Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/14/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind heute auf dem Weg zu einem wichtigen Gesetz gegen Kinderarmut in Deutschland: dem Starke-Familien-Gesetz. Der Präsident hat gerade den Langtitel vorgetragen; es sind 22 Wörter. Wir haben uns entschieden, das in der Kommunikation kurzzufassen und darüber zu sprechen, worum es geht: um starke Familien in Deutschland, die das Land spürbar stärker machen. Bei diesem Gesetzesvorhaben geht es um Kinder, die in Familien leben, in denen das Geld knapp ist. Wir haben 13 Millionen Kinder in Deutschland. Den meisten Kindern geht es gut; sie sind nicht abhängig von staatlichen Leistungen, nicht in schwieriger finanzieller Lage. Das ist die gute Nachricht. Aber 2 Millionen Kinder haben die Schwierigkeit, in Familien zu leben, in denen das Geld knapp ist, weil die Eltern Sozialleistungen beziehen oder weil sie geringe Einkommen haben, weil sie Verkäuferin, Handwerker, Friseurin sind – was auch immer –, weil, obwohl sie jeden Tag aufstehen und arbeiten gehen, das Geld am Ende des Monats trotzdem nicht reicht. Wir wollen mehr dafür tun, dass eben diese Kinder genau die gleichen Chancen haben, egal ob zu Hause viel Geld oder wenig Geld da ist. ({0}) Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung in den nächsten Jahren über 1 Milliarde Euro zusätzlich ausgeben wird, um aktiv etwas gegen Kinderarmut zu tun. Wir wollen, dass Eltern nicht deshalb arm werden, weil sie Kinder haben. Wir wollen, dass Kinder gut aufwachsen können. Deshalb werden wir zwei Dinge tun: den Kinderzuschlag neu gestalten und das Bildungs- und Teilhabepaket ausweiten. Eltern, die arbeiten und wenig verdienen, sollen zusätzlich zum Kindergeld den Kinderzuschlag bekommen. Dieser wird so erhöht, dass er das Existenzminimum eines jeden Kindes deckt, dass er den Bedarf eines jeden Kindes deckt, und er wird zusätzlich zum Kindergeld gezahlt. Damit geht einher, dass diejenigen, die den Kinderzuschlag bekommen, gleichzeitig auch von den Kitagebühren befreit werden – das haben wir im Gute-Kita-Gesetz geregelt – und sie Anspruch auf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket haben. Wir haben gemeinsam mit Hubertus Heil, dem Arbeits- und Sozialminister, diesen Gesetzentwurf eingebracht. Wir haben entschieden, dass das zusammengehört: Bildungs- und Teilhabepaket sowie die konkrete Leistung, die an die Familien geht. Zum verbesserten Bildungs- und Teilhabepaket gehört eben, dass für Familien, die Schwierigkeiten haben, in denen das Geld knapp ist, das Mittagessen in der Schule kostenfrei ist, dass der Eigenanteil bei der Schülerfahrkarte eben nicht mühsam ausgerechnet werden muss, ({1}) dass das Schulstarterpaket von 100 auf 150 Euro erhöht wird ({2}) und dass es endlich eine Lernförderung gibt, und zwar nicht erst dann, wenn das Kind versetzungsgefährdet ist – wie absurd ist das eigentlich? –, sondern dann, wenn das Kind es braucht, und dass diese Lernförderung auch kostenlos ist. ({3}) Es geht darum, dass wir die Alleinerziehenden unterstützen. Jede fünfte Familie in Deutschland ist alleinerziehend; das betrifft jedes fünfte Kind. Wir wollen, dass die Unterhaltsvorschussleistungen nicht mehr zu 100 Prozent angerechnet werden und damit Alleinerziehende vom Kinderzuschlag ausgeschlossen sind. Wir wollen, dass sie davon profitieren können. Wir werden den Kreis der Anspruchsberechtigten auf 2 Millionen Kinder erweitern, die den Kinderzuschlag erhalten können. Natürlich ist es wichtig, dass alle die, die einen Anspruch auf Kinderzuschlag haben, ihn auch tatsächlich in Anspruch nehmen. Wir wissen – ich bin mir sicher, das kommt gleich in der Debatte –, dass ihn noch nicht alle in Anspruch nehmen. Im Moment haben wir eine Abrufquote von 30 Prozent. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir auf die 100 Prozent kommen und dass alle die, die den Anspruch haben, ihn auch kennen und ihn geltend machen! Dafür müssen wir gut kommunizieren. Wir müssen den Leuten sagen: Ja, ihr habt das Recht, und ihr sollt diesen Antrag auch stellen können. ({4}) Der Antrag soll so ausgestaltet sein, dass er einfach auszufüllen ist, und wir wollen unbürokratisch damit umgehen. Deshalb überarbeiten wir ihn gerade. Er wird sprachlich vereinfacht, er wird technisch vereinfacht. Er wird so sein, dass ihn jeder ausfüllen kann. Wir werden den Antrag auf Kinderzuschlag digital möglich machen, sodass jeder auch vom Smartphone aus seine Leistung beantragen kann. Und wir werden es nicht mehr so machen, dass man ihn alle Nase lang, jeden Monat, wenn sich das Gehalt ein bisschen ändert, neu stellen muss, sondern dass die Leistung für sechs Monate verlässlich gewährt wird, ohne dass jemand zurückzahlen muss. Wir wollen die Abbruchkante abschaffen. Das heißt, wenn Eltern etwas mehr verdienen, dann soll es nicht so sein, dass sie gleich den Anspruch auf den Kinderzuschlag verlieren und sich sagen: „Lohnt sich das für mich überhaupt? Das tue ich mir nicht an“, sondern wir wollen, dass sie sagen: Ich beantrage das. Ich weiß, ich bekomme das verlässlich, und ich kann, auch wenn ich etwas mehr verdiene, damit rechnen, dass das nicht gleich alles weg ist, sondern dann eben stufenweise heruntergeht. ({5}) Für uns steht der Kinderzuschlag auch nicht im Widerspruch zu einer Kindergrundsicherung – ganz im Gegenteil. Die SPD sagt ganz klar: Wir machen das, was geht, Schritt für Schritt, und wir machen es realistisch. Wir bringen jetzt mit dem Starke-Familien-Gesetz eine ganz große Gesetzesänderung gegen Kinderarmut auf den Weg. Das ist der erste Schritt, die Grundlage für eine perspektivische Kindergrundsicherung. ({6}) Aber: Wenn man alle Leistungen neu gestalten, zusammenführen und vereinfachen will, dann geht das nicht von heute auf morgen. So realistisch müssen wir sein. Deshalb ist ganz klar: Wir machen jetzt das, was geht, was sofort, ab dem Sommer und ab dem nächsten Jahr den Familien zugutekommt; denn wir wollen, dass alle Kinder, die in Deutschland aufwachsen, ihren Weg machen können, dass jedes Kind es packt. Wir wollen als Sozialstaat das tun, was nötig ist, damit die Menschen ermächtigt werden, für sich selbst zu stehen, frei und selbstbestimmt zu leben, damit alle Kinder, die hier groß werden, eine gute Zukunft haben. Vielen herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Martin Reichardt, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe SPD, ich freue mich, dass Sie mir heute die Gelegenheit geben, den Menschen im Lande aufzuzeigen, wie es um die SPD bestellt ist. ({0}) Sie bieten mir die Gelegenheit, Ihr in den letzten Wochen beschlossenes Sozialstaatspapier und auch das Starke-Familien-Gesetz mit der Realität abzugleichen. Schlechte Zeiten für die SPD! Denn die Familien haben schon erkannt, dass sie die Hoffnung aufgeben können, von der SPD eine Wende zum Guten zu erwarten. ({1}) Familien leben nicht von durchsichtigen populistischen Versprechungen und auch nicht von Gesetzen, die Mogelpackungen sind. ({2}) Das Starke-Familien-Gesetz ist nun der angekündigte große Wurf – einer der zahllosen der Sozialdemokratie – für Familien. Wir müssen leider wieder sagen: Es ist eine Mogelpackung. Bisher sind – wie gesagt – nur 30 Prozent aller Anspruchsberechtigten auch in der Lage, ihren Anspruch wahrzunehmen. Einer der Gründe dafür: der hohe bürokratische Aufwand. ({3}) Dies sollte mit dem Starke-Familien-Gesetz geändert werden; das hat Frau Ministerin Giffey auch definiert. Was ein großer Wurf für die SPD ist, zeigen einschlägige Anfragen: Tatsächlich geht man von einer Steigerung um 5 Prozentpunkte im ersten Umlauf aus. Das ist Realpolitik der Sozialdemokratie! Das ist die Politik, die Sie unter die 5-Prozent-Hürde führen wird, meine Damen und Herren! ({4}) Mit der letzten vorgestellten Reform von Hartz IV wollen Sie offensichtlich für Ihre Parteifunktionäre den Weg in die Arbeitslosigkeit ebnen. Das muss hier festgestellt werden. ({5}) Alleinerziehende profitieren – damit bewegen wir uns im Rahmen dessen, was auch die entsprechenden Verbände sagen – wenig bis gar nicht von der Reform des Kinderzuschlags. Auch hier wurde das Versprechen der SPD nicht eingelöst. Alleinerziehende sind überwiegend Frauen. Frauen schaffen das! Ja, Frauen müssen unter der SPD auch viel schaffen; denn sie kämpfen allein gegen wirtschaftliche Not. Leider haben Sie, Frau Giffey, es nicht geschafft, diesen starken Frauen auch ein starkes Gesetz zur Unterstützung an die Seite zu stellen. Das wäre Ihre Pflicht gewesen. ({6}) Die AfD begrüßt ausdrücklich das freie Schulessen, die Abschaffung des Eigenanteils bei der Schülerbeförderung im Rahmen der Bildungs- und Teilhabepakete. ({7}) Aber auch bei diesen Paketen klafft zwischen der Zahl der Anspruchsberechtigten und der Zahl der Leistungsbezieher eine erhebliche Lücke. Auch dieses Starke-Familien-Gesetz, das mit „stark“ falsch betitelt ist, wird daran nichts ändern. Für deutsche Familien ({8}) – ja, für deutsche Familien – ist die Teilhabe an diesen Dingen nämlich mit einem hohen Maß an Bürokratie verbunden. Anders sieht diese Teilhabe für diejenigen Menschen aus, die Sie seit 2015 in Deutschland willkommen heißen. Deutsche Familien werden nämlich nicht bei der Ausfüllung der Formulare unterstützt. ({9}) Das zeigt sich auch in den einschlägigen Zahlen: Die Zahlen bezüglich der Leistungen, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bewilligt werden, sind deutlich höher als die, die nach dem entsprechenden Sozialgesetzbuch bewilligt werden. ({10}) Das muss hier festgestellt werden. Das betrifft die Schulausflüge, das betrifft die Lernförderung, das betrifft alle Dinge in diesem Bereich. Hier sieht man ganz deutlich, wen die SPD in Deutschland fördert: Es sind nicht die schon länger hier Lebenden, meine Damen und Herren. ({11}) Eine bessere Zukunft für deutsche Familien und schon länger hier lebende ausländische Familien gibt es nicht mit dieser Regierung, gibt es nicht mit der SPD und gibt es leider auch nicht mit Ihnen, Frau Ministerin. Ihre Amtszeit ist leider geprägt von Mogelpackungen: Das Gute-Kita-Gesetz macht keine guten Kitas. Das Familienentlastungsgesetz entlastet die Familien nicht in hinreichendem Umfang. Das Starke-Familien-Gesetz stärkt die Familien nicht hinreichend. ({12}) Frau Ministerin, ich muss Sie und die SPD leider zum Verdachtsfall für Mogelpackungen erklären. Vielen Dank. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Dieses Gesetz ist eine der großen familienpolitischen Maßnahmen in dieser Legislaturperiode. ({0}) Völlig gleich, ob man es nun Starke-Familien-Gesetz oder Familienstärkungsgesetz nennt oder den Langtitel wählt – wie der Name schon sagt: Wir wollen Familien stärken. Welche Familien wollen wir mit diesem Gesetz stärken? Zum einen Familien mit Kindern, die arbeiten und bei denen das Geld kaum reicht, um über die Runden zu kommen, zum Zweiten Alleinerziehende und zum Dritten Familien, die Geringverdiener sind oder Sozialleistungen beziehen und die ihren Kindern mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen wollen. Darüber hinaus hat das Gesetz zum Ziel, Abläufe und Verfahren zu vereinfachen und damit Bürger, Behörden und Einrichtungen von Bürokratie zu entlasten. Zu allen vier Zielen möchte ich einige Sätze aus Sicht der Unionsfraktion sagen. Zum Ersten. Wir wollen die Situation von Familien verbessern, in denen das Einkommen der Eltern nicht für den Lebensunterhalt der ganzen Familie reicht. Das sind Geringverdiener wie Friseurin, Koch, Reinigungskraft oder vielleicht der Türsteher. Der Kinderzuschlag sorgt dafür, dass diese Familien nicht aufstocken müssen oder nicht gleich sagen: Ich gehe in den Leistungsbezug; denn arbeiten lohnt sich für mich nicht. – Als Union wollen wir Arbeit fördern und nicht Arbeitslosigkeit. Deshalb gilt es, gerade Geringverdiener mit Kindern besonders zu unterstützen. ({1}) Deshalb erhöhen wir den Kinderzuschlag, und zwar deutlich von derzeit 170 Euro auf 185 Euro pro Monat. Außerdem wird er künftig angepasst an das Existenzminimum steigen. ({2}) Künftig bleibt – das war uns als Union besonders wichtig – mehr vom Kinderzuschlag übrig, wenn das Einkommen der Eltern steigt. Bisher war ab einer gewissen Grenze Schluss, der Kinderzuschlag fiel komplett weg. Das war die sogenannte harte Abbruchkante. Diese schaffen wir ab und lassen den Kinderzuschlag stattdessen bei steigendem Einkommen langsam auslaufen. Wer mehr arbeitet, der soll auch mehr in der Tasche haben – diesem Grundsatz tragen wir damit Rechnung. ({3}) Leistung muss sich lohnen – das ist auch der Grundsatz bei einem weiteren Punkt: Verdient nämlich ein Kind, das Unterhalt oder Unterhaltsvorschuss bekommt, durch einen Ferienjob, durch Kellnern oder indem es anderen Nachhilfeunterricht gibt, etwas hinzu, dann wird das, was das Kind verdient, den Eltern bisher voll angerechnet. „Das ist doch ungerecht“, haben viele junge Leute gesagt; denn sie wollen ja das, was sie sich mit dem Zeitungaustragen verdienen, auch für sich behalten, das soll ja sozusagen on top kommen. Auch hier sagen wir: Leistung muss sich lohnen. Deshalb wird zukünftig nur noch die Hälfte angerechnet, die Kinder werden also wirklich etwas von ihrem Verdienst haben. ({4}) Schließlich soll der Kinderzuschlag einfacher zu beantragen sein, online und für sechs Monate statt bisher nur für einen Monat. Das macht den Kinderzuschlag attraktiver. Für mich ist es ein Unding, dass es eine staatliche Leistung gibt, die gerade nur von einem Drittel der Anspruchsberechtigten in Anspruch genommen wird. Wir müssen die Antragstellung für diese Leistung vereinfachen. Wir müssen besser werden, damit mehr Kinder, mehr Familien in den Genuss des Kinderzuschlags kommen. ({5}) Die zweite Gruppe, die wir stärken wollen, sind Alleinerziehende. Viele sagen: Jetzt arbeite ich schon, kümmere mich um die Kinder und habe trotzdem kaum mehr als jemand, der nicht arbeitet. – Gerade für Alleinerziehende ist es ein tagtäglicher Spagat, das Kind oder die Kinder, die Familie zu organisieren, den Job und das ganze Leben zu managen. Dann noch jeden Euro umdrehen zu müssen, das ist eine große Herausforderung für viele Alleinerziehende. Deshalb verbessern wir auch für sie die Situation. Sie sollen den Kinderzuschlag künftig auch dann erhalten, wenn sie für ihre Kinder Unterhalt oder Unterhaltsvorschuss bekommen. Das ist richtig und ein wichtiger Baustein im Kampf gegen das Armutsrisiko von Alleinerziehenden und damit auch von ihren Kindern sowie gegen Altersarmut von Frauen insgesamt. Die dritte Gruppe, die wir unterstützen wollen, sind Familien, die Kinderzuschlag, Wohngeld oder Leistungen nach dem SGB II beziehen und die ihren Kindern mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen wollen. Schon bisher konnten sie ihr Kind in einem Verein oder in der Musikschule anmelden und bekamen dafür vom Staat einen Zuschuss in Höhe von 10 Euro. Wir wissen: Mit 10 Euro kommt man manchmal nicht besonders weit. Deshalb hat die Union gesagt: Wir wollen diesen Zuschuss erhöhen. Künftig soll man bis zu 15 Euro für Vereinsmitgliedschaften, für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geltend machen können. Wenn die AfD jetzt den Eindruck erwecken möchte, dass ein Unterschied gemacht wird zwischen Menschen, die schon länger oder erst seit 2015 in unserem Land leben, sage ich ganz deutlich: Das ist totaler Quatsch. Alle haben den gleichen Anspruch auf das Bildungs- und Teilhabepaket, und das ist auch richtig so. ({6}) All diese Maßnahmen sind aus Sicht der Union richtig und wichtig. Sie bilden auch den richtigen Ansatz im Kampf gegen Kinderarmut. Wir wollen Arbeit finanzieren und nicht Arbeitslosigkeit. Wir wollen Menschen stärken, auf eigenen Beinen zu stehen und zusammen mit ihren Kindern einen geregelten Tagesablauf zu haben. Vor allem wollen wir Kindern Chancen eröffnen. Das ist das beste Mittel gegen Armut und gegen Altersarmut. Deshalb unterstützen wir diesen Gesetzentwurf voller Überzeugung in der ersten Lesung und freuen uns auf die Beratung im Ausschuss. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Grigorios Aggelidis, FDP. ({0})

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Ministerin, Sie haben gleich zu Beginn Ihrer Rede gezeigt, worum es zuallererst geht: Es geht zuallererst um Kommunikation. Deswegen heißt dieses Gesetz auch so, wie es heißt. Der Kinderschutzbund hat völlig Recht, wenn er sagt, der richtige Name wäre Starke-Bürokratie-Gesetz und Ihre Namensgebung sei eigentlich nichts anderes als Realsatire. Da hat er absolut recht. ({0}) Bei einem Ihrer Auftritte – dort hatten Sie die Einstiegsrede gehalten – habe ich einen Eindruck davon gewinnen können, warum das so ist. Dort haben Sie gesagt: Ja, wir müssen den Gesetzen solch schlichte Namen geben – ich sage jetzt „schlicht“; Sie sagen „schön“ oder „einfach“ –, damit auch die Menschen in Dortmund verstehen, was hinter den Gesetzen steht. – Ich persönlich habe das als eine unglaubliche Anmaßung und Frechheit empfunden ({1}) gegenüber den Menschen, die dort leben, bzw. Menschen, die in Arbeitervierteln groß geworden sind. Ich bin in solch einem Viertel groß geworden. Wir können das verstehen. Das kann ich Ihnen versichern. ({2}) Jetzt kommen wir zu dem Gesetzentwurf. Ja, Sie wollen das Richtige. Ja, Sie wollen Familien stärken. Denn Chancengerechtigkeit für Familien und Chancengerechtigkeit für Kinder sind trotz des vielen Geldes, das wir zahlen, nicht gegeben. Nur 30 Prozent derjenigen, die Geld bekommen sollen, bekommen es auch. Gemäß der Antwort auf unsere Anfrage soll dieses Gesetz dazu führen, dass aus 30 Prozent jetzt 35 Prozent werden. Ich sage: Das ist ja ein richtig großer Wurf. ({3}) Schauen wir uns einmal den Hauptgrund an. Der Hauptgrund ist, dass es mehr oder weniger alle sechs Monate – lassen wir jetzt einmal Veränderungen, die zwischen diesen Zeiten passieren, außen vor – neu beantragt werden muss. Es gibt immer noch eine Stichtagsregelung, und es gibt immer noch einen zu komplizierten Antrag. Sie haben bei den Abbruchkanten etwas gemacht, aber die ungerechten Anrechnungen, die es gibt und die die Alleinerziehenden zu Recht nach wie vor sehen, haben Sie nicht abgeschafft. Ganz im Gegenteil: Sie reden davon, Frau Schön, dass Sie den Jugendlichen ihr Geld lassen, das sie zum Beispiel bei einem Ferienjob verdienen. Gestatten Sie mir den Hinweis: Der Freibetrag beim Kindeseinkommen soll 100 Euro im Monat betragen, und jeder Euro, der darüber hinausgeht, soll angerechnet werden. Das ist nicht das, was wir unter Motivation für die Jugendlichen verstehen. Gerecht ist es erst recht nicht. ({4}) Ein ganz wesentlicher Punkt ist: Sie belassen es immer noch bei der Koppelung, zumindest laut dem Referentenentwurf, der mir vorliegt. Der Kollege von der SPD hat ja bereits in einem Interview gesagt: Nein, das alles wird noch verändert. – Sie lassen immer noch zu, dass es eine ganz klare Koppelung zwischen den Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket und anderen Sozialleistungen gibt. Auch das finden wir nicht zielführend. Auch das finden wir ungerecht. Das gehört entkoppelt. Materielle Existenzsicherung ist das eine, aber Chancengerechtigkeit für Kinder ist etwas völlig anderes. Da müssen wir gerechter und fairer werden. ({5}) Das ist auch genau die Richtung, die wir im Endeffekt mit unserem Antrag verfolgen. Wir wollen die Entkoppelung genau dieses Sachverhalts. Wir wollen, dass ein starkes Augenmerk – da müssen wir als Haus und als Parlamentarier großzügiger sein – auf das Thema Chancenaufbau gelegt wird. Wir wollen die Bürokratie deutlich abbauen. Wir wollen im ersten Schritt den Wegfall dieser Regelung mit den sechs Monaten. BAföG wird für ein Jahr bewilligt. Ihre Heil-Rente soll ohne jegliche Bedürftigkeitsprüfung gezahlt werden. Aber die Familien sollen alle sechs Monate ihre Bedürftigkeit nachweisen. Das finden wir zutiefst ungerecht. ({6}) In Ihrem Referentenentwurf ist immer noch diese Stichtagsregelung vorgesehen. Das bedeutet: Ist der Stichtag vorbei, kann man nicht einmal einen Monat zurückgehen und sagen, dass man erst jetzt festgestellt hat, also am Monatsersten oder Monatszweiten, dass man unter die Grenzen fällt. Auch das ist feindlich gegenüber den Familien. Auch das wollen wir abschaffen. Zur Vereinfachung der Anträge habe ich schon einiges gesagt. Mit unseren Maßnahmen als ersten Schritten in die richtige Richtung wollen wir den Familien den automatischen Zugang erleichtern, damit es nicht nur 35 Prozent werden. Wie wäre es, wenn wir ambitioniert sagen, dass wir spätestens zum Ende der Legislaturperiode auf mindestens drei Viertel kommen wollen? Eigentlich müssen 100 Prozent das Ziel sein. Dafür arbeiten wir. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der Linken, Dr. Dietmar Bartsch. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mich freut sehr, dass sich die Sozialdemokratie dem im Grundgesetz festgeschriebenen Auftrag des Sozialstaates wieder widmet. ({0}) Das macht Hoffnung auf einen Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik. Es scheint sich offensichtlich etwas zu bewegen, wenn auch bisher nur verbal. Soziale Themen sollen wieder im Mittelpunkt stehen. Das ist sehr vernünftig. Aber es sind natürlich Taten gefragt. Handeln, nicht reden! Denn nur so lässt sich Glaubwürdigkeit herstellen. ({1}) Deshalb müssen wir den vorliegenden Gesetzentwurf natürlich auch unter diesem Gesichtspunkt bewerten. Ich will zunächst einmal festhalten, dass wir offensichtlich ein schwerwiegendes Problem haben. Dieses Problem ist nicht vom Himmel gefallen. Dazu gehört, dass seit dem Jahre 2005 die Bundeskanzlerin Angela Merkel heißt. Sie trägt für den jetzigen Zustand natürlich wesentlich Verantwortung. Wir haben keine Chancengleichheit für Kinder in Deutschland. Wir haben ein Problem mit Kinderarmut, das nicht gelöst wird. Die Zahl der betroffenen Kinder ist in den letzten Jahren sogar gestiegen. Der Kinderschutzbund spricht von über 4 Millionen Kindern, die arm sind oder von Armut bedroht sind. Aber jedes Kind muss uns gleich viel wert sein. ({2}) Jedes Kind muss die Chancen haben, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten in unserem Land zu entwickeln. Das ist unsere hoffentlich gemeinsame Verantwortung; dies müssen wir angehen. ({3}) Jetzt zur Sache selbst. Erst einmal – wie immer – zum Positiven. Lyrik beherrschen Sie ausgesprochen gut. Es ist wunderbar geschrieben. Starke-Familien-Gesetz – das klingt gut. ({4}) Um es klar zu sagen: Starke Familien brauchen keinen starken Gesetzestitel, sondern sie brauchen ein starkes und ein einfaches Hilfesystem. ({5}) Entscheidend ist doch, was dahintersteckt. Sie behaupten, dass Sie mit diesem Gesetz Familien entlasten und Kindern aus der Armut helfen wollen. Ich will ganz klar sagen: Ja, es gibt einige Verbesserungen. ({6}) Der Kinderzuschlag wird erhöht. Die harte Abbruchkante ist weg. Die Übernahme der Kosten für Klassenfahrten, für das Schulessen usw. wird vereinfacht. ({7}) Aber der Kern ist doch – das sagen auch Sie in Ihrer Rede –: Das Bildungs- und Teilhabepaket soll gestärkt werden. Ich will daran erinnern, dass das Bildungs- und Teilhabepaket nach der Rüge des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 2011 eingeführt wurde. Es wurde von der schwarz-gelben Regierung beschlossen, um die Erhöhung der Regelsätze für Hartz IV zu verhindern. Das war damals die Ursache. Aber – das muss man ganz klar sagen – das Bildungs- und Teilhabepaket ist vielfach gescheitert. Ich will nur eine Zahl nennen: Im Saarland – das ist das Heimatland der heutigen CDU-Vorsitzenden, die dort jahrelang Ministerpräsidentin war – nehmen nur 7  Prozent der leistungsberechtigten Kinder das Bildungs- und Teilhabepaket in Anspruch. Das ist doch skandalös, meine Damen und Herren. 7 Prozent! 93 Prozent nicht! Das ist unfassbar. ({8}) Aber in diesem Geiste bewegt sich das Gesetz. Das ist doch das Problem. Daran zeigt sich, dass Ihr Schwerpunkt eben nicht auf genereller Teilhabe liegt. Das ist ein grandioser Fehler. Das Bildungs- und Teilhabepaket war seit 2011 im Kern ein Flop, weil die bürokratischen Hürden von Anfang an zu hoch waren und weil viele Bedürftige die Mittel gar nicht abgerufen haben. ({9}) Und jetzt packen Sie noch mehr Bürokratie drauf und denken aus irgendwelchen für mich überhaupt nicht nachvollziehbaren Gründen, dass es diesmal besser wird. Das ist doch grotesk, meine Damen und Herren. ({10}) Ich will nur ein Beispiel nennen: Die Zahl derer, die ein kostenloses Mittagessen in Anspruch nehmen, ist rückläufig. Was sagt Ihnen denn das? Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, hat Ihr Gesetz als „Starke-Bürokratie-Gesetz“ bezeichnet. Das ist wahr, meine Damen und Herren; der Mann hat absolut recht. ({11}) – Er hat es gelesen. – Das verstehen nicht mal die, die es bearbeiten müssen; das ist doch das Problem. Ich würde gerne mal Frau Giffey sehen, ob sie, wenn sie das ausfüllen soll, das in einer Stunde schafft. Ich behaupte, sie würde daran scheitern. ({12}) Das ist die Sachlage. Es ist eben nicht eine Vereinfachung. Selbst die Verbesserungen haben einen faden Beigeschmack. Der Kinderzuschlag ist doch an sich schon ein Offenbarungseid; denn er zeigt, dass die Löhne viel zu gering sind. Das ist doch der Kern. Die Löhne sind viel zu gering. ({13}) Und die Erhöhung kommt doch gar nicht an. Die Zahl von 30 Prozent, die Sie hier genannt haben, ist ein Offenbarungseid. Was ist denn das für ein ambitioniertes Ziel, wenn Sie die um 5 Prozent punkte steigern wollen? Das ist doch gar nichts. Da muss man doch anders rangehen. Das ist doch die eigentliche Aufgabe. ({14}) Insgesamt belaufen sich die Erhöhungen auf circa 50 bis 70 Euro pro Familie. Natürlich ist das viel Geld. Aber das bringt wirklich keine Familie und keine Kinder aus der Armut raus. Wenn Sie das jetzt als Prestigeprojekt dieser Legislatur gegen Kinderarmut verkaufen wollen, dann muss ich wirklich sagen: Setzen, sechs. Das ist nun wirklich zu wenig. Das ist ein Schrittchen. ({15}) – Zur Finanzierung komme ich gleich, Frau Schön; kleinen Moment noch. – Wenn Sie etwas gegen Kinderarmut machen wollen, dann erhöhen Sie als Erstes die Regelsätze, damit das soziokulturelle Existenzminimum in bedarfsdeckender Höhe abgesichert wird, meine Damen und Herren. ({16}) Letztlich: Verzetteln Sie sich nicht im Klein-Klein. Gehen Sie einen großen Schritt nach vorn. Führen Sie eine Kindergrundsicherung ein. ({17}) Bekennen Sie sich zumindest dazu, dass Sie das machen wollen. Holen Sie die Kinder aus dem Hartz-IV-System raus. Kinder sind keine kleinen Arbeitslosen. Wir brauchen einen Systemwandel hin zu den Kindern. Wir dürfen nicht bei den Eltern stehen bleiben. Abschließend noch ein Wort zur Finanzierung, Frau Schön, weil Sie reingerufen haben. Hören Sie doch auf, zu behaupten, dass das nicht finanzierbar ist. Loben Sie sich doch nicht für 1 Milliarde Euro. Wir hatten im letzten Jahr einen Haushaltsüberschuss von 11,2 Milliarden Euro. Wenn es um das von der NATO vorgegebene 2-Prozent-Ziel geht, dann sagen Sie sofort Ja. Kein Mensch fragt da nach der Finanzierung. Das ist doch absurd. Setzen Sie doch mal andere Prioritäten. ({18}) Statt Rüstung und Panzern Kinder, das wäre mal was Vernünftiges. Das alles hier ist nur ein Schrittchen. Wir brauchen mehr und konsequentere Schritte. Dazu fordere ich Sie auf. Herzlichen Dank. ({19})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Katja Dörner von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir beraten leider den nächsten Gesetzentwurf aus dem Hause Giffey, in dem nicht drinsteckt, was draufsteht. Wer starke Familien will, wer Familien stark machen will, der muss alle Familien stark machen und der muss besonders die Familien stark machen, die das wirklich brauchen. ({0}) Dieser Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, zeigt leider, dass sich arme Familien, dass sich arme Kinder bei dieser Bundesregierung weiter hinten anstellen müssen. Er zeigt, dass die Bekämpfung von Kinderarmut gerade nicht im Vordergrund steht. Deshalb hält dieser Gesetzentwurf nicht, was der Titel verspricht, und das ist leider schlecht. ({1}) Mit diesem Gesetzentwurf werden die zentralen Webfehler, die wir in unserer Familienförderung haben und die dazu führen, dass gerade bei den armen Kindern am wenigsten von der Familienförderung ankommt, gerade nicht beseitigt. ({2}) Deshalb sind die vorgeschlagenen Reformen trotz der unstrittigen Verbesserungen bei weitem nicht genug. Auch ich will das am Kinderzuschlag deutlich machen: Der Kinderzuschlag ist ein sehr zielgenaues Instrument, um Kinderarmut zu bekämpfen. Selbstverständlich ist es gut – das ist auch schon gesagt worden –, dass der Kinderzuschlag erhöht wird und dass die harte Abbruchkante abgeschafft wird. ({3}) Jetzt kommt das große Aber: Heute nehmen aber nur 30 Prozent der Familien, die einen Anspruch auf den Kinderzuschlag haben, diesen Kinderzuschlag in Anspruch. Das bedeutet, dass 70 Prozent der Familien, die einen Anspruch hätten und die diesen Kinderzuschlag unbedingt bräuchten, in verdeckter Armut leben. Das kann aus unserer Sicht nicht so bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Es ist eben auch schon gesagt worden: Die Inanspruchnahmequote soll von 30 Prozent auf 35 Prozent angehoben werden. Frau Giffey hat das eben so dargestellt, als wäre das eine großartige Sache. Eine Erhöhung von 30 auf 35 Prozent bedeutet: 65 Prozent der Familien, die einen Anspruch haben, werden den Kinderzuschlag nicht in Anspruch nehmen und in verdeckter Armut leben, und deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir mit diesem Gesetzentwurf nicht zufrieden sein. ({5}) Wir als Grüne sagen ganz klar: Der Kinderzuschlag muss automatisch ausgezahlt werden. ({6}) Alle, die den Kinderzuschlag brauchen, müssen den Kinderzuschlag auch bekommen. Das ist konkrete Bekämpfung von Kinderarmut. Das ist aus unserer Sicht auch ein erster Schritt in Richtung einer Kindergrundsicherung, die für uns Grüne ein sehr wichtiges Anliegen ist. ({7}) Ich will abschließend noch an die Adresse der SPD sagen: Ich freue mich wirklich, dass die SPD an einem Konzept für eine Kindergrundsicherung arbeitet. Ich würde mir wünschen, dass auch die Union bei diesem Thema endlich mal in die Pötte kommt. Aber, liebe SPD, groß eine Kindergrundsicherung in den Raum stellen und die automatische Auszahlung des Kinderzuschlags nicht hinbekommen, das ist wirklich schwach gegenüber dem, was wir Grünen in den Jamaika-Sondierungen gegen Union und FDP hinbekommen haben. ({8}) – Das kann ich Ihnen nicht ersparen, liebe Kollegin von der SPD. – Vielleicht schaffen wir es ja im parlamentarischen Verfahren, den Gesetzentwurf dahin gehend zu verbessern, dass wir eine automatische Auszahlung des Kinderzuschlags bekommen. Für die armen Familien, für die armen Kinder in diesem Land wäre das sehr gut. Deshalb sollten wir uns in diese Richtung bewegen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt, SPD. ({0})

