einzelnen Regionen in Deutschland mittlerweile eine Populationsgrenze überschritten haben, deren Regulierung notwendig ist?
({3})
Das Ansinnen, das Sie uns unterstellen wollen, ist in meinem bisherigen Beitrag an keiner Stelle aufgetaucht; das wüssten Sie, wenn Sie mir zugehört hätten. Das kann ich weit von uns weisen,
({0})
da wir diese Klassifizierung so nicht vornehmen. Sie haben ein paar Beispiele genannt. Und wenn Sie mir zugehört hätten, wüssten Sie, dass ich von realen Einschränkungen und von diffusen Ängsten gesprochen habe.
({1})
Das, was Sie genannt haben, waren die realen Einschränkungen. Das ist das, was tatsächlich passiert. Das will niemand von der Hand weisen, darüber müssen wir auch reden, und das tun wir auch heute. Aber diese Anträge, die heute vorliegen, schüren mit reißerischen Titeln wie „Gefahr Wolf – Unkontrollierte Population stoppen“ diffuse Ängste.
({2})
Was ist zu tun für die Weidetierhalter? Darum geht es heute, hier und jetzt; da war ich stehen geblieben. Wir brauchen mehr finanzielle Mittel für Schadensprävention, Herr Kollege,
({3})
und für die entsprechend Wolfsgeschädigten. Und in klar definierten Fällen müssen Wölfe, die mehrfach aufgefallen sind und Herdenschutzmaßnahmen überwunden haben, auch geschossen werden können. Das ist nach aktueller Gesetzeslage auch möglich, aber – das wissen wir auch – noch viel zu unzureichend erprobt von allen Beteiligten. Da müssen im gesamten Entscheidungs- und Handlungsprozess noch Erfahrungen gesammelt werden, damit es künftig schnell und effizient ablaufen kann. Was wir dazu nicht brauchen, ist eine Gesetzesänderung. Niedersachsen, Schleswig-Holstein und andere Beispiele haben ja gezeigt, dass es geht.
Herr Kollege, aus der FDP-Fraktion gäbe es noch den Wunsch nach Zwischenfragen.
Ja, okay. – So viele?
Können Sie sich innerhalb der FDP einigen? – Herr Hocker, Ihr Kollege Aggelidis hat sich eigentlich früher gemeldet. – Herr Aggelidis, bitte.
Vielen Dank, Herr Ebner, dass Sie mir die Zwischenfrage gestatten. – Ich bin nur einer von diesen Menschen, die auf dem Lande leben und denen Sie immer vorhalten, sie hätten diffuse Ängste. Das sagen Sie ja immer wieder. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dass den Menschen auf dem Lande, bei uns, solche Argumentationen gehörig auf den Keks gehen.
({0})
Deswegen möchte ich Sie fragen – ich weiß ja nicht genau, von wo aus Baden-Württemberg Sie genau kommen und wie diese Gegend strukturiert ist –: Wie viele Monate im Jahr bzw. welchen Zeitraum im Jahr haben Sie denn in den letzten Jahren in einer Region verbracht, in der Menschen leben
({1})
– ja, Sie können sich durchaus aufregen; ich lebe in so einer Region –, deren Nutztiere gerissen werden, deren Pferde angegriffen und deren Kühe auf den Weiden gerissen werden, Menschen, die dann ihren Kindern und Familien erklären müssen, was da passiert, und die selber Kinder in so einer Region großziehen müssen? Ich möchte von Ihnen wissen: Wie lange haben Sie in den letzten Jahren in so einer Region gelebt, dass Sie sich anmaßen, hier von diffusen Ängsten zu reden?
Danke.
({2})
Herr Kollege Ebner, wollen Sie die zweite Zwischenfrage auch noch zulassen? Dann machen wir es gleich zusammen.
Gerne.
Bitte schön.
Ein ausdrückliches Dankeschön, Herr Kollege Ebner, dass Sie beide Fragen zulassen. – Wenn ich mir die Internetseite des NABU angucke, dann entdecke ich da die Möglichkeit, eine sogenannte Wolfspatenschaft zu zeichnen, für die verschiedene Beträge vorgegeben sind, die man monatlich spenden darf, um die Wolfsmigration nach Deutschland sozusagen zu befördern.
({0})
Dieses Geld fließt dann in die Taschen eines solchen Verbands.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie mit mir gemeinsam der Ansicht sind, dass es NGOs in diesem Lande gibt, die aus der Wolfsmigration ein perfides Geschäftsmodell gemacht haben, von dem sie selber profitieren.
Vielen Dank.
({1})
Herr Kollege Ebner, wenn Sie jetzt auf beide Fragen antworten würden.
Ich muss ehrlich sagen, ich halte beide Fragen nicht für sonderlich sachlich und auch nicht für sonderlich sachgerecht. Wenn Sie, werter Kollege weiter hinten – ich weiß leider Ihren Namen nicht –,
({0})
der Meinung sind, dass Sie hier in diesem Hause alle Mitglieder ausschließen wollen, die von einem Thema nicht jahrein, jahraus direkt persönlich betroffen sind und dass diese Mitglieder des Hauses nicht mitreden dürfen, dann kann hier ganz schnell mehr als die Hälfte des Hauses den Saal verlassen.
({1})
Wenn das die Art und Weise ist, wie Sie an Politik herangehen wollen, dann: Gute Nacht!
Sehr geehrter Herr Kollege Hocker, auch Ihre Wortwahl – das muss ich sagen – ist nicht sachgerecht. Sie blasen in das gleiche Horn, das Sie mit dem reißerischen Titel Ihres Antrags bespielt haben. Mit dem Titel „Gefahr Wolf“ malen Sie ein Schreckgespenst an die Wand und überhöhen sozusagen diese Ängste.
({2})
– Sie haben nach diesem Geschäftsmodell gefragt. Fragen Sie doch die entsprechenden Umweltverbände! Ich bin kein Umweltverband.
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Ich kenne dieses Modell nicht. Es tut mir leid. Insoweit: Fragen Sie die Umweltverbände nach ihrem Geschäftsmodell! Fragen Sie sie, wie viel sie damit einnehmen und ob es irgendetwas befördert hat. Ich meine, nein. Denn der Wolf ist an der Stelle auf einen Umweltverband nicht angewiesen.
({4})
Er zieht nämlich selber durch die Landschaft und kommt da an, wo ihn manche nicht haben wollen. Darüber, Herr Kollege, müssen wir reden. Das ist auch gut so; das ist gar nicht schlecht.
({5})
So, jetzt geht es weiter.
Sie stellen die Forderung, den Wolf ins Jagdrecht aufzunehmen. Was wäre denn damit gewonnen? Stichwort: ganzjährige Schonzeit. Wäre irgendetwas einfacher? Ich glaube, nein. Sämtliche Entscheidungswege werden schwieriger. Abstimmungen zwischen Behörden werden komplizierter.
Der Wolf hält sich nicht an Reviergrenzen. Er hält sich im Übrigen auch nicht an Wolfsausschlussgebiete. Da müssen Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ehrlich machen. Wie wollen Sie denn einem Wolf, der fast 80 Kilometer am Tag zurücklegt, untersagen, in ein Wolfsausschlussgebiet zu kommen? An der Stelle muss man ehrlicherweise sagen, dass Sie nie erreichen können, dass in einem Wolfsausschlussgebiet kein Wolf ist. Die Weidetierhalter werden künftig trotzdem auf Hilfen angewiesen sein, weil der Wolf trotzdem auch in diesen Gebieten sein wird. Ihnen müssen wir mit der Weidetierprämie helfen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Der Präsident Wolf gang hat übernommen. Deshalb: Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ihnen müssen wir mit einem schnellen Vorgehen und Reagieren helfen.
Danke schön.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Ebner. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Artur Auernhammer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine Möglichkeit, den Wolf zu verjagen, ist, laut zu schreien. Aber es hilft nicht, wenn wir hier im Deutschen Bundestag laut schreien,
({0})
sondern wir müssen hier die Lösung für die Probleme mit einer Kreatur finden, die zu uns zurückgekehrt ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor einigen Jahrzehnten habe ich auf meinen Feldern für mich damals sehr seltsame Spuren entdeckt. Es waren ganz kleine Spuren von Wildschweinen. Diese Population hat sich inzwischen unwahrscheinlich stark entwickelt. Warum? Weil sie keinen natürlichen Feind und eine hervorragende Nahrungsgrundlage hat.
Ich will nicht, dass sich der Wolf, wenn wir ihn hier so glorifizieren und herausstellen, in der Population genauso entwickelt wie das Wildschwein. Wir müssen rechtzeitig handeln. Deshalb haben wir das auch in den Koalitionsvertrag der Großen Koalition hineingeschrieben. Es geht um den Schutz der Weidetierhalter, und – es tut mir leid, das sagen zu müssen – da helfen keine Prämien. Auch irgendwelche Finanzierungen von Zaunanlagen oder dergleichen helfen da nicht. Da hilft nur eines: Der Bestand der Wölfe muss reguliert werden, und das durch Entnahme, ja, durch Abschuss.
({1})
Herr Kollege, darf ich Sie kurz unterbrechen? Ich halte auch die Zeit an. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte alle Beteiligten, auch die, die wegen der namentlichen Abstimmung zu uns gekommen sind, um etwas mehr Ruhe und Aufmerksamkeit den Rednern gegenüber. Das ist nicht nur der Sache geschuldet, sondern auch der Höflichkeit.
Ich weise auch Mitglieder meiner Fraktion darauf hin, dass ich diejenigen, die ich kenne, namentlich benennen werde, wenn sie ein Schwätzchen halten und damit die Veranstaltung stören.
Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident, für Ihre Androhung. Nehmen Sie Ihre Fraktion bitte ins Gebet.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist eine Frage des Naturschutzes und der Artenvielfalt, wie wir die Wolfsbestände sich entwickeln lassen wollen. Der Mensch hat von der Schöpfung auch den Auftrag bekommen, für die Hege und Pflege der Natur und der Arten zu sorgen. Dazu gehört auch, dass man den Bestand der Wölfe reguliert, dass man Wölfe, wenn es sein muss, auch abschießt.
({1})
Ich weiß nicht, ob Sie schon mal in den Bergen im Urlaub, zum Wandern oder dergleichen waren. Ich möchte nicht wissen, wie sich die Entwicklung der Wolfspopulation auf unseren Tourismus auswirkt, wenn unsere Wanderer die Natur nicht mehr in Ruhe genießen können. Deshalb ist es nicht nur im Interesse der Weidetierhalter, sondern auch im Interesse des Tourismus notwendig, den Bestand zu regulieren.
({2})
Ja, wir haben uns in diesem Koalitionsvertrag darüber verständigt: Wir müssen handeln.
Verehrte Frau Bundesumweltministerin, erst mal bin ich dankbar, dass Sie heute hier sind. Ich wäre Ihnen noch dankbarer, wenn Sie das Thema „Wolf“ mit dem gleichen Engagement, das Sie bei den Themen „Düngeverordnung“ und „Pflanzenschutzmittelzulassung“ zeigen, angehen würden.
({3})
Aber ich bin mir sicher, dass Sie in Zusammenarbeit mit der Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner eine gute Vorlage einbringen werden.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie uns also gemeinsam eine Lösung suchen. Lassen Sie uns eine Lösung suchen, die den Bestand des Wolfes reguliert, die auch die Möglichkeit einschließt, einen Wolf abzuschießen, wenn es notwendig ist, ohne dass wir vorher lange Gerichtsverfahren anstrengen müssen. Wenn wir die Akzeptanz für den Wolf erhalten wollen, dann müssen wir jetzt handeln.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Auernhammer. – Als nächster und letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Dr. Klaus-Peter Schulze, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hatte heute eine Gruppe aus meinem Wahlkreis bei mir, einen ganz engagierten Naturschutzverein. Man fragte mich: Wie macht ihr mit dem Wolf weiter? Wir können nicht mehr warten. Es muss etwas schneller gehen mit den Entscheidungen.
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Das waren Leute, die aus einer kleinen Gemeinde vor Ort kommen, und es waren nicht die von mir schon mal zitierten Balkonbiologen aus den großen Städten.
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Auch die vor Ort tätigen Naturschützer sagen: Wir müssen etwas tun. Ich glaube, auf diesem Weg haben wir mit unserem am 28. Juni 2018 beschlossenen gemeinsamen Antrag einiges festgelegt, was jetzt abgearbeitet werden muss.
Herr Ebner, Sie sagen: Wenn die Reviere voll sind, wird es keinen Populationszuwachs geben. – Das ist nicht richtig. Entscheidend ist, wie hoch die Dichte der Beutetiere in den Revieren ist. Solange Weidetiere zum Beutespektrum gehören, werden die Reviere entsprechend klein sein und wird die Zahl der Beutegreifer – in dem Fall des Wolfes – zunehmen. Diesen Vorgang muss man genauso berücksichtigen wie andere Fakten.
Der Kollege Hilse hat das Thema Schädelanalysen angesprochen. Die habe ich bei meinem Biologiestudium im vergangenen Jahrhundert durchgeführt. Da war das eine übliche taxonomische Arbeitsweise; aber heutzutage kann man über gentechnische Untersuchungen sehr genau feststellen, ob es im jeweiligen Fall ein Bastard oder ein reiner Wolf ist. Die Dinge sollte man, wenn man sie betrachtet, wirklich mit Methoden auf dem neuesten Stand betrachten.
Richtig sind einige Punkte im FDP-Antrag, die offensichtlich von unserem gemeinsamen Antrag übernommen worden sind.
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– Ja, da können Sie gerne lachen. – Aber Sie haben einige wichtige Teile dabei vergessen. Das ganze Thema „Untersuchung ökologischer Folgen einer Umzäunung“ – dazu habe ich mich hier auch schon geäußert – ist nicht aufgeführt. Die Forschung zu der Frage, welche Rolle der Wolf bei der Entwicklung von Wildtieren spielt, ist nicht aufgenommen.
Die entscheidenden Punkte waren die Punkte 13 und 14. Da geht es einmal um die Frage, wie wir den Wolf neu in den EU-weiten Schutzstatus einsortieren – da muss Bewegung hineinkommen; dazu haben wir auch im Juni vergangenen Jahres gesprochen –, und darum, dass wir eine Analyse der tatsächlichen Populationsgröße brauchen. Erst wenn das vorliegt, können wir überlegen, ob der Wolf wirklich noch den Status verdient, nicht im günstigen Erhaltungszustand zu sein, oder ob er sich im günstigen Erhaltungszustand befindet. Ich bin davon überzeugt, dass hier nicht nur die Anzahl eine Rolle spielt; vielmehr muss man das Individuum oder die Population in Gänze betrachten. Denn der Wolf als Generalist besiedelt alle Lebensräume in Europa, er hat ein breites Nahrungsspektrum, er steht an der Spitze der Nahrungskette, und er legt große Wanderungen zurück, um den genetischen Austausch sicherzustellen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Christoph Hoffmann aus der FDP-Fraktion?
Ja.
Herr Kollege Dr. Hoffmann, Sie dürfen die Frage stellen. Der Redner hat Ja gesagt.
Sehr geehrter Herr Schulze, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Hier in diesem Haus hat der Abgeordnete Westphal von der SPD gesagt, dass der Wolf in Deutschland ausgerottet worden sei, weil die Bevölkerung schlicht irrationale Ängste gehabt habe. Ich meine, es ist eher andersherum gewesen: Der Wolf war ein Nahrungskonkurrent des Menschen. – Es ging eigentlich um die Frage: Dein Schaf oder des Wolfes Schaf?
Wir müssen die Wolfspopulation irgendwie managen. Die einzige Möglichkeit, wenn der Wolf nicht ins Jagdrecht aufgenommen wird, wäre ja, dass sich die Polizei als Jäger in den Wald begibt, um die Tiere zu erlegen, die problematisch sind. Ich frage Sie jetzt: Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang Polizeijagden im Wald?
Ich habe mich zu dem Thema gar nicht geäußert. Zum Thema Jagd wäre ich noch gekommen.
Ich glaube schon, dass man den Wolf auch ins Jagdrecht aufnehmen kann. Aber damit haben wir das Problem nicht gelöst; dann ist er nämlich ganzjährig geschützt. Der von einigen Kollegen genannte Fall „Dann können wir reichlich schießen“ tritt erst dann ein, wenn man die Bestandsgrößen definiert und den günstigen Erhaltungszustand erreicht hat.
Da die Jagd in Deutschland an Boden und Fläche gebunden ist, denke ich schon, dass diejenigen, die die Hege und Pflege und die Jagd übernehmen, auch diejenigen sein müssen, die als Erste diese Aufgabe übernehmen. Aber sie müssen dann natürlich auch bereit sein, das entsprechend umzusetzen. Das Beispiel aus Schleswig-Holstein ist von der Kollegin schon angesprochen worden. Mir haben selbst Jäger gesagt: Ob wir die Flinte herausnehmen, auch wenn der Wolf im Jagdrecht steht, das wissen wir noch nicht.
Ich war bei der Größe der Population stehen geblieben. Das ist der entscheidende Punkt. Das muss jetzt auch konsequent ermittelt werden. Da erwarte ich vom Umweltministerium, dass da die entsprechenden Vorleistungen erbracht werden. Es gibt in Europa – in Frankreich und in Schweden – mittlerweile gute Beispiele dafür, wie man das managen kann.
Wir sind jetzt nicht mehr in der Phase, dass sich die Population aufbaut, sondern wir müssen jetzt in eine Phase kommen, wo wir beides unter einen Hut bekommen: Natur- und Artenschutz auf der einen Seite und auf der anderen Seite auch die Belange der ländlichen Bevölkerung und der Bürgerinnen und Bürger in Gänze. Das ist machbar; aber dazu ist es erforderlich, die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen. Ich wünsche mir – auch im Namen meiner Fraktion –, dass jetzt die beiden Ministerien, sprich: das Landwirtschaftsministerium und das Umweltministerium, zeitnah zusammenfinden, um die Dinge, die im Koalitionsvertrag geregelt sind, auch auf den Weg zu bringen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schulze. – Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zunächst zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit auf Drucksache 19/3034. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/594 mit dem Titel „Herdenschutz und Schutz der Menschen im ländlichen Raum – Wolfspopulation intelligent regulieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der AfD bei Enthaltung der FDP-Fraktion mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/584 mit dem Titel „Gefahr Wolf – Unkontrollierte Population stoppen“.
Ich gebe zu Protokoll, dass mehrere Erklärungen gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung zu diesem Tagesordnungspunkt vorliegen. Wir stimmen nun über Buchstabe b der Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion der FDP namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Ich stelle fest, dass das der Fall ist. Dann eröffne ich die Abstimmung über Buchstabe b der Beschlussempfehlung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte jetzt um weitere Aufmerksamkeit und darum, die Gespräche einzustellen, und ich bitte diejenigen, die anderweitig zu tun haben, den Saal zu verlassen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal vielen Dank für die Glückwünsche. – Wir kommen heute zusammen, um ein wichtiges Gesetz zu beschließen. In diesem Gesetz geht es darum, das Recht von Frauen auf Information zu stärken, Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte, die legalen Schwangerschaftsabbruch anbieten, wiederherzustellen und diese Ärztinnen und Ärzte zu entkriminalisieren. Das ist unsere Pflicht und darauf warten diese schon lange, und zwar mit Recht. Daher ist es wichtig, dass wir heute zusammenkommen und zu einer Lösung kommen.
Die Ausgangslage ist, dass mir als Arzt selbst die Information darüber, dass ich einen solchen Eingriff anbiete, verboten ist. Obwohl es ein legales Recht der Frauen ist, sich darüber zu informieren, und ein Schwangerschaftsabbruch von mir legal erbracht wird, ist die alleinige Information und somit die legale Ausübung meines Berufes hier strafbar. Das gibt es in sonst keinem Bereich. Das muss dringend beendet werden. Das ist heute unser Hauptanliegen.
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Der ganze Vorgang steht für eine Art und Weise, auf Frauen zu blicken, die diskriminierend und infam ist; denn das bedeutet ja, dass man davon ausgeht, dass die alleinige Information über einen solchen Eingriff, wie eine Werbung vorgetragen, dazu führen würde, dass eine Frau sich entweder für oder gegen diesen Eingriff entscheidet, wie zum Beispiel bei einer Schönheitsoperation. Was ist das für ein Frauenbild! Wir wissen doch, dass Frauen sich diese Entscheidung sehr schwer machen. Sie kommen in einer existenziellen Notlage.
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Das ist eine Gewissensentscheidung, die sie sich oft genug sehr schwer gemacht haben, bevor sie mit diesem Anliegen überhaupt zu einer Frauenärztin oder zu einem Frauenarzt gehen. Dieses Frauenbild ist falsch.
Ganz ehrlich gesagt: Ich erkenne einen, sagen wir mal, Hauch eines solchen Frauenbildes auch in der Studie, die Gesundheitsminister Spahn jetzt in Auftrag geben will,
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wo es darum geht, erst einmal zu prüfen, wie sich ein Schwangerschaftsabbruch auswirkt. Als wenn wir das durch etliche Studien nicht schon seit Jahrzehnten wüssten!
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Es wird hier ja indirekt unterstellt, dass Frauen, die einen solchen schwerwiegenden Eingriff wählen, nicht wüssten, worauf sie sich einlassen. Auch das ist eine Unterstellung, die in dieser Form nicht hinnehmbar ist.
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Wir haben hier ein weiteres Problem, und zwar dahin gehend, dass auch das Arztbild, das dem zugrunde liegt, völlig falsch ist. Das unterstellt ja, dass wir Ärzte einen solchen Eingriff im Wesentlichen durchführen, um damit Geld zu verdienen. Das würde ja bedeuten, dass wir Ärzte die existenzielle Notlage einer solchen Frau in einer Leben-und-Tod-Entscheidung ausnutzen, um an einem solchen Eingriff zu verdienen. Das muss man sich einmal überlegen. Es gibt in der Medizin viele Eingriffe, die überflüssigerweise gemacht werden. Es gibt auch viele Eingriffe, die nur aus finanziellen Gründen gemacht werden. Aber keine Ärztin und kein Arzt macht einen Schwangerschaftsabbruch, um daran zu verdienen. Das ist ein vollkommen ehrabschneidendes Bild von dem, was wir machen.
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Daher ist es höchste Zeit, dass wir heute dazu kommen, dass der Eingriff entkriminalisiert wird,
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dass man darüber informieren darf, dass man diesen Eingriff durchführen kann, dass man sich auf einer Liste eintragen lassen kann, wo man auch benennt, dass man zur Verfügung steht, wo man auch benennt, welche Methode man einsetzt. Weitere Information kann man dann durch Hinweise auf qualitätsgesicherten Seiten finden.
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Das ist nicht das, was wir uns gewünscht haben; das ist ganz klar. Eine Abschaffung von § 219a StGB wäre aus meiner Sicht die sauberste Lösung gewesen. Das war mit der Union nicht zu machen.
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Aber wir gehen heute einen wichtigen Schritt nach vorne: Wir beseitigen eine Einschränkung der Rechte von Frauen in einer existenziellen Notlage, wenn wir dieses Problem lösen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Lauterbach. – Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort gebe, kommen wir zu einem interessanten Vorgang: Die Fraktion Die Linke hat vor der Rede des Kollegen Lauterbach für die Abgeordnete Domscheit-Berg um eine Kurzintervention gebeten. Normalerweise sollen Kurzinterventionen eine Reaktion auf eine Rede sein; hier wurde die Rede aber noch gar nicht gehalten. Ich empfehle der Fraktion Die Linke, der Rednerin künftig Redezeit im Rahmen der regulären Verteilung einzuräumen.
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Gleichwohl lasse ich die Kurzintervention bei diesem Thema zu.
Frau Domscheit-Berg, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, für die Zulassung der Kurzintervention. – Warum ich vorher wusste, dass ich etwas sagen möchte, ist eigentlich klar: Es war absehbar, was in der Rede gesagt werden würde. Einerseits wurde argumentiert, warum man diese Regelung für überflüssig und falsch hält, andererseits wird die SPD trotzdem mehrheitlich dafür stimmen. Ich möchte aus der Perspektive einer Frau, die im Osten groß geworden ist, dazu Stellung nehmen.
Ich bin 1985 schwanger geworden; da war ich 17 Jahre alt.
Frau Kollegin, bei allem Ernst: Das wird ein regulärer Redebeitrag. Das müssen Sie demnächst bei Ihrer Fraktion anmelden.
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Wenn wir alle so verfahren und die Redezeit auf diese Weise erweitern, kommen wir zu keinem geordneten Verfahren.
Ich bitte Sie, sich an den Redner zu wenden, etwas zu seiner Rede zu sagen und damit den Sinn der Kurzintervention noch einigermaßen einzuhalten.
Ich möchte gerne wissen, inwiefern es überhaupt eine Rolle spielt, dass ostdeutschen Frauen, die 30 Jahre lang ein Recht auf körperliche Selbstbestimmung hatten, jetzt seit fast 30 Jahren zugemutet wird, dieses Recht nicht mehr zu haben. Wir fühlen uns in die Steinzeit versetzt. Wir dürfen nicht nur nicht mehr über unseren Körper bestimmen. Wir dürfen noch nicht einmal sachliche Informationen von unseren Ärzten im Internet finden. Ich hätte gerne gewusst, wie man das ostdeutschen Wählerinnen erklärt; wir sind 7 Millionen Frauen. Ich habe das Gefühl, dass westdeutsche Männer und die westdeutsche Kultur über uns Ostfrauen bestimmen. Es spielt offensichtlich keine Rolle, was das für uns bedeutet. Das wollte ich an dieser Stelle gerne einmal sagen.
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Frau Kollegin, Sie haben meine Langmut jetzt wirklich erschöpft.
Herr Kollege Dr. Lauterbach, ich gehe davon aus, dass Sie diese Frage der Kollegin sinnstiftend beantworten.
Herr Präsident, davon gehe ich aus. – Zunächst einmal: Wir machen hier Gesetze, die für alle Frauen gut sind, aus Ost und West.
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Wir unterscheiden nicht nach Ostfrauen und nach Westfrauen.
Zum Zweiten. Ich habe ja eingeräumt, dass die Lösung nicht perfekt ist. Aber wir lösen das zentrale Problem. Wir realisieren das Recht auf Information für die Frau, die diesen Eingriff nicht wünscht, ihn aber in ihrer Not überdenkt, und zwar mit offenem Ausgang. Diese Information sichern wir heute. Das ist wichtig. Damit wird aus meiner Sicht das Hauptproblem gelöst, für Frauen im Osten wie im Westen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen von der Demokratischen und Sozialen Union! Das „Christlich“ können wir jetzt wohl endgültig streichen.
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Nach der Ehe für alle kapitulieren Sie jetzt auch beim Lebensschutz. Auch eine Kapitulation auf Raten ist eine Kapitulation. Dass Sie innerhalb einer Woche die erste Lesung, die Ausschussberatung und die zweite Lesung eines rechtspolitisch hochsensiblen Gesetzes durchziehen, ist nichts anderes als eine Frechheit. Offensichtlich möchte die Koalition so ein Thema abräumen, bei dem beide Partner schlecht aussehen.
({1})
Die SPD scheut im Moment noch den Koalitionsbruch; sie ist zu schwach für Neuwahlen. Und der Union geht es allein um den Machterhalt, auch wenn sie dafür ihre eigenen Werte hergeben muss, auch wenn von den eigenen Werten eigentlich gar nichts mehr übrig ist.
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Was auf der Strecke bleibt, ist ein rechtspolitisches Thema, das wie kaum ein anderes am Lebensnerv unserer verfassungsmäßigen Ordnung rührt. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Grundsatzurteilen, zuletzt 1993, das Folgende festgestellt: Das ungeborene Leben entwickelt sich nicht zum Menschen, sondern als Mensch, und zwar von Anfang an.
({3})
Der ungeborene Mensch hat ein eigenes Lebensrecht von Anfang an.
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Und dem Ungeborenen kommt Menschenwürde zu, von Anfang an. Deswegen ist Abtreibung nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts rechtswidrig und nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen straffrei. Deswegen hat das Gericht auch bestimmt, dass die verpflichtende Beratung immer auf das Leben gerichtet sein muss. Es soll Leben retten und Abtreibungen vermeiden.
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Kurz: § 218, der eng mit § 219 zusammenhängt – Sie werden das gleich erkennen –, ist unverrückbarer Kernbestand unserer verfassungsmäßigen Ordnung.
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Wer den abschaffen oder streichen will, steht außerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung.
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Ich fordere das Bundesamt für Verfassungsschutz auf, solche Organisationen zu beobachten, die der Abschaffung des § 218 das Wort reden. Und die Bundesfamilienministerin Giffey fordere ich auf: Stellen Sie sich endlich schützend vor das werdende menschliche Leben! Stellen Sie sich schützend vor noch nicht geborene Menschen! Stellen Sie sich auf die Seite des Lebens!
({8})
Weil Abtreibung rechtswidrig ist und bleiben muss, muss auch das Werbeverbot für Abtreibung bestehen bleiben. Was verboten ist, darf nicht beworben werden. Wer für eine Straftat wirbt, wird am Ende zum Anstifter.
({9})
Das gilt auch dann, wenn die Straftat ausnahmsweise nicht rechtlich verfolgt wird.
Was vorher als Werbung verboten war, verkaufen Sie uns jetzt als Information. Das ist semantische Rosstäuscherei, ich möchte sagen: erbärmliche semantische Rosstäuscherei.
({10})
Was ist Werbung? Wenn ein Dienstleister eine Information über seine Dienstleistung öffentlich macht, für die er einen Vermögensvorteil, nämlich sein Honorar, erhält, dann ist das nicht einfach Information, dann ist das Werbung. Den Begriff „Vermögensvorteil“ verwenden Sie selbst in Ihrem Entwurf. Ihr Versuch, das Problem um des Koalitionsfriedens willen einfach wegzudefinieren, scheitert kläglich.
Dieser Gesetzentwurf ist ein weiterer Schritt auf dem fatalen Weg zur Abschaffung des § 218 über die Normalisierung der Abtreibung. Wohin das führt, hat der Bundeskongress der Jusos im Dezember gezeigt. Sie wollen § 218 ganz abschaffen. Der Bundesstaat New York hat die Abtreibung jetzt bis zum neunten Monat erlaubt. Eine solche Verachtung menschlichen Lebens wollen wir in Deutschland nicht. Das widerspricht fundamental dem Verständnis unseres Grundgesetzes.
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Der Schutz des ungeborenen Lebens hat Verfassungsrang und ist untrennbar mit Artikel 1 verbunden: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Die Unionsparteien haben den Lebensschutz aufgegeben. Das Schweigen der Amtskirchen ist ohrenbetäubend. Daher ist die AfD in Deutschland der letzte Verteidiger des ungeborenen Lebens. Wir lehnen Ihren Entwurf mit ganzer Überzeugung ab.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin von Storch. – Als Nächste spricht für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Nadine Schön.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bringen heute in zweiter und dritter Lesung ein sehr schwieriges Thema zum Abschluss. Ich persönlich und meine Fraktion finden es gut, dass und wie wir es zum Abschluss bringen. Es ist ein Thema, bei dem die Positionen sehr weit auseinanderliegen, ein Thema, das sehr emotional diskutiert wird. Deshalb ist klar, dass ein Kompromiss für jeden, der leidenschaftlich für die eine oder andere Seite gekämpft hat, schmerzlich ist. Dennoch oder gerade deshalb ist es wichtig, dass wir dieses Thema mit einem Kompromiss abschließen.
Es gibt mehrere Aspekte, die man bei diesem sensiblen Thema betrachten muss. Das ist zum Ersten die Situation der ungewollt schwangeren Frau, die in der konkreten Situation Hilfe und Unterstützung braucht. Das ist zum Zweiten die Situation der Ärztinnen und Ärzte, die zu Recht verlangen, dass sie Rechtssicherheit bekommen. Schließlich ist es die Tatsache – das darf man nicht ausblenden –, dass es sich bei Schwangerschaftsabbrüchen um das Beenden von Leben handelt, was keine ärztliche Leistung wie jede andere ist.
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Nehmen wir zuerst die Frauen in den Blick. Eine ungewollte Schwangerschaft bringt Frauen in eine Ausnahmesituation. Deshalb muss es unser gemeinsames Ziel sein, jede ungewollte Schwangerschaft zu vermeiden. Das gelingt uns offensichtlich nicht. Es gibt 100 000 Abtreibungen pro Jahr in unserem Land. Jede ist eine sehr belastende Situation für die Frau und auch für das Paar. Wir brauchen offensichtlich mehr Aufklärung. Auch dass die Übernahme der Kosten für Verhütungsmittel durch die Krankenversicherung zwei Jahre länger als bisher erfolgt, finde ich richtig.
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Tritt nun doch eine ungewollte Schwangerschaft ein, dann dürfen wir die Frauen in dieser schwierigen Situation nicht alleine lassen. Deshalb gibt es das Hilfetelefon für Schwangere in Not. Es gibt viele Informationen im Netz und per Telefon, und es gibt vor allem – und das ist das Besondere in Deutschland – ein breites Netz an sehr guten Beratungsstellen. Und es ist schön, wenn durch die Beratung die Frau oder das Paar ermutigt wird, das Kind zu bekommen. Glücklicherweise wird diese Frau oder dieses Paar auch danach nicht im Stich gelassen. Ich denke zum Beispiel an die wertvolle Arbeit der Bundesstiftung Mutter und Kind.
Entscheidet sich die Frau oder das Paar nach der Beratung dazu, den Abbruch vornehmen zu lassen, dann benötigen sie selbstverständlich Informationen darüber, welcher Arzt oder welche Ärztin in der Umgebung den Eingriff vornimmt. Hier hatten wir offensichtlich eine Regelungslücke bzw. eine Rechtsunsicherheit; denn einige Beratungsstellen haben eben nicht darüber informiert, wer den Eingriff vornehmen kann, und bei den Ärztinnen und Ärzten herrschte Unsicherheit darüber, welche Informationen sie veröffentlichen dürfen, ohne dass es Werbung ist.
({2})
Diese Rechtsunsicherheit wollen wir mit diesem Gesetz beenden, indem klargestellt wird, dass der Arzt oder die Ärztin darüber informieren kann, dass sie den Eingriff vornimmt, und darauf verweisen kann, bei welchen im Gesetz genannten Institutionen weitere Informationen zu finden sind. Klargestellt wird damit auch, dass der Arzt oder die Ärztin selbst keine weiteren Informationen oder Beschreibungen einstellen kann. Das ist sachgerecht und uns als Union besonders wichtig; denn ein Schwangerschaftsabbruch, der nach §§ 218 ff. StGB verboten und nur straffrei gestellt ist, ist eben keine gewöhnliche Leistung des Arztes. Es geht schließlich um die Beendigung von menschlichem Leben.
Mit Blick auf unsere Geschichte, mit Blick auf unsere Verfassung, die die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt, und mit Blick auch auf unsere christlichen Werte, die verlangen, dass wir jedes einzelne Kind und jedes einzelne Leben schützen, und zwar von Anfang an, müssen wir hier sehr sensibel sein.
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Deshalb haben wir mit §§ 218 ff. StGB auch ein sehr gut austariertes System, das der Bedeutung des menschlichen Lebens Rechnung trägt, gleichzeitig aber die betroffenen Frauen nicht kriminalisiert und ihnen Schutz und Hilfe bietet. Aus Sicht der Union ist wichtig, dass wir dieses Gleichgewicht erhalten. Das tun wir mit diesem Gesetz. Gleichzeitig verbessern wir die Rechtssicherheit für die Ärzte und die Informationen für die Schwangeren.
Ich will mich herzlich bei den vier Ministern bedanken, die gemeinsam sozusagen die Quadratur des Kreises geschafft und diesen Kompromiss erarbeitet haben, der mit Blick auf die beiden Extrempositionen sicherlich schwierig, aber genau deshalb ein guter Kompromiss ist. Deshalb empfehle ich Zustimmung.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Schön. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Nicole Bauer, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Besuchertribünen! Die Debatte über den § 219a StGB hat in den letzten Wochen und Monaten hohe Wellen geschlagen, und das tut sie immer noch. Dabei geht es ausschließlich um den § 219a StGB, um das Werbe- und Informationsverbot.
({0})
Ein Thema, das die Menschen in einer höchstpersönlichen Frage betrifft, wird zum Politikum. Es ist zutiefst beschämend, was Sie von der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion uns mit Ihrem Gesetzentwurf vorlegen, und zwar sowohl aus juristischer als auch aus frauenpolitischer Sicht.
({1})
Es ist beschämend, wie Sie dieses sensible Thema machtpolitisch missbrauchen.
({2})
Lange, zu lange ist nichts, aber auch gar nichts passiert. Viel zu lange haben Sie die Diskussion über das Thema aufgeschoben, und viel zu oft haben Sie verhindert, dass darüber in den zuständigen Ausschüssen beraten wird. Das ist extrem beschämend, meine Damen und Herren.
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Aber nun zum Inhalt Ihres Vorschlages. Statt eine tragfähige Lösung vorzulegen, verschlimmbessern Sie die Situation mit einem verfassungswidrigen Gesetzentwurf. Erstens. Sie misstrauen weiterhin den Ärztinnen und Ärzten. Zweitens. Sie stigmatisieren weiterhin Frauen in Notsituationen. Drittens. Sie spielen mit dem besonderen Schutzauftrag gegenüber dem ungeborenen Leben, den Sie gleichzeitig bei jeder Gelegenheit wie eine Monstranz vor sich hertragen. Das ist ein Skandal.
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Schon jetzt finden Frauen in Not kaum einen Arzt, der Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, und Sie nehmen das billigend in Kauf. Die Versorgungslücke ist ein gravierendes Problem; aber das bleibt es auch mit Ihrem Gesetzentwurf.
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Immer noch stehen Ärzte mit einem Bein im Gefängnis, immer noch werden sie von sogenannten radikalen Lebensschützern angezeigt. Wo ist hier der Staat, meine Damen und Herren? Wen schützt der Staat eigentlich?
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Als Patientin vertraue ich meinem Frauenarzt. Von ihm und ausschließlich von ihm möchte ich informiert und aufgeklärt werden. Es ist nicht meine Aufgabe, dass ich dafür von Pontius zu Pilatus laufen muss, meine Damen und Herren. Das ist demütigend.
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Sie versprechen uns, dass die Adressen monatlich aktualisiert werden. Ich persönlich bezweifle das. Abgesehen davon kostet das Geld. Aber wir haben es ja gelernt: Geld interessiert hier niemanden. Ihre Studie, Herr Spahn, braucht wirklich niemand.
({8})
Sie offenbart eigentlich nur Ihr fragwürdiges Frauenbild und Ihre wahre Haltung zu diesem Thema.
All das ist zutiefst beschämend. Deshalb fordere ich Sie auf: Stimmen Sie für eine Abschaffung des § 219a StGB!
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Zeigen Sie, dass Sie Politik für die Menschen machen und nicht nur für den Koalitionsfrieden oder für radikale Lebensschützer.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Bauer. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Cornelia Möhring, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Lauterbach, Sie haben wirklich eine geniale Problembeschreibung hingelegt; das kann ich alles unterschreiben. Das Problem ist nur: Sie legen den falschen Gesetzentwurf dafür vor.
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Wenn wir Ihre Problembeschreibung nehmen und die dafür nötigen Lösungen suchen, dann müssen Sie den Vorlagen der Linken, der Grünen und der FDP zustimmen. So einfach ist das.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, hören Sie doch bitte endlich auf, Ihren faulen Kompromiss auch noch schönzureden. Sie haben das versemmelt. Sie haben das einfach versemmelt! Das ist so.
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Das wird auch nicht besser, wenn Sie die ganze Woche einen Jubeltweet nach dem anderen zum Thema Parität über den Äther schicken. Sie haben die Erwartungen der Frauen in diesem Land massiv enttäuscht. Vielleicht ist es dann besser, ein paar Tage zu einem solchen Thema zu schweigen.
({3})
Die einzige Klarstellung in Ihrem Kompromiss ist, dass Ärztinnen, Ärzte und Kliniken nun sagen bzw. auf ihren Webseiten darüber informieren dürfen, dass sie Abbrüche durchführen. Aber ärztliche Informationen bleiben weiterhin limitiert, und immer noch gibt es keinen direkten und freien Zugang zu allen für Schwangere erforderlichen Informationen.
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Das gibt es im Übrigen in keinem anderen Land Europas, dass korrekte Informationen strafverfolgt werden und falsche, unsachliche Informationen über Schwangerschaftsabbrüche, die Schwangere einschüchtern sollen, erlaubt sind. Das ist ziemlich irre, was Sie da machen.
({5})
Warum ist das so? Das ist so, um Frauen hierzulande zu maßregeln und eine Symbolik der Missbilligung aufrechtzuerhalten. Aus keinem anderen Grund ist das so. Die Linke findet das total inakzeptabel.
({6})
Ihr Misstrauen gegenüber Ärztinnen und Ärzten schreiben Sie sogar fort. Dass diese ihre Seiten für fachliche Informationen nur mit Behördenseiten verlinken dürfen, begründen Sie mit – Zitat –: „um eine unkontrollierte Informationsfreigabe zu verhindern“. Das finde ich besonders diskreditierend, weil Medizinerinnen und Mediziner natürlich den ethischen Anspruch haben, Frauen in dieser besonderen Lebenssituation zur Verfügung zu stehen. Bei keiner anderen medizinischen Leistung ist es Ärztinnen und Ärzten untersagt, direkt zu informieren. Bei keiner anderen medizinischen Leistung muss das über externe Behördenseiten erfolgen.
Wir hatten in der Anhörung übrigens ein sehr gutes Beispiel dafür, wie absurd das ist und warum hier keine Rechtssicherheit herbeigeführt wird, warum das sogar verfassungswidrig ist: Ein vollkommen identischer Text ist auf der Seite des Arztes strafbar, aber auf einer Behördenseite sogar erwünscht. Das ist völlig irre.
({7})
§ 219a bleibt ein Paragraf, der medizinische Fachinformationen mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft und immer noch Werbung mit Information gleichsetzt. Die wiederkehrende Begründung der Union kennen wir. Sie lautet, es dürfe keine Normalität hergestellt werden. Ich frage mich wirklich, in welchem Paralleluniversum Sie zugange sind.
({8})
Jede vierte Frau lässt einmal in ihrem Leben einen Abbruch vornehmen. Die Frage, ob eine Frau ein Kind austragen will oder nicht, ist für Frauen Normalität, ob Sie das wollen oder nicht. Es sollte Normalität sein, dass Frauen nicht stigmatisiert werden, wenn sie sich gegen eine Schwangerschaft entscheiden, und in diesem Fall bestmöglich versorgt werden.
({9})
An diesem Punkt zeigt sich auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie symbolträchtig diese Debatte ist und warum so hart gestritten wird; denn im Kern geht es um die Kontrolle über Frauen.
({10})
Aber, meine Damen und Herren, Frauen haben sich erkämpft, dass sie wählen dürfen. Frauen haben sich erkämpft, ohne Erlaubnis des Ehemannes arbeiten zu dürfen. Sie haben sich erkämpft, dass das Gesetz Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe stellt – es sollen übrigens nicht alle zugestimmt haben, die hier im Raum sind –, und Frauen haben sich die Erlaubnis erkämpft, Schwangerschaften zu beenden. Sie werden sich auch das Recht darauf erkämpfen; da bin ich mir sicher.
({11})
Die Hoffnung von Union und SPD, dass das Thema hier heute beendet ist, wird sich sicherlich nicht erfüllen.
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Die gesellschaftliche Mehrheit ist in dieser Frage klar: § 219a muss gestrichen werden. Das ist ganz meine Meinung.
Vielen Dank.
({13})
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Möhring. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war am Montag wirklich eine tolle und spannende Expertenanhörung, die es sicherlich wert gewesen wäre, als Livestream für die breite Öffentlichkeit gesendet zu werden.
({0})
Zu Ihrem Gesetzentwurf waren die Stellungnahmen allerdings verheerend, Herr Lauterbach. Mit einer Ausnahme waren sich alle Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler einig, dass auch die Neufassung weder geeignet ist, das ungeborene Leben zu schützen, noch die Verfassungswidrigkeit der Strafandrohung zu beseitigen.
({1})
Die Absurdität der Norm verdeutlicht folgendes Beispiel: Eine Ärztin, die darauf hinweist, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, und auf die staatliche Informationsstelle verweist, soll sich damit nicht mehr strafbar machen. Anders ist es, wenn sie exakt den gleichen Inhalt dieser staatlichen Seite auf ihre eigene Seite kopiert. Die identische Mitteilung über die gleiche Information ist im einen Fall gewollt und wird staatlich gefördert und wird im anderen Fall mit zwei Jahren Freiheitsstrafe bedroht! Das ist so absurd, dass die SPD es gestern im Rechtsausschuss selbst nicht mehr wahrhaben wollte. Es ist aber, wie es ist: Die Union hat es so gewollt, und so steht es auch im Gesetzentwurf.
({2})
Ihr kleiner Änderungsantrag ändert an der Strafbarkeit im Übrigen gar nichts.
Als Strafgesetzgeber müssen wir begründen können, warum eine Handlung als kriminelles Unrecht mit Strafe bedroht werden muss. Das vermag dieser Gesetzentwurf nicht ansatzweise. Das ungeborene Leben jedenfalls wird durch einen Verweis auf eine fremde Information nicht mehr geschützt als durch eine eigene Information.
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Eine Beschränkung auf anstößige Werbung für Schwangerschaftsabbrüche wäre verfassungsrechtlich gerade noch zulässig gewesen. Besser wäre es aber gewesen, ein solches öffentliches Ärgernis im Ordnungswidrigkeitenrecht zu ahnden, wo es auch um Rechtsgüter der öffentlichen Ordnung geht. Die sachliche Information über eine nicht nur legale Tätigkeit, sondern eine Tätigkeit, die ja gerade von Ärztinnen und Ärzten ausgeübt werden soll, damit Frauen nicht mehr wie früher in Hinterzimmern elendig verbluten, kann jedenfalls nicht mit Strafe zu ahnden sein.
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Die Neufassung des § 219a bringt keinerlei Rechtssicherheit für Ärzte, im Gegenteil. Hier noch ein absurdes Beispiel: Wer gar keine Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, aber auf das Angebot der Praxiskollegin verweist, macht sich strafbar, selbst wenn diese Kollegin sich gesetzeskonform verhält. Klingt verrückt, ist aber so! Denn nur, wer selbst Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, ist durch die Privilegierung des neuen Absatzes 4 befreit.
Am Ende erhalten die Ärztinnen und Ärzte keine Rechtssicherheit, sondern eher „Unrechtssicherheit“, wie Professor Lembke es nannte, übrigens eine von der SPD benannte Expertin.
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Alle haben bestätigt, dass die bislang angeklagten Ärztinnen und Ärzte auch nach der Gesetzesänderung mit einer strafrechtlichen Verurteilung rechnen müssen, und auch das ist von der Union so gewollt.
Liebe Sozialdemokraten, es war doch die Verurteilung der Frau Hänel, die uns allen den gesetzgeberischen Handlungsbedarf aufgezeigt hat. Und jetzt wollt ihr ernsthaft einem Gesetz zustimmen, nach dem Frau Hänel immer wieder aufs Neue verurteilt werden müsste? Das tut einem ja nicht nur als Rechtspolitikerin richtig weh!
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Eure eigene Expertin hat es wunderbar beschrieben: § 219a ist ein Störfaktor und eine unnötige Kriminalisierung von Ärztinnen und Ärzten, um sie einzuschüchtern und sie davon abzuhalten, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen. – Dabei hat der Staat diese Ärzte bei ihrer Tätigkeit zu schützen; denn es ist ein staatlicher Versorgungsauftrag, den sie erfüllen! Straffreie Schwangerschaftsabbrüche sollen eben nur von Ärztinnen und Ärzten durchgeführt werden. Dann darf man sie aber nicht mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren von ihrer Arbeit abhalten.
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Die Strafandrohung des § 219a ist weder ein geeignetes noch ein legitimes Mittel, Schwangerschaftsabbrüche zu reduzieren. Dafür gibt es bessere Wege; der kostenlose Zugang zu Verhütungsmitteln wäre einer.
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Unserem Antrag können Sie alle heute besten Gewissens zustimmen. Ärzte zu kriminalisieren, wenn sie Informationen vorhalten, die auch der Staat vorhält, ist verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Keul. – Als nächster Redner erhält der Kollege Ingmar Jung, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren jetzt seit mehreren Monaten über ein emotional sehr aufgeladenes Thema, bei dem – und das können wir auch in dieser Debatte wieder beobachten – zwei Grundüberzeugungen aufeinanderprallen, die sich im Ergebnis aber einer Aufgabe stellen müssen, nämlich im Bereich der §§ 218 ff. und in dem Gesamtkonstrukt zwei verfassungsrechtlich geschützte Grundrechtspositionen in einen vernünftigen Ausgleich zu bringen: auf der einen Seite das Selbstbestimmungsrecht der Frau, das Informationsrecht, über das wir hier reden – die Berufsfreiheit der Ärztinnen und Ärzte spielt auch noch eine Rolle – , auf der anderen Seite das ebenfalls verfassungsrechtlich geschützte Lebensrecht des ungeborenen Kindes. Diese Abwägung ist sehr schwierig, und ich sage Ihnen ganz offen: Meine Fraktion und auch ich sind der Meinung, dass es, um hier eine vernünftige Abwägung hinzubekommen, gar keiner Änderung des § 219a an der Stelle bedurft hätte.
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Ich weiß gerade aus den Diskussionen der letzten Wochen und Monate aber auch, meine Damen und Herren, dass das nicht alle so sehen, dass viele hier im Haus bei der Abwägung zu einem anderen Ergebnis kommen. Ich muss sagen: Mir haben die intensiven Diskussionen der letzten Wochen und Monate, insbesondere innerhalb der Koalition, auch ein Stück weit geholfen, die andere Position besser zu verstehen. Deswegen bin ich sehr froh, dass wir zu einem Kompromiss gekommen sind, der, glaube ich, in weiten Teilen die Ziele, die beide Seiten hatten, verwirklicht.
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Was haben wir jetzt vereinbart? Wir haben vereinbart, dass es den Ärztinnen und Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, erlaubt ist, auf die Tatsache hinzuweisen, dass sie das tun. Das wird zum einen dem berechtigten Informationsinteresse der betroffenen Frauen gerecht, weil sie jetzt die Möglichkeit haben, sich über diese Tatsache zu informieren. Zum anderen schafft es Rechtssicherheit für die Ärztinnen und Ärzte, weil jetzt völlig klar und im Gesetz ablesbar ist, was sie tun dürfen und was sie nicht tun dürfen. Das ist schon einmal ein großer Fortschritt.
Zum Zweiten ist es nach dieser Reform, wenn wir sie heute beschließen, immer noch so, dass jedwede Werbung, die darüber hinausgeht, verboten und strafbar bleibt, und das wird eben dem anderen Interesse gerecht.
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– Nein, ich meine Werbung, die verboten ist; denn Werbung ist nach Absatz 1 überhaupt nur strafbar. Dieses Missverständnis hatten wir schon in einer anderen Rede.
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Es ist immer noch so, dass jede darüber hinausgehende Werbung verboten bleibt. Das wird eben dem anderen zu schützenden Interesse gerecht, nämlich dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes.