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Manch einer mag es mitbekommen haben: Die SPD hat am Wochenende ihre Vorstellungen für einen modernen Sozialstaat beschlossen. Wir haben klare Vorstellungen davon, dass wir einen Kulturwandel im Sozialstaat brauchen, dass der Sozialstaat als Partner auftreten muss, damit man einfach und transparent die Unterstützung bekommt, die man braucht, um sein Leben selbstständig und selbstbestimmt zu meistern. ({0}) Vieles weist in die Zukunft. Wir sind bereits dabei, uns mit großen Schritten auf den Weg zu machen. Das Starke-Familien-Gesetz ist ein zentraler Beitrag dafür. ({1}) – Es gibt halt einen Unterschied zwischen denjenigen, die glauben, dass es einen sozialen Rechtsstaat gibt, in dem die Menschen soziale Rechte haben und deswegen etwas erhalten, und denjenigen, die glauben, dass wir Almosen verteilen. ({2}) Wir haben uns gerade auf die Seite des sozialen Rechtsstaats geschlagen. Was leitet uns in dieser Frage immer noch? Sind die Chancen, die ein Kind in Deutschland hat, abhängig davon, wie viel Geld die Eltern verdienen oder wo es groß wird? Wir wollen, dass jedes Kind die bestmöglichen Chancen erhält. Für viele reicht das Einkommen gerade so, wenn sie nur sich selbst oder sich zu zweit versorgen müssen. Wenn man sich aber Kinder wünscht, dann werden diese zum Armutsrisiko. Wir wollen, dass niemand wegen seiner Kinder arm werden muss. ({3}) Wer alleine Kinder großzieht, hat es in unserer Gesellschaft besonders schwer. Wohnen die Großeltern nicht um die Ecke oder arbeiten vielleicht selber noch, dann muss man sich ganz schön durchs Leben kämpfen. In Deutschland ist schon das stinknormale Familienleben oftmals kompliziert und anstrengend zu organisieren; aber wehe, es kommen noch Krisen oder Schicksalsschläge dazu. Das wollen wir ändern. Wir wollen das Leben leichter und die Sorgen geringer machen. Auch dazu ist dieses Gesetz ein großer Beitrag. ({4}) Wir haben an diesem Wochenende auch eine Kindergrundsicherung beschlossen. Wir schaffen mit dem Gesetz nicht nur eine gute Grundlage – die Ministerin hat es gesagt –, sondern wir gehen auch einen ersten großen Schritt. Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, Menschen, die für geringes Geld arbeiten, die Kinder alleine großziehen, lieben ihre Kinder genauso wie alle anderen, und sie wollen für ihre Kinder genauso das Allerbeste wie alle anderen auch. Es ist für sie aber deutlich schwieriger, das zu erreichen. Kinder aus Familien mit geringem Einkommen sind nicht dümmer; sie werden aber öfter unterschätzt und bekommen die Nachhilfe meist nicht von den Eltern am Küchentisch. Sie sind besonders von Ausgrenzung betroffen, haben öfter gesundheitliche Probleme. Kurz gesagt: Kinder aus armen Familien haben es schwerer als andere Kinder. Deswegen bringen wir heute ein wichtiges Gesetz für mehr Gerechtigkeit und für mehr Chancengleichheit ein, und ich bin darauf stolz. ({5}) Unsere Kindergrundsicherung hat zwei Säulen. Die erste Säule bildet das Einkommen einer Familie, um Kinder gut großzuziehen. Dazu gehört eine eigenständige Absicherung der Kinder. Die zweite Säule bilden ein gutes und gerechtes Bildungssystem und außerschulische Angebote, die alle Kinder gleichermaßen und gemeinsam nutzen können: bei Sport, Kunst, Kultur, Musik. Die erste Säule stärken wir bereits jetzt durch die Neugestaltung des Kinderzuschlags. Und wir stärken die erste und die zweite Säule durch die deutlichen Verbesserungen beim Bildungs- und Teilhabepaket. Wir erhöhen das Schulstarterpaket – sprich: das Geld, das Schülerinnen und Schüler für Schulsachen bekommen – von 100 auf 150 Euro. Mit diesem Gesetz werden das Mittagessen und die Fahrten kostenlos. Wenn wir es schaffen, auch noch den Teilhabebeitrag zu erhöhen, dann geht das alles in die richtige Richtung. ({6}) Außerdem ermöglichen wir Nachhilfe nicht erst, wenn die Versetzung akut gefährdet ist, sondern dann, wenn es notwendig ist, um die Lernziele zu erreichen und um das Bestmögliche für sich im Bildungssystem möglich zu machen. Ganz persönlich: Dass wir diese Dinge erreichen, dass wir das in den Koalitionsvertrag verhandelt haben, war für mich ein wichtiges Moment, dem Koalitionsvertrag zuzustimmen. Es mag sein, Herr Bartsch, dass man alles immer noch besser machen kann. Das wollen wir auch. ({7}) Das haben wir am Wochenende beschlossen. Aber wer so tut, als wären die Verbesserungen für 1,2 Millionen Kinder, die den Kinderzuschlag bekommen, und für 4 Millionen Kinder insgesamt nichts, der mag weiter in der Opposition sitzen. Ich setze das lieber in der Regierung durch. ({8}) Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange es noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt. Das hat Albert Einstein gesagt. Wir wollen Entdeckungen und Fortschritte mit glücklichen Kindern. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nicole Höchst, AfD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Frau Ministerin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mann, Mann, Mann – Familienförderung ist ein Kernanliegen der AfD. Der Grundgedanke, auf dem dieser Gesetzentwurf fußt, findet daher in weiten Teilen unsere Zustimmung. Leider haben Sie immer noch nicht die Zeichen der Zeit erkannt und setzen die Politik der Abschaffung Deutschlands fort. Ihr Starkes-Familien-Gesetz ist in Wahrheit – gemessen an dem, was nötig wäre – ein Schwaches-Familien-Gesetz. ({0}) Trotz aller familienpolitischen Maßnahmen – und seien sie noch so gefeiert – erlebt Deutschland seit Jahren eine dramatische Zunahme der Ehe- und Kinderlosigkeit. Zudem sorgt das Verschwinden normaler und mittelgroßer Familien für eine Schrumpfung unserer angestammten Bevölkerung um circa 250 000 Personen pro Jahr. Meine Damen und Herren, Ihre familienpolitischen Maßnahmen haben in den letzten Jahrzehnten nicht zu einer Trendumkehr geführt. Nehmen Sie das doch bitte mal endlich zur Kenntnis. ({1}) Hurra, 8 Euro mehr Kindergeld, kostenloses Schulessen! Jetzt kann ich mir eine Zukunft für meine Kinder Gott sei Dank vorstellen und schreite flugs zur Zeugung. Was für ein Schwachsinn! ({2}) Ihre Familienpolitik inklusive des vorliegenden Gesetzes taugt allenfalls dazu, Familien finanziell nicht noch schlechter zu stellen. Was wir von der Regierung wirklich erwarten, ist eine aktivierende und wertschätzende Familienpolitik, die eine höhere Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung erreicht; denn die liegt seit vielen Jahrzehnten mit einem recht konstanten Wert von 1,4 Kindern weit unter dem bestandserhaltenden Niveau. ({3}) Kinder sind in diesem Land zunehmend zu einem Armutsrisiko geworden. So verwundert es nicht, dass jährlich rund 100 000 Abtreibungen zum großen Teil aufgrund von sozialer Indikation stattfinden. ({4}) Fazit: Ihre christdemokratische und sozialdemokratische Familienpolitik, die ist gar keine. ({5}) Was steckt eigentlich an Veränderungspotenzial in Ihrem Starken-Familien-Gesetz? Was stellen wir fest? Was stellen die Verbände fest? Geht es mit den Familien und ihrer langfristigen Planung nach so langer Zeit endlich wieder nachhaltig bergauf? Werden berufliche und familiäre Rahmenbedingungen zur Familiengründung mit Ihrem Gesetz vielleicht besser? Haben mit Ihrem Gesetz Familien tatsächlich so viel mehr Geld in der Tasche, dass sie sich für mehr Kinder entscheiden? Stimmen die Rahmenbedingungen auch für Alleinerziehende? Nein, nein, nein und nein! ({6}) Herrscht ausreichend Transparenz und Nachvollziehbarkeit? Nein! Findet wirklich Bürokratieabbau statt? Nein! ({7}) Unsere Regierung versteht sich leider immer noch als Almosengeber für Familien, während sie sonst Weltrettungsfantasien finanziert. Das ist grundfalsch. ({8}) Die AfD fordert ein grundsätzliches Umdenken. Familien müssen endlich wieder von einem Einkommen leben können. Wir müssen jungen Eltern mit ihren Familien eine Perspektive bieten in einem Klima der Sicherheit und der Wertschätzung. Das wird mit Ihrem Gesetz in keiner Weise möglich sein. ({9}) Wir schauen gespannt nach Ungarn, wo sich Herr Orban anschickt, ein neues Kapitel der aktivierenden Familienpolitik aufzuschlagen. ({10}) Meine Damen und Herren, Deutschland braucht endlich wieder Mut zu einer Familienpolitik, die diesen Namen auch verdient hat. ({11}) Wir werden unsere Vorschläge dazu in Kürze einreichen. Unsere Kinder sind unsere Erben, eine Gnade, ein Geschenk, unsere ganze Liebe und unsere gesellschaftliche Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Daher, meine Damen und Herren, brauchen wir ein starkes gesamtgesellschaftliches Bekenntnis zu unserer Verantwortung für unsere Kinder, für unsere Familien – die Säulen unserer Gesellschaft. Vielen Dank. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Marcus Weinberg, CDU/CSU. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gerne etwas zur Begrifflichkeit des Gesetzes sagen. Herr Bartsch, ich würde gerne viel sagen zur Abwandlung des Sozialstaates, zum Thema Kindergrundsicherung. Aber wir machen Gesetze für Menschen in diesem Land. Deswegen würde ich mal darauf schauen, wie sich durch dieses Gesetz die Situation vieler Familien in schwierigen Lagen ändert. Das tut es. ({0}) Es ist ein Milliardengesetz. Die Alleinerziehende in Dortmund oder Hamburg fragt sich nicht, in welche Richtung sich der Sozialstaat in den letzten sieben Jahren entwickelt hat. Sie fragt sich: Was habe ich am Abend für meine Familie in der Tasche? ({1}) Wenn man sich das Gesetz anschaut, kommt man sehr schnell dazu, zu sagen: Das verbessert die Lebenssituation. Nehmen wir eine Alleinerziehende mit einem Kind. Sie verdient 1 300 Euro brutto in Teilzeit. Jetzt, im Februar 2019, hat sie inklusive aller Leistungen 1 584 Euro zur Verfügung.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Weinberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Moment nicht. Ich bin gerade bei einem Beispiel. Danke. ({0}) Im Februar 2020, also in einem Jahr, wird sie 121 Euro mehr zur Verfügung haben. Das ist für die Familie viel Geld. Man kann sagen: Es ist zu wenig. – Aber es ist eine Leistung, die wir mit dem Paket schaffen, und deswegen ist es auch ein gutes Paket. ({1}) Wir ergreifen viele einzelne Maßnahmen – ja, man kann Familienpolitik auch immer pauschalieren –, und wir bemühen uns mit diesem Gesetz, die Dinge zu vereinfachen, und zwar für die Menschen in diesem Land. ({2}) Aber es gibt auch viele Leistungen, die man einzeln betrachten muss. Wir haben das Kindergeld erhöht. Der Unterhaltsvorschuss wird nur noch in Teilen angerechnet. Hinzu kommen noch ein Schulbedarfspaket in Höhe von 150 Euro jährlich und Einsparungen beim Mittagessen. All diese einzelnen Maßnahmen führen dazu, dass diese Familie – eine Alleinerziehende mit einem Kind – im Monat 121 Euro mehr hat. ({3}) Ein zweites Beispiel will ich anreißen. Nehmen Sie eine Familie mit zwei Kindern und einem Bruttohaushaltseinkommen von 2 500 Euro. Diese Familie hat dann 142 Euro mehr. ({4}) Damit kann dann der Besuch im Schwimmbad oder der Besuch eines Heimspiels des FC St. Pauli bezahlt werden, wie auch immer. Ich finde, es ist unsere Aufgabe, sich um die Familien zu kümmern und nicht irgendwelche philosophischen Abhandlungen zu betreiben. ({5}) Wichtig ist auch: Wir haben gerade beim Kinderzuschlag Probleme mit der Bürokratisierung. Es ist schon ein Problem, wenn wir sehen müssen, dass nur etwa 30 Prozent der Anspruchsberechtigten eine der besten familienpolitischen Leistungen, nämlich den Kinderzuschlag, tatsächlich beantragen. Das ist eine Leistung, die für die Familien wichtig ist. Da kann es nicht sein, dass nur ein Drittel sie in Anspruch nimmt. Deswegen wird es unsere Aufgabe sein, das vorgelegte Gesetz noch mal zu überprüfen und zu schauen, inwieweit wir gerade beim Kinderzuschlag das Antragsverfahren vereinfachen und sicherlich auch digitalisieren können – das ist ja auch immer ein Wunsch der FDP. ({6}) Wichtig ist, dass die Leistung unterm Strich besser ankommt. Es gibt noch andere kleinere Veränderungsbedarfe. Ich will wieder ein konkretes Beispiel nennen. Ich komme aus Hamburg. Wir sind ja eine Sportstadt – zumindest in Teilen. Wenn man ein Kind bei einem Sportverein in Hamburg anmeldet, dann zahlt man durchschnittlich 11,98 Euro pro Monat. Wir stellen für den Teilbereich Teilhabe aber bis jetzt nur 10 Euro bereit. Da werden wir im parlamentarischen Verfahren ganz deutlich sagen: Das muss angepasst werden. – Wir haben Preisniveausteigerungen, wir haben auch andere Bedarfe. Deshalb werden wir dafür sorgen, dass der Betrag von 10 auf 15 Euro erhöht wird, damit solche Sportangebote wahrgenommen werden können. Das sind Veränderungsbedarfe, die wir auf dem parlamentarischen Wege ins Gesetz einbringen wollen. Alles in allem – das ist unsere Meinung – ist dieser Gesetzentwurf gut. Hier und da werden wir noch mal beraten, wie wir ihn möglicherweise verändern können. Ich glaube, dass die Koalitionspartner hier auf einem guten Weg sind. Entscheidend ist, dass Maßnahmen immer zielgenau sind. Sie müssen möglichst früh bei den Familien ankommen, sie müssen sehr zielgenau sein, und sie müssen bedarfsorientiert sein. Unser Ansatz ist nicht die Gießkanne, weil wir nicht das Geld für die Gießkanne haben. ({7}) Unser Ansatz ist, alles sehr konkret auszugestalten; denn das, was wir ausgeben, müssen Menschen in diesem Land erwirtschaften. Deswegen ist es unsere Verpflichtung, zwar sehr genau zu schauen, wo wir etwas vereinfachen oder pauschalieren können, aber insgesamt immer den Ansatz zu verfolgen, dass wir starke Familien über ein Familienstärkungsgesetz, das „Starke-Familien-Gesetz“ heißt, noch stärker machen. Das muss unser Ansatz sein; denn es geht darum, dass Familien ihre eigene Verantwortung übernehmen können, dass Familien in der Lage sind, über Erwerbseinkommen, über Arbeit etwas für ihre Kinder zu schaffen. Der Grundansatz ist, dass wir die Selbstständigkeit der Familien in den verschiedenen Lebensphasen der Kinder stärken – da, wo sie es brauchen –, und das machen wir mit diesem Gesetz. Es war ein Schwerpunkt in der Koalition, es ist ein Schwerpunkt in der Koalition, und darauf sind wir auch stolz. Das ist ein Thema, das wir als Union gemeinsam mit unserem Koalitionspartner jetzt vernünftig angehen. Ein gutes Gesetz machen wir jetzt ein bisschen besser. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Norbert Müller, Die Linke.

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Kurzintervention zulassen. – Die Ministerin, der Kollege Weinberg, die Kollegin Schmidt haben dargelegt, wie mit dem Starke-Familien-Gesetz Familien und Kinder aus der Armut geholt werden sollen. Der Kollege Weinberg hat gerade eine Reihe von Berechnungen vorgelegt. Auch wir haben genau gerechnet. Ich möchte Sie bitten, sich zwei Familienszenarien genauer anzusehen. Erstens. Eine Familie bestehend aus zwei Erwachsenen und einem Kind mit einem theoretischen Anspruch auf Hartz IV und Kosten der Unterkunft in Höhe von 1 596 Euro hätte auch mit diesem Gesetz keinen Anspruch auf Kinderzuschlag, egal bei welcher Art von Erwerbseinkommen. Das sind klassische Mindestlohnfamilien in Teilzeit. Zweitens. Bekommt diese Familie ein zweites Kind, dann würde der theoretische Anspruch auf Hartz IV und Kosten der Unterkunft auf 1 992 Euro steigen. Mit dem Gesetz hätte diese Familie erstmals Anspruch auf Kinderzuschlag. Das ist ja nicht schlecht. Aber wenn man sich anguckt, wie viel mehr sie am Ende des Monats bekommt, dann sieht man, dass die Erhöhung des Kindergeldes sowie die Reform des Kinderzuschlages und des Wohngeldes dieser Familie mit zwei Kindern zusammengerechnet 30 Euro im Monat bringen. Das sind 50 Cent pro Kind und Tag. 50 Cent pro Kind und Tag machen keine Familie stark, holen keine Familie aus der Armut und belohnen – anders als Sie es dargestellt haben – nicht die Tüchtigen und Fleißigen, die jeden Tag zur Arbeit gehen. ({0}) Das heißt, praktisch kommt für diese Familie am Ende sehr viel weniger raus. Jedenfalls werden es keine starken Familien, und Sie bekämpfen damit auch nicht die Armut von Kindern. Ich finde, wir brauchen andere Lösungen und deutlich größere Würfe. Vor allen Dingen dürfen wir den Menschen nicht mehr vormachen, dass wir Kinderarmut beseitigen, indem wir den Familien, gerade im Mindestlohnbereich, 50 Cent pro Tag und Kind mehr geben. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Weinberg, mögen Sie antworten?

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das mache ich gern und kurz. – Herr Müller, ich finde es immer schade, dass Sie von Ihrer Fraktion keine Redezeit bekommen; ({0}) denn Sie sind ja für den familienpolitischen Bereich von hoher Bedeutung. ({1}) Ich habe Beispiele genannt, und diese Beispiele sind Normalbeispiele. Sie werden viele Beispiele dafür finden, dass die Veränderungen nicht so wirken, wie man es sich wünscht. Aber machen wir es dann mal abstrakt: Mit diesem Programm wird 1 Milliarde Euro zusätzlich für die Familien ausgegeben, die in finanziell schwierigen Situationen sind. Das ist eine gute Leistung. Deswegen sage ich noch einmal: Dieses Gesetz wirkt gut, weil es zielgenau ist und Dinge vereinfacht. Im Familienausschuss können wir gerne über viele Beispiele diskutieren. Unterm Strich wird es so sein, dass sehr viele Familien in diesem Land sehr stark davon profitieren werden. Das ist ein gutes Ergebnis. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober, FDP. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Wochen, am 1. Februar 2019, wurden den sozial benachteiligten Schulkindern in Deutschland im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepaketes 30 Euro für Schulbedarf ausgezahlt. Es hätte mehr sein können, und es hätte mehr sein müssen; aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, und Sie, Herr Minister Heil, haben ohne Not die Erhöhung der Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket für die sozial benachteiligten Kinder in diesem Land um neun Monate verschoben. Das ist ein Skandal, und das wollen wir hier nicht unerwähnt lassen. ({0}) Wir haben Ihnen gezeigt, dass die Leistungen für den Schulbedarf eigentlich auf 170 Euro erhöht werden müssten; Sie waren zu 150 Euro bereit. Wenn es um die Bildungschancen der benachteiligten Kinder geht, stehen Sie auf der Bremse. Dass wir als SPD ({1}) – als FDP – ({2}) Ihnen zeigen müssen, was sozial benachteiligte Kinder in diesem Land brauchen, ist doch bemerkenswert, liebe Kolleginnen und Kollegen. Generell ist es ja so: Was Sie von der SPD als soziale Politik verkaufen, spottet ohnehin jeder Beschreibung. Aktuell wollen Sie die Renten für diejenigen erhöhen, die 35 Jahre Beiträge gezahlt haben. Diejenigen, die aber 34 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben, würden leer ausgehen. Das hat mit sozialer Gerechtigkeit nichts zu tun. ({3}) Sie sind bereit, für dieses ungerechte Rentenkonzept Milliarden auszugeben; aber bei den Bildungschancen von benachteiligten Kindern knausern Sie um jeden Cent. Das ist falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Für den Zuschuss für den Besuch eines Sportvereins, für den Zuschuss für das Erlernen eines Musikinstruments geben Sie mit Ihrem neuen Gesetz keinen Cent aus. Wir wollten die Mittel für den Besuch eines Sportvereins, für das Erlernen eines Musikinstrumentes verdoppeln. Das haben Sie abgelehnt. Das ist ein Skandal, lieber Herr Kollege Heil. ({5}) Sozialpolitik muss bei den Chancen für Kinder ansetzen. Es ist die erste Pflicht des Sozialstaates, dafür zu sorgen, dass Kinder nicht auf ihre soziale Herkunft festgenagelt werden. Kein Kind darf in dieser Gesellschaft zurückbleiben. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie sehen einige Leistungserhöhungen vor; aber gerade wenn es um die Kinder derjenigen geht, die Hartz IV bekommen, stehen Sie auf der Bremse; da sind Sie zu keiner Verbesserung bereit. Das ist ein Skandal. ({6}) Jetzt lese ich, dass die SPD für eine Erhöhung des Mindestlohns ist. Und wieder muss man die Dinge bis zum Ende denken. Für eine Erhöhung der Zuverdienstgrenzen sind Sie nicht – die lehnen Sie ab. Das heißt, die Erhöhung des Mindestlohns geht gerade für die Hartz‑IV-Empfänger völlig ins Leere, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD. Das ist schon mehr als bemerkenswert. ({7}) Ich finde es ja gut, dass Sie sich jetzt auch darüber Gedanken machen, das Antragsverfahren zu vereinfachen, wenn es um das Bildungs- und Teilhabepaket geht. Aber ich möchte in Erinnerung rufen, dass Sie es waren, die 2010 im Vermittlungsausschuss das Chaos bei der Beantragung von Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket überhaupt erst verursacht haben, weil Sie verhindert haben, dass sie schon damals, im Jahr 2010, digitalisiert wurde. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, kehren Sie um. Lehnen Sie unsere Anträge in der Sozialpolitik nicht ab. Lernen Sie von uns. Es würde den Menschen in unserer Gesellschaft guttun. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Sven Lehmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir eine Bemerkung, weil heute Valentinstag ist: Noch nie hat jemand das Wort „Liebe“ in den Mund genommen und dabei so hasserfüllt gesprochen wie Sie, Frau Höchst von der AfD, heute. ({0}) Das muss mal gesagt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt zum Gesetz. Ja, Sie verbessern den Kinderzuschlag, und ja, Sie verbessern den Zugang zu Bildung und Teilhabe. Aber gemessen an dem Tamtam, das Sie seit Wochen um dieses Gesetz veranstalten, gemessen an den ganzen Imagekampagnen der Ministerien, gemessen an dem großen Problem „Kinderarmut in Deutschland“, bleibt dieser Gesetzentwurf doch Lichtjahre hinter dem zurück, was notwendig wäre. ({1}) Ihre Familienpolitik ist eben nicht sozial ausgewogen. Sie erhöhen die Kinderfreibeträge, Sie erhöhen das Kindergeld, und jetzt verbessern Sie den Kinderzuschlag. Alles okay. Was Sie aber komplett vernachlässigen, das sind die Kinderregelsätze für Familien in Hartz IV. Dabei müssen wir doch die Familien am meisten unterstützen, die diese Unterstützung auch am meisten brauchen. ({2}) Ich komme noch mal auf das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket zu sprechen. Dieses Instrument ist überhaupt erst entstanden, weil die schwarz-gelbe Regierung damals die Kinderregelsätze eben nicht erhöhen wollte. Das Argument war: Wenn man Familien in Hartz IV mehr Geld gibt, landet das nicht bei den Kindern, sondern dann geben die Eltern das für sich aus. – Diese Haltung ist nicht nur herablassend, sie ist auch durch mehrere Studien deutlich widerlegt: ({3}) Eltern sparen, wenn sie sparen müssen, zunächst bei sich und erst dann bei ihren Kindern. Das muss endlich mal gesagt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Stattdessen nun also acht Jahre Bildungs- und Teilhabepaket! Man muss schon sehr gute Sozialarbeiter an seiner Seite haben, um durch den Dschungel an Leistungsansprüchen und Formularen durchzusteigen. Ich bin wirklich gespannt, wie Sie das verbessern wollen. Fakt ist: In Deutschland haben mehr als 3 Millionen Kinder einen Anspruch darauf, aber im Schnitt nehmen sie nur rund 600 000 in Anspruch. Das ist eine verdammt schlechte Bilanz. ({5}) Wenn du entdeckst, dass du ein totes Pferd reitest, dann steige ab, heißt es so schön. Sie aber reiten das Pferd mit diesem Gesetz weiter. Dabei ist es offensichtlich so, dass selbst die Bundesregierung den Überblick verloren hat. So heißt es auf der Homepage des Familienministeriums – Achtung! –, dass sogar 4 Millionen Kinder von dem Gesetz profitieren könnten. Herr Sozialminister Heil spricht aber nur von 1 Million Kindern. So ist das Gesetz auch finanziert. Das heißt, Sie nehmen die niedrige Inanspruchnahme beim BuT als Basis für dieses neue Gesetz. Damit nehmen Sie in Kauf, dass weiterhin Millionen von Kindern nicht zu ihrem Recht kommen. ({6}) Das Gesetz ist also nicht nur bürokratisch, es ist auch heillos unterfinanziert, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Wir Grüne beantragen heute etwas, was wirklich bei armen Kindern ankommt: eine Erhöhung der Kinderregelsätze als Einstieg in eine Kindergrundsicherung und kostenfreie Angebote wie Mittagessen und Fahrten mit Bus und Bahn ohne bürokratische Hürden. Denn die Zukunft einer sozialen Politik für Kinder liegt nicht in Anträgen und bürokratischen Verfahren. Die Zukunft liegt in einer Kindergrundsicherung und in guten Angeboten vor Ort. Das sollte uns jedes Kind wert sein. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Maik Beermann, CDU/CSU. ({0})

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was habe ich im Vorfeld nicht alles über dieses Gesetz gehört: es sei kleinlich, viel zu wenig, und der Titel „Starke-Bürokratie-Gesetz“ sei viel treffender. Ja, ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass auch ich ein kleines Problem mit dem Titel „Starke-Familien-Gesetz“, wie von der Familienministerin vorgestellt, habe. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, entscheidend ist nicht die Verpackung, entscheidend sind doch die Inhalte. Wir sollten uns viel stärker über die Inhalte unterhalten. ({0}) Wenn man die Debatte verfolgt, stellt man fest, dass es Oppositionsfraktionen gibt, die konkrete Vorschläge machen, die sie der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen mit auf den Weg geben, um den vorliegenden Gesetzentwurf zu verbessern. Es gibt aber auch eine Fraktion im Deutschen Bundestag, die das SPD-Familienministerium als „Verdachtsfall für Mogelpackungen“ tituliert. ({1}) – „Verdachtsfall“ hat er gesagt. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man feststellt, dass keinerlei Vorschläge kommen, sondern nur Kritik geübt wird, dann fallen mir nach den Reden von Herrn Reichardt und Frau Höchst eigentlich nur zwei Dinge ein: erstens, ein Verdachtsfall an Absurdität, und zweitens, Helau und Alaaf. ({2}) Inhaltlich Kritik zu üben, ist natürlich das gute Recht der Opposition, aber bessere Lösungen, als die Gelder ausschließlich nach dem Gießkannenprinzip zu verteilen, habe ich von Ihnen nicht vernommen. Wo wir gerade beim Thema Geld sind: Wir als Union wollen Armut bekämpfen und nicht verstetigen. Doch dazu bedarf es eben nicht immer nur Geld für Familien. Vielmehr kämpfen wir dafür, dass Eltern arbeiten gehen können. Aus unserer Sicht ist das ein sehr wichtiger Aspekt. Die Berufstätigkeit ist nicht nur ein Ausweg aus Armut, sondern aus unserer Sicht noch viel mehr – und das ist für mich das Wichtigste –, nämlich eine Vorbildfunktion für die Kinder. Das kann ein leistungsunabhängiges Bezuschussen niemals leisten. Deshalb optimieren wir den Kinderzuschlag so, dass, wer zusätzliches Einkommen verdient, künftig mehr davon behält. ({3}) Es ist gut, dass wir an dieser Stelle nachbessern, die Instrumente weiterentwickeln und dafür sorgen, dass möglichst alle Antragsberechtigten den Kinderzuschlag und das Bildungs- und Teilhabepaket kennen und in Anspruch nehmen. Lassen Sie uns nicht über eine Steigerung von 30 auf 35 Prozent diskutieren! Vielmehr muss doch das Ziel sein – das hat die Ministerin in ihrer Rede auch gesagt –: Wir wollen, dass möglichst alle Berechtigten von diesen Leistungen profitieren. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist der Ansporn dieser Koalition. Für einkommensschwache Haushalte und mit Blick auf die Vermeidung von Arbeitslosengeld‑II-Bedürftigkeit ist eine ergänzende, bedarfsabhängige Leistung zum Kindergeld sinnvoll. Die einzelnen Punkte haben Nadine Schön und Marcus Weinberg und auch andere Kolleginnen und Kollegen aus der Regierungskoalition bereits erwähnt. Deshalb will ich nur einige Punkte kurz erwähnen. Worin wir uns meines Erachtens alle einig sind, ist der Fokus auf die Entbürokratisierung und die Transparenz der Leistungen. Das ist in meinen Augen von elementarer Bedeutung. Wir lüften hier kräftig durch und schieben bürokratische Hemmschwellen beiseite. Ich nenne exemplarisch den Wegfall des Eigenanteils beim Mittagessen sowie bei der Schülerbeförderung oder den Fakt, dass der Kinderzuschlag künftig tatsächlich sechs Monate gewährt wird. Auch der Wegfall des gesonderten Antrages für Klassenausflüge und die Leistungen für soziale Teilhabe werden die Familien deutlich entlasten. ({4}) Gerade ich als Digitalpolitiker möchte deutlich erwähnen, dass ich mich darüber freue, dass die Familienministerin gesagt hat, dass wir nach dem Elterngeld Digital auch den Kinderzuschlag Digital durchsetzen und voranbringen wollen. Auch das soll zur Entbürokratisierung beitragen und die Beantragung erleichtern. Wir freuen uns, dass wir hier ein ganzes Stück weit vorankommen. Es geht bei diesem Gesetzesvorhaben nicht nur um die Verhinderung materieller Armut, sondern auch – und das ist besonders wichtig – um die Chance auf Teilhabe an Bildung. Deshalb nehmen wir das Bildungs- und Teilhabepaket mit in den Blick. Kinder aus Familien im Leistungsbezug sollen künftig noch besser unterstützt werden, wenn sie in Vereinen aktiv sein wollen. Konkret wollen wir daher den Zuschuss für Vereinsbeiträge erhöhen und das Verfahren vereinfachen. Ein weiterer elementarer Punkt ist die Änderung bei der Lernförderung. Es ist doch absurd, dass bisher eine Lernförderung erst dann gewährt wurde, wenn der konkrete Verdachtsfall vorlag, dass die Versetzung gefährdet ist. Das werden wir ändern, sodass eine präventive Armutspolitik gewährleistet wird. Wir werden rechtzeitig dort ansetzen, wo es hilfreich ist, nämlich bei Lernförderung in der Schule, dann, wenn die Kinder konkreten Bedarf haben und entsprechende Leistungen in Anspruch nehmen müssen. Meine Damen und Herren, wenn festgestellt wird, dass Dinge nicht so laufen, wie wir uns das vorgestellt haben, werden wir als Politiker in die Pflicht genommen. Wir tragen die Verantwortung, und dieser Verantwortung werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auch gerecht. Wir entbürokratisieren, und wir verbessern die Leistungen für die Familien und für die Kinder. Wir wollen Armut bei uns im Land nicht einfach nur bekämpfen, sondern Armut, egal ob bei Kindern oder in Gänze, ausrotten. Das ist unsere Aufgabe, unser Ziel. Packen wir es an! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Stefan Schwartze, SPD. ({0})

Stefan Schwartze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst freue ich mich, dass das Rednerpult noch intakt ist. Es scheint gute Wertarbeit zu sein. ({0}) Unsere Ministerin Franziska Giffey und unser Minister Hubertus Heil haben mit dem Starke-Familien-Gesetz einen starken Aufschlag für die Familien mit kleinen Einkommen gemacht; denn genau für diese Familien machen wir das Gesetz. ({1}) Wir machen das Gesetz für Familien, die hart arbeiten, die sich anstrengen, die alles tun, um das Leben zu meistern, die sich für ihre Kinder starkmachen, die aber am Ende des Monats nicht genug Geld haben, um ihren Kindern möglich zu machen, was sie brauchen. Diese Familien, ob alleinerziehend oder als Paar, verdienen unseren Respekt und unsere Unterstützung. ({2}) Für sie verbessern wir das Bildungs- und Teilhabepaket: mit kostenlosem Mittagessen, mit mehr Geld für den Schulbedarf, mit kostenlosen Schülertickets und all dem, was Hubertus Heil vorgestellt hat. Damit haben natürlich auch die Familien im Arbeitslosengeld‑II-Bezug am Ende des Monats mehr Geld zur Verfügung. Ja, und endlich machen wir einen neuen Kinderzuschlag, einen Kinderzuschlag, den die Menschen auch nutzen werden. Schluss mit dem Bürokratiemonster, das abgeschreckt hat, einen verdienten Anspruch auch zu beantragen! Wir sorgen dafür, dass nicht nur 800 000 Anspruch auf den Kinderzuschlag haben, sondern 2 Millionen. ({3}) Die Situation, dass, wenn ich mit meinem Lohn einen Euro über die Einkommensgrenze für den Kinderzuschlag komme, meine Unterstützung komplett wegfällt, wird es in Zukunft nicht mehr geben. ({4}) Diese harte Abbruchkante schaffen wir ab. Stattdessen schaffen wir bei steigendem Lohn einen gleitenden Übergang. Für die Zukunft gilt: Wenn ich mehr arbeite, wenn ich mehr Lohn bekomme, dann habe ich am Ende des Monats auch mehr Geld in der Tasche. ({5}) Mehr Geld, damit es den Familien besser geht: Das ist fair, das ist gerecht, das stärkt Familien. Da lohnt sich Leistung dann auch wieder. Das ist aber nicht alles. Wir gestalten den Zugang zum Kinderzuschlag einfacher und unbürokratischer und machen ihn in der Zukunft auch digital möglich. Es wird feste Berechnungs- und Bewilligungszeiträume geben. Das heißt: Ich muss nicht mehr ständig zum Amt, nur weil ich ein paar Überstunden machen konnte ({6}) oder der Monat einen Arbeitstag mehr hatte. Der Kinderzuschlag wird erhöht, sodass er mit dem Kindergeld und dem Bildungs- und Teilhabepaket – das kommt nämlich zum Kinderzuschlag noch hinzu, Herr Müller – das sächliche Existenzminimum sichert. Wir haben auch verankert, dass der Kinderzuschlag in Zukunft automatisch steigt. ({7}) Das Kindeseinkommen, zum Beispiel aus dem Unterhaltsvorschuss, wird nur noch zu einem geringen Teil angerechnet. Dieses Gesetz ist das Fundament der Weiterentwicklung der Familienleistungen in Deutschland. Ziel der SPD ist und bleibt die Einführung einer Kindergrundsicherung, die alle, wirklich alle Kinder erreicht. ({8}) Ich freue mich auf die Beratungen darüber. Ich freue mich auf die Anhörung. Danke für die Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stephan Stracke, CDU/CSU. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Politik für die Familien ist Politik für die Zukunft. Die CSU steht für einen Mix aus Zeit, Infrastruktur und Geld in der Familienpolitik. So haben wir in den vergangenen Jahren das Elterngeld massiv ausgebaut, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert – ich denke beispielsweise an die Brückenteilzeit –, indem wir die Übergänge zwischen Teilzeit und Vollzeit erleichtert haben. Das schafft Zeit für Familien. Wir haben auch den massiven Ausbau einer qualitativ hochwertigen Kinderbetreuung hinbekommen; da ist eine unglaubliche Dynamik entfaltet worden. Daran wollen wir anknüpfen. Und wir sorgen dafür, dass die Qualität in der Kinderbetreuung weiter verbessert wird. Dafür nehmen wir viele Milliarden Euro zusätzlich in die Hand. Damit sorgen wir für eine noch bessere Kinderbetreuung in unserem Land. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Kinder bedeuten immer Liebe und Lebensfreude. Aber ein Kind kostet auch Geld, mehrere Kinder kosten noch mehr Geld. Deshalb ist es richtig, dass wir als Union darauf bestanden haben, das Kindergeld auszubauen. Das haben wir auch umgesetzt; das kommt vielen Familien zugute. ({1}) Mit diesem Gesetzentwurf werden wir den Kinderzuschlag weiterentwickeln und dadurch die Lebenssituation von Familien mit kleinen Einkommen spürbar verbessern. ({2}) Liebe Freunde, es darf nicht sein, dass Familien ins SGB II rutschen, nur weil sie Kinder haben. Genau an den Stellen setzen wir an: Wir erhöhen den Kinderzuschlag; darauf wurde hingewiesen. Wir dynamisieren den Kinderzuschlag auch, sodass er mit den in der Zukunft steigenden Bedarfen Schritt hält; das nennen wir Dynamisierung. Leistung soll sich lohnen. Das ist die Philosophie, die der Neugestaltung des Kinderzuschlags zugrunde liegt. Wir werden das Elterneinkommen geringer anrechnen. Das gilt zum ersten Mal auch für das Kindereinkommen, dessen Anrechnung sich letztendlich am Elterneinkommen orientiert. Das ist gut so. Wir sorgen damit für eine spürbare Verbesserung. Wir schaffen auch endlich die Abbruchkante ab, die mit dem Erreichen einer bestimmten Einkommensgrenze dazu führt, dass der Kinderzuschlag hart und schlagartig wegfällt. Diese Abbruchkante ist nicht leistungsgerecht. Deswegen sorgen wir dafür, dass die Fleißigen mehr Geld in der Tasche haben. Dafür stehen wir als Union, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Für Alleinerziehende, die für ihr Kind Unterhalt und Unterhaltsvorschuss beziehen, stellen wir sicher, dass sie wieder eher den Kinderzuschlag erhalten. Hier können wir sicherlich noch einiges verbessern; ich will beispielsweise den 100‑Euro-Deckel adressieren. Wir wollen, dass Kinder möglichst unabhängig von den finanziellen Mitteln des Elternhauses faire Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe erhalten und ihre Fähigkeiten entwickeln können. Leistung und Talent sollen über die persönliche Zukunft entscheiden, nicht die soziale Herkunft. Genau deshalb gibt es das Bildungs- und Teilhabepaket; es sorgt für faire Bildungschancen. Das ist eine Erfindung der Union. Ursula von der Leyen als Bundessozialministerin hat es eingeführt und damit einen groben Webfehler der rot-grünen Arbeitsmarktreformen beseitigt. Wir wollen, dass die Leistungen bei den Kindern ankommen. Im Koalitionsvertrag haben wir konkrete Maßnahmen zur Verbesserung verabredet, und diese Verabredung setzen wir nun mit dem Starke-Familien-Gesetz um. Das ist gut, sollte uns aber nicht davon abhalten, noch besser zu werden. So halte ich es beispielsweise für ein Unding, dass ausschließlich bei Teilhabeleistungen die Anpassung an Kostensteigerungen unterbleiben soll. Das ist nicht sachgerecht. Deshalb wollen wir, dass diese Teilhabeleistungen von derzeit 10 Euro auf 15 Euro erhöht werden. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen, dass alle Jugendlichen eine faire Chance bekommen, ihre Talente und Möglichkeiten zu nutzen. Denn wir wissen: Eine Gesellschaft der Chancen ist eine Gesellschaft des Zusammenhalts. Dafür arbeiten wir. Ein herzliches Dankeschön. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/7504, 19/7692 und 19/7451 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Mangels Widerspruch ist das so beschlossen.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede mit einigen Zitaten beginnen: Wir wollen in einem Umfang von 15 Milliarden Euro eine Erleichterung beim sogenannten Mittelstandsbauch schaffen. Wir werden den Einkommensteuertarif insgesamt gerechter ausgestalten und den sogenannten Mittelstandsbauch verringern. Der Mittelstandsbauch ist eine Strukturschwäche des Steuersystems. – Meine Damen und Herren, das waren Zitate aus dem Bundestagswahlkampf der CDU Deutschlands und aus Ihrem Wahlprogramm. Nichts davon haben Sie bisher umgesetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das sage ich in aller Klarheit. ({0}) Ähnliche Zitate findet man im Übrigen bei den Kollegen der Grünen oder im Wahlprogramm der Linkspartei – Zitat –: Der Mittelstandsbauch wird abgeschafft. – Aber es gibt keine Initiative. Ausnahme im Deutschen Bundestag ist die SPD: Weder in Reden noch in Ihrem Wahlprogramm taucht dieses Thema auf. Mein Vorwurf an die Union ist: Sie reden darüber; aber das Handeln bleibt aus. Seit 2005 ist die Steuerquote in Deutschland stetig gestiegen. Seit 2005 schreiben Sie in Ihre Wahlprogramme, dass Sie die Steuerquote begrenzen wollen. Wie nennen Sie das, liebe Kolleginnen und Kollegen? Ich nenne das Wählertäuschung, Täuschung der Fleißigen in unserem Land. Nichts anderes ist das. ({1}) Mein Vorwurf an die Kolleginnen und Kollegen der SPD ist: Sie sehen nicht einmal ein Problem bei der Belastung kleiner Einkommen. ({2}) Die deutsche Politik hat in den vergangenen Wochen – bei Ihnen insbesondere am Wochenende – viel über diejenigen gesprochen, die nicht oder nicht mehr arbeiten. Das ist legitim, meine Damen und Herren, das muss diskutiert werden. Aber es darf nicht sein, dass in Deutschland nicht mehr über diejenigen gesprochen wird, die arbeiten und ihre Steuern zahlen. Darüber reden Sie nicht, meine Damen und Herren. ({3}) Wir schlagen Ihnen ganz konkret vor, den zweiten, den höheren Eckwert im Einkommensteuertarif nach rechts zu verschieben und ihn am Ende bei einem höheren Einkommen zu belassen. Das ist zunächst einmal das Technische. Die Frage ist: Wen betrifft das ganz konkret, über wen reden wir eigentlich? Wir reden von Menschen mit einem zu versteuernden Einkommen ab 9 400 Euro – im Jahr, will ich an dieser Stelle betonen –, Menschen, die derzeit den Mindestlohn verdienen, in Teilzeit arbeiten und beispielsweise anstreben, auf eine Vollzeitstelle zu gehen. Diese Menschen sehen sich einem Steuersatz gegenüber, der um über 70 Prozent steigt. Das ist das Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Das sind die Aufsteiger in unserem Land. Das sind die, die ins Arbeitsleben zurückkehren, nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit beispielsweise. Diesen Menschen gibt die Große Koalition das Signal: Wer sich anstrengt, der wird bestraft. – Das ist das Gegenteil der Belohnung von Fleiß und Tugend in unserem Land. Diesen Menschen müssen wir endlich helfen. ({5}) Weil der Kollege Schneider gerade dazwischengerufen hat, will ich es noch einmal sagen: Sie argumentieren in Debatten, bei denen es darum geht, kleinere Einkommen zu entlasten, regelmäßig, dass dann auch für diejenigen, die leistungsfähiger sind, die Progression sinkt. Ich weiß, dass dieser Punkt gleich wieder kommen wird. Sie nehmen damit beispielsweise die Reinigungskraft, die zum Mindestlohn in einem deutschen Krankenhaus beschäftigt ist, in Geiselhaft, um eine Einkommensteuersenkung für den Facharbeiter in der Metallindustrie zu verhindern. Meine Damen und Herren, das ist himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit. Das muss man der Sozialdemokratie vorwerfen. ({6}) Ich will Ihnen zum Schluss sagen: Das, was wir hier vorschlagen, ist keine Träumerei, sondern ein sehr realistischer Schritt, der darstellbar ist. Er ist übrigens haushalterisch gesehen das Gegenteil dessen, was die SPD am vergangenen Wochenende ins Schaufenster gestellt hat. Der Finanzminister sagt selbst, dass die Haushaltslücke groß ist. Das, was Sie ins Schaufenster stellen, wird nie kommen, weil es nicht finanzierbar ist. Das, was wir hier aufzeigen, ist finanzierbar. Was wir in Deutschland endlich brauchen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine Agenda der Fleißigen. Die Fleißigen müssen belohnt werden. Das muss die Botschaft der deutschen Politik sein. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Antje Tillmann, CDU/CSU. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Gäste! Wir sollten heute über drei Anträge reden: zwei der AfD und einen der FDP. Tatsächlich ist aber der Antrag der AfD zur kalten Progression irgendwo diese Nacht verschwunden. ({0}) Mitten in der Nacht haben wir eine Mail bekommen, wonach dieser Antrag zurückgezogen wird. Das ist der Höhepunkt einer aufregenden Woche, in der die AfD uns ganz klar gezeigt hat, dass sie gar nicht weiß, was sie beantragen will. ({1}) Der Antrag zum Abbau der kalten Progression ist 2018 gestellt worden. Da habe ich noch gedacht: Na gut, die Kollegen sind neu; sie wissen noch nicht, welche Beschlüsse zur kalten Progression wir gefasst haben. – Als der Antrag am Mittwoch in der Ausschusssitzung des Finanzausschusses auftauchte, ist dann auch Ihnen aufgefallen, dass das, was Sie beantragen, völlig veraltet ist. Sie haben dann zur Erheiterung beigetragen, als sie angekündigt haben, Ihren eigenen Antrag abzulehnen. Sie haben sich dann zumindest noch enthalten; das ist immerhin ein erster Schritt. Irgendwann diese Nacht ist der Antrag dann zurückgezogen worden. Völlig krude wird es dann aber mit Ihrem zweiten Antrag, den wir bis heute noch nicht offiziell zugestellt bekommen haben. Wir konnten ihn gestern nach 17 Uhr aus dem Intranet herunterladen. Auch das ist eine komische Art für eine Fraktion, die sich immer beschwert, wie wir mit ihr umgehen. Ich glaube, wir haben hier einen anderen kollegialen Stil, und würde mich sehr freuen, wenn Sie sich an diesen parlamentarischen Stil, der hier schon lange herrscht, gewöhnen könnten. ({2}) Das mag es auch schon zu Ihren Anträgen gewesen sein; denn selbst der Antrag zum Tarif auf Rädern ist nur vom Bund der Steuerzahler abgeschrieben. Diese Arbeit hätten Sie sich auch sparen können. Ich werde später darauf eingehen. ({3}) Jetzt zur kalten Progression, damit Sie beim nächsten Mal wissen, worüber Sie entscheiden. Wir haben bereits 2012 – das erste Mal damals noch in einer Koalition aus CDU/CSU und FDP – ein Gesetz zum Ausgleich der kalten Progression im Bundestag verabschiedet. ({4}) Dieses Gesetz ist leider im Bundesrat gescheitert. Wir haben aber nahtlos die Bundesregierung aufgefordert, regelmäßig alle zwei Jahre einen Bericht über die kalte Progression auf den Weg zu bringen, und haben ab 2016 die kalte Progression neutralisiert, für 2014 und 2015 rückwirkend. Das tun wir regelmäßig, für 2017 um 0,73 Prozent, für 2018 um 1,65 Prozent, für 2019 um 1,84 Prozent und für 2020 um 1,95 Prozent. Die Wirkung der kalten Progression tritt definitiv nicht mehr ein; das haben uns auch Sachverständige in der Anhörung zum Familienentlastungsgesetz deutlich bestätigt. Der kritischste Beobachter dürfte dabei der Bund der Steuerzahler gewesen sein, der in dieser Anhörung auf die Frage „Gibt es noch eine kalte Progression, oder ist die ausgeglichen?“ ganz klar gesagt hat – O-Ton –: Ja, sie wird ausgeglichen. – Auch das Institut der deutschen Wirtschaft bestätigt uns, dass es keine Wirkung der kalten Progression mehr gibt. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage weist in seinem Gutachten 2017/18 darauf hin, dass es aus der Phase 2010 bis 2013 wohl noch eine kalte Progression gebe. Ich habe eben die Gründe erklärt: An uns hat es nicht gelegen; wir haben im Bundestag eine Abschaffung gefordert. Außerdem war das Jahr 2010 kein typisches Jahr; denn in diesem Jahr hatten wir zahlreiche andere Steuererleichterungen, sodass die Steuerquote damals auch ohne Abschaffung der kalten Progression um 0,7 Prozent gesunken ist. ({5}) Also: Das Thema „kalte Progression“ ist erledigt. Das wissen auch Wirtschaftsverbände und Steuerberater. Wir haben dieses Thema durch Agieren an verschiedenen Stellen abgeräumt. Vielleicht, liebe Kollegen der AfD, können wir hier im Deutschen Bundestag weiter so vorgehen, wie wir es verabredet haben, nämlich alle zwei Jahre über Vorlage eines Berichts über die kalte Progression. Darüber hinaus haben wir zahlreiche andere Entlastungen eingebracht. Jetzt komme ich zum Antrag der FDP zum Mittelstandsbauch. Lieber Kollege Dürr, im Konzept meiner Rede steht noch eine positive Bewertung Ihres Antrags. ({6}) Nachdem Sie aber so eingestiegen sind – ich zitiere Sie, wenn ich darf: „Sie reden darüber; aber das Handeln bleibt aus“ –, ({7}) muss ich sagen: Dieser Satz von einer Fraktion, die nun so klar gekniffen hat, das ist, glaube ich, schon ein bisschen schizophren. ({8}) – Wenn Sie mir diese Vorlage geben, müssen Sie sich nicht beschweren. Eigentlich stand in meinem Konzept: Der Abbau des Mittelstandsbauches ist auch CDU/CSU-Politik. ({9}) Aber wer so redet, muss sich das gefallen lassen. ({10}) Immerhin – Sie haben ja aus CDU-Reden zitiert – haben wir von den 15 Milliarden Euro Entlastung, die wir versprochen haben, 10 Milliarden Euro umgesetzt. ({11}) Sie haben keinen einzigen Euro Entlastung in Bezug auf den Mittelstandsbauch umgesetzt, weil Sie nämlich keine Lust hatten, in einer Regierung mitzuwirken. ({12}) Also, wer hier redet und nicht handelt, das sind nun ganz klar Sie. ({13}) Da können Sie sich empören; aber das müssen Sie sich sagen lassen. Sie wissen – das haben Sie ja auch zitiert –, dass mit unserem Koalitionspartner eine Anpassung des Tarifverlaufs über die kalte Progression hinaus nicht möglich ist, ohne den Spitzensteuersatz zu erhöhen. Das ist eine Position, die man vertreten kann. ({14}) Das ist nicht unsere Position; aber das war die Grundlage für diesen Koalitionsvertrag. Sie können uns beschimpfen, dass wir uns haben in die Pflicht nehmen lassen, diese Regierung zu unterstützen – Sie hätten es ja auch tun können –; aber irgendjemand muss dieses Land ja regieren. Wir wissen, dass wir an diesem Punkt mit den Sozialdemokraten nicht vorankommen. Wir wollen keine zusätzlichen Belastungen für die Leistungsträger ({15}) und deshalb werden wir „den Mittelstandsbauch“ nur um 10 Milliarden Euro durch den Abbau des Solidaritätszuschlags entlasten. Sie schaffen nichts davon. ({16}) An anderer Stelle sind wir mit unserem Koalitionspartner beim Thema Steuerentlastung sehr gut auf dem Weg. Mit dem Familienentlastungsgesetz haben wir Familien und Unternehmen um 10 Milliarden Euro entlastet. Wir haben das Kindergeld erhöht; wir werden es erneut tun. Und, wie gesagt, wir werden den Solidaritätszuschlag für 90 Prozent der Zahlerinnen und Zahler abschaffen. Und – ja, ich sage es erneut an dieser Stelle – unser Plan geht darüber hinaus: ({17}) Wir wollen die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags, auch für die übrigen 10 Prozent. Wir werden mit der SPD weiter freundschaftlich streiten, dass da zumindest ein Abbaupfad festgelegt wird. ({18}) Manchmal ist Politik das Bohren dicker Bretter. Wir sind fest entschlossen, diese Bretter zu bohren, und werden auf jeden Fall auch in dieser Richtung weitermachen. Aber all diese Entlastungen, die wir zusätzlich erreicht haben, waren gar nicht Gegenstand des Koalitionsvertrags. Manchmal ergeben sich auch auf der Strecke der Beratungen Möglichkeiten. Diese Möglichkeit haben Sie ungenutzt gelassen, weil Sie keine Lust hatten, die Verantwortung zu übernehmen. ({19}) Deshalb werden SPD und wir diese Regierung gut führen, die Bürgerinnen und Bürger weiter entlasten und ansonsten die CDU/CSU-Politik weiter betreiben. Es gibt auch ein Leben nach dieser Regierung. Vielleicht werden wir dann noch erfolgreicher sein. Vielleicht haben Sie bis dahin den Mut, tatsächlich mitzumischen. Das wäre schön. Herzlichen Dank. ({20})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zur Geschäftsordnung erteile ich dem Kollegen Jan Korte, Die Linke, das Wort.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Da ich heute relativ gut gelaunt bin, müssen wir jetzt nicht so weit gehen, aber ich möchte einmal feststellen, dass in dieser Debatte in der Kernzeit des Bundestages nicht ein einziger Minister der Bundesregierung anwesend ist. ({0}) Das halte ich für inakzeptabel, um das deutlich zu sagen. ({1}) Ich könnte jetzt einen GO-Antrag stellen, aber vielleicht kann man das abkürzen und anders regeln. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Kay Gottschalk, AfD. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Kollegen! Liebe Steuerzahler! Ich muss zur Vordebatte schon sagen: Ihr Antrag von der FDP ist sprachlich immerhin über dem Niveau der Vorschule, was man den Gesetzentwürfen der Regierung meistens auch inhaltlich nicht zubilligen kann. Heute sprechen wir also über Ihren Antrag „Chancentarif statt Belastungstarif“, und – wir sagen es, wenn etwas gut ist – die FDP hat in dieser Frage völlig recht; denn es wird zu Recht der schnelle Anstieg der Steuerlast in dem progressiven Steuertarif kritisiert. Das alles, was man hier hört – auch die Kollegen von der FDP; Sie kennen ja unseren Tarif auf Rädern und haben ihn sogar kopiert, nur mit einem früheren Datum; Sie kennen ihn auch, Frau Tillmann –, und dass Sie sich auf technische Details, die einer jungen Partei mal passieren können, versteifen, ist ärmlich und traurig und zeigt: Sie setzen sich nicht mit unseren guten Argumenten auseinander. Sie können es nicht. ({0}) Wenn ich Ihre Töpferwerkstatt zu den neuen Programmen und auch die Anträge der FDP sehe, dann muss man den Eindruck gewinnen: Mittlerweile liegt unser Grundsatzprogramm bei FDP und CDU/CSU als kleiner Katechismus im Nachttisch, damit Sie ihn, wenn Sie wieder mal keine Ideen haben, herausnehmen können, um zu wissen, was man tun könnte. ({1}) Ich sagte es bereits in meiner Rede zum Familienentlastungsgesetz, dass Sie hier lediglich das tun, was das Bundesverfassungsgericht vorgibt und Ihnen abverlangt, damit Sie die Familien vom Existenzminimum freistellen. Leider, meine Damen und Herren – das kann ich der Großen Koalition wie immer nicht zubilligen –, muss man an dieser Stelle sagen: Sie schaffen die Große Koalition nicht mit der verzwergten SPD. Fragen Sie sich mal, wie sozial Sie wirklich sind und warum Sie nur noch bei 15 Prozent und in den neuen Ländern bei 9 Prozent hängen; dazu komme ich gleich noch. Meine Damen und Herren, Sie schaffen es nicht, und Ihre Kollegen haben es entlarvt. Sie haben nämlich eben gesagt – der Kollege Schwartze wie auch der Kollege Stracke –: Leistung muss sich wieder lohnen. – Es ist das banale Eingeständnis, dass, seit Sie in dieser GroKo regieren, Leistung in diesem Land sich eben nicht mehr lohnt. ({2}) Es lohnt sich an dieser Stelle eher, nichts zu tun. Meine Damen und Herren, das ist eine Bankrotterklärung. Bundesfinanzminister Olaf Scholz sieht mittlerweile ein 25‑Milliarden-Euro-Haushaltsloch bis 2023 auf uns zukommen. Hierin sind die aktuellen Pläne der Regierung, mit der Gießkanne vorzugehen, noch gar nicht enthalten. Warum tun Sie das? Weil Sie einen blauen Erdrutsch in den neuen Ländern befürchten. Natürlich wollen Sie hier jetzt mit angeblichen Wahlgeschenken und schönen Schleifen das Schlimmste für CDU/CSU und SPD noch verhindern. Das „Handelsblatt“ hat es in seiner gestrigen Ausgabe zu Recht „die teure Profilierung“ genannt – wieder einmal eine teure Profilierung zulasten des Steuerzahlers, aber, wie Nicole Höchst und andere Kollegen ausgeführt haben, wirkungslos; es verpufft, meine Damen und Herren. ({3}) Kommen wir zu den nackten Zahlen. Hier heißt es: Die Steuerquote wird im Jahr 2018 auf 22,8 Prozent des nominalen Inlandsprodukts angestiegen sein. Im Jahr 2005 – so viel zu der Progression, die Sie angeblich abbauen – lag diese Quote noch bei 19,6 Prozent. Das ist nur die eine Seite der Medaille. Da sind Sie unehrlich. Die andere heißt nämlich Abgaben. Damit komme ich zum Steuerzahlergedenktag, der im letzten Jahr am 18. Juli war. Wenn Sie in Deutschland 1 Euro verdienen, dann bleiben Ihnen davon 45,7 Eurocent, meine Damen und Herren. Wo soll sich denn da noch Leistung lohnen? Sie sind Robin Hood, aber nicht für die, die hier Leistung erbringen. Sie sind Robin Hood für ein überholtes Europa. ({4}) Fangen Sie also endlich an, unseren Steuertarif auf Rädern zu akzeptieren und auch einzuführen! Denn dann ist er Ihrer Beliebigkeit, Ihren jährlichen Operationen, die ja fehllaufen – dazu sprechen die nackten Zahlen eine klare Sprache –, entzogen. Sie stellen ihn in Ihr Belieben. Ein weiterer wichtiger Grund für die sogenannte kalte Progression ist natürlich auch die Inflation. Meine Damen und Herren, wenn Sie das alles zusammennehmen, dann ist diese Rechtsverschiebung – Sie sehen, Rechtsverschiebung kann manchmal auch schön sein, nicht nur im finanziellen Bereich, sondern, denke ich, auch im gesellschaftlichen – von 1 000 Euro nur billiges Wahlkampfgetöse von Ihnen, damit Sie vielleicht auch in den neuen Ländern über 5 Prozent kommen. Schließen Sie sich unserem Antrag zu dem Tarif auf Rädern an! ({5}) Geißeln Sie nicht einen guten Antrag der Kollegen vom Bund der Steuerzahler, der sehr durchdacht ist und den wir übernommen haben. Wir hören nämlich anders als Sie auf Fachleute wie Herrn Kirchhof und nehmen den Rat guter Fachleute an. Dieser Rat ist gut, und er wäre endlich wieder die Rückkehr zur sozialen Marktwirtschaft der CDU. Machen Sie endlich mal das wahr, was Sie in Ihrem Programm haben! Gehen Sie mit uns den Schritt: Beschließen Sie den Tarif auf Rädern! Danke. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Wiebke Esdar, SPD. ({0})

Dr. Wiebke Esdar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich zum Inhalt spreche, möchte ich noch einige Worte dazu verlieren, mit welchem Umgang mit dieser Debatte wir konfrontiert sind. Denn das Prozedere der letzten 24 Stunden im Zusammenhang mit dem, was Sie, die Kolleginnen und Kollegen auf der rechten Seite des Hauses, hier vorgelegt haben, halte ich für unkollegial und auch für schlampig gearbeitet, um das mal so deutlich zu sagen. ({0}) Wir haben uns auf eine Debatte zur Einkommensteuer gefreut und eingestellt. Eigentlich wollten wir drei Anträge beraten – so war es seit längerem angekündigt –, aber gestern kam die erste Entblößung: Die AfD hat erkannt, dass ihr eigener Antrag so schlecht ist, dass sie ihm nicht einmal im Ausschuss zustimmen kann. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich finde das hochnotpeinlich. ({1}) Ich will aber auch ehrlich sagen, dass das größere Ärgernis für mich der späte Zeitpunkt der Veröffentlichung der Anträge ist. Wir sind doch heute hier, um in der Kernzeit des Plenums des Deutschen Bundestages eine Debatte zu führen, die wir alle ernst nehmen sollen. Dazu, dass wir das ernst nehmen – ich denke, das erwarten auch die Wählerinnen und Wähler von uns –, gehört, dass wir uns gewissenhaft und sachgerecht darauf vorbereiten. ({2}) Das ist bei einer so kurzen Vorlage nur schwer möglich. Ihr Antrag von der AfD-Fraktion kam gestern Morgen. Ich frage mich, was da eigentlich so lange gedauert hat und warum Sie ihn so spät vorgelegt haben; denn der Text stammt zu 99 Prozent aus einer Vorlage des Bundes der Steuerzahler; lediglich zwei Sätze und eine Zahl haben Sie verändert. Das finde ich wirklich peinlich. ({3}) Der zweite Antrag, den wir jetzt beraten und der von der FDP-Fraktion immerhin selbst geschrieben ist, ist uns gestern Abend um 18 Uhr zugegangen. Auch das finde ich unangemessen. Ich finde, das ist zu spät. Wir hatten dann 16 Stunden über Nacht die Möglichkeit, uns damit auseinanderzusetzen, zu recherchieren und die Argumente abzuwägen. Wenn Sie als einfache Oppositionsfraktion so arbeiten und möchten, dass wir großzügig mit dieser Art der Verfehlung umgehen, dann bitte ich darum, dass auch Sie dann, wenn wir in der Abstimmung mit der Regierung etwas länger brauchen, entsprechend großzügig sind; denn sonst wäre das mit zweierlei Maß gemessen. ({4}) – Das hat überhaupt nichts damit zu tun. ({5}) Aber um zum Inhalt zu kommen: Fast jede Bürgerin und jeder Bürger führt von seinem erarbeiteten Einkommen Geld in Form von Steuern und Sozialabgaben ab. Wir finden, das ist grundsätzlich eine gute Sache; denn so lebt unsere Gesellschaft. So können wir Investitionen für die Allgemeinheit finanzieren. Es gibt in unserer Gesellschaft auch einen Grundkonsens darüber, dass Steuerprogression gewollt ist, dass also, ganz einfach gesprochen, starke Schultern mehr tragen als schwache. Der – zugegeben sperrige – Begriff der Steuerprogression ist schlicht und einfach gerecht; denn er bedeutet: Je höher das Einkommen ist, desto mehr Steuern werden bezahlt. Von jedem Euro, den ich mehr zahle, gebe ich anteilig mehr an den Staat, um für die Gesellschaft etwas finanzieren zu können. Das ist das Prinzip der Leistungsfähigkeit. Die Steuerprogression wurde übrigens nicht von irgendwelchen Sozialisten eingeführt, sondern von Matthias Erzberger, Mitglied der Zentrumspartei in der Weimarer Republik. – Das ist Konsens. Streit und Diskussionen gibt es immer wieder darüber, welches die richtige Form der Progression ist. Man muss ehrlich sein, dass Teil der Geschichte auch ist, dass die Diskussion häufig immer wieder von Irrtümern, von Fehlberechnungen und schlichtweg auch von falschen Behauptungen – davon haben wir heute schon einige gehört – beeinflusst wird. Beispiele finden sich auch in den beiden vorliegenden Anträgen der FDP und der AfD. Aber ich sage Ihnen: Wir fallen nicht darauf rein. Wir werden mit Fakten argumentieren. ({6}) Die kalte Seite der Progression – um dies klar zu sagen – ist nicht im Sinne des Erfinders. Niemand will, dass die Inflation die Gehaltserhöhungen aufzehrt, das Gehalt dann in eine höhere Steuerklasse fällt und ein höherer Steuersatz bezahlt wird. Das ist ungerecht; darüber sind wir uns einig. Aber das Problem ist aktuell nicht in einem bedeutsamen Umfang vorhanden. Wenn die AfD behauptet, die kalte Progression wäre eine heimliche Form der Steuererhöhung, dann ist das schlichtweg falsch. ({7}) Fakt hingegen ist, meine Damen und Herren, dass es in den letzten Jahrzehnten bereits wiederholt Entlastungen bei der Einkommensteuer gegeben hat. Die Wirkungen der kalten Progression wurden immer kompensiert, in Teilen sogar überkompensiert. Zuletzt haben wir das in der Anhörung zum Familienentlastungsgesetz von Professor Achim Truger in seiner Stellungnahme gesagt bekommen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gottschalk, AfD?

Dr. Wiebke Esdar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. – Die Bundesregierung stellt nämlich seit 2015 über den Steuerprogressionsbericht regelmäßig sicher, dass der Effekt der kalten Progression durch die Anhebung des steuerlichen Grundfreibetrags sowie die Verschiebung der Eckwerte des Einkommensteuertarifs nach rechts kompensiert wird – nicht automatisch, aber immer wieder regelmäßig. ({0}) Das Problem der kalten Progression ist also bestenfalls überbewertet. Ein wirklicher Handlungsbedarf besteht nicht. Meine Damen und Herren, das Ansinnen des FDP-Antrags, die Mittelschicht besserzustellen, ist im Grunde gar nicht falsch. Aber erstens verschweigen Sie, dass wir gerade letztes Jahr eine massive Entlastung in Höhe von rund 10 Milliarden Euro beschlossen haben. Zweitens warten Sie in Ihrem konkreten Antragstext wieder mit den wohlklingenden Worten „Chancentarif“ und „Agenda der Fleißigen“ auf. Das ist Anti-Steuerlobby-Sprech pur und passt nicht zu den Tatsachen, die dahinterstehen. Ich möchte zwei kurze Beispiele nennen: Erstens wird wieder einmal die Behauptung aufgestellt, schon Durchschnittsverdiener zahlten in Deutschland den Spitzensteuersatz. Das ist falsch. Die FDP spielt an dieser Stelle wieder mit den Begrifflichkeiten des Grenz- und des Durchschnittssteuersatzes. In Wahrheit zahlt ein Single annäherungsweise erst ab einem Einkommen von über einer halben Million Euro tatsächlich den Spitzensteuersatz von 42 Prozent. ({1}) Mit einem solchen Einkommen ist man aber wahrlich kein Durchschnittsverdiener mehr. ({2}) Zweitens reden Sie davon, das Familienentlastungsgesetz habe die kalte Progression nur minimal ausgeglichen und die Regierung habe nur das verfassungsrechtlich Gebotene getan. Auch das ist falsch. Das Gutachten von Professor Truger – ich habe darauf verwiesen – hat das Gegenteil belegt. Darum gilt, meine Damen und Herren, für unsere Politik: Wir behalten die Gesamtsituation im Blick. Wir tun auch etwas dafür, dass Familien entlastet werden. Aber es geht eben nicht nur darum, dass wir bei den Steuern entlasten, sondern dass wir in Deutschland beispielsweise auch gute und gut ausgestattete Kitas haben. Wir haben gerade 5 Milliarden Euro von Bundesseite eingesetzt, um in gute Qualität zu investieren. Diese Investition ist die Form von Entlastung, die wir für den Mittelstand brauchen. Das sind nämlich Investitionen in unsere Zukunft. Das sollten Sie mit im Blick haben. Wenn Sie dann noch so ehrlich sind, die vorhandenen Steuerentlastungen mitzuzählen, dann ist ziemlich klar, dass wir Ihren Antrag ablehnen müssen. Danke schön. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat der Kollege Korte nach § 29 Absatz 1 unserer Geschäftsordnung um das Wort gebeten, um einen Antrag zur Geschäftsordnung zu stellen.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Wir haben es freundlich versucht. Ich möchte nach § 42 der Geschäftsordnung den Bundesfinanzminister herbeirufen lassen. Das, was hier stattfindet, ist eine Missachtung des Parlaments. Ich bitte, das jetzt durchzuführen. Danke. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Schneider. ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Wir widersprechen dieser Zitierung. Zwei Staatssekretärinnen sind da: Frau Abgeordnete Hagedorn und Frau Abgeordnete Lambrecht. Der Bundestag ist voll vertreten. Im Übrigen bin auch ich da. ({0}) Von daher, glaube ich, können wir hier gut beraten.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dann lasse ich über den Antrag nach § 42 unserer Geschäftsordnung des Kollegen Korte abstimmen. Wer für den Antrag des Kollegen Korte ist, den Bundesfinanzminister gemäß § 42 unserer Geschäftsordnung herbeizurufen, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? ({0}) Das Präsidium ist sich über die Mehrheitsverhältnisse nicht einig. ({1}) Wir müssen jetzt durch eine Auszählung der Stimmen feststellen, wie die Mehrheitsverhältnisse sind. Das Verfahren heißt Hammelsprung. Ich bitte Sie, den Saal zu verlassen, damit wir über den Antrag der Fraktion Die Linke abstimmen können. Wenn Sie es schnell machen, ist der Zeitverlust nicht ganz so groß. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie noch einmal bitten, den Saal zu verlassen; denn bevor Sie nicht den Saal verlassen haben, können wir mit der Auszählung nicht beginnen. – Herr Kollege Schneider, der Tag geht auch so vorüber, aber die Sitzung geht nicht voran. Sie können alle Gespräche auch außerhalb des Saales führen, weil Sie alle sowieso gleich draußen sind. Bitte tun Sie es zügig! – Ich darf auch die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion bitten, den Saal zu verlassen. Herr Kollege Binding, Sie können ja Ihren Meterstab hier liegen lassen. Ich achte darauf, dass er nicht abhandenkommt. Bitte verlassen Sie jetzt den Saal, damit wir die Türen schließen und mit der Auszählung beginnen können. Ich bitte, die Türen zu schließen. – Dann kann ich jetzt die Abstimmung eröffnen. Ist noch jemand da, der an der Abstimmung teilnehmen will? Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bekomme das Zeichen, dass wir die Abstimmung schließen können. Dann ist die Abstimmung geschlossen. Ich bitte, mir das Ergebnis der Abstimmung mitzuteilen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe das Ergebnis der Abstimmung durch Auszählung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Herbeirufung des Bundesfinanzministers bekannt: abgegebene Stimmen 508. Mit Ja haben gestimmt 217, mit Nein haben gestimmt 291. Enthalten hat sich niemand. Der Antrag ist damit abgelehnt. Wir fahren in der Aussprache fort. Der nächste Redner ist der Kollege Fabio De Masi, Die Linke. ({2})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Kollege Korte hat es ja nur gut gemeint mit dem Bundesfinanzminister. Er war nämlich in großer Sorge darüber, dass der Finanzminister meine Rede hier verpasst. Wir sprechen heute über den Mittelstand. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege De Masi, warten Sie noch einen Moment. Sie können gleich noch einmal beginnen. – Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Wiedersehensfeiern zu beenden und entweder Platz zu nehmen oder den Plenarsaal zu verlassen, ({0}) weil der Redner Anspruch darauf hat, gehört zu werden und gehört werden zu können. – Herr Kollege Dehm, dazu hätte es Ihrer Ermahnung nicht bedurft. Ich bitte noch einmal darum, dass diejenigen, die nicht zuhören wollen, den Plenarsaal verlassen. Herr Kollege De Masi, Sie haben das Wort.

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich glaube, ich habe gerade ein Déjà-vu. Wir sprechen heute über den Mittelstandsbauch bei Steuern. Klar ist: Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen in diesem Land müssen gestärkt werden. Aber die große Mehrheit der Bevölkerung ist oft schlauer, als es die FDP erlaubt; ({0}) Sie wissen: Billig ist das neue Teuer. Wenn ich allen verspreche, die Steuern zu senken, aber nicht sage, wer den Abwasch erledigt, dann haben wir hinterher ein Problem. ({1}) Das heißt nämlich, dass wir noch weniger in Brücken, Universitäten und Schulen investieren oder übermorgen die Mehrwertsteuer erhöhen, die die kleinen Leute zahlen. Meine Steuern brauchen Sie nicht zu senken, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP. ({2}) Das Problem ist doch: Es gibt zu viele Menschen, die so wenig verdienen, dass sie kaum Einkommensteuer zahlen. Die Spitzenverdiener wurden in den letzten Jahren entlastet. Dadurch wird die Mitte geschröpft. Wer die Mitte entlasten will, muss die wirklich Reichen in diesem Land zur Kasse bitten. ({3}) Der Gesetzentwurf der FDP und die Anträge der AfD gehen daher am Problem vorbei. Der AfD ist ja selten irgendetwas wirklich peinlich; aber in diesem Fall mussten Sie Ihren Antrag zur kalten Progression beerdigen. Und das ist auch gut so. Er strotzt nämlich vor Fehlern. Sie schreiben etwa, alle Steuersenkungen der Vergangenheit seien schwächer ausgefallen als die heimlichen Steuererhöhungen. Da müsste die Steuerquote über die Jahre geradezu explodiert sein. Das ist sie aber nicht; sie entwickelt sich im Rahmen der Konjunktur. Nun zur FDP. Ich hatte mich auf diese Debatte gefreut und dachte: Jetzt kommen endlich Bierdeckelsteuer, Flat Tax oder irgendein anderer Hit aus dem Steuerkaraoke. Den Unterschied zum GroKo-Tarif muss man aber mit der Lupe suchen. Die maximale Entlastung von 140 Euro im Jahr – das sind 38 Cent pro Tag – greift im Antrag der FDP bei einem zu versteuernden Einkommen von 60 000 Euro. Der Anstieg bei den mittleren Einkommen ist auch nicht weniger steil als bei der GroKo. Was ist los, Sportsfreunde? Früher war wirklich mehr los mit euch. ({4}) Worum geht es eigentlich überhaupt beim Mittelstandsbauch? Es geht darum, dass man mit steigendem Einkommen in einen höheren Steuertarif rutscht. Man hat bei steigendem Einkommen also mehr Geld als vorher, darf aber vom zusätzlichen Einkommen weniger behalten.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen der AfD-Fraktion?