Warum ist denn an dieser Stelle diese Abwägung so schwierig? Wir haben ein verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut. Dieses Lebensrecht kann man eben nicht, wie andere Rechte, ein bisschen einschränken, um es in einen Ausgleich zu bringen, sondern im Falle des Schwangerschaftsabbruchs kommt es zu einem Totalverlust dieses Rechtes.
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Deswegen ist es auch verfassungsrechtlich geboten, dass Schwangerschaftsabbrüche, die zum Totalverlust dieses Rechtes führen, nur in absoluten Ausnahmefällen straffrei sind, und das gewährleistet diese Reform eben auch.
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Ich glaube, dass wir hier jetzt im Ergebnis zu einer sehr vernünftigen Lösung gekommen sind. Ich habe jetzt leider nicht mehr die Zeit, auf einiges von dem einzugehen, was wir gehört haben. Der Kollege Frieser wird das gleich sicher übernehmen. Ich darf mich sehr für die wirklich sehr konstruktive Diskussion in den letzten Wochen und Monaten bedanken. Ganz herzlichen Dank an die beteiligten Minister, dass wir an dieser Stelle zusammengekommen sind und hier eine Lösung gefunden haben! Ich war mir anfangs, ehrlich gesagt, nicht ganz sicher, dass wir das hinbekommen. Deswegen bin ich umso froher, dass wir heute diese Abstimmung haben, und ich bitte Sie herzlich um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Jung. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Ulla Schmidt, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich rede hier als ein Mitglied dieses Parlaments, das an den Diskussionen um den § 218 beteiligt war. Es ging um die schwierige Lösung des Konfliktes zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Frau und dem Schutz des ungeborenen Lebens. Bei dem Ringen ging es immer wieder darum, Frau von Storch, sich an die Seite des Lebens zu stellen, und zwar nicht nur an die Seite des ungeborenen Lebens. Wir wollten das Ja von Familien zum Kind erleichtern und das Leben mit Kindern durch den immer weiteren Ausbau von familienpolitischen Leistungen, durch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und durch vieles andere mehr besser machen, weil das auf der Tagesordnung stand.
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Frau Kollegin Bauer, Sie haben in der Diskussion hier von „zutiefst beschämend“ und vielen anderen Dingen geredet. 1992 hat der Deutsche Bundestag auf einen Gruppenantrag hin, der von den Freien Demokraten und den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten initiiert wurde, die Fristenregelung auf den Weg gebracht. Im Grunde genommen ging es um die Frage, was in der DDR galt und welche Regelungen wir auch angesichts unserer Verfassung und Artikel 1, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, auf den Weg bringen können.
Der § 218 sah damals eine Fristenregelung von zwölf Wochen, eine ergebnisoffene Beratung und eine Finanzierung durch die gesetzliche Krankenversicherung vor, damit die Frauen auch eine ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen konnten. Im Übrigen: Von 10 der damals 13 Mitglieder der PDS erhielt er Ja-Stimmen, und auch 6 der damals 8 Grünen stimmten zu. Der § 219a ist damals so, wie er jetzt im Gesetz steht, verabschiedet worden, und keiner hatte den Versuch gemacht, ihn zu streichen.
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Dieses Gesetz ist 1993 vom Bundesverfassungsgericht als nicht konform mit Artikel 1 des Grundgesetzes angesehen worden. Es hat gesagt: Der Schutz des Lebens kommt zu kurz. – Deshalb haben wir – auch wieder gemeinsam: FDP, SPD und CDU/CSU – das Schwangeren- und Familienhilfegesetz auf den Weg gebracht, das ganz entscheidende Regelungen und auch eine Änderung des § 219 in Bezug auf die Beratung brachte.
Der § 219a ist auch damals nicht angetastet worden, weil wir in einem Konflikt standen. Auf der einen Seite war ganz klar, dass das keine medizinische Leistung wie jede andere ist – deshalb durfte das von den Krankenkassen nach den Auflagen des Bundesverfassungsgerichts auch nicht mehr finanziert werden –, und auf der anderen Seite wurde Werbung nicht als angemessen angesehen. Deshalb wurde das alles mit unser aller Stimmen – nur damit wir immer bei der Wahrheit bleiben – verabschiedet.
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Frau Kollegin Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schauws?
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist, dass wir mit der Debatte und den Regelungen für viele Jahre zu einer gesellschaftlichen Befriedung bei diesem Thema beigetragen haben. Menschen unterschiedlicher Auffassungen konnten damit leben.
Ich sage Ihnen: Die Diskussionen, die wir alle sehr emotional geführt haben, haben eines immer gezeigt, nämlich den Respekt vor denen, die anders denken.
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Ein Parlament muss eben alle Belange mit einbringen und dann dafür sorgen, dass man zu einem Kompromiss kommt.
Ich sage mal: Der Kompromiss, den wir heute hier zur Abstimmung stellen, ist ein Riesenfortschritt, weil er für die Frauen den uneingeschränkten Zugang zur Information sicherstellt, und das ist für mich das Wichtigste.
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Frau Kollegin Schmidt, bei aller Wertschätzung: Sie müssen zum Schluss kommen.
Er erlaubt es den Ärztinnen und Ärzten, darüber zu informieren, dass sie Abbrüche durchführen. Die Frauen können nun alle Informationen über zentrale Listen und viele andere Informationsquellen – Hotlines und auch öffentliche Stellen – erhalten.
Frau Kollegin Schmidt, bitte.
Deshalb sage ich: Wir hätten gerne den § 219a abgeschafft, aber dies ist ein Kompromiss, der einen Riesenfortschritt für die Frauen bringt.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. – Trotz der zeitlichen Enge, in der wir uns bei diesem wirklich wichtigen Thema befinden, erlaube ich eine Kurzintervention der Kollegin Schauws.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Kollegin Schmidt, Sie haben jetzt einen relativ großen Teil Ihrer Redezeit darauf verwandt, nicht über die Situation des § 219a, sondern über eine vergangene Beratung zu sprechen, die möglicherweise wichtig ist. Wir und übrigens auch die Kolleginnen aus Ihrer Fraktion haben hier immer wieder festgestellt: Die Debatte um § 219a ist keine Debatte um § 218.
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Frau Kollegin, Sie haben jetzt dargestellt, dass Sie der Meinung sind, die Situation mit diesem Kompromiss zu verbessern. Ich möchte feststellen: Bevor Sie in diese Koalition eingetreten sind, haben Sie in Ihrer Fraktion einen einstimmigen Beschluss gefasst und einen Gesetzentwurf zur Streichung von § 219a beschlossen. Ich glaube, das haben Sie aus der Überzeugung heraus getan, dass das der beste Weg wäre. Sie hätten es dabei belassen und das auch wieder einbringen können.
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Eine Sachverständigenanhörung am Montag hat deutlich gezeigt, dass die Rechtsunsicherheit mit Ihrem Kompromiss zunimmt. Die Verunsicherung von Ärztinnen und Ärzten, ob sie weiterhin angeklagt werden können und mit einem Fuß im Gefängnis stehen, bleibt bestehen. Sechs von acht Sachverständigen haben die Aussage, dass Sie die Situation damit verbessern, zurückgewiesen.
Ich frage Sie: Sind Sie der Meinung und wirklich davon überzeugt, dass Sie die Situation mit diesem Kompromiss verbessern, oder ist das nicht ein Schönreden dessen, was Sie nicht verhindern wollten?
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Vielen Dank. – Frau Kollegin Schmidt, ich gehe davon aus, dass Sie antworten wollen.
Ja, danke schön. – Frau Kollegin Schauws, Sie können den § 219a nicht losgelöst von § 218 diskutieren.
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Erster Punkt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage damals geklärt. Damit waren wir nicht glücklich, weil wir viel mehr Vertrauen in die Entscheidungsfähigkeit und das Verantwortungsbewusstsein der Frauen haben. Das Bundesverfassungsgericht hat ganz klar gesagt: Auch wenn der Schwangerschaftsabbruch straffrei ist, ist er rechtswidrig. Deshalb ist das keine medizinische Behandlung wie jede andere. – Der § 219a hat auch nachher immer Bestand gehabt, und zwar im Grunde genommen immer mit der Unterstützung von allen in diesem Hause.
Zweiter Punkt. Es gibt die Diskussionen um den § 219a, seitdem es die ersten Urteile dazu gibt. Was war jetzt eigentlich das Entscheidende für mich? Ich will, dass die Frauen einen uneingeschränkten Zugang zu Informationen haben;
({1})
denn es gibt Regionen, in denen es keinen einzigen Arzt und keine einzige Ärztin gibt, der bzw. die einen Schwangerschaftsabbruch vornimmt. Wir möchten, dass Frauen, die in einer Konfliktsituation sind, Zugang zu Informationen darüber haben, ob es Ärztinnen oder Ärzte in ihrer Gegend gibt oder, wenn sie es nicht in ihrer Gegend machen wollen, wo sie sonst hingehen können. Ein weiterer Punkt ist: Sie können beispielsweise über die zentralen Listen der BZgA erfahren, welche Methode die behandelnden Ärzte anwenden.
Ich sage Ihnen aber auch: Wenn ich als Frau weiß, wohin ich in einer Konfliktsituation gehen kann, dann bespreche ich das auch mit den Ärztinnen und Ärzten. Dann darf jeder Arzt und jede Ärztin darüber aufklären, wie und was sie machen, mit den Vor- und Nachteilen.
Deshalb sage ich: Das ist ein Kompromiss. Er geht in die richtige Richtung, und deshalb werden wir dem auch heute zustimmen.
Das Letzte ist, Frau Kollegin:
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Hätte der Kollege Lindner gesagt: „Regieren ist besser als nicht regieren“,
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dann säßen Sie heute hier und müssten den Kompromiss finden, und dann könnten wir Nein sagen. So ist das in einer Koalition.
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Vielen Dank. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält der Kollege Michael Frieser, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass es sich um einen schwierigen Kompromiss handelt, hat diese Debatte mehr als demonstriert. Um am Anfang gleich die Begriffsverwirrung einigermaßen zu klären – es gibt überhaupt keine Frage –: Im Kontext der §§ 218, 219a macht ein Arzt oder eine Ärztin, der oder die Schwangerschaftsabbrüche durchführt, Werbung, und wer das nicht tut, informiert.
Hier gibt es keine Nebelkerzen zu werfen. Es gilt aber deutlich darauf hinzuweisen – um das noch einmal klarzustellen –: In der Gesamtsystematik der §§ 218 ff. – das ist als Stufenlösung angelegt – kommt es als integralen Bestandteil auf § 219a an. Er steht nicht durch Zufall dort, sondern weil das Bundesverfassungsgericht eindeutig davon ausgeht: Einen Schwangerschaftsabbruch ohne Beratung soll und darf es nicht geben, weil es sich um keinen normalen ärztlichen Eingriff handelt.
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Das ist keine Petitesse, weil ein Schwangerschaftsabbruch kein normaler ärztlicher Eingriff ist. Es ist eine Frage von Leben und Tod. Wie eine Gesellschaft am Anfang und am Ende des Lebens mit ihrem höchsten möglichen Rechtsgut, dem Leben und der Würde, umgeht, entscheidet auch über den zivilisatorischen Gehalt.
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Deshalb ist diese Entscheidung bzw. diese Diskussion so wichtig.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der FDP-Fraktion?
Im Augenblick nicht, danke.
Es geht natürlich um die Balance, den Ausgleich von uns wichtigen Werten in dieser Diskussion – das ist oftmals angeklungen –: das Selbstbestimmungsrecht der Frau in schwierigster Situation, aber eben auch der Schutz des ungeborenen Lebens. Deshalb muss ich sagen: Der 1995 gefundene Kompromiss, um den es geht, kann nur dann funktionieren, wenn dieses Stufensystem tatsächlich eingehalten wird. Dieses ganz elementar intime Verhältnis zwischen Patientin und Arzt, in dem diese Form von Aufklärung stattfinden muss, soll und muss am Ende dieses Prozesses stehen. Nur deshalb können wir uns eine international vergleichsweise liberale Fristenlösung überhaupt vorstellen.
Es gibt überhaupt keine Möglichkeit, das anders zu sehen. Natürlich hat es etwas mit der Berufsausübung von Ärzten zu tun, aber wenn Sie es darüber regeln wollten, müssten Sie in einem Wertgutachten in der Frage, was wir als Gesellschaft davon halten, zu dem Ergebnis kommen: Es handelt sich um eine reguläre ärztliche Maßnahme. Deshalb funktioniert es nicht über das Berufsausübungsrecht der Ärzte.
Wir können die Frage nicht im Ordnungswidrigkeitenrecht regeln, weil dann die Staatsanwaltschaften, wenn wir ihr das ganze Instrumentarium des StGB über die StPO nehmen, tatsächlich mit dieser Frage nicht mehr arbeiten könnten – bis hin zur Einstellung des Verfahrens. Deshalb ist es ganz besonders notwendig, dass diese Systematik tatsächlich zusammengehalten wird.
Information als Vorstufe ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Stufenlösung, die integraler Bestandteil der Fristenlösung ist: Das ist die Idee, wie man in diesem Land mit der äußerst schwierigen Frage eines Schwangerschaftsabbruchs umgeht.
Deshalb muss ich sagen: Aktivisten zu sein, das hat noch niemandem geholfen. Die haben an keiner Stelle in diesem Land das Leben in irgendeiner Art und Weise besser gemacht.
Ein letzter Satz: Auch das ungeborene Leben zu schützen, ist das oberste Rechtsgut, das diese Gesellschaft verteidigen muss. An dieser Frage kommt niemand von uns vorbei. Diese Frage darf und kann auch niemanden kaltlassen.
Deshalb muss ich auch für uns als Union sagen: –
Herr Kollege, bitte.
– Das ungeborene Leben hat zwischen sich und dem Tod nur die Verpflichtung der Mutter zur objektiven Beratung. Ist das wirklich zu viel?
Herr Kollege, das waren mehrere Sätze. Sie haben jetzt einen letzten Satz.
Wir sagen Nein und kommen deshalb zu dem Ergebnis: Auch das dient der Findung dieses Kompromisses.
Vielen Dank.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Normalerweise freue ich mich auf das Inkrafttreten unserer Gesetze. In diesem Fall hoffe ich aber, dass dieses Gesetz nicht in Kraft treten wird.
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Im Moment erleben wir am Beispiel des Brexits, was Populismus, was verantwortungslose Politik anrichtet. Mit Angstmacherei, mit Lügen, mit Falschinformationen wurde eine Kampagne für den Brexit in Gang gesetzt, die ihresgleichen in der demokratischen Welt sucht: Angst vor angeblicher Masseneinwanderung aus der Türkei, Fantasiezahlen über eingesparte Pfund, die natürlich nach dem Brexit alle direkt in das britische Gesundheitssystem fließen werden – wir werden das beobachten –, und eine Facebook-Anzeigenkampagne, die in der Behauptung gipfelte, die EU verbiete Teekessel, um die britische Teekultur auszurotten; Populisten, verantwortungslose Politikerinnen und Politiker, die keine Ahnung davon hatten und haben, wie sie mit dem Brexit und den damit verbundenen Fragen und Herausforderungen umgehen sollen.
Vieles weiß man noch nicht. Keiner kann genau vorhersagen, wie sich der Brexit genau auswirken wird,
({1})
weder für die Britinnen und Briten noch für die Europäerinnen und Europäer.
Die Anhörung hat zumindest für die Arbeitsmarktlage bei uns Entwarnung gegeben. Unser Arbeitsmarkt ist ziemlich resistent gegenüber konjunkturellen Schwankungen. Im Zweifel hat unser Sozialstaat Instrumente wie das Kurzarbeitergeld parat. Aber, wie gesagt, genau wissen wir noch nicht, was auf uns zukommt. Auf das, was wir aber schon wissen, müssen wir uns gut vorbereiten und Vorkehrungen im Sinne der Menschen treffen, und das tun wir mit diesem Gesetz.
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Es geht vor allem um Vertrauensschutz für diejenigen, die bei ihrer Lebensplanung noch davon ausgegangen sind, dass Großbritannien ein Teil Europas ist. Wir regeln in unserem Gesetz die Fragen der Rentenversicherung, zum Beispiel die Anerkennung von Rentenzeiten oder den Export von Renten nach Großbritannien. Wir regeln für die Gesundheitsversorgung, dass dann, wenn die gesetzliche Krankenversicherung und der britische Gesundheitsdienst nicht wie bisher direkt miteinander abrechnen können, zumindest eine Kostenerstattung in Anspruch genommen werden kann. Wir regeln, dass Arbeitszeiten, die in Großbritannien geleistet wurden, in der Arbeitslosenversicherung weiter berücksichtigt werden und dass das BAföG weiter gezahlt wird.
Zwei Beispiele. Herr Müller hat 30 Jahre in Großbritannien gearbeitet, und seit 10 Jahren arbeitet er wieder in Deutschland. Ohne Brexit bekäme er eine britische Rente und eine deutsche Rente. Für die Frage, ob er langjährig versichert ist, würden beide Rentenzeiten zusammengerechnet. Ohne Gesetz wäre das sehr unsicher. Mit Gesetz geben wir ihm die Sicherheit, dass die Rentenzeiten zusammengerechnet werden.
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Frau Miller ist nicht mehr die Jüngste. Sie hat sich vor vielen Jahren in den britischen Mann James verliebt. Sie sind nach London gezogen. Sie war Hausfrau und Mutter und ist über den britischen Gesundheitsdienst versichert gewesen. Nach dem Brexit stirbt ihr Mann; sie kehrt zurück nach Deutschland. Wir ermöglichen ihr, auch wenn sie schon etwas älter ist, den Zugang in die gesetzliche Krankenversicherung. Auch das regeln wir mit unserem Gesetz.
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Junge Menschen, die in Großbritannien studieren, können sich weiter auf die Unterstützung durch das BAföG verlassen. Auch das ist ein wichtiger Punkt.
An all diesen Beispielen kann man erkennen, wie weit auch das soziale Europa mittlerweile zusammengewachsen ist, wie positiv sich die Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme auf Leben, Lernen und Arbeiten in Europa auswirkt. Wir brauchen aber mehr. Wir brauchen eine verbindliche Sozialagenda, wie Katarina Barley sie gefordert hat, mit einem Rahmen für armutsfeste Mindestlöhne und mit Mindeststandards für nationale Grundsicherungssysteme.
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Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Um es mit den Worten von Jürgen Klopp zu sagen: „Die EU ist nicht perfekt, aber es ist die beste Idee, die wir hatten.“
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Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Norbert Kleinwächter, AfD-Fraktion.
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Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Alain Finkielkraut, ein französischer Philosoph und Mitglied der Académie française, gab der „Welt“ vorgestern ein Interview:
Ohne Angela Merkels „Wir schaffen das!“ und die Million Einwanderer, die Deutschland 2015 aufgenommen hat, hätte es keinen Brexit gegeben.
Das, liebe Frau Schmidt, ist der wahre Grund für den Brexit.
({0})
Heute sprechen wir über den Entwurf eines Gesetzes zu Übergangsregelungen in den Bereichen Arbeit, Bildung, Gesundheit, Soziales und Staatsangehörigkeit nach einem ungeregelten Brexit, also einem sogenannten No-Deal-Brexit. Wir treffen heute Vorkehrungen für den Fall, den eigentlich keiner will und der doch durch irre Ideologie und grundfalsche Politik verursacht wurde.
({1})
Wir kehren die Scherben einer Politik zusammen, ja, sicher auch von David Cameron und Theresa May, aber insbesondere einer EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker, die eine nationenfeindliche Superstaat-EU mit der Brechstange durchsetzen und die Briten noch nach dem Brexit gängeln will,
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zuvorderst aber einer Angela Merkel und einer Großen Koalition, die Deutschland und Europa völlig blind zum Mekka für illegale Einwanderer und Islamisten machte. Das alles wollten die Briten nicht. Der Brexit ist ein Ruf nach Freiheit und Selbstbestimmung gewesen, ein Votum des Volkes, das wir akzeptieren sollten,
({3})
und eine Antwort des britischen Volkes auf eine Politik, die viele von Ihnen auch persönlich vertreten haben und die Sie mit einem anderen Abstimmungsverhalten oder mit der Wahl anderer Personen auch anders hätten gestalten können und müssen.
Wir beschließen heute also – wir von der AfD lehnen es ab – ein Chaosgesetz. Im Chaos muss man sich immer fragen: Was müssen wir eigentlich tun? Was wir tun müssen, hat die EU-Kommission in ihrem Verordnungsentwurf COM(2019) 53 eigentlich sehr knapp und präzise und gut dargestellt:
({4})
Bis zum Tag des Austritts, aktuell also bis zum 29. März 2019, werden Anwartschaften, Kranken- und Rentenversicherungszeiten usw. natürlich anerkannt; denn bis dahin sind die Briten Mitglied der Europäischen Union.
Diese Regelungen im EU-Verordnungsentwurf und im Gesetzentwurf, der hier debattiert wird, sind richtig. Ordnungspolitisch falsch jedoch sind alle Regelungen, die darüber hinausgehen und die in diesem Gesetzentwurf zahlreich enthalten sind. Wir von der AfD stehen für Rechtsstaatlichkeit und klare Grundsätze.
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Aber der Entwurf, der hier vorliegt, schafft Parallelzustände und freie Rechtsräume.
Schon der persönliche Geltungsbereich geht zu weit. Er gilt faktisch für alle, die sich am Vortag des Austritts in Großbritannien aufgehalten haben, auch Flüchtlinge und Staatenlose. Warum? Im Bereich der Krankenversicherung soll ein in Großbritannien Lebender noch nach dem Brexit in die freiwillige Krankenversicherung in Deutschland eintreten können. Sachleistungen sollen auch nach dem Brexit gewährt werden, während in der Rentenversicherung britische Ansprüche bis fünf Jahre nach dem Brexit noch berücksichtigt werden sollen und die Rentenversicherungspflicht im deutschen System für britische Staatsbürger weitergeführt wird.
Wie soll das bitte funktionieren? Auf welcher rechtlichen Grundlage? Es gibt keine Koordinierung mehr. Die EU-Richtlinien entfallen, und das deutsch-britische Abkommen zur Sozialversicherung ist schon lange nicht mehr auf dem Stand, um das alles abzubilden. Zudem wollen Sie auch noch Maßnahmen der Arbeitsförderung in Großbritannien weiter leisten und BAföG für Studien in Großbritannien weiterbezahlen – über den Brexit hinaus, obwohl das unserem Recht entgegensteht.
Ihr immer gleiches Argument ist der angebliche Schutz der Betroffenen. Ich sage Ihnen deutlich: Der Brexit ist der Brexit. Der 30. März 2019 verändert die Rechtslage drastisch, übrigens gewollt und bewusst. Erkennen Sie das endlich mal an! Tun Sie nicht so, als ob es weiterginge wie bisher; denn das wird es nicht, und das soll es nicht.
({6})
Das Referendum wurde am 23. Juni 2016 abgehalten, der Austrittsantrag am 29. März 2017 gestellt. Seit zwei Jahren können und könnten sich alle, Politik wie Betroffene, auf den Brexit vorbereiten. Sonderregeln braucht es da nicht mehr. Die Politik hat verschleppt.
({7})
Ein Satz zur doppelten Staatsbürgerschaft. In Ihren Gesetzentwurf haben Sie was reingemogelt, um die doppelte Staatsbürgerschaft generell zu erlauben. Wer vor dem 30. März 2019 noch die jeweils andere Staatsbürgerschaft beantragt, soll sich zwischen der deutschen und der britischen Staatsbürgerschaft nicht entscheiden müssen. Er soll einfach beide lebenslang behalten. Ich sage Ihnen: Diese Regelung ist falsch, genauso wie die doppelte Staatsbürgerschaft ein grundsätzlich falsches Konzept ist.
({8})
Man kann nur einem Land wirklich zugehören. Und Zugehörigkeit, Heimat und Verantwortung gehören ganz eng zusammen. Deswegen sind die Sonderwege, die Sie hier eröffnen wollen, unnötig, politisch falsch, rechtlich problematisch und vor allem teuer. Aber die Mehrkosten durch Ihren Gesetzentwurf, die wir sonst nicht hätten, verschweigen Sie geflissentlich. Dieser Gesetzentwurf ist so chaotisch wie der Brexit selbst. Lehnen Sie Ihn ab!
Vielen Dank.
({9})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kleinwächter, dass Ihnen und Ihrer Partei das Wohl der betroffenen Bürger und Bürgerinnen sowohl in Deutschland als auch in der EU nicht wichtig ist,
({0})
haben Sie mit Ihrer Rede gerade noch mal gezeigt.
({1})
Ich hoffe, die Bürger und Bürgerinnen erkennen das und wählen dementsprechend am 26. Mai 2019.
({2})
Die Möglichkeit, in nahezu jedes Land unseres Kontinents zu ziehen, dort zu lernen, wo der Ausbildungs- und Studiengang angeboten wird, für den man sich am meisten interessiert, dort zu arbeiten, wo die Kompetenzen am meisten gebraucht werden, dort zu leben, wo das Herz seinen Partner oder seine Partnerin findet, und bei alldem so behandelt zu werden wie die Staatsangehörigen des Aufnahmelandes – das alles ermöglichen der freie Personenverkehr und die Aufenthaltsfreiheit, die europäische Freizügigkeit. Dies ist eine der großen Errungenschaften der Europäischen Union.
({3})
Zu einer wirklichen Freiheit wird diese Freizügigkeit aber erst dann, wenn wir uns sicher fühlen. Sicherheit beinhaltet nicht nur den Schutz vor Gewalt, sondern auch die Gewissheit, eine Ausbildung zu Ende zu bringen, im Krankheitsfall versorgt zu sein und im Alter nicht mit leeren Händen dazustehen.
({4})
Die EU-Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit bieten diese Verlässlichkeit. Sie sind die Rechtsgrundlage für die Koordinierung von Leistungen bei Krankheit und Pflege,
({5})
bei Mutter- und Vaterschaft, bei Invalidität und Alter, von Leistungen an Hinterbliebene, von Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, im Sterbefall – das Sterbegeld – sowie bei Arbeitslosigkeit, von Vorruhestands- und Familienleistungen. Warum diese lange Aufzählung? Um deutlich zu machen, wie umfassend die Koordinierung innerhalb der Europäischen Union für die Freiheit von uns Bürgerinnen und Bürgern ist.
({6})
Was passiert derzeit in Großbritannien? Elf Parteimitglieder haben mittlerweile Labour und die Konservativen verlassen. Eine große Ratingagentur droht mit der Abstufung der Kreditwürdigkeit. Große Supermärkte und Fast-Food-Ketten warnen in einem offenen Brandbrief an alle Abgeordneten im Unterhaus vor einer signifikanten Störung der Lebensmittelversorgung. Selbst für diejenigen, für die ein geeintes Europa weder Herzensanliegen noch Wohlstandsgarant war, sollten die negativen Folgen eines Brexits immer offensichtlicher werden.
Trotzdem müssen wir davon ausgehen, dass das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union austreten wird.
({7})
Im Falle eines harten Brexits, also eines Ausscheidens Großbritanniens ohne Austrittsabkommen, entfallen die EU-Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ohne dass ein neues Abkommen für Ersatz sorgt.
Was wäre die Konsequenz? Das Wiederaufleben des Abkommens zwischen der Bundesrepublik und dem Vereinigten Königreich über Soziale Sicherheit von 1960. Damals war Großbritannien noch kein Teil der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, und Verträge mussten bilateral geschlossen werden. Aber dieses Abkommen von 1960 kann nicht unser Maßstab sein. Rentenzeiten, die im Ausland erworben wurden, die berufsständische Versorgung, die Pflegeversicherung, die Arbeitslosenversicherung – ich möchte nur einige Bereiche aufzählen, die keine Berücksichtigung finden würden, in denen unser heutiges europäisches Recht über das bilaterale Abkommen hinausgeht.
Das langfristige Ziel der Bundesregierung ist ein neues, umfassendes Abkommen. Dieses lässt sich jedoch erst verhandeln und beschließen, wenn Großbritannien aus der Europäischen Union ausgetreten ist und – ich formuliere es einmal ganz lapidar – endlich weiß, was es will.
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Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir Übergangsregelungen, die den Bestands- und Vertrauensschutz für die im besonderen Maße vom Brexit betroffenen Bürgerinnen und Bürger gewährleisten.
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Ansprüche von Personen, die in der Sozial- und Rentenversicherung bereits relevante Anrechnungszeiten vorzuweisen haben, werden dadurch auch nach dem Austritt Großbritanniens berücksichtigt. Außerdem sollen Personen, die in der deutschen Renten-, Kranken- oder Pflegeversicherung versichert waren, nicht ihren Versicherungsstatus aufgrund des Brexits verlieren. Auszubildende, die BAföG-berechtigt sind, erhalten bis zum Abschluss des laufenden Ausbildungsabschnitts weiter ihre Leistungen. Bei der Einbürgerung wird die doppelte Staatsbürgerschaft vorübergehend akzeptiert, sodass längere Bearbeitungszeiten nicht zulasten der Einbürgerungsbewerber gehen.
Damit regeln wir nicht alles und ermöglichen den Brexit-Befürwortern auch keine Rosinenpickerei. Aber wir regeln das Nötigste, vor allem in den Bereichen, in denen bereits Ansprüche erworben worden sind.
Sehr geehrte Damen und Herren, was wäre die Alternative? Ein Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in den Bestand von Regeln und Gesetzen, finanzielle Einbußen im Alter, Probleme beim Versicherungsschutz, bei vielen jungen Menschen sicherlich der Abbruch der Ausbildung oder des Studiums. Hier schafft der vorliegende Gesetzentwurf Rechtsklarheit, wendet Nachteile von unseren Bürgern ab und schließt Versorgungslücken. Es sind richtige und zielgenaue Regelungen.
Neben der Tragik, die mit diesem Gesetzentwurf verbunden ist, bringt er für viele Kolleginnen und Kollegen auch eine Kuriosität mit sich: Wir bitten hier um die Zustimmung zu einem Gesetz, das hoffentlich nie in Kraft treten muss.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Lezius. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Carl-Julius Cronenberg, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Irgendwie befinden wir uns heute in einer ungewöhnlichen Lage – Dagmar Schmidt hat schon darauf hingewiesen –: Wir beraten in zweiter und dritter Lesung ein Gesetz, von dem wir eigentlich hoffen, dass es nie zur Anwendung kommen wird. Und doch, meine Damen und Herren, brauchen betroffene Bürgerinnen und Bürger, brauchen Unternehmen und ihre Beschäftigten ein Minimum an Rechtssicherheit für den Fall des ungeregelten Austritts. Übrigens: Ein Hard Brexit ist nicht der Worst Case. Der Worst Case ist und bleibt ein Nachverhandeln, ein Aufschnüren des Austrittsabkommens. Das, meine Damen und Herren, würde Europa in seinen Grundfesten erschüttern. Das würde all denen in die Karten spielen, die Europa rückabwickeln wollen, und nicht zuletzt wäre es ein Verrat an unseren irischen Freunden.
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Die Verhandlungen in London gehen in die Schlussphase. Theresa May hat noch gut einen Monat, um eine Mehrheit für das Austrittsabkommen zu finden. Derweil werden die erwartbaren Folgen des Brexits langsam sicher – Antje Lezius hat es erwähnt –: Abgeordnete von Labour und Tories treten aus den Parteien aus. Eine Fluggesellschaft geht in die Insolvenz. Erste Unternehmen verlassen die Insel. – Kurzum: Politische und ökonomische Unsicherheit steigt, auch für betroffene Bürgerinnen und Bürger sowie zahlreiche Unternehmen und ihre Beschäftigten. Deshalb war es richtig, dass die Bundesregierung ein Gesetz mit Übergangsregelungen vorgelegt hat.
Im Verlauf der Beratungen sind viele Fragen aufgeworfen worden. Einige bleiben bis heute unbeantwortet. So ist beispielsweise noch nicht gesichert, ob bzw. wie britische Staatsangehörige als Drittstaatsangehörige ab dem 30. März einen Aufenthaltstitel erhalten können, wenn sie beispielsweise Hartz-IV-Empfänger sind. Gleiches gilt für Rentnerinnen und Rentner, die von der Grundsicherung im Alter leben, oder für Menschen mit Behinderung im Leistungsbezug nach SGB XII.
Auch für die Wirtschaft bleiben Fragen offen. Großbritannien gehört mit einem Handelsvolumen von 120 Milliarden Euro zu den wichtigsten Handelspartnern Deutschlands. Der Handel wird natürlich nicht zusammenbrechen, aber mit einer Konjunkturdelle werden wir schon rechnen müssen. Konkret fehlen Garantien für Arbeitnehmerfreizügigkeit und Regelungen bei Entsendungen. Im Moment kann das Risiko einer Doppelversicherungspflicht beispielsweise in letzter Konsequenz nicht ausgeschlossen werden. All das muss dann, kommt es wirklich zum harten Brexit, Teil eines umfassenden neuen Sozialversicherungsabkommens werden.
Meine Damen und Herren, wir Freie Demokraten werden heute diesem Gesetz zustimmen. Wir tun dies trotz der angesprochenen offenen Punkte und obwohl Zweifel bestehen, ob sich beispielsweise BMAS und BMI ausreichend gut abgestimmt haben. Unsere Zustimmung ist dennoch aus zwei Gründen zu rechtfertigen: Dieses Gesetz ist besser als der Käse, den uns die GroKo bedauerlicherweise sonst auftischt,
({1})
also Gesetze, die viel kosten, aber wenig bringen außer Bürokratie.
({2})
Daher werden wir Sie als Opposition weiter kritisch-konstruktiv begleiten.
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Hier geht es aber um etwas anderes: Wir wünschen uns ein starkes Signal, das von diesem Hause heute an all diejenigen in Großbritannien ausgeht, die darauf spekulieren, dass Deutschland einknickt und bereit ist, nachzuverhandeln oder den No-Deal-Brexit abzumildern.
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Denen rufen wir zu: Deutschland wird die betroffenen Bürgerinnen und Bürger nicht hängen lassen, und die, die am meisten Schutz brauchen, schon dreimal nicht. Da werden wir Lösungen finden.
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Eines muss aber klar sein: Wir sind nicht erpressbar. Wir wissen um die ökonomischen Folgen eines Hard Brexit. Wir werden aber nichts unternehmen, was dieses Szenario attraktiv macht. Der Zusammenhalt in Europa ist mehr wert als Soll und Haben in der Handelsbilanz. Der Zusammenhalt in Europa ist uns eine Herzensangelegenheit.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz ist es wie mit dem Airbag im Auto: Man ist froh, ihn zu haben, und hofft, ihn nie zu brauchen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Cronenberg. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Jutta Krellmann, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein ungeregelter Austritt Großbritanniens aus der EU ist anscheinend zum momentanen Zeitpunkt unausweichlich. Über die negativen Folgen für die Wirtschaft werden wir jetzt schon seit einiger Zeit gut informiert und nahezu dauerbeschallt. Was aber ist mit den Beschäftigten, den Rentnern und den Bürgern allgemein? Das sind doch die Hauptleidtragenden.
Ein ungeordneter Brexit bedeutet für Millionen von Briten und EU-Bürgern soziale Unsicherheit und Angst vor der Zukunft. Deshalb ist es gut und richtig, dass die Bundesregierung handelt.
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Das Gesetz der Bundesregierung schafft Sicherheit in vielen Punkten, sowohl für Briten in Deutschland als auch für EU-Bürger auf der Insel: Schutz der Rente, Krankenversicherung, Pflege. Es bleiben aber auch noch einige Fragen offen. Schutzlücken gibt es immer noch beim Kindergeld und bei der freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung. Ein harter Brexit hat auch Auswirkungen auf die Unfallversicherung: Großbritannien wird nicht mehr verpflichtet sein, Arbeitsunfälle oder Gefährdungsbeurteilungen zu dokumentieren. Wie sollen EU-Bürger da künftig nachweisen können, dass sie wegen ihrer Arbeit in Großbritannien krank geworden sind? Das kann zum Beispiel für Betroffene von Berufskrankheiten zu erheblichen Nachteilen führen. Wir als Linke fordern: Solche Schutzlücken müssen geschlossen werden,
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wenn nicht jetzt, dann auf jeden Fall später.
Ein großes praktisches Problem kommt dazu: Das Gesetz sieht eine nur dreimonatige Übergangsfrist ab dem Zeitpunkt des Austrittes vor. Drei Monate – das ist viel zu kurz, sechs Monate wären absolut besser.
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Wie sollen die knapp 120 000 Briten in Deutschland in diesem kurzen Zeitraum elementare Dinge regeln? Sie müssen sich um ihren Beitritt zur freiwilligen Krankenversicherung kümmern, zeitgleich aber auch noch ihren Aufenthaltstitel beantragen. Heute, sechs Wochen vor dem möglichen Brexit, kann niemand verlässlich sagen, was für ein Aufenthaltstitel das sein wird. Kein Wunder, dass viele Briten in Deutschland darüber verunsichert sind!
Ein harter Brexit darf nicht zu sozialen Härten führen. Deshalb stimmen auch wir für den Gesetzentwurf.
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Solidarität und soziale Sicherung für alle Europäer sind ein großes Gut. Das gilt auch nach dem Brexit. Wir haben doch gesehen, wohin uns die Politik der sozialen Kälte der letzten Jahre geführt hat. Zu einem unsozialen Europa fühlen sich immer weniger Menschen zugehörig.
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Viele Europäer haben die Schnauze voll von einem Europa der sozialen Ungleichheit.
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– Stellen Sie mir eine Frage, und rufen Sie mir nicht irgendwas zu, was ich kaum verstehe.
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Ich möchte, dass Europa für uns alle eine Zukunft hat: als soziales und Friedenseuropa.
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Das heißt: gute Arbeit, gute Löhne, gute Gesundheitsversorgung, starke soziale Rechte, Abrüstung statt Aufrüstung. Ich möchte ein Europa der Menschen und nicht der Banken.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will noch einmal betonen, worum es bei diesem Gesetz geht: Es geht um Menschen. Es geht um gut 100 000 Briten, die hier in Deutschland leben, und es geht um ungefähr 300 000 Deutsche, die in Großbritannien leben. – Die AfD hat mal wieder gezeigt, dass ihr die Menschen vollkommen egal sind. Sie sind nur interessiert an Ihrer komischen ideologischen Soße,
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die Sie nationalistisch motiviert kochen, und die Menschen sind Ihnen völlig wurscht.
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Das hat Ihre Rede voll und ganz gezeigt.
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Für diese Menschen, diese 300 000 Deutschen und 100 000 Briten, wäre es besser, wenn es den Brexit überhaupt nicht gäbe.
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Man merkt an der Diskussion ganz deutlich, wie wichtig und toll diese Europäische Union ist,
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welche Möglichkeiten wir haben, in andere Länder zu ziehen, da zu arbeiten, zu leben und trotzdem gleichzeitig sozial abgesichert zu sein. Die Rentenpunkte werden zusammengezählt. Man hat Zugang zum Gesundheitssystem. Das fällt für die Menschen komplett weg, wenn wir da nichts machen.
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Ganz abgesehen davon, was sonst noch passiert: Die ökonomischen Folgen, die das Ganze haben wird, sind noch völlig unabsehbar.
Also, für die Menschen wäre es besser, wenn es überhaupt keinen Brexit gäbe. Die zweitbeste Lösung wäre ein Brexit mit einem Abkommen. Aber es ist tatsächlich wichtig, dass wir die Menschen so weit wie möglich auch für den Fall absichern, dass es einen Hard Brexit ohne Abkommen gibt. Deswegen ist es richtig, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Wir finden den Gesetzentwurf im Grundsatz auch gut und werden zustimmen.
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In dem Gesetzentwurf sind die Maßnahmen enthalten, die wir von unserer Seite aus ergreifen können und die dafür sorgen, dass Sozialleistungen und Ansprüche so weit wie möglich erhalten bleiben. Es gibt in dem Gesetzentwurf aber auch einzelne Lücken, zum Beispiel beim Elterngeld; das wurde in der Expertenanhörung angesprochen. Zu einem Punkt haben wir einen Änderungsantrag vorgelegt; da sehen wir noch Nachbesserungsbedarf, nämlich bei der freiwilligen Krankenversicherung. Da ist eine Frist von drei Monaten angegeben. Und in der Tat kommt auf die Menschen, sowohl auf die Deutschen in Großbritannien als auch auf die Briten hier, in der Zeit nach dem Brexit ein Haufen an Formularkram zu. Sie müssen, glaube ich, mehr Zeit haben, um in die freiwillige Krankenversicherung zu gehen. Deswegen schlagen wir eine Übergangsfrist von sechs Monaten vor. Auch das ist befristet; das ist wichtig an dieser Stelle. Aber eine Frist von sechs Monaten ist für die Menschen, glaube ich, besser als eine von drei Monaten. Deswegen haben wir an dieser Stelle einen Änderungsantrag gestellt.
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Die Anhörung hat aber vor allem noch einmal deutlich gemacht, dass es zwar gut ist, wenn wir hier einseitige Regelungen verabschieden, aber das an Grenzen stößt. Denn in vielen Punkten funktionieren Regelungen natürlich nur, wenn es auch entsprechende Regelungen auf der anderen Seite gibt und auch von der anderen Seite Informationspflichten eingehalten werden. Deswegen stellt das, was wir einseitig machen können, nur eine Teillösung dar. Es ist von daher wichtig, dass wir nach dem Austritt von Großbritannien möglichst schnell ein Sozialabkommen verhandeln, damit sich die Situation für die Menschen dann auch wieder verbessert und sie vernünftig abgesichert sind, nicht nur durch eine Brückenregelung. Das ist eine wichtige Aufforderung an die Bundesregierung, solche Verhandlungen dann auch anzustoßen, also vor allem die Europäische Kommission dazu zu bewegen, solche Verhandlungen zu führen.
Es wird in der öffentlichen Debatte viel über Freihandelsabkommen geredet; es ist auch wichtig, dass das geklärt wird. Aber ein Sozialabkommen ist für die betroffenen Menschen, über die wir heute reden, mindestens genauso wichtig.
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Zum Schluss noch eine Botschaft an die britischen Bürgerinnen und Bürger: The Britains should know: From the bottom of our hearts, we want them to stay. And if you leave, you are always welcome to come back.
Vielen Dank.
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Ihr Wort in Gottes Ohr oder im Ohr der Briten.
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Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Angelika Glöckner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir beschließen heute ein Übergangsgesetz. In der Tat hoffe auch ich, dass wir es nicht brauchen; ich habe bereits in der ersten Lesung darauf hingewiesen. Der Grund für die Notwendigkeit eines Gesetzes ist, dass sich bis heute an den Umständen nichts geändert hat. Das britische Parlament ist mit Blick auf die nordirische Grenzgestaltung nach wie vor hoch zerstritten. Am Ende wird dies die Schlüsselfrage sein, die schuld daran sein kann, dass Großbritannien dem Abkommen über den Austritt, das es mit der EU ausgehandelt hat, nicht zustimmen wird. Im Falle eines solchen No-Deal-Szenarios werden die sozialen Sicherungssysteme abrupt enden, und deswegen müssen wir für den Notfall vorsorgen.
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Die SPD hat immer den Standpunkt vertreten, dass die Streitigkeiten des britischen Parlaments eben nicht auf dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger ausgetragen werden dürfen. Es sind immerhin zwischen 300 000 und 400 000 Menschen betroffen. Ich danke deshalb auch sehr Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, dass er schnell diesen Entwurf eines solchen Notgesetzes vorgelegt hat; denn – ja – wir schaffen damit Rechtssicherheit. Ich will das an drei Beispielen verdeutlichen.
Erstens. Wir sichern die Rentenansprüche, und wir sorgen dafür, dass Rentenleistungen weiterhin ausbezahlt werden.
Zweitens. Wir sichern Ausbildungsförderungen für junge Menschen, die zum Zeitpunkt des Brexits in Großbritannien eine Ausbildung oder ein Studium begonnen haben.
Und drittens. Wir sichern Krankenversicherungsleistungen und ‑beiträge, wenn die Menschen dies wünschen, innerhalb einer Frist von drei Monaten.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt, dass wir hier eine Frist von sechs Monaten gewähren; aber ich empfehle Ihnen, das noch einmal zu überdenken. Denn Sie müssen wissen: Der Brexit, sobald er vollzogen ist, sorgt dafür, dass keine Krankenversicherung mehr besteht. Wenn sich die Menschen Zeit lassen, das anzuzeigen, sind sie sechs Monate ohne Krankenversicherungsschutz unterwegs. Ich finde, das ist keine Besserstellung. Sie sollten sich das ernsthaft noch einmal überlegen.
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Alle Expertinnen und Experten haben in der öffentlichen Anhörung diesem Übergangsgesetz zugestimmt, weil es Rechtssicherheit schafft. Aber ich sage an dieser Stelle auch – die Beratungen haben das vor Augen geführt –: Wir können nicht für alle Fälle vorsorgen; das wurde auch eben schon gesagt. Das ist so. Wir können beispielsweise nicht regeln, dass Dokumentationspflichten in Großbritannien weiterhin fortgeführt werden; das wäre wichtig mit Blick auf Arbeitsschutz und Gesundheitsschutz. Aber es ist nun mal, wie es ist. Wir können dafür nicht vorsorgen; da haben die Kollegen vom DGB in ihrer Stellungnahme recht.
Das zeigt jedoch auch eines, Kolleginnen und Kollegen: Die EU-weiten Regelungen bieten den Menschen viele Vorteile;
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das wird uns doch in diesen Tagen an vielen Kleinigkeiten immer wieder bewusst. Und wenige Wochen vor der Europawahl wünsche ich mir sehr, dass dieser Brexit den Menschen in der Europäischen Union eines vor Augen führt: wie wichtig diese Europäische Union für die Menschen ist, welchen Wert und welche Bedeutung sie hat.
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Zu diesen Forderungen, die ich immer wieder von ganz rechts außen höre, Deutschland hätte mit Großbritannien bilateral ein Abkommen schließen sollen, weil dies den Menschen Vorteile bringen würde,
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sage ich Ihnen ganz ehrlich: Das ist nichts weiter als ein ideologisch motivierter Täuschungsversuch.
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Sie wollen den Menschen weismachen, dass dies ihnen Vorteile bringen würde. Die Wahrheit ist aber – Sie wissen es ganz genau –, dass wir alle miteinander, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, an der Abmachung festhalten, dass wir dieses Abkommen, wie es verabredet wurde, durchziehen wollen.
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Wir können uns als Deutschland nicht erlauben, einen Alleingang zu unternehmen.
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Das ist auch europarechtlich nicht möglich; das wissen Sie ganz genau. Und politisch würde das nichts anderes bedeuten als eine Zersplitterung oder sogar einen Zerfall der EU. Und darum geht es Ihnen, nicht um das Wohl der Menschen!
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Ich danke nochmals Bundesarbeitsminister Hubertus Heil für den vorgelegten Entwurf. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen sehr für die Kooperation und die konstruktiven Beratungen. Wir haben resultierend aus den Beratungen vonseiten der Koalition Änderungen zum Gesetzentwurf vorgeschlagen. Ich bitte Sie sehr, auch diesen zuzustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Peter Aumer von der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In zweiter und dritter Lesung beraten wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu den Übergangsregelungen im sozialen Bereich, falls es zum harten Brexit kommen sollte. Mit diesem Gesetz schaffen wir Rechtssicherheit und eine angemessene Absicherung bei Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit und in weiteren Bereichen.
Seit der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes sind drei Wochen vergangen. Es sieht nicht so aus, dass es eine Einigung zwischen der EU und Großbritannien geben wird. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass die Bundesregierung diesen Gesetzentwurf frühzeitig eingebracht hat. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist verantwortungsvolle Politik.
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Hier geht es, liebe Kollegen, um 400 000 Menschen, um 400 000 individuelle Geschichten und Lebensentwürfe, die sich in einem geeinten Europa nicht mit nationalen Landesgrenzen befasst haben, für die der Austausch zwischen den Nationen und der europäische Alltag Lebensalltag geworden ist. Für diese Menschen schaffen wir mit diesem Gesetz Rechtssicherheit.
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Eines, meine sehr geehrten Damen und Herren, wird bei der Brexit-Debatte deutlich: die Stärke der Europäischen Union,
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die Stärke des einheitlichen Binnenmarktes und die Kraft der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Die geschaffene Freiheit ist die Stärke der EU. Herr Kleinwächter, es geht nicht um den Gegensatz von Freiheit und Selbstbestimmung, sondern es geht um die Kraft, die die Europäische Union in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.
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Es geht vor allem um ein Grundprinzip der Europäischen Union, das Sie vielleicht vergessen haben: die Subsidiarität. Jede Ebene muss in ihrem Bereich regeln, was sie regeln kann. Man sieht bei der Brexit-Debatte genau, wie schwierig es ist, Dinge, die über Jahrzehnte zusammengewachsen sind, auseinanderzureißen. Diese Kraft, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir in der Europäischen Union zurückgewinnen, um diese in den nächsten Monaten nicht den Populisten zu überlassen.
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– Die Subsidiarität funktioniert sehr wohl, sehr geehrter Herr Kleinwächter; das sehen wir sehr gut. Es geht um die grenzüberschreitenden Dinge: um grenzüberschreitendes Leben und um grenzüberschreitendes Handeln. Das ist ein wesentlicher Bereich, den man auf die europäische Ebene übertragen hat bzw. weiter übertragen muss.
Sollte es zum Brexit kommen, meine sehr geehrten Damen und Herren, stärken diese Übergangsregelungen und auch die Debatten, die wir heute in diesem Haus führen, den europäischen Gedanken.
Herr Kleinwächter, es geht nicht um ein Chaosgesetz. Wir reden über das genaue Gegenteil. Sie haben gesagt: Der Kommissionsvorschlag ist besser. – Wenn Sie am Montag in der Anhörung der Experten besser aufgepasst hätten, wüssten Sie: Die sagen genau das Gegenteil. Unser Gesetzentwurf ist besser, weil er klarer regelt und den Menschen mehr Sicherheit gibt. – Das ist doch die Aufgabe, die wir haben: Wir müssen den Menschen, die ganz konkret betroffen sind, die in den letzten Jahren in Großbritannien gearbeitet und Ansprüche erworben haben, Sicherheit geben.
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Hier geht es um den Einzelnen und nicht um Populismus.
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Hier geht es nicht um Chaos, sondern um Vertrauen und um Rechtssicherheit. Das ist unsere Aufgabe in diesem Hohen Haus. Daran haben wir aus meiner Sicht sehr verlässlich gearbeitet.
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– Ich habe sehr wohl zugehört, Herr Kleinwächter.
Falls es zum Brexit kommt, wird es nicht wie vorher sein; damit haben Sie recht. Es wird nicht wie vorher sein; denn wenn man den Markt auseinanderreißt, kommt es zu Eruptionen. Es gibt eine Berechnung des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, nach der 100 000 Arbeitsplätze verloren gehen sollen. Besonders betroffen wären beispielsweise Automobilstandorte in Deutschland. Siemens und BMW warnen vor Produktionsausfällen. Ich glaube, auch hier wird sehr klar und sehr deutlich, dass man nicht mal eben sagen kann: Wir gehen.
Die AfD hat ja ein Programm vorgelegt, in dem es darum geht, wie Deutschland Europa am besten verlassen könnte. Ich glaube, wir sehen sehr deutlich, dass das so einfach nicht funktioniert.
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– Ja, ja, reformieren wollen wir auch, aber wir wollen nicht raus, sondern wir wollen in der Europäischen Union bleiben.
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Wir wollen diese Europäische Union aus eigener Kraft reformieren. Das ist die Aufgabe, die wir haben.
Wenn es zum Austritt kommen sollte, wird Großbritannien in Zukunft trotzdem einer unser wichtigsten Handelspartner bleiben. Deswegen sind verlässliche Übergangsregelungen ein wesentlicher und wichtiger Aspekt der künftigen Zusammenarbeit. Wenn es zum Brexit kommen sollte, wird es unsere Aufgabe in diesem Hohen Haus sein, aus den Übergangsregelungen langfristige Regelungen zu machen. Ich persönlich hoffe, dass es nicht dazu kommt; denn Europa fußt vor allem auf Vertrauen und Zuversicht. Dieses Vertrauen und die Zuversicht müssen wir bei den Menschen wieder erarbeiten. Das muss unsere Aufgabe und unser Ziel sein.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu Übergangsregelungen in den Bereichen Arbeit, Bildung, Gesundheit, Soziales und Staatsangehörigkeit nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7960, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/7376 und 19/7915 in der Ausschussfassung anzunehmen. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/7963 vor. Über diesen stimmen wir jetzt zuerst ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Antrag mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, FDP und AfD gegen die Stimmen der Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
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– Sie haben zusammen mit den Grünen abgestimmt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Jetzt stimmt auch Die Linke zu. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen aller Fraktionen des Hauses gegen die Stimmen der AfD in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf mit der Mehrheit des Hauses gegen die Stimmen der AfD angenommen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland leidet unter kolonialer Amnesie. Die koloniale Fremdherrschaft über Teile Afrikas, Ozeaniens und Chinas ist noch immer ein verdrängtes Kapitel unserer Geschichte. Zeit, das endlich zu ändern!
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Immer wieder begegnet mir das Vorurteil, Deutschland sei eine unbedeutende und harmlose Kolonialmacht gewesen. Der Afrikabeauftragte der Bundesregierung hob jüngst gar die angeblich positive Wirkung des Kolonialismus hervor. Es ist höchste Zeit, den Kolonialismus, die damit verbundenen Verbrechen und den antikolonialen Widerstand endlich umfassend aufzuarbeiten.
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Dass erstmals in diesem Koalitionsvertrag die Aufarbeitung des Kolonialismus angekündigt ist, finden wir richtig gut. Nur, jetzt müssen diesen Ankündigungen natürlich auch Taten folgen. Gegen die koloniale Amnesie hilft nur eine lebendige und vielfältige Erinnerungskultur.
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Die von Macron angestoßene Diskussion über die Rückgabe von Objekten aus kolonialen Kontexten an ihre rechtmäßigen Besitzerinnen und Besitzer ist ein wichtiger Bestandteil der Debatte. Es kann doch nicht sein, dass die Bundesregierung nicht weiß, wie viele geraubte Objekte und menschliche Gebeine sich in deutschen Sammlungen befinden. Die Mittel für Provenienzforschung müssen endlich erhöht und Rückgabeansprüche gesetzlich verankert werden.
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Doch es geht um weit mehr als um die Rückgabe von Exponaten. Es geht darum, mit Behauptungen von Ungleichwertigkeit aufzuräumen, die ihren Ausdruck noch heute im Rassismus finden. Es geht darum, endlich einen verantwortungsvollen Umgang mit unserem kolonialen Erbe zu finden.
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Wir brauchen unabhängig vom Humboldt Forum eine zentrale und gut sichtbare Stätte des Erinnerns und des Lernens. Die Revisionisten von rechts wollen eine saubere deutsche Identität konstruieren, doch genauso wie die Shoah, genauso wie die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus sind die kolonialen Verbrechen untilgbarer Teil unserer deutschen Geschichte. Sie lassen sich nicht mit einem Schlussstrich ad acta legen.
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Es geht hier auch nicht, wie die AfD häufig behauptet, um Moralismus. Nein, es geht um Demut und Dialog. Zentral dafür ist, dass wir, die Nachfahren der Tätergeneration, Deutungshoheit aufgeben und die Nachfahren der Betroffenen maßgeblich an diesem Prozess beteiligt sind.
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Den zivilgesellschaftlichen Initiativen hierzulande und im globalen Süden ist es zu verdanken, dass wir diese Debatte heute überhaupt führen – endlich! Diese Debatte ist allein schon aus Verantwortung gegenüber der Vergangenheit notwendig. Sie wird aber auch einen relevanten Beitrag leisten können, institutionellen Rassismus und bis heute wirksame Ausbeutungsverhältnisse zu erkennen und hoffentlich zu überwinden. Dafür muss die Debatte ernsthaft, selbstkritisch und offen geführt werden.
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Wir Grüne wollen eine systematische und breite Aufarbeitung des kolonialen Erbes in der Zivilgesellschaft, den Schulen, Universitäten, Museen und eben auch im Zentrum der Republik mit einer Stätte des Lernens und Erinnerns. Denn wer die Vergangenheit verdrängt, trifft falsche Entscheidungen für Gegenwart und Zukunft.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Ansgar Heveling, Fraktion CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Ich will nie etwas besitzen“, das soll Alexander von Humboldt in einem Brief aus Havanna an einen Freund geschrieben haben. Jedenfalls habe ich dieses Zitat in einem Beitrag von Frau Professor Bénédicte Savoy im „Tagesspiegel“ vom 18. Januar 2017 so gelesen.
Beinahe ironisch muten diese Worte an, wenn wir heute über den Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten sprechen. Man bedenke, wie eng das Lebenswerk beider Humboldt-Brüder doch mit unserer einzigartigen modernen Museumslandschaft in Deutschland verwoben ist. So sind sie auch Namensgeber eines ambitionierten Projektes, des Humboldt Forums in Berlin, in dem das Thema Kolonialismus breiten Raum einnehmen wird.
Sowohl dessen bevorstehende Eröffnung als auch die Veröffentlichung eines Berichtes in Frankreich mit dem Titel „Die Restitution des afrikanischen Kulturerbes“, der die sofortige ungeprüfte Rückgabe aller Kulturgüter aus Frankreich fordert, erarbeitet von der eben von mir genannten Frau Professor Savoy in Zusammenarbeit mit Felwine Sarr, haben in den letzten Monaten die Diskussion um den Umgang mit kolonialem Erbe erneut intensiviert. Auch wenn Deutschland vergleichsweise spät und kurz Kolonialmacht war, so ist doch der gesellschaftliche Diskurs darüber absolut notwendig.
Zur Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte bekennt sich dementsprechend auch der Koalitionsvertrag explizit. Wir haben dort verankert, dass wir die kulturelle Zusammenarbeit mit Afrika verstärken, einen stärkeren Kulturaustausch befördern, die Digitalisierung der deutschen Museumsbestände und die Aufarbeitung der Provenienzen voranbringen wollen. Auch unsere Staatsministerinnen Monika Grütters und Michelle Müntefering haben dies in einem gemeinsamen Gastbeitrag in der „FAZ“ vom 15. Dezember 2018 hervorgehoben.
So wichtig die Aufgabe ist, so komplex gestaltet sich aber auch ein adäquater Umgang mit den Kulturgütern; denn Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten befindet sich eben nicht nur in ethnologischen Museen, wie sich auf den ersten Blick vielleicht vermuten ließe, nein, beinahe alle Museumsgattungen sind hier in der Pflicht. Dem „Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ des Deutschen Museumsbundes kann man entnehmen, dass es neben den ethnologischen auch um die naturkundlichen, historischen – auch stadt- und militärhistorischen –, kunst- und kulturhistorischen, archäologischen und anthropologischen sowie Technik- und Volkskundemuseen und -sammlungen geht.
Genauso sind die Objektgruppen, über die wir sprechen, ganz unterschiedlicher Natur. So gehören neben menschlichen Überresten zeremonielle Objekte und Herrschaftszeichen, aber auch technisches Gerät, Waffen, Uniformen, Kolonialwaren, Werbung für ebendiese, Objekte kolonialer Propaganda, Alltagsgegenstände sowie Objekte bildender Kunst dazu. Sie stammen nicht allein aus den ehemaligen deutschen Kolonien, sondern aus der ganzen Welt.
Mit welchen Schwierigkeiten die Rückgabe sensibler Kulturgüter verbunden sein kann, zeigt exemplarisch ein aktueller Fall, mit dem sich der Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg gerade in diesen Tagen befasst hat. Eine Bibel und eine Peitsche des namibischen Nationalhelden Hendrik Witbooi, gelagert im Linden-Museum in Stuttgart, sollten am 1. März nach Namibia zurückgebracht werden. Dagegen hatte die Vereinigung der Nama-Stammesältesten, deren Stamm Hendrik Witbooi angehörte, eine einstweilige Verfügung beim Verfassungsgerichtshof in Baden-Württemberg beantragt, die heute zurückgewiesen worden ist, sodass das Kulturgut jetzt doch nach Namibia zurückkehren kann.
Wir können sicherlich auch nicht einfach hingehen und Verfahrensweisen, die wir im Umgang mit nationalsozialistischer Raubkunst entwickelt haben, auf den Umgang mit kolonialem Sammlungsgut eins zu eins übertragen. Es ist auch keinem damit geholfen, kurzerhand eine Erinnerungsstätte zu bauen. Die Entscheidung darüber kann nicht am Anfang einer Debatte stehen. Man nehme nur den Vorschlag von Professor Parzinger, einen Raum der Stille zum Gedenken an die Opfer von Kolonialismus im Humboldt Forum einzurichten, mit dem er eine breite Diskussion ausgelöst hat.
Wie geht es nun weiter? Zunächst steht seit Jahresbeginn über das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste ein eigener Etat zur Förderung von Projekten der Provenienzforschung zum Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten sowie zur thematischen Grundlagenforschung zur Verfügung. Es wird also mehr Geld bereitgestellt, und ein erster wichtiger Schritt seitens des Bundes ist damit getan.
Weiter haben im Oktober des vergangenen Jahres Bund und Länder eine Arbeitsgruppe im Rahmen der Kulturministerkonferenz gegründet, die eine gemeinsame Positionierung zum Umgang mit Kulturgut aus kolonialen Kontexten konzipieren soll; denn es geht ja eben gerade nicht nur um den Bund. Unsere föderale Struktur im Kulturbereich zeigt eben, dass auch die Länder und die Kommunen eingebunden werden müssen.
Außerdem wird die zweite Fassung des Leitfadens des Deutschen Museumsbundes in Bälde mit einer Erweiterung um eine internationale Perspektive erscheinen. Die Ergebnisse beider Berichte werden unsere Beratungen sicher positiv beeinflussen und in eine Empfehlung zum Umgang mit Kunst- und Kulturgütern aus kolonialen Kontexten einfließen können.
Stärker noch als bei der Aufarbeitung von NS-Raubkunst ist in dem vorliegenden Kontext aber sicherlich auch die Einbettung in einen international anerkannten Handlungsrahmen von Bedeutung.
Ich möchte zum Schluss unterstreichen, dass die große Mehrheit der Fraktionen im Deutschen Bundestag die Aufgabe der Auseinandersetzung mit der deutschen und europäischen Kolonialgeschichte und ihre Bedeutung für unsere Entwicklung als Gesellschaft sehr ernst nimmt. Dementsprechend freuen wir uns auf konstruktive weitere Beratungen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marc Jongen von der AfD.
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Herr Präsident! Werte Abgeordnete! Die Bundesregierung hat angekündigt, die Provenienzforschung zum Kulturgut aus kolonialem Erbe in deutschen Museen fördern und vorantreiben zu wollen. Am Ziel dieses Vorhabens haben die Kulturstaatsministerin Grütters und Sie, Frau Müntefering, keinen Zweifel gelassen. „Von Museen und Sammlungen erwarten wir die Bereitschaft, sich offen der Frage einer Rückgabe von Kulturgütern … zu stellen“, schreiben Sie in einem gemeinsamen Artikel. Und im Vorspann steht drohend: „Eine Rückgabe der Kulturgüter ist erst der Anfang.“ Ja, meine Damen und Herren, es wird munter weitergehen mit dem Ausverkauf unseres Landes; das wird inzwischen ganz unverhohlen angekündigt.
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Und einmal mehr wird hier in der deutschen Politik Moral oder besser Moralismus über das Recht gestellt. Die AfD stellt sich dem auch in kulturpolitischer Hinsicht entschieden entgegen, meine Damen und Herren.
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Gemeinsam mit anderen Kollegen der AfD-Fraktion habe ich eine Große Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Die Antworten sind mehr als dürftig ausgefallen. Der Ressourcenbedarf der Provenienzforschung, nach dem wir fragten, sei nach „Kenntnis der Bundesregierung … nicht quantifizierbar“. Die Verantwortung wird diesbezüglich an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz abgeschoben. Wie die Bundesregierung sicherstellen will, dass zurückgegebene Artefakte nicht in Privathände gelangen, darauf haben wir gar keine Antwort erhalten.
Auf die Frage, ob die kuratorischen und konservatorischen Leistungen der ethnologischen Sammlungen in Berlin jemals gewürdigt worden sind durch afrikanische Staaten, antwortet die Bundesregierung, diese Frage stelle sich gar nicht. Auch ob die Kunstwerke dort überhaupt sachgerecht konserviert und präsentiert werden können, spielt offenbar keine Rolle. Es geht in dieser Debatte gar nicht um die Wertschätzung der betroffenen Objekte, meine Damen und Herren, es geht einzig und allein – wir haben es vorhin im grünen Redebeitrag gehört – um die Kultivierung eines Schuldkomplexes in Bezug auf die deutsche Kolonialgeschichte.
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Dieser hat einen ganz bestimmten Zweck: Er soll als psychopolitische Grundlage dienen für die Akzeptanz von Massenmigration und Multikulturalismus. Das ist das erklärte politische Ziel der Restitutionsaktivisten.
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– Ja, Sie lachen. – Wer das nicht glaubt, soll dem ka merunischen Politologen und Aktivisten Achille Mbembe zuhören, der bei einem Kolloquium des Auswärtigen Amtes im letzten Jahr einen klaren Zusammenhang zwischen Restitution von Kulturgut und Rücksendung von sogenannten Flüchtlingen hergestellt hat. Er warb dort für eine Kultur des Teilens und ein Ende des Eigentumsdenkens, zu wessen Ungunsten, das dürfte auf der Hand liegen. Die Grünen beten es ihm in ihrem Antrag nach: eine Blaupause zur Leerräumung deutscher Museen, gegen das Recht, aber vom höchsten moralischen Ross herab, wie es eben so Ihre Art ist, werte Grüne.
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Der französische Präsident Macron, der offenbar eine Art Hohepriester des Restitutionskults werden möchte, hat den Kolonialismus „ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und eine wahre Barbarei“ genannt. Es steht außer Frage, meine Damen und Herren, dass im Zuge des Kolonialismus schlimme und schlimmste Verbrechen begangen worden sind. Aber es ist eben auch wahr
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– jetzt kommt die andere Seite; hören Sie doch mal zu –, was der Historiker und Sklavereiexperte Professor Egon Flaig festgestellt hat – Zitat –:
Der europäische Kolonialismus unterband weitgehend die gewaltsamen Versklavungsprozesse, unterdrückte die Warlords und stabilisierte die Lebensverhältnisse; er hat Afrika nach einer 1000-jährigen Geschichte von blutigster Gewalt und Völkermorden die Möglichkeit zu neuen Wegen eröffnet.
Dieser Aspekt wird in dieser Debatte völlig unterschlagen.
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Stattdessen geben die simplen und hypermoralischen Pauschalurteile der schon erwähnten Frau Bénédicte Savoy den Ton an, die sowohl Macron als auch unsere Kulturstaatsministerin Grütters berät. Demnach „klebt an dem ausgestellten afrikanischen Kulturgut ganz pauschal Blut“ und „unsere afrikanischen Kollegen müssen selbst entscheiden, was sie zurückhaben wollen“.
Meine Damen und Herren, das ist die Ideologie des Dekolonialismus, gegen die man sich in Frankreich inzwischen sehr prominent zur Wehr setzt. Eine Gruppe von 80 Intellektuellen, angeführt von Alain Finkielkraut, hat in einem Appell der 80 im vergangenen November klar festgestellt, dass die dekolonialistischen Ideologen „Methoden des intellektuellen Terrorismus“ anwenden,
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indem sie alle ihre Gegner des Rassismus oder der Islamophobie beschuldigen, indem sie Schuldgefühle ausbeuten, Ressentiments anheizen, interethnischen Hass und Spaltungen schüren. Auf dieser Grundlage kann keine sachgerechte Debatte geführt werden. Die AfD fordert hier, von moralistischen Überfrachtungen Abstand zu nehmen und sich im Übrigen an Recht und Gesetz zu halten,
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wie es im „Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ des Deutschen Museumsbundes festgehalten ist.
Vielen Dank.
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Lesen Sie das doch mal.
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Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Helge Lindh.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Jongen, Sie haben so unrecht, und in einem Punkt haben Sie recht. Sie haben so unrecht; denn wie können wir ausverkaufen, was uns zu großen Teilen gar nicht gehört?
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Das ist Ausverkauf von Raubgut. Und in einem Punkt – ich hätte nie gedacht, dass ich so was sagen würde – haben Sie recht. Sie sagten sinngemäß, es ginge nicht um eine Wertschätzung von Objekten. Tatsächlich: Nein, darum geht es nicht. In allererster Linie geht es um die Wertschätzung von Menschen und Opfern und ihren Nachgeborenen.
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Es gibt ja, uns allen mehr oder weniger bekannt, international den Aufruf: Let’s take back control! Wir kennen das aus dem Zusammenhang mit dem Brexit, von Trump und anderen. Mein Appell heute wäre der gegensätzliche Spruch als Anleitung für uns in dieser Debatte: Let’s give up control!
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Aufgabe von Kontrolle, das ist die nicht einfache Aufgabe, aber genau die steht im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus.
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Denn wir alle wissen, dass Erinnerung eben nicht versklavend einengt, sondern dass Erinnerung gerade an eine solche Geschichte, die von Versklavung – Versklavung von Menschen, von Köpfen, von Ideen, von Identitäten – geprägt ist, befreit.
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Und wir merken auch – da ist die Große Anfrage der AfD der beste Beweis –, dass dieser Kolonialismus offensichtlich bis heute – das haben viele nicht gemerkt – eine schwere Traumatisierung inmitten unserer Gesellschaft hinterlassen hat.
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Sie sprachen von Psychopolitik. Es gibt eine Anekdote von Freud. Ein Mann kommt zu Freud in die Praxis und sagt: Eines sage ich Ihnen gleich, ich habe keinen Mutterkomplex. – Die Pointe ist: Er hat natürlich einen Mutterkomplex. Ich will Ihnen jetzt nicht unterstellen, dass Sie einen Mutterkomplex haben, obwohl das vieles erklären würde.
({6})
Aber zumindest haben Sie einen ausgeprägten kolonialen Komplex.
({7})
Denn Sie sind zutiefst geprägt, geradezu besessen von dieser Thematik. Genau das zeigt die Traumatisierung Ihrer selbst in dieser Frage.
({8})
Sie erwähnen doch tatsächlich, dass wir nicht restituieren sollten, weil die kuratorische und konservatorische Kompetenz in Afrika nicht sichergestellt sei.
({9})
Zum Ersten stimmt das überhaupt nicht. Das hätten Sie gemerkt, wenn Sie sich mal ein bisschen kundig gemacht hätten. Zum Zweiten ist es völlig irrelevant. It’s not our business. Es ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu entscheiden.
({10})
Es ist nicht an uns, zu entscheiden, ob unrechtmäßig enteignete Güter in den Keller oder in den Hof gestellt, in Rituale eingespeist werden oder sonst was damit gemacht wird.
({11})
Wir sind nicht in der Position, Bedingungen zu stellen, Sie erst recht nicht.
({12})
Außerdem haben Sie sich ja eben wieder auf den Marxismus und postkoloniale Theorien bezogen.
Herr Kollege Lindh, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Jongen?
Ich erlaube eine Zwischenfrage; denn ich habe es ja darauf angelegt, dass diese Zwischenfrage kommt. Man kann sich darauf verlassen, dass Sie auch entsprechend reagieren. – Bitte, Ihre Frage.
({0})
Vielen Dank, Herr Lindh, dass Sie die Zwischenfrage erlauben. – Meine Zwischenfrage bezieht sich auf Ihre Ausführungen, es sei nicht unser Business bzw. unsere Aufgabe, sicherzustellen, dass für diese Objekte, wohin auch immer wir sie geben, gut gesorgt sei.
Würden Sie zustimmen, dass aus Ihren Ausführungen zwingend folgt, dass es uns im Grunde egal ist, egal sein müsste, wenn diese Objekte dann in Kürze auf dem internationalen Kunstmarkt erscheinen und dort zu hohen Preisen versteigert werden? Muss uns das nicht besorgen? Müssen wir dann nicht auch besorgt sein, dass dieses kulturelle Erbe für die gesamte Menschheit verloren geht? Was sagen Sie denn zu dieser Gefahr?
Ich sage zu dieser Gefahr: Ich lerne in diesem Moment wieder, dass wir in parallelen Universen leben. Und in Ihrem Paralleluniversum hat man sich offensichtlich überhaupt nicht mit Afrika, der dortigen Kultur, den vielfältigen intellektuellen Prägungen, den Denkern und Denkerinnen, die es dort gibt, auseinandergesetzt. Was ist das für ein Ansatz, den Sie hier zeigen?
({0})
Sie unterstellen sogleich, dass die Güter auf den Kunstmarkt kommen würden. Der Witz ist nur – deshalb ist es ein Eigentor erster Güte von Ihnen –: Dieser Kunstmarkt, auch die Unwägbarkeiten und alle Deformationen sind keine afrikanische Erfindung, sondern sie sind eine zutiefst europäische.
({1})
Sie zeigen damit auch mustergültig, dass Ihre Sichtweise hoffnungslos eurozentrisch ist.
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Wenn Sie sich ein bisschen mit afrikanischer Kunst und afrikanischen Objekten auseinandergesetzt hätten, hätten Sie verstanden, dass ganz viele Objekte davon leben, dass sie eingebettet waren in Rituale, in Prozesse und nicht dem eurozentrischen westlichen Denken eines schieren Objekts entstammen, das man in ein Museum stellt. Ihre Frage ist völlig absurd und hat überhaupt nichts mit der Realität von Kunst und der Kultur in afrikanischen Ländern zu tun.
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Sie bemühen sich, es mir heute leicht zu machen; aber leider muss ich mich mit Ihnen aufhalten. Des Weiteren – das ist die Steigerung Ihrer Großen Anfrage ins Unermessliche – kommt tatsächlich die Frage – ich bitte alle, das nachzulesen –, ob es bei der Bundesregierung Hinweise gäbe, dass afrikanische Länder die restauratorischen bzw. kuratorischen und konservatorischen Leistungen hinreichend gewürdigt hätten. Geht es noch? Wo sind wir denn? Wir sind diejenigen, die sich mit der Schuld der Täter als deren Nachkommen auseinandersetzen wollen. Jetzt verlangen wir von den Betroffenen und den Nachkommen der Betroffenen, sie hätten unsere restauratorischen Leistungen bei gestohlenem Gut würdigen müssen. Das meinen Sie nicht ernsthaft.
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Jetzt habe ich mich aber genug damit auseinandergesetzt. Sprechen wir nun über die Fragen, um die es geht. Wir brauchen insgesamt ein gesamtgesellschaftliches Erinnerungs- und Restitutionskonzept. Das ist unsere Aufgabe. Weniger kann es nicht sein. Ein Element ist die Rückgabe. Dabei geht es gar nicht darum – das fordert auch kein Mensch –, dass wir die gesamten deutschen Museen, Archive und Depots leerräumen und die Güter einfach in Afrika abstellen. Niemand will das. Es geht darum, zu begreifen, dass die Überwindung des Kolonialismus – das zeigen Sie ja – zuallererst eine Leistung im Kopf ist; denn wir müssen begreifen, dass es um die Rückgabe der Verfügungsgewalt geht. Ein Element ist die Rückgabe, wenn sie gewünscht wird. Ein anderes ist die Zirkulation von Objekten, Leihgaben. Aber wir müssen begreifen, dass es uns nicht zusteht, zu entscheiden, was mit den vielen Objekten geschieht und wie damit verfahren wird.
({5})
Es ist, um es an dieser Stelle zu sagen, die zentrale und die eigentliche Aufgabe und die Herausforderung an die Gesellschaft wie an die Politik, diesen Perspektivenwechsel zu begreifen. Es sind nicht wir, die jetzt zu entscheiden haben, sondern wir müssen es in diesem Prozess schaffen, denjenigen, die betroffen waren und betroffen sind, die Möglichkeit zu geben, zu entscheiden und von Beginn an mitzubestimmen. Es ist nicht unsere Aufgabe, ihnen nach dem Prozess der Enteignung jetzt zu zeigen, wie man gefälligst mit Kulturgut umzugehen hat, wie man sich zu erinnern hat, wie Museen funktionieren, sondern wir sollten ihnen in Bescheidenheit und mit der Bereitschaft, nicht zu belehren, sondern Lehren entgegenzunehmen, die Möglichkeit geben, zu entscheiden. Das sind der Kern und das Entscheidende in diesem Prozess des Umgangs mit Kolonialismus.
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Das hat nichts zu tun mit Erbarmen, nichts zu tun mit Gnade und nichts mit Belehren. In diesem Fall sind wir gut beraten, einmal die Lernenden zu sein.
Sehr geehrte Damen und Herren, deshalb ist es auch wichtig und gut, dass es diesen sehr detaillierten Antrag gibt, wenn ich auch – das erlaube ich mir – in Form wohlwollender Kritik einige Anmerkungen dazu habe, nicht zu sehr zu einzelnen Instrumenten, die sehr gut aufgezeigt sind, aber zu zwei Punkten.
Zum einen geht es um die Frage der zentralen Gedenkstätten, die eine wichtige ist, die wir auch hier in diesem Hause irgendwann diskutieren müssen – vielleicht in baldiger Zeit – und entscheiden werden. Aber ich denke, dass eine solche Gedenkstätte am Ende eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses stehen muss und dass wir sehen müssen, dass wir die Debatte hier und in den Feuilletons nicht als elitären Diskurs führen, sondern dass wir es schaffen, eine nicht-eurozentrische Perspektive mehrheitsfähig zu machen, und dass sich die Bevölkerung, die sich bisher noch nicht in der Breite umfassend mit dem Kolonialismus befasst hat – nicht in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen –, damit auseinandersetzt. Am Ende dieses Prozesses kann und sollte auch eine zentrale Gedenkstätte stehen.
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Zum anderen scheint es mir auch wichtig zu sein, dass wir nicht denken, dass wir in Form von Gedenkstätten und Ähnlichem
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unser schlechtes Gewissen und unsere Beklommenheit ruhigstellen können. Das können Orte zwar sein; aber solche Gedenkstätten sind zuerst solche, die uns betreffen. Aber die Perspektive, die wir einzunehmen wagen müssen, ist die der anderen. Daher sollten wir fragen: Was wollt ihr in den betroffenen Ländern?
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Was wollt ihr in den Herkunftsgesellschaften? Deshalb – hier haben wir keinen grundlegenden Widerspruch – war es so wichtig, dass Staatsministerin Müntefering – hier sitzt sie – bei der Rückgabe von menschlichen Überresten so eindrucksvolle Worte, Worte der Demut und Bescheidenheit gesprochen hat und dass schon Vieles auf dem Weg ist, etwa in Form einer internationalen Museumskooperation.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mitnichten so, dass wir dadurch etwas verlieren, wenn wir womöglich Dinge bzw. die Verfügungsgewalt über Dinge zurückgeben, wenn wir uns zurücknehmen und Lernende sind und andere von Beginn mitentscheiden und mitdenken lassen. Das Gegenteil ist der Fall. Am Ende dieses Prozesses – davon bin ich überzeugt – werden wir es sein, die auch gewinnen. Das ist kein Prozess zur Aufarbeitung des Negativen, sondern ein Prozess der Zukunft, in dem wir von Beginn an kooperativ arbeiten und ganz neue Möglichkeiten des Verhältnisses zwischen dem Westen und den Ländern, vor allem in Afrika, finden werden.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Hartmut Ebbing für die Fraktion der FDP.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste auf den Tribünen! Ich bin sehr froh, lieber Kollege Helge Lindh, dass Sie vor mir geredet haben, somit kann ich meine Redezeit effektiv für meine Sache nutzen und muss nicht auf die AfD eingehen.
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– Servicepartei; diesmal die SPD.
Wir haben uns gestern in einer öffentlichen Sitzung des Kulturausschusses auf Antrag meiner Fraktion intensiv mit dem Thema NS-Raubkunst und Reform der Limbach-Kommission beschäftigt. Heute diskutieren wir über Raubkunst aus kolonialen Kontexten. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, freut mich sehr; denn endlich erscheint die Raubkunstthematik die Aufmerksamkeit zu bekommen, die ihr meines Erachtens auch gebührt.
({1})
Schade ist, dass gerade diese Debatten immer durch Initiativen der Opposition vorangetrieben werden. Ich würde mir wünschen, dass es auch durch Aktivitäten der Regierungsparteien geschieht.
({2})
Das Thema ist so komplex, dass man sich meines Erachtens, bevor man medial voranprescht, eher Gedanken darüber machen sollte, wie wir das Thema inhaltlich behandeln möchten. Nun aber zum vorliegenden Antrag.
Wir Freien Demokraten stimmen grundsätzlich mit den Grünen überein, dass die Aufarbeitung des kolonialen Erbes bisher nicht ausreichend betrieben worden ist. Auch wir unterstützen eher eine verstärkte Aufklärung und eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte. Diese wurde bisher im Geschichtsunterricht an deutschen Schulen wenn, dann nur halbherzig thematisiert. Das gilt es zu ändern.
({3})
Auch deutsche Museen hinken hier hinterher. In der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums ist die deutsche Kolonialgeschichte nur eine kleine Randnotiz.
({4})
Sie sollte dort verstärkt werden und nicht weniger sein.
({5})
Auch die Schaffung eines unabhängigen Expertenrates nach dem Vorbild der Limbach– –
({6})
– Vielleicht lassen Sie mich einfach ausreden. Das wäre wirklich höflich.
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Wir unterstützen ganz ausdrücklich die Forderung nach einer deutlichen Ausweitung und Aufwertung der Provenienzforschung.
({8})
Aber wir befinden uns ja gerade in einem Prozess der Diskussion über die Gemeinsamkeiten.
Obwohl die Datendecke für Kunst aus kolonialen Kontexten zurzeit denkbar dünn ist und damit die Provenienzforschung noch viel komplexer als bei der NS-Raubkunst ist, fordern die Grünen in ihrem vorliegenden Antrag quasi eine Beweislastumkehr. Es wird gefordert, dass alle Kunstgegenstände, deren „rechtmäßiger Erwerb nicht nachgewiesen werden kann, den Herkunftsgesellschaften zur Rückgabe“ angeboten werden sollen. Die Museen müssen demnach beweisen, dass sie die Gegenstände, die zum Teil Anfang des 19. Jahrhunderts nach Deutschland kamen, rechtmäßig erworben haben.
({9})
Diese Beweislastumkehr stellt somit automatisch die gesamte Sammlung von Museen unter Generalverdacht und würde dazu führen, dass Tausende von Fällen untersucht werden müssten, obwohl es niemanden gibt, der Anspruch auf die Gegenstände erhebt.
Eine weitere Problematik aus der Forderung der bedingungslosen Rückgabe ist die Frage, an wen restituiert werden soll. In dem Antrag wird die pauschale Rückgabe aller Werke mit ungeklärter Provenienz an die sogenannten Herkunftsgesellschaften gefordert. Was unter diesem Begriff zu verstehen ist, wird im vorliegenden Antrag jedoch leider nicht konkretisiert. Sprechen wir hier von Rückgaben an Individuen, Herrscherfamilien, Religionsgemeinschaften, ethnische Volksgruppen oder an die heutigen Nationalstaaten? Die Herkunftsgesellschaften, aus denen die Kunstgegenstände entwendet worden sind, existieren heute oftmals nicht mehr. An wen wollen wir also die Kunstgegenstände zurückgeben? Hier besteht meines Erachtens noch erheblicher Diskussionsbedarf. Aber wir befinden uns ja auch erst am Anfang der Diskussion.
({10})
Der vorliegende Antrag in seiner jetzigen Form ist ein guter und sinnvoller Diskussionsanstoß, aber noch keine Blaupause zur Lösung des Problems. Was jedoch aus der Diskussion über die Gegenstände im kolonialen Kontext deutlich wird – wie auch gestern in der Anhörung im Ausschuss zur NS-Raubkunst –: Wir benötigen tatsächlich erheblich mehr Mittel für die Provenienzforschung und für die Digitalisierung der Museumsbestände.
({11})
Nur auf Grundlage von wissenschaftlich fundierten Forschungsergebnissen wird es uns möglich sein, vernünftige Entscheidungen über die Rückgabe von Kunst aus kolonialen Kontexten zu treffen, und – da gebe ich Herrn Lindh recht – das sollten wir gemeinsam mit den Herkunftsländern machen, vielleicht im Rahmen einer wie auch immer gearteten Ethikkommission, in der wir wirklich beide Seiten zusammenbringen.
Herr Ebbing, Sie müssen zum Schluss kommen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. – Die nächste Rednerin ist Brigitte Freihold für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der deutsche Kolonialismus war ein Unrechtsregime, ohne Wenn und Aber. Das muss auch so deutlich benannt werden. Was für die NS-Terrorherrschaft gilt, gilt auch für die deutschen Kolonialverbrechen. Daraus folgen Konsequenzen für die Aufarbeitung: Anerkennung des Genozids an Herero und Nama, Entschädigung, Wiedergutmachung, Rückgabe geraubter Kulturgüter und nicht zuletzt die Sensibilisierung unserer Gesellschaft in der schulischen, politischen und kulturellen Bildung.
({0})
Deshalb begrüßen wir, dass die Kollegen und Kolleginnen von Bündnis90/Die Grünen die Einschätzung aus unserer Kleinen Anfrage teilen, Deutschlands koloniale Fremdherrschaft als ein verdrängtes Kapitel unserer Geschichte dringend in den Fokus rücken zu müssen.
({1})
Bei der Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen stellt sich nicht die Frage nach dem Vergleich mit den NS-Verbrechen, sondern nach der Fortwirkung dieser beiden historischen Erfahrungen, nach den Nachwirkungen in unserer heutigen Zeit. Der Völkermord in Namibia gehört zur Vorgeschichte des Holocaust.
({2})
Der Beitrag der Bundesregierung zur Aufarbeitung der Kolonialzeit und zur Restitution von geraubtem Kulturgut ist bislang nichts als heiße Luft. Die Grundsätze der Washingtoner Konferenz müssen auch auf Raubgut aus kolonialen Kontexten Anwendung finden. Genauso wie beim NS-Kulturgutraub dürfen wir nicht zulassen, dass auch das Raubgut aus kolonialen Kontexten im privaten Besitz unter Immunität gestellt wird.
({3})
Die Bundesregierung hat kein Konzept zur Aufarbeitung der Kolonialzeit in der kulturellen und schulischen Bildung und versteckt sich hinter der Länderhoheit. Der laute Verweis auf Frankreich wird gerade da kleinlaut, wenn es um gesetzliche Regelungen zur Restitution geht. Frau Staatsministerin Grütters, machen Sie doch endlich Ernst: Stellen Sie die Restitution von NS-Kulturraubgut und aus kolonialen Kontexten auf gesetzliche Grundlagen!
({4})
Dass das Unrechtsbewusstsein über die deutsche Kolonialherrschaft, die Kolonialverbrechen und den antikolonialen Widerstand überhaupt Eingang in die Erinnerungskultur der Bundesrepublik fand, ist vor allem den zivilgesellschaftlichen Initiativen zu verdanken. Dieses Engagement verdient unsere Hochachtung.
({5})
Der Beitrag der schwarzen Community und der antirassistischen Bewegung muss gebührend berücksichtigt werden. Erst durch sie rückten die Dimensionen der unabgeschlossenen deutschen Kolonialgeschichte in das öffentliche Bewusstsein.
So wie Antisemitismus oder Antiziganismus oft als Folge fehlender NS-Aufarbeitung weiter existieren, so sind die regelmäßigen Diskriminierungen, Racial Profiling oder Todesfälle wie der von Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle auch als Folge fehlender Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus zu betrachten. Dies bestätigte übrigens eine UN-Delegation im Rahmen der UN-Dekade für Menschen afrikanischer Abstammung. Sie kritisierte unter anderem die Nichtumsetzung des Gleichheitsgebotes aus unserem Grundgesetz, die mangelnde Aufarbeitung des Völkermords an den Herero und Nama sowie fehlende Reparationsleistungen. Deshalb fordert die Linke, dass staatliche Einrichtungen auf mögliche Nachwirkungen der Kolonialzeit überprüft werden, wie es mit Blick auf den Nationalsozialismus geschah. Dies schließt auch die Überprüfung internationaler Beziehungen auf Nachwirkungen kolonialer Denkmuster ein, wie dies gerade erst gestern von Bundeskulturverbänden gefordert wurde.
Eine umfassende Aufarbeitung der deutschen Kolonialherrschaft einschließlich der begangenen Gewaltverbrechen wurde bisher verweigert. Wir werden diese Verweigerung nur durch individuelle Verantwortungsübernahme und gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung in der schulischen, politischen und kulturellen Bildung durchbrechen.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 100 Jahre nach Beendigung der deutschen Kolonialherrschaft durch die Folgen des Versailler Vertrags ist der richtige Zeitpunkt gekommen, um über die Aufarbeitung zu sprechen. Viel zu lange haben wir dieses Thema in der öffentlichen Debatte ausgeblendet. Wir müssen uns mit unserer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, auch in diesem Bereich. Jede ehemalige europäische Kolonialmacht muss das für sich tun und ihre eigenen Standards setzen. Aber eines muss klar sein: Kolonialismus darf heute nicht verklärt werden, sondern er muss als das benannt werden, was er war: Fremdherrschaft, rassistische Ideologie und Gewalt.
({0})
Die Aufarbeitung ist vielseitig. Sie trägt vor allen Dingen auch zum besseren Verständnis im Umgang mit der Kulturpolitik vielfältiger afrikanischer Staaten bei, aber sie ist auch eine Frage der Wertschätzung. Mit Kulturgütern verbinden die Menschen Erinnerung und Identität. Wir haben ihnen in den Jahren der Kolonialherrschaft die Identität zu sehr geraubt und müssen sie jetzt zurückgeben, weil es unsere Pflicht ist, Unrecht auch in diesem Bereich wiedergutzumachen. Deswegen hat der Antrag richtige und gute Ansätze.
Die Rückgabe von Kulturgut, meine Damen und Herren, ist ein grundsätzlich richtiger Ansatz. Aber wir müssen untersuchen, was denn das Schicksal jedes einzelnen Kulturguts war. Manche sind geraubt worden, manche sind verschenkt worden, manche auch gekauft worden. Aber was bedeutet denn verschenken oder verkaufen in einer strukturell ungleichen Gesellschaft des Jahres 1900 beispielsweise? Über diese Maßstäbe müssen wir reden. Waren die Kaufbedingungen denn fair? Welche moralischen Grundlagen lagen denn der Vertragsbeziehung zugrunde? Deswegen brauchen wir eine klare und deutliche Einzelfallprüfung. Deswegen ist es gut und richtig, dass die Provenienzforschung mehr Mittel bekommt. Darauf haben wir uns gemeinsam verständigt. Erst wenn wir uns den Sachverhalt richtig vor Augen führen, können wir für die einzelnen Kulturgüter im Zusammenspiel von Bund und Ländern die richtige Lösung finden.
Aber es geht auch darum, dass wir den rechtlichen Rahmen weiterentwickeln. Das Kulturgutschutzgesetz sieht nur eine Rückgabepflicht für alle Kulturgüter vor, die nach 2007 in unser Land gebracht worden sind. Alle Güter, die sich in unseren Museen befinden, sind qua rechtlicher Definition unser nationales Kulturgut. Aber das, was unsere Vorfahren geraubt haben, kann nicht allein unser nationales Kulturgut sein. Da müssen wir differenzieren, da müssen wir auch unsere Regeln fortentwickeln.
({1})
Wir brauchen auch internationale Lösungen, und zwar in der Gemeinsamkeit mit der Vielfalt der afrikanischen Staaten. Es geht darum, dass wir gemeinsame Ausstellungen entwickeln mit Kunst- und Kulturinteressierten in Yaoundé, in Ouagadougou und vielen anderen afrikanischen Städten. Es geht darum, dass die Kultur letzten Endes auch eine Brücke bildet, dass es selbstverständlich ist, dass in den nächsten Jahren Kulturgüter europäischer Herrschaft in afrikanischen Staaten ausgestellt werden, aber gleichzeitig auch afrikanische Kunst in Afrika und Europa ihren würdigen Rahmen findet. Ich glaube, das ist ein wichtiger und richtiger Ansatz.
Ja, wir müssen auch über den Erinnerungsort sprechen. Wir dürfen die Afrika-Konferenz von 1884 und 1885 hier in Berlin nicht vergessen. Zu dieser Zeit war sich Europa, waren sich die europäischen Mächte in vielerlei Dingen uneinig. Sie standen sich feindlich gesinnt gegenüber. Aber in einem waren sie sich plötzlich einig, nämlich in der Absicht, Afrika aufzuteilen. Daran müssen wir erinnern: dass in Berlin auch die Aufteilung des afrikanischen Kontinents ihren Anfang nahm. Daraus erwächst auch eine Verpflichtung. Wie wir dieses Erinnern organisieren, muss das Ergebnis eines langen Prozesses sein; das darf man nicht übers Knie brechen. Das muss gemeinsam mit afrikanischen Staaten, aber auch mit den ehemaligen europäischen Kolonialmächten organisiert werden.
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Mein letzter Punkt. Wir müssen auch über die Sprache sprechen. Ich will nicht, dass wir im politischen Umgang davon sprechen, dass wir eine Politik für Afrika machen. Sondern es geht um eine Politik mit Afrika auf Augenhöhe,
({3})
weil wir eine gemeinsame Verpflichtung haben, weil es darum geht, dass wir die Menschen – gerade auch die junge Generation – mitnehmen, damit wir eine gemeinsame Perspektive auf der Welt haben, in Frieden und Sicherheit. Auch dazu kann die Kulturpolitik einen Beitrag leisten.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7735 an den Ausschuss für Kultur und Medien vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich darauf hinweisen, dass wir mittlerweile 45 Minuten hinter der Zeit liegen, sodass, wenn alles so weiterläuft, die Debatte bis 2 Uhr morgen früh dauert und ich deshalb – auch mit Rücksicht auf die Mitarbeiter – von jetzt an eine strikte Einhaltung der Redezeiten durchsetzen werde. Dafür haben Sie ganz sicher Verständnis; stellen Sie sich bitte darauf ein.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bis zum 30. März sind es nur noch wenige Wochen. Dennoch wissen wir immer noch nicht, was am 30. März ganz genau passieren wird. Das ausgehandelte Austrittsabkommen findet im britischen Unterhaus keine Mehrheit. Daher ist es jetzt wichtig, dass wir auf den Ernstfall – ein No-Deal-Szenario – vorbereitet sind. Deswegen treffen wir jetzt Notfallmaßnahmen für diesen Ernstfall. Das Brexit-Steuerbegleitgesetz ist ein Baustein dieser Notfallmaßnahmen. Schon jetzt danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Finanzministeriums und auch den Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen hier im Hause für die gute Zusammenarbeit.
Das britische Unterhaus steckt in einer Sackgasse. Es gibt keine Mehrheit für das Austrittsabkommen. Einig ist man sich im britischen Unterhaus, dass man die Europäische Union nicht ohne Austrittsabkommen verlassen will. Gleichzeitig will man in London aber nur dann einem Abkommen zustimmen, wenn der Backstop, also die Auffanglösung für das irische Grenzregime, neu verhandelt wird.
Es ist doch offensichtlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es im Hinblick auf das irische Grenzregime einen Zielkonflikt gibt: Wir, die EU und deren Mitgliedstaaten, wollen die Integrität unseres Binnenmarktes nicht gefährden. London andererseits will die eigene Souveränität über die Grenzen und Handelsfragen zu 100 Prozent zurückhaben. In diesem Zielkonflikt gibt es eine Schnittmenge: Es ist sowohl im Interesse der Europäischen Union als auch Londons, dass die Grenzen auf der irischen Insel nach dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union offen bleiben. Der gefundene Kompromiss ist meiner Meinung nach für beide Seiten hinnehmbar. Ich weiß nicht, wie in dieser Frage fünf vor zwölf eine bessere Lösung gefunden werden soll.
Kolleginnen und Kollegen, in dieser Gemengelage können wir uns nicht auf London verlassen, können wir nicht auf das Unterhaus hoffen. Daher sind unsere Notfallmaßnahmen dringend geboten. Und das muss man hier und heute noch einmal unterstreichen: Dies sind Notfallmaßnahmen. Wir würden einen geordneten Austritt dieser Notfallversion natürlich vorziehen, müssen aber für den Fall des ungeordneten Brexits mit diesem Gesetz verhindern, dass Menschen in unserem Land allein wegen des Brexits steuerlich belastet werden.
({0})
Wir wollen die schützen, die darauf vertraut haben, dass das Vereinigte Königreich Mitglied der EU bleibt. Wir regeln deshalb auch die steuerliche Förderung von Altersvorsorge innerhalb der Riester-Rente, die einen Brexit-Bezug hat. Wichtiges Anliegen dieses Gesetzes ist schließlich, eventuelle Gefahren für die Stabilität unserer Finanzmärkte abzuwenden. Daher geben wir der BaFin die notwendigen Kompetenzen, damit sie mit angemessenen Instrumenten ausgestattet ist, um Gefahren für unsere Finanzmärkte abzuwenden.
Das sind im Kern die Ziele, die wir mit diesem Gesetz verfolgen. Das Gesetz dient aber mitnichten dem Wettbewerb um Finanzplätze. Es geht nicht darum, die europäischen Partner in einem Wettbewerb um den besten Finanzplatz in der Post-Brexit-Ära auszustechen. Es geht nicht darum, möglichst viel vom britischen Finanzgeschäft abzugreifen. Ein solches Ansinnen wäre unsolidarisch gegenüber unseren Partnern in der EU. Wichtiger noch: So ein Verhalten ist kurzsichtig und steht im Widerspruch zu unseren nationalen Interessen.
({1})
Unser Finanzminister hat recht, wenn er Europa zu unserem wichtigsten Anliegen erklärt. Das hat mit Pathos oder Idealismus nichts zu tun. Es geht um handfeste deutsche Interessen. Unser Interesse gilt einer geeinten EU und nicht Positionsgewinnen im Wettbewerb um Finanzmarktstandorte. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wir lehnen Ihre Änderungsanträge ab, weil wir den Geist dieses innereuropäischen Wettbewerbs einfach nicht teilen. Den Änderungsantrag der Linken lehnen wir ab, weil wir ihre rechtliche Bewertung hinsichtlich der Risikoträger nicht teilen.
Kolleginnen und Kollegen, die europäische Solidarität ist das Fundament unserer wirtschaftlichen Prosperität. Minister Altmaier kommt in diesen Stunden mit den EU-Handelsministern zusammen, um über den Handelskonflikt mit den USA zu beraten. Mit einer geeinten EU können wir unsere eigenen nationalen Interessen besser vertreten.
Zum Schluss deshalb ein Gesichtspunkt, der mir besonders am Herzen liegt. Unabhängig davon, was beim Brexit am Ende herauskommt: Wir Deutsche und ganz Europa sind mit dem Vereinigten Königreich in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden. Das ergibt sich aus der Geografie unseres Kontinents, aber auch aus unserer gemeinsamen Geschichte.
Daher sollte uns die Suche nach den kleinen Positionsgewinnen nicht die Sicht auf das große Ganze verstellen. Die Münchner Sicherheitskonferenz hat uns alle daran erinnert: Es bildet sich immer deutlicher eine G-2-Welt mit den beiden Blöcken USA und China. Wenn wir in dieser Welt bestehen und unsere Art zu leben in Freiheit, Sicherheit und Wohlstand erhalten wollen, dann brauchen wir eine geeinte Europäische Union und eine starke Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank; das war eine Punktlandung. – Nächster Redner ist der Kollege Albrecht Glaser von der AfD.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Mitbürger – es sind noch welche da –, herzlich willkommen! Am 29. März 2019 um 23 Uhr soll der britische EU-Austritt wirksam werden. Diesen Schritt hatte eine knappe Mehrheit der britischen Wähler am 23. Juni 2016 gewünscht. Ob er mit oder ohne Vertrag erfolgen wird, wissen wir nicht – wahrscheinlich eher nicht.
1973 war das Vereinigte Königreich der EWG beigetreten. 1975 hatte diese Entscheidung der britischen Regierung ebenfalls eine Volksabstimmung mit breiter Mehrheit bestätigt. In den 70er- und 80er-Jahren forderten vorwiegend Gewerkschaften und Vertreter der Labour Party den Austritt Englands aus der EWG. Seit den 90er-Jahren forderten eine extra hierfür gegründete Independence Party und etliche konservative Politiker den Austritt. Die Frage „Nationalstaat oder Staatenbund mit der erkennbaren Entwicklung zum Überstaat“ war also seit Jahrzehnten in diesem Land mit großer Spur in der Weltgeschichte gestellt und wird derzeit zugunsten einer weitgehenden nationalen Souveränität beantwortet.
Im Weltmaßstab betrachtet, kehrt das Königreich in die Normalität zurück. Auf keinem anderen Kontinent außer Europa gibt es eine Entwicklung der Entnationalisierung und damit der Entdemokratisierung zugunsten supranationaler Quasistaaten. Von China, Japan und Russland über Afrika bis Südamerika ist nirgendwo erkennbar, dass sich eine solche Entwicklung abzeichnet, obwohl man sich etwa in Südamerika wegen sprachlicher und kultureller Nähe eine solche Fantasie noch am ehesten vorstellen könnte.
Kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Staaten hat es überall in der Welt – insbesondere unter Nachbarn – stets gegeben. Der Überstaat wird nirgends in der Welt als Problemlösung für Frieden, Demokratie und Menschenrechte gesehen. Das sollte die Europäer nachdenklich stimmen.
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Das Grummeln der Völker ist bekanntlich in Europa zu hören. Seine Denunzierung als Nationalismus und Provinzialismus wird zu Recht als Arroganz internationaler Eliten aus Wirtschaft und Politik empfunden. Wie man am besten eine möglichst sichere Welt baut, ist eine offene Frage. Europa wird dabei nicht der Orientierungsmaßstab für den Rest der Welt – und dies mit seiner abnehmenden Bevölkerung, dem stetigen Rückgang seines Anteils an der Weltwirtschaftsleistung und seiner militärischen Agonie von Jahr zu Jahr immer weniger.
({1})
Wir haben heute zwei Entwürfe von Austrittsbegleitgesetzen zu verabschieden, die für die Bürger und die Unternehmer den Brexit abfedern sollen. Dies sehen wir aus der Perspektive der Finanzer als vernünftig an, und das muss mit Umsicht auch so gemacht werden, wenngleich ein früheres Handeln geboten gewesen wäre.
Hinsichtlich der Finanzen werden in elf Artikeln zehn Gesetze geändert – vom Einkommensteuerrecht bis zur Pensionsfonds-Aufsichtsverordnung, die jeder von Ihnen schon mal gehört hat. Die Bundesregierung hat mit ihrem Entwurf vieles richtig gemacht, jedoch auch vieles vergessen.