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, sehr gerne.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bitte, Herr Kollege.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr De Masi, Sie führten aus, dass die Steuerquote sich im Rahmen bewege. Sie haben aber in meiner Rede, glaube ich, hören können, dass die Steuerquote 2018 bei 22,8 Prozent und im Jahre 2005 noch bei 19,6 Prozent lag. Das sind 3,2 Prozentpunkte Unterschied. ({0}) Wenn wir es in Prozent ausrechnen, dann sind wir bei einem Anstieg der Steuerquote von über 15 Prozent. Würden Sie mir auch dahin gehend zustimmen, dass Bürger eben nicht nur über die Steuern belastet werden, sondern auch über die Abgaben? Sehr aussagekräftig ist dazu der Steuerzahlergedenktag. Geben Sie bitte auch zu, dass es vorkommen kann, dass ein Antrag, der nicht schlecht ist, überholt ist, nämlich durch unseren Antrag „Tarif auf Rädern“! Es wäre fair, nicht etwas schlechtzureden, was gut ist. Wir haben einfach etwas Besseres dagegengestellt, nämlich unseren Antrag „Tarif auf Rädern“, um genau die beschriebenen Probleme abzumildern. ({1}) – Wir haben bei euch gar nichts geklaut. ({2})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich würde empfehlen: Sie klären Ihren Streit vor der Tür. – Ich kann Ihnen sagen: Die Steuerquote ist kürzlich um 0,4 Prozent gestiegen. Das bewegt sich im Rahmen der Konjunktur. Im langfristigen Verlauf gibt es da überhaupt keine erheblichen Schwankungen. Die Frage ist, wer besteuert wird, wer in diesem Land Steuern zahlt. Das ist doch die Frage, und zu dieser Frage schweigen Sie, weil Sie am Rockzipfel von Oligarchen wie Herrn Finck hängen. Das sollten Sie der Bevölkerung einmal erklären. ({0}) Worum geht es also beim Mittelstandsbauch? Es geht darum, dass man mit steigendem Einkommen in einen höheren Steuertarif rutscht. Man hat also bei steigendem Einkommen mehr Geld als vorher, darf davon aber weniger behalten. Das ist der Zusammenhang. Das ist wie bei der Steigung an einem Berg. Man steigt höher und höher, aber man lässt dabei auch mehr Kraft. Den Mittelstandsbauch zu beseitigen, hieße, diesen Anstieg flacher zu machen – also eher Hamburger Berg als Matterhorn. Es gibt dafür drei Möglichkeiten: Erstens. Man erhöht den Eingangssteuersatz. Man fährt also mit dem Aufzug die ersten 100 Meter des Berges hoch. Dann ist der Weg bis zum Gipfel des Spitzensteuersatzes nicht mehr so steil. Das heißt aber, dass man die Steuern für Geringverdiener erhöht. Für jemanden, der wenig verdient, wäre das sogar extrem steil, weil der Staat bei 1 Euro über der Verdienstgrenze stärker zuschlägt. Man würde also beim Verlassen des Fahrstuhls gleich zur Kasse gebeten werden. Zweitens. Man senkt den Gipfel des Berges, also den Spitzensteuersatz, ab. Dann ist es weniger steil, aber ungerecht. In den letzten 20 Jahren wurden laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung die obersten 30 Prozent der Haushalte entlastet und die unteren 70 Prozent stärker belastet. ({1}) Es gäbe eine dritte Möglichkeit, die Mitte zu entlasten, nämlich den Spitzensteuersatz wieder zu erhöhen. Er sollte aber später greifen, und das will die Linke. ({2}) – Ihr wollt das auch? Es freut uns natürlich, das zu hören. Darüber unterhalten wir uns dann noch mal. – Der Gipfel des Berges liegt dann höher, aber der Anstieg verteilt sich auf eine längere Strecke, und man kann unterwegs die Aussicht genießen. Ein Single mit der Steuerklasse 1, der den Spitzensteuersatz zahlt, zahlt auch heute nicht 42 bzw. 45 Prozent auf das gesamte Einkommen. Wer 55 961 Euro verdient, zahlt auf die ersten 9 168 Euro nichts und auf den ersten Euro nach 55 960 Euro 42 Cent Steuern. Deswegen wäre es besser, das Wort „Spitzensteuersatz“ aus dem Wörterbuch zu streichen und nur noch über den durchschnittlichen Steuersatz zu sprechen. Dieser liegt bei diesem Beispiel nämlich bei 28 Prozent. ({3}) Die Linke will einen Spitzensteuersatz von 53 Prozent wie unter Helmut Kohl, aber Bruttoeinkommen bis 7 100 Euro im Monat entlasten. Zusätzlich sollte jeder Euro Einkommen über 1 Million Euro mit einer Reichensteuer von 75 Prozent belegt werden. ({4}) – Warten Sie ab. – Die Kongressabgeordnete aus den USA Alexandria Ocasio-Cortez forderte ebenso wie die Linke eine Reichensteuer von 70 Prozent für Einkommen über 10 Millionen Dollar. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman unterstützte sie. Er erinnerte daran, dass der Spitzensteuersatz unter Roosevelt in den USA bei 91 Prozent lag. Ocasio-Cortez spricht von Roosevelt, und wir sprechen von Helmut Kohl. Das ist doch wirklich bescheiden. ({5}) Ich fasse zusammen: Die Linke will Superreiche stärker besteuern, kleine und mittlere Einkommen entlasten und in die Zukunft dieses Landes investieren. Damit sind wir im Bundestag noch sehr alleine, aber nicht in diesem Land. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege De Masi. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Drei Punkte zum FDP-Antrag: ({0}) Erstens. Für mich war das schon eine kleine Überraschung, als ich mir diesen Antrag genau angeguckt habe. Da beantragt die FDP hier doch tatsächlich eine gezielte Entlastung für kleinere Einkommen, nicht für die allerkleinsten, aber für kleinere Einkommen, ({1}) und will – das muss man, finde ich, auch mal sagen – den Einkommensteuertarif ausschließlich in der zweiten Tarifstufe verändern. So weit, so gut. Zweitens. Mir fehlt dann natürlich doch der Glaube, was den steuerpolitischen Anspruch der FDP insgesamt oder unsere Debatte hier im Haus angeht. Letztlich sagen Sie: Das soll nur ein Einstieg sein. In den folgenden Jahren soll der Tarif dann weiter abgeschmolzen werden. Dann wird sich das ja auch auf alle anderen Stufen beziehen. – Wenn man das dann durchdekliniert, muss man sich fragen, was das bedeutet. Dann landen wir im Grunde wieder da, dass diejenigen, die viel verdienen, die bei unserem progressiven Einkommensteuertarif mehr zahlen, am Ende logischerweise auch stärker entlastet werden, es sei denn – das tun Sie nicht, meine Damen und Herren von der FDP –, Sie ziehen dann doch in Erwägung, die höchsten Spitzeneinkommen stärker zu besteuern. Das wäre im Sinne der Gerechtigkeit angezeigt. ({2}) Sie argumentieren an anderer Stelle häufig, dass man nicht mit der Gießkanne verteilen soll. Ich habe das hier bisher nicht erwähnt, aber ich sage, weil wir hier x-mal – auch auf Ihren Antrag hin – über den kompletten Wegfall des Solidaritätszuschlags diskutiert haben, Folgendes: Was Sie da fordern, ist ganz klar: Ihnen reicht es nicht, dass 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger um 10 Milliarden Euro entlastet werden – wir finden, dass man das im Haushalt im Moment gar nicht gut darstellen kann –, sondern Sie wollen noch mal um 10 Milliarden Euro entlasten, und das entlastet ausschließlich die 10 Prozent Bestverdiener in diesem Land. ({3}) Das ist das Steuerkonzept der FDP. So geht es eben nicht auf. ({4}) Wenn es also um den hehren Anspruch geht, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben, dass die Bürgerinnen und Bürger einen fairen Anteil an Wachstums- und Wohlstandsgewinnen haben sollen, dann, finde ich, muss im Endeffekt erst einmal sichergestellt werden, dass die unteren 10 bis 50 Prozent am deutlichsten entlastet werden, und nicht umgekehrt. Deswegen: Zur Fairness gehört Ehrlichkeit. Das Hauptproblem der FDP ist bei diesem Antrag, dass er nicht glaubwürdig ist. ({5}) Sie haben jahrelang Wert darauf gelegt, eben nicht die unteren Einkommen gezielt zu entlasten. Da müssen Sie sich noch einmal überlegen, wie Sie das erreichen wollen. Wenn dieser Antrag der Anfang einer Kehrtwende ist, wäre das ja interessant. Wir werden das weiterverfolgen. Letzter Punkt – er hat auch mit Ehrlichkeit zu tun –: Wenn wir uns die allgemeine Haushaltslage anschauen – wir haben gestern im Haushaltsausschuss darüber debattiert, leider ohne den Finanzminister; er ist ja in Stilfragen komplett unparlamentarisch, und ich sage als Wahl-Hamburgerin: auch unhanseatisch; ({6}) das ist wirklich peinlich; das haben wir ja hier gerade wieder erlebt –, dann stellen wir fest: Sie zwingt uns dazu, bei notwendigen Entlastungen für Bürgerinnen und Bürger sehr gezielt vorzugehen, also bei den unteren und mittleren Einkommen anzusetzen. Das Steuerentlastungsvolumen ist begrenzt. Das ist vor allem auch eine Frage der Generationengerechtigkeit. ({7}) 35 Milliarden Euro, die wir in der Asylrücklage hatten, sind durch den Finanzplan komplett verfrühstückt. Wenn im Mai dieses Jahres die Steuerschätzung kommt – das sagt das Finanzministerium heute –, werden wir pro Jahr 5 Milliarden Euro weniger Steuern einnehmen. Wir haben also heute schon eine ungedeckte Finanzierungslücke von 25 Milliarden Euro.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – In diesen 25 Milliarden Euro sind noch nicht die zusätzliche Soli-Entlastung und noch nicht das Ergebnis der Kohlekommission berücksichtigt. Deswegen muss man gezielt vorgehen und darf es nicht mit der Gießkanne tun. Zur Fairness gehört Ehrlichkeit, und zu einer guten Steuerpolitik gehört auch Generationengerechtigkeit. ({0}) Das vermisse ich bei der FDP, aber bei der Regierung auch. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Hajduk. – Als nächster Redner hat der Kollege Olav Gutting, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Tillmann hat ja vorhin schon über die Verwirrung berichtet, die der Antragswechsel bei der AfD über Nacht hier ausgelöst hat. Ich will das nicht weiter ausbreiten. Schwamm drüber! Aber was wirklich interessant ist, ist, dass mir nicht nur in der Bevölkerung, sondern sowohl bei vielen Verbänden als auch unter den Kolleginnen und Kollegen hier im Plenum immer wieder Menschen begegnen, die noch nicht mitbekommen haben, dass wir das Thema „kalte Progression“ tatsächlich bereits vor langer Zeit nachhaltig angepackt und das Problem gelöst haben. ({0}) Das erste Mal war schon vor über sechs Jahren, noch zusammen mit Ihnen von der FDP in der letzten christlich-liberalen Koalition. Da haben wir 2012 die Weichen gestellt, damit kalte Progression in Deutschland im Steuerrecht nicht mehr zu erkennen ist. Wir haben 2012, dann 2014 und 2015 die kalte Progression beseitigt. Wir haben festgeschrieben und beschlossen, dass die Bundesregierung alle zwei Jahre einen Steuerprogressionsbericht vorlegen muss, damit genau ausgewiesen wird, wie hoch die kalte Progression jeweils ist. Diesen Beschluss habe ich 2012 mit vielen anderen Kollegen maßgeblich mit angeregt und forciert. Damit können wir als Gesetzgeber immer wieder beim Einkommensteuertarif entsprechend nachsteuern und gestalten, so wie wir es gerade erst vor wenigen Wochen beim Familienentlastungsgesetz gemacht haben. Übrigens haben wir mit diesem Familienentlastungsgesetz, mit dem wir eben auch die kalte Progression beseitigt haben, viel mehr getan, lieber Herr Gottschalk, als das Bundesverfassungsgericht und die Verfassung uns vorschreiben. Wenn Sie hier der Regierung Robin-Hood-Manier ankreiden, dann muss ich sagen: Wenn Sie nicht erkennen, was die Wahrheit ist, dann sind Sie Pinocchio. ({1}) Wir haben den Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer angehoben. Wir haben den Tarif nach rechts verschoben und damit den Ausgleich für die kalte Progression sichergestellt. Ich will es noch einmal mit anderen Worten sagen – vielleicht auch zum Mitschreiben, damit das zukünftig auch jeder erkennen kann; dann wird es beim nächsten Mal auch nicht so peinlich –: Mit den von uns getroffenen Maßnahmen gibt es auch in den Jahren 2019 und 2020 keine kalte Progression. ({2}) Wir haben hier auch keine heimliche Steuererhöhung. Wenn man die Unkenntnis von manchen betrachtet, dann könnte man meinen, wir hätten hier eine heimliche Steuersenkung, die irgendwie noch gar nicht verinnerlicht ist, und das im Rahmen des Familienentlastungsgesetzes. Das ist auch der große Unterschied zwischen unserem Weg und dem hier geforderten Tarif auf Rädern bei der Einkommensteuer. Beim Tarif auf Rädern würde ja die Anpassung automatisiert. Sie würde nachträglich immer wieder ohne Einwirkungen des Gesetzgebers erfolgen. Aber das wollen wir nicht. Wir wollen uns nicht mit einem Automatismus zufriedengeben, sondern wir wollen, dass der Gesetzgeber aktiv, proaktiv jeweils Vorsorge betreibt. Durch die Verpflichtung der Bundesregierung, alle zwei Jahre einen Progressionsbericht vorzulegen, ist der Gesetzgeber immer wieder im Zugzwang, für den Steuerzahler tätig zu werden. Richtig ist auch – das nun zum Antrag der FDP –, dass durch die Änderungen beim Einkommensteuertarif in den letzten Jahrzehnten ein Mittelstandsbauch – besser gesagt: ein Mittelstandsbuckel – entstanden ist. Der Einkommensteuertarif hat tatsächlich einen Knick; er verläuft nicht durchgehend linear-progressiv. Auf diesen Sachverhalt ist der Antrag der FDP gerichtet. Der Titel ist ja sehr wohlklingend. Das ist schöne Gesetzgebungslyrik. Aber es ist richtig: Einen Anknüpfungspunkt haben wir in dieser Debatte schon, auch bei der CDU/CSU. Wir müssen darüber grundsätzlich diskutieren. Wir alle kennen die Fälle aus den Betrieben, aus der Praxis. Hochmotivierte Mitarbeiter kommen zum Chef und sagen: Chef, wenn du mich brauchst, dann bin ich gerne da, dann arbeite ich auch mehr, und wenn es brennt, kommt ich auch am Samstag. – Vier Wochen später kommen diese Mitarbeiter zum Chef und sagen: Chef, guck dir mal meinen Lohnsteuerbescheid, meine Abrechnung an. Guck dir mal an, was ich von dem, was ich hier mehr verdiene, netto herausbekomme. – Dann war das der letzte Samstag, den dieser Mensch im Betrieb gearbeitet hat. ({3}) Denn er sagt sich: Für 20 Euro mehr netto gehe ich nicht noch samstags in den Betrieb. ({4}) Es ist der Wunsch der Union, das Steuersystem hier leistungsfreundlicher zu machen. Es ist uns ein Anliegen, den Mittelstandsbauch abzuflachen und den Spitzensteuersatz so zu verschieben, dass er eben nicht schon nahe dem Durchschnittseinkommen zu greifen beginnt. ({5}) In einer ersten Stufe wäre es denkbar, den Grenzsteuersatz für den Endpunkt der ersten Progressionszone von 24 auf 20 Prozent abzusenken und dadurch den Tarifverlauf abzuflachen. Wir müssten dann gleichzeitig die zweite Progressionsstufe am Ende, wo bisher der Spitzensteuersatz bei knapp 55 000 Euro zu versteuerndem Jahreseinkommen beginnt, um mindestens 7 000 Euro nach hinten schieben, um eine entsprechende Entspannung und einen leistungsfreundlicheren Tarifverlauf zu bekommen. Klar ist auch: So eine Glättung ist für den Fiskus ein teures Unterfangen. Das schütteln wir nicht gerade so aus dem Ärmel. Ich bin froh, dass Sie in seltener Manier auch in Ihrem Antrag – für einen Oppositionsantrag bemerkenswert – zumindest einen halben Satz darauf verwenden, dass das Ganze ziemlich teuer ist; so viel mal als Anerkennung. Die Kosten sind tatsächlich gewaltig, und wir wollen selbstverständlich nicht eine Steuererhöhung an anderer Stelle. Hier muss ich sagen, Herr De Masi: Wenn Sie beim Spitzensteuersatz immer wieder auf Helmut Kohl verweisen, dann seien Sie doch bitte so seriös und ehrlich und sagen auch, dass damals bei erhöhtem Spitzensteuersatz eine ganz andere Bemessungsgrundlage gegolten hat und dass diese Bemessungsgrundlage viel schmaler war. ({6}) Unsere Position in der Union ist eindeutig: Wir wollen eine Korrektur beim Tarifverlauf. Wir erachten das für geboten, und zwar gerade für die mittleren und unteren Einkommen. Es wäre durchaus sinnvoller und nachhaltiger, darüber zu diskutieren, als eine Verschrottung der Agenda 2010 vorzunehmen. ({7}) Da werden wir mit unserem Koalitionspartner kurzfristig keine Ergebnisse erzielen; das ist kein Geheimnis, das kann man hier offen sagen. Wir werden aber weiter für ein leistungsfreundlicheres, ein leistungsgerechteres Einkommensteuersystem streiten.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Weil wir uns noch in dieser Diskussion befinden, können wir Ihrem Antrag heute nicht zustimmen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Albrecht Glaser, AfD-Fraktion. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man nicht über die Sache reden will, redet man über das Verfahren. Den Antrag zurückzuziehen, wird zu einem Thema aufgebauscht. Es können auch noch am Morgen eines Plenartages Anträge zurückgezogen werden. Das ist ganz unspektakulär. Aber Sie gestatten mir vielleicht trotzdem folgende Bemerkung: Bis 48 Stunden vor Plenumsbeginn können – das mussten wir erst lernen – noch Gesetzesanträge eingebracht werden, um sie hier zu beraten. Das steht in der Geschäftsordnung. Das gilt in der Tat auch für Anträge. Eine solche Frist ist eigentlich völlig unzumutbar. Sie, Frau Tillmann, haben das zu einer Stilfrage erklärt; das ist okay, das kann man machen. Man kann nach der Geschäftsordnung aber tatsächlich so verfahren. (Zuruf der Abg. Antje Tillmann [CDU/CSU] Ich kann Ihnen sagen – durchaus in Abstimmung mit meiner Fraktion –: Lassen Sie uns ernsthaft darüber nachdenken, dass wir in der Geschäftsordnung die Fristen, bis wann man Anträge und Gesetze vorlegen kann, verlängern. Das wäre für uns alle gut und auch für die Qualität der Beratungen hier. Das wäre eine absolut konstruktive Vorgehensweise. – Das nur zu diesem Thema, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Nun zum Kern der Sache, nämlich „Tarif auf Rädern“, also eine dauerhafte, fest installierte Indexierung, oder nicht. Erstens. Es gibt eine Fülle von Ländern, die das machen; ich komme gleich darauf zu sprechen. Zweitens. Als Abgeordnete haben wir bekanntlich eine Kostenpauschale. Sie ahnen, worauf ich hinauswill: Diese Kostenpauschale ist indexiert; denn sie wird jährlich automatisch angehoben. ({1}) – Das ist so. – Das Gleiche gilt auch für die Abgeordneten­entschädigung. Auch hier gibt es einen Automatismus; es sei denn, wir fassen einen Verweigerungsbeschluss. ({2}) Man könnte dem Steuerbürger gegenüber den Staat so aufstellen, dass er sagt: Wir nehmen wahr, dass sich jährlich die Steuerlast ändert, ohne dass der Gesetzgeber einen Finger rührt, nur deshalb, weil die Inflation das Geld entwertet ({3}) – kleinen Moment! – und damit durch den historischen Tarif, der in Euro-Zahlen ausgewiesen ist, tatsächlich jährlich mehr aus der Tasche genommen wird. – Jetzt kommt der Kollege und sagt: Wir machen so eine Art Kompensation doch. Zum einen machen Sie das erst seit ein paar Jahren. Das ist ja lobenswert. ({4}) – Ich war damals aber auch schon Steuerzahler. Erzählen Sie mir also keine Geschichten. ({5}) Ich habe damals über dieses Thema Vorträge gehalten. Ich wusste da ganz gut Bescheid. ({6}) – Jetzt lassen Sie mal! Heben Sie mal das intellektuelle Niveau, und senken Sie die akustische Kulisse! Meine Damen und Herren, wir haben das Thema der kalten Progression respektive der heimlichen Steuererhöhung deshalb thematisiert, weil wir sagen: Eine Kompensation muss installiert werden, und es ist nicht nach Gutsherrenart jedes Jahr neu zu entscheiden. – Das ist der entscheidende Punkt. Da Sie, wie Sie das natürlich getan haben, das Familienentlastungsgesetz ansprechen: Beim Familienentlastungsgesetz ist schon der Begriff falsch. Ich will mal nicht vom Kindergeld reden; das ist tatsächlich erhöht worden. Herr Gutting hat insofern recht, es enthält einige Details, die eine tatsächliche Verbesserung bedeuten; d’accord. Aber der Kern war, dass eine heimliche Steuererhöhung vermieden werden sollte durch ein Weitergeben der Inflation in den Tarif. Das war der Kern. Der Herr Finanzminister hat vorgetragen, das sei eine Entlastung. Ich habe den Finanzminister von hier aus gefragt: Lieber Herr Finanzminister, könnten Sie vielleicht dem Gedanken Rechnung tragen, dass die Vermeidung einer zusätzlichen Belastung keine Steuerentlastung ist? Exakt so habe ich ihn gefragt. Der Minister hat kurz gestutzt – er musste wahrscheinlich nachdenken, weil die Frage ein bisschen kompliziert gestellt war; das gebe ich zu –, hat dann aber gesagt, nein, er könne sich diesem Gedanken nicht öffnen. ({7}) Meine Damen und Herren, auf die Frage, ob zwei plus zwei vier sind, können Sie natürlich antworten, darüber müssten Sie erst einmal nachdenken; es könnte irgendwas zwischen drei und fünf sein. Das kann man machen, ist aber intellektuell nicht redlich und, mit Verlaub, grottenfalsch. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Also, die Vermeidung von Steuererhöhungen ist keine Entlastung. Aber Sie verkaufen das jedes Jahr wieder unter einem solch falschen Etikett. Wenn Sie indexieren würden – –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Entschuldigung, den Satz darf ich noch sagen mit Ihrer freundlichen Erlaubnis, Herr Präsident. – In der Schweiz, in Frankreich, in den Niederlanden, in Schweden, in den USA, in UK, in den USA und in vielen anderen Ländern wird genau das gemacht, was wir heute wollen. Insofern ist das ein anständiger Umgang – – ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen. Als Nächster hat das Wort der Kollege Lothar Binding, SPD-Fraktion. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Wort zur Entscheidung nach Gutsherrenart. Die Hoheit über das Budget ist nicht Entscheidung nach Gutsherrenart; das ist unsere Verantwortung. ({0}) Es ist unsere Pflicht, jedes Jahr zu entscheiden, was wir tun werden. Wir nehmen Steuern ein, wir geben Steuergelder aus, und zwar immer von den Bürgern für die Bürger. Wir sind also doch lediglich der Organisator dieses Systems. Dahinter steht Verantwortung und nicht Handeln nach Gutsherrenart. ({1}) Ein Mythos ist eine Erzählung, erhebt aber üblicherweise Anspruch auf Geltung für die von ihm verbreitete Wahrheit. Das ist ein super System. Wer sich mal über Steuermythen informieren möchte, der findet unter „steuermythen.de“ von Cansel Kiziltepe unter Punkt 15 etwas zur kalten Progression. Da kann man sehr viel lernen. Ich habe heute gelernt, dass sich Leistung und Fleiß wieder lohnen müssen. ({2}) Da ist mir eingefallen, wie das so funktioniert: Ein Hedge­fondsmanager verdient, wenn er Pech hat, 2 bis 3 Millionen Euro, ansonsten 3 bis 6 Millionen Euro. Ich weiß nicht, ob jemand von Ihnen auf der Zuschauertribüne in dieser Kategorie verdient; dann müsste ich mich neu sortieren. Auf der anderen Seite steht eine Mutter, die vielleicht einen alzheimerkranken Vater pflegen muss, die morgens die Kinder in die Schule oder in den Kindergarten bringen muss – sie hat damit vielleicht ein Riesenproblem – und die zwischendrin arbeiten gehen muss, meistens eine Putzstelle. Sie kommt abends kommt total fertig nach Hause und muss dann noch die Hausaufgabenbetreuung übernehmen. Leistung muss sich wieder lohnen. ({3}) Das ist der Hintergrund, warum wir sagen: Wir brauchen das Gute-Kita-Gesetz, das Starke-Familien-Gesetz; denn man muss genau hinsehen und überlegen, wo man ansetzt. Diesen Menschen können wir steuerlich gar nicht helfen, weil sie gar keine Steuern bezahlen. Das gehört zur Ehrlichkeit dazu. ({4}) Deshalb Vorsicht: Wer sagt, er wolle durch Steuersenkung den Armen helfen, der will sie hinter die Fichte führen. Das ist völlig klar. Manchmal lügen Zahlen, aber manchmal sagen sie auch die Wahrheit. Kann mir jemand sagen, ob wir die Steuern seit 1991 erhöht oder gesenkt haben? Die Antwort ist: Wir haben die Steuern genau zweimal erhöht, einmal durch den Soli – darum geht es ja neuerdings wieder – und zum Zweiten durch die Reichensteuer – was ganz Dramatisches: ab 250 000 Euro Einkommen 3  Prozentpunkte mehr Steuern. Wir haben die Steuern zweimal lächerlich angehoben, aber die Sätze dramatisch gesenkt. Man muss aber natürlich auch auf die Bemessungsgrundlage schauen – da hat Herr Gutting recht –, die diesen Sätzen zugrunde liegt. Machen wir es mal etwas konkreter. Wenn jemand 20 000 Euro pro Jahr verdient, hat er einen Steuersatz nach der Splittingtabelle von 16 Prozent, muss aber im Durchschnitt 1 Prozent Steuern bezahlen. Jemand, der 40 000 Euro verdient, hat einen Steuersatz von 26 Prozent; der Durchschnittssteuersatz beträgt aber nur 12 Prozent. Jemand, der ein Einkommen von 1 Millionen Euro hat – das ist relativ viel –, muss 45 Prozent bezahlen; der Durchschnittssteuersatz liegt bei 42 Prozent. Jetzt fragen wir mal nicht, was die Menschen bezahlen, sondern was ihnen bleibt. Dem, der 20  000 Euro verdient, bleiben 19 700 Euro. Die Steuerlast beträgt 300 Euro, also relativ wenig; das mag er hinnehmen. Bei 40 000 bleiben ihm 34 900 Euro. Ich mache einen Schritt nach vorne: Bei einem Einkommen von 1 Millionen Euro bleiben dem Steuerzahler heute 560 000 Euro übrig. ({5}) Wenn jemand 560 000 Euro übrig hat und meint, andere müssten mit 10 000, 12 000, 14 000 Euro zurechtkommen, dem sage ich, er ist mit einem super Steuersatz bedient. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm?

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das machen wir zum Schluss vielleicht.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Zum Schluss gibt es keine Zwischenfragen.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erinnern wir uns mal, wie die Steuersätze in der Nachkriegszeit waren. Weiß das noch jemand? Ich folge nicht dem Antrag der Linken mit 75 Prozent. Das hat Hollande versucht – mit dem entsprechenden Ergebnis. Nein. – Weiß noch jemand, wie es in der Nachkriegszeit bis 1953 war? ({0}) Zwischen 80 und 93 Prozent. Die Leute sind trotzdem in Deutschland geblieben. Ich will das nicht vergleichen; denn die Zeit war anders. ({1}) Ich wollte nur sagen: Die Dimensionen waren ganz anders. Ich bin übrigens dafür – das ist ein ganz praktischer Vorschlag –, dass wir die Durchschnittssteuersätze auf den Steuerbescheid schreiben, damit die Leute wissen, wie viel Steuern sie zahlen, ({2}) und damit nicht nur Zahlen im Gesetz stehen, was niemand versteht. Die FDP will mehr Gerechtigkeit und den Einkommensteuertarif anpassen – ich zitiere –, „sodass die Steuerlast nicht gerade bei den kleinen und mittleren Einkommen am stärksten ansteigt“. Deshalb schlägt sie jetzt vor, den Tarifeckwert zu verschieben. Jetzt überlegen wir mal: Ist damit das Ziel eigentlich zu erreichen? ({3}) Steigt nicht auch nach Ihrem Modell am Anfang die Steuerlast in der Durchschnittssteuerkurve am steilsten? Die Antwort ist Ja. Sie haben überhaupt keine Idee, wie man das vermeiden kann. ({4}) Ich kann Ihnen auch erklären, warum man das gar nicht vermeiden kann. Das hat damit zu tun, dass wir eine gekrümmte Kurve haben. Die gekrümmte Kurve fängt irgendwann an. Dann ist sie sehr steil; das ist unvermeidbar. Wenn sie gegen unendlich geht, wird die Krümmung irgendwann ganz flach. Deshalb ist es immer so: Der Zuverdienst des Millionärs wird in seiner Steigung sehr viel weniger stark belastet als der des Ärmeren. Das können Sie systematisch überhaupt nicht vermeiden; sonst müssten Sie sich etwas ganz Neues überlegen. Man kann sehr schön sehen, dass das nicht funktioniert. Sie haben sich da also vergaloppiert. Das wäre kein Chancentarif, sondern Ihr Tarif wäre letztendlich für die kleinen Leute ein Belastungstarif und für die reichen Leute ein Entlastungstarif. ({5}) Das ist auch Ihr eigentliches Ziel. Denn Sie sagen, Sie wollen einen linear-progressiven Tarif. Sie sagen nicht, wo dieser anfängt und wo er aufhört. ({6}) Der linear-progressive Tarif würde Ihre Bedingung nur erfüllen, wenn er weitergeht. Warum hören Sie eigentlich irgendwann auf? Warum geht der linear-progressive Tarif nicht über 45 Prozent hinaus, vielleicht 46, 47, 48 oder 49 Prozent? ({7}) Ich finde, wenn von 1 Million nur 450 000 Euro übrig blieben, würde das auch genügen. Insofern glaube ich: Wer über Gerechtigkeit nachdenkt, muss Ihren Antrag ablehnen. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Binding. – Ich will darauf hinweisen, dass Zwischenfragen nur während der Rede möglich sind und nicht am Ende einer Rede. ({0}) – Ich weiß, dass ich recht habe. Ich wollte nur noch einmal darauf hinweisen. Die Linke-Fraktion hat um eine Kurzintervention gebeten. Ich bitte den Kollegen Dehm, jetzt seinen Beitrag zu leisten.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Kollege Binding, schon in den Zeiten, als ich in der SPD war, habe ich Ihnen immer gerne zugehört; denn Sie haben in den rhetorischen und teilweise auch demagogischen Nebel etwas Klarheit gebracht – so auch diesmal wieder. Aber in einem Punkt muss ich Ihnen umso entschiedener widersprechen, und zwar, wenn Sie sagen, dass die Armen keine Steuern zahlen. Das haben Sie eben gesagt. Sie zahlen für jeden Laib Brot und für jeden Kaffee Mehrwertsteuer. Meine Frage an Sie wäre gewesen, hätten Sie die Frage zugelassen, ob sich die SPD nach Ihren vormaligen Bekundungen, als sie gemeinsam in der Großen Koalition die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht hat, mit Ruhm besudelt hat. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Binding, ich gehe davon aus, dass Sie auf diese polemische Frage antworten wollen. ({0}) – Herr Kollege Dehm, es wäre ein Gebot der Höflichkeit, Sie würden stehen bleiben. ({1})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Kollege hat hundertprozentig recht. Ich habe von „Steuer“ gesprochen, nicht von „Einkommensteuer“. Mein Argument galt für die Einkommensteuer, die progressiv ist. Sie weisen auf die Mehrwertsteuer hin. Diese ist regressiv, hat also genau den gegenteiligen Effekt. Insofern haben Sie recht. Deshalb konzediere ich das. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Florian Toncar, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zumindest außerhalb dieses Saales ist es nahezu Konsens, dass die Steuerbelastung bei den mittleren Einkommen in Deutschland zu hoch ist, dass sie über Jahrzehnte überproportional angestiegen ist und dass sich an dieser Sache etwas ändern muss. Genau darüber diskutieren wir heute, und genau das wollen wir Freien Demokraten. ({0}) Auch nach bald eineinhalb Stunden Debatte mit einer kurzen Pause habe ich, ehrlich gesagt, noch kein einziges richtig überzeugendes Argument in der Sache gehört, warum man das, was jetzt beantragt ist, nämlich den Eckwert im mittleren Einkommensbereich in einem ersten Schritt nach rechts zu verschieben und in den folgenden Jahren immer weiter, falsch sein soll und warum das den Falschen hilft. ({1}) Wir glauben, dass das ganz entscheidend ist für die Motivation der Menschen, die wirklich auf Arbeit angewiesen sind, die arbeiten gehen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, um ihre Familie zu ernähren. Genau sie brauchen diese Maßnahmen. ({2}) Es wird immer versucht, auszuweichen. Vor allem von der Union kommt immer der Hinweis: Die kalte Progression wird ausgeglichen; der Grundfreibetrag wird erhöht. – Das sind aber, lieber Kollege Gutting, liebe Kollegin Tillmann, keine Entlastungen, sondern da geht es darum, dass die reale Steuerbelastung konstant gehalten wird. Eine Entlastung der Gruppe, die Entlastung braucht, haben Sie gerade nicht auf den Weg gebracht. Das ist das, was heute hier beantragt wird: die Gruppe nicht nur so zu stellen wie vorher, sondern sie effektiv zu entlasten. ({3}) Im Übrigen wollen wir das in der Tat jedes Jahr machen, und zwar so lange, bis der Tarifverlauf repariert ist, bis wirklich in allen Einkommensgruppen die Steuerbelastung gleichmäßig ansteigt. Denn dass gerade in den unteren bis mittleren Einkommensbereichen die Kurve so stark ansteigt, kann ja nicht gerecht sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, wenn man sich Ihre bisherigen Beschlüsse einmal vor Augen führt, dann sieht man, dass Sie in dieser Wahlperiode noch keine Entlastungen geliefert haben. Sie haben die Belastung an der Stelle konstant gehalten. Das, was Sie sich beim Soli vorgenommen haben, also die halbe Abschaffung des Soli – die halbe Abschaffung des Soli! –, steht noch in keinem Gesetzblatt. So, wie ich diesen Betrieb hier kenne, glaube ich Ihnen auch erst, dass der halbe Soli abgeschafft wird, wenn Sie es durchgesetzt haben. Ich bin gespannt. Wir wollen weitergehen und ihn ganz abschaffen. ({4}) Während Sie in der Steuerpolitik den Status quo verwalten, beschließt Ihre Koalition in fast allen anderen Bereichen Dinge, die die Steuerzahler belasten, die Geld kosten und die die Spielräume für mögliche Steuersenkungen in den nächsten Jahren nehmen. Sie wählen den teuersten und ineffizientesten Weg, um aus der Kohle auszusteigen. Sie sagen ein Euro-Zonenbudget zu. Sie beschließen Rentenpläne, von denen Sie selbst noch nicht wissen, wie sie bezahlt werden sollen, und verlagern das Ganze in eine Kommission. Sie führen ein Baukindergeld ein. Dabei wäre es sehr viel besser, die Grunderwerbsteuer zu senken. An allen Stellen führen Sie mehr Bürokratie und mehr Haushaltsbelastungen ein. ({5}) Sie bleiben die Antwort schuldig, wie Sie unter diesen Umständen steuerliche Entlastungen für die Mitte der Gesellschaft finanzieren wollen. In diesem Sinne, glaube ich, brauchen wir hier nicht nur eine Korrektur des Einkommensteuertarifs; wir brauchen ein ganz anderes Verständnis von Staat –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– und dadurch die Möglichkeit, Spielräume zu schaffen, sodass die Menschen in der Mitte der Gesellschaft entlastet werden können. Das erfordert eine andere Politik in fast allen Bereichen, die wir hier im Bundestag zu beschließen haben. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn das Wort, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird Albert Einstein zugeschrieben, dass er mal gesagt hat: Auf jedes komplexe Problem gibt es eine einfache Antwort, und die ist falsch. – Wir haben hier zwei Beispiele, bei denen das mal wieder zutrifft. Die Komplexität erkennt man, wenn man sich internationale Vergleiche anschaut. Denn dann stellt man fest, dass die Steuerbelastung in Deutschland sehr gering ist. Wir sind im internationalen Vergleich am unteren Ende der Skala. Gleichzeitig gibt es aber internationale Vergleiche, die zeigen, dass die Belastung mit Steuern und Abgaben in Deutschland bei geringen und mittleren Einkommen besonders hoch ist. Um das auseinanderzuklamüsern, braucht man etwas mehr Gehirnschmalz, als in die vorliegenden Anträge investiert wurde. Wir alle wissen – das hat Kollege Binding eben schon beschrieben –, dass die Einkommensteuerbelastung bei den geringen Einkommen fast marginal ist. Das heißt, wenn man an der Stelle dreht, verändert man relativ wenig. Sie von der FDP wollen ein bisschen verändern, aber es wäre relativ wenig. Dazu kommen die Sozialversicherungsabgaben; darüber müsste man eigentlich nachdenken. Dann gibt es auch noch Sozialtransfers. Da liegt der Hase im Pfeffer. Wir haben ein Sozialtransfersystem, bei dem wir nicht nur Grenzabgabenbelastungen von 20 oder 30 Prozent haben, sondern von 80, 90 oder in bestimmten Fällen sogar über 100 Prozent. Das ist ein zentrales Gerechtigkeitsproblem. Da müsste man endlich drangehen. ({0}) Das heißt, man muss die Punkte zusammendenken – Einkommensteuer, Sozialversicherungsabgaben, Transfersystem –, und dann muss man gezielt diejenigen entlasten, die geringe Einkommen haben. Wir wollen das mit der grünen Garantiesicherung tun, damit das Existenzminimum für alle gedeckt ist, damit untere und mittlere Einkommen wirklich spürbar entlastet werden und nicht nur so ein bisschen, wie von der FDP vorgesehen, und damit sich Erwerbsarbeit, zusätzliche Erwerbsarbeit endlich mehr lohnt als heute. Das ist für uns ein zentrales Gerechtigkeitsproblem. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als letzter Redner hat das Wort der Kollege Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir, die CDU/CSU-Fraktion, stehen für eine verantwortungsbewusste, wachstumsfreundliche und leistungsgerechte Steuer- und Finanzpolitik. Das bedeutet Entlastung von Bürgern und Unternehmen, Stärkung der öffentlichen Investitionen und Augenmaß bei den Ausgaben. Diese Politik ist seit vielen Jahren eine Erfolgsgeschichte. ({0}) Sie zahlt sich für die Bürgerinnen und Bürger aus. Sie trägt zu mehr Wachstum, Arbeit und Beschäftigung bei. Seit 2014 kommen unsere Haushalte ohne Steuererhöhungen und immer neue Schulden aus. Deshalb halten wir auch an dieser grundsätzlichen Politik fest. Die unionsgeführte Koalition bekämpft bereits seit der letzten und vorletzten Legislaturperiode erfolgreich die kalte Progression durch Anpassung der Tarifeckwerte; das ist die Wahrheit. ({1}) Das sollten wir auch in dieser Legislaturperiode fortsetzen, und das setzen wir Zug um Zug fort. Das haben wir den Bürgerinnen und Bürgern im Koalitionsvertrag gemeinsam mit unserem Koalitionspartner versprochen, und wir halten gemeinsam Wort. Die Bürgerinnen und Bürger merken es seit Jahresbeginn erneut auf ihrem Konto. Das Familienentlastungsgesetz bringt allein in diesem Jahr eine Nettoentlastung von 9,3 Milliarden Euro durch Bekämpfung der kalten Progression, durch Anhebung des steuerfreien Existenzminimums und durch Erhöhung von Kindergeld und Kinderfreibetrag. Bis zum Jahr 2022 summiert sich die jüngst beschlossene Entlastung auf insgesamt 35 Milliarden Euro. Das sind 35 Milliarden Euro, die die Menschen mehr im Geldbeutel haben. Das ist die Tatsache, und das ist auch ein guter Anreiz für die Menschen. Vielen Dank! ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Michelbach, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Glaser aus der AfD-Fraktion?

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, Herr Präsident. Herr Glaser sollte zunächst einmal die Anträge fertigstellen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, es reicht, wenn Sie sagen ob Sie die Zwischenfrage zulassen.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde sagen: Nein. – Im nächsten Jahr werden wir weitere Entlastungen beschließen. Meine Damen und Herren, die Verhinderung der kalten Progression und das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit bleiben wichtige Beiträge zur Leistungsgerechtigkeit, zur Akzeptanz in unserer Gesellschaft. Insofern bleibt eine Begradigung des Steuertarifs hin zu einem leistungsfreundlichen Tarif unser Ziel; denn das ist einfach notwendig. Leistung muss sich in unserer Gesellschaft lohnen. ({0}) Deshalb gibt es mit uns auch keine Steuererhöhungen. Das gehört für uns, für die Union, zur erfolgreichen Politik für die leistungsbereite Mitte der Gesellschaft, für Mittelstand und Mittelschicht. Auch heute zahlt der qualifizierte Facharbeiter ja schon fast den Spitzensteuersatz. Der Antrag der AfD, der vom Bund der Steuerzahler abgeschrieben ist, ist deswegen hier absolut überflüssig. Meine Damen und Herren, das heißt natürlich nicht, dass wir mit der Abflachung der Progressionskurve inzwischen zufrieden sind. Das käme natürlich der großen Zahl der Steuerzahler mit niedrigem und mittlerem Einkommen zugute. Hier ist erkennbar etwas aus dem Lot geraten. Hier gibt es Handlungsbedarf. In den Anfangsjahren der Bundesrepublik griff der Spitzensteuersatz erst beim 15‑Fachen des Facharbeiterlohns; heute greift er bereits beim 1,6‑Fachen. Das zeigt doch: Hier besteht Handlungsbedarf. ({1}) Deswegen ist eine Korrektur natürlich notwendig. In den Koalitionsverhandlungen wäre das leider nur möglich gewesen, wenn wir eine gleichzeitige Erhöhung des Spitzensteuersatzes und einen steileren Tarif akzeptiert hätten – eine bittere Pille. Die 10 Prozent der Steuerzahler mit dem höchsten Einkommen leisten ja bereits über 50 Prozent des Steueraufkommens. Das heißt für uns: Wir wollen und können keinen Anschlag auf die leistungsfreundliche Substanz, auf den Leistungsgedanken verüben. Eine leistungsfeindliche Steuerpolitik ist Gift für unseren Standort. Deswegen machen wir das nicht mit. Wir wollen Wettbewerbsfähigkeit, meine Damen und Herren – auch in der Steuerpolitik. ({2}) Das Beispiel des Kollegen Binding ({3}) hat mich ziemlich erschreckt; denn derjenige, der ein Einkommen von 1 Million Euro versteuert, zahlt ja zunächst einmal nach Ihrem Beispiel 440 000 Euro Steuern. ({4}) Natürlich bleiben 560 000 Euro übrig. ({5}) Aber vielleicht muss er zunächst auch in seinen Betrieb investieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Das darf man doch nicht vergessen. Man kann doch die Leute nicht an den Pranger stellen, als würden sie letzten Endes nur im Luxus schwelgen. Das sind verantwortungsbewusste Leute, die dieses Geld dann auch wieder in den Wirtschaftskreislauf geben und letzten Endes das, was übrig bleibt, investieren. Insofern kann man diese Leute, die so viel leisten, nicht einfach an den Pranger stellen. ({6}) Vor diesem Hintergrund kann ich nur sagen: Das ist die verkehrte Politik. ({7}) Zur FDP kann ich nur sagen: Die FDP hat ihre Chance gehabt, mit uns die Steuerpolitik zu verändern. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Michelbach, kommen Sie bitte zum Schluss.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann deutlich machen: Wir sind steuerpolitische Handwerker; Sie von der FDP sind steuerpolitische Mundwerker. Das ist die Tatsache. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dürr, am Ende einer Rede kann keine Zwischenfrage mehr gestellt werden. ({0}) – Das dürfte die Fraktion gerne anmelden, doch vorher hat der Kollege Glaser die Gelegenheit zu einer Kurzintervention.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herzlichen Dank, Herr Vizepräsident, dass Sie mir die Chance geben, obwohl ich gesprochen habe, zu intervenieren. – Verehrter Herr Dr. Michelbach, ich habe Sie als sehr seriösen Kollegen wahrgenommen. Sachkundig sind Sie auch. Gestatten Sie mir deshalb umso – wie soll ich sagen? – hilfesuchender folgende Frage: Sie haben wieder davon gesprochen, dass eine jährliche Korrektur des Inflationseffektes, also des Aushebelns der Wirkung der kalten Progression, der heimlichen Steuererhöhung, eine Steuerentlastung sei, und haben diese auch beziffert. So kommen Sie zu diesem großen Paket von Steuerentlastungen, die die Koalition über das Volk schüttet. Mit dem Herrn Finanzminister konnte ich mich nicht einigen. Aber mit Ihnen würde ich mich gerne darauf einigen, dass die Aussetzung einer Steuererhöhung keine bzw. null Steuerentlastung ist. Kriegen wir das hin? ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Michelbach, ich gehe davon aus, Sie wollen antworten.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Glaser, Sie betreiben Wortklauberei. ({0}) Natürlich ist es eine Steuerentlastung, wenn jemand diese Steuern nicht zahlen muss. Es ist klar, dass es durch die kalte Progression zu einer höheren Steuerbelastung käme. Ich darf sagen: Natürlich hat derjenige, der weniger Steuern zahlt, den Eindruck, dass er steuerlich entlastet wird. Wir haben ja die Situation, dass wir durch das Familienentlastungsgesetz in den Jahren bis 2022 eine Entlastung von 35 Milliarden Euro haben. Darin ist die Rechtsverschiebung des Tarifes berücksichtigt. Deswegen ist insgesamt von einer Steuerentlastung für die Bürgerinnen und Bürger zu sprechen, und das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Der Kollege Christian Dürr hat als Nächster die Gelegenheit zu einer Kurzintervention.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ganz herzlichen Dank, Herr Präsident. – Verehrter Herr Kollege Michelbach, das war ja der Klassiker, der mittlerweile einen unfassbar langen Bart bekommen hat. Ihr Bart ist übrigens deutlich kürzer als der vom Thema „Die FDP hätte das alles haben können“. Ich will noch mal ganz kurz an den November 2017 erinnern. Die Wahrheit ist: Damals haben wir in der Finanzkommission über das Thema „Entlastung, Steuertarif“ gesprochen. Damals haben wir insbesondere auch über das Thema Solidaritätszuschlag gesprochen. Wissen Sie, was die öffentliche Äußerung des von mir hochgeschätzten Ecki Rehberg war, als es damals darum ging, ob die CDU/CSU es mitmacht, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen? Damals war seine Antwort: Der vollständige Abbau des Solidaritätszuschlags in ein oder zwei Schritten ist für den Bundeshaushalt nicht finanzierbar … ({0}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Union, die Wahrheit ist: Wenn Sie eine politische Mehrheit haben, um die Menschen in Deutschland zu entlasten, dann machen Sie es nicht. Wenn Sie diese politische Mehrheit nicht mehr haben, dann fordern Sie die Entlastung auf Bundesparteitagen. Das ist unredlich und hat mit echter Entlastungspolitik der Mitte nichts zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Michelbach, Sie haben Gelegenheit, zu antworten.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dürr, es tut mir ja eigentlich in der Seele weh ({0}) und leid, dass Sie es letzten Endes nicht akzeptieren können, dass Sie aus diesen Verhandlungen meiner Ansicht nach willkürlich ausgestiegen sind. ({1}) Ich war dabei. ({2}) Ich war bei der Suche nach einem Koalitionspartner FDP dabei. ({3}) Und diese Suche – Herr Präsident war auch dabei – ({4}) hat klar ergeben, dass es die Möglichkeit der Soliabschaffung gibt. ({5}) Das haben wir nicht verneint. Nein. ({6}) Der Kollege Rehberg, den Sie hier zitieren, war in dieser Koalitionsrunde gar nicht anwesend. Klar ist ({7}) – nein, Herr Dürr, lassen Sie mich bitte ausreden; ich habe Sie auch ausreden lassen –, dass wir eine leistungsfreundliche Lösung in der Steuerpolitik vereinbart haben und damit letzten Endes, ({8}) statt auf politische Mehrheiten mit den hier angeführten Neidargumenten zu bauen, die Chance haben, eine Lösung für die Steuerzahler zu finden. ({9}) Sie müssen vor den Wählern – das nimmt Ihnen niemand ab – die Verantwortung übernehmen, dass Sie ausgestiegen sind. Das ist und bleibt die Wahrheit, meine Damen und Herren. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Michelbach, wie Sie zu Recht feststellten, waren viele dabei. Ich möchte jetzt gerne von der Traumabewältigung zum Thema zurückkommen. ({0}) Die Aussprache ist geschlossen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/7697 und 19/7718 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe und höre, dass das der Fall ist. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es wurde gerade angesprochen: Wir sprechen über die letzten Jahresberichte des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Wir sprechen aber auch über das wichtige Datum: 70 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Das heißt, dies gibt uns die Gelegenheit, über beide Fragen zu sprechen: über die Frage der Menschenrechtssituation im eigenen Land – dafür sind die Berichte des Deutschen Instituts für Menschenrechte da – und über die Situation der Menschenrechte weltweit. Die Gesamtlage der Berichte gibt uns wichtige Hinweise auch für das Handeln, das wir in Zukunft zum Schutze der Menschenrechte und – das möchte ich gleich vorwegnehmen – insbesondere zum Schutze von Menschenrechtsverteidigern anstreben sollten. Der letzte Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte spricht über Verletzungen von Menschenrechten auch im eigenen Land. Ich erfahre in Diskussionen in anderen Ländern, aber auch bei der Staatenprüfung in Genf – einige Kollegen aus dem Haus waren dabei – immer wieder, dass man die Situation in anderen Ländern nur dann glaubwürdig kritisieren kann, wenn man auch bereit ist, im eigenen Land hinzuschauen, wo es Probleme gibt, und zu Verbesserungen beizutragen. ({0}) So begrüße ich ausdrücklich, dass uns das Deutsche Institut für Menschenrechte wichtige Hinweise gibt, wo es Verbesserungsbedarf gibt: ob zum Beispiel bei den Arbeitsbedingungen für Arbeitsmigranten, wo es um den Missbrauch von Leih- und Werksverträgen geht – ich glaube, ein ganz relevantes Thema –, ob bei der Frage der Genehmigungspraxis bei Rüstungsexporten oder bei der Frage – ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt –, wie man in globalen Lieferketten Wirtschaft und Menschenrechte zusammenbringen kann. ({1}) Zu all diesen Punkten hat uns übrigens auch die Staatengemeinschaft, also andere Staaten, im letzten Mai in Genf einiges ins Stammbuch geschrieben. Ich fasse die wesentlichen Punkte der Kritik, die wir, wie ich glaube, ernst nehmen sollten, zusammen: Sie betraf das Feld Wirtschaft und Menschenrechte, also wie wir mit Lieferketten umgehen. Sie betraf die Frage der Geschlechtergerechtigkeit, also die Frage der Frauenrechte in Deutschland. ({2}) Sie betraf auch das Thema Rassismus in Deutschland; da werden leider immer wieder und immer verstärkter unwürdige Situationen in diesem Land von Menschen hervorgerufen. ({3}) Genau das müssen wir ernst nehmen. Das zeigt auch, dass es eine Verschränkung gibt, dass Menschenrechtspolitik Querschnittsaufgabe aller Politikfelder ist, dass wir sie in unserem innenpolitischen, in unserem wirtschafts- und sozialpolitischen Handeln genauso ernst nehmen müssen wie in unserer außenpolitischen Betätigung. ({4}) Das für mich aktuellste und klarste Beispiel ist die Frage bezüglich Wirtschaft und Menschenrechte, weil wir hier einiges auf den Weg gebracht haben, an einigen Dingen dran sind. Alle Kollegen, die jemals eine Reise in ein anderes Land gemacht haben und gesehen haben, wie durch Kinderarbeit, wie durch katastrophale Arbeitsbedingungen, wie durch Enteignung von Kleinbauern, von Besitzern kleiner Landparzellen menschenrechtlich schwerste Verletzungen entstanden sind, wissen, dass wir bei den Fragestellungen Investitionen und Lieferketten ansetzen müssen, auch bei uns. Da geht es um eine Verschränkung von Innen- und Außenpolitik, ({5}) die wir dringend brauchen. Wir sind, glaube ich, beim Nationalen Aktionsplan auf einem guten Weg. Ja, es ist wichtig, einen Branchendialog zu haben. Es ist wichtig, ein Monitoring zu haben. ({6}) Weil die Frage gleich kommt – ich habe auch den Zwischenruf gehört –, sage ich auch den Satz, der in meinem Manuskript steht: Ja, ich bin der festen Überzeugung, wir brauchen auch ein Gesetz. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hunko, Fraktion Die Linke?