Richtigerweise wurde eine öffentliche Sachverständigenanhörung durchgeführt, und aus unserer Sicht erstaunlicherweise wurden die zahlreichen Anregungen auch tatsächlich im Wesentlichen umgesetzt.
Zu den ursprünglich 20 Einzeländerungen von Gesetzen sind nun weitere 11 hinzugekommen. Sie beziehen sich auf das Erbschafts- und Schenkungssteuerrecht, die Grunderwerbsteuer, das Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz und das Wertpapierhandelsgesetz. Wir sehen eine diffizile Kleinarbeit, die für das wirkliche Leben von Bürgern und Unternehmen jedoch von großer Bedeutung ist. Um das bildhaft zu machen – das ist angedeutet worden –, nenne ich beispielhaft:
Eine Riester-geförderte Wohnung in England muss nicht wegen des Brexits förderungsrechtlich rückabgewickelt werden. Bausparkassen dürfen weiter ihr in England angelegtes Kapital dort belassen. Schadensregulierungen aus Versicherungsverträgen mit englischen Unternehmen sollen für eine Übergangsfrist weiter vorgenommen werden können. Die britische Unternehmensform Limited Company in Deutschland kann umgewandelt werden in ein Unternehmen deutscher Rechtsform, ohne stille Reserven aufdecken zu müssen. Eine Verschonungsregelung für in Deutschland vererbte Unternehmen mit britischen Vermögensteilen und vieles andere sind weitere Gegenstände dieser Regelungen.
Im Zusammenhang mit diesen Legislationen beabsichtigt die Bundesregierung, einen speziellen Kündigungstatbestand für Risikoträger bei Finanzinstituten einzuführen; es ist davon gesprochen worden. Auch dies erscheint plausibel und findet unsere Zustimmung.
Der Beratungsprozess – ich will das ausdrücklich betonen – im Finanzausschuss und die Berichterstattergespräche sind sachlich und seriös verlaufen.
({2})
Daher sind die Ergebnisse gut, und das gesamte Gesetzesvorhaben findet deshalb unsere Zustimmung.
({3})
Ablehnen werden wir die Anträge der FDP und der Linken.
Ansonsten ist es so, wie ich es vorgetragen habe, und ich habe das durchaus mit großer Entspannung und Freude vorgetragen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Fritz Güntzler.
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Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe noch anwesende Bürger! Zustimmung der AfD: Das macht nachdenklich.
({0})
Bei diesem Thema haben wir im Ausschuss schon gespürt, dass es eine allgemeine Zustimmung gibt. Die Linken haben eine wohlwollende Enthaltung angekündigt. Von daher brauchen wir hier heute wahrscheinlich auch gar keine große Diskussion.
Das, was wir entscheiden, ist aber wichtig; der Kollege Hakverdi hat darauf hingewiesen. Wir müssen Notfallmaßnahmen treffen – insbesondere auch im Steuerrecht –, weil das Vereinigte Königreich durch den harten Brexit, wenn er denn zum 30. März dieses Jahres kommt, Drittland wird – auch steuerlich. Das kann schädliche Auswirkungen haben und zu Belastungen für die Steuerpflichtigen in Deutschland führen, und wir wollen nicht, dass der Brexit an sich ein solch schädliches Ereignis auslöst.
Bei der Diskussion über den Gesetzentwurf hier in der vorletzten Sitzungswoche haben wir die Themen besprochen. Es ging um die Wegzugsbesteuerung, die Entstrickungsbesteuerung, und auch die Riester-Förderung ist hier schon angesprochen worden. Wir haben damals in der Diskussion gesagt: Es gibt vielleicht hier und da ein paar Dinge, die man vielleicht nicht unbedingt klären muss, die wir aber vielleicht noch klären sollten; denn für die Rechtsklarheit wäre es gut, wenn wir das in das Gesetzgebungsverfahren aufnehmen und in den Gesetzentwurf hineinschreiben würden.
Es ging zum Beispiel um das schöne Thema der Limited Companies, die ihren Sitz in Deutschland haben und nach der Rechtsprechung des BGH mit dem Austritt – Stichwort: Drittland – zivilrechtlich zu einer Personengesellschaft bzw. zu einem Einzelunternehmen werden, was grundsätzlich steuerliche Folgen auslösen könnte, weil sie dann vielleicht wie eine Mitunternehmerschaft zu besteuern wären. Hierzu regeln wir im Gesetzentwurf nun eindeutig, dass der Typenvergleich gilt, das heißt, dass weiterhin das Körperschaftsteuerrecht anzuwenden ist.
({1})
Das Gleiche gilt natürlich für die Grunderwerbsteuer. Wir wollen, dass dieser Tatbestand auch bei der Grunderwerbsteuer keine Folgen auslöst.
Wir haben noch einen weiteren Punkt bei den Limiteds geregelt. Mit dem Vierten Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes haben wir es den Steuerpflichtigen ja ermöglicht – ziemlich vereinfacht gesagt –, ihre Limiteds in eine Personengesellschaft deutschen Rechts umzuwandeln. Das war bis jetzt nicht durch das Umwandlungssteuergesetz flankiert. Auch dies werden wir regeln.
Ich glaube, einer der wichtigsten Punkt ist das – der Kollege Glaser hat schon darauf hingewiesen –, was wir im Erbschaftsteuerrecht jetzt noch mal klargestellt haben. Es gibt ja sogenannte Verschonungsregelungen bei der Übergabe von betrieblichen Vermögen. Hier sind gewisse Dinge einzuhalten, damit diese Verschonung auch greift. Es geht dabei zum Beispiel um Behaltensfristen. Das Wesentliche ist aber: Der Betrieb soll im gewissen Umfang erhalten werden. Das prüfen wir anhand der sogenannten Lohnsummen. Nach dem jetzigen Gesetz würden die Lohnsummen im britischen Ausland nicht mehr hinzugerechnet werden. Sie würden also auf einmal wegfallen, und man würde die Lohnsummengrenzen reißen. Das wollten wir verhindern. Auch dies haben wir klargestellt.
Wir haben im Gesetzgebungsverfahren auch sehr umfassend darüber diskutiert, ob es notwendig ist, auch umsatzsteuerliche Regelungen zu treffen. Wir sind zu der Auffassung gekommen, dass das nicht der Fall ist. Die Steuerpflichtigen sollten nur wissen, dass das Vereinigte Königreich ab dem 30. März 2019 Drittland ist. Das heißt, es gibt dann keine innergemeinschaftlichen Lieferungen mehr, sondern nur Ausfuhrlieferungen. Das bedingt andere Beleg- und Buchnachweise.
Man kann nur hoffen, dass sich alle Unternehmen vorbereitet haben. Bei manchen Gesprächen hatte ich das Gefühl, dass das noch nicht wirklich angekommen ist, weil viele gedacht haben, es werde doch noch ein Austrittsabkommen geben und man werde noch ein bisschen Zeit haben.
Übrigens haben wir für die Zeit, falls es ein Austrittsabkommen geben sollte, schon ein Brexit-Übergangsgesetz beschlossen, sodass wir das auch geregelt hätten.
Wir haben also jetzt ein ganzes Notfallpaket beschlossen, und weitere Dinge werden teilweise noch beschlossen. Heute machen wir den steuerlichen Teil. Der Finanzmarktteil kommt auch noch. Dazu wird der Kollege Hauer noch Näheres für unsere Fraktion ausführen.
Ich glaube, das ist ein gutes Gesetz. Wir hatten eine gute Beratung, und ich würde mich freuen, wenn möglichst viele zustimmen, und vielleicht auch Die Linke.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der FDP die Kollegin Bettina Stark-Watzinger.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es mag Menschen geben, die sich über den Austritt Großbritanniens freuen, weil die Briten starke eigene Positionen vertreten. Es mag Menschen geben, die sich über den Austritt Großbritanniens freuen, weil er die EU schwächt. Ich tue das nicht. Ich glaube, wir verlieren einen verlässlichen Partner in Fragen der Demokratie, einen Partner, der uns ordnungspolitisch nahesteht, und nicht zuletzt einen wichtigen Handelspartner. Das ist kein Grund zur Freude.
({0})
Meine Fraktion begrüßt, dass die Bundesregierung das Brexit-Steuerbegleitgesetz vor kurzem endlich auf den Weg gebracht hat, um die schädlichen Folgen des Brexits abzumildern.
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Gleichzeitig muss ich aber auch sagen: Der Regierungsentwurf war handwerklich schlecht gemacht. Meine Fraktion hat in der Vergangenheit mehrere Kleine Anfragen gestellt, um den notwendigen Regelungsbedarf festzustellen. Über die Aussagefähigkeit der Antworten möchte ich jetzt hier nicht viel sagen. Nun musste fast jeder Artikel des Gesetzes noch einmal angefasst werden.
Ja, wir freuen uns, dass die Große Koalition im Nachgang zur Anhörung viele offene Punkte aufgegriffen hat. Aber wir mussten elf Umdrucke mit Formulierungshilfen diskutieren, und wir fragen uns, warum bei einem so wichtigen Gesetz zu einem so wichtigen Thema so viele Änderungen notwendig waren.
({2})
Erforderlich waren unter anderem so prominente Nachbesserungen wie die Verschonungsregeln im Erbschaftsteuergesetz oder die steuerliche Behandlung von Limiteds im Körperschaftsteuergesetz und bei der Grunderwerbsteuer.
Aber auch heute gibt es noch einige Sachverhalte, die im Gesetz nicht geregelt sind. Diese haben wir in eigenen Änderungsanträgen und in einem Entschließungsantrag im Finanzausschuss dargelegt.
Zwei konkrete Punkte: Erstens. Im Einkommensteuergesetz werden nach der neuen Regelung unterschiedliche Brexit-Übergangsfristen für „Wohn-Riester“ und „Geld-Riester“ gewählt. Das ist nicht nachvollziehbar. Die Begründung war, es hätte Steuergestaltung stattfinden können. Wir sind der Auffassung: Der Abschluss eines Riester-Vertrages ist kein Mittel für unerwünschte Steuergestaltungen, sondern der Altersvorsorge.
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Zweitens. Mit einer weiteren Änderung in § 53b Kreditwesengesetz wollen wir sicherstellen, dass deutsche Wirtschafts- und Finanzunternehmen vorübergehend weiterhin Zugang zu liquiden Handelsplätzen haben. In der Anhörung ist klar geworden: So schnell kann die Umstellung auf neue Handelsplätze in der EU nicht stattfinden. Es wurde auch klar, dass die dort getroffene Unterscheidung zwischen Bestands- und Neugeschäft nicht eindeutig ist.
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Wir wollen auf die bestehenden Geschäftsbeziehungen abstellen, um Härten zu vermeiden und Rechtssicherheit zu schaffen.
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Wir alle wissen nicht, was in der Zeit nach dem Austritt wirklich passiert. Deshalb: Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu! Wir wollen einheitliche Fristenlösungen in Europa, damit es keine Regulierungsarbitrage gibt, und wir wollen Fristen immer wieder überprüfen, auch mit Blick auf das langfristige Geschäft der Versicherungsverträge.
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Es geht weder um die Beibehaltung des uneingeschränkten Zugangs zum Binnenmarkt, noch geht es darum, ein Exempel zu statuieren. Europa ist zu wichtig, als dass wir nicht die richtige Balance zwischen klarer Verhandlungsposition, aber auch pragmatischer Lösung im Sinne der Menschen und Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanals finden.
Das Gesetz ist nicht vollständig, aber die Inhalte sind wichtig. Wir stimmen daher zu.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Jörg Cezanne.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Austritt des Vereinigten Königreiches Großbritannien und Nordirland verändert die Rechtsgrundlage bei vielen Steuern für Unternehmen und Privatleute. Mit diesem Sammelgesetz werden in die jeweiligen Steuergesetze Regeln eingefügt, die ungerechtfertigte Härten verhindern sollen. Der Brexit als schädliches Ereignis soll nicht zu Nachteilen für Privatleute oder Unternehmen führen. Es ist gut, dass das geregelt wird, und findet unsere Zustimmung.
({0})
Die Zustimmung hat aber neben dem Wohlwollen einen – das hatte ich auch gesagt – zähneknirschenden Teil. Denn in der ganzen Argumentation in dem Gesetzentwurf gibt es einen Bruch. Es soll zusätzlich eine Regelung eingeführt werden, mit der den Banken aus London der Weg nach Frankfurt erleichtert werden soll. Das soll dadurch geschehen, dass man ein Sonderrecht für Kündigungen gegen sogenannte Risikoträger bei diesen Banken einführt. Diese Regelung halten wir für außerordentlich ungewöhnlich, und die lehnen wir auch grundlegend ab.
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Das hat erstens mit dem Brexit so gut wie gar nichts zu tun; jedenfalls gibt es kein Erfordernis, das zu tun. Es mildert keine ungerechtfertigte Härte, und ob die Umsiedlung von Banken aus London nach Frankfurt ein guter Grund ist, um an den Kündigungsschutz Hand anzulegen, wage ich zu bezweifeln.
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Es wird dort bei der Einkommenshöhe angesetzt. Das hat in der knapp hundertjährigen Geschichte des Kündigungsschutzrechts überhaupt noch nie eine Rolle gespielt. Bei Risikoträgern ist auch die besondere Vertrauensstellung, die zum Beispiel aufgrund der Fähigkeit besteht, Personalentscheidungen zu treffen, nicht gegeben.
Der DGB hat in der Anhörung schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht. Nach seiner Auffassung verstößt die Regelung gegen die Grundrechte der Berufsfreiheit, des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes.
Als weiteres Argument haben Sie angeführt, dass dadurch die Stabilität der Finanzmärkte gestärkt werden soll. Nach der überwiegenden Zahl der Erfahrungen der letzten Jahre sind es aber nicht irgendwelche durchgeknallten Fondsmanager gewesen, die die Finanzstabilität gefährdet haben. Erst heute hat die Schweizer UBS ein Urteil eingefangen, nach dem sie wegen systematischer durch die Bank organisierter Unterstützung von Steuerhinterziehung 4,5 Milliarden Euro zahlen soll. Das alles hat mit den Risikoträgern überhaupt nichts zu tun.
({3})
Im Übrigen ist der Umzug von London nach Frankfurt längst im Gange. Die Landesbank Hessen-Thüringen hat erst letztes Jahr eine kleine Studie vorgelegt: 49 umzugswillige Finanzinstitute aus London haben die Kollegen bei der Landesbank gezählt. Von diesen 49 wollen 25 nach Frankfurt kommen.
({4})
Die anderen gehen nach Paris, Luxemburg, Dublin und Amsterdam.
Offensichtlich sind die Standortfaktoren in Deutschland ganz in Ordnung. Deshalb lehnen wir diesen Teil des Gesetzes ab und werden uns im Gesamten deshalb wohlwollend, aber zähneknirschend enthalten.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Franziska Brantner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Brexit-Chaos nimmt nicht ab, sondern es nimmt von Tag zu Tag zu. Ich finde es erschreckend, welches Bild das britische Parlament bzw. die britische Regierung momentan abgibt. Es ist beunruhigend, zu sehen, dass so eine stolze Demokratie es nicht schafft, endlich in ruhiges Fahrwasser zu steuern und den Hard Brexit endlich vom Tisch zu nehmen.
Deswegen müssen wir uns heute mit Notfallgesetzgebung beschäftigen. Eigentlich finde ich es krass, dass das ein paar Wochen vor dem Austritt immer noch nicht vom Tisch ist.
In diesem Lichte sind wir natürlich alle gezwungen, eine Notfallgesetzgebung zu machen. Jeder will die Konsequenzen für sich abmildern. Das Risiko ist natürlich, dass jedes Land das für sich macht und auch jeder einzelnen Gruppe im Finanzmarkt sehr weit entgegenkommt, weil man den Hard Brexit abfedern will. Das Risiko dabei ist auch, dass dann, wenn das alle machen, der Hard Brexit am Ende gar nicht so schlimm ist, weil wir ihn ja alle abgefedert haben. Auch im Gesetzentwurf ist eine Übergangszeit von 21 Monaten vorgesehen.
Das ist genau die Strategie der Hard Brexiteers, die seit Tagen argumentieren: Der Hard Brexit wird gar nicht so schlimm. Macht euch mal nicht in die Hose! Das federn die Europäer alles schön ab, und wir können dann die 38 Milliarden sparen, die wir den Europäern eigentlich zahlen müssten, und die Irland-Frage sind wir auch noch los.
Ich sage Ihnen, von den fehlenden 38 Milliarden wäre ein großer Anteil aus diesem Bundeshaushalt zu zahlen. Deshalb kann ich uns alle nur warnen. Wir sollten nicht zu weit gehen, sondern das gesamteuropäische Interesse im Blick haben. Wir sollten nicht durch zu weitreichende Zugeständnisse einen Hard Brexit de facto wahrscheinlicher machen, weil es dann weniger Druck in England gibt, ihn zu verhindern.
({0})
Der Gesetzentwurf, über den wir hier heute reden, enthält auch eine Frist von 21 Monaten. Das ist genau der gleiche Zeitraum, der auch bei dem ausverhandelten Brexit, also dem geordneten Brexit, vorgesehen ist. Wir haben immer wieder angemahnt, diesen Zeitraum kürzer zu fassen, um in den Verhandlungen mit den Briten eine gemeinsame, eine europäische Lösung hinzubekommen. Man könnte den Zeitraum ja potenziell verlängern, sollte aber erst einmal einen kürzeren signalisieren. Das Bundesfinanzministerium hat heute Morgen in einer Unterrichtung gesagt, das auch so zu handhaben: Erst einmal nur 12 Monate, und dann überprüft die BaFin.
({1})
Ich hoffe wirklich, dass Sie das auch so durchziehen werden, dass Sie das auch kommunizieren, dass das nicht automatisch ein Freifahrtschein für die nächsten 21 Monate ist. Ich bitte Sie auch darum, die Fristen mit den anderen europäischen Ländern zu harmonisieren. Es wäre nämlich richtig blöd, wenn wir 21 Monate hätten und andere Länder andere Zeitrahmen. Das wäre auch für unsere Akteure auf dem Finanzmarkt nicht besonders hilfreich.
({2})
Von daher: Halten Sie sich an das, was Sie uns hier zugesagt haben.
Am Ende meiner Rede komme ich noch kurz auf Frau May zu sprechen. Ich finde es mittlerweile nicht mehr verständlich, dass Frau May weiterhin auf die Einheit ihrer Partei und ihrer Fraktion, auf die Einheit der Tories setzt. Die Abstimmungen in den letzten Wochen haben gezeigt: Sie hat da keine Mehrheit. Trotzdem ist sie nicht bereit, eine fraktionsübergreifende Lösung zu finden. Herr Corbyn hat heute fünf Bedingungen vorgelegt. Dazu gehört zum Beispiel eine dynamische Anpassung der Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Diese Forderung zum Beispiel, die Herr Corbyn artikuliert hat, ist total sinnvoll.
({3})
Er sagt: Wir brauchen eine dynamische Anpassung an das EU-Recht, damit auch in Zukunft sichergestellt ist, dass Großbritannien beim Sozialniveau nie – er sagt: nie – hinter die EU zurückfällt. Das wäre ein Weg, endlich mal Mehrheiten im Unterhaus zu finden. Ich kann nur sagen: Hoffentlich geht Frau May den Weg und stellt endlich ihr Land über ihre Partei.
Ich danke Ihnen.
({4})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Lothar Binding für die Fraktion der SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Franziska Brantner hat eben davor gewarnt, aus dem Hard Brexit einen Soft Brexit zu machen. Genau das wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erfolgreich geregelt; denn wir machen den Brexit für unsere Bürgerinnen und Bürger erträglich, und zwar, ohne Rosinen an die Falschen zu verteilen. Das ist ja das Besondere an diesem Gesetz. Das ist ein Komplementärgesetz zu dem, was in der Kommission passiert. Der Austritt darf sich natürlich nicht lohnen – jeder weiß, was sonst passiert –, und genau daran orientiert sich dieses Gesetz. Darauf haben wir sehr stark geachtet. Das ist ein großer Erfolg an dieser Stelle.
Dass unsere Finanzaufsicht, die BaFin, die Möglichkeit hat, zu erlauben, dass bestimmte Angebote, bestimmte Geschäfte in Deutschland weitergeführt werden, dient dem Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger und macht aus dem Hard Brexit keinen Soft Brexit. Insofern sind diese Formulierungen ein Erfolg.
({0})
David Cameron war sechs Jahre Premierminister. Er hat sich verzockt; das hat jeder gemerkt. Er wollte seine Position innerparteilich stabilisieren. Er hat im Grunde gesagt: Schauen wir mal … – Er hat tatsächlich gedacht, er könnte bei Populisten, Egoisten und Nationalisten Verantwortung erzeugen. Doch das ist schiefgegangen. Wir wissen, das geht immer schief. Fake News, also falsche Informationen, haben die Oberhand gewonnen. Und Theresa May, die zuvor eine gute Europäerin war, hat just nach dieser Entscheidung gedacht: „Ich setze jetzt diese falsche Entscheidung um“, statt zu sagen: Ich weiß es besser, ich mache ein zweites Referendum und drehe das wieder zurück, weil die Bevölkerung – das wissen alle – aufgrund von falschen Informationen entschieden hat. – Solche falschen Informationen sind auch in diesem Haus häufig zu hören. Insofern: Man muss sich vor falschen Informationen hüten, um nicht falsch zu entscheiden.
({1})
Welch ein Desaster ist dadurch entstanden, und zwar für die Bürgerinnen und Bürger in Großbritannien und auch für unsere Bürgerinnen und Bürger! Mit diesem Gesetz versuchen wir, zumindest für unsere Bürgerinnen und Bürger Gutes zu erreichen. Das ist unsere Aufgabe in diesem Haus; das ist völlig klar. Darum geht es bei diesem Gesetz.
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Das Besondere war ja, dass Boris Johnson gekämpft hat, bis er am Abgrund stand, und letztlich gesiegt hat, sich dann aber verabschiedet hat.
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Er hat noch nicht einmal seinen eigenen Erfolg verantwortet. Das ist wie in der Geschichte: Die Rechtspopulisten verantworten ihre eigenen Siege nicht, aber auch nicht ihre Niederlagen; sie tragen also gar keine Verantwortung. Das zeigt sich hier in allen Konsequenzen.
Es ist gut, dass wir uns jetzt darum kümmern. Uns geht es um unsere Bürgerinnen und Bürger. Uns geht es um ein stabiles Europa. Auch das ist angelegt in diesem Gesetz: Wir bleiben ein starkes Europa und entwickeln ein gutes Verhältnis zu Großbritannien.
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Deshalb steht dieses Gesetz in einem guten Verhältnis zu dem Vorgehen der Kommission. Ich glaube, das ist Ausdruck der Demokratie in Europa: Wir schaffen Rechtssicherheit – das ist völlig klar – und vermeiden ungerechtfertigte Nachteile für unsere Bürgerinnen und Bürger.
Traurig stimmt mich der Umgang mit den Risikoträgern. Das ist eine Sache – das ist schon gesagt worden –, die uns nicht wirklich gut gefällt. Insgesamt ist das Gesetz aber sehr gut. Es schafft Stabilität für Europa, es platziert uns gut, es sorgt für ein gutes zukünftiges Verhältnis zu England, und es motiviert die Engländer vielleicht, doch wieder Teil der Europäischen Union zu werden.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU Matthias Hauer.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beschließen heute das Brexit-Steuerbegleitgesetz. Wir tun das, weil der Brexit Tag für Tag näher rückt. Es sind jetzt noch 36 Tage, dann wird aller Voraussicht nach Großbritannien die Europäische Union verlassen. Auch wenn ich die Entscheidung der Briten respektiere, ist das alles andere als ein Grund zur Freude für mich. Das sage ich als deutscher Christdemokrat – aus der Partei von Konrad Adenauer und Helmut Kohl – ebenso wie als überzeugter Europäer.
Leider wissen wir 36 Tage vor diesem Datum immer noch nicht, ob der Brexit geordnet vollzogen wird oder nicht. Das mit Premierministerin May ausgehandelte Abkommen hat bekanntlich im britischen Unterhaus bislang keine Mehrheit gefunden. Mit jedem Tag, der verstreicht, rückt die Entscheidung näher, dass es – vielleicht – zu einem ungeregelten, zu einem harten Brexit kommt. Ich weigere mich, die Hoffnung ganz aufzugeben, die Hoffnung, dass sich das Vereinigte Königreich doch noch anders entscheidet, dass uns England, Wales, Nordirland und Schottland in der EU erhalten bleiben. Zumindest hoffe ich darauf, dass in der verbleibenden Zeit eine Lösung gefunden wird, dass es zu einem geregelten Brexit kommt.
Ich begrüße, dass die Gespräche zwischen Großbritannien und den Vertretern der EU-27 weitergeführt werden. Gestern Abend haben sich Theresa May und Jean-Claude Juncker in Brüssel getroffen. Zuvor war der britische Außenminister hier in Berlin. Dennoch gibt es bislang keine Lösung.
Klar ist: Wir stehen zu dem ausgehandelten Abkommen. Ich hoffe, dass unsere Kolleginnen und Kollegen in Großbritannien, gerade im Interesse ihres eigenen Landes, dem Abkommen zustimmen. Beide Seiten sind darin Kompromisse eingegangen. Ein Nachverhandeln – zulasten der EU und nur aus Rücksicht auf Hardliner im britischen Parlament –, das darf keine Option sein. Vielmehr muss klar sein: Wer die EU verlässt, kann nicht weiter von allen Vorteilen der Gemeinschaft profitieren.
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Es gibt in der EU Rechte und Pflichten. Beides gehört untrennbar zusammen. Die Pflichten ablehnen und sich auf die Rechte berufen, das wird es nicht geben.
Unabhängig davon, wie sich das Vereinigte Königreich schlussendlich entscheidet: Wir in Deutschland müssen auf alle Varianten bestmöglich vorbereitet sein. Der Brexit wird negative Folgen haben – man muss nur die aktuellen Meldungen verfolgen: zu Honda, zu Nissan, zu Airbus, zu UBS, zu Panasonic oder zu weiteren Unternehmen –, negative Folgen für Großbritannien; aber der Brexit wird eben auch negative Folgen für Deutschland und die gesamte EU haben.
Unser Ziel ist es, diese negativen Folgen für unser Land so weit wie möglich zu minimieren. Dazu dient auch dieses Brexit-Steuerbegleitgesetz, das wir heute abschließend beraten. Wir treffen damit auf nationaler Ebene Vorkehrungen für die Bereiche Steuern und Finanzmarkt, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Auf den Steuerteil ist mein Kollege Fritz Güntzler bereits eingegangen. Ich darf mich daher auf den Finanzmarktteil konzentrieren.
Wir sorgen mit dem Gesetz dafür, dass die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, die BaFin, Maßnahmen ergreifen kann, um die Finanzmärkte über den Brexit hinaus zu stabilisieren, um Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen und Verbraucher zu gewährleisten.
Gleichzeitig stärken wir den Finanzplatz Frankfurt durch eine Änderung des KWG, durch die sich große Banken künftig leichter von hochbezahlten Risikoträgern, für die ja Die Linke hier ihr Herz entdeckt hat, trennen können. Für alle anderen Beschäftigten – da können wir Sie sehr beruhigen; denn das ist auch in unserem eigenen Interesse – ändert sich beim Kündigungsschutz nichts. Das haben wir als Große Koalition in den Beratungen sehr deutlich gemacht.
({1})
An mehreren Stellen haben wir das Gesetz noch verändert. So ändern wir zum Beispiel die Vorschriften für Zahlungsdienste, damit Kunden weiterhin mit ihren Kreditkarten bezahlen können, damit Händlern kein Umsatz entgeht, wenn die Kreditkartenbank ihren Sitz in Großbritannien hat. Wir treffen darüber hinaus Vorkehrungen, damit britische Institute nicht vom Handel in Deutschland ausgeschlossen werden, damit sie hier für mehr Liquidität sorgen können. Gleichzeitig stellen wir sicher, dass deutsche Handelsteilnehmer weiter an dem bedeutenden Finanzplatz London agieren können.
Schließlich greifen wir eine Initiative des Bundesrates auf: Wir sichern die Marktposition deutscher Pfandbriefbanken, indem wir die Deckungsfähigkeit britischer Vermögenswerte dauerhaft anerkennen. Wir handhaben es dann also mit Großbritannien so ähnlich, wie wir es jetzt schon mit Ländern wie Japan, der Schweiz, den USA oder Kanada tun.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hat im Vorfeld viel Lob erfahren. Das hat auch die Anhörung der Sachverständigen gezeigt. Diesen Gesetzentwurf haben wir im Laufe des Verfahrens noch besser gemacht. Die FDP findet es ja erstaunlich, wenn man Gesetze im Parlament noch verändert. Sie wollen anscheinend lieber abnicken. Wir sehen es als gelebte Demokratie
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und als unsere Aufgabe an, Gesetze noch besser zu machen.
({3})
Ich freue mich, dass es nach den Beratungen im Ausschuss aus der gesamten Opposition – auch aus der FDP – nicht eine einzige Gegenstimme zu den elf Änderungsanträgen von CDU/CSU und SPD gab.
Für die konstruktiven Beratungen des Gesetzentwurfs möchte ich mich ausdrücklich bedanken: bei den Mitarbeitern des Ministeriums, bei den Sachverständigen, bei meinen Berichterstatterkollegen Güntzler, Feiler, Binding und Hakverdi, aber auch bei den Berichterstatterkollegen aus der Opposition.
Zum Abschluss meiner Rede möchte ich mit Blick auf die Europäische Union sehr deutlich sagen: Lassen Sie uns mutig sein und in der EU näher zusammenrücken, anstatt nur nationale Lösungen zu suchen – denn die EU ist weit mehr als die Summe ihrer Mitgliedstaaten –, mutig als starkes Europa mit starken Mitgliedstaaten, das sein Schicksal konsequenter in die eigene Hand nimmt, gerade in einer Welt, die unübersichtlicher geworden ist. Und selbstverständlich wird auch Großbritannien – unabhängig vom Brexit – ein wichtiger Partner und Verbündeter Deutschlands bleiben.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen gibt es nicht. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über steuerliche und weitere Begleitregelungen zum Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7959, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/7377 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/7962 vor. Darüber müssen wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Änderungsantrag mit der Mehrheit des Hauses gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit der Mehrheit des Hauses bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Gibt es nicht. Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf bei Enthaltung der Fraktion Die Linke von der Mehrheit des Hauses angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/7964. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Bei Enthaltung von AfD und Fraktion Die Linke ist der Antrag der FDP von der Mehrheit von CDU/CSU und SPD abgelehnt.
({0})
– Und Grünen?
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– Dann füge ich die noch hinzu.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Steuerzahler! Im Zuge des Bürgerkriegs in Syrien haben ab 2013 fast alle Bundesländer Landesaufnahmeprogramme eingerichtet, und im Rahmen dieser Aufnahmeprogramme wurde die Möglichkeit geschaffen, syrische Kriegsflüchtlinge nach Deutschland zu holen.
({0})
Die Aufnahme dieser Syrer wurde jedoch an die Bedingung geknüpft, dass eine in Deutschland lebende Person eine sogenannte Flüchtlingsbürgschaft abgibt und schriftlich versichert, für die Kosten des Lebensunterhalts aufzukommen und im Fall der Fälle auch sozialstaatliche Leistungen zu erstatten.
In einem Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wurden die meisten Flüchtlingsbürgen kürzlich nicht als notleidend oder abhängig beschrieben, sondern als Angehörige einer wohlhabenden und gutsituierten Mittelschicht – die Träger der Willkommenskultur. Der Berliner Apotheker Jonny Neumann ist – sagt die „taz“ – so ein Flüchtlingsbürge. Er unterschrieb im Sommer 2015 eine Bürgschaft für einen Syrer, der kurz darauf nach Deutschland und wenige Monate später auch in unser Sozialsystem einreiste. Nun hat Apotheker Neumann Post vom Jobcenter bekommen. Die Behörde hatte inzwischen mehr als 14 000 Euro an Sozialleistungen für den Syrer erbracht.
({1})
Die soll Jonny Neumann jetzt entsprechend seiner schriftlichen Zusage erstatten. Und das – sagen wir als AfD-Fraktion – ist auch vollkommen richtig so;
({2})
denn wer bürgt, muss auch zahlen.
Neumann will aber nicht zahlen – so, wie viele andere auch nicht zahlen wollen, die jetzt eine Rechnung vom Jobcenter bekommen haben. Wie so oft in den letzten Jahren, zerplatzt die gesinnungsethische Seifenblase der Willkommensklatscher und Premiumhelfer beim ersten Kontakt mit den ökonomischen Konsequenzen.
({3})
Laut Sozialminister Heil wurden von den Sozialbehörden inzwischen 2 500 Erstattungsbescheide über eine Gesamtsumme von 21 Millionen Euro erstellt, und vermutlich ist das erst die Spitze des Eisbergs. Wer jetzt glaubte und hoffte, dass die Bescheide unter der Führung des SPD-Ministers nun auch vollstreckt werden, der glaubt auch noch das Märchen, dass die SPD eine Volkspartei ist und Politik im Interesse der Bürger und Steuerzahler macht.
({4})
Nicht nur wurde die Vollstreckung der Bürgschaften bereits vor einem Jahr durch Sozialminister Heil niedergeschlagen, das heißt ausgesetzt – nein, vielmehr deutete er am 24. Januar im ZDF an, dass in Gesprächen mit den Bundesländern nun eine Regelung gefunden wurde. Sein Parteigenosse Boris Pistorius
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ließ am selben Tag verlauten, dass es nicht mehr zu einer Erstattungspflicht für Bürgen kommen wird.
Kurzum: Geht es nach der SPD, könnten die Kosten privater Flüchtlingsbürgschaften doch einfach auf die Steuerzahler abgewälzt werden.
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Das, meine Damen und Herren, wird es mit der AfD-Fraktion nicht geben.
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Als Rechtsstaatspartei lehnen wir diese Klientelpolitik zum Schaden der Steuerzahler ab.
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Auch das Haushaltsrecht verbietet aus guten Gründen, bestehende Bürgschaftsforderungen allein aus politischem Kalkül heraus zu erlassen. Gleiches gilt übrigens auch für die Aussetzung der Vollstreckung, wie sie von Sozialminister Heil angeordnet wurde.
In einem aktuellen Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages heißt es dazu: Niederschlagung, Stundung und Erlass von Bürgschaften sind Ermessensentscheidungen der Verwaltung und unterliegen dem Erfordernis der Einzelfallbetrachtung.
Es mag sein, dass Flüchtlingsbürgen im Einzelfall falsch beraten wurden und damit das eingegangene Risiko nicht überschauen konnten. Das zu prüfen, ist jedoch die Aufgabe der zuständigen Behörden und Verwaltungsgerichte. Dort wird über Unrechtmäßigkeit und Erlass einer Forderung entschieden und gerade nicht im Hinterzimmer des Sozialministers.
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Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, die ausgesetzten Vollstreckungsmaßnahmen unverzüglich wieder in Gang zu setzen. Holen Sie unser Steuergeld von den Flüchtlingsbürgen zurück: Cent für Cent. Alles andere werden wir nicht akzeptieren.
Danke schön.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Alexander Throm das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! „Flüchtlingsbürgen zur Kasse bitten – Erstattungsforderungen durchsetzen“, so der Titel des heute vorliegenden Antrags der AfD. Das klingt einfach, klingt zackig, klingt aber auch ein bisschen nach Stammtischgerede.
({0})
Wir haben es gerade auch entsprechend vernehmen können.
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– Genau auf den Rechtsstaat, Herr Dr. Gauland, komme ich gleich zu sprechen.
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Genau um den geht es nämlich hier. Den hat jedenfalls Ihr Redner komplett ausgeblendet;
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denn es ist halb so dramatisch, wie es hier dargestellt wurde, aber auch nicht ganz so simpel, wie Sie es gerne haben möchten.
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In der Tat: Der Bundestag hat im März 2013 ein Programm für 5 000 Menschen aus Syrien beschlossen. In der Folge haben nahezu alle Bundesländer entsprechende Länderprogramme erlassen. Voraussetzung dieser Länderprogramme war, dass jemand, der in Deutschland wohnhaft ist, die Bürgschaft, landläufig auch Verpflichtung genannt, für den Lebensunterhalt derjenigen, die aus humanitären Gründen nach Deutschland kommen, übernimmt.
Im März letzten Jahres hat Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, die Beitreibung dieser Forderungen für die sogenannten Altfälle – das sind diejenigen, die vor dem August 2016 aufgetreten sind, weil dann das sogenannte Integrationsgesetz in Kraft getreten ist – zunächst einmal ausgesetzt. Der Grund war einfach – das ist rechtsstaatlich in Ordnung, Herr Dr. Gauland –, dass es offene Rechtsfragen gab und diese bei unseren höchsten Gerichten bis hin zum Bundesverwaltungsgericht anhängig waren. Sie haben diese Urteile in Ihrem etwas dünnen Antrag sogar genannt. Aber offensichtlich haben Sie sie entweder nicht gelesen, oder Sie teilen nicht den Respekt vor den Urteilen höchster Gerichte in Deutschland,
({5})
weil Sie sonst einen solchen Antrag nicht stellen könnten,
({6})
in dem es heißt: Vollstreckungsmaßnahmen wieder in Gang setzen.
Ganz so einfach ist es eben nicht; denn das Bundesverwaltungsgericht und vorher das höchste Verwaltungsgericht von Nordrhein-Westfalen haben eben atypische Fälle festgestellt. Wenn Sie etwas kritisieren wollen, dann können Sie kritisieren, dass bei den Ländern verwaltungstechnisch vielleicht nicht alles hundertprozentig so gelaufen ist, wie es hätte laufen sollen, wie wir im Nachhinein wissen. Aber jedenfalls ist es in den Fällen, in denen beispielsweise die Leistungsfähigkeit der Bürgen nicht oder nicht umfassend geprüft wurde, nicht möglich, die Beitreibung, die Zwangsvollstreckung wieder einzusetzen.
Bei einer größeren Gruppe von Fällen stellt sich die Frage: Wie lange haften die Bürgen für den Lebensunterhalt der Flüchtlinge, die wir aus humanitären Gründen aufgenommen haben? Da geht es insbesondere um die Frage des sogenannten Rechtskreiswechsels. Also, wenn der Flüchtling hier ankommt und einen Asylantrag stellt und tatsächlich, was bei den meisten Syrern der Fall war, einen Asylschutz gewährt bekommt, dann ist die Frage: Wie lange können wir aus den Bürgschaften, aus den Verpflichtungen, Forderungen geltend machen bzw. vollstrecken? Auch da haben die Gerichte gesagt: Dies geht eben nur, wenn vorher eine entsprechende Aufklärung und eine entsprechende Orientierung durch die Behörden stattgefunden hat. – Das hat es in der Tat nicht in allen Fällen gegeben.
Da müssen wir, rechtsstaatlich vorgegeben, Ermessen ausüben und Verhältnismäßigkeitsgrundsätze anwenden. Das tun wir. Das tut auch die Bundesregierung. Das wird sie auch in den nächsten Wochen und Monaten tun, indem sie neue Weisungen an die entsprechenden Behörden, insbesondere die Jobcenter, dahin gehend erlassen wird, wie dieses Ermessen auszuüben ist. Die Fallgruppen habe ich Ihnen gerade genannt. In allen anderen Fällen, in denen wir diese atypischen Fälle nicht haben, in denen die Gerichte nicht festgestellt haben, dass wir Forderungen niederschlagen müssen, werden diese selbstverständlich weiterhin erhoben werden. Das ist in unserem Rechtsstaat auch völlig in Ordnung.
Insofern ist alles, was Sie hier gesagt haben, nicht halb so dramatisch, wie es dargestellt wurde, sondern einfach ein rechtsstaatlicher Vorgang. Die Gerichte entscheiden. Die Bundesregierung setzt so lange die Maßnahmen aus. Wenn dann die Gerichte entschieden haben, werden die Forderungen, so sie denn beitreibbar sind, das heißt rechtmäßig festsetzbar sind, tatsächlich beigetrieben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben bei dem Programm hier im Bundestag, zu dem wir nach wie vor stehen, und bei vielen Länderprogrammen Mitgefühl und Hilfsbereitschaft gezeigt. Lassen Sie uns das, was wir mit Mitgefühl und Hilfsbereitschaft begonnen haben, nicht mit Stammtischgerede beenden.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Pascal Kober das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2015 sind viele Menschen aus Kriegsgebieten nach Deutschland gekommen, um hier um Asyl nachzufragen. Viele konnten sich in Sicherheit bringen und sind nach Deutschland gekommen. Aber das war nicht jeder und jedem möglich. Manche Familienangehörige, auch Einzelpersonen haben den Weg nicht geschafft. In dieser Situation sind einige Menschen in Deutschland persönlich und ganz privat in die Verantwortung getreten und haben es ermöglicht, dass diese Menschen nach Deutschland kommen, um hier auf ganz legalem Weg um Asyl nachzufragen.
Das haben sie gemacht, indem sie eine sogenannte Verpflichtungserklärung unterzeichnet haben, in der sie sich verpflichtet haben, für den Lebensunterhalt und für die Kosten der Krankenversicherung während des gesamten laufenden Asylverfahrens zu bürgen. Und sie haben das auch bezahlt. Damit haben sie unserem Staat zunächst einmal Geld und Aufwand erspart. So weit, so unproblematisch.
Den Menschen war durchaus klar, dass sie für den Unterhalt der Geflüchteten aufkommen müssen. Allerdings kam es in vielen Fällen auch dazu, dass sie über die Dauer ihrer Bürgschaft nicht korrekt und nicht umfassend beraten worden sind. Hierzu kam es zum Beispiel auch unter anderem deshalb, weil Bund und Länder teilweise unterschiedlicher Rechtsauffassung waren, wie lange zum Beispiel eine Bürgschaft Gültigkeit behält.
Manche Länder waren der Überzeugung, dass eine Bürgschaft für einen Menschen mit der Anerkennung als Flüchtling endet, und haben die Bürgerinnen und Bürger entsprechend beraten. Der Bund wiederum war der Auffassung, dass die Bürgschaft auch nach der Anerkennung als Flüchtling weiterhin bestehen bleibt, was auch, wie sich später herausstellte, die korrekte Rechtsauslegung war. Aus diesem Grund haben – das ist auch erst mal ganz normal – die Jobcenter den Bürgen Rückforderungsbescheide zugeschickt, in denen sie Erstattungen der geleisteten Grundsicherungsleistungen verlangt haben.
Nun sind wir als Freie Demokraten eine Rechtsstaatspartei. Wir sagen: Selbstverständlich müssen auch Bürgen im Rahmen der eingegangenen Bürgschaften tatsächlich bürgen – einerseits.
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Andererseits gehört es aber eben auch zur Rechtsstaatlichkeit, dass der Bürger darauf vertrauen können muss, dass die Behörden ihn korrekt informieren. Kein Bürger in diesem Land muss damit rechnen, dass eine staatliche Behörde ihn möglicherweise unzureichend oder falsch und unzutreffend aufklärt.
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Wenn ein Bürger beispielsweise aufgrund solcher Nachlässigkeiten oder unterschiedlicher Rechtsauffassungen von Behörden zur Kasse gebeten wird, dann müssen wir als Rechtsstaatspartei ihn davor eben auch schützen.
Unter Beteiligung des nordrhein-westfälischen Integrationsministers Joachim Stamp ist zwischen Bund und Ländern in einer zähen Verhandlung eine Kompromisslösung auf den Weg gebracht worden, die besagt, dass Rückforderungsbescheide gegen Bürger aufgehoben werden, sofern sie falsch oder unzureichend beraten worden sind. Laut Kompromisslösung tragen die Kosten dann die Bundesländer und der Bund. Das ist eine Lösung, die fair ist.
Dort, wo Bürgen falsch informiert worden sind, fordern wir, dass wir mit Augenmaß und Großzügigkeit bzw. im Sinne eines Rechtsstaats unserer Verantwortung nachkommen und niemanden zur Kasse bitten, der falsch beraten worden ist.
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Wo hingegen richtig beraten worden ist und wo die Entscheidung zur Bürgschaft auf einer richtigen Beratung beruht hat, fordern wir allerdings auch, dass die Bürgschaft erbracht wird.
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat nun Gabriele Hiller-Ohm das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Endlich ist eine Lösung zwischen Bund und Ländern im Streit um die Bürgschaften für Geflüchtete aus Syrien gefunden worden. Das ist gut so.
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Herzlichen Dank an Minister Heil, dem diese Einigung gelungen ist!
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Menschen, die Kriegsflüchtlingen mit Bürgschaften einen sicheren und legalen Weg nach Deutschland ermöglicht haben und dies in dem guten Glauben getan haben, nur für einen überschaubaren Zeitraum als Bürgen herangezogen werden zu können, erhalten jetzt endlich Klarheit.
Werfen wir einen Blick zurück. In Syrien tobt seit 2011 ein schrecklicher Krieg, der unzählige Opfer auch unter der Zivilbevölkerung forderte und fordert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in Deutschland nicht tatenlos zugeschaut.
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Nein, der Bund und 15 Bundesländer – einzige Ausnahme: Bayern – haben spontan humanitäre Hilfe geleistet und Programme zur Aufnahme von Syrern, die Verwandte in Deutschland haben, aufgelegt. Über 20 000 Menschen konnten so aus den Kriegsgebieten in Syrien legal nach Deutschland einreisen. Sie fanden Rettung und Schutz in Deutschland. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist großartig.
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Viele Menschen in unserem Land haben den Krieg in Syrien verfolgt, und für sie war klar: Wir helfen.
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Viele übernahmen im Rahmen der Hilfsprogramme spontan Bürgschaften, um Menschen aus Syrien die Einreise zu ermöglichen. Sie kümmerten sich und trugen so maßgeblich zur Integration vieler Kriegsflüchtlinge hier bei uns in Deutschland bei. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, dass ich in einem Land lebe, in dem so etwas möglich ist.
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Ich danke allen, die zu dieser großartigen Hilfe bereit waren.
Leider war bis 2016 nicht klar, wie die finanziellen Verpflichtungen für Bürgen genau aussehen. Voraussetzung für die Einreise der Flüchtlinge war die Abgabe einer Bürgschaft durch Verwandte oder Dritte, die zur Erstattung staatlicher Sozialleistungen verpflichtete. Über die Reichweite dieser Bürgschaften waren die Betroffenen oftmals, wie wir schon gehört haben, im Unklaren, oder es waren falsche Informationen über die zeitliche Dauer der Verpflichtungen im Umlauf.
Als Jobcenter und Sozialämter ihre Erstattungsforderungen an die Bürgen verschickten, lagen die Summen teils im fünfstelligen Bereich. So sollte zum Beispiel ein 80-jähriger Mann aus Niedersachsen 80 000 Euro an das Jobcenter Uelzen zahlen.
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Er hatte 2014 für vier Geflüchtete aus Syrien gebürgt. Dabei wurde ihm zum Zeitpunkt der Verpflichtungserklärungen mitgeteilt, dass seine Bürgschaft mit Erteilung der jeweiligen Aufenthaltsgenehmigung enden würde. Dem war dann aber nicht so.
Dieser Mann hat aus gutem Glauben gehandelt. Das erkannte auch das Verwaltungsgericht in Lüneburg an. Es stellte die Unwirksamkeit seiner Verpflichtungserklärungen fest, ebenso wie einige Gerichte dies in ähnlichen Fällen taten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD.
Trotzdem blieben für viele Bürgen weiter Unsicherheiten. Die Bundesregierung hat sich daraufhin mit den Ländern zusammengesetzt, um eine gute und einheitliche Lösung zu finden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist gelungen.
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Bund und Länder übernehmen nun in den betroffenen Fällen hälftig die Kosten. Zudem gibt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales den Jobcentern einheitliche Ermessenskriterien zur Überprüfung einzelner Bescheide an die Hand.
Dies ist eine solide Lösung, die vielen Bürgen, die sich auf vermeintlich korrekte Aussagen verlassen haben, helfen wird, und es ist ein Zeichen der Solidarität und der Anerkennung für die Hilfsbereitschaft, die wir in unserer Gesellschaft gegenüber Kriegsflüchtlingen haben.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Antrag der AfD lehnen wir selbstverständlich ab.
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Das Wort hat die Kollegin Gökay Akbulut für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Flüchtlingsbürgen zur Kasse bitten“ lautet der Antrag der AfD. Aber vielleicht sollten Sie sich erst mal um Ihre Parteikasse und Ihre illegalen Parteispenden kümmern, bevor Sie andere zur Kasse bitten.
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Räumen Sie erst mal bei sich selber auf!
Warum überrascht uns so ein Antrag der AfD nicht? Vielleicht weil Werte wie Menschlichkeit, Solidarität oder Hilfe keine Werte für die extreme Rechte sind,
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vielleicht weil die AfD für ein Gesellschaftsmodell steht, in dem all diese Werte kriminalisiert werden sollen,
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vielleicht aber auch, weil ein Abgeordneter aus der AfD, Thomas Seitz, im Zusammenhang mit der Wiedereinreise eines abgeschobenen Asylbewerbers über die Einführung der Todesstrafe in Deutschland reden möchte.
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Das ist Ihre Menschenfeindlichkeit.
Nun zum Antrag.
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In den Jahren 2014 und 2015 haben Menschen im Rahmen der Landesaufnahmeprogramme für syrische Geflüchtete zugunsten ihrer Angehörigen Verpflichtungserklärungen unterschrieben.
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Sie haben dies in erster Linie getan, um diesen Menschen einen legalen Zufluchtsweg nach Deutschland zu ermöglichen, damit sie nicht die gefährliche Mittelmeerroute nehmen müssen.
Ich möchte hier an dieser Stelle meinen Dank und meinen Respekt an diejenigen richten, die diese Verantwortung übernommen haben.
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Das ist eigentlich eine Aufgabe der Politik. Was jetzt aber mit den Bürgen passiert, die diesen Akt der Solidarität geleistet haben, ist ein Skandal.
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Sie erhalten Forderungsschreiben der Jobcenter, in denen sie um Erstattung der Lebenshaltungskosten der betreffenden Personen gebeten werden, auch dann, wenn die betreffende Person schon einen Schutzstatus erhalten hat. Das war vielen Bürgen jedoch nicht klar.
Im Rahmen der Bürgschaftsverfahren haben Aufklärung und umfassende Beratung durch die Behörden nur begrenzt stattgefunden. Die Rechtsprechung zu dem Thema war auch nicht einheitlich. Die Bundesregierung hat mit ihrem Integrationsgesetz von 2016 sogar Verschärfungen nachgelegt.
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Im Januar 2017 hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass die Haftung aus Verpflichtungserklärungen mit der Anerkennung des Schutzstatus nicht entfällt.
Wir fordern die Aufklärung über diese Verfahren, die Klärung der Zahlungsfähigkeit der Bürgen und die Aufklärung der rechtlichen Irrtümer. Der Bund und die Länder haben in diesem Zusammenhang schon Lösungen angeboten. Dennoch ist die rechtliche Lage bis heute nicht umfassend geklärt. Dieses widersprüchliche Verhalten schafft eine Rechtsunsicherheit. Diese Unsicherheit darf nicht zulasten derer bestehen bleiben, die sich solidarisch und couragiert an die Seite der Geflüchteten gestellt haben.