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bitte, Herr Kollege.

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Kollegin Kofler, ganz wichtig für den Schutz der Menschenrechte sind ja transnationale Systeme, zum Beispiel die UNO, auch der Europarat. Ein wichtiger Punkt – Sie haben das ja auch angesprochen – sind die sozialen Menschenrechte, der soziale Schutz. Die Bundesregierung hat im Jahre 2007 die Europäische Sozialcharta unterzeichnet – damals gab es auch eine Große Koalition –, aber bis heute nicht ratifiziert. Ich finde, dass das eigentlich eine Schande ist. Dort geht es um Wohnungsrechte, um Rechte im Alter. Wann können wir damit rechnen – es sind jetzt zwölf Jahre seit der Unterzeichnung her –, dass sie ratifiziert wird? ({0})

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege, Sie sprechen ein wichtiges Thema an, die sogenannten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, also alles, was im UN-Sozialpakt angelegt ist, ein wichtiger Teil der Menschenrechte, für den ich ganz besonders stehe und der mir sehr wichtig ist. Mir ist auch der Sozialpakt sehr wichtig. Ich kann Ihnen hier kein Datum nennen. Ich bin fest überzeugt, dass wir in diesem Bereich vorankommen werden, genauso wie bei der Zeichnung des Zusatzprotokolls zum Thema „wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“. Auch dort werden wir vorankommen wie auch bei der Frage – das ist ein anderes Thema – der indigenen Völker. Das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Ich glaube, da kommen wir voran. ({0}) – Ja, auch da bin ich guten Mutes und hoffe, dass wir vorankommen. Ich kann Ihnen kein genaues Datum nennen. ({1}) Ich möchte aber die Bedeutung dieses Themas hier deutlich in den Mittelpunkt stellen. Da gebe ich Ihnen gerne recht. Das Thema der Verschränkung der Menschenrechte zwischen innen und außen war ein Punkt. Die Berichte des Deutschen Instituts für Menschenrechte geben dazu wesentliche und wichtige Hinweise. Die zweite Frage, auf der unser Augenmerk liegen muss, ist die Frage der Situation der Menschenrechte weltweit. Es ist eigentlich beschämend, dass wir 70 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sagen müssen: Der Zustand der Welt ist schwierig. Die Frage der Menschenrechte wird täglich schwieriger. Der Raum für Menschen, die sich engagieren – ob es ganz normale Bürger ihres Landes sind, ob es Journalisten sind, ob es Menschenrechtsverteidiger sind, ob es Rechtsanwälte sind, die sich dieser Menschen annehmen –, wird täglich geringer. Er wird in vielen Ländern geringer. Er wird auch in Europa geringer. Und er wird leider auch in Mitgliedstaaten der Europäischen Union geringer. Das sind keine Länder mehr, an denen sich andere ein Beispiel nehmen können, wenn dort die gemeinsamen Grundwerte der Europäischen Union, nämlich der Schutz der Menschenrechte, die immer und überall gelten, und die Achtung der Würde des Menschen – nicht eines Nationalbürgers –, leider mit Füßen getreten werden. ({2}) Wir stehen also an einem Punkt, an dem es, wie ich glaube, sehr wichtig ist, die Menschenrechte zu verteidigen, sie wieder in den Mittelpunkt unseres politischen Handelns zu rücken und vor allem auch denen, die in anderen Ländern in schwierigen Situationen sind, beizustehen, wo immer es möglich ist. Ich glaube, wir sind gut beraten, Zivilgesellschaften mit ihren Netzwerken, die helfen können, zu unterstützen. Wir sind als Parlamentarier gefordert, bei unseren Reisen, aber auch bei Partnerschaften im Rahmen des Programms „Parlamentarier schützen Parlamentarier“. ({3}) Ich finde, das Auswärtige Amt ist gefordert. Wir machen einiges; der Minister hat gestern einiges vorgestellt. Ich selbst biete mehrere Vernetzungsseminare in den Regionen an, um Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidiger zusammenzubringen und ihnen damit Räume für Betätigung zu eröffnen, die es sonst nicht geben würde. Wir müssen darüber hinaus im internationalen Kontext und im europäischen Kontext Verbündete suchen, um Menschenrechtsthemen voranzubringen. Dazu gehört – ich freue mich, dass wir uns im UN-Menschenrechtsrat in Genf ab der nächsten Wahlperiode engagieren wollen –, ({4}) dass wir die Menschenrechtsthemen, die in Genf sehr fundiert diskutiert werden, in die Debatte des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen in New York hineintragen. Hier muss eine Verschränkung erfolgen, und es muss verstanden werden, dass der Schutz von Menschenrechten eine der besten Maßnahmen zur Krisenprävention und zum Erhalt des Friedens ist, die wir treffen können. Wer Menschenrechte schützt, trägt zur Konfliktbewältigung bei und löst damit Friedensprozesse aus. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Das Thema Menschenrechte ist leider in sieben Minuten nicht umfassend zu bearbeiten. Wir müssen die Kernbotschaft der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in den Mittelpunkt stellen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. – Es geht darum, Diskriminierungen jedweder Art zu verhindern und die Gleichheit aller Menschen zu fördern. Es geht darum, ihre sozialen Rechte zu stärken und eine soziale Basis für ihr Leben zu schaffen. Da bleibt viel für uns alle zu tun. Ich freue mich dabei auf die Unterstützung vieler Kollegen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Jürgen Braun, AfD-Fraktion. ({0})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Ich muss eine kurze Vorbemerkung machen, weil sich der Kollege Hunko von der Linken jetzt gerade zum Thema Menschenrechte geäußert hat, und es passt genau zu diesem Thema. Herr Hunko, Sie haben in einem Twitter-Beitrag in menschenverachtender Weise den Journalisten Billy Six schlechtgemacht, der im Knast in Venezuela sitzt. Sie sollten sich schämen, hier überhaupt das Wort zum Thema Menschenrechte zu ergreifen. ({0}) Sie haben gesagt, es sei ein komfortabler Knast, und Sie haben sich auf die Seite Ihrer kommunistischen Genossen des venezolanischen Regimes gestellt in Ihrem Twitter-Account. Das geht nicht. Das ist abseits jeglicher menschlichen Politik. So können wir hier nicht weiterarbeiten, meine Damen und Herren. Das ist pure Heuchelei. ({1}) Es ist gut und wichtig, dass sich auch in unserem Land eine Institution mit den Menschenrechten beschäftigt. Und nun liegen also gleich mehrere Jahresberichte des Deutschen Instituts für Menschenrechte vor – vier dicke Packen Papier. Besser wäre es aber, wenn sich diese Berichte auch wirklich mit den Menschenrechtsverletzungen beschäftigen würden in unserem Lande. Doch genau das tun diese Berichte nicht in angemessener Form. Nichts lesen wir zum Beispiel von den massiven und oft lebensbedrohlichen Angriffen, denen sich christliche Asylbewerber hierzulande ausgesetzt sehen. Diese Christen treffen hierzulande ihre Peiniger wieder, und das sind Moslems. Das Hilfswerk Open Doors hat darüber informiert – ohne Folgen. Über die Realität in Asylbewerberheimen erfahren wir vom Menschenrechtsinstitut also wenig – lediglich, dass sogenannte Flüchtlinge angeblich zu wenig Geld erhalten. Und das soll eine Menschenrechtsverletzung sein, meine Damen und Herren! ({2}) Das Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit kommt völlig zu kurz. Verbrechen an Christen und Verbrechen an Deutschen werden verschwiegen. ({3}) Und was für Themen enthalten die Jahresberichte ansonsten? Da geht es um das angebliche dritte Geschlecht, da geht es um Waffenexporte – als wäre das Deutsche Institut für Menschenrechte nur ein Stichwortgeber für den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. ({4}) Wahrhaft vorbildliche Länder in Sachen Menschenrechte machen sich dort alle fünf Jahre über Deutschland her. Da bekommen wir von China, Venezuela, Katar und Afghanistan die Leviten gelesen – wahrhaft vorbildliche Länder in Sachen Menschenrechte. ({5}) Die Jahresberichte entlarven das Institut im Ganzen als ideologisch geprägte Einrichtung. Diese Herangehensweise ist weit entfernt von den Menschenrechten, den klassischen Freiheitsrechten, den Schutzrechten. Im jüngsten Bericht dieses Instituts werden stattdessen auf 145 Seiten soziale Anrechte gefordert. Es wird das demokratische Gemeinwesen Deutschland verunglimpft und in Zweifel gezogen. Es wird der Eindruck erweckt, als ließe sich mithilfe sozialer Maximalforderungen eine links-grüne Hypermoral über Deutschland stülpen – ein Deutschland, dem die Autoren der Berichte zutiefst misstrauen. ({6}) Das ist ein Ausdruck der links-grünen Hypermoral, der dieses Institut offenkundig verfallen ist. Diese links-grüne Hypermoral ist eine totalitäre Ideologie, meine Damen und Herren. ({7}) Die wirklichen Tatsachen erfahren wir dagegen nicht. Was in diesen Berichten fehlt, ist Kritik am Internetzensurgesetz, dem sogenannten Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Dieses Gesetz schränkt die Vielfalt der Meinungen massiv ein. ({8}) Es beseitigt die Freiheit der Meinung. Es führt zur Selbstzensur und zur willkürlichen Löschung von Netzinhalten. Menschen haben Angst, frei ihre Meinung zu sagen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. ({9}) Was in den Berichten des Instituts ebenfalls fehlt, ist ein Hinweis darauf, dass die Kritiker totalitärer Tendenzen hierzulande zunehmend kriminalisiert werden. Wer hierzulande den Islam kritisch diskutiert, wird kriminalisiert, und die Menschen spüren das. In einer bemerkenswerten neuen Studie des Historikers und Soziologen Rainer Zitelmann steht, dass in Deutschland 94 Prozent der Menschen mittlerweile glauben, man dürfe Christen unbestraft beleidigen und bloßstellen; ({10}) nur noch ein Drittel der Menschen hierzulande glaubt, dass man den Islam kritisieren darf. Zwei Drittel meinen also, Islamkritik sei verboten. ({11}) Was spricht aus diesen Zahlen, wenn nicht Angst? ({12}) Die Menschen schweigen auch, weil sie von der Politik hierzulande keinen Schutz mehr erwarten, weil Kritik am Islam bereits kriminalisiert ist. Dieses Schweigen ist der Anfang vom Ende der freien Gesellschaft. Diese freie Gesellschaft gibt sich auf, gibt ihre Menschenrechte auf, ({13}) ganz wie es bei Michel Houellebecq zu lesen ist. „Soumission“ heißt das Buch, „Unterwerfung“. Nur zur Erinnerung: Das arabische Wort „Islam“ bedeutet „Unterwerfung“ – das ist wörtlich übersetzt. ({14}) Aber an allzu viel Freiheit ist Ihnen ja sowieso nicht gelegen. Die SPD kontrolliert eine Vielzahl von Medien in diesem Land, sie hält Hunderte von Medienbeteiligungen. ({15}) Das wollen Sie schön unter dem Teppich halten. Frau Hendricks von der SPD – jetzt ist sie gerade mal nicht da –, lassen Sie mich direkt sagen: Sie haben das Parlament belogen. Am 12. Oktober haben Sie hier gesagt, dass die SPD-eigene Tarnfirma DDVG an keinem Verlag mehr als 23 Prozent besitzt. Das ist die pure Unwahrheit. ({16}) Am Verlag der „Neuen Westfälischen“ in Bielefeld besitzt die SPD 100 Prozent, am „Öko-Test“-Verlag 65 Prozent, am Dresdner Druck- und Verlagshaus 40 Prozent, an diversen nordbayerischen Tageszeitungen sind es rund 30 Prozent. ({17}) Auch Druckereien in Hildesheim und Lübeck gehören zu 100 Prozent zur SPD-Propagandamaschine. ({18}) –  Ja, das können Sie nicht hören, was Sie in Sachen Medienvielfalt untergraben. Wie sagte eine SPD-Schatzmeisterin und Chefin dieser Tarnfirma DDVG, Inge Wettig-Danielmeier, einmal so schön – ich zitiere –: Auch dort, wo wir nur 30 oder 40 Prozent haben, kann in der Regel nichts ohne uns passieren. ({19}) Eine Regierungspartei, die ein Medienkonzern ist, ({20}) die wesentlich dafür verantwortlich ist, dass die Medienvielfalt und die Meinungsvielfalt in diesem Land immer stärker eingeschränkt werden, eine solche Macht einer Regierungspartei ist das Kennzeichen einer Diktatur. ({21}) Und es geht noch weiter: Die SPD-Tarnfirma DDVG ist am RedaktionsNetzwerk Deutschland maßgeblich beteiligt. Dieses Redaktionsnetzwerk liefert an 40 Tageszeitungen ({22}) – ja, das regt Sie auf; die Wahrheit können Sie nicht vertragen, liebe SPD-Freunde – und deren Lokalausgaben ein und denselben Artikel aus. Die kommen in häufigen Fällen aus dem Hause Madsack, wo auch die SPD fett beteiligt ist. Meinungsfreiheit ist aber vor allem die Freiheit, die Regierung zu kritisieren. ({23}) Die Regierungspartei SPD dagegen steuert 40 namhafte Tageszeitungen. ({24}) Sie verfügt darüber hinaus über ein undurchsichtiges Geflecht an Rundfunkbeteiligungen, nicht zu vergessen die Kontrolle über die Rundfunkräte der Staatssender ARD und ZDF. ({25}) Solch eine Regierungspartei in Ungarn, in Polen oder in Italien – da würden Sie aus dem Kritisieren nicht mehr herauskommen. Viktor Orban – das ist doch Ihr Hassobjekt. ({26}) Er dürfte sich das nicht erlauben. ({27}) Sie beklagen die Lage von Migranten, denen es hier besser geht, als es ihnen in ihrer Heimat je ging – und verschweigen die Christenverfolgung. Sie interpretieren die Menschenrechte um und lassen tausendfach geäußerten islamischen Judenhass hierzulande Raum gewinnen. ({28}) Sie deuten die elementaren Abwehrrechte der Menschen in soziale Ansprüche und pure Geldforderungen um. Doch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist kein Verdi-Blättchen, keine Infopostille der IG Metall. Kümmern Sie sich endlich um die wirklichen Menschenrechte. Tun Sie etwas! Zum Beispiel für die Meinungsfreiheit auch in Deutschland. ({29})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner in Ausübung seiner Meinungsfreiheit hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So gerne ich über unsere sozialdemokratischen Kollegen und Freunde rede: Ich rede heute lieber über Menschenrechte. ({0}) Als Graf Mirabeau 1789 im „Courrier de Provence“ schrieb, man habe mit der Erklärung der Menschenrechte eben nicht – ich zitiere – „die Rechte der Kaffern oder der Eskimos, noch nicht einmal jene der Dänen oder Russen“ erklärt, wandte er sich nicht nur fälschlicherweise gegen die Idee der Universalität der Menschenrechte als Rechte für alle Zeiten und alle Völker, sondern er verwies gleichzeitig auf ein Prinzip, das mit der Erklärung der Menschenrechte ebenfalls konstitutiv für die Neuzeit ist: das demokratische Selbstbestimmungsrecht von Nationen. Die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus hat gezeigt, dass dieses Selbstbestimmungsrecht nur legitim sein kann, wenn es durch Menschenrechte eingehegt wird. Das war eine Grundidee der Erklärung der Menschenrechte 1948. Die andere war, dass damit auch, wie es Hannah Arendt formuliert hat, die Rechte derjenigen erklärt werden, die keine Rechte haben, also derjenigen, die aus staatlichen Rechtssystemen ausgeschlossen sind und rechtlos sind, wie etwa heute die Rohingya. Sie sind in die Verantwortung der Weltgemeinschaft gestellt. Sie haben mehr als das nackte Leben, sie sind Bürger der Weltgemeinschaft und deshalb Träger von Rechten: ein revolutionärer Gedanke, weil sich die Idee des „bios politikos“ erstmals von der Polis löst und sich in die Universalität erstreckt. Ja, hier wird die Menschheit menschenrechtlich verfasst. Gerade deswegen bedeutet die Erklärung der Menschenrechte einen Paradigmenwechsel im Völkerrecht, und es wäre vielleicht wirklich eine gute Idee gewesen, dies auch einmal im Deutschen Bundestag zum Anlass einer Feierstunde werden zu lassen. ({1}) Menschenrechte, meine Damen und Herren, durchdringen das Prinzip staatlicher Souveränität, sie heben es aber nicht auf. Sicherlich: Es gibt eine ideale Korrelation zwischen Demokratie und Menschenrechten, in der Realität aber ist das Prinzip der Souveränität übergeordnet. Damit meine ich nicht die Missstände oder Mängel, auf die das Deutsche Institut für Menschenrechte hinweist. Es wäre eine allzu kleine Münze, wenn wir jeden Missstand oder Mangel gleich zu einer Menschenrechtsverletzung adeln. Ich meine mit dem Prinzip der Souveränität beispielsweise, dass wir die Bedingungen der Zuwanderung regulieren dürfen, weil es zwar ein Recht auf Auswanderung, aber eben kein Recht auf Einwanderung gibt. Ich meine damit auch, dass eine einschneidende Verletzung von Menschenrechten irgendwo auf der Welt nicht gleich eine bewaffnete Intervention nach sich zieht, weil es eine Responsibility to Protect gibt. Der Einsatz von Streitkräften ist eine nationale Prärogative, aus gutem Grund. Michael Walzer hat schon vor vielen Jahren darauf hingewiesen: Es gibt keine Verpflichtung, sein Leben für die Durchsetzung von Rechten fremder Dritter einzusetzen. Ob die eigenen nationalen Interessen moralisch höherwertig sind, will ich dahingestellt sein lassen. Sie sind aber auch im Rahmen internationaler Mandate anerkannte Gründe für bewaffnete Interventionen und sind beispielhaft in jenem Satz von Peter Struck noch lebendig, dass die deutsche Sicherheit am Hindukusch verteidigt werde. Vielleicht wäre es ja hilfreich, die nationalen Interessen zunehmend auch in der Durchsetzung von Menschenrechten weltweit zu sehen. Denn dort, wo Menschenrechte gelten, herrscht eine höhere Stabilität, und es gibt eine geringere Bereitschaft, Interessenkonflikte militärisch zu lösen. So jedenfalls hat John Rawls dem Grunde nach in seiner bahnbrechenden Studie über das Recht der Völker argumentiert. Ein letzter Punkt betrifft die Universalität der Menschenrechte. Ich bin eher skeptisch, wenn ein Recht auf Koalitionsfreiheit dort gefordert wird, wo es keine Arbeit gibt oder diese nur in Form bäuerlicher Subsistenzwirtschaft existiert, oder ein Recht auf Datenschutz dort, wo Menschen weder Computer haben noch es irgendeine Datenverarbeitung gibt. Wer Universalität ernst nimmt, muss sich zunächst um die Rechte kümmern, die allen zustehen. ({2}) Erst dann sprechen wir über jene Rechte, die sich aus bestimmten technologischen oder kulturellen Entwicklungsstufen ergeben. Hüten wir uns davor, den Menschenrechtsdiskurs mit westlichen Wohlstandsproblemen zu überfrachten. Der Zustand der Menschenrechte in der Welt zeigt sich an der Einhaltung basaler Rechte, der Grundfreiheiten, der Religionsfreiheit, nicht am Recht auf bezahlten Urlaub oder behindertengerechten Unterkünften für Migranten. Wenn es richtig ist, meine Damen und Herren, dass die internationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert sich von denen im 19. Jahrhundert unterscheiden – und nur diejenigen, die im 19. Jahrhundert stehen geblieben sind, würden dies leugnen; guten Morgen, Herr Gauland! –, ({3}) dann sind wir in einem Übergang von einem lediglich von nationalen Interessen bestimmten Weltsystem zu einem regelbasierten. Die Menschenrechte sind die Brücke hierzu. Das war auch der tiefere Grund, warum Johannes Paul II. in einer Ansprache vor den Vereinten Nationen die Erklärung der Menschenrechte als „wahren Meilenstein auf dem Weg des moralischen Fortschritts der Menschheit“ bezeichnet hat. ({4}) Unser Auftrag ist es, diesen moralischen Fortschritt vor der Wiederkehr der Barbaren zu schützen: ({5}) vor den Barbaren im Äußeren wie im Inneren. Danke schön. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Dr. Zimmer. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Gyde Jensen, FDP-Fraktion. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist ein bis heute gültiger Wertekatalog. Menschenrechte sind Ausdruck eines positiven Menschenbildes – das haben wir heute schon gehört –, eines gesellschaftlichen Ideals, dem Menschen auf der Welt folgen. Meine Damen und Herren, von 194 Ländern auf der Welt ist Deutschland ein Staat, der bereits sehr viel für Menschenrechte getan hat. Deutschland ist genauso wie der europäische Kontinent insgesamt einer der lebenswertesten Orte der Welt, und Menschenrechte sind die Grundlage für den Frieden und den Wohlstand, den wir hier zu schätzen wissen, Werte, auf denen die Europäische Union aufbaut. Wir müssen uns die Bedeutung der Menschenrechte deshalb stets vor Augen führen; das hat auch gerade Dr. Zimmer gesagt. Hier ist besonders die Rolle des Deutschen Instituts für Menschenrechte zu würdigen. Auch der diesjährige Bericht des Instituts zeigt nämlich auf, dass weiter Raum für Verbesserungen besteht, und zwar auch in Deutschland. Verbesserungsbedarf besteht beispielsweise in Pflegeeinrichtungen. Besonders unterfinanzierte Pflegeeinrichtungen mit unzureichender Personalausstattung greifen aus Zeitmangel zum Teil zu Maßnahmen, die besonders Demenzkranke in die Irre führen können. Es obliegt hier auch der Politik, zu entscheiden, wie sie solche Missstände behebt. Gesundheitsminister Spahn plant hierzu, Heime, die mit bis zu 40 Pflegekräften ausgestattet sind, mit – Achtung! – einer weiteren halben Stelle auszustatten. Damit ist weder dem Kollegium in den Pflegeeinrichtungen geholfen noch den Heimbewohnern selbst. Man sieht: Diese Regierung betreibt Schaufensterpolitik in diesem Bereich. Eine entsprechende Finanzierung für angemessene Pflege in staatlichen Einrichtungen sucht man weiterhin vergebens. ({0}) Meine Damen und Herren, es bedarf bei der Umsetzung von Menschenrechten nicht nur rechtlicher Rahmenbedingungen, es braucht auch das gesellschaftliche Bewusstsein, also die Kultur von Menschenrechten. Es geht hier nicht nur um gesetzliche Normen, sondern in einem zweiten Schritt auch immer um gesellschaftliche Akzeptanz. Dies betrifft zum Beispiel auch das Thema sexualisierte Gewalt. ({1}) Wenn wir wissen, dass 40 Prozent aller Frauen im Laufe ihres Lebens körperlicher oder sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind – 2017 allein 140 000 Fälle innerhalb von Partnerschaften –, dann erwarte ich natürlich eine Verbesserung der Versorgungslage und eine nachhaltige Finanzierung von Frauenhäusern. Dann erwarte ich auch eine weitere Präventionsmaßnahme, wie zum Beispiel die gelungene Aktion für das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“. ({2}) Zur Umsetzung der Istanbul-Konvention, zu der sich Deutschland übrigens völkerrechtlich verpflichtet hat, gehört auch, diese Debatte hier öffentlich im Parlament zu führen. Selbst dann, wenn die Bundesregierung zu dem Schluss kommt, dass kein weiterer Bedarf an einer verstärkten Umsetzung der Konvention besteht, sollte sie uns das hier im Parlament stichhaltig begründen. Die Bewusstseinsbildung für dieses wichtige Thema muss auf allen Ebenen stattfinden – hier im Bund, im Land und in den Kommunen. Schleswig-Holstein ist übrigens auch in dieser Debatte – nicht nur bei Kinderrechten oder beim Wahlalter – Vorbild. Es ist nämlich das erste Bundesland, das der Istanbul-Konvention beigetreten ist, nun vorangeht und sich proaktiv um die Umsetzung kümmert. Meine Damen und Herren, Würde und Freiheit des Individuums, Werte wie Selbstbestimmung und digitale Partizipationsrechte, das Recht auf Privatheit – all das muss in der digitalen Welt genauso gelten, wie es zuvor schon in der analogen Welt galt. Dafür fordern wir in unserem Antrag, den wir an diesen Tagesordnungspunkt gekoppelt haben, die Schaffung digitaler Schutzräume, die genau diejenigen schützen, die von digitaler Überwachung bedroht sind. Und wir fordern weltweite Netzwerke für Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger. ({3}) Bei der Debatte um die Einführung von Upload-Filtern – das ist ja relativ aktuell – haben wir allerdings gesehen, dass die Freiheit im Netz sogar von dieser Bundesregierung selbst gefährdet wird. Der Kompromiss zu Artikel 13 gefährdet das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, und die Große Koalition bricht hier ihren Koalitionsvertrag. Obwohl sie hier Upload-Filter als unverhältnismäßig – und zwar zu Recht – ablehnt, unterstützt die Bundesregierung diesen Irrweg nun auf EU-Ebene. In der Union wehrt sich da – zumindest haben wir nichts weiter gehört – nur Staatsministerin Bär lautstark.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen, bitte.

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mal schauen, wie lange sie das noch durchhält. Nach dem NetzDG ist das ein weiterer Tritt in die Magengrube der freien Meinungsäußerung, und es wird Zeit, dass sich die Bundesregierung hier und auch weltweit klar für Freiheit im Netz engagiert. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Jensen. – Als Nächste spricht für die Fraktion Die Linke die Kollegin Nastic. ({0})

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Maas, Sie verteidigen die Menschenrechte in Venezuela und die Putschisten dort wie ein politischer Held, wie eine Art Sylvester Stallone. ({0}) Aber der UN-Sozialausschuss sagt Ihnen, Sie sollten endlich beginnen, auch vor Ihrer eigenen Haustür zu kehren. ({1}) Unter anderem sind die Vereinten Nationen darüber besorgt, dass die Lage der älteren Menschen hier in Deutschland sehr schwierig ist und diese – ich zitiere – „unter entwürdigenden Bedingungen leben müssen“. Aber auch gegen Kinderarmut wird in Deutschland viel zu wenig getan. Auch der Mindestlohn ist viel zu niedrig, 14 Millionen Menschen müssen in prekärer Beschäftigung arbeiten, und über 1 Million Menschen müssen ihren Lohn mit Sozialleistungen aufstocken. Deutschland wird dafür kritisiert, dass Hartz IV eben kein menschenwürdiges Leben sichert. ({2}) Das, meine Damen und Herren, ist für ein Land, das sich Superreiche leisten kann, wirklich beschämend. ({3}) Wer anderen Menschen Menschenrechte vorpredigt, der sollte bei sich selbst beginnen; das hat Frau Kofler ja auch gesagt. Und da möchte ich auf eines hinweisen: Gerade – Sie sprachen das Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ an – findet der größte politische Schauprozess unserer Zeit in Madrid statt. Die Europäische Union und die Weltgemeinschaft schweigen, und ich kann Ihnen eines sagen: ({4}) Die Öffentlichkeit wird dort ausgeschlossen. Es sind keine internationalen Beobachterinnen und Beobachter zugelassen. Ich selbst wurde auch nicht hineingelassen. ({5}) Sie möchten die Katalanen nicht in das Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ aufnehmen. ({6}) Unabhängig davon, wie man die Unabhängigkeitsbewegung bewertet, kann ich Ihnen eines sagen: Menschenrechte gelten auch in Europa – auch für Katalanen. Auch für sie gilt die Rechtsstaatlichkeit. ({7}) Wer Menschenrechte verteidigen will, braucht seinen Blick auch nicht in allzu weite Ferne schweifen zu lassen – wie nach Russland, was Sie immer so gern vorpredigen. ({8}) Denn auch hier gibt es allmächtige Oligarchen, meine Damen und Herren. „Bankster“, Steuer- und Dieselbetrüger bleiben von Ihnen ja stets unbehelligt, ({9}) während gleichzeitig Leihsklavenarbeit, Werkverträge und Minijobs den sozialen Zusammenhalt und auch Millionen von Biografien zerstören. Wie kann es eigentlich sein, dass Daimler-Chef ­Zetsche ({10}) künftig mit einer Rente von jährlich über 1 Million Euro rechnen kann – das sind 4 250 Euro am Tag –, während gleichzeitig jede zweite Rente in Deutschland unter 800 Euro beträgt? ({11}) Nun hat Hubertus Heil etwas dagegengesetzt und etwas von unserer linken Grundrente kopiert. ({12}) Nur, mit wem wollen Sie das eigentlich umsetzen? Etwa mit Herrn Seehofer, Herrn Söder oder dieser FDP hier im Raum? Denken Sie an Bertolt Brecht: Den Menschen macht ein Geschwätz nicht satt. ({13}) Das schafft kein Essen her. ({14}) Von dieser kapitalliberal entfesselten Barbarei auf der Welt wurden noch nie Menschenrechte verschenkt. Hierzulande bleiben die Grundfreiheiten des Kapitals unangetastet, während gleichzeitig die armen Menschen das Recht haben, unter Brücken zu schlafen und Flaschen zu sammeln. ({15}) Jedes Menschenrecht muss gemeinsam abgetrotzt werden, liebe SPD, lieber Herr Heil, und solange es eben nicht gemeinsam öffentlichen Druck für bessere Renten gibt, liebe SPD, bleibt das ein neues Ferkel, das durchs mediale Dorf getrieben wird. ({16}) Deshalb setzt sich übrigens Die Linke für eine soziale Rechtsstaatsoffensive ein – gegen Alters- und Kinderarmut. ({17}) Meine Damen und Herren, die Antwort der Bundesregierung auf kritische Fragen zum Thema Rüstung ({18}) beginnt regelmäßig mit folgendem Satz – ich zitiere –: Die Bundesregierung vertritt eine restriktive und verantwortungsvolle Rüstungspolitik. Das Deutsche Institut für Menschenrechte und Amnesty International sagen das genaue Gegenteil, indem sie fragen: Ist die Genehmigung von Rüstungsexporten im Wert von 4,824 Milliarden Euro für immer modernere Panzer, Mörser, Granaten und anderes Kriegswerkzeug wirklich restriktiv und verantwortungsvoll? Amnesty International hat gerade en détail bewiesen, wie die Vereinigten Arabischen Emirate mit Mordwerkzeug von westlichen Staaten ausgerüstet werden und es dann an islamistische Terroristen im Jemen weitergeben. ({19}) Allein in die Emirate haben Sie 2017 – das weist der Rüstungsexportbericht aus – Rüstungsexporte im Wert von 45,1 Millionen Euro genehmigt. Im Jahr 2018 sollen sie sogar auf 200 Millionen gestiegen sein. Die 57 000 zerfetzten Menschenleben im Jemen sind die blutigen Schatten der Supergewinne von Rheinmetall. Deutsche Waffen, deutsches Geld morden mit in aller Welt! ({20}) Das sind die von Ihnen abgesegneten Rüstungsexporte, und das sind Verbrechen gegen die Menschenrechte, meine Damen und Herren. ({21}) Deshalb fordern wir Linken: Waffenlieferungen gehören verboten! ({22}) Warum folgen Sie übrigens Herrn Trump immer so schnell, wenn es gegen Russland geht? Folgen Sie doch dem Beispiel von Dänemark, Finnland, den Niederlanden und Norwegen! Sie haben nämlich ihre Rüstungstransfers an die Arabischen Emirate gestoppt. ({23}) Laut der aktuellen Umfrage des Centrums für Strategie und Höhere Führung sehen übrigens 56 Prozent der Deutschen die größte Gefahr für den Weltfrieden aufseiten der USA. Persönlich bedroht fühlen sich über 40 Prozent am ehesten von einer schlechten Pflege im Alter. Gegen Krieg und Altersarmut, also für das Menschenrecht auf Frieden und soziale Menschenrechte, kann noch viel mehr getan werden, liebe SPD. Neuer Druck auf die Straße – gemeinsam mit den Gewerkschaften, Sozialverbänden und den Beschäftigten! Gestern haben wir es auf Berlins Straßen eindrucksvoll gesehen. Danke schön. ({24})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Nastic. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Margarete Bause, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Margarete Bause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004663, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im neuen Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik heißt es: Die Bundesregierung wird ihrem Anspruch nur dann gerecht, wenn sie die Wahrung der Menschenrechte als beständige, immer neue Anstrengungen erfordernde Aufgabe begreift. Ganz genau so ist es. Deswegen gebührt dem Deutschen Institut für Menschenrechte unser aller Dank und Anerkennung dafür, ({0}) dass es uns darauf aufmerksam macht, wo wir auch in Deutschland diesem Anspruch nicht gerecht werden und wo wir besser werden können und müssen. Schwere Menschenrechtsverletzungen in vielen Staaten der Welt kann nur der glaubwürdig kritisieren, der auch im eigenen Land die Hausaufgaben macht. ({1}) Es geht um Glaubwürdigkeit, und das heißt, dass wir eben nicht mit zweierlei Maß messen dürfen. Aber das haben wir heute leider auf dieser – der rechten – Seite und leider auch auf dieser – der linken – Seite gehört. ({2}) – Ja. – Und es geht um eine durchgängig menschenrechtsorientierte Politik in allen Politikbereichen. Das ist ein Arbeitsauftrag an das Wirtschaftsministerium, zum Beispiel, was unsere Handelspolitik gegenüber China und Ägypten betrifft, und es ist ein Arbeitsauftrag an das Innenministerium, was den Umgang mit Geflüchteten angeht und den Kampf gegen Rassismus und Hassrede im eigenen Land. ({3}) Lassen Sie mich aus dem jüngsten DIMR-Bericht einige Punkte herausgreifen: Erster Punkt: Ausbeutung von Arbeitsmigrantinnen und -migranten. Viele Arbeitsmigranten werden in Deutschland massiv ausgebeutet: unbezahlte Überstunden, Löhne weit unter dem Mindestlohn, Drohungen, Gewalt. Ich finde, das ist unseres Sozialstaates nicht würdig. Deswegen brauchen wir alle Anstrengungen für menschenwürdige Zustände in der Pflegebranche, auf dem Bau oder in der Fleischindustrie. ({4}) Zweiter Punkt: Menschenrechte und Wirtschaft. Die Expertinnen und Experten sind sich einig, dass die Freiwilligkeit bei der Einhaltung der Menschenrechte entlang der Lieferkette gescheitert ist. Minister Müller hat darauf reagiert mit dem Gesetzentwurf, der an die Medien gegeben wurde. In der Bundesregierung merke ich nach wie vor große Widerstände gegen eine verbindliche gesetzliche Regelung, auch wenn Sie, Frau Kofler, das hier unterstützt haben. Ich finde, da müssen Sie endlich liefern. Wo bleibt da Ihre Glaubwürdigkeit? ({5}) Rüstungsexporte. Der DIMR-Bericht bezeichnet Rüstungsexporte zum Beispiel nach Saudi-Arabien als menschenrechtlich besonders brisant. Bis heute haben wir Lücken im Gesetz, die eine Umgehung des Exportstopps ermöglichen. Rheinmetall zeigt, wie das geht. Waffenlieferungen nach Katar wurden genehmigt von dieser Bundesregierung – nach Katar, wo Menschenrechte massiv verletzt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Rüstungsexporte in Kriegs- und Krisengebiete sind unvereinbar mit einer menschenrechtsorientierten Politik. ({6}) Letzter Satz. Außenminister Maas hat gestern hier gesagt, dass Deutschland eine starke Stimme für die Menschenrechte sein soll. Sehr gut! Dann sollten wir aber auch hier bei uns unsere Hausaufgaben machen. Herzlichen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Bause. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Frank Schwabe, SPD-Fraktion. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Auch wenn mehrfach gesagt wurde – und ich teile das ausdrücklich –, dass es richtig und wichtig ist, dass wir uns mit der Lage in Deutschland beschäftigen – dass das unsere Verantwortung vor allem ist, wenn wir über Menschenrechte reden –, muss man, glaube ich, aufpassen, dass man die Dinge nicht durcheinanderwirft und wir uns am Ende an einer Trivialisierung der schwierigen, wirklich schwierigen Medienlage in Ungarn, in der Türkei, in Ägypten und anderen Teilen der Welt beteiligen, indem wir so tun, als ob wir hier in Deutschland keine Medienfreiheit und keine Pressefreiheit hätten – das ist großer Unfug. Deswegen sollten wir uns daran nicht beteiligen. ({0}) Wir haben es zu tun mit einigen Berichten des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Wir haben uns selber verpflichtet, wir haben selber im Gesetz festgelegt, dass das Deutsche Institut für Menschenrechte uns jährlich hier entsprechend berichten soll. Ich will noch einmal unterstreichen, was auch andere unterstrichen haben: Mit dem Deutschen Institut für Menschenrechte haben wir eine weltweit anerkannte Institution. Es ist nicht umsonst so, dass das Deutsche Institut für Menschenrechte im internationalen Verband der Menschenrechtsinstitutionen bis zu diesem Jahr die Präsidentschaft hatte. Es ist, ich will das auch noch einmal unterstreichen, in der Tat die zentrale Aufgabe nationaler Menschenrechts­institutionen – alles andere wäre ein Missverständnis –, sich um die Lage in dem Land zu kümmern, in dem die Institution ihren Sitz hat. Das ist der Sinn der Veranstaltung: dass sich das österreichische Institut, das ungarische, das türkische und andere sich mit der Lage im jeweiligen Land beschäftigen. Und diese Berichte sollen natürlich wehtun, na selbstverständlich, ({1}) die sollen zum Nachdenken anregen. Das muss so sein. Wenn es nicht so wäre, wenn wir alle sagen: „Och, alles wunderbar“, dann wäre irgendetwas falsch an diesen Berichten. Ich will die Direktorin des Instituts, Frau Professor Dr. Beate Rudolf, zitieren. Sie hat gesagt: Die Qualität des Menschenrechtsschutzes in einem Staat misst sich gerade daran, ob die Rechte der Schwächsten in Gesetzen verankert und auch in der Praxis geachtet und geschützt werden. Daher greift der Menschenrechtsbericht schwere Benachteiligungen der Rechte von Menschen auf, die sich im politischen Diskurs hierzulande nur schwer Gehör verschaffen können. Zum Beispiel geht es um Migrantinnen und Migranten, Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen sind und dort nicht ordentlich versorgt werden; genau das sind diese schwachen Menschen. Deswegen ist es gut, dass der Bericht über diese Menschen redet. Ein paar der Themen sind hier benannt worden: Arbeitsausbeutung von Migrantinnen und Migranten, Zwang in der Psychiatrie, aber auch das Thema „Wahlrechtsausschluss von Menschen mit geistiger Behinderung“; das sind Themen, denen sich die Berichte des Menschenrechtsinstituts widmen. Ich will, weil es noch nicht genannt worden ist, das Beispiel des Zwangs in der Psychiatrie herausgreifen. Deutschland steht hier international in der Kritik, und zwar nicht erst seit kurzem, sondern seit vielen Jahren. Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist für ein absolutes Verbot von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesverfassungsgericht haben gesagt, dass Zwangsmaßnahmen in der Psychia­trie nur die absolute Ultima Ratio sein dürfen. Das scheint in Deutschland schlichtweg nicht der Fall zu sein. Das sieht man schon daran, dass es in den Bundesländern unterschiedliche Handhabungen gibt: Es gibt eine sehr intensive Nutzung des sogenannten Unterbringungsverfahrens zum Beispiel in Schleswig-Holstein, aber es wird deutlich weniger stark genutzt zum Beispiel in Sachsen. Deswegen, glaube ich, ist es richtig, sich auch mit solchen Fragestellungen zu beschäftigen. Deswegen will ich dem Deutschen Institut für Menschenrechte ausdrücklich danken, ({2}) dass es dieses Thema in dem Bericht aufgegriffen hat und wichtige Hinweise gegeben hat, wie man das Ganze ändern könnte. Ich will ein zweites Thema ansprechen, das heute auch noch keine Rolle gespielt hat; das ist das Thema des Wahlrechtsausschlusses. Meine herzliche Bitte an den Koalitionspartner ist, diese schamvolle Angelegenheit, wie ich finde, endlich zu beenden. ({3}) Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich im letzten Bundestagswahlkampf vor einer Haustür gestanden und geklingelt habe. Mir hat eine Frau geöffnet, die nicht wählen durfte. Sie hätte mich wählen wollen. Jetzt können Sie sagen: Na, sehen Sie mal! – Aber es hätte auch jemand ganz anderes sein können. Jedenfalls war es vollkommen ersichtlich, wen sie hätte wählen wollen, und sie war tieftraurig, dass sie es nicht konnte. Ich war wirklich beschämt darüber, dass wir das nicht hinbekommen haben; dass sie nicht wählen durfte. Deswegen: Bitte lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, das zu ändern – dann wird dieser Punkt im nächsten Bericht des Instituts nicht mehr erwähnt werden müssen. ({4}) Ich will zum Schluss eingehen auf das, was hier vielfach angesprochen wurde – es ist eine Herzensangelegenheit der Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe –; das ist die Frage der sozialen Rechte. Ich glaube, wir dürfen die soziale Dimension der Menschenrechte wirklich nicht unterschätzen. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir jetzt die Ratifizierung des Zusatzprotokolls zum UN-Sozialpakt auf den Weg gebracht haben und dass wir auch die Ratifizierung des ILO-Übereinkommens 169 zum Schutz der indigenen Bevölkerung auf den Weg bringen – gerade zu einem Zeitpunkt, wo Länder wie Brasilien den Schutz der indigenen Bevölkerung eigentlich mit Füßen treten unter einer neuen, rechtsnationalistischen Regierung. Es ist, glaube ich, ein richtiges Zeichen, was hier aus Deutschland kommt. ({5}) Auch beim Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ ist es wichtig, Fortschritte zu machen. Auch dort verweise ich auf den Koalitionsvertrag. Wir haben verabredet, dass wir zu gesetzlichen Maßnahmen kommen wollen. Deswegen ist es absolut begrüßenswert, dass sich unterschiedliche Bundesministerien auf den Weg gemacht haben, sich Gedanken zu machen, wie man denn dazu kommen kann, dass eine Exportnation wie Deutschland – und die wollen wir zu Recht bleiben – dafür sorgt, dass das, was wir in der Welt produzieren und was wir importieren, unter menschenrechtlich akzeptablen Bedingungen hergestellt wird. Wir wollen niemanden zu irgendetwas zwingen; aber am Ende brauchen wir auch ein „level playing field“ für all die Unternehmen, die guten Willens sind. Deswegen ist es, glaube ich, richtig, sich dort auf den Weg gesetzlicher Regelungen zu machen. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schwabe. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Lukas Köhler, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Die erste und wichtigste Aufgabe des Staates ist der Schutz vor willkürlicher Gewalt. Dazu gehört insbesondere die Abwesenheit von Zwang. Aber immer dann, wenn dieser Eingriff unvermeidbar ist, dann muss er absolut mit Verhältnismäßigkeit und unter größtmöglicher Transparenz ausgeführt werden. Ich freue mich, dass Sie, Herr Schwabe, das gerade angesprochen haben, und ich freue mich, dass im Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte dieses Thema, insbesondere bei psychisch Kranken, noch einmal aufgegriffen wird. Ich halte es für absolut wichtig und zentral, dass wir immer dann, wenn wir staatlichen Zwang anwenden müssen – es ist schlimm genug, dass das so passieren kann –, die größtmögliche Vorsicht walten lassen und dass wir dann auch dafür sorgen, dass die Bundesländer die Möglichkeiten ausschöpfen, diesen Zwang möglichst zu vermeiden und möglichst gut zu begründen. Aber, meine Damen und Herren, wir reden heute ja nicht nur über den Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte, wir sprechen ja über die Gesamtaufgabe der Menschenrechte, und dazu gehört eben auch die internationale Ebene. Dabei sticht vor allen Dingen der Antrag der Linken ins Auge. Man findet einmal mehr einen Strauß an Forderungen, die Sie offenbar für Menschenrechtspolitik halten. Die Friedenssicherung durch die Bundeswehr ist Ihnen natürlich ein Dorn im Auge. Sie sind genauso gegen die nukleare Teilhabe, wie Sie gegen die NATO sind. Beides – das ignorieren Sie gerne – hat in den letzten 70 Jahren dafür gesorgt, dass wir hier in Frieden und Sicherheit leben können. ({0}) Das ist ein Punkt, den Sie tatsächlich gerne ignorieren. Ich weiß nicht, woran es liegt. Vielleicht liegt es auch daran, dass Sie die aggressive Politik aus Moskau seit jeher nicht als Bedrohung für die Menschenrechte, sondern als Verheißung sehen, und dabei ähneln Sie doch öfter stark den Kolleginnen und Kollegen im rechten Teil des Spektrums. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Köhler, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, tue ich nicht. ({0}) – Es kommen noch mehr. Sie können vielleicht gleich noch mal darauf eingehen. Aber wir wissen ja: Es ist nicht alles neu, was von dort kommt. Ihr autoritärer Freundeskreis reicht von Moskau über Damaskus bis nach Caracas. Sobald die Kumpane das eigene Volk unterdrücken, sind Sie immer ganz schnell bei irgendwelchen fadenscheinigen Ausreden. ({1}) Irgendwie sind die USA immer schuld. Da ist Ihnen keine Rechtfertigung zu peinlich, keine Anschuldigung zu platt und keine Verschwörungstheorie zu absurd. ({2}) Aber ich hätte nicht geglaubt, dass diese Absurdität noch zu steigern ist. Ihre menschenrechtspolitische Sprecherin, Frau Nastic, die hier gerade selber geredet hat, möchte Nicolás Maduro in das Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ aufnehmen. Das ist an Absurdität nicht zu überbieten. ({3}) Das ist ein Programm, das Oppositionelle vor Zwang, Folter und Gewalt schützen soll, und Sie wollen denjenigen, der am härtesten die Opposition unterdrückt ({4}) und der für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist, in dieses Programm aufnehmen. Das ist eine Schande für das Programm. Ich finde es fürchterlich, dass Sie sich trauen, das hier vorzuschlagen. ({5}) Es tut mir leid, das so sagen zu müssen. Es täte mir wirklich leid um dieses Programm, wenn das passieren würde. Meine Damen und Herren, wir können zu einer gemeinsamen Menschenrechtspolitik kommen, die wirklich dafür sorgt, dass wir es schaffen, Menschenrechte zu schützen, und das weltweit. Das können wir aber nur tun, wenn wir es ohne Heuchelei angehen. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. Vielen herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Köhler. – Die Fraktion Die Linke hat um eine Kurzintervention gebeten, die ich zulasse. Bitte, Sie haben das Wort.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Dr. Köhler, Sie hatten gerade im Rahmen Ihres Wutanfalls gegen unsere Partei auch einen Abschnitt dabei, in dem es um nukleare Teilhabe ging. ({0}) Sie haben gesagt, Sie finden es nicht gut, dass wir das kritisieren, weil sie die Sicherheit unseres Landes gewährleistet. Ich glaube, ich bin ein paar Tage älter als Sie. Deswegen bin ich auch schon länger im Bundestag, und ich kann mich an die Zeit erinnern, als Guido Westerwelle Außenminister der Bundesrepublik Deutschland war ({1}) und sich bei der CDU/CSU mit seiner Forderung durchgesetzt hat, dass die Atomwaffen aus Deutschland abgezogen werden sollen. Das war nicht nur die Position der FDP, sondern es war dann die Position des gesamten Deutschen Bundestages. Das ist ja einstimmig beschlossen worden. Mich würde interessieren, wie es zu der Positionsänderung in Ihrer Partei gekommen ist. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Köhler, Sie können jetzt antworten.

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Eine kurze Vorbemerkung. Ich glaube, diesen Ageism, den Sie gerade vorgeführt haben – irgendwie auf das Alter von Kolleginnen oder Kollegen einzugehen –, würde ich mir sparen. ({0}) Aber ich möchte auf Ihre Frage eingehen. Das, was Sie gerne ignorieren, ist das Gleichgewicht der Kräfte, das international dafür gesorgt hat, dass es nicht zu einer Katastrophe gekommen ist. Von dieser Position brauchen wir nicht abzuweichen; denn diese Position haben wir schon immer vertreten. Natürlich sind Atomwaffen ein Problem. Natürlich ist es ein Problem, dass wir weltweit überhaupt so ein Bedrohungspotenzial haben. Aber dass Sie immer wieder ignorieren, dass Sicherheit auch etwas mit Gleichgewicht zu tun hat, ist ein fataler Fehler Ihrer Außenpolitik, und das haben Sie nie gelöst bekommen. ({1}) Solange Sie da keinen Punkt setzen, werden Sie auch weiterhin meine Wutanfälle ertragen müssen, vor allen Dingen, wenn Sie so einen Quatsch fordern, wie es Ihre menschenrechtspolitische Sprecherin gemacht hat. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Köhler. – Vielleicht darf ich darauf hinweisen, dass es Sinn macht, bei Kurzinterventionen die Beiträge zu liefern und sich den Rest anzuhören. Es macht – auch aus Sicht des Präsidiums – keinen Sinn, dass wir den Redner kaum verstehen können, weil die Zwischenrufe zu einer amorphen Kulisse werden. ({0}) – Es fällt mir nicht nur bei Ihnen auf; ich habe das auch schon bei anderer Gelegenheit gesagt. Es macht keinen Sinn, dass Zwischenrufe – – ({1}) – Herr Kollege, wenn Sie jetzt nicht damit aufhören, bekommen Sie einen Ordnungsruf. ({2}) So einfach geht das. ({3}) Als nächster Redner hat der Kollege Sebastian Brehm von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({4})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst bin ich dankbar, dass wir heute einmal mehr über das Thema Menschenrechte im Deutschen Bundestag debattieren, heute über die Unterrichtung des Deutschen Instituts für Menschenrechte und dessen Jahresberichte 2016 und 2017 sowie die beiden Berichte zur Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland für Mitte 2016 bis Mitte 2018. Menschenrechte – ich glaube, das kann man nie oft genug betonen – sind zentrale Grundrechte, und diese werden leider in der Welt mit Füßen getreten. Deshalb ist es so wichtig und auch richtig, diese Themen so oft wie möglich hier im Bundestag in öffentlicher Sitzung zu diskutieren und immer wieder darauf aufmerksam zu machen: Menschenrechte sind universell und unteilbar. ({0}) Liebe Kollegin Nastic, wenn Sie die Menschenrechte in gute und schlechte Menschenrechte einteilen, ({1}) dann schaden Sie damit der Diskussion um Menschenrechte in der Welt. Deswegen glaube ich, dass immer wieder betont werden muss: So wie Sie argumentieren, schaden Sie den Menschenrechten in der Welt. ({2}) Menschenrechte sind unteilbar, für alle gültig und universell. ({3}) Wir müssen uns unermüdlich dafür einsetzen, dass auf der ganzen Welt die Menschenrechte eingehalten werden. Das ist für uns Auftrag und Verpflichtung zugleich. Aber es ist natürlich unser zentrales Ziel, auch in Deutschland die Menschenrechte aller Menschen zu achten. Deshalb ist eine selbstkritische Haltung notwendig und richtig. Die zentrale Aufgabe in Deutschland bleibt es vor allem, Diskriminierung, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit zu bekämpfen, Entwicklungen zu beobachten und gegebenenfalls politisch zu reagieren. Hier gibt es immerwährenden Handlungsbedarf. Der Jahresbericht 2017 enthält einen wichtigen Punkt für die Diskussion. Gerade in der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung vor allem im Netz werden die Wortwahl und die Art der Auseinandersetzung härter und rücksichtsloser. Das hat man auch in der Debatte heute ein Stück weit gemerkt. Ich darf aus dem Jahresbericht 2017 zitieren und kann das nur in aller Entschiedenheit unterstreichen: Die Verrohung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Ziel, die Grenzen des Sagbaren immer weiter zu verschieben und die Spaltung der Gesellschaft voranzutreiben, greift auch die Grundlagen der demokratischen Gesellschaft als Ganzes an. ({4}) Deswegen bedarf dieses Thema meines Erachtens einer viel intensiveren Betrachtung und einer höheren Aufmerksamkeit. Wenn wir die Einzelthemen in den Berichten über die Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland betrachten, sollten wir aber vermeiden, unser Land schlechtzureden. Denn unser Land ist weltweit Vorbild beim Thema Menschenrechte. Auch hier kommt es auf die Sprache an. Mir ist die Analyse in den Berichten leider zu ungenau. Der Bericht informiert nicht über die aktuelle Lage in Teilpunkten – ich werde im Einzelnen darauf eingehen –, sondern suggeriert auch meiner Meinung nach aus politischen Erwägungen heraus ein falsches Bild. Ich möchte das an einem Beispiel aus dem Berichtszeitraum Juli 2017 bis Juni 2018 festmachen. Die Überschrift eines der Schwerpunktthemen lautet: Schwere Arbeitsausbeutung und die Lohnansprüche betroffener Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Diese Überschrift prägte dann auch die Schlagzeile in den Berichterstattungen der Medien. Und im Überblick wird allgemein festgestellt – ich zitiere noch mal –: Um arbeitsrechtliche Standards zu umgehen, bedienen sich Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber offensichtlich rechtswidriger Praktiken wie Vorenthalten von Lohn, Drohungen und Zwang. Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier findet aus meiner Sicht keine notwendige Differenzierung statt, sondern eine nicht zutreffende Pauschalisierung. Ich möchte dies auch an Zahlen festmachen. Leider – das ist Realität – gibt es schwarze Schafe. Das zeigen die Zahlen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit oder die lückenlosen Prüfungen der Sozialversicherung. Im Jahr 2017 sind 4 736 Verfahren eröffnet worden, 2 518 davon wegen Mindestlohnfragen. Selbstverständlich müssen die Kontrollen auch weiterhin engmaschig sein. Aber die allgemeine These im Bericht, die pauschal gefasst ist, stützt sich auf 33 Interviews mit Migrantinnen und Migranten und 6 telefonische Interviews mit Rechts- und Sozialwissenschaftlern. Mit dieser geringen Datenbasis die gesamte deutsche Wirtschaft zu diskreditieren, geht aber aus meiner Sicht weit über das Ziel hinaus. ({5}) Laut der Bundesagentur für Arbeit gingen im Dezember 2017  3,5 Millionen Ausländer einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach. Von lediglich 33 Interviews auf alle Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber von 3,5 Millionen ausländischen Beschäftigten zu schließen und sie in dieser Weise darzustellen, ist unredlich. Deswegen wünsche ich mir – ich komme zum Schluss – für die künftigen Berichte, insbesondere bei solchen Behauptungen, eine tiefergehende Datenbasis, und die politische Bewertung sollte hier im Parlament erfolgen. Herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Kai Gehring von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Deutschland als Demokratie und Rechtsstaat muss weltweit für die Wahrung der Menschenrechte einstehen, eine menschenrechtsbasierte Außenpolitik betreiben und ekla­tante Menschenrechtsverletzungen überall anprangern. Das sind wir den betroffenen Menschen, aber auch der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und unserem Grundgesetz – beide feiern ihr 70. Jubiläum – so etwas von schuldig! ({0}) Denn: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“. Das muss überall gelten. Wenn wir weiterhin weltweit glaubwürdiger Akteur für Menschenrechte sein wollen, dann müssen wir im Inland anfangen und auch vor der eigenen Haustür kehren. Daher ist es richtig, dass heute die Menschenrechtslage in Deutschland Thema dieser Debatte ist. ({1}) Das heißt, selbstkritisch sein, sich den Spiegel vorzuhalten und vorhalten zu lassen und auch unbequem zu sein – so unbequem wie auch das DIMR, unser Deutsches Institut für Menschenrechte. Daher danke auch von unserer gesamten Fraktion für die großartige Arbeit, die es leistet, und für die Menschenrechtsberichte. ({2}) Wir haben das große Glück, hier in einer freien Gesellschaft zu leben, aber vieles liegt auch im Argen. Vier Beispiele dafür: Zu Recht werden wir von anderen Staaten – auch im UPR-Verfahren – besorgt nach dem wachsenden Rassismus in Deutschland gefragt. Ja, die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit hierzulande ist beschämend. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Homophobie und Sexismus gehören in unserem Rechtsstaat klar bekämpft. Hier erwarte ich auch mehr von der Bundesregierung. Aktive Menschenrechtspolitik und Verfassungsschutz heißen, Ausgrenzung und Diskriminierung keinesfalls zu dulden; denn jeder Mensch ist gleich an Rechten und gleichwertig. ({3}) Shrinking Spaces besorgen uns alle, wenn also von Autokraten im Ausland Freiräume der Zivilgesellschaft massiv eingeschränkt werden. In einem Rechtsstaat hängt die Förderung von NGOs nicht von Willkür und Wohlgefallen regierender Parteien ab. Wenn hierzulande Parteien in Kampagnen oder deutsche Kabinettsmitglieder die Arbeit deutscher NGOs, allen voran von Seenotrettern und Umweltverbänden wie der Deutschen Umwelthilfe, attackieren und drohen, deren Gemeinnützigkeit abzuerkennen, dann ist das menschenrechtlich verheerend. Es ist ein Sündenfall, NGOs so dermaßen in den Rücken zu fallen. ({4}) Unsere Menschenrechtspolitik ist dann besonders glaubwürdig, wenn sie auch hierzulande vorbildlich ist. Dies gilt für die tatsächliche Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention. Wir sagen: Kinderrechte gehören endlich in das Grundgesetz. Das begründet das DIMR in seinen Berichten überzeugend. In vielen Landesverfassungen wie der in NRW sind sie längst verankert. Deshalb: Endlich Kinderrechte in unser Grundgesetz! ({5}) Dies gilt ebenso für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland; denn auch Inklusion ist ein Menschenrecht. Hierzu liefert das DIMR im Rahmen seiner Monitoringberichte wertvolle Beiträge und Hinweise. Das zeigt: Das DIMR ist sehr leistungsfähig, international anerkannt und ein kraftvoller Akteur. Ich würde mir wünschen, dass wir uns in der nächsten Debatte gemeinschaftlich Gedanken machen, wie man das Deutsche Institut für Menschenrechte noch mehr strukturell und finanziell stärken und profilieren kann, auch im internationalen Vergleich.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Gehring, achten Sie bitte auf die Zeit!

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die deutsche Menschenrechtsarchitektur gehört gestärkt und – ganz klar – weiter profiliert. Deswegen freue ich mich auf die nächste Debatte. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Martin Patzelt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste in unserem Haus! Im Frühjahr 2017 hatte ich ein Gespräch mit dem philippinischen Innenminister. Er verwies, als ich die Achtung der Menschenrechte in seinem Land anfragte, darauf, dass die Drogenkriminalität und die furchtbare Armut im Land solche Maßnahmen und drastischen Mittel erfordern würden. Das erinnerte mich sehr stark an meine Erfahrungen in der DDR, in der die Beseitigung der Ausbeutung des Menschen mit allen Machtmitteln einer Diktatur – angefangen von der Gehirnwäsche in Kitas und Schulen über strafbewehrte Unterdrückung von Meinungs- und Pressefreiheit bis hin zum Einsperren eines ganzen Staatsvolkes – als notwendig erachtet wurde. Die Geschichte hat solchen Konzepten auf Dauer nie recht gegeben. Unrecht summierte sich. Machterhalt wurde zum ausschließlichen Motiv politischen Handelns. Menschenrechte können nicht durch die Verletzung von Menschenrechten durchgesetzt werden. ({0}) Wo Menschenrechte strukturell und nachhaltig verletzt werden, ist nachweislich ein wirtschaftlicher Niedergang, zumindest langfristig, unausweichlich. In der Sitzung des Menschenrechtsausschusses des philippinischen Parlaments fragte ich die Abgeordneten, ob sie dem Gesetzentwurf für die Wiedereinführung der Todesstrafe und die Senkung der Strafmündigkeit auf das 12. Lebensjahr zustimmen würden. Da spürte ich die große Angst der Abgeordneten vor dem langen Arm ­Dutertes. Um wie viel mehr rührten mich Mut und Standhaftigkeit junger intellektueller Menschenrechtsverteidiger in Vietnam an, die Arbeit und Wohnung verloren hatten und der Willkür von Schlägertrupps ausgesetzt waren. Ich konnte mit meinem Diplomatenpass nach dem gemeinsamen Protest vor dem Gerichtsgebäude wieder abreisen, während die vietnamesischen Protestierenden in Busse mit Richtung Gefängnis verladen wurden. Unermüdlich protestieren Menschen in aller Welt gewaltlos für Menschenrechte. Sie nehmen dafür Repressalien, Inhaftierung und Lager als unausweichliche Konsequenz in Kauf. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Menschenrechte gibt es nicht zum Nulltarif. Sie kosten Mut und manchmal auch Verzicht. Wie viel sind wir eigentlich bereit dafür zu investieren? Mit solchen Erfahrungen schaue ich auf unsere vergleichbar äußerst komfortable menschenrechtliche Situation und bemerke, wie schmal die Kruste unserer in das Grundgesetz und in die europäische Verfassung geschriebenen menschenrechtlichen Überzeugung noch ist. Nicht selten musste ich in meinen Gesprächen mit Wählern die Grauzonen, ja die Grenzüberschreitungen des Denkens und Fühlens bezüglich der Akzeptanz der Menschenrechte für jeden Menschen gleichermaßen bemerken, insbesondere dann, wenn sich die Angst um das Eigene und die Sicherheit, um Eigentum und Identität ausbreitete und dies aus politischem Kalkül von politischen Mitbewerbern noch massiv und unter Ausnutzung menschenrechtlicher Tabubrüche gefördert wurde. Der Blick auf die Menschenrechtssituation im eigenen Land verlangt auch eine schonungslose Selbstreflexion; meine Vorredner haben das schon gesagt. Um einige Baustellen aus meiner Sicht anzudeuten: Wie gehen wir mit den Rechten von Kindern, auch von ungeborenen, um, wenn Selbstverwirklichungsinteressen der Eltern das Aufwachsen der Kinder schwerer werden lassen? Welche Antworten geben wir jungen Menschen, wenn sie angesichts der demografischen Entwicklung und einer hemmungslosen Nutzung endlicher Ressourcen durch uns Alte nach ihrer Zukunft fragen? Wie weit überlassen wir das Selbstbestimmungsrecht des Menschen zukünftig der unbestechlichen Logik digitaler Kalkulationen? Menschenrechte sind für uns eine andauernde, eine bleibende Baustelle. Sie verlangen zunächst immer den Blick auf und Einsatz für die Schwächeren: Kinder, Pflegebedürftige, sozial Schwache, Andersdenkende, Unangepasste, Fremde. Unsere materiellen Möglichkeiten – unser Reichtum – erlauben uns, materielle Grundbedürfnisse aller Menschen im Land gesetzlich zu sichern. Aber bewegt uns dabei auch die Frage, auf wessen Kosten wir diesen Wohlstand halten, was wir den Ärmsten in der Welt für ihre Rohstoffe, Produkte und Dienstleistungen zu zahlen bereit sind? Sind wir uns bewusst, dass die Verwirklichung von Menschenrechten in aller Welt nicht von unserer ständigen Ermahnung, sondern in entscheidendem Maße von der Sicherung der Grundbedürfnisse und einem Minimum an Bildung der Menschen in der Welt abhängt? ({1}) Dass uns die menschenrechtliche Situation der vielen Armen in einer sich mehr und mehr vernetzenden Welt einholen wird, ist schon an der zunehmenden Migration, den Asylbegehren und dem Zusammenbrechen bisher lukrativer Märkte sichtbar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen unsere menschenrechtlichen Überzeugungen nicht wie eine Monstranz vor uns hertragen und im Gefolge dieser Prozession für die eigenen Baustellen und für die Verantwortlichkeiten in der Welt blind bleiben. Deshalb hätte es uns gefreut, wenn in dem Bericht des DIMR auch mehr auf die internationale Situation abgehoben worden wäre, allein schon wegen unserer eigenen Verantwortlichkeiten. ({2}) Für uns Deutsche sollten die Menschenrechte zum genetischen Code unseres Denkens und Handelns werden. Nach unserer historischen Erfahrung kann der zeitlich rasante Rückfall in furchtbare Barbarei eine neue nationale Identität wachsen lassen, die weit über die Sackgasse sich einigelnder Nationalismen hinausweist – Großbritannien und die USA lassen grüßen –: Deutschland für die eine Welt, in der Menschenrechte eine Chance haben! Entwicklungspolitisch gehen wir mit unseren Erfahrungen und unserem Leistungsvermögen vorneweg. Wir sind um die Menschenrechte in aller Welt wie bei uns selber bemüht – nicht allein durch Forderungen und Erwartungen an andere, sondern durch tatsächliche Hilfe, die mehr ist als ein Feigenblatt. Auf unser Land schaut die Welt viel mehr, als es uns bewusst wird. Sie wird unsere Schwachstellen, unsere Brüchigkeit und Halbherzigkeit genauso erkennen wie unsere beispielgebenden Taten. Unsere Fraktion nimmt den Bericht zur Kenntnis und wird den Anträgen der Fraktionen der Linken, der Grünen und der FDP nicht zustimmen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Patzelt, achten Sie bitte auf die Zeit.

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Fernab von schwer zu verwirklichenden Maximalforderungen, Utopien und Ideologien wollen wir beharrlich Schritt für Schritt auf dem Weg bleiben, beispielweise mit dem Nationalen Aktionsplan aus 2014. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Matern von Marschall das Wort. ({0})