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Hier sollte eine einheitliche Lösung der Bundesregierung auf den Tisch. Im Ergebnis muss das heißen, dass keiner der Bürgen zur Kasse gebeten werden darf.
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Die Lösung sollte daher entweder der Erlass der Forderung oder ein Hilfefonds sein, der die Bürgen finanziell entlastet.
Außerdem sollten die Landesaufnahmeprogramme weitergeführt und auch ausgebaut werden, damit mehr Menschen legale Zugangswege nach Deutschland finden; denn immer noch müssen viele Menschen über die tödliche Route im Mittelmeer fliehen. Das muss endlich beendet werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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– Klar doch. Immer.
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Das Wort hat die Kollegin Filiz Polat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Umgang mit den Flüchtlingshelferinnen und -helfern durch die Bundesregierung ist und war ohnehin schon ein Trauerspiel. Aber dieser Vorstoß der Rechten setzt dem Ganzen die Krone auf.
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Die Bundesregierung bleibt lange untätig, und die Rechten nutzen mal wieder diese Handlungsunfähigkeit und blasen wie üblich ins rechte Horn, wenn es um das Engagement für Geflüchtete geht.
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Gerade deshalb möchte ich allen in diesem Hause die Rede von Anita Lasker Wallfisch zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im letzten Jahr in Erinnerung rufen und aus dieser zitieren, weil ich mich sehr oft an dieses Zitat erinnere, wenn ich mit den Flüchtlingsbürginnen und -bürgen spreche. Ich zitiere:
Nach der Katastrophe hat sich Deutschland exemplarisch benommen. Nichts wurde geleugnet. Antisemitismus war nicht mehr modern. Heute sind andere Zeiten. Die Welt ist voller Flüchtlinge. Für uns haben sich die Grenzen damals hermetisch geschlossen und nicht wie hier geöffnet, dank dieser unglaublich generösen, mutigen, menschlichen Geste, die hier gemacht wurde.
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Gerade die Bürgschaftsgeberinnen und -geber stehen – das ist die Ansicht der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – beispielhaft für diese generöse, mutige und menschliche Geste.
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Ja, sie haben nicht nur ihre Herzen geöffnet, wie viele andere Hunderttausende in diesem Land, und sich mit viel persönlichem und zeitlichem Einsatz um die aufgenommenen Geflüchteten gekümmert, sondern sie sind auch ein finanzielles Risiko eingegangen,
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und das – das sollte nicht vergessen werden, Frau Hiller-Ohm – zu einer Zeit, als der Bund sein humanitäres Aufnahmeprogramm für syrische Geflüchtete nicht mehr fortgesetzt hat. Diesen Menschen – da stimme ich der Kollegin Akbulut zu – gebührt unser Respekt und unser großer Dank, aber nicht ein Forderungsbescheid vom Jobcenter.
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Allein in Wolfsburg, Niedersachsen, gaben in 93 Fällen Freiwillige eine Verpflichtungserklärung für insgesamt rund 200 Geflüchtete ab. Die Bürgen gingen dabei davon aus – das wurde gesagt –, dass ihre Unterhaltspflicht endet, wenn die Betroffenen als Flüchtlinge anerkannt werden. Wir sprechen hier von Kriegsflüchtlingen, Herr Baumann. Wir meinen, das war eine richtige und konsequente Schlussfolgerung. Wir Grüne fordern deshalb von Bund und Ländern, dass die Lösungen zügig und transparent im Sinne der Betroffenen, Frau Griese, umgesetzt werden. Die Bundesregierung darf den Helferinnen und Helfern nicht weiter Anlass bieten, im Nachhinein an ihrer Hilfsbereitschaft zu zweifeln oder sie gar zu bereuen.
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Ihr Einsatz für Geflüchtete in den vergangenen Jahren kann gar nicht genug gewürdigt werden. Auch angesichts der Entscheidungen vieler Verwaltungsgerichte zugunsten der Betroffenen – zuletzt in mehreren Berufungsverfahren durch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in Lüneburg am 11. Februar 2019 – fordern wir die Bundes- und auch die Landesregierungen auf, endlich klare Kriterien zur Niederschlagung der Forderungen an die Betroffenen zu kommunizieren. Denn es wäre ein fatales Signal, öffentlich eine Lösung zu verkünden, Frau Griese, und anschließend die Bürgen dann doch im Regen stehen zu lassen. Beenden Sie die unsägliche Hängepartie zugunsten der Helferinnen und Helfer.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Thomas Heilmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebes Publikum an den digitalen Endgeräten! Werte Kollegen von der AfD, Ihr Antrag ist technokratisch, kalt und hartherzig.
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Dabei ist die Situation kompliziert, vielschichtig und übrigens schicksalhaft für viele Menschen.
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Ihrem Antrag fehlt jede Differenzierung und jedes Verständnis für die betroffenen Menschen.
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Sie, insbesondere Herr Springer, haben so viele Anfragen gestellt, dass Sie doch ganz genau wissen müssen, dass und warum diese Fälle komplex und kompliziert sind.
Ich finde es moralisch richtiggehend verwerflich, wie Sie mit Menschen umgehen.
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Ich finde es moralisch verwerflich, dass Sie das Thema erkennbar aufziehen, um wieder und wieder Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen; denn das ist doch Ihr Bestreben.
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Ich finde es moralisch verwerflich, dass Sie auch noch Stimmung gegen solche Menschen machen, die nichts weiter wollten, als zu helfen.
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Wenn Sie gutwillig wären, dann würden Sie diese Sachverhalte auch finden. Sie müssten nur in die Zeitung schauen.
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Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, nachdem Sie ja auch eins genannt haben. Da gibt es den 64-jährigen Herrn aus Nordrhein-Westfalen, genauer gesagt aus Minden-Lübbecke. Er organisierte 2014 einen Hilfstransport mit Kleidung für Flüchtlinge an die syrisch-türkische Grenze. Darüber lernte er natürlich einige Familien kennen, und im Juni 2015 bürgte er für eine siebenköpfige syrische Familie. Er sagt: Für die Ausländerbehörde war das damals Routine. Ich musste nur unterschreiben. Das dauerte nur drei Minuten.
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Eine Beratung vonseiten der Ausländerbehörde habe nicht stattgefunden. Er war bereit – jetzt hören Sie einmal genau zu –, bis zur Anerkennung des Asylstatus für die Familie zu zahlen, und hat das übrigens auch getan. Dieser hilfsbereite Mann glaubte allerdings, wie meine Vorredner schon erläutert haben, die Angelegenheit habe sich mit dem, was wir Rechtskreiswechsel nennen, erledigt. Das war ein Irrtum, und so kam es, dass er 46 700 Euro zusätzlich zahlen sollte.
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Meine Damen und Herren, dieser Mann verdient unsere Hochachtung und nicht Ihr oberlehrerhaftes Geplärre.
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Er hat geholfen, er war bereit, zu bezahlen, und er hat auch gezahlt.
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– Stellen Sie eine Zwischenfrage. Ich verstehe Sie sowieso nicht. – Wir von der CDU nennen solches Verhalten übrigens Nächstenliebe. Ob er noch mehr bezahlen muss oder nicht, ist eine schwierige Rechtsfrage und nicht so klar, wie Sie das darstellen.
Ihr Antrag ist aber nicht nur moralisch abzulehnen, sondern auch juristisch. Sie wissen nämlich genau – viele meiner Vorredner haben das schon gesagt; ich kann mich kurzfassen –, dass vor 2016 viele Behörden die Bürgschaftssteller falsch oder gar nicht beraten haben. Die Aspekte „Vertrauensschutz“ oder gar „Amtshaftung“ kommen in Ihrem Antrag gar nicht vor. Jede Bank muss, bevor sie eine Bürgschaft annimmt, aufklären. Das gilt erst recht für Behörden. Daran fehlte es vor der Gesetzesänderung 2016.
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Deshalb muss es eine Einzelfallprüfung geben, und Sie wissen ganz genau, dass sie gerade vorbereitet wird.
Auch die Aussetzung der Einzelfallprüfung durch Bundesminister Heil war angemessen, weil es Rechtsfragen gab, die der höchstrichterlichen Rechtsprechung bedurften. Es musste geklärt werden, wie die Zuständigkeit, die Kostentragung und das Verfahren laufen sollen. Das ist nun passiert, wie Sie aus der Erklärung des Bundesarbeitsministers wissen. Also, es kommt jetzt zur Einzelfallprüfung, und das ist auch richtig so.
Warum haben Sie dann noch schnell einen Antrag gestellt, obwohl Sie doch genau wissen, dass diese jetzt kommt?
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Das erwähnen Sie auch gar nicht. Das ist doch reiner, durchsichtiger Populismus, den Sie da betreiben.
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Besonders schändlich finde ich, dass Sie sich auf Ordnung, Rechtsstaat und konservative Werte berufen. Schließlich ist Ihr Antrag aus meiner Sicht geradezu rechtsstaatswidrig. Denn wenn Sie generalisieren, beachten Sie weder das Verhältnismäßigkeitsprinzip noch Artikel 3 Grundgesetz, und konservativ oder gar christlich ist Ihr Image erst recht nicht.
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Ich möchte mit einem Zitat von Konrad Adenauer schließen:
… die christliche Nächstenliebe, ihr Wirken kann durch nichts ersetzt werden, und ihr Wirken ist in unserer Zeit notwendiger als je.
Das gilt auch heute.
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Ehrlich gesagt, zeigt Ihr Antrag, dass die AfD weder christlich noch konservativ ist.
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Sie wollen einfach nur spalten. Aber glauben Sie nicht, dass wir das nicht durchschauen.
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Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Gabriela Heinrich das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 2013 und 2014 starben in Syrien rund 140 000 Menschen. Jenseits aller politischer Beurteilung war eines immer deutlich: Die Opfer dieses Bürgerkriegs brauchen Schutz und Unterstützung.
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Wir haben das durchaus gewusst, und einige hier haben sich für humanitäre Hilfe und für humanitäre Visa eingesetzt.
Schon vor 2015 wurden im Bund und in den Ländern bereits Aufnahmeprogramme gestartet. In einem geordneten Verfahren wurden besonders schutzbedürftige syrische Flüchtlinge aufgenommen. Dabei ging es auch darum, die völlig überforderten Anrainerstaaten rund um Syrien zu entlasten. Die Auswahl erfolgte unter anderem auf Vorschlag des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen. Die Identität der Geflüchteten war geklärt, und bevorzugt wurden diejenigen, die in Deutschland bereits Verwandte hatten.
Zu den Voraussetzungen für die Aufnahme und die Berücksichtigung in den Aufnahmeprogrammen gehörte auch die Verpflichtungserklärung. Menschen erklärten sich bereit, für die Kosten aufzukommen, damit andere in Deutschland Schutz fanden. Viele Syrer gingen eine solche Verpflichtung ein, für ihre Verwandten, die gerade so dem Bürgerkrieg entkommen waren.
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Gerade auch deutsche Kirchengemeinden engagierten sich, indem sie Bürgschaften übernahmen. Sie haben sich um diese Menschen gekümmert und auch um deren Versorgung. Sie haben ihnen Halt gegeben und beim Ankommen im neuen Land unterstützt, mit viel Kraft, mit viel Herz und auch mit finanzieller Hilfe.
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Ich möchte mich, auch im Namen der SPD-Bundestagsfraktion, herzlich bei allen bedanken, die dazu bereit waren.
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Viele Bürgen sind davon ausgegangen, dass die finanzielle Verpflichtungserklärung dann endet, wenn die Syrerinnen und Syrer als Flüchtlinge anerkannt sind. Man kann diese Annahme auch durchaus nachvollziehen, wenn man sich ein kleines bisschen bemüht. Für viele Bürgen war eben nicht klar, wie weitreichend die Verpflichtungserklärung sein würde. Und es gab durchaus auch eine unterschiedliche Rechtsauffassung – wir haben davon gehört – von Bund und Ländern, was diese Verpflichtung bedeutet: Wie lange gilt sie, und was soll sie beinhalten? Die Große Koalition hat deswegen gehandelt und die Regeln mit dem Integrationsgesetz 2016 klargestellt. Seitdem gelten Verpflichtungserklärungen für fünf Jahre. Und sie erlöschen auch dann nicht, wenn jemand als Flüchtling anerkannt wird. Das heißt, dass Bürgen für entsprechende Kosten aufkommen müssen und dass sie das auch vorher genau wissen.
Für die sogenannten Altfälle vor 2016 haben wir jetzt, wie ich meine, eine faire Lösung gefunden. Vor ein paar Wochen gab es den Durchbruch, der vom heute vorliegenden Antrag völlig ignoriert wird. Der Bund hat sich mit den am meisten betroffenen Ländern Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Hessen geeinigt. Die Regelung sieht vor, dass bei Altfällen die Bürgen die Kosten für drei Jahre selbst tragen müssen. Aber ab dem Moment, in dem die Flüchtlinge einen Schutzstatus erhalten haben, soll der Staat noch einmal besonders hinschauen. Mit dieser geplanten Neuregelung wird einzeln geprüft, was für den Bürgen finanziell überhaupt möglich sein kann. Das ist fair. Diese Einzelfallprüfung berücksichtigt auch die damalige Rechtsunsicherheit. Sie macht deutlich, dass wir diejenigen nicht alleine lassen, die bereit waren, Verantwortung zu übernehmen und Menschen zu helfen.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7938 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Regierungsbefragung stellt eine besondere Möglichkeit dar, Fragen an die Bundesregierung zu richten und miteinander in einen Dialog zu treten und aufeinander einzugehen. Es ist nicht die einzige Möglichkeit, die Bundesregierung zu befragen. Das sieht man allein an der in dieser Legislaturperiode gestiegenen Anzahl an Kleinen Anfragen. Darüber müssen wir sicherlich gesondert reden; denn die Bundestagsverwaltung muss es schaffen, die Vielzahl an Kleinen Anfragen zu händeln, aber auch die Bundesregierung muss es schaffen, die vielen Kleinen Anfragen vernünftig zu beantworten.
Es könnte eine sehr lebendige und sehr anschauliche Art der Befragung sein. Doch wenn man sich die Regierungsbefragung anschaut, merkt man: Es ist nicht besonders lebendig und nicht besonders anschaulich. Leider muss man sagen: Die eine oder andere Talkshow im Fernsehen, an der Regierungsvertreter teilnehmen, ist deutlich spannender, als es die Regierungsbefragung oftmals gewesen ist.
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Darum gab es hinsichtlich der Regierungsbefragung auch eine Vielzahl von Änderungswünschen vonseiten der Parlamentarier. Dazu gehörten zum Beispiel die Kenntnis der Kabinettstagesordnung, eine spezielle Befragung der Bundeskanzlerin bzw. des Bundeskanzlers und mehr Zeit für die Regierungsbefragung, für die bisher 30 Minuten angesetzt waren.
Der nun vorliegende Vorschlag der Koalition geht auf viele dieser Punkte ein und geht sogar darüber hinaus. Erstmals muss sich die Bundeskanzlerin bzw. der Bundeskanzler einer turnusmäßigen Befragung stellen; das ist dreimal im Jahr vorgesehen. Der Bundestag erhält zukünftig die Tagesordnung der Kabinettssitzung, die mittwochs vor der Regierungsbefragung stattfindet, sodass man weiß, was im Kabinett diskutiert worden ist, und sich detailliert auf die Fragen an die Bundesregierung vorbereiten kann. Es wird kein Thema als Gegenstand der Regierungsbefragung vorgegeben, sondern die Abgeordneten, die die Fragen stellen, entscheiden selber, zu welchen Themen sie die Bundesregierung befragen. Für die Regierungsbefragung werden regulär 60 Minuten angesetzt. Das ist doppelt so viel wie bisher; da waren es 30 Minuten. Eine Verlängerung um weitere 15 Minuten ist bei Bedarf durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages möglich. Und es wird festgeschrieben, dass mindestens ein Bundesminister bei jeder Regierungsbefragung anwesend ist. Bislang war dies gar nicht ausdrücklich geregelt.
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Das sind viele Punkte. Ich halte diese Punkte, die in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages geregelt werden sollen, insbesondere vor dem Hintergrund der schon bestehenden Regelungen in der Geschäftsordnung für richtig und sehr pragmatisch. Sie geben die Chance, eine lebendige und anschauliche Regierungsbefragung durchzuführen.
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Trotzdem äußerte die Opposition in Form von FDP, der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen gegenüber den Neuregelungsvorschlägen erhebliche Kritik. Sie äußerte, dass das Fragerecht durch die Reform bedroht sei. Die Regierungsbefragung würde starrer, unflexibler und behördenmäßiger. So habe ich die Äußerung verstanden.
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– Frau Kollegin Haßelmann und die Parlamentarischen Geschäftsführer der genannten Fraktionen klatschen. Aber jetzt müssen Sie sich von mir auch vorhalten lassen, was Ihre Vorschläge waren und worin sich die Vorschläge unterscheiden.
Was die Kanzlerbefragung anbetrifft, hat die Koalition vorgeschlagen, diese dreimal im Jahr zu machen.
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Die FDP hat in ihrem Entwurf vorgeschlagen, die Kanzlerin viermal im Jahr zu befragen,
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und die Fraktion Die Linke hat vorgeschlagen, die Kanzlerin jedes Quartal zu befragen. Das ist auch viermal im Jahr.
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Wir unterscheiden uns in der Anzahl der Befragungen. Es geht um drei oder vier Befragungen. Ob ich so harte Worte ins Feld führen würde, wenn der Unterschied so marginal ist, weiß ich nicht.
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Übrigens hat die Bundeskanzlerin bei den bereits durchgeführten Kanzlerinnenbefragungen doch in beeindruckender Weise gezeigt, wie gut sie auf Fragen antwortet, meine Damen und Herren.
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Die Übermittlung der jeweiligen Kabinettstagesordnung ist allen Vorschlägen gemeinsam. Da gibt es keinen Dissens, wenn ich das richtig sehe. Dass kein Thema vorgegeben wird, ist auch allen Anträgen gemeinsam. Auch da gibt es keinen Dissens. Eine Verlängerung der Befragung der Bundesregierung auf 60 Minuten wünschen sich auch alle. Da gibt es auch keinen Dissens.
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Der zweite Dissens, den ich feststelle, liegt darin, wie viele Minister zur Befragung zur Verfügung stehen sollen. Im Vorschlag der Koalition ist vorgesehen, dass mindestens ein Mitglied der Regierung anwesend sein soll.
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– „Wie wäre es denn mit allen?“, wird da eingeworfen. Sie waren nicht bei der Anhörung. Sie können es nicht wissen, wenn Sie es nicht nachgelesen haben. Darauf komme ich gleich noch zurück.
Jetzt kommt die große Kritik – ich hätte mir gewünscht, dass man auch mal in die eigenen Gesetzentwürfe schaut –, und die Kritik ist schon relativ harsch formuliert.
({11})
– Manche wünschen sich ja eine gesetzliche Änderung und keine Änderung der Geschäftsordnung, Herr Kollege. Das hat ja die entsprechende Anhörung ergeben.
Im Vorschlag der Linken steht dazu:
Es wird der Erwartung Ausdruck verliehen, dass zugleich stets auch mehr als ein Regierungsmitglied an der Regierungsbefragung teilnimmt.
Das ist ein feiner semantischer Unterschied – das ist richtig –; es ist aber nur eine kleine Nuance. Man sollte einmal schauen, wie die Bundesregierung das leben wird. Ich könnte mir vorstellen, dass die Bundesregierung schon aus eigenem Interesse mit mehr als einem Minister vertreten sein wird;
({12})
denn dann können Fragen zu den einzelnen Fachressorts entsprechend beantwortet werden.
({13})
Jetzt zur FDP. Die FDP schlägt vor, dass die Fragen durch einen Minister oder einen Staatssekretär unter Wahrung von Artikel 43 beantwortet werden.
({14})
– Doch, ich habe es dabei. Wenn Sie eine Frage stellen, zitiere ich aus Ihrem Vorschlag. Dann verlängert sich meine Redezeit.
({15})
Meine Damen und Herren von der Opposition, warum solche harschen Worte? Die FDP spricht von „irrelevanter Quatschbude“. Das ist ganz nah an einer Äußerung von Kaiser Wilhelm II., den man hier eigentlich nicht zitieren sollte.
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Richtig ist: In der Geschäftsordnung können wir das Zitieren einzelner Minister oder gar des ganzen Kabinetts nicht regeln. Ich würde Ihnen jetzt gerne alle Zitate der Sachverständigen vortragen; dazu fehlt aber die Zeit. Ich zitiere nur Professor Morlok: Ich habe Zweifel daran, ob es sinnvoll ist, immer alle Mitglieder der Bundesregierung in die Regierungsbefragung zu zitieren, da meistens aus aktuellem Anlass doch nur ein oder zwei Minister in die Mangel genommen werden. Soll der Rest des Kabinetts als Kulisse dahinterstehen? Dies erscheint mir doch nicht sehr sinnvoll. – Von der Kritik bleibt also nicht viel übrig.
Ich wünsche mir, meine Damen und Herren von der Opposition, dass Sie sich die Vorschläge einmal genau anschauen. Sie werden sehen, wie viel sich von Ihren Ideen dort wiederfindet. Ich wünsche mir, dass wir dann gemeinsam zu einer Regelung kommen, die die Regierungsbefragung dann doch interessanter macht. Der Bundestagspräsident hat angekündigt, dass er sehr stark darauf achten wird, dass ein Fragekomplex in Gänze beantwortet wird. Ich glaube, es ist ein guter Ansatz, dass wir nicht von Thema zu Thema springen.
Kollege Sensburg, ich bin gehalten, auf die Einhaltung der Redezeit zu achten.
Das mache ich jetzt. – Ich wünsche mir, dass wir dies gemeinsam beschließen und einen Schritt weiterkommen. Wenn es noch weitere Verbesserungsvorschläge geben sollte, werden wir uns diese ansehen. Auseinanderdividieren lassen sollten wir uns nicht. Ich hoffe heute auf eine gute Beratung und eine gute Abstimmung.
Danke schön.
({0})
Für die AfD-Fraktion hat der Abgeordnete Thomas Seitz das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! An dem dringenden Reformbedarf bei Regierungsbefragung und Fragestunde gibt es keinen Zweifel, was schon 2013 der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert bei aller präsidialen Zurückhaltung sehr deutlich festgestellt hat – Zitat –:
Dass weder die Regierungsbefragung noch die Fragestunde in ihrer bisherigen Struktur das Glanzstück des deutschen Parlamentarismus darstellen, ist inzwischen ein breiter Konsens. Deswegen sollten wir in der Lage sein, beides in einer lebendigeren, die Aufgaben des Parlaments gegenüber der Regierung akzentuierenden Weise neu zu regeln.
Es ist für mich unverständlich, weshalb die Regierungsfraktionen heute, sechs Jahre danach, versuchen, eine Änderung durchzudrücken, die nur verschlimmbessert.
Die Fragestunde wollen Sie lediglich verkürzen. Wir als AfD sind stattdessen für einen vollständigen Wegfall. Es ist schlichtweg Ressourcenverschwendung, wenn das Plenum lauschen soll, wie Parlamentarische Staatssekretäre schriftliche Antworten auf vorab eingereichte schriftliche Fragen vorlesen.
({0})
Diese Fragestunde ist in der Praxis genauso unattraktiv, wie es sich in der Theorie anhört. Kein Wunder also, dass gerade die Unionsfraktion mit Abwesenheit glänzt! Ein Kollege aus meiner Fraktion hat es vor einem Jahr bei einem Zwiegespräch auf den Punkt gebracht: Das ist Verschwendung von kostbarer Lebenszeit.
({1})
Dem Fragerecht der Abgeordneten ist mit der Zulassung einer höheren Zahl an schriftlichen Einzelfragen und der Abschaffung der Fragestunde jedenfalls deutlich besser gedient.
Beim zweiten Regelungskomplex, der Regierungsbefragung, sieht es allenfalls geringfügig besser aus. Wenn nicht gerade mein Kollege Brandner den Außenminister mit peinlichen Fragen zur Verquickung von Amt und Privatleben quält,
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ist auch dieses Geschehen zumeist so spannend, wie es die fast leeren Sitzreihen am Mittwoch um 13 Uhr annehmen lassen. Auch hier Abstimmung mit den Füßen!
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Dabei gehört das Recht der Legislative, von der Exekutive vor den kritischen Augen der Öffentlichkeit Rechenschaft einzufordern, zu den Grundpfeilern der repräsentativen Demokratie. Und was wird uns präsentiert? Dreimal im Jahr sollen wir in Zukunft den Bundeskanzler hier zu sehen bekommen, und in den anderen Sitzungswochen kommt ein Minister in einer, wie es wörtlich heißt, zuvor festgelegten Reihenfolge. Falls sich also zwischen Pakistan und Indien gerade ein Atomkrieg anbahnt, spricht der Bundestag mit Frau Klöckner über die Finessen des Weingesetzes. Und warum? Weil die Bundesregierung ein Jahr vorher beschlossen hat, dass genau in dieser Plenarwoche die Frau Ministerin Klöckner an der Reihe ist. Ernsthaft? Ein noch effektiveres Mittel, um die letzten interessierten Bürger von der Liveübertragung zu vertreiben, ist kaum vorstellbar.
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Wenn es heißt, dass mindestens ein Mitglied der Bundesregierung anwesend sein muss, dann wissen Sie genau, dass das in der Praxis mit „nur ein Minister ist anwesend“ übersetzt werden wird. Eine schlechte Praxis wollen Sie jetzt zum förmlichen Binnenrecht des Parlaments erheben. Jeder von den Oppositionsfraktionen vorgelegte Gegenentwurf ist besser als das, was uns die Regierung hier zumutet. Ja, ich vermute, dass diese Regelung aus dem Kanzleramt kommt; denn: Was wäre das für ein Selbstverständnis des Parlaments, meine Damen und Herren von SPD und Union? Sind Sie Abgeordnete oder Hofschranzen?
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Welches Parlament macht sich denn freiwillig so klein, dass es sich von Frau Merkel vor Ostern, vor der Sommerpause und vor Weihnachten huldvoll nach Hause schicken lassen möchte? Nicht mit uns! Nicht mit der AfD!
Der Antrag der AfD-Fraktion greift dagegen das Vorbild des britischen Unterhauses auf.
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Mit Ausnahme der Volksabstimmung über den Brexit ist auch in Großbritannien sicherlich nicht alles vorbildlich; aber es hat unbestreitbar eine herausragende parlamentarische Tradition und Streitkultur hervorgebracht.
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Unser Gesetzentwurf verpflichtet den Bundeskanzler und drei Minister zur Anwesenheit. Welche Minister das sind, entscheidet das Parlament und nicht die Regierung.
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– Stellen Sie ruhig eine Frage! – Eine thematische Einengung der Fragen gibt es genauso wenig wie eine Bindung des Bundeskanzlers an die Tagesordnung der Kabinettssitzung. Insgesamt soll das Format der Regierungsbefragung flexibler werden und dauert bei einem Verzicht der Regierungsfraktionen auf eigene Fragen netto unter einer Stunde, andernfalls eben länger; das können die Regierungsfraktionen selbst entscheiden.
Meine Damen und Herren, dieses Parlament verdient eine echte Regierungsbefragung, die von der Öffentlichkeit auch wahrgenommen und geschätzt wird. Wir haben Ihnen dazu eine Vorlage geliefert. Sie haben die Möglichkeit, dem zuzustimmen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat Carsten Schneider für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der erste Antrag, den wir als SPD-Fraktion in der neuen Legislaturperiode in den Bundestag eingebracht haben, beschäftigte sich mit der Reform der Geschäftsordnung des Bundestages, insbesondere mit der Form der Regierungsbefragung und der Befragung der Kanzlerin. Wir als SPD haben es in der Situation, als wir alle noch nicht wussten, was für eine Regierung sich bildet, Ihnen als Fraktionen möglich gemacht, dem zuzustimmen. Damals deutete sich eine Jamaika-Koalition an.
Sie als FDP und Grüne haben das damals – ich bringe das jetzt, weil die Kritik in der Öffentlichkeit, die ich dazu vernommen habe, so harsch war – in die Ausschüsse verwiesen; „versenkt“ könnte man auch sagen. Das hat in Ihren Verhandlungen auch keine Rolle gespielt. Uns Sozialdemokraten war die Reform des Bundestages – die Debatten attraktiver zu machen, die Fragestunde aufzuwerten, dem Parlament mehr Rechte zu geben und die Kanzlerin hier verpflichtend dreimal im Jahr befragen zu können – so wichtig, dass wir das zu einer Bedingung und zu einem Grundpfeiler der Koalition gemacht haben. Und heute liefern wir.
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Herr Buschmann, wenn Sie die Anträge, die wir zur Änderung der Geschäftsordnung eingebracht haben, vergleichen, stellen Sie fest: Ein einziger Punkt ist anders, und zwar die Häufigkeit, wie oft die Bundeskanzlerin sich hier zu äußern hat. Damals haben wir in der Tat vier Mal gefordert, heute sind es drei. Das ist dem Kompromiss mit der Union geschuldet. Wir hätten gerne die vier Mal beibehalten, aber sind froh, dass es überhaupt eine Möglichkeit gab, das festzuschreiben. Ich finde auch, die Kanzlerin hat das sehr gut gemacht. Ich hätte nichts dagegen, wenn sie freiwillig öfter käme.
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Zum Zweiten ist von uns, nicht geregelt in der GO, aber generell vereinbart – das halte ich für einen Fortschritt, um das verbindend zu sagen –, dass wir in diesem Parlament nicht nur Debatten zu Anträgen, sondern auch Orientierungsdebatten führen. Das haben wir bei der Debatte zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse gemacht. Ich könnte mir vorstellen und wünsche mir das auch, das in Zukunft öfter zu machen, bei ungeklärten Fragen, wenn die parteipolitischen Farben noch nicht so klar erkennbar sind und wir uns eventuell noch im offenen Meinungsbildungsprozess befinden; denn auch das hilft.
Zudem wird die Regierungsbefragung selbst von 30 auf 60 Minuten verlängert.
Ich glaube, dass diese Punkte samt Orientierungsdebatte dieses Parlament stärken, es der Regierung aber auch nicht unmöglich machen, zu regieren, was ihr Hauptjob ist. Warum sage ich das? Ich sage das, weil es Stimmen gibt, die zum Beispiel bei der Regierungsbefragung die komplette Ministerriege hier haben wollen. Ich halte das für groben Unsinn.
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Erstens gibt es für uns nicht nur am Mittwoch in der Plenarsitzung die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Vielmehr haben Sie in jeder Ausschusssitzung – sei es im Haushaltsausschuss, im Finanzausschuss, im Innenausschuss etc. – die vollen Rechte und Fragemöglichkeiten dieses Parlaments, um die Regierung zu kontrollieren.
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– Im Haushaltsausschuss haben wir jede Woche einen Minister gehabt, Frau Haßelmann.
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Im Übrigen entscheidet der Bundestag selbst mit Mehrheit, ob er das will oder nicht. Auch dies ist uns unbenommen. Wir als Parlament sollten das – wir als SPD-Fraktion sind so selbstbewusst – auch einfordern.
Ich glaube, wenn Sie es sich genau angucken, können Sie guten Gewissens und mit Überzeugung – wir Sozialdemokraten jedenfalls können das – diesen Änderungen der Geschäftsordnung des Bundestages, die zumindest bis zum Ende der Legislatur gelten werden, zustimmen. Sie stärken die Rechte des Parlaments und der Abgeordneten, aber führen nicht zu einer Vorführung. Warum sage ich das? Es bringt nichts, wenn wir eine Frage an eine Ministerin oder einen Minister haben, alle anderen Spalier stehen zu lassen; die sollen ihre Arbeit machen. Wir sind der festen Überzeugung, dass es richtig ist, jeden Minister mindestens einmal im Jahr hier zu haben. Das hindert die Regierung aber nicht, uns mehr zu schicken. Das hindert auch nicht daran, uns selbst zu ermächtigen – das können wir hier beschließen –, dass es mehr sind. Daher bitte ich Sie um Zustimmung. Es ist ein Fortschritt für die Demokratie und auch für unseren Bundestag.
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Für die FDP-Fraktion hat nun Dr. Marco Buschmann das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Koalition brüstet sich hier mit einem scheinbaren Riesenerfolg, aber wenn man ganz ehrlich ist, entpuppt sich das doch bei näherem Hinsehen ganz schnell als Scheinriese. Schlimmer noch: Es ist nicht nur ein Scheinriese. Sie tragen mit Ihrem Entwurf zur Selbstverzwergung des Parlaments bei, wenn Sie genauer hineinschauen.
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Natürlich ist es gut, wenn die Frau Bundeskanzlerin in die Regierungsbefragung kommt. Das hatten wir allerdings schon auf dem Vereinbarungsweg erreicht. Natürlich ist es gut, wenn wir mehr Zeit in der Regierungsbefragung haben. Aber der Herr Bundestagspräsident hat sie ja häufig schon im Rahmen seines Ermessens verlängert. Es ist gut, dass wir das jetzt aufgeschrieben haben, aber das ist nicht der große Durchbruch. Aber die Selbstverzwergung, die Sie vorantreiben, ist wirklich ein starkes Stück. Das macht es uns unmöglich, der Sache zuzustimmen.
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Ich will Ihnen das erläutern. Der Deutsche Bundestag hat zwei Aufgaben: Zum einen ist er demokratisch gewählter Gesetzgeber. Um gutes Recht zu liefern, brauchen wir Zeit. Wir brauchen Detailkenntnisse, und dafür haben wir die erste, die zweite und dritte Lesung und die Ausschussberatungen. Aber der Deutsche Bundestag hat auch eine andere Aufgabe, und zwar als Repräsentant des Volkes gegenüber der Regierung zu wirken. Da muss es möglich sein, schnell, spontan, emotional und meinetwegen auch einmal konfrontativ die Dinge auf den Punkt zu bringen, die den Leuten auf den Nägeln brennen. Das machen Sie mit Ihren Vorschlägen nicht besser, das erschweren Sie. Und das ist eine Selbstverzwergung des Parlaments.
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Bislang ist es unser Anspruch, dass hier Fragen von Ministern selber beantwortet werden. Nur ausnahmsweise ist die Beantwortung durch Parlamentarische Staatssekretäre möglich. Warum? Bei allem Respekt vor ihnen; aber sie sind die Boten ihrer Herren. Dass wir als Repräsentanten des Volkes im Regelmodell mit den Boten vorliebnehmen müssen statt mit den Ministern, das ist Selbstverzwergung des Parlaments.
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Dass demnächst über Monate hinweg festgeschrieben wird, welcher Minister oder welche Ministerin überhaupt noch hierherkommt, führt faktisch dazu, dass die Themenhoheit über die Regierungsbefragung in Wirklichkeit allein bei der Regierung liegt. Denn was wird passieren, was ein PSt da sitzt und wir etwas ganz Aktuelles fragen? Der wird nichts anderes antworten außer: Da ist noch Rücksprache mit der Hausleitung oder Rücksprache mit der Regierung erforderlich. – Dann wird nur eine Person dazu sprechen können, ein Minister oder eine Ministerin. Und deren Themen werden wahrscheinlich gerade nicht zufällig diejenigen sein, die den Menschen auf den Nägeln brennen. Das ist Selbstverzwergung des Parlaments, was Sie da betreiben.
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Und das Letzte: Selbst bei den guten Dingen, die Sie tun, schaffen Sie es, die Selbstverzwergung des Parlaments voranzutreiben.
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Ihre eigenen Sachverständigen haben in der Anhörung gesagt, dass die Frau Bundeskanzlerin nicht dann, wenn es Sinn macht, sondern immer in der letzten Sitzungswoche vor den Osterferien, den Sommerferien und den Weihnachtsferien ins Haus kommt, sei die
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huldvolle Entlassung des Parlaments in die Ferien durch die Regierungschefin. Das ist vorkonstitutionelles monarchisches Hofzeremoniell und, wie ich sagen würde, eine Selbstverzwergung des Parlaments.
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Dabei machen wir nicht mit.
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In Zeiten, in denen das Parlament unter Druck steht, sollten wir uns nicht kleinmachen, sondern selbstbewusst gegenüber der Regierung auftreten. Dafür haben wir Ihnen Vorschläge gemacht. Ich halte es für keine Zumutung, wenn hier einmal in der Sitzungswoche jeder Minister und jede Ministerin für die Fragen, die den Menschen auf den Nägeln brennen, für die Repräsentanten des Volkes hier zur Verfügung stehen. Das ist der Anspruch eines selbstbewussten Parlaments, und den sollten wir formulieren.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
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Das Wort hat der Kollege Friedrich Straetmanns für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der viel zu früh verstorbene Publizist Roger Willemsen sagte 2014 nach einjähriger Begutachtung im Hohen Hause, die Fragestunde im Bundestag habe etwas von einem höfischen, toten Ritual. So ganz unrecht hatte er nicht.
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Es ist höchste Zeit, dass wir heute über verschiedene Anträge zur Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages beraten. Diese hat nämlich weitreichende Konsequenzen dafür, ob wir uns hier in Inszenierungen erschöpfen oder ob uns eine ernstzunehmende Kontrolle der Regierung ermöglicht wird. Die Regierungsbefragung und die Fragestunde in ihrer heutigen Form erfüllen diesen Zweck nicht. Wenn Sie von der Regierung nun festschreiben wollen, dass jeweils nur ein Regierungsmitglied pro Fragestunde anwesend sein muss, dann wird ein Großteil der Antworten auf Staatssekretärinnen und Staatssekretäre abgewälzt, die uns vorgefertigte Antworten vortragen. Von einer wirklichen Debatte mit Regierungsverantwortlichen aus der ersten Reihe kann hier nicht die Rede sein.
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Wenn wir außerdem die Entscheidung darüber, ob weitere Ministerinnen und Minister erscheinen und antworten, Ihnen überlassen, verkommt ein wichtiges Kontrollinstrument des Parlaments zum weiteren Mittel der Selbstinszenierung dieser Regierung, besonders dann, wenn der Ablauf der Fragerunden in ein solch enges Korsett gezwängt wird, wie Sie das vorhaben. Zu diesem Ergebnis kamen Ihre eigenen Sachverständigen in der entsprechenden Anhörung. Warum laden Sie diese denn ein, wenn Sie sich letztlich nicht für deren Ausführungen interessieren?
Einen weiteren Aspekt sollten wir uns zu Herzen nehmen: Immer wieder weist die Forschung anhand unterschiedlicher Symptome darauf hin, dass die repräsentative Demokratie in einer Vertrauenskrise steckt. Wählerinnen und Wähler haben das Gefühl, dass Dinge nicht ausreichend erklärt werden. Es muss doch in Ihrem ureigenen Interesse liegen, dass Sie von den Regierungsfraktionen Ihr Handeln erklären und Ihre Vorhaben hier breit diskutiert werden können. Stellen Sie sich den kritischen Nachfragen des Parlaments! Davon lebt Demokratie, und deshalb fordert meine Fraktion, Die Linke, genau das mit unserem Antrag ein.
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Ganz besonders haftet aber auch der EU der Geruch der Hinterzimmerpolitik an. Ein Demokratiedefizit wird seit eh und je gegen Entscheidungen auf europäischer Ebene ins Feld geführt. Genau deshalb schlägt meine Fraktion, Die Linke, eine Sonderregelung für die Wochen vor den Sitzungen des Europäischen Rates vor. Bei einer „Befragung zu Europa-Themen“ soll die Bundesregierung sich den Fragen zu diesem Themenkomplex stellen,
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um die Leitlinien der deutschen EU-Politik klarzumachen. Wir brauchen mehr Transparenz in diesem Haus, ganz besonders in Sachen EU.
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Auch das, was an Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, zunächst mal als Schritt in die richtige Richtung erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Ausdruck Ihrer Geringschätzung des Parlaments. Ähnlich wie in unserem Antrag – dort wären es vier Mal – soll sich die Bundeskanzlerin drei Mal im Jahr persönlich unseren Fragen stellen. Doch die Termine, die Sie vorschlagen, nämlich die Wochen vor Ostern, vor der Sommer- und der Weihnachtspause, zeigen deutlich, dass es Ihnen nicht um Auskunft über Regierungsplanungen geht. Sie wollen damit eine weitere Gelegenheit schaffen, bereits vollzogenes Handeln durch Ihre rosarote Brille zu präsentieren. Uns geht es aber darum, mögliche Fehlplanungen frühzeitig aufzudecken. Es muss um ernsthafte Regierungsvorhaben gehen, und eben nicht darum, welche Farbe die Ostereier in diesem Jahr haben werden.
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Wie haben mit der Reform von Regierungsbefragung und Fragestunde die Chance und die Verpflichtung, den Bundestag attraktiver und lebendige Diskussionen sichtbar zu machen. Vertrauen in unsere Arbeit gewinnen wir nur zurück, wenn Streitlinien deutlich werden und eine offene, demokratische Diskussion geführt wird. Deswegen empfehle ich Ihnen: Stimmen Sie für unseren Antrag!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun Britta Haßelmann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es nicht so ein wichtiges Thema wäre, könnte man ja einfach sagen: Okay, auch da haben die Koalitionsfraktionen mal wieder einen Fehler gemacht. Aber wir reden seit Jahren im Deutschen Bundestag darüber, auch in den Fraktionen und den Parteien, wie es eigentlich gelingen kann, dass dieses Parlament ein lebendiges Parlament ist, das um Antworten ringt, das sich auseinandersetzt, das um die besten Konzepte, Ideen, Gesetzentwürfe und Anträge ringt. Wie kann das besser für die Öffentlichkeit transportiert werden? Wir reden darüber, wie wir die Menschen eher erreichen mit unseren Argumenten, wie vielleicht auch der lebendige Streit und die Auseinandersetzung im Sinne von politischer Streitkultur zwischen Regierung und Opposition, zwischen den Fraktionen deutlich wird. Und was machen Sie? Sie liefern heute hier einen Reformvorschlag für die Regierungsbefragung ab, der eigentlich nichts anderes ist als ein kleines Schonprogramm für diese Bundesregierung.
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Meine Damen und Herren, wenn es nicht so ernst und wenn es nicht so wichtig wäre, weil wir alle unter Legitimationsdruck stehen, weil wir alle unter dem Druck stehen, endlich klarer darzulegen, worum wir hier ringen in den unterschiedlichen Themenbereichen, dann könnte man sagen: So what. Aber das kann man leider nicht. Das größte Problem ist, finde ich, dass Sie sich jetzt dafür auch noch feiern. Meine Damen und Herren, die meisten von Ihnen, die heute geredet haben, habe ich seit Monaten nicht in einer Regierungsbefragung gesehen.
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Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, weshalb Sie glauben, dass Sie mit Ihren Vorschlägen irgendeine Art von Reform erreichen. Ich muss gar nicht Herrn Professor Dr. Lammert zitieren. Ich muss auch nicht Herrn Dr. Schäuble zitieren. Wir alle miteinander wissen, dass das, was Sie hier vorschlagen, ein Programm ist, der Regierung es so bequem wie möglich zu machen.
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Ich hatte erwartet, dass einfach eine gewisse Souveränität, eine gewisse Größe, ein gewisses Selbstbewusstsein aus Ihnen allen heraus spricht, dass Sie Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind
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und sich nicht von der Regierungsbank diktieren lassen wollen, wann die Damen und Herren mal Zeit haben, ins Plenum zu kommen. Meine Damen und Herren, es ist doch keine Zumutung,
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wenn man der Regierung sagt: Für eine Stunde in der Woche, zur Primetime, kommt ihr hier in dieses Parlament und steht diesem Parlament Rede und Antwort. Wo liegt eigentlich die Zumutung? Warum ist eigentlich ein Termin bei der Caritas oder bei Greenpeace
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oder beim Arbeitgeberverband wichtiger einzuschätzen als eine Präsenz hier im Parlament, für eine Stunde in der Woche?
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Meine Damen und Herren, auf dieses Argument haben Sie keine Antwort. Dann gehen Sie jetzt auch noch hin und feiern sich für den Vorschlag, die Regierungsbefragung auf 60 Minuten auszuweiten. Das praktizieren wir schon längst. Wer in den letzten Wochen und Monaten im Parlament war, weiß, dass wir längst 60 Minuten Zeit haben bei der Regierungsbefragung. Die Frage, ob die Kanzlerin kommt, ist doch auch geklärt. Sie kommt. Dafür brauchen wir keine Änderung der Geschäftsordnung.
Jetzt gehen Sie aber auch noch hin, wahrscheinlich auf Druck der Ministerinnen und Minister, und erklären Parlamentarische Staatssekretäre zum Vertretungsorgan für die Bundeskanzlerin und die Regierungsmitglieder. Dabei sind die nicht Teil einer Regierung. Was machen die eigentlich hier in der Regierungsbefragung?
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Warum strömt aus Ihnen nicht mehr Selbstbewusstsein? Die Verantwortung, von der ich gesprochen habe, haben wir doch alle miteinander. Machen Sie es sich doch nicht so bequem, in dem Sie uns hier ein paar Vorschläge auftischen, die keine neuen Vorschläge sind. Herr Sensburg, Sie wissen es doch ganz genau. Wann waren Sie denn das letzte Mal in einer Regierungsbefragung?
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Ich habe Sie lange nicht gesehen. Das ist doch etwas total Langweiliges. Schauen Sie mal in andere europäische Länder, was für eine Institution dort die Regierungsbefragung ist. In Spanien, in Großbritannien, in vielen anderen Ländern ist das ein Informationsinstrument, ein Kontrollinstrument und auch ein Instrument der parlamentarischen Auseinandersetzung.
Die Chance, wirklich etwas zu ändern, meine Damen und Herren, vergeben Sie heute mit Ihrem mickrigen Vorschlag auf jeden Fall. Also sprechen Sie bitte nicht von Reformen, wenn Sie das heute beschließen.
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Das Wort hat der Kollege Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Einen gewissen Unterhaltungswert kann man der heutigen Debatte
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nicht absprechen; das muss man den Kollegen aus der Opposition einmal sagen. Sie inszenieren sich vielleicht nicht gerade bis zur Selbstverzwergung, aber Sie spielen ein bisschen Riese an einer Stelle, wo doch die Erinnerung das Wesentliche wäre.
Jetzt wollen wir doch einmal kurz Revue passieren lassen, was tatsächlich passiert war: Die Opposition selbst hat die Reform dieser Geschäftsordnung angestoßen, selbst in der letzten Legislatur auf die Tagesordnung gesetzt, dass wir eine Befragung der Kanzlerin haben müssen, dass wir die Tagesordnung des Kabinetts haben müssen, dass die Regierungsbefragung verlängert wird, dass das ohne Vorgabe passieren muss.
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Das sind die Stärkungen, die ihr alle haben wolltet. Jetzt habt ihr sie, jetzt passt es wieder nicht. Wir leben in einem Zeitalter des Überbietungswettbewerbes. Wenn wir schon gar nichts finden können, dann finden wir halt das. Jetzt ist es ganz was Neues. Das Neue ist die Tatsache, dass die Kanzlerin allen Ernstes vor Ostern befragt wird. Um Gottes willen, diese Regierung hat wahrscheinlich vor Ostern nichts Berichtenswertes mehr mitzuteilen.
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Komischerweise ist es so, dass die Bundespressekonferenz sehr gerne den Zeitpunkt vor der Sommerpause nimmt, um tatsächlich mal Resümee zu ziehen, um Dinge zu fokussieren.
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Ich glaube, dass wir an dieser Stelle absolut richtig dabei sind.
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– Durch Lautstärke lässt sich das Vortragen eines Argumentes nicht verbessern.
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Ich habe bei den Kollegen von der Opposition schon vermisst, dass sie auch nur einmal auf das, was der Kollege Sensburg und der Kollege Schneider gesagt haben, irgendwie eingegangen sind.
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Also, es liegt auch ein bisschen an dem, was eine Debatte bunt macht, nämlich dass man auf Argumente der Vorredner eingeht und nicht nur das repliziert, was man sich vorher ausgedacht oder aufgeschrieben hat.
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– Wer hat hier das Wort? – Deshalb: Bessere Reden führen auch zu einer besseren Debatte, glauben Sie mir das.
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An dieser Stelle möchte zurück zu dieser jetzt tatsächlich entscheidenden Frage: Wie viele Minister sitzen auf dieser Bank?
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Nichts für ungut, es ist nicht mein Job, aber ich möchte einmal eine Lanze für die Parlamentarischen Staatssekretäre brechen.
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Dieses Land leistet sich nicht nur diese Parlamentarischen Staatssekretäre, sondern dieses Land hat seine Staatssekretäre auch verdient,
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weil sie an dieser Stelle etwas tun.
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Ich bitte, die notwendige Aufmerksamkeit herzustellen.
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Ich habe die Redezeit angehalten. – Bitte.
Die Durchsetzungsmöglichkeit von Debatten zur Geschäftsordnung scheint tatsächlich einen gewissen Impuls in eine abendliche Debatte zu bringen. Das finde ich wirklich schön. Das sollte uns helfen.
Noch einmal: Parlamentarische Staatssekretäre sind dem Minister beigegeben. Ja, sie sind kein Vertreter. Aber sehr wohl können sie auch Aufgaben in einer solchen Debatte übernehmen. Selbst wenn man noch so laut schreit, selbst wenn man noch so talentiert ist, selbst wenn man noch so politisch erfahren ist, auch jeder Kollege von Ihnen kann sich immer nur mit einem Minister beschäftigen.
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Deshalb muss ich ganz ehrlich sagen: Mir ist eine Regierung, die arbeitet, die stringent an dem arbeitet, was sie tun soll, viel, viel wichtiger.
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Frau Haßelmann, ich weiß gar nicht, was Sie gegen die Caritas haben. Mir ist ganz wichtig, dass auch ein Minister bei der Caritas ist. Ja, mir ist auch wichtig, dass er im Parlament ist. Aber nichts für ungut: Glauben Sie allen Ernstes, dass die Kontrolle dieser Regierung, die Kontrolle, die dieses Parlament der Regierung gegenüber schuldig ist, allein mit der Frage der Regierungsbefragung zu tun hat? Das ist doch nicht Ihr Ernst. Es ist ein Element dieser Auseinandersetzung und mehr nicht.
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Jetzt wollen wir einmal versuchen, zur Frage der Gewaltenteilung zurückzukommen. Ich tue das auch gern nach dem pädagogischen Prinzip der Wiederholung. Es gibt ein Organisationsrecht des Parlamentes. Wir können es wunderbar entscheiden. Es gibt aber sehr wohl auch ein davon getrenntes Organisations- und Bestimmungsrecht der Regierung, die nämlich über diese Frage entscheidet, wen sie hier abordnen kann. Deshalb kann ich nur bei der Gesamtschau sagen: Ja, selbstverständlich wäre es schön, wenn wir eine Reihe von Claqueuren hätten bei diesen zum Teil extrem angenehmen, extrem tollen Reden und Debattenbeiträgen, die wir hier haben.
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Aber eine Regierung, die Staffage bildet, ist nicht das, was ich mir unter einer effizienten Regierung vorstellen kann. Deshalb kann ich nur sagen: Regierungskontrolle auf der einen Seite ist ein Gesamtprinzip des deutschen Parlamentes. Halten Sie bessere Reden, gehen Sie besser auf die vorgetragenen Argumente ein, dann, glaube ich, werden die Diskussionen auch bunter. Am Ende des Tages wird sogar die Regierungsbefragung besser.
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion spricht nun Dr. Matthias Bartke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Willy Brandt sagte in seiner ersten legendären Regierungserklärung:
Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun.