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer auf den Tribünen! Wir haben in dieser Menschenrechtsdebatte heute teilweise die nationalen Aspekte beleuchtet, die in den Berichten des Deutschen Institutes für Menschenrechte vorgestellt werden. In diesen Berichten kommt aber auch die internationale Bedeutung der Menschenrechte zum Ausdruck, die natürlich für ein Land, das in der Globalisierung eine zentrale Rolle einnimmt, nämlich Deutschland, von ganz erheblicher Bedeutung ist. Viele von Ihnen fragen sich immer: Wo wird eigentlich das Hemd, das ich am Leib trage, hergestellt? Wie wird eigentlich die Schokolade produziert, die ich esse? Sie wollen eine Gewissheit haben, dass diese Dinge unter menschenwürdigen Bedingungen und unter Wahrung von Mindestrechten für die Menschen, die sie herstellen, produziert werden. Es ist unsere große Aufgabe, die Menschenrechte insbesondere im Rahmen der Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele, zu der wir uns verpflichtet haben, zu beachten. Aber dafür besteht – darauf möchte ich versuchen einzugehen – natürlich immer eine wechselseitige Verantwortung. Es ist nicht nur unsere Verantwortung, die wir versuchen sollten, Transparenz in den Lieferketten herzustellen, sondern es ist auch die Verantwortung in den Ländern dort, die Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit aufzubauen und überhaupt erst zu ermöglichen, dass ihre Mitbürger als Arbeitnehmer unter einigermaßen menschenwürdigen Bedingungen arbeiten. Insofern ist das – Kollege Schwabe hat vorhin von einem „Level Playing Field“ gesprochen – ganz wichtig. Wenn wir über die Frage nachdenken, wie wir gegebenenfalls auch gesetzlich mehr Transparenz bei uns herstellen können, dann, muss ich sagen, bin ich ein bisschen skeptisch, ob es ausreicht, das in einem nationalen Alleingang, in einer nationalen Gesetzgebung zu machen. ({0}) Wir haben zum Beispiel mit der Verordnung für Konfliktrohstoffe, die ab dem Jahr 2021 für alle EU-Länder gültig sein wird, schon ein Vorbild, wie so was auf europäischer Ebene laufen kann. Ich denke, das sollte in Zukunft auch für andere Produktbereiche gelten, selbst wenn – da geht es jetzt ein bisschen ans Eingemachte – die überprüfbare Umsetzung einer solchen Verordnung ungeheuer schwierig ist. Bei diesen Konfliktrohstoffen geht es ja darum, dass wir wissen wollen, wie zum Beispiel Kleinbergbauern ihre Rohstoffe gewinnen und wie sie sie in die Verhüttung bringen. Aber wie ist das denn eigentlich zu kontrollieren? Das sind ganz schwierige Aufgaben. Wenn wir dort eine Begrenzung vornehmen und nur noch großen Betrieben ermöglichen, diese Arbeit zu leisten, dann nehmen wir gleichzeitig auch vielen anderen die Chance zur Teilhabe am Markt. ({1}) Auch das ist ein wichtiger Punkt, auf den wir achten sollten. Ich glaube, dass die Diskussion nicht einfach ist. Etwas möchte ich noch in Richtung der Grünen und all derjenigen sagen, die sich besonders beherzt für E‑Mobilität einsetzen: Wenn ich mir vor Augen führe, dass sich etwa zwei Drittel der weltweiten Kobaltressourcen, die so dringend zur Batterieherstellung benötigt werden, in der Demokratischen Republik Kongo befinden und dass dort die Verhältnisse grauenvoll sind, ({2}) dass dort Kinderarbeit und anderes an der Tagesordnung sind, dann frage ich Sie angesichts sehr hoher Forderungen: Wie wollen Sie – gegebenenfalls über die nationale Gesetzgebung – die Bremse ziehen, damit wir nicht in Versuchung geraten, Rohstoffe in unser Land zu bringen, die unter ganz grauenvollen Bedingungen hergestellt oder gefördert worden sind? ({3}) Also, wir werden spannende und auch schwierige Diskussionen haben, auf die ich mich freue. Aber Maß und Mitte und wechselseitige Verantwortung sollten hier der Maßstab unseres außenwirtschaftlichen Handelns sein. Danke schön. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/6492, 19/6493, 19/171 und 19/172 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 5 e. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf Drucksache 19/7564 zu den Entschließungsanträgen zu der Vereinbarten Debatte „70 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Entschließungsantrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/6455. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Entschließungsantrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/6456. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der AfD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Entschließungsantrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/6457. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! In den letzten sieben Monaten hat eine Kommission aus Wirtschaftsvertretern, Gewerkschaftlern, Umweltverbänden, Wissenschaftlern das erreicht, wozu diese Bundesregierung leider nicht in der Lage war, nämlich den Kohleausstieg in Deutschland endlich einzuleiten. ({0}) Sie haben sich beim Koalitionsvertrag davor gedrückt, das gesetzlich anzugehen, weil Ihnen der Mut fehlte, dafür endlich ein Mandat zu geben. Dass Sie dieser Kommission dafür dann nicht einfach mal herzlich gedankt haben, sondern direkt in den Tagen danach begonnen haben, dieses Ergebnis entweder kleinzureden, ({1}) zu verwässern oder die Konsequenzen aufzuschieben, ist wirklich blanker Hohn. ({2}) Matthias Miersch – stellvertretend für einige Vertreter der SPD-Fraktion – hat hier sehr deutlich gemacht: Wir müssen da dringend rangehen. – Aber es gab auch Stimmen aus der Koalition, die in der Sitzung direkt danach gesagt haben – ich zitiere –: Diesem Konzept kann ich so nicht zustimmen. Sie macht uns als Bundestag aber Vorgaben. Das geht so nicht. – Das war Herr Mattfeldt von der Union, der dieser Kommission eine Woche danach sofort einen vor den Latz geknallt hat. Ich sage ganz deutlich: Wer hat die Kommission eingerichtet? Das waren Sie, liebe Union, und Sie, liebe SPD, als Regierungsfraktionen. Falls Sie sieben Monate lang nicht mitbekommen haben, wer da drinsaß: Das waren führende Vertreter der Wissenschaft, führende Vertreter der Umweltverbände ({3}) und führende Vertreter der deutschen Industrie – falls Sie plötzlich dem BDI und dem BDEW auch einen vor den Latz knallen wollen. Ich frage mich, wo die ehemalige Wirtschaftspolitik in der Union eigentlich hingekommen ist. ({4}) Ich hätte von einem Fraktionsvorsitzenden erwartet, dass, wenn jemand aus der Union von hinten sagt: „Na ja, so geht das nicht“ – das passiert bei uns auch manchmal –, er deutlich macht: So geht das nicht. ({5}) Aber was liest man stattdessen von Herrn Brinkhaus in der Zeitung? Man liest: Na ja, also, wir müssen jetzt mal schauen. Wenn die Versorgungssicherheit durch den Kohlekompromiss in Gefahr ist, dann sollten wir uns im politischen Prozess auch die Freiheit nehmen, noch mal eine Ehrenrunde zu drehen. – Eine Ehrenrunde? Die Klimakrise wartet nicht; sie findet jeden Tag statt, und zwar auch in Deutschland. ({6}) Es ist schön, dass die SPD festgestellt hat: Wir sollten jetzt nicht mehr über Blutgrätschen bei der Klimapolitik reden, vielmehr sollten wir das Problem angehen. – Aber, liebe SPD: Ihr stellt die Umweltministerin. Ich frage mich wirklich, warum man bis zum Sommer warten will, um Vorschläge zu machen, wie man den Kohleausstieg jetzt gesetzlich angeht. Wir können angesichts der Klimakrise nicht weiter warten. ({7}) Offensichtlich haben Sie sich als Vertreter der Regierung bei der letzten Kabinettssitzung die Ohren zugehalten – ich weiß auch nicht, was da passiert ist. Gegenstand der letzten Kabinettssitzung war der Bericht der Bundesregierung zum Klimaschutz. Es war nicht der Klimaschutzbericht der Grünen, sondern der Klimaschutzbericht der Bundesregierung, der deutlich gemacht hat, dass wir das Klimaziel Deutschlands, das im Übrigen der gesamte Deutsche Bundestag beschlossen hat, nicht nur die Grünen, um mehr als 8 Prozent verfehlen werden. Dieser Klimaschutzbericht sagt: Es kommt auf jeden Tag an! Wir können nicht bis zum Sommer warten, dass wir den Kohleausstieg endlich gesetzlich einleiten. ({8}) Ich frage mich auch: Wie wollen Sie eigentlich den Mitgliedern der Kohlekommission, die sich Tag und Nacht um die Ohren geschlagen haben, um Sie aus diesem Schlamassel herauszuführen – sicherlich hätte der BDI auch Besseres zu tun gehabt, als sieben Monate die Arbeit der Bundesregierung zu machen –, erklären, dass Sie sagen: „Vielen Dank, wir legen das jetzt erst mal in die Schublade“? Wie wollen Sie das den Menschen in den Kohleregionen erklären, etwa in Proschim in der Lausitz, in Keyenberg im Rheinland oder in Pödelwitz in Mitteldeutschland? Da leben Menschen, die nicht wissen, ob in den nächsten Jahren ihr Haus, ihr Hof, ihr Dorf noch da sind. Sie warten dringend darauf, dass endlich davon Abstand genommen wird, im 21. Jahrhundert Menschen noch zwangsweise umzusiedeln. ({9}) Es saßen zu Recht Gewerkschaftsvertreter in der Kommission. Wie wollen Sie denn bitte der IG BCE, der IG Metall, den Beschäftigten erklären, dass sie jetzt erst mal sechs Monate warten müssen, weil Sie nicht wissen, wie Sie zukunftsfähige Jobs in diesem Bereich schaffen sollen? Und wie wollen Sie das der Industrie erklären? Deren Vertreter haben diesem Kompromiss zugestimmt, weil sie endlich investieren wollen; sie wollen Investitionssicherheit für die Technologien der Zukunft. Deswegen müssen Sie jetzt dringend handeln. ({10}) Ich sage Ihnen noch mal: Das ist keine Aufgabe, die nur eine Partei bewältigen kann. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Werk. 195 Staaten weltweit haben das Pariser Klimaschutzabkommen unterzeichnet. Darin steht: Wir müssen jetzt aus der Kohle aussteigen. ({11}) Deswegen tun wir heute hier das, was Ihr Job gewesen wäre: Wir bringen diesen Kommissionsbericht, der ein Kompromiss von allen Seiten ist, in den Deutschen Bundestag. Wir geben Ihnen die Chance, Danke zu sagen, dass ein gesellschaftlicher Kompromiss erreicht wurde, zu dem Sie nicht in der Lage waren. Damit wir die Klimaziele einhalten, müssen Sie jetzt vor allen Dingen die Phase eins, die dieser Bericht vorschlägt, einleiten. ({12}) Das bedeutet, das Bundesberggesetz zu ändern, damit es keine neuen Tagebaue gibt. Das bedeutet, einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, damit Kohlekraftwerke mit einer Leistung von 12 500 Megawatt abgeschaltet werden. ({13}) Das bedeutet, endlich dafür zu sorgen, dass die Revisionsklauseln dieses Kompromisses auch genutzt werden können, weil klar ist: Mit der Umsetzung dieses Berichts muss unser Land auf den Pariser Klimaschutzpfad zurückgeführt werden, und wir können nicht weiter dabei zusehen, wie wir tiefer in diese Krise hineinrutschen. ({14}) Ich sage Ihnen auch: Das sind Sie nicht nur dem Klima schuldig. Sie sind das den Menschen in der Region schuldig; sie brauchen endlich Planungssicherheit, gerade in Ostdeutschland, damit sie wissen, wie diese Transformation gestaltet werden kann und soll. ({15}) Nutzen Sie die nächsten 45 Minuten dieser Debatte. Wir haben einen schlanken Antrag vorgelegt. Stimmen Sie den Ergebnissen der Kohlekommission zu. Das erwartet dieses Land von Ihnen, und das erwarten zu Recht viele, viele junge Menschen in diesem Land; denn sie wollen nicht, dass ihre Zukunft von Ihnen verbrannt wird. Herzlichen Dank. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist noch keine drei Wochen her, dass die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ ihren Bericht an die Bundesregierung übergeben hat. Bei den Grünen hat man manchmal den Eindruck, dass sie die Zeit noch nicht genutzt haben, um die 320 Seiten durchzulesen. Sie haben vielleicht einmal durchgeblättert; aber in Wirklichkeit haben sich bestimmt viele hier im Haus die Lektüre noch nicht vorgenommen und ereifern sich heute schon, dass noch keine weiteren Maßnahmen auf dem Tisch liegen. Dieser Bericht enthält Vorschläge für sehr weitgehende Maßnahmen für die weitere energiepolitische und wirtschaftspolitische Entwicklung in Deutschland. Deswegen müssen die Empfehlungen – das möchte ich hier noch mal klipp und klar sagen: es handelt sich um Empfehlungen der Kommission – sorgsam abgewogen werden. Es wird auch nicht besser, wenn wir hier jede Woche das Gleiche diskutieren. Wenn man sich die Anträge anschaut, die heute die Grundlage für die Debatte sind, dann muss man sagen: Die Anträge werden auch nicht besser. – Zu dem schlanken Antrag von den Grünen, den Sie gerade als solchen beschrieben haben, kann man sagen: Na ja, mehr ist Ihnen dazu nicht eingefallen. – Das ist, glaube ich, auch das Problem. ({0}) Es ist doch ganz klar: Die Schrittfolge ist eindeutig festgelegt. Der Bericht wurde an die Bundesregierung übergeben. Die Bundesregierung hat jetzt die Aufgabe, diesen Bericht auszuwerten, die vorgeschlagenen Maßnahmen zu bewerten, um dann aktiv zu werden. ({1}) Es ist auch eindeutig so, dass wir abgesprochen haben, dass die Bundesregierung noch im Frühjahr die ersten Eckpunkte für ein sogenanntes Maßnahmengesetz vorlegen wird; das ist dann die Grundlage für die Diskussion hier im Deutschen Bundestag. Regierungshandeln soll abgewogen und durchdacht sein: Dazu braucht man halt ein paar Tage Zeit. ({2}) Sie haben sich Ihre Meinung vorher gebildet. Ich erwarte nicht vom Minister, dass er seine Meinung vorgefertigt hat. ({3}) Vielmehr erwarte ich von ihm, dass er sich der Sache sehr intensiv widmet. Wenn man sich die Anträge anschaut, kann man sehen: Die AfD macht sich auf den Weg zur Angstmacherpartei. ({4}) Sie sagt: Menschen werden betrogen, sie haben keine Zukunft, am besten soll alles so bleiben, wie es ist. – Das ist die große Lüge, die Sie verbreiten. Es kann eben nicht alles so bleiben, wie es ist. Und Sie wissen doch ganz genau, dass sich die Verhältnisse in den Revieren auch ohne diese Kommission geändert hätten. Vattenfall und LEAG sind viel schlauer als Sie: Sie haben nämlich schon viel eher damit begonnen, ein Revierkonzept zu entwickeln und sich Gedanken darüber zu machen: Was kommt denn nach der Braunkohle? ({5}) Wir alle wissen, dass sich die Kohle letztendlich selbst abschafft. Deswegen: Ihre Angstmacherei wird Ihnen nicht mehr Wähler bringen. Ich muss sagen: Den strukturpolitischen Teil halte ich für sehr gelungen. Sie sagen: Der Staat kann Strukturentwicklung nicht planwirtschaftlich betreiben. Natürlich kann er das nicht. Er kann auch kein Unternehmen zwingen, sich in einer Region niederzulassen. Aber er kann Infrastruktur schaffen, er kann wissenschaftliche Einrichtungen aufbauen und stärken. Er kann die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich Industrie ansiedelt. Genau das ist der strukturpolitische Teil. Ich sage es nicht so ganz gerne, aber man muss den Blick ja bloß nach Bayern wenden. ({6}) Dort hat die CSU über viele Jahre eine sehr erfolgreiche Strukturpolitik betrieben, indem sie wissenschaftliche Einrichtungen, Verwaltungsstellen und andere staatliche Institutionen eben direkt in den Regionen, die früher mal arm waren, angesiedelt hat. Daran können Sie doch sehen, dass diese Strukturpolitik erfolgreich ist. Selbst in Ostdeutschland können Sie an vielen Beispielen sehen, dass die staatliche Strukturpolitik auf einen erfolgreichen Weg führt, meine Damen und Herren. ({7}) Die grünen – ich habe gesagt – Fanatiker können keine vernünftige Politik machen. Das sieht man an den Reden, die hier immer gehalten werden. Ich saß gestern mit der Kollegin Verlinden auf einem Podium. Das war grässlich. ({8}) Fanatiker können keine reale Politik machen, meine Damen und Herren, und das ist ihr Problem. ({9}) Über die Linken muss man auch nicht viel sagen. Der Antrag beschreibt genau das, was jetzt läuft. Und wenn Sie nun noch die demonstrierenden Schulkinder für sich instrumentalisieren, muss ich sagen: Mein Gott! Haben Sie nichts anders mehr, dass sogar noch die Kinder herhalten müssen? Ich würde vorschlagen: Wir warten jetzt mal darauf, was die Bundesregierung hier auf den Tisch legt. Ich hoffe, dass die Diskussionen hier dann etwas fundierter ablaufen als heute zu Beginn der Debatte. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Tino Chrupalla für die AfD-Fraktion. ({0})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Linke und Grüne fordern einen noch schnelleren Kohleausstieg. Wir von der AfD halten das für unsinnig. Ich weiß ganz genau, viele von Ihnen, auch von der CDU, sehen diese Sache genauso wie wir: Dieser Kohleausstieg ist völlig überhastet. Er schadet der deutschen Wirtschaft – und überhaupt: Er hat nur ideologische Gründe. ({0}) Zugeben werden Sie das natürlich nicht. Stattdessen werden Sie uns wieder als Populisten, Klimaleugner oder Schlimmeres beschimpfen. ({1}) Es ist immer wieder dasselbe: Die Linken und die ideologische Verbotspartei Die Grünen spielen die Rolle eines schlechten Gewissens, das die Regierung dazu antreibt, ihre Pläne noch schneller und entschiedener umzusetzen. Unter Oppositionspartei verstehe ich allerdings etwas anderes. Die Front der Regierungsparteien inklusive der sogenannten Opposition gegen das einfache Volk, das die Zeche jedes Mal bezahlen muss, bröckelt. Sogar der Kanzlerin dämmert inzwischen, was der Kohleausstieg anrichten wird. Wie wir in der Presse am Dienstag lesen konnten, hat Frau Merkel intern Zweifel am Kohleausstieg geäußert. Herr Lämmel, ich denke, auch Sie haben das wahrgenommen. Die nötige Kraftanstrengung könne zu groß sein. – Hört! Hört! Mit anderen Worten: Wir schaffen das eben nicht. Frau Merkel hat somit im Prinzip unseren Antrag begründet. Es grenzt an ökonomischen Selbstmord, nach dem Ausstieg aus der Atomkraft von jetzt auf gleich auch noch aus der Kohle auszusteigen. ({2}) Sie irren sich, wenn Sie meinen, dass uns die Umwelt und das Klima egal seien. Im Gegenteil: Als gebürtiger Lausitzer weiß ich den Wert einer sauberen Umwelt sehr zu schätzen. Als Jugendlicher habe ich die Luftverschmutzung in der DDR noch miterleben müssen, die in der Lausitz katastrophal war. Das können sich die meisten von Ihnen gar nicht mehr vorstellen. Diese schlimmen Zeiten sind zum Glück vorbei. Die AfD wird die letzte Partei sein, die sich gegen eine schöne, saubere und lebenswerte Heimat wehrt. ({3}) Aber diese Art von Pseudoökologie, die zulasten der deutschen Wirtschaft geht, machen wir nicht mit. ({4}) Auf wirklich nachhaltige, ganzheitliche und zu Ende gedachte Lösungen von Ihnen können wir nicht hoffen. Das zeigt schon die Zusammensetzung der sogenannten Kohlekommission. Da sitzen keine Experten; da sitzt auch kein Querschnitt der Gesellschaft, wie oft behauptet wird. Da sitzen fast ausschließlich Leute, die schon vorher wussten, auf welches Ergebnis sie kommen müssen. Ein kleiner Tipp am Rande für Sie, Herr Altmaier – er ist jetzt nicht da –: Gehen Sie beim nächsten Mal am besten gleich zu McKinsey, und beauftragen Sie diese Unternehmensberatung, statt eine solche Kommission einzusetzen! Das wäre ehrlicher. Frau von der Leyen hat die Kontakte. Das würde uns sehr viel Zeit und Geld sparen. ({5}) Was wird nun das Ergebnis sein? Die großen Stromerzeuger werden natürlich entschädigt; davon kann man schon jetzt ausgehen. Die Rechnung bekommt der kleine Mann serviert – wie immer. Erstens werden Arbeitsplätze verloren gehen. Laut einer für das Bundeswirtschaftsministerium erstellten Studie von 2016 hängen in der Lausitz über 13 000 Arbeitsplätze direkt oder indirekt von der Braunkohleverstromung ab. Deutschlandweit sind es über 55 000 Arbeitsplätze. Darum, Frau Baerbock, geht es – um die Arbeitsplätze als Allererstes. Sie wissen sicher ebenso wie ich, dass die Arbeitslosenquote in der Lausitz ohnehin höher ist als in Gesamtdeutschland. Mit dem Kohleausstieg verschlimmern Sie die Lage in der Lausitz und in den anderen Revieren zusätzlich. Dazu kommt, zweitens, der Anstieg der Stromkosten. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke von der SPD rechnet mit Preisen von bis zu 50 Cent pro Kilowattstunde und mehr. Ich bin wirklich gespannt, wie Sie das Ihren restlichen Wählern in Ostdeutschland im Wahlkampf dieses Jahr erklären wollen. ({6}) Glauben Sie nur ja nicht, die Bürger trauten Ihnen tatsächlich zu, den großzügig angekündigten Strukturwandel in der betroffenen Region erfolgreich zu meistern. In Ostdeutschland glauben nicht ohne Grund nur noch 43 Prozent der Bevölkerung an den Erfolg der Energiewende. Der Kohleausstieg wird ein Fiasko werden für Deutschland und seine Wirtschaft – genau wie alles andere, was Sie anpacken. ({7}) Frau Merkel scheint das endlich erkannt zu haben. Ziehen Sie daraus die Konsequenzen, und stimmen Sie mit uns für den Ausstieg aus dem Kohleausstieg! Ich danke Ihnen. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Johann Saathoff das Wort. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Lektüre der Anträge von ganz links bis fast ganz rechts kann man feststellen, dass es Zustimmung zum Ergebnis der Strukturwandelkommission gibt, und das ist doch erst mal etwas Positives. Man kann nicht wegdiskutieren, Frau Kollegin Baerbock, dass das auch ein Stück weit der Erfolg der SPD ist; denn wir haben diese Kommission in den Koalitionsverhandlungen vorgeschlagen. Das Ergebnis tragen wir, jedenfalls auf der demokratischen Seite, gemeinsam. Darauf können wir stolz sein. ({0}) Ich will an dieser Stelle auch sagen, dass es sich um ein ausgewogenes Ergebnis handelt ({1}) und dass ihm ein breiter gesellschaftlicher Konsens zugrunde liegt. Darüber kann man noch so sehr lachen; am Ende ist es dieser breite gesellschaftliche Konsens, der dafür sorgen wird, dass diese schwierige Frage politisch auch umgesetzt werden kann. ({2}) Umsetzen müssen wir das. In Ostfriesland würde man sagen: Well an Wunner lööft, is een, de in de Steerns kiekt un in’t Schloot löppt. ({3}) Mit anderen Worten: Wir haben richtig Arbeit vor uns. Mit dieser Arbeit wollen wir uns beschäftigen. Mit dieser Arbeit haben Sie sich auch in Ihren Anträgen beschäftigt. Die FDP findet: Der Ausstieg aus der Kohleverstromung ist eine „Chance, Deutschland zum Weltmarktführer bei der Energie- und Umwelttechnologie zu machen“. ({4}) Ich finde, damit haben Sie recht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Gleichzeitig finden Sie aber auch, dass eine Gefährdung für „die Konsolidierung der deutschen Staatsfinanzen“ vorliegt. Damit, finde ich, haben Sie nicht recht, und Sie müssten sich dann schon entscheiden, ob Sie das nun als Chance oder Risiko sehen wollen. ({5}) Auf jeden Fall setzen Sie auf CCS-Technik. Für die Menschen, die sich nicht jeden Tag damit beschäftigen, sage ich: Das heißt, CO 2 wird aus Abgasen herausgefiltert und dann in den Boden verpresst – in der Hoffnung, dass das dann auch im Boden bleibt. Keiner weiß, wie teuer das tatsächlich ist. Vor allen Dingen weiß keiner, welche Umweltauswirkungen das hat. Da gilt das Prinzip Hoffnung, meine Damen und Herren. Die AfD befürchtet hohe Strompreise. Das haben wir gerade gehört. ({6}) Ich habe als Kind immer gehört: Angst machen gilt nicht. – Das ist wieder mal Angstpolitik. Es gibt unabhängige Untersuchungen dazu. Die Preise könnten tatsächlich ansteigen – Sie haben recht – um 0,2 bis 0,4 Cent pro Kilowattstunde. Das entspricht ungefähr 1 Prozent des normalen Strompreises. Das können Sie locker über einen Anbieterwechsel kompensieren. Das können Sie locker mit dem, was die Kommission vorgeschlagen hat, kompensieren. Sie hat vorgeschlagen, dass die Netzentgelte gesenkt oder die Stromsteuer angepasst werden soll. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Saathoff – ich habe die Uhr angehalten –, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Hilse?

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. ({0}) Ich finde besonders interessant: Sie wollen CO 2 -Zertifikate kaufen und löschen, ohne dabei zu sagen, wer das eigentlich bezahlen soll. Am Ende werden es auch wieder die Stromkunden sein, die das bezahlen müssen – mal abgesehen davon, dass das, was Sie vorschlagen, europarechtlich extrem fraglich ist. Sie sagen: Braunkohleverstromung hätte es eh nur bis 2045 und danach nicht mehr gegeben. Dabei lassen Sie völlig außer Acht, dass sich diese Kommission nicht nur damit beschäftigt hat, wann das Ende der Braunkohleverstromung eintritt. Sie hat sich vielmehr vor allen Dingen damit beschäftigt, was mit den Menschen in diesen Regionen passiert und wie der Strukturwandel abgefedert werden kann. ({1}) Das scheint Ihnen völlig egal zu sein. Sie klagen, dass nach Ende der Braunkohleförderung – das ist jetzt wirklich spannend – die Erhöhung der Abhängigkeit von Energieimporten eintritt. Der größte Primärenergieträger in Deutschland ist Öl – um das einmal klar zu sagen –, und das produzieren wir nicht in Deutschland. Wenn Sie in dieser Frage wirklich auch noch eine nationale Unabhängigkeit anstreben, dann müssen Sie sich massiv für erneuerbare Energien einsetzen. ({2}) Der Konsens wird darüber hinaus als Planwirtschaft bezeichnet. Das ist keine Planwirtschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist ein breiter Konsens aller gesellschaftlichen Gruppen, und der ist nicht kleinzureden, sondern er ist mitzutragen und umzusetzen. Das gebietet auch die Achtung vor den Mitgliedern der Kommission. Hier geht es, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch um Anstand und um Respekt. ({3}) Es geht auch um Planungssicherheit für die Regionen selber. Denn die haben überhaupt nichts davon, wenn man diesen Konsens wieder zerredet. Sie haben vielmehr einen Anspruch darauf, dass wir ihn auch umsetzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben viel Arbeit vor uns – keine Frage. Aber man sieht an den Anträgen auch, dass es eine breite Bereitschaft zur Mitarbeit gibt, von ganz links bis kurz vor ganz rechts. Wir müssen alle möglichen Gesetze im Energiebereich anpassen – das EEG, das den Ausbaupfad beschreiben soll, inklusive der Entwicklung der Akzeptanz, die Netzentwicklungspläne, das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, die Bundesbedarfsplangesetze –, und wir müssen eine ganze Abgaben- und Umlagenreform durchführen, damit die Bezahlbarkeit nach wie vor im Griff gehalten wird. ({4}) Die Arbeit, die wir zu tun haben, ist unerlässlich. Gut ist, dass wir auch vorhaben, alle drei Jahre eine Zwischenüberprüfung unserer Ziele vorzunehmen, damit wir nicht am Ende des Prozesses merken, dass wir vielleicht in Schwierigkeiten sind. Am Ende lassen Sie mich sagen: Sie reden immer alle miteinander – vor allen Dingen auf der äußerst rechten Seite – davon, dass es teuer wäre, die Energiewende einzuleiten. Keine Energiewende, liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre die allerteuerste Lösung. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Karsten Hilse das Wort.

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie die Kurzintervention zulassen. – Schade, Herr Saathoff, dass Sie sich meiner Zwischenfrage eigentlich nicht stellen wollten. Aber jetzt darf ich ja sprechen. Ich war gestern eingeladen beim Beirat für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit der Gesellschaft zum Studium strukturpolitischer Fragen e. V. Da ging es um CO 2 -Bepreisung. Ich hatte mich dann auch einmal zu Wort gemeldet und gefragt: Meine Damen und Herren, Sie sind alle aus der Wirtschaft. Vertritt denn von Ihnen irgendjemand die Ansicht, dass wir Großindustriespeicher in Deutschland bräuchten, um Deutschland quasi bei einer Dunkelflaute versorgen zu können? – Auf diese Frage kam betretenes Schweigen. Ich erinnere daran, dass es im Jahre 2016 eine Dunkelflaute von 14 Tagen gab. Es wurde errechnet, dass wir von der Kapazität her damals einen Stromspeicher gebraucht hätten, für dessen Bau die 452-fache Jahresproduktion an Lithium benötigt wird. Es geht aber noch weiter. Am Nachmittag des 24. Januar dieses Jahres brach in Australien das Stromnetz fast zusammen ({0}) – drei Minuten habe ich; bitte! –, weil die Windkraft quasi komplett ausgefallen war. In Südaustralien wurde die größte Tesla-Batterie, die es im Moment gibt, für 150 Millionen Dollar gebaut. Der Strompreis ging kurzzeitig auf 14 500 Dollar pro Megawattstunde nach oben. Diese große Batterie lieferte dann circa 100 Megawattstunden. 2 000 Megawattstunden kamen aus Dieselaggre­gaten, die circa 80 000 Liter Diesel pro Stunde verbrauchen. Die Australier hätten also 20 dieser 150 Millionen Dollar teuren Batterie gebraucht. Das Ganze wäre dann circa 30 Milliarden Euro wert. Die Australier brauchen ungefähr die Hälfte der Nennleistung, die wir brauchen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Hilse.

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wir brauchen 80 Gigawatt. Jetzt können Sie sich selber ausrechnen, wie groß die Speicher sein müssten und wie teuer sie wären, wenn wir Ihren Plan durchziehen würden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Erwiderung, Herr Saathoff.

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hilse, ehrlich gesagt, fällt es mir ein bisschen schwer, die Frage zu identifizieren. ({0}) Aber es reicht ja, um auf Ihren Vortrag einzugehen. Ich bin froh, dass ich Ihre Zwischenfrage nicht zugelassen habe; denn sie wäre wirklich überhaupt nicht passend zu meiner Rede gewesen. Aber niemand ist gefeit davor, auch ein bisschen klüger zu werden. Sie sprechen ja die Dunkelflaute an. Ich würde Ihnen und Ihrer Fraktion empfehlen, die ganze Energiewende auch einmal in einem europäischen Kontext zu betrachten. Wenn Sie natürlich immer nur Ihre nationale Brille aufhaben und nur nationale Kapazitäten sehen, aber nicht sehen, dass wir in einem vereinten Europa miteinander wirtschaften und uns entwickeln, ({1}) dann ist das Ihr Problem. Aber ich gebe Ihnen da gerne ein bisschen Nachhilfe. ({2}) Übrigens wird es nicht so sein, wie Sie es sich vorstellen, dass wir künftig, in den nächsten Jahrzehnten, riesige Speicher haben werden, sondern wir werden ganz, ganz viele kleine Speicher haben – überall. Auch da wird es dezentrale Lösungen geben, die Sie sich im Moment leider noch nicht vorstellen können. Wenn Sie auf Australien rekurrieren, dann möchte ich an dieser Stelle einmal ganz deutlich sagen: Australien hat eben kein engagiertes, ehrgeiziges Erneuerbare-Energien-Programm, sondern setzt, im Gegenteil, sehr zu meinem Bedauern auf fossile Energie, zum Beispiel auf Kohleenergie. Wenn Sie Probleme in dem dortigen System beschreiben, dann beschreiben Sie die Probleme eines Landes, das auf fossile Energie im nationalen Kontext setzt. Das ist genau der falsche Weg. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat Dr. Martin Neumann für die FDP-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Kohleausstieg mit Verantwortung und Weitsicht – Sicher, bezahlbar und europäisch“, das ist der Titel unseres Antrages. Herr Saathoff, Sie haben völlig recht, wenn Sie unseren Antrag als einen gelungenen und guten Antrag bezeichnen. Über das Geld werden wir an bestimmten Stellen noch reden müssen. Wir haben ja immer wieder gesagt, dass der Kohleausstieg beschlossen ist und dass wir jetzt natürlich keine weitere Subventionsspirale anstoßen dürfen. Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ hat umfangreiche Seiten vorgelegt. Viele, viele Projekte sind da aufgezählt. Allein für die Lausitz, meine Heimat, sind es 43 Seiten. Die Regierung ist jetzt aufgefordert, tatsächlich auszuwählen, zu priorisieren und natürlich das Zeitliche und das Monetäre in den Vordergrund zu rücken. Herr Minister Altmaier, für die Regierung ist es jetzt tatsächlich an der Zeit, Farbe zu bekennen. Das Management des Kohleausstiegs – das will ich hervorheben, weil wir das ja auch bei anderen Projekten immer wieder sehen – darf kein Stückwerk bleiben. ({0}) Die Debatte um den Kohleausstieg, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, ist zu Unrecht nur auf das Thema Klima herabgesetzt worden. Da kommt ja ganz wenig. Es geht tatsächlich darum, Strukturentwicklung und Beschäftigung an dieser Stelle voranzustellen. Zentral, meine Damen und Herren, ist die Versorgung mit Strom und Wärme. Ohne dies in den Vordergrund zu rücken, sind CO 2 -Bilanzen Makulatur. Die herausgehobene Bedeutung des Themas Versorgungssicherheit hat auch die Monopolkommission gestern im Ausschuss betont. Wir haben Fragen gestellt, und die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme angekündigt, Indikatoren und Schwellenwerte zu nennen, um das Ganze einfach mal greifbar zu machen, damit wir wissen: Wie können wir Versorgungssicherheit messen? Ich habe auch einmal eine Anfrage gestellt. Die Antwort war etwas dünn. Wir begrüßen ausdrücklich, dass sich die Regierungsfraktionen dieser Dinge jetzt annehmen. Ein ganz wichtiger weiterer Punkt ist, dass die Bundesregierung nicht den gleichen Fehler wieder macht, den sie ja schon gemacht hat, nämlich auch bei Nord Stream 2 einen europäischen Ansatz viel, viel stärker in den Vordergrund zu rücken. ({1}) Das ist das, was wir beim Netzausbau tatsächlich in den Vordergrund rücken müssen. Wir brauchen dort tatsächlich Antworten, weil die ganze Nummer ansonsten nicht zum Ziel führt. Deutschland ist bei den Strompreisen Spitzenreiter in Europa und spielt auch im Hinblick auf die Kosten der Wärme in der Champions League. Was da teilweise nach einem Erfolg aussieht oder nach Erfolg klingen könnte, ist die Folge eines Managementversagens bei der Energiewende. Das könnte jetzt beim Kohleausstieg eine Wiederholung finden. Nur ein Drittel – das muss man sich mal vorstellen – des Strompreises wird durch marktwirtschaftliche Mechanismen gebildet. Der Rest sind staatlich festgesetzte Steuern und Abgaben. Was wir 1990 als gesellschaftliches System abgeschafft haben – die Planwirtschaft –, lebt im Energiesystem einfach weiter. Das ist nicht gut. ({2}) Der Staat darf nicht länger Preistreiber bleiben. Nach der gestrigen Präsentation des BMWi im Ausschuss für Wirtschaft und Energie habe ich größte Zweifel – das sage ich ganz deutlich –, dass das Bundeswirtschaftsministerium und dessen Führungsebene das Management des Kohleausstiegs in den Griff bekommt. Nicht dessen Vertreter waren es, die uns Abgeordneten Auskunft über den weiteren Prozess geben konnten; es war das Finanzministerium, das das Sofortprogramm und den Kostenrahmen dargestellt hat. Was bei der Energiewende an Missmanagement stattgefunden hat, droht sich nun beim Kohleausstieg zu wiederholen. Dies gilt es zu verhindern. Meine Damen und Herren, gestalten wir den Kohleausstieg daher verantwortungsvoll, sicher, bezahlbar und europäisch! Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Genau so ist es: eine Punktlandung, was die Redezeit betrifft. Das Wort hat der Abgeordnete Lorenz Gösta Beutin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Der Kompromiss, über den wir heute reden, ist nicht Konsens. Das machen Zehntausende Schülerinnen und Schüler hier in Deutschland, die Freitag für Freitag auf die Straße gehen, immer wieder deutlich. ({0}) Das, was wir hier gehört haben, war zu erwarten: Aus der rechtsradikalen Ecke wurde über einen ökonomischen Selbstmord fabuliert. Sie haben sich dann gleich selbst als Klimaleugner geoutet. Das ist dann auch vollkommen okay. Von der FDP kam wieder der Vorwurf, es sei Planwirtschaft, was die Kommission jetzt vorschlage. Aber ich sage Ihnen: Ihre Antwort der radikalen, der kalten Marktwirtschaft ist die falsche Antwort; ({1}) denn die Beschäftigten in den betroffenen Regionen brauchen Planungssicherheit, brauchen tatsächlich diese Planungen. ({2}) Herr Lämmel von der CDU hat gesagt, was Herr Lämmel von der CDU sagt. ({3}) Dies ist meine 18. Rede, die ich in diesem Hause halte, und vieles sage ich hier auch schon beinahe zum 18. Mal. Deswegen werde ich an dieser Stelle nicht sagen, dass das Ausstiegsdatum 2038 viel zu spät ist, dass die Menschen von „Fridays for Future“ recht haben, wenn sie sagen, wir müssten 2030 raus aus der Kohle. ({4}) Deswegen werde ich an dieser Stelle auch nicht sagen, dass wir jetzt einen Strukturwandel brauchen, dass wir uns jetzt um die Beschäftigten, um die Kohlekumpel zu kümmern haben. Ich war drei Tage lang in der Lausitz, habe mir die Situation dort angeschaut, ({5}) habe mit den Menschen geredet. Bei ihnen gibt es Angst, Angst, dass sie noch einmal verraten werden. Genau deswegen müssen wir Vertrauen aufbauen, müssen wir die Themen Strukturwandel und Beschäftigung in den Regionen auch ernst nehmen. ({6}) Last, but not least werde ich natürlich auch nicht sagen, dass die Abschaltungen, die bis 2022 vorgenommen werden, zu spät kommen und viel zu wenige sind. Wir brauchen die Stilllegung der 20 dreckigsten Braunkohlekraftwerke bis 2020. Es ist eine Frechheit, dass diese Kommission vorschlägt, den großen Kohlekonzernen den Ausstieg auch noch zu vergolden und ihnen entgangene Gewinne noch zu erstatten, während es auf der anderen Seite einkommensschwache Familien in Deutschland gibt, auch in meiner Nachbarschaft in Hamburg, die von Stromsperren bedroht sind. Das ist eine falsche Entscheidung. ({7}) Stattdessen möchte ich gerne zu den Zehntausend Schülerinnen und Schülern reden, die Freitag für Freitag auf die Straße gehen: Ihr macht mir Mut, und ihr macht meinen Kolleginnen und Kollegen hier im Deutschen Bundestag Mut, die unentwegt für Klimaschutz aufstehen, die unentwegt für vernünftige Lösungen eintreten ({8}) und die beobachten müssen, dass hier auf der rechten Seite viel zu wenig und viel zu spät gehandelt wird. Dafür möchte ich euch auch im Namen der Kolleginnen und Kollegen herzlich danken. ({9}) Wir haben eine Situation, die ich Ihnen einmal vor Augen führen möchte – das geht auch an die Schülerinnen und Schüler –: Greta, die 16‑jährige Schülerin, wird verleumdet, wird mit Lügenkampagnen überzogen. ({10}) Es findet eine erbarmungslose Hetze statt. Auch ein Herr Ziemiak aus der Unionsfraktion und Generalsekretär der CDU hat sich nicht entblödet, zu sagen, Greta vertrete nur Ideologie; sie sei ja eine arme Greta. Wissen Sie, wer arm ist? Die grauen Herren, die das Ewiggleiche erzählen. Das sind diejenigen, die ihre Zukunft hinter sich haben; sie sind die Menschen aus der Vergangenheit. ({11}) Oder: Luisa von „Fridays for Future“ aus Berlin bekommt Morddrohungen – eine Schülerin hier aus Berlin, die Morddrohungen bekommt! Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie erbärmlich ist das denn? ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Beutin, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung von Herrn Neumann?

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, jetzt nicht. Deswegen sage ich ganz klar: Es ist ein fantastisches Signal, wenn mutige Schülerinnen und Schüler weltweit – bis jetzt in über 40 Staaten – am 15. März 2019 gemeinsam auf die Straße gehen werden, gemeinsam deutlich machen werden: Es ist an der gesamten Menschheit, jetzt zu handeln! Es ist auch an den Opas und an den Omas und an den Eltern, jetzt zu handeln, gemeinsam zu handeln! Greta hat recht: ({0}) Was jetzt nicht zählt, ist der Profit, sondern die Menschlichkeit und die Solidarität. ({1}) Sie hat in Davos gesagt: Unsere Zivilisation wird geopfert für die Möglichkeit einer sehr kleinen Anzahl von Menschen, weiterhin enorme Mengen an Geld zu machen. Sie war so mutig, den grauen Herren in Davos entgegenzutreten. Genau das müssen wir auch wagen; denn es geht um die Zukunft der gesamten Menschheit, um eine andere Form des Zusammenlebens, um eine andere Form des Wirtschaftens und Konsumierens. Es ist jetzt an der Zeit, zu handeln! Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Neumann, Sie hatten das Wort. Kurzinterventionen sind hier anzumelden. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Oliver Wittke. ({0})

Oliver Wittke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004445

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Eine Vorbemerkung und danach einige Punkte. Zuerst die Vorbemerkung. Da dies heute die erste Debatte in diesem Hohen Haus nach der Übergabe des Abschlussberichtes der Kommission ist, möchte ich wiederholen, was ich schon in der Aktuellen Stunde vor 14 Tagen hier an dieser Stelle gesagt habe: Ich finde, es ist eine grandiose Leistung, dass es gelungen ist, über die gesellschaftlichen Gruppen hinweg – von Umweltverbänden über Gewerkschaften bis zu Arbeitgeberorganisationen, über die Wissenschaft bis hin zu den Betroffenen vor Ort – einen weitestgehenden Konsens herbeizuführen. Ehrlich gesagt, hätte ich das nicht für möglich gehalten. Ich will deshalb auch im Namen der Bundesregierung den 28 Kommissionsmitgliedern noch einmal ganz herzlich dafür danken, dass sie das zustande gebracht haben. ({0}) Herr Saathoff, wir können jetzt über die Urheberschaft und die Idee lange streiten. Sie haben gesagt, die SPD habe das in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt. Ich könnte jetzt sagen, Peter Altmaier hat auf seinem Computer zu Hause den Einsetzungsbeschluss oder zumindest den Entwurf dafür selbst getippt. Ich finde, es war ein großes Gemeinschaftswerk dieser Koalition, das hinbekommen zu haben. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass wir den einen oder anderen in diesem Hause überrascht haben; denn Grüne, FDP und andere haben es nicht für möglich gehalten, was wir hinbekommen haben. Von daher ist es eine gute Basis für die Beratungen in den nächsten Wochen und Monaten in diesem Hohen Haus. – So viel als Vorbemerkung. ({1}) Ich will nun Punkte ansprechen, die mir ganz besonders wichtig sind. Im Antrag der Grünen ist von „unverzüglich“ und „schnell“ die Rede, also von Eile. Ja, wir müssen die Pläne jetzt zügig umsetzen – das stimmt –, ja, wir müssen die Beschlüsse zügig angehen. Aber die Reihenfolge ist auch klar – das haben wir immer gesagt; das hat auch der Bundeswirtschaftsminister immer ausgeführt –: Wir reden zuerst über Strukturwandel und über die Menschen. Wir reden zuerst über die Arbeitsplätze und über das, was neu entstehen soll, und dann werden wir zeitnah auch über den Ausstieg aus der Braunkohle reden und werden auch die Steinkohle mit einbeziehen. Das muss die Reihenfolge sein. Die Menschen müssen Verlässlichkeit bei dieser Bundesregierung spüren, damit sie wissen, wir lassen sie nicht alleine. Wenn ich das ehrlich sagen darf, Frau Baerbock: Sie haben hier gerade viel über Ausstiegsdaten gesprochen und haben gesagt: Das muss alles noch viel schneller gehen. – Es wäre schön gewesen, wenn Sie mehr über die Menschen gesprochen hätten, die wir bei diesem Prozess nämlich mitnehmen müssen. ({2}) Wo ich gerade beim Zeitplan bin, will ich hierzu einige Eckpunkte nennen. Das Sofortprogramm werden wir im nächsten Monat in Kraft setzen. 150 Millionen Euro stehen für strukturverbessernde Maßnahmen in den Kohlerevieren zur Verfügung. Wir haben ein Bündel an Vorschlägen von den Ministerpräsidenten der Kohleländer bekommen. Diese müssen schnell und sichtbar umgesetzt werden, damit die Menschen sehen, dass wir ernst machen und sagen: Erst kommen neue Arbeitsplätze, und dann kommt der Ausstieg. Wir lassen euch dabei nicht alleine.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Krischer?