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Deswegen ist es wichtig, dass die Bundesregierung auch hier im Plenum Rede und Antwort steht. Dafür steht uns das Instrument der Regierungsbefragung zur Verfügung.
Ich habe mir gestern extra noch einmal die Befragung von Landwirtschaftsministerin Klöckner angeschaut. Frau Haßelmann, Sie habe ich dort übrigens nicht gesehen.
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Nun bin ich Hamburger und nicht der ganz große Landwirtschaftsexperte. Aber ich muss zugeben: Durch den kontroversen Frage-Antwort-Modus habe selbst ich gestern viel über Lebensmittelverschwendung gelernt, und die Knackpunkte wurden auch deutlich.
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Dennoch: Insgesamt hat das Instrument der Regierungsbefragung die in sie gesetzte Erwartung nicht erfüllt. Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag die Kanzlerinnenbefragung vereinbart. Zentrales Element der Parlamentsreform ist bei allen Fraktionen die Kanzlerbefragung – oder besser: die Kanzlerinnenbefragung. Wir haben sie im Vorgriff auf unsere Änderung der Geschäftsordnung bereits eingeführt. Das hat im Koalitionsvertrag übrigens die SPD durchgesetzt. Ich finde, das Ergebnis zeigt: Ein voller Erfolg! Das ist gelebter Parlamentarismus.
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Aber ich gebe zu: Auch die SPD hätte vier statt drei Kanzlerbefragungen im Jahr besser gefunden. Aber so ist das in einer Koalition. Aber Ihre Kritik an der Terminierung der Kanzlerbefragung ist wirklich armselig, als wenn Ihnen sonst nichts einfällt.
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Es gibt einen zentralen Dissens zur Opposition, der sich bei den Berichterstattergesprächen herausgestellt hat: Wir möchten, dass mindestens immer ein Minister oder eine Ministerin im Reihumverfahren zur Regierungsbefragung kommt. Dadurch wollen wir sicherstellen, dass jede Regierungsbefragung einen fachlichen Schwerpunkt hat und dass jeder drankommt. Die Grünen möchten, dass das gesamte Kabinett bei den Befragungen anwesend ist. Wir finden das nicht gut. Wir fürchten, dass sich die Fragen bei einem solchen System immer auf einige wenige Minister konzentrieren – im Zweifelsfall immer auf die gleichen. Das gilt insbesondere insofern, als die Kanzlerin nach Ihren Vorstellungen auch immer dabei sein soll. Es ist doch klar, dass sie dann die allermeisten Fragen abbekommt.
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Damit würde die von Ihnen allen gewünschte neugeschaffene Kanzlerbefragung automatisch abgewertet werden. Also, wir das lehnen ab.
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Meine Damen und Herren, vorgestern haben wir dann ja auch noch den Gesetzentwurf der AfD bekommen. Sie fordert darin ganz offen eine Nachahmung des britischen Parlaments. Ich sage Ihnen: Wir sind hier in Berlin und nicht in London. Und die Vizepräsidentin ruft auch nicht „Order! Order! Order!“ Und es gibt auch keine Distanzen, die in Schwertlängen gemessen werden. Das englische Parlament ist ein Redeparlament. Der Bundestag ist dagegen ein Arbeitsparlament. Der Schwerpunkt bei einem Arbeitsparlament liegt auf der Ausschussarbeit. Meine Damen und Herren von der AfD, dass Ausschussarbeit nicht Ihr Schwerpunkt ist, das hat mittlerweile ja auch der Letzte gemerkt.
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Man kann in Ausschüssen eben keine Facebook-Videos drehen.
Danke.
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Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 13 a. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf Drucksache 19/7859 zur Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, hier: Anlagen 4 und 7, Fragestunde und Regierungsbefragung. Wer stimmt für die vom Ausschuss unter Buchstabe a der Beschlussempfehlung empfohlenen Änderungen der Geschäftsordnung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 13 b. Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf Drucksache 19/7859 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/7 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Weitergeltung von Geschäftsordnungsrecht“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 13 c. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7859 die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/240 mit dem Titel „Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages – hier: Regierungsbefragung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkte 13 d und 13 e. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/7862 und 19/7939 an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. Sind Sie mit der Überweisung an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 13 f. Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/7860 mit dem Titel „Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages – hier: Abschaffung der Fragestunde“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der AfD und bei Enthaltung der Linken und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 13 g. Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/7861 mit dem Titel „Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages – hier: Stärkung der Regierungsbefragung“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Ranking der leistungsstärksten Staaten landete die Bundesrepublik 2018 nur noch auf Platz 15, 2017 war es Rang 13, und vier Jahre zuvor war es immerhin noch Rang 6. Wir verlieren an Boden. Wir verlieren auch deshalb an Boden, weil die Welt um uns herum nicht stillsteht.
Weltweit werden Unternehmensteuerreformen durchgeführt und Steuersätze deutlich nach unten korrigiert. In den Vereinigten Staaten wurde der Unternehmensteuersatz 2018 von 35 Prozent auf 21 Prozent gesenkt, in Frankreich wird der Steuersatz 2022 von 33,3 Prozent auf 25 Prozent gesenkt, in Großbritannien soll der Steuersatz bis 2021 auf 17 Prozent fallen, und selbst Belgien will nicht mehr den höchsten Steuersatz in Europa haben. Selbst dort ist eine Steuerreform beschlossen. Diese Liste lässt sich weiter fortsetzen. Nur einer, wir, Deutschland, verharrt bei einer Steuerlast für Unternehmen von rund 30 Prozent, Tendenz steigend.
Spätestens 2022 werden wir das Land mit der höchsten Unternehmensbesteuerung sein.
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Aber der deutsche Finanzminister sieht keinen Bedarf, zu reagieren. Das ist nicht nur fahrlässig, das ist gefährlich.
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Nicht zu Unrecht spricht der Präsident des BDI von „unterlassener Hilfeleistung“. Meinen Sie nicht, dass es höchste Zeit ist, zu handeln? Die letzte Unternehmensteuerreform liegt mehr als zehn Jahre zurück.
Der Präsident des ifo-Instituts, Professor Clemens Fuest, fordert die Bundesregierung schon lange auf, die Unternehmensteuern zu senken. Bleibt Deutschland untätig, wird die Steuerlast in Kürze die höchste unter den Industrienationen sein. Das würde dazu führen, dass Be triebe profitable Investitionen und die damit verbundenen Jobs ins Ausland verlagern, so Fuest.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der internationale Steuerwettbewerb findet statt, mit und auch ohne uns. Ignorieren können wir ihn nicht, verhindern werden wir ihn nicht. Wir können, nein, wir müssen jetzt dafür sorgen, dass Deutschland nicht zurückfällt und wir beim Standortwettbewerb am Ende als Verlierer dastehen. Darum, liebe Kollegen von der SPD, geht es. Es geht nicht darum, einen ruinösen Steuerwettlauf zu gewinnen, sondern es geht darum, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu sichern.
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Noch geht es der deutschen Wirtschaft gut. Die Frage ist nur: Wie lange noch? Selbst die Bundesregierung senkt ihre Wachstumsprognose dieses Jahr auf 1 Prozent – und verharrt im Dornröschenschlaf. Wenn sie wartet, bis ein Prinz sie wachküsst, dann werden die deutschen Unternehmen sicherlich den Wettbewerb verloren und ihre Investitionen irgendwo anders getätigt haben. Die Unternehmen dürfen zu Recht erwarten, dass die Bundesregierung endlich ihre Hausaufgaben macht und den deutschen Unternehmen die Chance gibt, einen fairen internationalen Steuerwettbewerb auch hier gewinnen zu können.
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Eine faire Bedingung wäre in diesem Zusammenhang, die Gesamtbelastung zumindest auf das Niveau von Frankreich zu reduzieren, also auf maximal 25 Prozent. Das wäre dringend notwendig.
Ein erster Schritt wäre es unseres Erachtens, die Körperschaftsteuer von 15 Prozent auf höchstens 12,5 Prozent zu senken. Das wäre der richtige Schritt in Richtung Wettbewerbsfähigkeit für unsere Unternehmen. Die Notwendigkeit der Absenkung des Körperschaftsteuersatzes hat auch Bundeswirtschaftsminister Altmaier erkannt, allerdings soll sie erst mittelfristig umgesetzt werden. Bei seinem Kollegen Scholz ist er damit auf keinerlei Reaktion gestoßen. Der ist nach wie vor der Meinung, es gibt keinen Handlungsbedarf.
Meine liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland braucht eine Unternehmensteuerreform, bevor wir wieder der kranke Mann Europas werden. Wir müssen jetzt die Weichen für die Zukunft stellen. Dabei hoffe ich auf Einsicht bei der Großen Koalition. Die Union hat die Notwendigkeit der Unternehmensteuerreform ja schon erkannt.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Fritz Güntzler das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Frau Kollegin Hessel, die CDU/CSU-Fraktion hat die Notwendigkeit einer Unternehmensteuerreform erkannt, und zwar schon etwas länger.
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Sie finden es spannend, dass wir ein entsprechendes Papier vorgelegt haben. Dass wir nun einen Antrag von Ihnen vorfinden, der fast deckungsgleich mit unserem Papier ist, das mag alles Zufall sein. Das spricht aber grundsätzlich nicht gegen Ihren Antrag, sondern zeigt, dass wir in diesen Punkten einige Gemeinsamkeiten haben.
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Da bedauert man natürlich schon, dass Sie an einem gewissen Punkt aufgestanden sind und nicht weiter mit uns verhandelt haben.
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Dann hätte man direkt darüber sprechen können. Aber nun haben Sie diesen Antrag als Opposition, als Serviceopposition, wie Sie sagen, vorgelegt.
Es ist so, wie Sie es beschrieben haben: Der Bundesrepublik Deutschland geht es sehr gut. Wir haben die höchsten Steuereinnahmen, ein solides Wachstum und hohe Beschäftigung, aber wir spüren, dass es eine gewisse Eintrübung gibt. Das könnte ein Zeitpunkt sein, darüber nachzudenken, unser Unternehmensteuerrecht zu modernisieren. Ich würde nicht unbedingt gleich von einer Reform sprechen, sondern von einer Modernisierung des Unternehmensteuerrechtes.
Derzeit lauten die Steuerprognosen, dass wir im Jahre 2022 über 900 Milliarden Euro Steuereinnahmen haben werden. 2012 waren es noch 600 Milliarden Euro. Wir wissen, dass wir viele wichtige Aufgaben zu finanzieren haben, aber man kann natürlich auch darüber nachdenken, dass man einen Teil dieser Mehreinnahmen den Bürgerinnen und Bürgern sozusagen zurückgibt oder – besser gesagt – ihnen das Geld gar nicht erst wegnimmt, sodass es dort zu Entlastungen kommt.
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Wir haben das für die Familien getan: 10 Milliarden Euro im Jahr über den Familienlastenausgleich, die Kindergelderhöhung und die Erhöhung des Kinderfreibetrages. Das ist Ihnen alles bekannt.
Jetzt ist die Frage: Können wir und wollen wir was für unsere Unternehmen tun? Ich weiß, dass das immer ziemlich schnell eine sehr ideologische Debatte wird, weil die Unternehmen abstrakt sind. Aber da lohnt es sich, sich mal ein wenig mit der Betriebswirtschaftslehre zu beschäftigen und sich zu fragen, wer denn tatsächlich die Unternehmensteuern bezahlt. Wenn man sich die Gutachten des ZEW anschaut, stellt man fest, dass die Unternehmensteuern letztendlich alle auf die Anteilseigner, die Konsumenten und die Arbeitnehmer überwälzt werden. Das heißt, wenn wir die Unternehmen entlasten, entlasten wir auch die drei von mir eben genannten Gruppen. Von daher ist es, glaube ich, klug, sich dieser Sache ein wenig zu nähern.
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Wir haben Handlungsbedarf. Die Kollegin von der FDP hat darauf hingewiesen, was im internationalen Wettbewerb alles geschieht. Wenn wir Belgien, Frankreich oder das Vereinigte Königreich betrachten oder uns die US-Steuerreform ansehen, stellen wir fest, dass Deutschland Hochsteuerland wird.
Ich glaube, wir sind auch gut beraten, uns die Dinge anzusehen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben. Wir haben 2008 – das ist also fast elf Jahre her – die letzte große Unternehmensteuerreform durchgeführt und gesagt: Die Belastung der Unternehmen soll bei 30 Prozent liegen. – Wenn wir uns jetzt ansehen, wo wir heutzutage stehen – nicht deshalb, weil die Körperschaftsteuer gestiegen ist, sondern weil die Gewerbesteuer immer weiter gestiegen ist, da die Kommunen die Hebesätze angehoben haben –, stellen wir fest, dass wir bei einem Hebesatz von ungefähr 550, bei einer Belastung von 35 Prozent liegen. Das heißt, das Ziel, das wir uns 2008 selbst gesetzt haben, reißen wir. Selbst wenn es den internationalen Wettbewerb nicht gäbe, hätten wir Handlungsbedarf, um mindestens wieder auf die 30 Prozent zu kommen.
({5})
Aber da die Dinge nun so sind, wie sie im internationalen Wettbewerb sind, sind wir als CDU/CSU der Meinung, dass die Größe, die auch Sie genannt haben, nämlich eine maximale Belastung von 25 Prozent, die richtige Belastung ist. Wichtig ist immer, zu sagen, dass es ja eine Belastung der nicht entnommenen Gewinne des Unternehmens ist. Wenn Gewinne aus Unternehmen entnommen werden – bei der Kapitalgesellschaft – oder wenn man bei Personengesellschaften eine Thesaurierungsbegünstigung vornimmt, wird ja eine Hochschleusung vorgenommen. Aber es geht um die Gewinne, die im Unternehmen verbleiben und für Investitionen genutzt werden können. Von daher sollten wir sehen, wie wir dahin kommen können.
Sie sagen: Wir kürzen den Körperschaftsteuersatz um 2,5 Prozentpunkte. – Das macht ungefähr 5 Milliarden Euro aus. Wir haben gesagt: Ja, das ist vielleicht politisch nicht unbedingt leicht umzusetzen; Sie wollen dann ja auch die Gewerbesteuer gleich noch abschaffen und dafür den Kommunen einen Zuschlag auf die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer geben. Das finde ich persönlich sehr sympathisch; ich weiß aber, wie die politischen Mehrheiten sind,
({6})
und weiß, dass sich andere daran schon die Zähne ausgebissen haben. Von daher haben wir uns überlegt, dass es vielleicht noch andere Möglichkeiten gibt.
Wenn Sie sich die Anträge von Bayern im Bundesrat zum Beispiel ansehen, stellen Sie fest, dass darüber diskutiert wird, ob wir nicht das, was wir bei der Einkommensteuer machen, indem wir die Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer anrechnen, auch bei der Körperschaftsteuer in Form einer teilweisen Anrechnung vornehmen sollten. Damit hätten wir auch eine Entlastungswirkung, die uns, glaube ich, in diesem Punkte helfen könnte.
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– Ja, das ist ja richtig, lieber Lothar Binding. Ich habe ja die Gewerbesteuer ausnahmsweise nicht infrage gestellt, weil mich auch der Kollege Daldrup immer darauf hinweist, wie wichtig die Gewerbesteuer für die Kommunen ist.
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Aber wir könnten ja den Kommunen vielleicht auch eine sicherere Einnahmequelle verschaffen, indem wir das mit den Zuschlagsätzen machen.
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Aber daran arbeiten wir; darüber werden wir noch weiter diskutieren.
Und ich glaube, wir brauchen nicht nur die Satzdiskussion und die Belastungsdiskussion, sondern müssen auch über die Modernisierung unseres Unternehmensteuerrechts nachdenken. Wir haben sehr viele Jahre zu Recht damit verbracht, zu sagen: Wir wollen Steuervermeidung, Steuerhinterziehung, Steuerbetrug bekämpfen. Wir haben Missbrauchsbekämpfungsgesetze in großer Zahl gemacht. Unser Unternehmensteuerrecht ist immer restriktiver geworden. Von daher, glaube ich, macht es Sinn, sich die Dinge einmal anzusehen und manches zu entrümpeln.
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Dazu sind in Ihrem Antrag einige gute Dinge enthalten. Mir fehlt das Optionsmodell für die Personengesellschaften; das habe ich nicht gesehen, sondern nur die Thesaurierungsbegünstigungsverbesserung. Darüber sollten wir auch noch einmal miteinander diskutieren.
Die steuerliche Forschungsförderung ist bei Ihnen enthalten. Da sind wir auch auf einem guten Wege. Da hat uns das Finanzministerium ja zugesagt, einen Vorschlag zu unterbreiten. Ich hoffe, wir bekommen einen Vorschlag, der möglichst unbürokratisch umsetzbar und nicht so kompliziert ist, wie wir es in Deutschland ja so oft machen, sodass auch die kleinen und mittleren Unternehmen und nicht nur die Großunternehmen daran partizipieren.
Von daher bin ich guter Dinge, dass wir die Dinge aufgreifen, ähnlich wie die Niedrigzinsphase, die irgendwo auch im Steuerrecht mal inhaltlich ankommen muss, ob es bei der Vollverzinsung, bei der Pensionsrückstellung oder anderen Fragestellungen ist.
Wir denken über die Reform des Außensteuergesetzes nach. Das Außensteuergesetz stammt aus dem Jahre 1972; das ist schon etwas her. Von daher, glaube ich, macht es Sinn, sich auch mit den Dingen zu beschäftigen. Wenn ich an Wegzugsbesteuerung und an Hinzurechnungsbesteuerung denke, an die 25 Prozent für Niedrigbesteuerung – da ist ja mittlerweile fast jedes Land ein niedrig besteuertes Land. Also, da müssen wir ran und auch was tun.
Jetzt sagen Sie natürlich: Aber macht es als CDU/CSU doch endlich! – Ja gut, wir sind noch bei der Überzeugungsarbeit mit unserem Koalitionspartner. Aber ich bin eigentlich ganz optimistisch. Wenn ich nämlich in den Finanzbericht 2019 des Bundesfinanzministeriums schaue, sehe ich, dass Minister Scholz geschrieben hat:
Das deutsche Unternehmensteuerrecht ist grundsätzlich wettbewerbsfähig und die deutschen Unternehmen sind erfolgreich in internationalen Märkten tätig.
Und jetzt kommt es:
Aufgabe in dieser Legislaturperiode ist es, dass diese Position auch vor dem Hintergrund der veränderten internationalen steuerpolitischen Rahmenbedingungen und den Erfordernissen einer immer stärker digitalisierenden Wirtschaft gesichert und fortentwickelt wird.
({11})
Ich finde, das hat er richtig geschrieben, und von daher erwarten wir auch aus dem Hause von Minister Scholz kluge Vorschläge, die uns in diesem Punkte weiter voranbringen. Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat der Abgeordnete Stefan Keuter für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Sehr geehrte Damen und Herren hier – jetzt nicht mehr – und zu Hause an den sozialen Medien! Liebe Wähler!
({0})
Von dem Antrag, den wir heute diskutieren, stand am Montag die Überschrift fest. Am Dienstagabend kam dann eine E-Mail mit dem Antragstext, und erst gestern Abend gab es die amtliche Drucksachennummer dazu.
({1})
Ich dachte mir, das könnte zwei Gründe haben. Ein Grund wäre: Der Antrag ist mit der heißen Nadel gestrickt. Der andere wäre: Die FDP hat den Stein der Weisen gefunden, und wir müssen diesen Steuerantrag ganz dringend beraten, um eine massive Steuerreform in Deutschland auf den Weg zu bringen. – Ich darf Sie doch sehr bitten, solche Anträge in Zukunft mit einem zeitlichen Vorlauf zu stellen.
({2})
Aber um eines vorwegzunehmen: Ich war von Ihrem Antrag enttäuscht. Den Stein der Weisen habe ich in Ihrem Antrag nicht gefunden.
({3})
Noch viel mehr: Mit ihrem Antrag hat die FDP endlich die Maske fallen lassen und sich endgültig als Lobbypartei disqualifiziert.
({4})
Nicht alles, was die FDP in ihrem Antrag zu einer Unternehmensteuerreform ausführt, ist falsch. So sollte in der Tat endlich die Gewerbesteuer – eine überflüssige Sondersteuer – abgeschafft und den Gemeinden ein größerer Anteil an der Einkommen- und Umsatzsteuer zugestanden werden. Allerdings ist das Verlangen der FDP, Kapitalgesellschaften sollten künftig nur noch 12,5 Prozent Körperschaftsteuer zahlen, anderen Steuerpflichtigen gegenüber – insbesondere den Personengesellschaften gegenüber – zutiefst ungerecht.
({5})
Tatsache ist nämlich – und das verschweigt uns die FDP –, dass sich der Körperschaftsteuersatz seit rund 30 Jahren im freien Fall befindet. Wurden vor 1990 Gewinne von Körperschaften noch mit 56 Prozent entsprechend dem damaligen Einkommensteuerspitzensteuersatz belastet,
({6})
beträgt der Steuersatz seit der Unternehmensteuerreform – wir haben es eben gehört – aus dem Jahre 2008 nur noch 15 Prozent bei einem gleichzeitigen Einkommensteuerspitzensteuersatz von 45 Prozent, bereits einschließlich der Reichensteuer.
({7})
Die AfD, die Partei des deutschen Grundgesetzes, ist auch für eine Absenkung der Steuersätze, ja, aber bitte schön nicht einseitig nur für Körperschaften, sondern allgemein für alle Erwerbstätigen,
({8})
auch für mittelständische Unternehmen, unabhängig von der Rechtsform, und selbstverständlich auch für Arbeitnehmer und Rentner, meine Damen und Herren.
({9})
Der Gleichheitssatz des Artikels 3 Absatz 1 des Grundgesetzes gilt auch im Steuerrecht.
({10})
– Sie haben Schubladen vor sich. Ziehen Sie sie auf! Da liegt das deutsche Grundgesetz drin. Lesen Sie es nach!
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Ich wiederhole noch mal, weil es so wichtig ist, damit nicht hinterher die Verfassungsgerichte wieder Ihre Gesetze kassieren: Der Gleichheitssatz des Artikels 3 Absatz 1 des Grundgesetzes gilt auch hier, liebe FDP.
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Von den knapp 45 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland sind etwa 40 Millionen in der Privatwirtschaft tätig. 5 Millionen arbeiten bei der öffentlichen Hand, einschließlich der Beamten und Richter. Die Privatwirtschaft und deren Angestellte sind die tragende Säule Deutschlands, und diese gilt es komplett zu entlasten.
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Im Unternehmensteuerrecht steht Deutschland logischerweise in einer Konkurrenz, im Wettbewerb, mit anderen Nationen. Unternehmen können ihren Steuersitz verändern und tun das auch, wenn sie irgendwo anders Standortvorteile sehen. Die Amerikaner, Briten, Franzosen, Schweden und viele andere senken die Unternehmensteuersätze oder verbessern die Abschreibungsmöglichkeiten bei Investitionen. Auch Steueroasen für Unternehmen – zum Beispiel Irland – scheinen oftmals ein valider Weg zu sein und sind eine praktische Variante der Steuereinsparung.
Dass große internationale Konzerne wie Apple und Google Steuerschlupflöcher nutzen, während der innovative, arbeitsplatzschaffende deutsche Mittelstand zur Kasse gebeten wird, ist mit uns, mit der AfD, nicht zu machen.
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Deutschland braucht kein steuerpolitisches Flickwerk. Deutschland braucht eine echte Steuerreform, die den Standort Deutschland stärkt, zukunftssicher macht und die Leistungsträger und Steuervollzahler in Deutschland nachhaltig entlastet.
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– Schreien Sie ruhig! – Das ist mit der AfD zu machen.
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat nun Lothar Binding das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Katja Hessel hat viel über Wettbewerbsfähigkeit gesprochen, und das ist auch für uns ein wichtiges Moment – auch bei der Steuerreform.
Wir haben 2008 ja eine ziemlich große Steuerreform gemacht, die ohne die FDP funktioniert hat, und ich war ja auch bei der sehr großen Steuerreform Anfang des Jahrtausends mit riesigen Systemwechseln dabei, was im Wesentlichen ebenfalls ohne die FDP funktioniert hat. Auch die kommende Steuerreform wird ohne die FDP funktionieren müssen,
({0})
weil es nicht genügt, auf Podien nur die Wünsche der einzelnen Lobbyisten aufzuschreiben.
({1})
– Genau das ist dieser Wünsch-dir-was-Katalog, den die FDP jetzt aufgeschrieben hat. Das sind im Wesentlichen unzusammenhängende Punkte. Einige sind gut, einige sind schlecht, einige sind kontraproduktiv, es ergibt aber kein Ganzes, und die gesamte digitale Zukunft ist völlig vergessen worden. Das ist also ein Sammelsurium von Punkten, die nicht geeignet sind, eine Reform zu ergeben.
Die Wettbewerbsfähigkeit ist wichtig. Sie haben aber, meine ich, einen kleinen logischen Fehler gemacht und immer nur über Steuersätze gesprochen. Steuersätze sind aber noch nicht mal die halbe Wahrheit, und mit nur ein paar Prozent der Wahrheit kommt man nicht am Ende an.
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Sie haben vorhin interessanterweise ein Ranking angesprochen. Ich habe auch geguckt, wo Deutschland steht. Das Weltwirtschaftsforum hat die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland untersucht. Die Anmutung des FDP-Antrags ist: Da muss Deutschland ziemlich weit hinten liegen, und in Zukunft wird alles noch viel schlechter werden. Der Antrag suggeriert, dass für die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland in erster Linie der Steuer tarif entscheidend ist.
Sie haben vorgetragen, Deutschland sei mit einem Unternehmensteuersatz von 30 Prozent ein Hochsteuerland in der OECD.
({3})
Welches Drama! Aber, Überraschung: Der Global Competitiveness Report sagt uns, dass Deutschland auf Platz 3 steht, und zwar nach Singapur und den USA.
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– Jetzt könnten eigentlich alle klatschen, weil das ein Riesenlob für unsere Wirtschaft ist.
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Anders als die FDP in ihrem Antrag berücksichtigt das Weltwirtschaftsforum in seiner Analyse interessanterweise nicht nur Tarife, sondern auch die Stabilität des Systems – ein ganz wichtiger Faktor –, die Freiheit der Presse – auch ein ganz wichtiger Faktor; das mag nicht allen gefallen –, die Qualität öffentlicher Güter, das Bildungsniveau, die innere Sicherheit und die Verkehrsinfrastruktur. Interessanterweise hängen die meisten Dinge, die unseren Wirtschaftsstandort so mächtig machen, davon ab, dass wir gute Steuereinnahmen haben; denn die sind Voraussetzung dafür, dass wir all das tun, was uns im Ranking nach oben bringt, und das ist sehr gut.
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Der Vergleich mit den USA ist nur dann gut, wenn man auch die Parametervielfalt, die wir in den USA finden, und nicht nur die Steuersätze vergleicht. Sie haben ja sogar gesagt, in den USA gehe es bis auf 21 Prozent herunter. Selbst das ist nicht korrekt. Das ist nämlich nur die State Corporate Tax. Hinzu kommt noch die Federal Tax.
Wir wissen: In Iowa geht es bis 29 Prozent hoch, und es gibt auch einen Staat, der bei 21 Prozent liegt. Übrigens: Wenn Sie recht hätten, dann dürfte es in bestimmten Staaten innerhalb der USA ja gar keine Unternehmen mehr geben; denn innerhalb der USA würden alle Unternehmen ja dahin gehen, wo es billig ist. Komischerweise gibt es aber in allen Staaten der USA Unternehmen, obwohl einzelne Staaten besonders günstige Tarife haben.
Der Tarif ist aber eben immer nur die halbe Wahrheit. Deshalb ist auch dieser Vergleich mit den USA und den 21 Prozent nicht seriös.
({7})
Wir erkennen jetzt, dass derjenige, der Steuersysteme betrachtet und sich nur auf den Tarif konzentriert, einen fundamentalen Fehler macht. Es kommt auf das gesamte System an.
Ich möchte das einfach sagen: Wenn ich mit Leuten rede, die gar nichts mit der Steuer zu tun haben, dann frage ich immer, wie groß der Raum ist, in dem wir uns befinden. Sie antworten dann zum Beispiel: 300 Quadratmeter. Ich frage dann: Super, aber warum haben Sie „Quadratmeter“ und nicht „Meter“ gesagt? Die FDP sagt nämlich immer, der Raum sei zum Beispiel 12 oder 14 Meter groß. Ich sage dann: Nein, er ist nicht 12 Meter groß, sondern es geht um Quadratmeter, und die Steuer ist auch eine Fläche, die sich durch Prozentsatz – das ist der Tarif – mal Bemessungsgrundlage ergibt. Wenn Sie die Bemessungsgrundlage nicht nennen, dann machen Sie einen fundamentalen Fehler. Sie beschreiben dann die Fläche eines Raumes mit 12 oder 14 Metern, womit Sie nichts gesagt haben.
({8})
Sie nennen ein weiteres Argument: Sie sagen: Die Steuerreform ist schon zehn Jahre her. – Ja, aber sie war gut und hat zehn Jahre lang gehalten, und im Moment ist sie immer noch sehr gut. Es gibt sogar ganz viele Elemente aus einer früheren Reform, die schon 15 Jahre alt und immer noch gut sind.
Der Herr Haas von BASF hat heute gesagt: Die letzte große Steuerreform war 2008. Das war das letzte Mal, dass die Steuern gesenkt wurden. Wir brauchen eine neue Reform. – Er meint aber nur Steuersenkungen. Auch das ist zu kurz gegriffen; denn „Steuersenkungen“ heißt: Verschlechterung der Randbedingungen, unter denen wir hier leben, unter denen Unternehmen hier tätig sind, unter denen ausländische Unternehmen hier investieren usw.
Deshalb ruinieren wir mit dieser Art der Steuersenkung, an die Sie denken, unsere Basis. Bei uns ist es umgekehrt: Wir sichern unsere Zukunft.
Schönen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Fabio De Masi für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Alle Jahre wieder hören wir hier die Schallplatte, die Unternehmensteuern seien zu senken,
({0})
die letzte Unternehmensteuerreform sei zehn Jahre her. Die FDP gibt es ja auch schon ein paar Jahre. Vielleicht bräuchten wir in dieser Debatte eine neue FDP und nicht nur eine neue Steuerreform.
({1})
Die Begründung ist auch immer wieder die gleiche: Niedrigere Steuern erhöhen die Gewinne und somit die Investitionen.
({2})
Der Antrag der FDP überrascht nicht. Es überrascht auch nicht, dass Wirtschaftsminister Altmaier oder der Bundesverband der Deutschen Industrie die Senkung der Unternehmensteuern fordern. Freundschaften wollen ja auch gepflegt werden. Das Problem ist nur: Die Gleichung „Unternehmensteuern runter – Investitionen rauf“ ist ungefähr so richtig wie die Aussage, dass der Storch die Kinder bringt.
({3})
Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Störchen und Kindern. Man hat herausgefunden, dass in Dörfern, in denen sich mehr Störche niederlassen, auch mehr Kinder leben. Das könnte damit zusammenhängen, dass die Eltern gerne dorthin ziehen, wo sich auch Störche wohlfühlen. Einen solchen engen Zusammenhang gibt es bei den Unternehmensteuern und den Investitionen aber leider nicht.
({4})
Seit Anfang der 80er-Jahre ist der Anteil der Unternehmensgewinne am Volkseinkommen gestiegen. Die nominalen Steuersätze sind auf breiter Front gesunken. Aber die private Investitionsquote der Unternehmen ist gesunken und nicht gestiegen;
({5})
denn Unternehmen investieren nicht, wenn man ihre Gewinne über Steuersenkungen quasi gratis erhöht, sondern sie investieren, wenn es auch anständige Löhne und Renten und eine anständige Infrastruktur gibt und wenn sie erwarten können, dass sie ihre Produkte und Dienstleistungen auch verkaufen.
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Die FDP will die gesamte Belastung der Unternehmen bei 25 Prozent deckeln. Das ist etwa das, was international als Mindestbesteuerung diskutiert wird. Bei der FDP soll das die Maximalbesteuerung sein.
Die Körperschaftsteuer will die FDP auf das Niveau der Steueroase Irland – 12,5 Prozent – senken.
Die nominale Steuerbelastung für Kapitalgesellschaften beträgt in Deutschland derzeit 30 Prozent. Sie verschweigen aber die tatsächliche Steuerlast; der Kollege Binding hat das gerade ja sehr schön erklärt. Die ist durch Möglichkeiten der Steuergestaltung viel geringer. Die Besteuerungslücke misst das Verhältnis der tatsächlich bezahlten Steuern zu den Unternehmensgewinnen aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Ergebnis: Die durchschnittliche Steuerlast von Unternehmen beträgt in Deutschland tatsächlich 21 Prozent.
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Hinzu kommt: Unternehmen sind seit Jahren Nettosparer. Sie leihen sich also nicht Geld von privaten Haushalten bzw. Banken, um zu investieren, sondern sie sitzen auf ihrem Geld. Was sollen daher zusätzliche Steuersenkungen bringen?
Derzeit ist das Problem: Unternehmen versuchen, die vollen Auftragsbücher abzuarbeiten. Steuersenkungen passen daher auch nicht in das derzeitige konjunkturelle Umfeld.
Nun wird das Argument bemüht, der Abschwung stehe vor der Tür; deswegen müsse man jetzt etwas tun. Allerdings sind Steuersenkungen Strohfeuer. Denn sie wirken, wenn überhaupt, einmal. Sie bedeuten aber in allen kommenden Jahren Steuerausfälle.
({8})
Bei öffentlichen Investitionen ist es aber so, dass immerhin Vermögen für zukünftige Generationen geschaffen wird, etwa wenn man Brücken saniert oder Universitäten baut. Deswegen sind in einem Abschwung öffentliche Investitionen Steuersenkungen grundsätzlich vorzuziehen.
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Es gibt ein einziges Argument, das ich theoretisch akzeptieren würde, nämlich dass öffentliche Investitionen träger sind, also mehr Zeit brauchen als Steuersenkungen, um zu wirken. Aber auch dann reicht es völlig, die Abschreibungsbedingungen für Unternehmen, etwa bei der AfA, zu verbessern. Die Senkung von Steuersätzen braucht man dafür nicht.
Auch die steuerliche Forschungsförderung, die in dem Antrag angesprochen wird, überzeugt nicht. Sie ist nicht zielgenau. Besser wäre eine direkte Förderung. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen steuerlichen Anreizen und mehr Forschung und Entwicklung. Zu dem Ergebnis kommt auch die OECD.
Ich fasse daher zusammen. Wir unterstützen einzelne Elemente wie die Verbesserung der Abschreibung von geringwertigen Wirtschaftsgütern. Aber eine Steuersenkung und weitere Steuergeschenke an Konzerne brauchen wir nicht. Der Antrag ist daher nicht zustimmungsfähig.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Dr. Danyal Bayaz das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst mal vielen Dank für den Antrag. Auch zu dieser späten Stunde greifen Sie eine wichtige Debatte auf. Ich will es mal grundsätzlich einordnen.
Wir haben große Umbrüche in der globalen Wirtschaft. Es gibt große Herausforderungen für die soziale Marktwirtschaft. Wir müssen über Wettbewerb reden, zum Beispiel was Gigatechunternehmen angeht, die auf große Datenschätze setzen. Wir müssen über die Arbeitswelt und die Frage sprechen, wie wir die Arbeitswelt in Zeiten von Industrie 4.0 und künstlicher Intelligenz neu aufsetzen. Und ja, wir müssen auch über Steuern und ein Steuersystem sprechen, das für die Old Economy genauso funktioniert wie für die Digitalwirtschaft, das fair ist und Innovationen fördert. Ich glaube, der Antrag gibt uns genau dazu die Möglichkeit.
Wir reden überhaupt aktuell viel über Steuern. Vor drei Tagen war zu lesen, dass Amazon 2018 11 Milliarden US-Dollar Gewinn gemacht und keinen Cent Steuern gezahlt hat, sondern sogar eine Steuergutschrift bekommen hat. Wir lesen viel über die US-Steuerreform, und wir diskutieren in Europa über eine sogenannte Digitalsteuer.
Wenn man mal alle diese Sachen nebeneinanderlegt, dann sieht man, dass sie eins gemeinsam haben: Wir merken, dass wir mit den Instrumenten des Steuerrechts des letzten Jahrhunderts an unsere Grenzen stoßen, wenn es darum geht, Unternehmen fair und angemessen zu besteuern. Für die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft ist das ein Problem. Ich glaube, genau diesem Problem müssen wir uns stellen.
In den sozialen Medien gibt es mittlerweile den Hashtag #WoistScholz. Er stimmt auch an dieser Stelle. Ich finde, der Bundesfinanzminister müsste sich eigentlich an die Spitze einer solchen Debatte stellen, meine Damen und Herren.
({0})
Jetzt zu Ihrem Antrag. Es ist moderne Finanzpolitik, die Steuern für Unternehmen zu senken. So kann man ihn zusammenfassen. Sie fordern eine Reform der Gewerbesteuer und die Senkung der Körperschaftsteuer, und sie wollen on top – das steht in Ihrem Antrag gar nicht drin – noch die Abschaffung des Soli für Spitzeneinkommen. Ich rechne das alles mal grob zusammen: Da reden wir über eine Größenordnung von 20 Milliarden Euro – jedes Jahr.
Ich muss ganz ehrlich sagen: Das ist nicht nur zu teuer; ich finde, das ist auch zu sehr Old-School-FDP. Ich finde, das ist für ein modernes Unternehmensteuerrecht auch einfach zu simpel, meine Damen und Herren.
({1})
Unternehmensteuersenkungen auf Pump ohne jegliche Lenkungswirkung können, glaube ich, nicht die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit sein.
Schauen wir uns doch mal die US-Steuerreform, die ja heute schon ein paarmal angesprochen wurde, genauer an: Ja, die amerikanischen Unternehmen haben letztes Jahr deutlich höhere Gewinne gemacht, okay, aber die Reform hat die Ungleichheit im Land vergrößert und kaum zu Investitions- und Innovationsanreizen geführt. Viele Unternehmen haben einfach die Kohle, die sie sozusagen gespart haben, für Aktienrückkaufprogramme genutzt, und der Schuldenberg der USA ist gewachsen.
Für mich klingt so eine Steuerreform eigentlich nur nach einem Strohfeuer. Für eine Unternehmensteuerreform in Deutschland kann das kein Vorbild sein, meine Damen und Herren.
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Was wollen wir eigentlich? Wir wollen nicht Anteilseigner fördern, sondern die Innovationsfähigkeit von Unternehmen. Dazu haben Sie ein paar gute Punkte in Ihrem Antrag. Mir persönlich sind da drei Dinge wichtig.
Erstens. Wie können wir die Geschwindigkeit von Digitalisierungsprozessen beschleunigen? Sie schlagen bessere Abschreibungsbedingungen und eine steuerliche Forschungsförderung vor. Zu beidem haben wir in dieser Legislatur und auch in der vorherigen ebenfalls Vorschläge gemacht; das ist gut. Vielleicht müssen wir auch mal über so etwas wie eine Digitalisierungsprämie sprechen. Ich lade Sie gerne ein, daran zusammen zu arbeiten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Zweitens. Für die Innovationsfähigkeit ist es wichtig, dass wir vor allem junge Unternehmen fördern. Bei Gründern und Start-ups ist es wichtig, die steuerliche Forschungsförderung auch dann zu bezahlen, wenn sie beispielsweise Verluste machen. Aber für sie ist es natürlich auch wichtig, dass der Wagniskapitalmarkt besser funktioniert. Ich glaube, da müssen wir auch viel stärker auf europäische Lösungen setzen statt auf nationale oder auf die Old Economy, wie es der Wirtschaftsminister mit seiner Industriepolitik will.
Drittens. Wir müssen Antworten darauf geben, welches Steuersystem wir im digitalen Zeitalter wollen. Ich glaube, es war richtig, dass wir die Digitalkonzernsteuer in den Fokus der Debatte der letzten Monate gestellt haben, nicht weil es das sauberste Instrument ist, aber man hat bei der OECD, wo lange nichts voranging, gesehen, dass wir einen Riesensprung gemacht haben und auf einmal über Mindeststeuersätze reden.
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Auch das brauchen wir. Denn wir müssen den Steuerwettbewerb doch auch nach unten begrenzen. Ich glaube, dass das ein wichtiges Element ist, wenn wir über die Stärke der sozialen Marktwirtschaft sprechen. Ich glaube, genau darum geht es, meine Damen und Herren.
Danke schön.
({4})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Sebastian Brehm das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 31. Januar titelte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ in ihrem Leitartikel im Bereich Wirtschaft „So will die Union Unternehmen entlasten“. Einen Tag später war in der „Wirtschaftswoche“ ein größerer Bericht über das Impulspapier der CDU/CSU-Fraktion. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, freue ich mich sehr, dass Sie 14 Tage später nahezu wortgleich unsere Vorschläge aufgreifen und untermauern.
({0})
Deswegen herzlichen Dank für die Unterstützung unseres Papiers. Danke schön!
Ich glaube, die Debatte heute zeigt: Wenn wir in einer gemeinsamen Regierung gewesen wären, hätten wir das heute sogar zu einem Regierungsentwurf werden lassen können.
({1})
Das gilt auch für die Ausführungen von Herrn Bayaz. Aber was sagte schon Otto von Bismarck? „Die Scheu vor der Verantwortung ist eine Krankheit unserer Zeit.“ Das trifft leider heute immer noch zu.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir übernehmen die Verantwortung, und wir machen auch konkrete Vorschläge.
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Denn es ist notwendig und dringend, dass wir die Unternehmensbesteuerung tatsächlich voranbringen. Bei der letzten großen Steuerreform 2008 wurde beschlossen, dass es zu einer Unternehmensteuerbelastung von maximal 30 Prozent kommt. Dies ist leider in der Zwischenzeit überholt, weil wir durch steigende Gewerbesteuerhebesätze inzwischen bei einer Steuerbelastung bei Kapitalgesellschaften von knapp 32 Prozent und bei Personengesellschaften von 45 Prozent sind, wenn die Gewinne nicht thesauriert werden. Die Thesaurierungsbesteuerung, die wir 2008 beschlossen haben, ist überhaupt nicht praktikabel. Insofern muss auch hier eine Überarbeitung sein.
Natürlich ist es richtig, dass zusätzlich im internationalen Vergleich Steuersätze gesenkt worden sind. Fast alle Nachbarn haben die Steuersätze gesenkt, wie auch die USA. Natürlich treten wir da in einen Steuerwettbewerb. Eine Studie hat gezeigt: 10 Prozent Steuersatzunterschied bringen 8 Prozent Gewinnverlagerung. Also ist es natürlich erheblich, wie sich die Steuersätze auch im umliegenden Ausland entwickelt haben.
Deswegen müssen wir eine Modernisierung der Unternehmensbesteuerung vornehmen. Lieber Kollege Binding,
({4})
wir würden dem Standort Deutschland einen schweren Schaden zufügen, wenn wir hier jetzt nicht reagieren und wirklich was tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Deswegen haben wir in unserem Impulspapier drei Säulen vorgeschlagen – es ist, glaube ich, wirklich notwendig, darüber zu reden –: erstens Wettbewerbsfähigkeit herstellen, zweitens Bürokratie abbauen und drittens Strukturen optimieren.
Wenn wir über die Wettbewerbsfähigkeit diskutieren, dann diskutieren wir natürlich über die Gesamtbelastung. Wir reden nicht von der Änderung einzelner Steuersätze wie die Senkung der Körperschaftsteuer oder die Abschaffung der Gewerbesteuer. Vielmehr wollen wir die Gesamtbelastung der Unternehmen bei nicht ausgeschütteten Gewinnen auf 25 Prozent deckeln. Das erreichen wir, indem wir im ersten Schritt den Solidaritätszuschlag ganz abschaffen, und zwar mit einem Beschluss. Darüber, ob wir das in mehreren Stufen machen, können wir diskutieren. Aber es muss unbedingt in einem Beschluss passieren. Des Weiteren wollen wir die vollständige Anrechenbarkeit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuerschuld erreichen. Das ist derzeit nicht mehr der Fall. Trotz der Anrechnung der gezahlten Gewerbesteuer auf die Einkommensteuerschuld in Höhe des 3,8-Fachen des Gewerbesteuermessbetrages ist eine Doppelbelastung eingetreten. Wir wollen zudem zumindest die teilweise Anrechnung der Gewerbesteuer bei den Körperschaften. Wenn das nicht klappt, brauchen wir eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer und die Körperschaftsteuer.
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Das Thema der Diskussionen in den letzten Jahren war die rechtsformneutrale Besteuerung. Wir müssen erneut probieren, die Ungleichgewichte zwischen Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften zu minimieren, also zwischen 45 und 32 Prozent bzw. nach unserem Konzept 25 Prozent für alle. Wir schlagen ein Optionsmodell vor, wonach sich Personengesellschaften nach dem Körperschaftsteuergesetz veranlagen lassen können. Neben diesem Optionsmodell müssen wir eine sinnvolle Thesaurierungsbesteuerung anbieten. Die deutschen Unternehmen, insbesondere der Mittelstand, müssen bei nicht entnommenen Gewinnen deutlich entlastet werden. Ansonsten fehlt die Liquidität für notwendige Investitionen in den nächsten Jahren.
({7})
Das Außensteuergesetz wurde schon angesprochen. Auch hier brauchen wir eine Überarbeitung. Seit 1972 ist hier fast nichts passiert. Die Steuersätze sind auch hier zu hoch und wurden in der letzten Zeit nicht angepasst.
Mit der zweiten Säule müssen wir Bürokratie abbauen und die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen. Das bedeutet aber auch, dass wir bei zukünftigen Gesetzen und den Gesetzentwürfen, über die wir gerade diskutieren, vermeiden sollten, mehr Bürokratie zu erzeugen. Ich erinnere an die Grundsteuer. Wir brauchen ein einfaches Grundsteuermodell.
({8})
Ansonsten wird das wieder zu mehr Bürokratie und einem Mehraufwand führen.
({9})
Wir brauchen aber auch keine Anzeigepflicht, die über die europäische Richtlinie hinausgeht; denn auch das bedeutet mehr Bürokratie.
({10})
Auch da müssen wir aufpassen. Wir haben die Chance, in diesen Fällen etwas zu tun.
Mit der dritten Säule müssen wir Strukturen optimieren. Wir brauchen eine steuerliche Forschungsförderung – das ist die klare Erkenntnis aus der Anhörung –, verbesserte Abschreibungsbedingungen und eine aktuelle Angleichung, eine Anhebung der Grenzen für geringwertige Wirtschaftsgüter sowie eine faire Verlustverrechnung, die in den letzten Jahren immer mehr beschränkt wurde.
({11})
Über die Zinssätze haben wir bereits diskutiert.
Wir müssen die einzelnen Punkte, die wir heute angesprochen haben und die auch im Impulspapier der CDU/CSU enthalten sind, Schritt für Schritt umsetzen. Es gibt Gemeinsamkeiten. Wir sollten die Punkte, über die Einvernehmen besteht, gleich umsetzen. Über die anderen Dinge werden wir diskutieren. Ich freue mich darauf.
Herzlichen Dank.
({12})
Vielen Dank, lieber Herr Kollege Brehm. – Bevor ich der letzten Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt das Wort erteile: Sie haben sicherlich festgestellt, dass die Sitzungsleitung gewechselt hat. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit wird von nun an, ab dem nächsten Tagesordnungspunkt, gelten, dass die Redezeiten genau einzuhalten sind
({0})
und dass Zwischenfragen und Kurzinterventionen nicht mehr zugelassen werden, damit wir möglichst früh am nächsten Tag nach Hause kommen können.
({1})
Das gilt aber noch nicht für Sie, Frau Cansel Kiziltepe. Sie haben das Wort für die SPD-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Immer wieder dieselbe Leier: Wir diskutieren wieder einmal über einen typischen FDP-Antrag.
({0})
Wieder einmal soll es Geschenke für Ihre Unternehmerfreunde geben, und das unter dem Deckmantel der Wettbewerbsfähigkeit. Jede Sitzungswoche das Gleiche! Das ist nichts anderes als Klientelpolitik.
({1})
Liebe Kollegen der FDP, vielleicht sollten Sie sich noch einmal in Erinnerung rufen, wieso Sie 2013 aus dem Bundestag geflogen sind. Ich glaube, der Grund war genau diese einseitige Politik, die Sie nun erneut in Ihrem Antrag fordern.
({2})
Ich will es Ihnen erklären. Das Problem ist nicht, dass die Steuerbeiträge zu hoch sind. Nein, unser Problem ist, dass einige ihren fairen Beitrag zahlen und andere sich mit allen Mitteln darum herumdrücken.
({3})
Erstere sind insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen in diesem Land. Diese tragen mit ihren Steuerbeiträgen dazu bei, dass dieses Land gesamtwirtschaftlich gut dastehen kann. Zu der zweiten Gruppe gehören die ganz Großen. Zahlreiche multinationale Konzerne bedienen sich schamlos jedes Steuerschlupflochs. Mit der Hilfe einer Armee von Beratern – es gibt diverse Berichte im Fernsehen dazu – wird jede mehr oder weniger legale Lücke in unserem Steuerrecht gesucht. Dagegen müssen wir vorgehen.
({4})
Hierzu – was für eine Überraschung – findet sich überhaupt nichts in Ihrem Antrag. Moderne Unternehmensbesteuerung – das wollen wir auch – bedeutet für uns
({5})
nicht immer gleich Steuergeschenke, sondern eine effektive globale Mindestbesteuerung und ein Ende von Gewinnkleinrechnerei.
({6})
Gegen diese Steuertricks gehen wir auch vor, im Gegensatz zu Ihnen.
({7})
Hier lohnt ein Vergleich mit den USA; denn die USA haben mit ihrer Steuerreform eine Mindestbesteuerung für multinationale Unternehmen eingeführt. Sie trägt den tollen Namen BEAT, Base Erosion and Anti-Abuse Tax. Doch darüber schweigen Sie immer, wenn Sie über die US-Steuerreform reden. Sie und die Ihnen nahestehenden Lobbygruppen tun immer so, als ob einfach nur der Steuersatz gesenkt wurde. Dem ist nicht so. Dabei behaupten Sie auch noch, der Steuersatz liege jetzt weit unter dem deutschen Steuersatz. Aber das ist falsch. Der Steuersatz ist jetzt nahezu gleich. Wenn Sie nur die Steuern auf Bundesebene vergleichen, dann stellen Sie fest, dass wir mit 15 Prozent weit unter dem amerikanischen Steuersatz liegen.
({8})
Das hätten Sie in Ihren Zahlen so darlegen müssen. Das hätten Sie auch alles bei steuermythen.de nachlesen können, eine Empfehlung an Sie.
({9})
Aber die FDP bemüht immer den Trick „Lügen mit Zahlen“.
Liebe Kollegen der FDP, hören Sie auf, Äpfel mit Birnen zu vergleichen.
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Statt einer FDP-Geschenkepolitik brauchen wir mehr Fairness in der Unternehmensbesteuerung. Genau das muss eine moderne Unternehmensbesteuerung liefern.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Mit diesen Worten schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7898 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Schönen guten Abend, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Noch im Jahr 2007 galt der Konflikt in Darfur als eine der größten menschenrechtlichen und humanitären Krisen weltweit. Vor diesem Hintergrund wurde UNAMID als eine robuste Mission ausgestattet. Im Juni 2017, nach zehn Jahren, hat der UN-Sicherheitsrat nun Zwischenbilanz gezogen und einstimmig den zweiphasigen Abzug eingeleitet. Die Sicherheitslage hat sich mittlerweile stabilisiert. Friedenssicherung ist zwar im Marra-Massiv noch vonnöten. Im weiteren Darfur konnte aber der Fokus auf den Aufbau ziviler Strukturen und Peacebuilding gerichtet werden. Juni 2020 ist nun das Zieldatum für den Abzug der Mission der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen in Darfur. Das zeigt: Friedensmissionen werden nicht nur geschaffen und hier beschlossen, sondern sie werden auch beendet, nicht planlos, sondern strukturiert. Die Mission wird bis zu ihrem Ende wirksam fortgeführt.
Die Beendigung von UNAMID wird nicht nur die Bevölkerung in Darfur vor Herausforderungen stellen, sondern auch die Vereinten Nationen. Der Übergang ist ein Testfall für das gesamte UN-System. Es geht darum, noch während des laufenden UNAMID-Mandates ein tragfähiges ziviles Nachfolgeengagement zu konzipieren und aufzubauen, das die erzielten Fortschritte schützt und den Rückfall in alte Konflikte verhindert. Die Bundesregierung unterstützt die Vereinten Nationen, wie Sie alle wissen, politisch und finanziell, auch um die von Generalsekretär Guterres angestoßenen Reformen umzusetzen. Damit senden wir gerade während unserer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat ein sehr klares und eindeutiges Signal der Unterstützung für diese Agenda, weit über UNAMID hinaus.
Was bedeutet das nun für die Mission? Gemeinsam mit Großbritannien wird Deutschland die Führung bei den Verhandlungen über das nächste UNAMID-Mandat übernehmen. Wir werden gemeinsam einen Resolutionsentwurf in den Sicherheitsrat einbringen und dabei den Erhalt und die Fortentwicklung der zentralen Ziele von UNAMID in den Vordergrund stellen. Dazu möchte ich in der verbleibenden Zeit gerne einige Bemerkungen machen.
Es geht um den politischen Prozess. Die im Dezember durch die Regierung und zwei der bewaffneten Darfur-Gruppen unterzeichnete Vereinbarung zu Friedensverhandlungen auf Grundlage der Doha-Erklärung ist in der Tat ein wichtiger Schritt in Richtung Frieden. Deutschland hat zum Zustandekommen dieser Vereinbarung maßgeblich beigetragen. Wir werden diese Bemühungen – das kann ich Ihnen versichern – fortsetzen. Natürlich geht es um den Schutz und die Sicherheit von Zivilisten. Die Sicherheitslage in Darfur ist im Moment glücklicherweise relativ stabil; man muss ja mit solchen Bewertungen vorsichtig sein. Einseitige Waffenstillstände wurden von der Regierung und von zwei der beteiligten bewaffneten Gruppierungen immer wieder verlängert. Beide Seiten haben auch – das ist erfreulich – Gefangene ausgetauscht und freigelassen. Die sudanesische Regierung hat eine Entwaffnungskampagne durchgeführt.
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Dort, wo es weiterhin zu bewaffneten, gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt – ich habe das Marra-Massiv angesprochen –, hat UNAMID gleichzeitig – auch das ist eine Botschaft an die Konfliktparteien – die Präsenz trotz des Abzugsbeschlusses verstärkt.
Ein weiterer Aspekt, der uns wichtig ist, der immer wichtig gewesen ist und der von Anfang an die Motivation für diese Mission war, sind der Schutz der Menschenrechte und der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen. Die rechtsstaatlichen Strukturen bleiben in Darfur schwach ausgebildet. Beim Übergang von Peacekeeping zu Peacebuilding setzt sich die Bundesregierung deswegen weiterhin für die Umsetzung von Stabilisierungsmaßnahmen vor Ort ein. Wir bitten Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, hierbei weiter um Ihre Unterstützung.
Einen weiteren Aspekt möchte ich hier nennen. Das deutsche militärische und polizeiliche Engagement in UNAMID fügt sich ein in einen umfassenden Ansatz. Ein solcher Ansatz wurde vom Deutschen Bundestag immer wieder – wie ich meine, vollkommen zu Recht – gefordert. Unser Einsatz bleibt gerade auf der Zielstrecke notwendig. Deswegen will ich hier noch einmal darauf hinweisen: Die humanitäre Situation ist trotz der Erfolge, die ich darlegen konnte, und trotz der relativen Stabilität weiterhin mehr als angespannt.
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2019 werden nach Zahlen der Vereinten Nationen rund 3 Millionen Menschen in Darfur auf humanitäre Hilfe angewiesen sein. Wie Sie wissen, ist man, wenn man auf humanitäre Hilfe angewiesen ist, auch auf ein Minimum an Stabilität angewiesen, damit die Helferinnen und Helfer ihre Ziele erreichen können. Sie alle haben die gegenwärtige politische und wirtschaftliche Krise im Sudan verfolgt. Wir können nicht davon ausgehen, dass in der jetzigen Lage Khartum bereit oder in der Lage ist, großflächig in die Region zu investieren. Deswegen brauchen wir eine entsprechende Entwicklungsstrategie. Aber wir werden auch die Regierung im Sudan nicht aus der Verantwortung lassen.
Die Bundesregierung wird sich – ich unterstreiche das noch einmal – weiterhin für einen nachhaltigen Frieden in Darfur einsetzen. Um das tun zu können, müssen wir gerade die Endphase von UNAMID aktiv unterstützen und mitgestalten. Ich bitte Sie, diese Mitgestaltung zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Berengar Elsner von Gronow, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Damen und Herren! In Vorbereitung auf die Debatte zu dieser Mandatsverlängerung habe ich die Gelegenheit genutzt, mir von Frau Bintou Keita, die von 2015 bis 2017 als Deputy Joint Special Representative for the African Union-United Nations Hybrid Operation in Darfur, kurz UNAMID, diente, ihre Eindrücke hinsichtlich der Mission nahebringen zu lassen. Dabei kam – wenig überraschend – heraus, dass die Lage in der sudanesischen Region sich leider nur sehr langsam verbessert. Aber immerhin, sie tut es. Es gibt Grund zur Hoffnung. Das vor relativ kurzer Zeit erzielte Abkommen zwischen Rebellen und Regierung, Friedensverhandlungen aufnehmen zu wollen, bietet Anlass zur Hoffnung. Das ist zum größten Teil dem Engagement der Vereinten Nationen, aber vor allem dem Engagement Deutschlands zu verdanken. Auch wenn, gemessen an der Größe des Landes, die Zahl der an der Mission Beteiligten relativ klein ist, muss man feststellen: Dort, wo diese sich engagieren, gelingt es, zur Stabilisierung beizutragen, positive Effekte zu erzielen.
Da wir als AfD nicht nur ideologisch und emotional an die Bewertung aller Einsätze von Angehörigen der Bundeswehr herangehen,
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sondern auch rational und abfragend, inwieweit denn der Einsatz deutscher Soldaten auch im Sinne Deutschlands ist, sehen wir bei dieser Mission zum einen den Nutzen für die Menschen vor Ort, deren schlimme Lage ich den hier Anwesenden wohl kaum erklären muss – angesichts zahlloser Menschenrechtsverletzungen, vielen Hunderttausend Toten und Millionen von Binnen- und Außenflüchtlingen –, und zum anderen auch die Sinnhaftigkeit im deutschen Interesse. Die Stabilisierung Afrikas, das Bekämpfen von Fluchtursachen, die Abmilderung des Emigrationsdrucks sind neben vielen ethischen Erwägungen in höchstem Maße deutsches Interesse. Angesichts der Rahmenbedingungen für unsere Soldaten und ihre Aufgaben in dieser Mission halten wir daher eine Fortführung der deutschen Beteiligung an UNAMID für vertretbar.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner, Nikolas Löbel, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben. Das muss kein Einzelfall bleiben.
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Als nächster Redner hat der Kollege Olaf in der Beek, FDP-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben hier heute Nachmittag bereits in erster Lesung über die Verlängerung der deutschen Beteiligung an Resolute Support Mission gesprochen. Weil unser Engagement in Afghanistan truppenmäßig das mit Abstand größte Engagement ist, dominiert es natürlich auch die öffentliche Debatte. Diese Aufmerksamkeit gibt es für UNAMID, also den Einsatz in Darfur, im Sudan, leider nicht. Dem tatsächlichen Einsatz wird das allerdings nicht gerecht.
UNAMID ist die erste robuste, hybride Mission, die erste gemeinsame Mission der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union. Und UNAMID war lange Zeit mit über 20 000 Blauhelmsoldaten die mit Abstand größte UN-Friedensmission. Damit ist UNAMID ein gelebtes Beispiel für Multilateralismus, aber auch ein gelebtes Beispiel für die Vernetzung von Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik.
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Durch die Präsenz von Militär und Polizei werden die innerstaatlichen Konflikte zwischen den unterschiedlichen Gruppen eingedämmt. Die Bevölkerung wird geschützt, und die Transporte von humanitären Hilfsgütern werden abgesichert. Auch auf diplomatischer Ebene gibt es Erfolge: Gerade erst im Dezember haben sich weitere Konfliktparteien durch intensive Bemühungen der Bundesregierung dazu bereit erklärt, wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, zeigt die wirkliche Dimension dieses Einsatzes. UNAMID ist seit der Umstrukturierung der Mission zur gelebten Vernetzung von Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik geworden.
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Gerade deshalb möchte ich den Soldaten, aber auch den Polizistinnen und Polizisten, die im Rahmen von UNAMID für die Bundesrepublik Deutschland im Einsatz sind, ausdrücklich danken.
Dennoch, auch nach zwölf Jahren Einsatz ist die Bilanz der UN-Mission keineswegs nur positiv: Der Sudan und insbesondere auch Darfur sind weiterhin fragil. Das hat UN-Generalsekretär Guterres erst im Januar dieses Jahres im letzten Statusbericht zu UNAMID deutlich dargelegt. Die innerstaatlichen Konflikte im Sudan konnten noch immer nicht gelöst werden, und der Friedensprozess kommt nur schleppend voran. Noch immer stehen sich Regierung und verschiedenste Oppositionsgruppen in teils blutigen Auseinandersetzungen gegenüber. Noch immer gehören Menschenrechtsverletzungen, Hunger und Not zum Leben der Menschen im Sudan.
Das müssen wir auch vor dem Hintergrund des bereits angedachten Auslaufens der Mission bis 2020 bedenken. Wir müssen weiter gemeinsam daran arbeiten, dass durch die begonnene und bisher einmalige Vernetzung von Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik ein echter Wandel zugunsten der Menschen im Sudan stattfinden und Frieden einkehren kann.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege in der Beek. – Als nächste Rednerin spricht zu uns die Kollegin Kathrin Vogler, Fraktion Die Linke.
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Danke, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung legt uns heute wahrscheinlich zum letzten Mal einen Antrag auf Fortsetzung des Mandats für den Einsatz der Bundeswehr in Darfur vor. Wenn wir Linken auch diesmal Nein sagen, dann appellieren wir damit nicht für Nichtstun. Im Gegenteil: Wir wollen an die Wurzeln des Krieges.
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Machen wir uns doch nichts vor: Dass die UNO und die Afrikanische Union diesen teuersten aller Militäreinsätze beenden wollen, hat wenig damit zu tun, dass die Ziele erreicht wären. Und niemand glaubt allen Ernstes daran, dass der sudanesische Präsident Umar al‑Baschir, der mit internationalem Haftbefehl wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesucht wird, jetzt plötzlich seine Verantwortung für die Menschen in Darfur entdeckt. Das glauben noch nicht einmal die Menschen im Sudan, wo es seit Dezember letzten Jahres immer wieder Massenproteste gegen die gestiegenen Preise für Brot und Treibstoff gibt und wo jetzt, nach Dutzenden Todesopfern und Tausenden von Verhaftungen, die Massen immer lauter den Rücktritt der Regierung fordern, einer Regierung, mit der Deutschland und die EU neuerdings kooperieren.
Die Bundesregierung schreibt in der Mandatsbegründung:
Trotz der Situation im eigenen Land spielt Sudan teilweise auch eine stabilisierende Rolle in einer instabilen Region.
Deswegen bekommt al-Baschir aus einem Programm zur Kontrolle von Flüchtlingsströmen nun auch technische Hilfe und Ausbildungshilfe von der EU – Ausbildung für seine Grenztruppen, unter denen sich auch Offiziere der berüchtigten Dschandschawid-Milizen befinden, genau die, die in Darfur 2003 für schlimmste Verbrechen verantwortlich waren. Meine Damen und Herren, Flüchtlingsabwehr, das ist der neue Schwerpunkt der Sudan-Politik, nicht Frieden, nicht Menschenrechte. Das ist zutiefst zynisch, und das lehnen wir als Linke ab.
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Durch Ihre Fixierung auf den Militäreinsatz wurden Jahre verschenkt, in denen man echte Problemlösungen hätte finden können. Die Dürre bedroht in Darfur die Landwirtschaft, der Krieg in Darfur zerstörte viele Schlachthöfe, der Krieg in Libyen die Absatzmärkte. Deshalb gibt es viel zu viel Vieh. Das braucht Futter und Wasser. Es verschafft den Viehzüchtern aber kein Einkommen. Diejenigen, die Ackerbau betreiben, brauchen hitzebeständiges Saatgut. Das gibt es im Sudan sogar; es kommt nur nicht an in Darfur. Die Konflikte zwischen diesen beiden Gruppen sind immer wieder Anlass für schwerste Gewaltakte, gerade auch gegen Frauen und Kinder. Gegen all diese Probleme hilft eine Blauhelmmission, die sich kaum aus den geschützten Stützpunkten heraustraut, gar nichts. Stattdessen brauchen wir eine Kombination aus Friedensförderung und Aufbauhilfe, eine wirksame Klimaschutzpolitik und – das ist ganz wichtig – Absatzmärkte für landwirtschaftliche Produkte.
Für die Linksfraktion fasste es Norman Paech vor zwölf Jahren so zusammen:
Wenn Sie alle Mittel, die Sie nun wieder in ein militärisches Mandat stecken, für ein großes ziviles Friedens- und Wiederaufbauprogramm bereitstellten, hätten Sie unsere ungeteilte Zustimmung; denn uns trennt doch nicht die Sorge um die Menschenrechte und das kriegszerrissene Land, sondern die Mittel, mit denen Sie … diesem Land und den dort lebenden Menschen zu Leibe rücken. Dafür bekommen Sie die Zustimmung der Linken nicht.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Frithjof Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab ein Wort zum Zeitpunkt dieser Debatte. Dass wir über die Entsendung deutscher Soldatinnen und Soldaten in einen möglichen Kampfeinsatz der Vereinten Nationen spät in der Nacht diskutieren, empfinde ich wirklich als kleinen Tabubruch.
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Es war immer Konsens in diesem Parlament, dass über militärische Auslandseinsätze in der Kernzeit gesprochen wird. Dass damit heute gebrochen wird, ist falsch. Das muss der Ältestenrat für die zweite und dritte Lesung, wenn abgestimmt wird, dringend korrigieren.
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Aber nun zu dem Einsatz, um den es geht. Für uns Grüne war und ist UNAMID ein zentraler Faktor der Nothilfe für die Menschen in Darfur. Deshalb werden wir dem Mandat auch diesmal zustimmen. Für diese Mission gilt: Sie ist nicht perfekt; aber ohne sie wäre die Lage noch viel schlechter, noch viel katastrophaler.
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Trotz begrenzter Mittel schützt UNAMID die mehr als 2 Millionen Binnenvertriebenen. Sie unterstützt die Hilfsorganisationen bei der Verteilung von Hilfsgütern, und sie begleitet den sudanesischen Friedensprozess. Noch ist der Einsatz der UNO dort unverzichtbar. Aber es ist richtig – Staatsminister Annen hat darauf hingewiesen –, dass die Vereinten Nationen die beginnende Stabilisierung mit einem Rückbau von UNAMID bis 2020 politisch begleiten wollen. Es ist ein wichtiges Signal, dass eine solche Peacekeeping-Mission nicht ewig dauert. Das muss die internationale Gemeinschaft mit aller Kraft unterstützen.
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Das erfordert eine doppelte Strategie des Engagements. Zum einen geht es darum, den Friedensprozess mit Nachdruck zu unterstützen und das am 6. Dezember 2018 unterzeichnete Abkommen mit weiteren Rebellengruppen umzusetzen. Zum anderen muss es darum gehen, schwerste Menschenrechtsverletzungen klar zu benennen, eben auch die, die von der sudanesischen Regierung begangen werden. Präsident al-Baschir hat Proteste gegen die eigene Regierung im Dezember gewaltsam, brutal niedergeschlagen. Mehr als tausend Menschen wurden verhaftet. NGOs sprechen von mehr als 40 Toten. Schon seit 2009 besteht ein internationaler Haftbefehl – das wurde schon erwähnt – gegen al-Baschir wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Darauf sollte auch die Bundesregierung immer wieder hinweisen. Stattdessen wird die sudanesische Regierung faktisch zum Partner in der Migrationspolitik, zum Partner in einer Art Fluchtabwehr erklärt. Al-Baschir darf aber als Partner der Europäer nicht wieder salonfähig gemacht werden.
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Deswegen lautet der Appell an die Bundesregierung: Beenden Sie diese Politik gegenüber der sudanesischen Regierung. Das ist notwendig für die Glaubwürdigkeit der Unterstützung des ganzen Einsatzes in Darfur.
Danke für die Aufmerksamkeit.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Schmidt. – Als letzter Redner erhält das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Afrika ist ein Kontinent mit großem Potenzial und vor allem ein junger Kontinent. Unser Anliegen ist, den jungen Menschen eine Perspektive für eine gute Zukunft zu geben. Wir wissen, dass viele Staaten in Afrika großen Herausforderungen ausgesetzt sind. Viele Staaten sind fragil und instabil. Selbstverständlich ist hier Afrika selbst gefordert; aber wir unterstützen. Wir unterstützen eben auch mit UNAMID, mit dieser gemeinsamen Mission von Afrikanischer Union und Vereinten Nationen.
Unser Ziel sind die Verbesserung der humanitären Lage, der Schutz der Bevölkerung und der Menschenrechte, aber auch die Förderung von Dialog zwischen Regierung und Rebellen. Dieser ganze Einsatz, diese ganze Mission findet in einem schwierigen Umfeld statt. Wir haben es mit einer Region zu tun, die etwa so groß ist wie Frankreich. Die Wasserressourcen sind knapp, die Klimabedingungen schwierig und die Konfliktursachen kompliziert. Außerdem haben wir Millionen von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen und enorme sicherheitspolitische Herausforderungen durch Terrorismus und organisierte Kriminalität.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Situation – das ist schon angesprochen worden – hat sich verbessert. Die Situation hat sich stabilisiert. Wir verzeichnen weniger Gewalttaten. Das ist, denke ich, ein guter Erfolg. Deshalb kann auch die Anzahl der eingesetzten Soldaten reduziert werden und – auch das ist schon angeklungen – der Übergang, der Rückzug, der Abzug geplant werden. Mir ist wichtig, dass wir den Menschen eine Perspektive aufzeigen und wir uns vor allem am Wiederaufbau und an der Entwicklung beteiligen, was im Übrigen bereits passiert. Wir wissen aber auch, dass Entwicklung nur in einem stabilen Umfeld möglich ist.
Wir konnten in der Vergangenheit – das tun wir nach wie vor – Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen und die lokale Wirtschaft stärken. Wir sind im Bereich „Ausbildung und Qualifizierung“ im Land aktiv. Wir unterstützen Unternehmensgründer. Vor allem fördern wir den Zugang zu höherer Bildung und zu Qualifizierung in Handwerk und Kleingewerbe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit diese gute Entwicklung weiterhin möglich ist, damit sich die Sicherheitslage weiter stabilisiert und damit die Menschen vor Ort eine gute Perspektive, eine gute Zukunft haben und vor allem der Übergang zur eigenen Verantwortung gelingt, bitte ich Sie um Unterstützung und um Zustimmung für dieses Mandat.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Mit diesen Worten schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7725 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Viele Menschen in Europa sind wütend, dass Konzerne wie Apple oder Google in der EU häufig weniger als 1 Prozent Steuern auf ihre Gewinne entrichten. Ein Bäcker oder Handwerker zahlt hingegen oft bis zu 30 Prozent Steuern, und bei der Krankenschwester oder dem Kassierer wird die Steuer direkt vom Lohn einbehalten.
Es gibt einen einfachen Vorschlag, Licht in diesen steuerpolitischen Darkroom der Konzerne in Europa zu bringen: Konzerne, die international tätig sind, sollten für jedes Land ausweisen, wie hoch ihre Gewinne, ihre Umsätze, die Zahl ihrer Beschäftigten und die bezahlten Steuern sind.
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Machen sie in einem Land hohe Gewinne, zahlen aber kaum Steuern, ist dies ein Hinweis, dass sie Gewinne über Ländergrenzen verschieben.
Diese öffentliche Berichtspflicht der Konzerne ist ein Vorschlag der EU-Kommission unter Führung des Steuerpaten Jean-Claude Juncker. Er war der Architekt der Steueroase Luxemburg, ist aber bereit, im europäischen Interesse für mehr Transparenz zu sorgen. Auch das Europaparlament und einige EU-Mitgliedstaaten befürworten eine öffentliche Berichtspflicht.
Aber nicht nur Steueroasen wie Luxemburg, auch der deutsche Finanzminister blockiert. Damit stellt sich Herr Scholz übrigens gegen die bisherige Praxis der SPD im Europäischen Parlament; sie hat die öffentliche Berichtspflicht bisher immer befürwortet. Das gilt im Übrigen auch für einige Christdemokraten und Liberale im EU-Parlament, mit denen ich als Europaabgeordneter früher gemeinsam die Luxemburg Leaks und die Panama Papers untersucht habe.
Die Daten sollen nach dem Willen des deutschen Finanzministers nur zwischen den Steuerbehörden ausgetauscht werden. Ich verstehe ja, dass Konzerne kein Interesse daran haben, dass ihre Steuertricks sichtbar werden. Aber ein Finanzminister sollte daran Interesse haben; denn er muss die Interessen der übrigen Steuerzahler schützen.
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Auch Banken und Rohstoffunternehmen liefen früher gegen die öffentliche Berichtspflicht Sturm. Bei denen gibt es diese Pflicht mittlerweile. Heute sagen einem die Banken, auch sie seien dafür, dass diese Pflicht für die übrigen Konzerne gilt.
Einwände wie angebliche Geschäftsgeheimnisse sind nicht nachvollziehbar; denn die meisten dieser Daten sind bereits im Internet frei verfügbar. Steuertricks aber sind kein Geschäftsgeheimnis.
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Der Austausch zwischen Finanzbehörden reicht nicht. Die EU-Mitgliedstaaten waren etwa bereits seit 1977 zum spontanen Austausch von Steuerinformationen verpflichtet, wenn es grenzüberschreitende Sachverhalte betrifft. Getauscht wurde aber nichts, wie wir seit den Luxemburg Leaks über Steuervorbescheide wissen. Die Finanzminister pennten. Wir brauchen daher den öffentlichen Druck.
Der frühere nordrhein-westfälische SPD-Finanzminister Norbert Walter-Borjans – guter Mann, den ich schätze und der uns die Schweizer Steuer-CDs verschaffte
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und damit Millionen an Steuergeldern zurückholte – sagte in einem Interview über die Haltung der Bundesregierung zur öffentlichen Berichtspflicht von Konzernen:
Die Bundesregierung sollte in dieser Frage ihre Haltung ändern.
Dies finde ich auch. Deswegen haben Sie die Chance, dem Antrag der Linken zuzustimmen und endlich das Richtige für Europa und für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu tun.
Vielen Dank.
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Herr Kollege De Masi, herzlichen Dank. – Als nächster Redner wird zu uns sprechen der Kollege Uwe Feiler, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum wiederholten Male sprechen wir heute über geeignete Maßnahmen, um unfairen Steuerwettbewerb zu unterbinden und durch mehr Transparenz dafür zu sorgen, dass insbesondere die Besteuerung global agierender Unternehmen entsprechend den geltenden Steuergesetzen erfolgt. Die Anträge werden aber nicht ihrer Vielzahl entsprechend besser und schon gar nicht inhaltsvoller.
Deutschland hat sich in diesen Diskussionsprozess von Anbeginn aktiv eingebracht und die OECD und die G 20 bereits im Jahr 2012 in ihrem Ansatz des BEPS-Projekts unterstützt und sich an die Spitze derjenigen Staaten gestellt, die den internationalen Informationsaustausch in Steuersachen konsequent vorangetrieben haben. Seit 2017 fließen dazu Daten von über 100 Ländern. Diese positive Entwicklung wollen und sollten wir weiter verstärken und weitere Staaten ermutigen, mit uns gemeinsam diesen Weg zu gehen.
Damit verbunden ist aber auch eine klare Ansage gegenüber den Staaten, die sich jeder Kooperation entziehen. Die EU-Finanzminister haben deshalb eine Liste nicht kooperativer Drittstaaten beschlossen, die den Transparenzerfordernissen eines fairen Steuerwettbewerbs nicht gerecht werden. Mit dieser bisher einmaligen Auflistung wird der Druck auf sogenannte Steueroasen weiter wachsen. Die steigende Anzahl der am Informationsaustausch teilnehmenden Staaten zeigt, dass diese Doppelstrategie erfolgreich ist.
Teil des BEPS-Projekts ist auch der Aktionspunkt 13, der die Einführung eines verpflichtenden automatischen Informationsaustausches der Steuerbehörden über länderbezogene Berichte von Unternehmen vorsieht, das sogenannte Country-by-Country Reporting. Dabei geht es darum, dass die Finanzbehörden – ich betone: die Finanzbehörden – sich über die Verteilung von Steuern und die zugrundeliegenden Erträge austauschen, um sicherzustellen, dass es keine Fälle von Nichtbesteuerung oder Steuerverkürzung gibt bzw. es dazu kommt.
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Die G 20 und die OECD haben aus guten Gründen vorgeschlagen, dass diese Daten zwischen den zuständigen Behörden ausgetauscht werden, und auf eine Veröffentlichung der Daten wohlweislich verzichtet. In regelmäßigen Abständen gibt es jedoch Vorstöße – sei es von der EU-Kommission, den Grünen oder jetzt auch von den Linken –, diese Daten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Einmal davon abgesehen, dass ich mich als Finanzbeamter mit diesen Forderungen schon aufgrund des Steuergeheimnisses nur schwer anfreunden kann, sprechen vor allem inhaltliche Gründe dafür, bei der ursprünglichen Zielsetzung des Country-by-Country Reportings zu bleiben.
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Meine Damen und Herren, bevor ich zu den Gründen komme, möchte ich noch einmal die Grundlagen beschreiben, die mit dem Vorhaben verbunden sein sollen: Erstens wollen wir möglichst viele Staaten für den länderbezogenen Austausch von Unternehmensinformationen gewinnen, zweitens haben wir uns gleichzeitig zur Vertraulichkeit der Steuerinformationen verpflichtet und drittens die sachgerechte Verwendung der Steuerinformationen zugesagt.
Meine Damen und Herren, mit einem öffentlichen Zugang zu den Daten würden wir alle drei Punkte konterkarieren und unsere Ziele weit verfehlen. So entfiele der Anreiz für sämtliche Drittstaaten, sich am Informationsaustausch zu beteiligen, wenn sie über ein öffentlich zugängliches Informationssystem Einsicht in alle steuerrelevanten Unterlagen von Unternehmen erhielten, ohne selbst ihre Informationen beisteuern zu müssen. Da es uns aber gerade darum geht – aufgrund der Vorfälle um die Panama Papers bzw. Paradise Papers –, Drittstaaten dafür zu gewinnen, auch ihre Informationen an uns weiterzugeben, würde das Grundpfand unserer Verhandlungsposition vollständig aus der Hand gegeben.
Weiterhin stellt sich die Frage, was die Öffentlichkeit mit den Informationen anfangen will. Von Ausnahmen interessierter Einzelner oder Verbänden abgesehen würden hauptsächlich die Wettbewerber aus Drittstaaten äußerst dankbar die Informationen auswerten, ohne selbst befürchten zu müssen, sich mit ihren Unternehmensdaten im Netz wiederzufinden. So könnten konkurrierende Unternehmen aufgrund der öffentlichen Daten sehr wohl Rückschlüsse auf Gewinnmargen oder Strukturen ziehen und sich entsprechende Vorteile verschaffen. Das, meine Damen und Herren, hat mit Wettbewerb und Steuergerechtigkeit nicht mehr viel zu tun.
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Was auf keinen Fall passieren darf, ist, dass durch die Veröffentlichung auch noch Besteuerungskonflikte ausgelöst werden, weil andere Staaten meinen, die Daten nutzen zu können, um aufgrund formelhafter Aufteilungsmaßstäbe Gewinne zu verteilen. Uns ist wichtig, dass alle Unternehmen gerecht besteuert werden. Konflikte um drohende Doppelbesteuerung können und wollen wir aber nicht provozieren; das ist übrigens auch Meinung des Bundesrates.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich empfehle uns deshalb dringend, die Vereinbarung wie vereinbart umzusetzen, aber nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten. Es war auch deshalb vollkommen richtig, dass die Bundesregierung sich gegen die Veröffentlichung der länderbezogenen Steuerberichterstattung gewendet hat – sie wird das hoffentlich auch weiter tun –, natürlich nicht gegen die Erhebung als solche.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns noch einen schönen Abend. Eine Minute und 15 Sekunden schenke ich uns.
Danke schön.
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Herr Kollege Feiler, vorbildlich, kann ich nur sagen. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält der Kollege Jörn König, AfD-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Das ist ein Antrag der Linken, der gut gemeint ist. Steuerflucht wollen wir alle verhindern.
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Aber es ist naiv, zu glauben, man könne Steuerflucht mit diesem Antrag unterbinden. Wie so häufig bei den Linken und Marxisten ist die Analyse gut; die Vorschläge zur Lösung sind jedoch meistens unbrauchbar.
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Das konnten wir live und in Farbe 40 Jahre lang hier in der Nähe des Reichstags erleben.
Bitte fangen Sie doch nicht schon wieder an mit Ihrer paranoiden Wirtschaftsfeindlichkeit und Ihrem grundlegenden Misstrauen gegenüber den Unternehmern. Transparenz wäre angemessen, um festzustellen, wo die Millionen und Milliarden Ihres Parteivermögens verschwunden sind.
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Im Antrag fordern Sie Transparenz für die Zivilgesellschaft – was für ein neumodisches Unwort! Es gibt nur eine Gesellschaft, es gibt keine Militärgesellschaft, und von Staatsbürgern in Uniform haben Sie wohl noch nie was gehört. Spätestens seit Ursula von der Leyen ist schon der Gedanke daran völlig sinnlos geworden.
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Die Linken wollen in ihrem Antrag beliebigen – ich zitiere –
Interessenvertretern eine klare Einsicht in die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens gewähren.
Das, meine Damen und Herren, grenzt an Wirtschaftsspionage. Damit retten Sie keinen Cent an steuerpflichtigen Einnahmen. Damit vertreiben Sie eher den deutschen Mittelstand.
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Nach einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung vom April 2018 unterhalten einige multinationale Konzerne wie Amazon Tochtergesellschaften in Steueroasen.
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Irland und das Luxemburg der Vorzeigeeuropäer Asselborn und Juncker betreiben hier Steuerdumping der übelsten Sorte. Die „Frankfurter Rundschau“ berichtet unter Berufung auf diese Studie, Amazon habe im Jahr 2016 deutlich unter 20 Prozent der fälligen Steuern in Deutschland gezahlt. Andere Buchhändler kamen dagegen auf Steuerquoten von bis zu 37 Prozent. Es gibt zwar keine feststehende Definition von Gerechtigkeit, aber das ist offensichtlich ungerecht gegenüber dem deutschen Mittelstand.
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Das wird auch an der aktuellen Insolvenz des Buchgroßhändlers KNV sichtbar.
Der Handlungsbedarf ist klar: Erträge müssen dort versteuert werden, wo sie erwirtschaftet werden. Daher wird immerhin schon seit 16 Jahren in der EU über das sogenannte Country-by-Country Reporting diskutiert – übrigens ein kleiner Tippfehler in Ihrem Antragstext: Da ist von „County-Reporting“ die Rede, also von Berichterstattung je Landkreis. Aber diese Anforderung ist nicht mal Ihnen zuzutrauen.
Zur Richtlinie 2011/16/EU, die in dem Antrag erwähnt wurde. Bis vor zwei Jahren gab es in besagter Richtlinie nicht einmal Sanktionen bei Verletzung der Berichtspflicht. Diese wurden 2016 eingeführt, mit folgenden Worten:
Wenn ein Mitgliedstaat feststellt, dass ein anderer Mitgliedstaat es über einen längeren Zeitraum hinweg versäumt hat, länderbezogene Berichte automatisch bereitzustellen, sollte er sich bemühen, den genannten Mitgliedstaat zu konsultieren.
Wie heißt es so schön in schlechten Arbeitszeugnissen? „Er hat sich stets bemüht.“
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Da faucht ein zahnloser EU-Tiger und wirft mit Wattebällchen. Und dann wundert sich die EU, dass Luxemburg nichts tut, um das Steuerdumping zu unterbinden. Warum denn? „Straffrei, illegal, total egal“ ist das Motto dieser EU-Steueroasen.
Diese sogenannten Partner verfolgen egoistische nationale Interessen. Luxemburg ist mit dem doppelten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Vergleich mit Deutschland ein wirklich reiches Land. Reichtum auf Kosten der Nachbarn – das haben wir gerade gelernt. Damit ist eigentlich auch klar, warum die EU so tief in der Krise steckt.
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Zurück zum guten Anliegen. In dieser Sache sind viel genauere Vorgaben an die Bundesregierung und die EU notwendig als die, die in dem vorliegenden Antrag stehen. Einheitliche Steuersätze wären da zum Beispiel ein Fortschritt.
Einer Überweisung des Antrags in den Finanzausschuss stimmen wir zu. Dort kann man aus den berechtigten Anliegen wahrscheinlich noch etwas Sinnvolles erarbeiten. Den Antrag in der jetzigen Form lehnt die AfD-Fraktion ab.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Frau Merkel wegen ihrer Messertoten als Kanzlerin zurücktreten muss.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kolleginnen Sarah Ryglewski, SPD-Fraktion, Katja Hessel, FDP-Fraktion, Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen, Cansel Kiziltepe, SPD-Fraktion, und der Kollege Alexander Radwan, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
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Damit ist die Aussprache geschlossen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 19/7906 zu überweisen: zur federführenden Beratung an den Finanzausschuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz und an den Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das erkenne ich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vielen Dank. – Verehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Noch vor kurzem galt die Unterzeichnung eines Friedensvertrages im Südsudan als mehr als unwahrscheinlich. Doch allen Unkenrufen zum Trotz wurde am 12. September 2018 ein solcher Vertrag unterzeichnet. Er hält seitdem leidlich. Auch wenn das Gewaltniveau im Land, wie wir alle wissen, insgesamt unverändert hoch bleibt, haben viele Menschen in der Region und im Südsudan wieder ein wenig Hoffnung schöpfen können.
Dieses Momentum, meine sehr verehrten Damen und Herren, darf jetzt nicht gefährdet werden. Deshalb bitte ich Sie um die Verlängerung des UNMISS-Mandates; denn der Verbleib von UNMISS im Südsudan ist zentral für diesen Friedensprozess, für den wir so lange gekämpft und gearbeitet haben. UNMISS übernimmt dabei vier wesentliche operative Aufgaben.
Der Friedensvertrag enthält, erstens, einen Fahrplan, der noch im Mai zu einer Übergangsregierung und danach zu Wahlen führen soll. Es ist richtig: Es sind noch nicht alle Fragen geklärt. Aber auch hier hätte das Auslaufen des UNMISS-Mandates auch politisch eine fatale Folgewirkung.
Denn mit mehr als 14 900 Soldatinnen und Soldaten, fast 1 800 Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten und mehr als 2 600 zivilen Helferinnen und Helfern sichert UNMISS, zweitens, das Überleben – man muss es wirklich so sagen – der südsudanesischen Bevölkerung. 7 von 12 Millionen Einwohnern des Landes sind trotz aller Bemühungen der internationalen Gemeinschaft weiterhin von humanitärer Hilfe abhängig.
UNMISS wird, drittens, weiterhin als Sicherheitsgarant für die Zivilbevölkerung benötigt; denn die Gewalt im Land – ich habe es erwähnt – hält an. Es kommt zu Gefechten zwischen Regierungstruppen und den Gruppen, die sich noch nicht diesem Friedensvertrag angeschlossen haben. Wir alle wissen aus leidvoller Erfahrung mit der Region: Die Übergänge zwischen politischer und ethnischer Gewalt und organisierter Kriminalität sind fließend. Auch jüngst wieder mussten Tausende ihre Heimat verlassen und fliehen. Für diese Zivilistinnen und Zivilisten bleibt UNMISS der einzige Garant für ein Mindestmaß an Sicherheit. Ich will aber auch sagen: Das entbindet die Regierung von Präsident Kiir nicht von der Pflicht, selber Sicherheitskräfte aufzustellen, denen die Bevölkerung vertrauen kann.
Meine Damen und Herren, UNMISS wird, viertens, weiter als Auge und Ohr der internationalen Gemeinschaft gebraucht, damit Menschenrechtsverletzungen im Südsudan eben nicht ungeahndet bleiben. Es ist – man kann es auch zu dieser späten Stunde nicht anders sagen – schockierend, wie sehr Frauen und Kinder in besonderem Maße Opfer von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen sind. Es kommt weiterhin zu Zwangsrekrutierungen auch von Kindersoldaten sowie zu sexualisierter Gewalt gegen die Schwächsten der Gesellschaft. Es ist die Aufgabe der Vereinten Nationen, diese Verbrechen zu dokumentieren – während die Täter von der Regierung zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Aber wir wissen alle, dass die politischen Voraussetzungen dafür bisher nicht erfüllt sind. Deswegen unterstützen wir auch weiterhin Sanktionen gegen Kriegsverbrecher.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich müssen wir uns zu diesem Zeitpunkt die Frage stellen: Was kann die Bundesregierung, was kann die Bundesrepublik Deutschland noch mehr tun, um UNMISS in diesem Prozess in die richtige Position zu bringen? Denn UNMISS könnte eine noch aktivere, effektivere Rolle spielen. Dafür braucht es ein tragfähiges Mandat, aber natürlich auch ausreichende Mittel; wir werden uns in New York dafür einsetzen.
Ich will auch unterstreichen, dass das vom Sicherheitsrat im Jahr 2018 verhängte Waffenembargo auch weiterhin durchgesetzt werden muss. Es ist an den politischen Führern des Südsudan, diesen Friedensprozess endlich mit Leben zu erfüllen; denn sie haben diese Gräben am Ende zu verantworten, sie haben diese Verbrechen begangen, und sie haben auch eine Verantwortung, zur Versöhnung und zu diesem Friedensprozess beizutragen. Dabei wollen wir sie unterstützen; aber diese Verantwortung können und werden wir ihnen nicht abnehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Dank gilt den Soldatinnen und Soldaten, aber auch den zivilen Expertinnen und Experten im Südsudan und ihren Familien hier in Deutschland.
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Durch unseren Beitrag zu UNMISS wollen wir dabei helfen, dass es endlich eine realistische Perspektive auf einen nachhaltigen Friedensschluss im Südsudan gibt. Wir wollen dabei helfen, diesen jüngsten Staat der Welt zu stabilisieren, und uns allen vielleicht auch ein bisschen die Zeiten in Erinnerung rufen, als es im Südsudan statt Krieg und Verheerung, Verbrechen so etwas wie Euphorie gegeben hat. Man hat es ja fast schon vergessen; aber es gab eine hoffnungsvolle Geschichte. Daran wollen wir anknüpfen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Berengar Elsner von Gronow, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Eine der großartigen Seiten des Mandats im Bundestag ist, dass man Gelegenheit hat, wirklich sehr interessante Menschen kennenzulernen und auch Informationen zu bekommen, an die man sonst üblicherweise nicht herankommt. So hatte ich vorgestern die Gelegenheit, Jean-Pierre Lacroix kennenzulernen, den UN Under-Secretary-General for Peace Operations, der mir einen über militärische Betrachtungen solcher Einsätze hinausgehenden Eindruck vom Peacekeeping- und Peacebuilding-Charakter von Missionen wie hier UNMISS, also der United Nations Mission in South Sudan, vermitteln konnte.
Auch hier wissen wir leider von Hunderttausenden Toten, Millionen Flüchtlingen innerhalb des Südsudans bzw. aus dem bzw. in den Südsudan. Hinzu kommen schlimmste Verhältnisse, was Staatlichkeit, Wirtschaft, Bildung und nicht zuletzt allein die Versorgung und Ernährung der Menschen im Südsudan angeht. Machen wir uns nichts vor: Dieses Land ist ein Failed State, der sich ohne Hilfe von außen aus seinem Elend nicht wird befreien können.
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Zu dem Versuch der internationalen Gemeinschaft, hier Abhilfe zu schaffen, trägt die Mission UNMISS maßgeblich bei.
Nach dem Abschluss eines Friedensvertrages im Herbst letzten Jahres bedarf es nun großer Anstrengungen, die fragilen Sicherheitsverhältnisse im Lande zu stabilisieren und dem Land zu einer positiven Entwicklung zu verhelfen. Wie beim nördlichen Nachbarn ist das – neben humanitären Gründen natürlich – auch im pragmatischen Interesse unseres Landes, da dies eines der Mittel ist, wie aktuellen und zukünftigen Migrationsbewegungen aus Afrika in Richtung Europa und Deutschland begegnet werden kann.
Auch hier erachten wir daher angesichts des Kräfteansatzes und der Einsatzbedingungen eine weitere Beteiligung Deutschlands an der Mission UNMISS für sinnvoll.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner wird zu uns der Herr Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn für die Bundesregierung sprechen.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Südsudan besteht Hoffnung auf Frieden. Im September letzten Jahres haben die Bürgerkriegsparteien ein Abkommen geschlossen, mit dem sie das Friedensabkommen von 2015 bekräftigt haben. Im Mai diesen Jahres soll eine Übergangsregierung gebildet werden, im Mai 2022 sollen Wahlen folgen.
Die Intensität der kriegerischen Auseinandersetzungen im Land hat deutlich abgenommen. Aber die Lage im Südsudan bleibt fragil: Es bestehen ethnische Differenzen fort, Verteilungskämpfe um Ressourcen halten an, es kommt zu Auseinandersetzungen mit bewaffneten Gruppierungen, die das Abkommen vom September letzten Jahres nicht unterzeichnet haben. Und auch schwere Menschenrechtsverletzungen, einschließlich schwerer Fälle von sexueller Gewalt, sind weiter an der Tagesordnung.
Die humanitäre Lage ist dramatisch: Von 12 Millionen, die in diesem Land leben, sind derzeit über 7 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mindestens 4 Millionen sind im Südsudan vertrieben oder mussten in die Nachbarstaaten flüchten. Damit bestehen weiter erhebliche Risiken für eine erneute Verschlechterung der Lage, die auch plötzlich eintreten kann, oder gar für ein Scheitern des Friedensprozesses. Deswegen muss jetzt die Zeit genutzt werden – nicht um für eine nächste Konfrontation aufzurüsten, sondern um die Basis für eine friedliche Entwicklung im Land zu legen. Dazu braucht es weiterhin die Unterstützung und auch den Druck der internationalen Gemeinschaft, insbesondere durch die Vereinten Nationen und durch UNMISS.
UNMISS ist für Hunderttausende Zivilisten der einzige Garant für ein Mindestmaß an Sicherheit. Die Mission sichert die überlebenswichtige humanitäre Hilfe ab. Sie unterstützt außerdem die Implementierung des Friedensabkommens, und sie ist damit entscheidend für Fortschritte beim Friedensprozess und bei der Umsetzung des Abkommens vom September 2018.
Die Umsetzung des Auftrags der Mission ist aber alles andere als einfach. Es gibt Bewegungseinschränkungen durch die Regierung wie die Opposition. Das Truppenstationierungsabkommen, das mit den Vereinten Nationen geschlossen worden ist, wird durch den Südsudan verletzt. Es gibt weite Entfernungen im Land bei nur rudimentärer Infrastruktur. Und auch hohe Kriminalität zählt zu den Herausforderungen, die die Soldatinnen und Soldaten der UNMISS meistern müssen.
Dennoch ist es der Mission gelungen, ihre Präsenz in der Fläche auszuweiten und durch Patrouillen ihre Wirksamkeit zu steigern. Aktuell halten sich fast 200 000 Zivilisten in den sieben Schutzzonen der Mission für die Zivilbevölkerung auf. Den Soldatinnen und Soldaten von UNMISS, aber auch den zivilen Helferinnen und Helfern gebührt deshalb unser ausdrücklicher Dank und unser Respekt für ihre schwere Arbeit, meine Damen und Herren.
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Deutschland hat UNMISS von Beginn an unterstützt – mit Stabspersonal und Beobachtern. Die Bundesregierung beabsichtigt, diese Beteiligung fortzusetzen. Die Personalobergrenze soll bei 50 Soldatinnen und Soldaten bestehen bleiben. Derzeit sind übrigens 14 Soldatinnen und Soldaten vor Ort, denen wir herzlich für ihren Einsatz danken.
Die Beteiligung an UNMISS ist auch ein wichtiges Zeichen der Unterstützung für die Vereinten Nationen. Wir sind gerade Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Deswegen ist die Fortsetzung dieses Mandates auch für uns von besonderer Bedeutung. Und ich bitte Sie dafür um Ihre Unterstützung, dieses Mandat für die nächsten zwölf Monate fortzusetzen.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Der nächste Redner ist Ulrich Lechte, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Lage im Südsudan ist angespannt. 13 Millionen Einwohner leben in diesem jüngsten Staat der Welt. Folgende Fakten liegen dem Mandat zugrunde: 2,2 Millionen Kinder gehen laut der Vereinten Nationen im Südsudan nicht zur Schule, 2,5 Millionen Menschen sind seit Ausbruch des Bürgerkriegs in die Nachbarländer geflohen, 1,9 Millionen Menschen sind Binnenflüchtlinge, und 7,1 Millionen Menschen sind laut UN OCHA auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das sind wahrlich keine leichten Voraussetzungen für die Umsetzung einer UN-Friedensmission.
Im Mai soll eine provisorische Regierung mit allen Konfliktparteien eingesetzt werden, welche den Weg für demokratische Wahlen 2022 ebnen soll. Dieser Prozess muss durch die UN-Friedensmission geschützt werden; denn niemand hat Interesse an einem weiteren wirklichen Failed State.
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Das bedeutet: Die Mission ist an einem sehr kritischen Punkt angelangt. Welche Rolle möchte Deutschland hier spielen? Ich greife den Kollegen von den Linken vor und sage: Gehen wir mal nicht den Weg der Linken, die deutsche Beteiligungen an UN-Missionen grundsätzlich ablehnen, sondern sagen wir: „Die Menschen dort sind nicht egal“, und helfen wir, wo wir können.
({1})
Die Augen zu verschließen, wenn es darauf ankommt, hinzusehen und zu handeln, hat in der Geschichte noch nie geholfen; gerade wir in Deutschland sollten das wissen.
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Wir wissen außerdem, welche wichtige Rolle das deutsche Engagement im Südsudan spielt. So leisten die Bundeswehrsoldaten vor Ort einen wertvollen Beitrag zur Stabilität, indem sie Führungs- und Verbindungsaufgaben wahrnehmen, die dazu dienen, die unterschiedlichen truppenstellenden Nationen zusammenzubringen und zu koordinieren. Auch das so wichtige THW und deutsche zivile Helfer sind mit ihrer Arbeit vor Ort unverzichtbar.
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Dank unserer Spezialisten der Bundeswehr können auch humanitäre Helfer ihre so dringend notwendige Arbeit verrichten. Die Konsequenz einer Ablehnung von VN-Friedensmissionen ist immer auch, dass humanitäre Helfer großen Gefahren ausgesetzt sind. Bis heute haben 112 dieser stillen Helden ihren Einsatz mit dem Leben bezahlt, allein 12 davon im vergangenen Jahr. Deshalb ist es so unerlässlich, auch mit deutscher Unterstützung Sicherheit für die Menschen vor Ort zu gewährleisten.
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Die UN-Friedensmission hilft dem jüngsten Mitglied der Weltgemeinschaft in dem Prozess, staatliche Institutionen aufzubauen, und damit der gesamten Region Ostafrika. Sie steht damit auf dem Fundament, auf dem die Vereinten Nationen einst errichtet wurden.
Wir Freie Demokraten stehen für Frieden und Sicherheit in der Welt ein. Südsudan hat seine Chance und damit auch unsere Unterstützung verdient.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Lechte. – Als Nächste spricht zu uns die Kollegin Kathrin Vogler, Fraktion Die Linke.
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Ich kann nicht schlafen. Wann immer ich versuche, meine Augen zu schließen, sehe ich den Kopf meines Vaters vor mir herunterfallen.
Das berichtet die 25-jährige Mary Poni in Juba. Ihr Vater war einer von 400 000 Menschen im Südsudan, die in den vergangenen vier Jahren im Bürgerkrieg getötet worden sind – 400 000 Tote, Millionen Traumatisierte wie Mary, die keine Hilfe erhalten, weil die Herrschenden im Südsudan das Geld aus dem Öl lieber in Luxusvillen und in einen aufgeblähten Militärapparat stecken als in die Versorgung der Bevölkerung.
Schon als ich 2010 den Südsudan besucht habe, wurde mir deutlich, dass die Gewalterfahrungen und die Traumata aus dem jahrzehntelangen Bürgerkrieg die größte Hypothek für das neu entstehende Land sein würde. Man sieht es in den Augen der Menschen, man sieht es an ihren Gesichtern, man sieht es an ihrer Körperhaltung.
Die zweite große Hypothek – auch das war damals schon klar – ist das Öl, eine Quelle des Reichtums, aber nur für sehr wenige, und ein Anlass für den blutigen Kampf um die Macht zwischen den Anhängern von Salva Kiir und Riek Machar, den beiden Hauptkonkurrenten.
Auch wenn der jüngst erneuerte Friedensvertrag zwischen Kiir und Machar für ein bisschen Hoffnung sorgt: Nichts ist gut im Südsudan. Der Friedensprozess stagniert schon jetzt. Im Süden des Landes wird weiter gekämpft, und die Einheiten, die im Bürgerkrieg gekämpft und gemordet haben, werden nicht aufgelöst, sondern ins Militär eingegliedert. Die treuesten Gefolgsleute der Kriegsherren werden mit lukrativen Ämtern im Parlament und in 45 Ministerien versorgt.
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Das könnte eine Zeit lang reichen, bis sich irgendwo neue Pfründe auftun, um die die Mächtigen miteinander streiten und mit denen sie ihre Anhänger erneut zum Morden aufstacheln. Daran werden auch die UN-Militärmission UNMISS und die Bundeswehrsoldaten, die Sie weiter dorthin schicken wollen, leider nichts ändern. Deshalb dürfen wir das nicht einfach achselzuckend hinnehmen.
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Meine Damen und Herren, was das Land braucht, ist eine große zivile Friedensmission, die den Namen verdient. Es braucht viele, viele Expertinnen für Mediation und Traumaarbeit, Fachleute für Wirtschaft, Bildung und Verwaltung, Arbeit für die vielen Entwurzelten, die in ihrem Leben nichts als kämpfen gelernt haben, eine Polizei, die tatsächlich Verbrechen aufklärt, und eine Justiz, die Gerechtigkeit schafft und Wahrhaftigkeit fördert. Wir brauchen zivile Peacekeeper, die in die Dörfer gehen und wirklich Frauen und Kinder schützen. Sie von der Bundesregierung werden jetzt sagen: Dafür ist kein Geld da. – Das, meine Damen und Herren, finde ich wirklich seltsam; denn für Militäreinsätze ist immer Geld da.
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Herr Staatsminister, zum Schluss bitte ich die Bundesregierung: Halten Sie beim Waffenembargo durch, und sorgen Sie in der UN dafür, dass keine Waffen in den Südsudan oder woanders hin geliefert werden.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Vogler. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Ottmar von Holtz, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Mittwoch hatten wir die Gelegenheit, mit dem Leiter der UNMISS, dem Neuseeländer David Shearer, zu sprechen. Er berichtete, dass das Friedensabkommen vom September im Südsudan bislang tatsächlich einige positive Entwicklungen nach sich gezogen habe. Menschen erwögen sogar eine Rückkehr in ihre Heimatorte, die Opposition könne sich wieder in der Hauptstadt Juba bewegen. Das ist erfreulich und macht uns Hoffnung. Auch das im Juli 2018 im UN-Sicherheitsrat verabschiedete Waffenembargo habe dazu beigetragen.
Doch, meine Damen und Herren, wir wissen: Das Waffenembargo läuft am 31. Mai aus. Deswegen war ich sehr froh, vom Staatsminister zu hören, dass Sie sich in New York dafür einsetzen werden, es zu verlängern. Es sollte nicht nur verlängert, sondern auch verschärft und vor allen Dingen vor Ort konsequent umgesetzt werden;
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denn noch gibt es viel zu viele Waffen in dem Land.
Was wir allerdings auch gehört haben: Die deutschen Kräfte in der UNMISS sind sehr angesehen und leisten einen wertvollen Beitrag zur Stärkung der Mission. Allerdings finden wir, dass 14 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz ein bisschen wenig sind, wenn das Mandat 50 zulässt. Ich glaube, dass Deutschland in diesem Rahmen noch mehr leisten kann.
Es gibt allerdings auch Schattenseiten. Der Friedensprozess gerät derzeit leider doch ins Stocken. Es drohen neues Chaos und neue Gewalt. Außerordentlich wichtig ist es deswegen, meine Damen und Herren, dass der Friedensprozess jetzt durch die internationale Gemeinschaft mehr denn je unterstützt wird. Sonst droht wieder ein Rückfall in Gewalt.
Bei allem leicht vorsichtigen Optimismus des Leiters der UN-Mission: Die Lage der Zivilbevölkerung im Südsudan – wir haben das hier eben schon häufig gehört – ist weiterhin fürchterlich. Rede- und Versammlungsfreiheit sind eingeschränkt. Die Presse kann nicht frei berichten. Noch immer leben 200 000 Menschen in den Schutzzonen der UNMISS. Über 2 Millionen Kinder im Südsudan – Kollege Lechte hat es gesagt – besuchen keine Schule. Es wächst eine Generation heran, die nichts außer Gewalt und Entbehrung kennt, eine verlorene Generation. Und – das haben wir auch gehört – die Gewalt gegen Frauen hat zugenommen. Monat für Monat werden Frauen und Mädchen durch Regierungstruppen und Rebellen entführt und vergewaltigt.
Deswegen, meine Damen und Herren, ist es nur folgerichtig, dass auch unsere Fraktion der Verlängerung des UNMISS-Mandats zustimmen wird. Doch wir sagen auch: Um dauerhaft für Frieden und Stabilität im Südsudan zu sorgen, braucht es eine Reihe weiterer Maßnahmen. Deutschland kann sich bei all diesen Maßnahmen gut einbringen. Wir brauchen beispielsweise ein Sondertribunal für Kriegsverbrechen.
Die deutsche Beteiligung an UNMISS – ich hatte es vorhin schon gesagt – fällt militärisch und zivil zu gering aus. Wenn nur 14 Soldatinnen und Soldaten bei einer Obergrenze von 50 zum Einsatz kommen, frage ich mich, warum.
({1})
Zum Abschluss eine Bemerkung. Die UNAMID-Mission in Darfur wurde immerhin evaluiert. Ich möchte daher die Frage aufwerfen: Wie sieht es mit UNMISS aus? Ist die Mission richtig aufgestellt, um den Friedensprozess maximal zu unterstützen? Vielleicht kann die Bundesregierung auch in dieser Hinsicht im Sicherheitsrat etwas Hilfreiches anstoßen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Der Kollege Thomas Erndl, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7728 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, es ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Mittelmeer ist einer der weltweit wichtigsten Transportwege: Rund ein Drittel aller über See verschifften Güter und ein Viertel aller Öltransporte weltweit werden über das Mittelmeer transportiert. Wir sind Exportnation. Für Deutschland ist die sichere Nutzung des Mittelmeers von zentraler Bedeutung und liegt ohne Frage in unserem ureigenen Interesse.
Allerdings ist die Mittelmeerregion nach wie vor durch ein hohes Maß an Instabilitäten gekennzeichnet. Es gibt Waffenschmuggel, Schleuserkriminalität, Terrorismus. Und deshalb engagieren wir uns und beteiligen uns gemeinsam mit internationalen Partnern und unter Führung der NATO an der Operation Sea Guardian. Ziel der Operation ist es, Krisenentwicklungen zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Dazu braucht es ein umfassendes und aktuelles Lagebild, und dazu tragen die Überwachungsmaßnahmen der Operation Sea Guardian ganz wesentlich bei – ob Aufklärungsflüge durch AWACS, ob Patrouillen zur See oder die Kontrolle von Schiffen.
Sea Guardian leistet einen beachtlichen Beitrag zum Kampf gegen den Terrorismus und den Waffenschmuggel und damit zur Sicherheit auf dem Mittelmeer. Dabei erstreckt sich die Leistung nicht alleine auf die durchgeführten Kontrollen. Sie besteht auch in der abschreckenden Wirkung, die diese Operation im Mittelmeer entfaltet. Gleichzeitig dient Sea Guardian als wichtige Plattform zur Kooperation für alle Akteure, die der maritimen Sicherheit verpflichtet sind.
Wir wollen in diesem Sinne die Zusammenarbeit mit Mittelmeeranrainern und anderen Partnerstaaten ausbauen. Inzwischen sind Australien, Georgien und Jordanien anerkannte Operational Partner der NATO bei Sea Guardian. Österreich und Israel haben ebenfalls offiziell Interesse an einer Partnerschaft angemeldet.
Die Kooperation mit den Anrainerstaaten kann sich auch auf Ausbildung und gemeinsame Übungen erstrecken; denn Kapazitätsaufbau ist ebenfalls eine der Aufgaben dieser Operation. Und damit trägt Sea Guardian nachhaltig zur Sicherheit im Mittelmeer bei.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, im zurückliegenden Mandatszeitraum haben wir uns mehrfach mit verschiedenen Einheiten jeweils zeitweise an Sea Guardian beteiligt, aktuell mit dem Einsatzgruppenversorger „Bonn“. Mit unseren maritimen Kapazitäten und mit unserer Beteiligung an Aufklärungsflügen leisten unsere Soldatinnen und Soldaten einen wichtigen Beitrag zur Seeraumüberwachung und zur Erstellung eines umfassenden Lagebildes.
Täglich sind etwa 190 unserer Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Mittelmeer für die Operation Sea Guardian im Einsatz. Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich unseren Bundeswehrangehörigen im Einsatz ganz herzlichen Dank sagen und ihnen meine Anerkennung und die Anerkennung des ganzen Hauses übermitteln.
({0})
Das Mandat soll nun um ein weiteres Jahr verlängert werden, mit unverändertem Auftrag. Die Obergrenze bleibt unverändert bei 650 Soldatinnen und Soldaten. Ich bitte Sie um Unterstützung für den vorliegenden Antrag der Bundesregierung.
Vielen Dank.
({1})
Herr Staatssekretär, herzlichen Dank. – Die Kolleginnen und Kollegen Siemtje Möller, SPD-Fraktion, und Ingo Gädechens, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
({0})
Der nächste Redner ist der Kollege Jan Nolte, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Das Spannendste an diesem Mandat ist ja die Frage, warum die Bundesregierung Sea Guardian jetzt eigentlich schon wieder verlängern möchte. Es wurden eben keine wirklich nachvollziehbaren Gründe genannt, und auch im Antrag können wir keine echten Gründe lesen. Auch aus dem Auftrag von Sea Guardian geht nicht hervor, warum wir dieses Mandat brauchen.
Ein Auftrag ist ja die Verdichtung des Lagebildes. Die Schiffe vor Ort sollen also zum Lagebild beitragen, sollen ihre Beobachtungen melden. Sea Guardian stellt aber auf Kräfte ab, die ohnehin vor Ort sind, die zu anderen Aufträgen unterwegs sind und für die Dauer des Transits Aufträge von Sea Guardian übernehmen.
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Also auch ohne dieses Mandat wären die gleichen Kräfte vor Ort und könnten, ja müssten verdächtige Beobachtungen melden. Damit kann man Sea Guardian nicht begründen.
Der nächste Auftrag klingt schon fast ein bisschen lächerlich: Bekämpfung von Terror und Waffenschmuggel im Mittelmeer. Wenn wir ein Problem mit Terroristen im Mittelmeer hätten, dann würden wir heute über ein ganz anderes Mandat beraten, dann hätten wir ein viel robusteres Konzept.
Wir blicken ja auf 15 Jahre Operation Active Endeavour zurück, die Vorgängermission, deren Bilanz ist, dass kein einziger Terrorist festgenommen wurde und kein Waffenfund gemacht wurde. Nach knapp drei Jahren Sea Guardian ist die Bilanz dieselbe. Lediglich im Rahmen der Operation Sophia gelang ein Waffenfund. Das heißt, wir sind fast 20 Jahre vor Ort und haben einmal Waffen gefunden. So kann man diesen Einsatz nicht begründen.
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Wir werden erleben, dass auch die Bundesregierung zu diesem Schluss kommt: Wir haben keinen Waffenschmuggel und auch keinen Terror im Mittelmeer, und deswegen brauchen wir den Einsatz nicht.
Ein sehr negativer Punkt ist die Unterstützung von Operation Sophia. Diese erfolgt logistisch sowie durch Informationsübermittlung. Sea Guardian unterstützt damit eine Operation, die nationalem Interesse direkt zuwiderläuft, eine Operation mit einem Auftrag, der erst einmal sinnvoll klingt – Bekämpfung von Schleppernetzwerken –, allerdings bewirkt das unzweckmäßige Konzept leider das Gegenteil: Sophia erweist sich als Brücke nach Europa und ist damit eine Operation, die wir nicht durch Sea Guardian unterstützt sehen wollen.
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Wir stimmen natürlich der Ausschussüberweisung zu, lehnen das Mandat aber inhaltlich ab.
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Vielen Dank. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Christian Sauter, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung schlägt vor, das Mandat Sea Guardian praktisch unverändert für ein Jahr zu verlängern. Zu wissen, was im Mittelmeer genau passiert und welche Akteure dort unterwegs sind, ist im Hinblick auf Landes- und Bündnisverteidigung, aber auch auf unsere Auslandseinsätze im Mittelmeer wichtig. Die Formulierung des Mandats ist jedoch, wie beim Mandatstext zuvor, eher unbestimmt und weitreichend. Lagebilderstellung, Kampf gegen Terrorismus und Waffenschmuggel, Informationsaustausch und Kontrollieren von Schiffen ist der weitreichende Auftrag dieser maritimen Sicherheitsoperation. Hier stellt sich die Frage nach Mittel und Auftrag, die ich später noch beleuchten möchte.
Ein Drittel aller Seegüter durchquert den Überwachungsraum dieses Mandats. Ein genaues Lagebild über das Mittelmeer zu haben, ist daher besonders wichtig und der aus meiner Sicht entscheidende Punkt dieses Mandats. Daher begrüßen wir den Einsatz der Deutschen Marine im Rahmen dieses NATO-Einsatzes, derzeit unter anderem mit dem Einsatzgruppenversorger „Bonn“. Mein Dank geht an dieser Stelle an die Soldatinnen und Soldaten für diesen im Einsatz geleisteten Dienst.
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Sea Guardian ist ein sinnvolles Mandat, trotz eingangs erwähnter Kritik. Unter dem Dach dieser NATO-Operation werden im Mittelmeer weitere Missionen unterstützt. Dennoch muss eine stete Überprüfung deutscher Verpflichtungen und vor allem leistbarer Fähigkeiten stattfinden. Der aktuelle Abzug deutscher Einheiten aus der mit Sea Guardian eng verknüpften Mission Sophia war ein Schritt, der die Marine entlastet hat. Dieser Schritt war in der aktuellen Situation folgerichtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland hat viele Verpflichtungen im internationalen Sicherheitsbereich. Die Münchner Sicherheitskonferenz ist zu Ende gegangen, und wieder hört man die Botschaft, dass Deutschland mehr Verantwortung übernehmen müsse. Die Mittel zur Übernahme dieser Verantwortung müssen aber auch bereitstehen, auch und vor allem im Bereich der Marine, der am intensivsten durch Einsätze belasteten Teilstreitkraft. Diese Einsatzbelastung ist besonders für die Soldaten an Bord spürbar. Dazu kommt die Materialsituation. In den kommenden Wochen werden wir uns turnusmäßig wieder mit der Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme der Bundeswehr befassen. Wir hoffen, hier endlich eine Verbesserung sehen zu können.
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Ich begrüße es, dass die Deutsche Marine derzeit wieder an allen vier ständigen NATO-Verbänden beteiligt ist. Das ist eine Art von Verantwortung, die wir nach meiner Überzeugung intensiver wahrnehmen müssen und auch können müssen. Gerade in sicherheitspolitisch bewegten Zeiten ist das ein Bekenntnis zur NATO. Das Mandat Sea Guardian ist ein Baustein. Wir stimmen der Überweisung in die Ausschüsse zu.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Sauter. – Der nächste Redner ist der Kollege Michel Brandt für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der NATO-Einsatz Sea Guardian soll auf dem Mittelmeer gegen Terrorismus, Schlepperei und Waffenschmuggel vorgehen. Aber schauen wir uns die Bilanz seit Aufnahme des Mandats 2016 einmal an: Festgenommene Terroristen? Null. Aufgespürte Schlepper? Null. Gestoppte Waffenschmuggler? Sie ahnen es: Null. – Und dafür hat der Bund bereits 21,2 Millionen Euro ausgegeben. Völlig wahnsinnig!
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Dabei könnten wir Schiffe auf dem Mittelmeer gerade dringend gebrauchen; so ist es ja nicht. Militärisch müssen diese allerdings nicht sein. Alleine dieses Jahr sind mindestens 218 Menschen vor der Festung Europa ertrunken. Die NATO-Operation hätte dafür sorgen können, dass Menschen in Seenot frühzeitig entdeckt werden, gerettet werden und sicher an Land gebracht werden. All das tut Ihr Militäreinsatz aber nicht. In den vergangenen Debatten verwies die SPD noch auf den Beitrag von Sea Guardian zur Seenotrettung. Fakt ist aber, dass dieser Einsatz nicht einen einzigen Menschen aus dem Mittelmeer gerettet hat. Sie können Sea Guardian also getrost einstellen.
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Es ist ja schon schlimm genug, dass Sea Guardian nicht zur Rettung von Menschen beiträgt; aber Sie machen sogar das Gegenteil: Das von der Mission erstellte Lagebild wird nämlich mit der sogenannten libyschen Küstenwache geteilt. Damit können diese libyschen Milizen Menschen auf dem Mittelmeer aufhalten und zurück nach Libyen bringen. Dort werden sie willkürlich festgehalten, gefoltert und versklavt. Erst heute Morgen erklärte uns Amnesty International, dass die Bundesregierung eine Mitschuld an diesen Menschenrechtsverletzungen trägt. Beenden Sie sofort die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache!
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Die Unterstützung der EU-Antischleppermission EUNAVFOR MED durch Sea Guardian lasse ich an dieser Stelle lieber unkommentiert. Ich finde, Frau von der Leyen fand dafür die richtigen Worte, als sie das letzte deutsche Schiff von der EU-Operation abzog und sagte, dass die deutschen Soldatinnen und Soldaten auf dem Mittelmeer schon seit Monaten ohne sinnvolle Aufgabe wären. Dem schließen wir uns an.
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Seien Sie konsequent, und ziehen Sie auch die deutsche Beteiligung an Sea Guardian zurück.
Die im Mandat angeführten Gründe für diesen NATO-Einsatz sind vorgeschoben. In Wirklichkeit soll Sea Guardian die Vormachtstellung der NATO im Mittelmeer stärken und die Militarisierung der EU-Außengrenzen vorantreiben. Immer mehr zivile Aufgaben werden an das Militär übergeben: Sicherung der EU-Außengrenzen, Migrationskontrollen und Grenzschutz. Aber auf dem Mittelmeer ist nicht die Sicherheit der EU gefährdet, sondern das Leben geflüchteter Menschen. Deshalb brauchen wir auf dem Mittelmeer keine Kriegsschiffe und kein Frontex, sondern wir brauchen endlich eine staatlich organisierte zivile Seenotrettung.
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Das Versagen von Sea Guardian spricht für sich. Die Bundesregierung darf diesen unsinnigen NATO-Einsatz nicht länger künstlich am Leben halten. Die Linke fordert darum die sofortige Beendigung von Sea Guardian.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Der Kollege Ingo Gädechens, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.
Deshalb hat als letzter Redner in dieser Aussprache das Wort der Kollege Dr. Tobias Lindner, Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank, geschätzter Herr Bundestagsvizepräsident. – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man über einen Auslandseinsatz der Bundeswehr debattiert, dann muss man sich zwei Fragen stellen. Die erste Frage lautet: Braucht es wirklich ein Mandat? Ist ein Mandat sinnvoll, ist es verantwortbar? Die zweite Frage, die man sich stellen muss, lautet: Ist das Mandat so präzise gefasst, wie man es als Parlament für eine Parlamentsarmee fassen kann, damit effektive parlamentarische Kontrolle möglich ist? Beide Fragen hat meine Fraktion im vergangenen Jahr mit Nein beantworten müssen. Es wird Sie nicht überraschen: Da sich dieses Mandat in wesentlichen Teilen nicht geändert hat, müssen wir diese Fragen auch in diesem Jahr mit Nein beantworten.
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Herr Staatssekretär, wäre Sea Guardian ein Kleiderstück, dann würde es, auf Neudeutsch, in die Kategorie „one size fits all“ passen. Sie haben da ein Mandat, das ein wahres Sammelsurium ist. Einen Teil dieser Aufgaben halten wir Grüne ja durchaus für sinnvoll. Die Lagebilderstellung im Mittelmeer wird mit AWACS-Flugzeugen gemacht. Die Erstellung eines Lagebilds ist eine der Standardaufgaben der NATO. Das wird seit Jahrzehnten gemacht; es brauchte nie ein Mandat dafür. Das, was wir als durchaus sinnvoll erachten, verquicken Sie aber mit anderen möglichen Aufgaben – so lautet zumindest der Mandatstext –, sodass Sie andere Missionen, zum Beispiel Sophia, locker in Sea Guardian hineinpacken könnten. Letztendlich legen Sie uns heute einen Mandatstext zur Beratung vor, der alles Mögliche im Mittelmeer zulässt. So etwas kann man als Parlament, wenn man es mit der parlamentarischen Kontrolle von Streitkräften ernst meint, nicht guten Gewissens durchwinken.
({1})
Deshalb kann ich, können wir Grüne nur an Sie appellieren: Streichen Sie Sea Guardian auf das zusammen, was es ist, nämlich die Übernahme von Standardaufgaben der NATO. Solche Aufgaben werden von der Standing NATO Maritime Group 2, dem Flottenverband, der für gewöhnlich im Mittelmeer verkehrt, erledigt. Streichen Sie das darauf zusammen. Für Aufgaben wie die Erstellung eines reinen Lagebildes brauchen Sie kein Mandat. Lassen Sie das, was gefährlich unklar ist, was am Ende des Tages auch die parlamentarische Kontrolle unterhöhlt, weg. Beenden Sie dieses Mandat in der Form, wie es heute dem Deutschen Bundestag erneut vorgelegt wird.
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Wir Grüne werden in den Ausschussberatungen eine Menge Fragen stellen. Am Ende des Tages werden wir dieses Mandat aber – das wird Sie nicht überraschen –, wie in den Vorjahren auch, ablehnen müssen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Lindner. – Damit ist die Aussprache geschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7727 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Ausgangslage im Verkehrsbereich macht deutlich: Es stehen grundlegende Entscheidungen an. Es gilt, den Klimaschutz im Verkehrsbereich endlich ernst zu nehmen und umzusetzen. Es gilt, den Ressourcenschutz im Verkehrsbereich endlich ernst zu nehmen und umzusetzen. Dazu brauchen wir höhere Verkehrsanteile der Bahn.
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Die Menschen wollen die Bahn. Man merkt das daran, dass immer mehr Menschen die Bahn nutzen. Aber so, wie sie sich heute präsentiert, ist sie, was Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit angeht, alles andere als zufriedenstellend. Genau hier setzt unser Antrag „Die Eisenbahn zum Rückgrat der Verkehrswende machen“ an.
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Wir wollen erstens eine Angebotsoffensive. In den letzten Jahren und Jahrzehnten wurden ganze Regionen und viele Großstädte von der Bahn abgekoppelt. Wir müssen wieder dahin kommen, dass man mit der Bahn die Orte in der Fläche und die großen Städte erreicht und die Taktungen entsprechend stimmen. Wir sind sehr froh, dass beim Thema Deutschland-Takt im Bundestag ein breiter Konsens herrscht: bessere Vertaktungen, besseres Umsteigen; Ziele, die heute nur schlecht erreichbar sind, werden wieder besser erreichbar. Von Union und SPD wird aber die Frage nicht beantwortet, was passiert, wenn Angebote, die im Zielfahrplan vorgesehen sind, nicht eigenwirtschaftlich erbracht werden können. Dazu sagen wir: Natürlich haben Wettbewerb und Eigenwirtschaftlichkeit Vorrang. Wo es aber einen Wettbewerb nicht gibt und Eigenwirtschaftlichkeit nicht gegeben ist, muss der Staat Angebote ermöglichen, damit der Fahrplan, das Umsteigen und die Vertaktung tatsächlich funktionieren.
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Zweitens brauchen wir faire Wettbewerbsbedingungen. Wenn man sich anschaut, wie lang die Lkw-Kolonnen auf den Autobahnen inzwischen geworden sind, dann merkt man, dass es nicht richtig ist, wie das läuft. Deswegen sagen wir: Alle Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen müssen bemautet werden; Dieselsubventionen müssen schrittweise abgebaut werden; Kerosin gehört besteuert; die Trassenpreise für die Bahn gehören, wie auch die EU es möchte, auf das Grenzkostenprinzip abgesenkt, nicht nur für den Schienengüterverkehr und auch nicht befristet, wie es beschlossen wurde.
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Drittens brauchen wir eine Investitionsoffensive. Seit 1992 gab es im Bereich Straße ein Investitionsplus von 40 Prozent. Die Investitionen im Bereich Schiene sind seither um 20 Prozent geschrumpft. Jetzt ist endlich mal die Schiene dran. Die Bedarfsplanmittel im Haushalt müssen hochgesetzt werden. Wir brauchen ein Elektrifizierungsprogramm. Wir brauchen ein Reaktivierungsprogramm, damit die Bahn wieder in die Fläche kommt.
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Wir brauchen ein Bahnhofsanierungsprogramm. Die Schiene wurde lange genug vernachlässigt. Hier besteht Nachholbedarf, hier muss endlich aufgeholt werden.
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Viertens brauchen wir eine Strukturreform bei der Deutschen Bahn. Wir brauchen hier endlich die Konzentration aufs Kerngeschäft. Konzernteile wie Schenker oder Arriva, die kaum Gewinne an den Konzern abführen, braucht es nicht. Wir brauchen keine Gewinnerzielungsabsicht in den Infrastruktursparten. Die wollen wir in einem ersten Schritt zusammenlegen. In einem zweiten Schritt wollen wir – das ist bekannt – zugunsten des Wettbewerbs und als saubere Lösung die Trennung von Infrastruktur und Verkehrssparten.
Als Fazit kann ich festhalten: Wer die Bahn stärken, wer die Bahn tatsächlich zum Rückgrat der Verkehrswende machen will, der sorgt für bessere Angebote, und zwar überall im Land, der schafft faire Wettbewerbsbedingungen – zugunsten der Bahn – und der investiert gezielt in die Bahnknoten, und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Michael Donth, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ganz besonders möchte ich unseren Kollegen Manfred Behrens begrüßen, der nach langer Krankheit heute extra für diesen Tagesordnungspunkt da ist. Das freut mich sehr.
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Ich kann nicht anders: Es ist ein Kompliment für die Arbeit der Großen Koalition, wenn die Opposition in ihren Anträgen das fordert, was wir schon im Koalitionsvertrag stehen haben
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und was wir größtenteils schon umzusetzen begonnen haben,
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und das – das möchte ich betonen – weniger als ein Jahr nach der Regierungsbildung.
Schauen wir uns das doch ganz konkret an.
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Die Sofortmaßnahmen aus dem Masterplan Schienengüterverkehr, den das Bundesverkehrsministerium in der vergangenen Legislaturperiode aufgestellt hat, sind auf den Weg gebracht.
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Die Halbierung der Trassenpreise für den Güterverkehr steht seit dem zweiten Halbjahr 2018 im Bundeshaushalt.
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Das sind seither 525 Millionen Euro. Für das 740-Meter-Netz haben die Vorausplanungen schon begonnen. Erste bauliche Maßnahmen beginnen dieses Jahr.
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Wir haben im Koalitionsvertrag das Ziel festgeschrieben, die prioritären Maßnahmen bis 2020 zu realisieren. Also: 740-Meter-Netz? Machen wir.
Der Entwurf für das Bundesprogramm „Zukunft Schienengüterverkehr“ ist vom runden Tisch zum Schienengüterverkehr schon erarbeitet worden.
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Bis Anfang kommenden Jahres sollte das auf den Beinen stehen und dann auch finanziell unterfüttert werden,
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damit wir die Erprobung innovativer Technologien und ihre Markteinführung fördern können. Also: Innovationen fördern? Machen wir.
Das im vergangenen Herbst vom Bundesverkehrsministerium ins Leben gerufene Zukunftsbündnis Schiene arbeitet schon mit sechs Arbeitsgruppen
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aus Politik, Wirtschaft und Verbänden an genau den Maßnahmen und konkreten Lösungsvorschlägen, die Sie von den Grünen in Ihrem Antrag fordern. Die Themen sind: Innovationen fördern, Lärmemissionen senken, Wettbewerbsfähigkeit auf der Schiene stärken, Kapazitäten ausbauen, Deutschland-Takt einführen und – seit diesem Monat – Fachkräftebedarf im Schienensektor decken. Also: Auch das machen wir.
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Auch den Deutschland-Takt – Sie haben es angesprochen – bringen wir bereits voran. Ziel ist es, ihn bis 2030 einzuführen, sogar mit Halbstundentakt auf den Hauptachsen, genau wie Sie das wünschen.
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Die konkreten Umsetzungsschritte erarbeitet gerade die Arbeitsgruppe. Also: Deutschland-Takt? Machen wir.
Wir haben im Bundesverkehrswegeplan 2030 schon berücksichtigt, dass die für den Deutschland-Takt notwendigen Ausbaumaßnahmen, für die der Bund zuständig ist, prioritär eingestuft werden, übrigens auch die wichtigen Korridore und Netzknoten, die Flaschenhälse in unserem Netz. Der Infrastrukturausbau soll sich zukünftig am Deutschland-Takt orientieren. Das ist ein Paradigmenwechsel; denn bisher wurde neue Infrastruktur gebaut und danach ein neuer Fahrplan mit der neuen Strecke entwickelt. Mit dem Deutschland-Takt gibt der Fahrplan nun vor, wo es notwendig ist, die Infrastruktur zu schaffen oder zu erweitern.
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Wir investieren aber nicht nur in Schienen bei der Bahn. Auch barrierefreie Bahnhöfe stehen im Fokus. Selbst das Personal beim Eisenbahn-Bundesamt stocken wir auf, wie Sie das fordern. Also: Machen wir.
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Sie sehen, meine Damen und Herren von den Grünen, mindestens die Hälfte Ihres Antrags können wir jetzt schon einstampfen; denn all das machen wir schon.
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Eigentlich müssten Sie sich doch jetzt freuen.
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Vorgestern sprach ich mit Herrn Görrissen vom Bundesverkehrsministerium. Ich erwähnte, dass ich heute rede. Da sagte er: Herr Donth, Sie können sagen, was Sie wollen; Herr Gastel wird wahrscheinlich nie damit zufrieden sein.
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Ich glaube, Herr Görrissen hatte absolut recht. Aber es ist ja auch nicht meine Aufgabe, Herrn Gastel zufriedenzustellen.
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Aber wir haben ja auch noch die andere Hälfte Ihres Antrags. Das ist ein buntes Wunschkonzert, mit dem ich Sie am liebsten für einen kurzen Realitätscheck zum Finanzminister oder zu seiner Staatssekretärin schicken würde. Aber das ist ja das Privileg der Opposition: Man kann alles fordern, man muss es ja nicht umsetzen und erst recht nicht finanzieren.
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Wir investieren aktuell in das Schienennetz mehr als je zuvor. In diesem Jahr sind es 10,7 Milliarden Euro. Wir würden – da darf ich für uns Verkehrspolitiker sprechen – sicher auch gerne noch mehr investieren; nur, irgendwoher muss das Geld dafür kommen.
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Ich habe gelesen, was Ihr Vorschlag dazu ist. Wir sollen das Geld aus dem Straßenverkehr ziehen und ab 2025 keine Fernstraßen mehr bauen – so steht es in Ihrem Antrag –, da diese ab dann überflüssig seien.
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Ich denke, die vielen Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, die gemäß Bundesverkehrswegeplan endlich eine Ortsumfahrung oder eine Entlastung ihres staugeplagten Alltags bekommen, halten diese Projekte für überhaupt nicht überflüssig.
Mich ärgert, dass Sie vor Ort, in den Wahlkreisen, anders reden als hier im Bundestag. Das ist scheinheilig. Ich kann das an einem ganz konkreten Beispiel aus meinem Wahlkreis belegen: der Albaufstieg im Zuge der B 312 in Lichtenstein, eine Straße, Gott sei Dank, im Vordringlichen Bedarf. Es wird bis 2025 aber wahrscheinlich noch nicht auf der Baustelle sein. Das ist ein Projekt, das von den lärm- und staugeplagten Anwohnern in Lichtenstein und den Auto- und Lkw-Fahrern von Biberach bis Stuttgart herbeigesehnt wird. Für dieses Projekt setzt sich Ihre und unsere Kollegin Beate Müller-Gemmeke – so sagt sie es zumindest den Menschen vor Ort – angeblich ein. Hier in Berlin trägt sie nun aber den Antrag mit, diese Straße nie zu bauen. Typisch grün halt!
Wie sollen sich in Ihrem Szenario auf Dauer die Menschen in meinem Wahlkreis, die beispielsweise in Römerstein, Zwiefalten, Walddorfhäslach oder Hohenstein wohnen, von A nach B bewegen?
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Stellen Sie sich vor, es gibt noch Menschen, die auf dem Lande leben, und es gibt, verteilt übers Land, viele Gewerbebetriebe, nicht nur in den Städten und den industriellen Zentren. Wie sollen die ihre Waren transportieren? Schienen in jedes Dorf gibt es nicht.
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Das, was Sie von den Grünen hier vorschlagen und beantragen, ist eine Politik gegen den ländlichen Raum. Das ist ganz sicher nicht unsere Politik. Deshalb werden wir das nicht zulassen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Donth. – Der nächste Redner ist der Kollege Wolfgang Wiehle, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Freiheit oder Sozialismus – das war ein Leitspruch in einem Bundestagswahlkampf.
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Lange ist es her. Jetzt stehen wir wieder vor dem Weg in die Planwirtschaft, und es ist wieder an der Zeit, den Wert der Freiheit hochzuhalten.
Unter dem Titel „Energiewende“ haben wir schon gelernt, wie es in diesem Lande möglich ist, die Preise innerhalb weniger Jahre drastisch nach oben zu treiben und gleichzeitig die Sicherheit der Versorgung aufs Spiel zu setzen.
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Jetzt also die Verkehrswende. Wird die freie Entscheidung des Bürgers, ob er für seine Wege das Auto oder die Bahn nimmt, nun durch eine Vorgabe eines grünen Nannystaates ersetzt? Die Überschrift des führenden Antrags dieser Debatte liest sich freundlich – „Framing“ nennt man das ja heute –: Die Bahn solle das Rückgrat dieser Verkehrswende sein.
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Der Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern soll dafür massiv verzerrt werden, indem der Fernstraßenbau bald eingestellt wird und die Steuern auf Kraftstoff massiv erhöht werden.
Wenn die Energiesteuer auf Diesel genauso hoch wird wie auf Benzin – zulasten des Transportgewerbes – und noch dazu nach den Plänen der Grünen eine CO 2 -Steuer erhoben wird, dann steigt der Dieselpreis auf einen Schlag um 30 Cent. Dann sind Sie, Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, bei Ihrem alten Ziel, 5 Mark pro Liter, schon fast angekommen.
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Für den Deutschland-Takt der Bahn wollen Sie beim Verkehrsministerium eine Art Zentralrat oder Politbüro schaffen. Zusammen mit dem gewollten Ende der Eigenwirtschaftlichkeit des Fernverkehrs ist das der Einstieg in die Planwirtschaft. Auf diese Weise werden die Verkehrsträger Straße und Schiene gegeneinander ausgespielt. So kann man doch keine vernünftige Verkehrspolitik machen.
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Richtig wäre es, Straße und Schiene optimal zu verknüpfen, damit jeder Verkehrsträger seine speziellen Stärken einbringen kann. Die Straße ist gut in der flexiblen Versorgung in der Fläche, die Bahn bei großen Verkehrsmengen oder langen Strecken. Kooperation der Verkehrsträger und Wettbewerb bei freier Entscheidung der Kunden, das muss die Lösung sein. So schafft man ein zukunftsfähiges Verkehrssystem – mit den Bürgern und nicht gegen sie. Wir wollen, dass die Bürger aus Überzeugung mit der Bahn fahren, wenn es für sie die bessere Entscheidung ist, aber nicht, weil sich die Bürger kein Auto leisten können oder weil sie nicht mehr durch die gewollten Staus kommen und sich deswegen mit der geballten Faust in der Tasche in einen überfüllten Waggon zwängen.
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Die Straße finanziert sich selbst über Maut und Steuern, die Bahn braucht staatliche Zuschüsse für die Infrastruktur.
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Damit die Bahn in guter Qualität fährt und die Straßen entlasten kann, muss der Staat dafür auch einstehen. Das ist Daseinsvorsorge. Wer aber die Straße schwächt, der ist kein guter Unterstützer der Bahn. Solche falschen grünen Freunde braucht die Deutsche Bahn ganz sicher nicht.
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Verehrte Kollegen von der Union, es bringt auch nichts, von der Freiheit zu reden, um am Ende doch die nächste Linkswende wieder mitzumachen. Die grüne Variante aus dem vorliegenden Antrag ist das Original dieser ideologischen Politik. Die Machbarkeit einer derartigen Verkehrswende wird romantisch verklärt. Folgen ihrer Durchsetzung wären ein Zusammenbruch der europäischen Industrie, hohe Arbeitslosigkeit und schwere Krisen in der Versorgung unserer Bevölkerung.
({8})
Meine Damen und Herren, die Zukunft unseres Landes darf nicht zum Spielball politischer Hasardeure werden.
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Unterstützen Sie deshalb den Antrag der AfD-Fraktion in den Ausschussberatungen und in der zweiten Lesung. Dieser Antrag steht für Freiheit statt Planwirtschaft.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Der Kollege Martin Burkert, SPD-Fraktion, die Kollegin Sabine Leidig, Die Linke, und der Kollege Florian Oßner, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden jeweils zu Protokoll gegeben.
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Als nächster Redner erhält der Kollege Dr. Christian Jung das Wort für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich vermisse den Abgeordneten Schnieder,
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weil wir vielleicht auch über die Bahn in Rheinland-Pfalz zu sprechen haben.
Um die Deutsche Bahn und das Bahnnetz in den kommenden Jahren zukunftssicher zu gestalten, brauchen wir in Deutschland eine tatsächlich funktionierende Eisenbahninfrastruktur. Aktuell haben wir als Freie Demokraten den Eindruck, dass die Finanzprobleme der Deutschen Bahn größer sein könnten, als bislang offiziell zugegeben wurde. Dabei geht es nicht nur um Stuttgart 21 und die DB Cargo, sondern ebenso um die laufende Sanierung der Schieneninfrastruktur und weitere finanzielle Herausforderungen. In den vergangenen Wochen und Tagen wurde beispielhaft an Rheinland-Pfalz und dem Mittelrheintal durch Unfälle und Brände deutlich, wie wichtig funktionierende Ausweichstrecken sind. Ich begrüße deshalb, dass gestern die rheinland-pfälzischen Landtags abgeordneten einstimmig eine baldige Verlagerung und Ausweichstrecken für den Güterzugverkehr im Mittelrheintal gefordert haben.
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Nun gilt es, mit einer Machbarkeitsstudie herauszufinden, ob mit einem Neubau oder mit der Optimierung von Bestandsstrecken eine Verlagerung der lauten Güterzüge möglich ist. Während die Abgeordneten in Mainz debattierten, war wegen einer Oberleitungsstörung die links rheinische Bahnstrecke zwischen Koblenz und Andernach am Donnerstag bis in den Nachmittag über Stunden komplett gesperrt.
Da die Union und insbesondere der Abgeordnetenkollege Schnieder trotz mehrfacher Anmahnung keinen eigenen Antrag zu Mittelrheintalbahn, einem Ausweichstreckenmanagement und der Lösung der Lärmschutzprobleme vor Ort gestellt haben, werden wir als Freie Demokraten dies nun selbst im März im Bundestag thematisieren.
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Ich vermisse in diesem Zusammenhang nicht nur bei der Union den Einsatz beim Thema Rheinvertiefung, um das Mittelrheintal zu entlasten und mehr Container und Güter auf dem Schiff zu transportieren.
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Auch für die Rheintalbahn zwischen Mannheim und Basel gibt es fast zwei Jahre nach der Tunnelhaverie von Rastatt 2017 keine funktionierenden Ausweichstrecken. Allein an diesem Beispiel zeigt sich, wie wichtig eine Trennung von Netz und Betrieb wäre.
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Für eine moderne Infrastruktur in Bezug auf die Bahn benötigen wir einen ganzheitlichen Ansatz. Das sektorenbezogene und eindimensionale Denken der Grünen hilft dabei nicht weiter.
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Sie sehen den Lkw, liebe Grüne, und den Straßenverkehr als das Hauptübel sowohl für den Verkehr als auch für das Klima an. Für die Stärkung der Bahn benötigt es dagegen aber Strategien und Visionen. Die Bundesregierung muss als Eigentümer der Bahn selbst klarstellen, wie sie strukturell, operativ und personell die Zukunft der Deutschen Bahn sieht. Es geht in diesem Zusammenhang um eine Kombination der einzelnen Verkehrsarten in Personen- und Güterverkehr. Die Bahnpolitik muss sich dabei grundlegend verändern. Es benötigt eine echte Marktliberalisierung, um eine wettbewerbsfähige Schieneninfrastruktur zu ermöglichen. Dabei spielt natürlich die Digitalisierung eine entscheidende Rolle, um mehr Züge hintereinander fahren zu lassen.
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Wir brauchen funktionierende Ausweichstrecken, die weitere Elektrifizierung von Bestandsstrecken, Bahnkurven und Weichen, aber auch ein neues Denken beim Notfallmanagement, damit die Sicherheit erhöht werden kann. Das ist notwendig, wie Unfälle in den letzten Tagen gezeigt haben.
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Auch der DB-Konzern muss auf den Prüfstand. Diskussionen über den Verkauf von Tochtergesellschaften und die Ausgliederung verschiedener Sparten dürfen kein Tabu sein.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Zum Abschluss muss ich noch eine Sache sagen.
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Nein, das können Sie nicht mehr. Ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen. Sie dürfen sich setzen.
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Herzlichen Dank für die Freundlichkeit.
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So bin ich. Das habe ich angekündigt, Herr Kollege.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt spricht zu uns die Kollegin Kirsten Lühmann, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die Bahnkonferenz der SPD-Bundestagsfraktion, unser Koalitionsvertrag, das Konzept der Gewerkschaft EVG und das Gutachten zur Mobilität, das die Grünen vorgestellt haben, zeigen uns eines: In diesem Haus herrscht ein erfreulicher Konsens darüber, dass die Bahn ein wesentlicher Faktor zur Erreichung unserer Klimaziele und für eine erfolgreiche Mobilitätswende ist.
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Vorreiter innerhalb des DB-Konzerns ist dabei der DB Fernverkehr, der schon jetzt mit nahezu 100 Prozent Ökostrom fährt. Andere Bereiche wie die Bahnhöfe steigern zunehmend ihren Anteil am grünen Strom in der Produktion. Daher ist es nun folgerichtig, dass wir sagen: Wir müssen mehr Verkehre auf die Schiene bringen. Wieder ist der DB Fernverkehr der Vorreiter. Wir haben inzwischen über 40 Milliarden Personenkilometer im Fernverkehr zu verzeichnen. Über 120 Millionen Menschen nutzen jedes Jahr die DB im Fernverkehr. Das ist ein Rekord, und zwar trotz der Bedingungen, die wir angesprochen haben, zum Beispiel trotz der zahlreichen Verspätungen. Das ist ein sehr gutes Zeichen.
({1})
Wenn wir aber den Schienenverkehr ausweiten wollen, dann brauchen wir mehr Trassen; denn wir kommen an die Grenzen dessen, was unser Schienennetz leisten kann. Wenn wir mehr Trassen bauen wollen – das wissen wir –, brauchen wir die Akzeptanz der Menschen, die in der Nähe der Trassen leben. Deshalb haben wir in der letzten Legislaturperiode hier in diesem Haus einen Antrag verabschiedet, der vorsieht, dass wir an den höchstbelasteten Strecken der transeuropäischen Netze, wenn es Bürgerbeteiligung gibt, darüber diskutieren, ob wir den Menschen an diesen Strecken Erleichterungen bei den Baumaßnahmen über das gesetzliche Maß hinaus verschaffen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt; denn sonst werden wir es nicht schaffen, die geplanten Bauprojekte zeitnah umzusetzen. Ich habe in diesem Haus immer wieder gehört: Die Bürgerbeteiligung bringt doch nichts. Die meisten sind doch nur dagegen und destruktiv und nicht konstruktiv. – Beispiele wie die Fehmarnbeltquerung, Alpha-E und die Projekte in Baden-Württemberg zeigen aber: Das genaue Gegenteil ist der Fall. Wenn wir die Menschen ernst nehmen und Geld in die Hand nehmen, um ihnen zum Beispiel unabhängige Wissenschaftler und Sachverständige zur Seite zu stellen, die sie in die Lage versetzen, auf Augenhöhe mitzudiskutieren, dann behindern die Betroffenen die Bauvorhaben nicht, sondern beschleunigen sie. Ich bin sicher, dass wir in diesem Jahr noch über den ersten Antrag dieser Art hier beraten werden. Wir müssen uns dann einig werden, was es uns wert ist, die Bürger zu beteiligen und die Verfahren zu beschleunigen.
({2})
Noch kurz zu den Anträgen, über die wir hier erstmalig beraten und im Ausschuss noch eingehender beraten werden.
Zum Antrag der Grünen. Sie fordern unter anderem, dass wir das, was wir als Koalition gemacht haben, um saubere Lkws zu fördern, nämlich eine Reduzierung der Maut für Gas-Lkws und eine völlige Freistellung von Elektro-Lkws – das haben wir gemacht, um sauber zu werden und unsere CO 2 -Ziele einzuhalten –, nur noch bei Lkws im Vor- und Nachlauf zum kombinierten Verkehr machen sollen. Liebe Grüne, wir möchten nicht das eine gegen das andere aufwiegen.
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Denn wir brauchen jeden Verkehrsträger. Wenn wir eine Maßnahme durchführen, um ökologischer zu werden – es ist völlig egal, ob auf der Straße, auf der Schiene oder auf der Wasserstraße –, dann ist das sinnvoll.
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Zum Antrag der AfD. Sie fordern mehr Transparenz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kenne nur wenig, was transparenter war als unser Bundesverkehrswegeplan. Damals waren Sie im Bundestag noch nicht vertreten.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. – Schauen Sie auf die Seite des Verkehrsministeriums. Da wird Ihnen genau erklärt, was Transparenz ist, welche Maßnahmen wichtiger sind als andere und warum wir sie durchführen. Sie hätten auch Herrn Pofalla im Ausschuss befragen können. Das haben Sie leider versäumt. Aber das können Sie noch nachholen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich möchte darauf hinweisen, dass nicht nur die Bahn pünktlicher werden muss, sondern vielleicht auch wir.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/7452, 19/7907 und 19/7941 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Verständnis, dass wir noch kurz zu dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung Stellung nehmen. Aber es ist nicht angebracht, dass nur von der Opposition, der AfD, dazu gesprochen wird.
In Kürze: Es geht um die dritte Änderung des Seearbeitsgesetzes. Inhaltlich geht es eigentlich nur darum, eine Zahl zu ändern. Der Bundeszuschuss, den wir für die Seemannsmissionen leisten und der im Moment eine halbe Million Euro beträgt, wird auf 1 Million Euro aufgestockt. Damit wollen wir den Beitrag leisten, den wir als Bundesregierung in unseren Augen leisten sollten. Die Seemannsmissionen werden von der evangelischen und der katholischen Kirche getragen. Nach dem Seearbeitsübereinkommen von 2006 war der Bund froh, dass er auf die Einrichtungen und Seemannsmissionen der Kirchen zurückgreifen konnte, um die Aufgabe, die im Rahmen des Seearbeitsübereinkommens auf Deutschland übertragen wurde, übernehmen zu können.
Es ist wert, zu erwähnen, welche Leistungen dort erbracht werden, insbesondere für die Seeleute, die nicht nur Tage, sondern Wochen unterwegs sind und die sicherlich mit vielen Schwierigkeiten gerade auch im familiären Bereich zu kämpfen haben. Dass die Seeleute soziale Einrichtungen haben, in denen sie aufgefangen werden, ist mehr als nötig und angemessen. Dass wir als Bund nach über zehn Jahren den Beitrag erhöhen, ist ebenfalls angemessen. Gleichzeitig wollen wir denjenigen Danke sagen, die nicht nur hauptamtlich, sondern vor allem ehrenamtlich tätig sind und dort Leistungen für die Seeleute erbringen.
({0})
Mit dieser Erhöhung leisten wir einen erheblichen Beitrag.
Damit möchte ich schließen. Ich bitte um Zustimmung.
Vielen Dank.
({1})
Herzlichen Dank, Herr Kollege Oellers. – Die Redner der Fraktionen von SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
Damit hat jetzt das Wort der Kollege Jürgen Pohl, AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kollegen! Der Grund, warum ich heute rede und die Sache nicht zu Protokoll gebe, ist, dass mir die Sache spanisch vorkommt.
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Zuerst habe ich gedacht, dass die lieben Großkoalitionäre in ihr kaltes soziales Herz doch die Seefahrer eingeschlossen hätten. Aber mittlerweile weiß ich es besser.
({1})
– Schauen Sie mal! – Der Reihe nach.
Erst im September letzten Jahres haben wir das Zweite Seerechtsänderungsgesetz beschlossen. Mit Wirkung zum 1. Januar 2019 wurde die Summe auf 500 000 Euro festgelegt. Der Text versprach den sozialen Einrichtungen also eine halbe Million Euro. So weit, so gut. Seeleute sind unter extrem harten Bedingungen unterwegs und sollen auf jeden Fall so viel Geld haben, dass sie in der Heimat Ruhe und Erholung finden. Nun aber staunen wir, dass wir drei Monate später das dritte Änderungsgesetz verabschieden und schnell die Summe um 100 Prozent auf 1 Million Euro erhöhen sollen. Jetzt frage ich mich natürlich: Warum haben Sie die Million nicht gleich im Zweiten Gesetz zur Änderung des Seearbeitsgesetzes, vor drei Monaten, vorgesehen?
({2})
– Das haben Sie nicht erklärt.
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Sie erklären es ja nicht mal in dieser minimalen Begründung.
Ich sage Ihnen: Sie meinen es nicht ehrlich mit den Seeleuten.
({4})
Das Problem ist doch Folgendes: Entweder kämpfen Sie um eine Effekthascherei – dass Sie zweimal 500 000 Euro einbringen und sagen wollen: bitte schön, wir haben ein großes Herz –, oder es ist – nun kommen wir zur wahrscheinlich wahren Motivation – ein simpler Taschenspielertrick: Erst stellen Sie 500 000 Euro bereit. Dann wird die Summe Knall auf Fall verdoppelt. Und was ist der nächste Schritt? Ich sage es Ihnen: Sie werden einen Antrag stellen, dieses Geld auch anderweitig verwenden zu können.
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Wir wissen noch nicht, wann Sie diesen Antrag stellen, und wir wissen noch nicht genau, welchen Inhalt dieser Antrag haben wird;
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aber ich bin sicher, dass dieser Antrag kommen wird, da ansonsten Ihre Handlungen keinerlei Sinn ergeben. Aus diesem Grund, weil Sie Ihren Schritt überhaupt nicht begründen
({7})
und weil wir vor drei Monaten genau an dieser Stelle schon anderes beschlossen haben, müssen wir als Oppositionspartei – als größte Oppositionspartei – gegen Ihren Antrag stimmen.
({8})
Aber weil wir ahnen, dass da noch was kommt, und wir nicht Politik auf dem Rücken der Seeleute machen wollen, werden wir uns bei diesem Antrag enthalten.
({9})
Wir werden aber ganz genau hinschauen, mit welchen Tricks Sie künftig auf dem Rücken der Seeleute Politik machen; das wollte ich Ihnen heute Abend noch sagen.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank. – Ich schließe damit, mit diesen Erkenntnissen, die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7764, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/7425 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
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Dann stelle ich fest, dass dieser Gesetzentwurf bei Enthaltung der Fraktionen der AfD und der FDP mit den Stimmen der übrigen Mitglieder des Hauses in zweiter Lesung angenommen worden ist.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann stelle ich fest, dass dieser Gesetzentwurf mit der gleichen Stimmverteilung – bei Enthaltung der AfD-Fraktion und der FDP-Fraktion, mit den Stimmen der übrigen Mitglieder des Hauses – auch in der dritten Lesung angenommen wurde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 22. Februar 2019, ein.
({1})
– Darf ich meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, dass die Kolleginnen und Kollegen doch noch so aufmerksam sind, mich darauf hinzuweisen, dass wir schon „heute“ haben? Also: Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute,
({2})
Freitag, den 22. Februar 2019, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Herzlichen Dank.
(Schluss: 1.03 Uhr)