Oliver Wittke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004445

Ja, gerne. Von Herrn Krischer immer. ({0}) – Wir haben den gleichen Vornamen und kommen aus dem gleichen Bundesland. – Also bitte.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank, Herr Wittke, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Bei aller Wertschätzung, mich wundert schon ein bisschen, dass der Minister anwesend ist, aber nicht zu diesem Thema redet. Denn Sie haben gerade ausgeführt, dass er den Kommissionseinsetzungstext höchstselbst am Frühstückstisch auf seinem Laptop getippt hat; es gibt viele Dinge, die Herr Altmaier zu Hause getippt hat, die die Welt schon beschäftigt haben. Aber es ist natürlich Ihre Sache, dass hier nicht der Minister redet, sondern Sie. Sie haben vorhin von den Menschen gesprochen, die Klarheit brauchen. Da bin ich völlig bei Ihnen. Das muss passieren. Aber ist Ihnen bekannt – Sie kommen ja aus Nordrhein-Westfalen –, dass es auch Betroffene gibt, die keinen Tarifvertrag haben, die keine IG-BCE-Mitgliedschaft haben, die heute angesichts dieses Kommissionsergebnisses nicht wissen, ob sie noch in ihrem Haus bleiben können oder ob sie vertrieben werden? Wie gedenkt die Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass es da schnell Klarheit gibt? Es kann nicht so sein – so haben Sie das gerade dargestellt –, dass wir erst nur über die Strukturmaßnahmen reden – darüber muss man natürlich reden –, sondern wir müssen gleichzeitig auch über die Abschaltung von Kraftwerkskapazitäten und das Ende der Tagebauplanung sprechen. Denn erstens wartet die Klimakrise nicht, und zweitens brauchen auch die Betroffenen ohne Tarifvertrag Klarheit. Davon gibt es Tausende im rheinischen Revier und in Ostdeutschland. Sie müssen von Ihnen endlich ein klares Signal bekommen. Dieses Signal hat es von der Bundesregierung bisher nicht gegeben. ({0})

Oliver Wittke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004445

Herr Kollege Krischer, natürlich hat es dieses Signal gegeben, und nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch von den entsprechenden Landesregierungen. Sie wissen, dass die Braunkohleplanung keine Bundesangelegenheit ist, sondern dass die Braunkohlepläne in den einzelnen Bundesländern erarbeitet werden müssen. Sie wissen auch, dass diese Prozesse Zeit in Anspruch nehmen werden. Wenn ich mir dann noch vorstelle, dass gegen diese Verfahren von wem auch immer geklagt werden könnte – Sie haben ja große Erfahrungen damit, gegen Infrastrukturprojekte zu klagen –, wage ich nicht, schon heute das genaue Datum zu nennen, wann wer welches Haus verlässt. Wir werden auch Zeit benötigen, um beispielsweise den Braunkohleplan, den der nordrhein-westfälische Landtag mit den Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen erst vor drei oder vier Jahren geändert hat, einer erneuten Änderung zu unterwerfen. Diese Zeit brauchen wir. Darum streuen Sie den Menschen Sand in die Augen, wenn Sie ihnen sagen, dass das jetzt ganz schnell geht und man ihnen nächste Woche sagen kann, was passiert. Wer glaubt, den Menschen gerichtsfest und sicher sagen zu können, wann was passiert, der betreibt Schindluder mit dem Vertrauen, das die Menschen in uns setzen. Sie wecken da Erwartungen, die Sie am Ende nicht erfüllen können. Das wissen Sie ganz genau. Das können Sie auch nur tun, weil Sie nicht in der Verantwortung stehen. Als Sie in Nordrhein-Westfalen noch selbst Braunkohlepläne gemacht haben, haben Sie sich anders verhalten, als Sie es hier im Deutschen Bundestag tun. ({0}) Ich will noch einige Bemerkungen zum Maßnahmengesetz machen. Wir werden Ende April die Eckpunkte für das Maßnahmengesetz vorlegen. Der Referentenentwurf soll dann im Mai vorliegen, sodass wir beispielsweise ein Sofortprogramm für unternehmerische Investitionen für das Jahr 2020 aufsetzen können. Diese Maßnahmen können dann schon 2020 und 2021 laufen. Ich weiß, dass auch das ein ganz wichtiges Signal ist. Wir haben im Übrigen schon eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, die in den Anträgen gefordert werden. Die FDP fordert beispielsweise, dass wissenschaftliche Institute in die Braunkohlerückzugsgebiete gehen. Ist Ihnen nicht zur Kenntnis gelangt, dass das DLR-Institut für CO 2 -arme Industrieprozesse in der Lausitz angesiedelt werden soll? ({1}) Dies wurde kürzlich beschlossen. Haben Sie nicht mitbekommen, dass das DLR-Institut für energieeffiziente Antriebe in der Luftfahrt nach Cottbus geht? Haben Sie nicht mitbekommen, dass das Fraunhofer-Institut für Energieinfrastruktur nach Jülich geht? Haben Sie nicht mitbekommen, dass die Förderbekanntmachung zu Reallaboren in der Energiewende auf den Weg gebracht worden ist? Das alles sind Maßnahmen, die wir schon auf den Weg gebracht haben. Das heißt, Schnelligkeit müssen Sie von uns nicht einfordern. Vieles von dem, was Sie in Ihren Anträgen fordern, ist bereits erfüllt worden. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch eine Bemerkung zu dem Antrag der Grünen machen. Er ist ja gerade von Frau Baerbock als schlank bezeichnet worden. ({3}) Man könnte ihn auch als dünn bezeichnen; das ist wahrscheinlich der bessere Ausdruck. Mich hat geärgert, dass Sie in Ihrem Antrag kein Wort zum Strukturwandel geschrieben haben, dass Sie kein Wort zu Arbeitsplätzen geschrieben haben und dass Sie kein Wort zur Zukunft der Reviere geschrieben haben. Stattdessen haben Sie Ihren Fokus allein darauf gerichtet, wie man noch schneller aus der Kohle aussteigen kann, wie man noch mehr CO 2 einsparen kann. Das heißt, für Sie ist das keine Strukturwandelkommission gewesen. Sie schreiben ja auch in Ihrem Antrag, es sei eine Kohlekommission gewesen. Das war sie aber nicht. Es war eine Strukturwandelkommission. Sie denken nicht an die Menschen. Wir denken an die Menschen. Das ist der Unterschied. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rainer Kraft für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Ja, Frau Baerbock, der Antrag ist dünn, das Wissen über Energiepolitik auch. Wer glaubt, dass man Strom in Netzen speichern kann, sollte zur Energiepolitik ohnehin nichts sagen. ({0}) Zu den Linken. Ja, Sie ergehen sich wieder in Ihren Enteignungsfantasien und sind stolz darauf, Kinder zu instrumentalisieren. Wir alle wissen, was das bedeutet. Nachhaltigkeitsziel Nummer 7 der Vereinten Nationen fordert die Sicherstellung des Zugangs zu bezahlbarer, verlässlicher und moderner Energie für alle. Die vorliegenden Anträge von Grünen, Linken und auch der FDP erfüllen aber kein einziges dieser Kriterien. Der Strom in Deutschland würde damit weder bezahlbarer noch verlässlicher noch moderner, ganz im Gegenteil. Die Anzahl der Netzeingriffe zur Stabilisierung des deutschen Stromnetzes steigt mit der Menge an ökologisch erzeugtem Schrottstrom. Die Frage eines Zusammenbruchs des Netzes stellt sich nicht als Ob, sondern als Wann. ({1}) Die Grünen wollen laut ihrem Antrag Planungssicherheit schaffen mittels einer Stromversorgung, die gar nicht planbar ist. Deutschland braucht zur Aufrechterhaltung seines Lebensstandards zwischen 55 und 85 Gigawatt an geregelter Energie. Die sogenannten Erneuerbaren lieferten in 2018 aber nur unzureichende 15 bis 75 Gigawatt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kraft, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Beutin?

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Aber selbstverständlich.

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich wollte nur fragen, ob Sie, wenn Sie so über die Schülerinnen und Schüler, die dort auf die Straße gehen, reden, ({0}) nicht mitbekommen haben, dass sie sich in der Schule mit dem Thema auseinandersetzen, dass sie sich in den Familien damit auseinandersetzen und dass sie teilweise auf einem Wissensstand sind, der Ihrem möglicherweise ein Stück weit überlegen ist? ({1})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nein, das glaube ich nicht. Danke. ({0}) Unzureichende 15 bis 75 Gigawatt – wann die Natur will, wo sie will und wie sie will. Wer die Verfügbarkeit von Energie vom Wetterbingo abhängig macht, der regiert an den Ansprüchen einer Industrienation vorbei. ({1}) Bereits jetzt kann die Netzstabilität nur noch durch den sogenannten Lastabwurf, also das Abschalten von Großverbrauchern, gewährleistet werden. Das wird vergütet, reicht aber nicht mehr aus, um die wirtschaftlichen Ausfälle der Abschalter zu kompensieren. Liefertermine und Projektmeilensteine warten eben nicht darauf, wann sich Wind und Wetter bequemen, Strom zu produzieren. So werden weiterhin Unmengen an Strom planwirtschaftlich produziert und von den Stromkunden vergütet, die gar nicht gebraucht werden, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort entstehen. Durch hundertprozentige Überkapazität werden Milliarden an Kilowattstunden ins Ausland verschenkt. Gleichzeitig ist unser Land auf ­Stromimporte von Nationen mit einem hohen Anteil an planbarer Kernkraft angewiesen. Die Importe aus Frankreich waren in 2018 fast sechsmal so hoch wie die Exporte. Im Falle von Schweden waren sie fast dreimal so hoch. In Summe ist die Energiewende auf drei Ebenen schädlich: Erstens gefährdet sie durch Verteuerung von Energie die Wirtschaft und damit den Wohlstand des Landes. ({2}) Zweitens vertieft sie die Kluft zwischen Arm und Reich in unserem Land, da durch die Umlage eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet. ({3}) Zahlen für den teuren Strom muss jeder, aber nur die mittlere und obere Schicht kann von den Umverteilungsgewinnen profitieren. In diesem Szenario der sozialen Spannung wollen alle Fraktionen in diesem Haus bis auf die AfD den Beschäftigten eines ganzen Industriezweiges die Lebensgrundlage zerstören. ({4}) Sie entpuppen sich damit als die Zerstörer des sozialen Zusammenhaltes in Deutschland. Drittens. Durch die Gefährdung der Netzstabilität bedroht die Energiewende den inneren Frieden im Land. Wie ein bereits älterer Bericht des Bundestages ausweist, hätte ein länger andauernder und flächendeckender Stromausfall in Deutschland katastrophale Konsequenzen mit vielen Opfern. Durch Ihre Politik der Förderung unzuverlässigen Zappelstroms befördern Sie die Wahrscheinlichkeit einer solchen Katastrophe. Wir stellen also fest: Die Energiewende ist unwirtschaftlich, unsozial und unsicher. Sie führt nicht zu bezahlbarer, verlässlicher und moderner Energie für alle. ({5}) Mithin ist sie auch nicht nachhaltig, sondern verletzt sowohl die Agenda 2030 der Vereinten Nationen als auch die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. ({6}) Aber kein Überstrapazieren staatlicher Zwangsumverteilung wird diese sozialistische Energiewende jemals zu einem Erfolg machen. Ihre Politik treibt unser Land tief in die Abhängigkeit von Gasimporten. Neben Gas aus Russland ({7}) müssen wir dann Gas aus Katar und Fracking-Gas aus Amerika verfeuern statt preiswerter Kohle aus der Lausitz. Abhängigkeit erhöht, Volksvermögen vernichtet! ({8}) Diese Energiepolitik vernichtet Arbeitsplätze, zerstört den gesellschaftlichen Zusammenhalt und gefährdet Menschenleben. Das „Wall Street Journal“ – hier sollten Sie aufpassen; denn alle Fraktionen bis auf die AfD unterstützen diese Politik – bezeichnet das als die „dümmste Energiepolitik der Welt“. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Claudia Moll für die SPD-Fraktion. ({0})

Claudia Moll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin da ganz offen: Als ich den Abschlussbericht der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ gelesen habe, bin ich nicht in Jubelstürme ausgebrochen. Zu tief sitzt da die Sorge über die Zukunft der Menschen in meinem Revier. Genauso geht es meinen Kolleginnen und Kollegen von den Gewerkschaften und den Beschäftigten in den Tagebauen, den Kraftwerken und – nicht zu vergessen – auch in der stromintensiven Industrie. Dennoch ist klar: Ich akzeptiere den Kompromissvorschlag. Der Kommission ist es gelungen, einen Kompromiss zwischen den unterschiedlichsten Interessen zu schließen. Diese Leistung hat Respekt verdient. ({0}) Ich spreche zu Hause mit den Beschäftigten, den Menschen, die vom Ende des Braunkohleabbaus betroffen sind. Ich spreche mit Mitarbeitern, mit Umsiedlern und mit den Bürgermeistern, deren Kommunen direkt und unmittelbar vom Strukturwandel betroffen sind. Ich treffe da niemanden, der glaubt, wir würden noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag Braunkohle fördern und verstromen. Diese Menschen haben alle einen sehr nüchternen Blick auf die Realität. Sie wissen Bescheid über die klimapolitische Notwendigkeit des Ausstiegs aus der Kohleverstromung. Sie verstehen sogar, wenn Leute friedlich – ich betone: friedlich – für den Erhalt von Landschaften und Dörfern demonstrieren. ({1}) Diese Menschen haben aber für eines kein Verständnis: für das Hü und Hott der Politik. 2016 so, 2018 wieder anders, Ausstieg 2045 oder nun doch schon 2025. Sie fragen sich dann zu Recht: Was ist mit meiner Arbeit? Kann ich mein Haus abbezahlen? Was passiert mit meinem Dorf? Muss ich nun umsiedeln oder nicht? Diese Menschen wollen eigentlich nur eines: Verlässlichkeit. ({2}) Diese Verlässlichkeit müssen wir schaffen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Verlässlichkeit schaffen wir nur, indem wir jetzt den Rahmen für einen Strukturwandel schaffen. Wir haben hier eine politische Verantwortung, und es darf nicht zu einem Strukturbruch kommen. Um genau diesen zu verhindern, brauchen wir Zeit. Strukturwandel geht nicht von heute auf morgen. Was sagen wir den Beschäftigten? Anpassungsgelder für Mitarbeiter kurz vor der Rente reichen da bei weitem nicht aus. Wir wollen und brauchen gute und nach Tarif bezahlte Arbeit in den Revieren. Wir wollen, dass junge Menschen bis zum Ende der Braunkohle ihre Ausbildung machen können in der Gewissheit, dass sie gut qualifiziert für Jobs in der Industrie sind. Es geht auch nicht nur um Kraftwerke und Tagebaue. Was ist mit der stromintensiven Industrie? Auch hier gefährden wir ohne Kompensation gute Arbeitsplätze. Verlässlichkeit schaffen wir, wenn wir die betroffenen Kommunen jetzt nicht im Stich lassen. ({3}) Die Fördergelder müssen effektiv und zielgerichtet eingesetzt werden. Wenn ich das sage, meine ich damit nicht Hochglanzbroschüren. Zuallererst brauchen wir Folgekonzepte für die Kraftwerksstandorte und Tagebaue. Damit erhalten wir Arbeitsplätze in der Industrie und in der Energiewirtschaft. Verlässlichkeit schaffen wir nicht, wenn wir die Diskussionen, die von der Kommission geführt wurden, immer und immer wieder aufs Neue aufwärmen. Damit muss endlich mal Schluss sein. ({4}) Ich möchte noch einmal ganz grundsätzlich werden, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der Großteil dieses Hauses ist sich doch einig. Demokratie und damit auch das Funktionieren unserer Gesellschaft lebt vom Kompromiss. Ich akzeptiere ihn. Jetzt geht es an die Arbeit – für Verlässlichkeit und Frieden in den Braunkohlerevieren. Die Bundesregierung ist jetzt gefordert, die Kompromisse in Gesetzestexte zu bringen und die Finanzierung sicherzustellen, damit ich als Parlamentarierin am Ende meine Bewertung vornehmen kann und zum Wohle der Region verantwortlich entscheiden kann. Glück auf! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Lukas Köhler für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Frau Baerbock und Herr Wittke hatten eines gemeinsam: Sie haben sehr intensiv über das Erreichen des Kompromisses gesprochen. Ich glaube, wenn man viele Leute mit unterschiedlicher Meinung an einen Tisch setzt und es um ein kontroverses Thema geht, dann gibt es zwei Möglichkeiten, wie am Ende ein Ergebnis herauskommen kann. Das eine ist: Man findet einen wunderbaren, durchdachten, klugen, in allen Facetten ausgereiften Kompromiss, bei dem wirklich jedes Thema abgefrühstückt wird und dem am Ende des Tages jeder zustimmen kann. Das andere ist: Man findet einen Dritten, der nicht am Tisch sitzt und den man belasten kann. So leid es mir tut: Beim Kohlekompromiss ist nicht der erste Fall eingetreten. ({0}) Meine Damen und Herren, wer von diesem Kompromiss am meisten betroffen ist und am meisten in die Mithaftung genommen wird, ist der Steuerzahler. Er saß nicht am Tisch. So leid es mir tut: Ihn haben Sie nicht aufgerufen. ({1}) Genau denjenigen, den Sie am Ende mit einer sinnlosen Maßnahme belasten wollen, nämlich dem symbolischen Ausstiegsdatum, treffen Sie am härtesten. Es stehen bis zu 170 Milliarden Euro im Raum; das muss man sich einmal vorstellen. Das ist nicht sinnvoll. Man muss doch auch an die Klugheit appellieren. Natürlich kann man das niemandem derjenigen, die am Tisch saßen, verübeln. Natürlich kann man weder dem BDI noch dem BDEW verübeln, dass sie schon lange Pläne in der Schublade haben, wie sie aus der Kohle aussteigen, die sie sich jetzt vergolden lassen. Natürlich sagen die Ministerpräsidenten völlig zu Recht, dass sie das Geld für den Strukturwandel gut gebrauchen können. Natürlich kann man den NGOs nicht vorwerfen, dass sie das große Ziel, das sie angestrebt haben, nämlich ein symbolisches Enddatum, jetzt erreicht haben. Es ist doch ein Trauerspiel, dass Sie sich hier nicht aufregen. ({2}) Der Kohleausstieg war im Rahmen des Emissionshandels eigentlich längst beschlossen. Wir hätten uns Gedanken darüber machen müssen, wie wir Versorgungssicherheit, Preis und Strukturwandel verbinden. Darüber hätte man sprechen müssen. Aber dieses symbolische Datum, das extrem teuer ist, bringt niemandem etwas. Sehr verehrte Frau Baerbock, Sie haben über den Klimabericht gesprochen, aber einen entscheidenden Teil weggelassen, nämlich die Frage, wo am meisten Emissionen reduziert wurden, und die Frage, wo kaum Emissionen reduziert wurden. Am meisten reduziert wurden die Emissionen von der Energiewirtschaft und der Industrie, den Sektoren, die vom Handel mit Emissionszertifikaten betroffen sind. Das haben Sie einfach mal weggelassen. Im Pariser Abkommen steht zum Glück nichts über eine einzige Technologie. Da steht nichts über Kohle. ({3}) Da steht etwas darüber, welche Ziele wir uns gesetzt haben; aber da steht nicht ein Wort zu einer Technologie. Das vergessen Sie gerne. Wir werden den Klimawandel nicht stoppen, wenn wir den Euro nicht da ausgeben, wo er am sinnvollsten ausgegeben ist. Das ist dann der Fall, wenn wir die Probleme technologieoffen lösen. Das muss passieren, wenn wir den Klimawandel stoppen wollen, meine Damen und Herren. ({4}) Liebe Fraktionen der Union und der SPD, es geht hier um das Selbstbewusstsein des Parlaments, nicht der Regierung. Es gibt einen Unterschied zwischen Parlament und Regierung. Wir müssen hier darüber diskutieren, mit welchen Lösungen wir die Vorschläge der Kommission umsetzen wollen. Da muss ich an Sie appellieren: Denken Sie darüber nach, wie wir das Geld sinnvoller ausgeben können als in Form eines solchen Kohlekompromisses, von dem niemand weiß, wie schnell er umgesetzt wird, von dem niemand weiß, was am Ende dabei herauskommt, von dem niemand weiß, was wir dadurch erreichen. Das können wir hier noch verhandeln. Ich bitte Sie, Ihre Vernunft zu gebrauchen und uns dabei zu helfen, sinnvolle Klimapolitik zu machen. Vielen herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Lenz für die CDU/CSU. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was ist das Gute an den vorliegenden Anträgen? Das Gute ist, dass wir die Vorschläge der Kommission da diskutieren, wo sie hingehören, nämlich im Parlament. Aber je öfter ich die Anträge, die hierzu gestellt worden sind, in ihrer Bandbreite lese, das ganze Wirrwarr, desto besser kommt mir das Ergebnis der Kommission vor. Ich möchte den Antrag der FDP aufgreifen, die für eine einheitliche CO 2 -Bepreisung plädiert und darin die Lösung aller Probleme sieht. Dazu muss man sagen: So einfach ist es eben nicht. Die Planbarkeit des Ausstieges würde massiv abnehmen. Ein noch abrupterer Ausstieg wäre wahrscheinlich die Folge, wenn man mit der CO 2 -Bepreisung alle Ziele verwirklicht sähe. Viele Kolleginnen und Kollegen hier im Raum wissen es vielleicht nicht: Auch die FDP will aus der Kohleverstromung aussteigen; denn der Titel des Antrags lautet ja: „Kohleausstieg mit Verantwortung und Weitsicht“. Das müssen Sie den Menschen dann aber auch sagen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({0}) Die Linke fordert, den energieintensiven Industrien bei der Strompreisentwicklung keine Planungssicherheit zu geben, und setzt so den Wirtschaftsstandort Deutschland wirklich aufs Spiel. Wir müssen es schaffen, Ökonomie und Ökologie zu vereinen, zu versöhnen und den Menschen dabei in den Mittelpunkt zu stellen. Die Kommission hieß übrigens nicht Kohlekommission – das wurde schon angesprochen –, sondern Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“. Genau das ist auch der Inhalt. Es geht nicht nur um den Kohleausstieg, sondern auch um eine Perspektive für die Menschen vor Ort. Wir stellen den Menschen in den Mittelpunkt unserer Politik. Es gilt, alle drei Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung in den Blick zu nehmen: die ökologische, die soziale, aber auch die ökonomische. Ziel muss sein, dass wir die Voraussetzungen für eine positive Entwicklung in den Revieren schaffen. Es darf nicht zu Strukturbrüchen kommen. Es muss zu einem geordneten Strukturwandel kommen. Wir wollen Chancen für die Regionen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Natürlich brauchen wir auch die Kreativität der Bundesländer, um einen solchen Strukturwandel zu schaffen. Kollege Lämmel hat davon gesprochen, dass Bayern diesen Strukturwandel geschafft hat. Daraus zu lernen, heißt auch, den Strukturwandel zu bewältigen. Wir brauchen Kreativität, um nicht langfristig zu alimentieren, sondern zu aktivieren. ({1}) Wir müssen die Ergebnisse auch mit der Arbeit der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ verzahnen. Es geht nicht, dass andere Regionen Deutschlands durch die Beschlüsse der Kommission vernachlässigt werden. Sieht man sich den Einsetzungsbeschluss der Kommission an, war ihr Ziel, einen Beitrag zu leisten, um die Klimaziele 2020 zu erreichen und das 2030er-Ziel zu gewährleisten, und ein Enddatum der Kohleverstromung festzulegen. Antworten darauf wurden durch die Kommission in einem verlässlichen Rahmen gegeben. Das bedeutet aber, dass wir einen Ersatz brauchen, und zwar durch die Errichtung und Nutzung neuer Gaskraftwerke. Wir brauchen – das belegt jede belastbare Studie – schnelle, kaltstartfähige Gaskraftwerke, am besten dort, wo der Strom gebraucht wird, also auch im Süden der Republik. Wie ideologiegetrieben die Argumente der Grünen beim Thema Gas sind, konnte man gestern sehen. Das zeigt, wohin der Weg der Grünen insgesamt führen würde.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Lenz, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Verlinden?

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Lenz, dass Sie die Frage zulassen. – Ich bin ein bisschen erstaunt, weil Sie gerade gesagt haben: Die komplette Strommenge, die bisher von den Kohlekraftwerken erzeugt wird, soll in Zukunft ausschließlich von Gaskraftwerken erzeugt werden.

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das habe ich nicht gesagt.

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das können wir später im Protokoll nachschauen. Sie haben gesagt: Sie werden durch Gaskraftwerke ersetzt. – Ich möchte Sie fragen: Gilt das 65-Prozent-Ziel, also die Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien am Strommix auf 65 Prozent bis zum Jahr 2030, für die Große Koalition noch, ja oder nein?

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke für die Frage. – Das eine ist das 65-Prozent-Ziel, das im Koalitionsvertrag steht. Das andere ist, dass wir – unabhängig davon – gesicherte Leistung brauchen. Gesicherte Leistung haben wir eben nur durch gesicherte Kapazitäten, also eben durch Gaskraft. Neben einem Zubau an Erneuerbaren, den wir vereinbart haben, brauchen wir Kapazitäten, um die Versorgung in Deutschland aufrechtzuerhalten. ({0}) Das Thema Versorgungssicherheit muss noch stärker auf die politische Agenda. Die Kommission sieht hier ein stärkeres Monitoring vor. Wir brauchen natürlich auch Anstrengungen beim Netzausbau und die Gewährleistung, dass tatsächlich in Ersatzkapazitäten investiert wird. Die Investitionen in Gas müssen beginnen; sie beginnen auch. Aber wir müssen auch schauen, dass verstärkt in die Kraftwerke investiert wird. Wir brauchen eine gesetzliche Definition, was wir unter Versorgungssicherheit verstehen. Natürlich stehen wir auch bei der Stromversorgung zum EU-Binnenmarkt. Aber wir müssen gewährleisten, dass sich Deutschland zu jeder Tages- und Nachtzeit selbst ausreichend mit Strom versorgen kann, gerade bei Engpässen, auch im Winter. Die Ergebnisse der Kommission sind nicht bindend. Ich warne auch davor, hinsichtlich der Ergebnisse einen Staatsvertrag zu machen. Der Ball liegt jetzt im Parlament. Wir haben heute den ersten Aufschlag gemacht. Natürlich sind wir dem Steuerzahler verpflichtet. Es geht darum, die notwendigen Mittel bereitzustellen, aber auch nicht mehr als notwendig. Gerade in der Strukturpolitik hilft ein Mehr nicht automatisch mehr. Es geht um einen effizienten Einsatz der Mittel, der aktiviert und nicht alimentiert. Dabei müssen wir die Chancen der Zukunft nutzen und dürfen nicht an der Vergangenheit hängen. Ich freue mich auf die weiteren parlamentarischen Beratungen dazu. In diesem Sinne herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in der Debatte fortfahren, sei mir der Hinweis gestattet, dass wir genügend Sitzgelegenheiten für alle Mitglieder des Hohen Hauses haben. Ich bitte Sie also, wenn Sie an der Debatte und den darauffolgenden Abstimmungen teilhaben wollen, Platz zu nehmen und die notwendige Aufmerksamkeit für die noch folgenden drei Redner in dieser Debatte herzustellen. Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Kamann.

Uwe Kamann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004772, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Werte Besucher! Einige Anträge zur heutigen Lesung in Sachen Kohleausstieg verdeutlichen, woran die Politik in diesem Lande krankt: an starrsinnigen Standpunkten und der mangelnden Nutzung des gesunden Menschenverstandes. Die AfD fordert kategorisch den Ausstieg aus dem Kohleausstieg. Linke und Grüne haben konzeptionell leider wirklich nichts zu bieten. Die Linke will nur eines: den Kohleausstieg schnell und sozial gerecht umsetzen. Kein Hinterfragen, keine Verantwortung, keine wirtschaftliche Folgeabschätzung! Aber als ehemaliger Bergmann schätze ich durchaus, dass Die Linke an die Arbeiter denkt. Doch ich sehe auch, dass die Arbeitsplatzbeschaffung am grünen Tisch geplant wird. Der Wandel – das ist ein kapitaler Fehler – erfolgt nicht durch eine gesunde marktwirtschaftliche Entwicklung, sondern nach planwirtschaftlicher Vorgabe. Das hat schon bei ­Honecker und Ulbricht nicht geklappt. Selbstverständlich ist die Festlegung auf den Kohleausstieg, auf den Abschied von dem neben der Kernkraft zweiten, sicheren und über Jahrzehnte hinweg erprobten Energieträger bedenklich. Wir können nicht die Elektrifizierung des Autoverkehrs fordern und den erheblichen Energieanforderungen der künstlichen Intelligenz entsprechen, ohne eine sturmsichere Energieversorgung sicherzustellen. Das will mit Vernunft geplant sein. Da reicht es nicht, zig Milliarden Steuergelder für neue Arbeitsplätze in betroffene Regionen zu pumpen. Es geht hier um zuverlässige und nachhaltige Energieversorgung. Wir können erst dann konsequent auf Wind und Sonne setzen, wenn es uns gelingt, den erzeugten Strom langfristig und zuverlässig zu speichern. Wann diese Technologie vollumfassend zur Verfügung steht, ist aktuell noch nicht absehbar. Und ja, Herr Saathoff, das Speicherproblem ist nur dezentral zu lösen. Da gebe ich Ihnen hundertprozentig recht. Hier müsste weiter massiv in die Forschung investiert werden. Solange diese Technologie nicht zur Verfügung steht – letztlich wohl auch darüber hinaus –, müssen wir zwingend eine alternative, sichere Energieerzeugung vorhalten oder geben uns damit zufrieden, bei schwächelnder Natur auf teils marode Kernkraftwerke in Frankreich und Belgien oder Kohlekraftwerke in Tschechien zuzugreifen, nach dem Motto: Hauptsache, in Deutschland stimmt das Weltklima. Die Kohlekommission, gegenüber der die Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung angesichts ihrer Zusammensetzung noch ein hochkompetentes Gremium war, liefert leider keinen Plan für Sicherheit in der Energieversorgung. Wenn Dekarbonisierung die politische Vorgabe ist, bleiben Verantwortung und Vernunft schon mal auf der Strecke. Natürlich werden wir uns von der Kohle verabschieden müssen. Natürlich müssen wir – dies nicht nur in Deutschland – unsere Energie intelligenter und umweltfreundlicher erzeugen. Doch die Energiepolitik ist der Pulsgeber für die Wirtschaft. Sichere und bezahlbare Energie ist die Grundlage unser aller Wohlstand. Deshalb ist es sinnvoll, einen verantwortungsvollen Ausstieg aus der Kohle zu fordern und einen Blick in die Zukunft zu werfen, der nicht durch eine ideologische Brille getrübt ist. Wir brauchen eine Energiepolitik, die in erster Linie Versorgungssicherheit gewährleistet, die für Industrie und Bürger bezahlbaren Strom sicherstellt und die nicht einen alleinigen deutschen Sonderweg darstellt. Sonst wird die Argumentation, die Umwelt schützen zu wollen, zur Makulatur.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kamann, achten Sie bitte auf die Zeit.

Uwe Kamann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004772, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Vielen Dank.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Carsten Träger für die SPD-Fraktion. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die SPD will, dass Deutschland die Vereinbarungen von Paris einhält. Die SPD will, dass wir spätestens 2050 klimaneutral produzieren und leben. Deshalb wollen wir, dass wir unsere Klimaziele für 2030 einhalten. Das geht nur über saubere Energie, über sichere Energie und über bezahlbare Energie; denn gute Klimapolitik denkt auch immer das Soziale mit. ({0}) Kolleginnen und Kollegen, die Zeit ist reif. Wir haben jetzt viel über die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ gesprochen. Wir haben sie kritisiert, und es gab reichlich Lob. Ich möchte ausdrücklich der Kommission für einen richtungsweisenden Vorschlag danken. Nun sind wir dran, nun ist die Politik dran, diese Vorschläge ins Werk zu setzen. Und die Zeit ist reif. ({1}) Das zeigen uns wöchentliche Demos von Tausenden jungen Menschen, die sich Sorgen machen, dass wir den Klimaschutz nicht ernst genug nehmen. Das zeigt uns die Wirtschaft, die uns signalisiert, dass sie für einen CO 2 -Mindestpreis bereit ist. Das zeigen uns natürlich auch die nüchternen Bilanzen, die uns attestieren, dass wir leider unsere Klimaziele für 2020 nicht erreichen werden. Die Zeit ist also mehr als reif für ein ambitioniertes Klimaschutzgesetz. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Sichert?

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. – Wir müssen alle Sektoren in den Blick nehmen, alle müssen liefern. ({0}) Der Energiesektor hat schon viel geliefert. Gleichwohl ist er weiterhin in der Verantwortung, noch mehr zu liefern. Es ist sehr ambitioniert, wenn die Kommission uns empfiehlt, Kohlekraftwerke mit einer Kapazität von 12,5 Gigawatt vom Netz zu nehmen, Frau Baerbock. Das haben wir gelobt, und das loben wir weiterhin, das wollen wir umsetzen. Das ist weit mehr als das, wofür Sie sich bei Jamaika haben abfeiern lassen. ({1}) Der Verkehrssektor muss liefern, der Gebäudesektor muss liefern, und auch die Landwirtschaft muss liefern. Sie trägt 7 Prozent zu den CO 2 -Emissionen bei. Das hört sich nicht nach viel an, ist aber mehr, als die Industrie beiträgt. Warum spreche ich das an, liebe FDP? Weil es spätestens an dieser Stelle irreführend ist, wenn Sie sagen, das könnten wir alles mit dem ETS lösen. Wir brauchen eine klügere Gesetzgebung, die weit darüber hinausgeht, sich in dieser Frage auf den Marktplatz zu verlassen. ({2}) Lieber Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen: „Wir machen jetzt erst mal das Maßnahmengesetz, und danach kümmern wir uns um den Klimaschutz“, dann möchte ich Ihnen an dieser Stelle schon den Hinweis geben, dass wir da eine andere Auffassung vertreten. Das Ganze muss schon Hand in Hand gehen; denn beides hängt natürlich eng miteinander zusammen. ({3}) Insofern ist es ein gewaltiges Vorhaben, das wir da vor der Brust haben. Es geht um nicht weniger als den Umbau unserer Industriegesellschaft, um die Art, wie wir leben. Das ist nicht nur ein Risiko, eine Herausforderung, sondern es ist auch eine Chance, liebe AfD; denn die Welt schaut, wie wir den Kampf gegen den Klimawandel aufnehmen. Ich hatte das Vergnügen und die Ehre, an der Nachhaltigkeitskonferenz in New York teilzunehmen, und ich sage Ihnen: Sogar ölexportierende Staaten blicken auf die „German Energiewende“. Und wenn wir es als Industrienation, als Nation mit einer extrem energieintensiven Wirtschaft, schaffen, dann werden viele Staaten nach uns den Weg gehen, den wir mit unserer Energiewende vorzeichnen. Deswegen ist es so wichtig, dass wir hier ambitioniert voranschreiten. ({4}) Natürlich, liebe Kollegen, geht es nur gemeinsam. Da sollten wir uns tatsächlich ein Beispiel an der Kohlekommission nehmen. Wer saß da alles drin? Da saß der BDI drin, da saßen die Umweltverbände drin, da saßen die Gewerkschaften drin, da saßen die Vertreter der Regionen, die vom Strukturwandel betroffen sind, drin. Ihre widerstreitenden Interessen wurden nach einem harten Ringen miteinander am Ende in einen guten Kompromiss gegossen. Das sollte ein Vorbild für uns sein, den Parteienstreit hinter uns zu lassen bei einer Aufgabe, die ich gerne als die Aufgabe unserer Generation bezeichne. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Kippels für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Kippels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es freut mich, dass ich heute als Vertreter eines Wahlkreises hier sprechen kann, in dem all das geschieht, worüber wir uns hier gemeinschaftlich unterhalten und worüber sich auch die Kommission unterhalten hat. Der Rhein-Erft-Kreis ist einer der Kernpunkte des Rheinischen Reviers. Dort findet Tagebau statt, dort stehen die Kraftwerke. Seit über 50 Jahren verändert sich die Landschaft durch die Eingriffe des Tagebergbaus, aber auch durch die Maßnahmen der Rekultivierung. Es gibt viele Landschaftsstriche, die bis zum Zeitpunkt des Eingriffs eine ganz andere Gestalt hatten, aber mittlerweile von den Bewohnerinnen und Bewohnern als Nah­erholungsgebiete geschätzt werden. Wenn ich von Ihnen, sehr geehrte Frau Kollegin Baerbock, eben die Frage vernommen habe, wie die Menschen denken, was sie erwarten und welche Erwartungshaltung sie bei dem, was nun geschieht, haben, bin ich autorisiert, Ihnen einen gewissen Eindruck davon zu vermitteln. ({0}) Wenn es um die Frage der Planungssicherheit geht, dann ist die erste Antwort an die Bürgerinnen und Bürger: Die Planungen liegen vor. Sie sind seit Jahr und Tag planungsrechtlich erarbeitet, präzise abgestimmt. Die Rekultivierungsschritte sind exakt vorgenommen. Die Wiederherstellung der Flächen und Landschaften ist mit unteren Landschaftsbehörden und mit ökologischen Gutachtern abgestimmt, und es kann davon ausgegangen werden, dass das, was in einigen Jahren oder Jahrzehnten entstehen soll, genau den Anforderungen entspricht, die die Bürgerinnen und Bürger vor Ort stellen. Das schuldet man ihnen auch; denn es wurde ihnen im Rahmen der Absprachen ausdrücklich zugesagt. Wenn wir aber jetzt angesichts des Kommissionsberichtes davon ausgehen müssen, dass die fossile Energie in der gesamtgesellschaftlichen Diskussion nicht mehr akzeptiert wird und wir in einen schnelleren Prozess eintreten sollten, dann ist es auch unsere Verpflichtung, ganz dezidiert ein Auge auf bestimmte grundlegende Aufgabenstellungen zu werfen. Ich will gern exemplarisch eine Aufgabenstellung nennen: Eine große Aufgabe ist die Wiederherstellung der Tagebaue. Als Alexander Gerst um den Erdball geflogen ist, konnte er mit dem bloßen Auge den Tagebau Hambach und den Tagebau Garzweiler wahrnehmen – 85 Quadratkilometer Bergbaufläche, 45 Quadratkilometer, die zurzeit Betriebsfläche sind und die einer späteren Nutzung in vielfältiger Hinsicht unbedingt wieder zugeführt werden müssen. Lieber Herr Hofreiter, Sie haben ja im vergangenen Herbst einen Besuch im Hambacher Forst gemacht. Es wäre sicherlich eine sehr schöne Geste gewesen, wenn Sie stattdessen den Bürgermeister der Stadt Elsdorf aufgesucht hätten. Ein Drittel der Stadtfläche, 21 Quadratkilometer, liegt in diesem Tagebau. Für die zukünftige Entwicklung der Stadt wird Fläche benötigt, aber im Moment ist nicht festzustellen, wie durch eine planmäßige Fortführung der Rekultivierung diese Fläche für eine spätere Nutzung als Wohnfläche, als Gewerbefläche, als allgemeine Erholungsfläche und natürlich auch als Fläche für Infrastruktur wiederhergestellt werden kann. ({1}) Diese Fragestellung beschäftigt die Bevölkerung vor Ort intensiv. Sie haben angemahnt, dass die Region vielleicht noch nicht ihre Hausaufgaben gemacht hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, auf diesen rekultivierten Flächen, die in der Vergangenheit wiederhergestellt wurden, gibt es Windparks und Photovoltaikanlagen. ({2}) Es gibt Forschungsinstitute, die sich bereits hier und heute mit Netzmanagement befassen und die zukunftsorientiert daran arbeiten, dass der Übergang von der Braunkohleverstromung in die erneuerbaren Energien gelingt, stabil ist, Versorgungssicherheit und natürlich auch Preisstabilität erzeugt. Wir brauchen in der Tat auf der einen Seite Planungsverlässlichkeit, keine Ideologie, gute Planung mit Augenmaß, vor allen Dingen ein zeitliches Nebeneinander und um Gottes willen kein Nacheinander. Experimente gefährden das große Projekt der Kommission. Gestern im Landtag in Düsseldorf hat eine Anhörung mit 43 Sachverständigen ergeben, dass sich die Region konstruktiv und intensiv mit dieser Frage auseinandersetzen will und wird. Wir sind optimistisch und guten Mutes, aber wir sind auch Realisten. Deshalb von hier aus ein herzliches Glückauf! ({3})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn die Katastrophe da ist, dann will es am Ende niemand gewesen sein. So ist das auch bei Merkels Asyldesaster. In den Werkstattgesprächen versucht die Union jetzt, zwischen sich und die Kanzlerin einen Sicherheitsabstand einzuziehen, so eine Armlänge Abstand, möchte man meinen. Im Herbst 2015 hieß es noch: „Wir schaffen das!“, und Merkel wurde als Mutter Teresa gefeiert. Jeder, der dagegen war, war Populist oder noch viel Schlimmeres. Jetzt heißt es bei den Sozialdemokraten nicht mehr: „Refugees welcome“, sondern: Der Herbst 2015 darf sich nicht wiederholen. – Liebe Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen der CDU, ich gratuliere Ihnen zu der Einsicht, der späten. ({0}) Sie sind heute da, wo wir im Herbst 2015 schon waren. Dass auch Sie sich jetzt wenigstens verbal dazu bekennen, den Skandal aufarbeiten zu wollen, ist im Rahmen Ihrer beschränkten Möglichkeiten, möchte ich sagen, ein Fortschritt. Aber: Diese Aufarbeitung gehört natürlich nicht in die Werkstatt einer Partei, sondern sie gehört hierher, in den Deutschen Bundestag. ({1}) Ihnen allen liegt unser Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses vor. Wir haben alle Fraktionen eingeladen, Berichterstattergespräche zu führen. Wenn Sie tatsächlich und gründlich aufarbeiten wollen, dann können Sie das gerne haben. Wir müssen die Vergangenheit aufarbeiten, und wir müssen jetzt die enormen Probleme lösen, die Merkel mit ihrer Asylpolitik angerichtet hat. Vor der Wahl hat die Bundeskanzlerin eine nationale Kraftanstrengung für Abschiebung angekündigt. Nach der Wahl kam Minister Seehofer mit seinem Masterplan für Migration. Konsequenzen? Keine. Wir haben dennoch die Vorschläge der CDU, nunmehr aus der Kramp-Karrenbauer’schen Werkstatt, mit Interesse zur Kenntnis genommen – Klappe, die dritte. Weil Ankündigungen nichts kosten, gibt es gleich eine ganze Reihe davon: Asylverfahren und Zurückweisungen direkt an der EU-Außengrenze, nationale Grenzkontrollen – und das auch ohne Konsultation der EU –, ({2}) Verwirkung des Asylrechts bei Falschangaben, verbindliche Altersbestimmungen bei angeblich Minderjährigen durch medizinische Tests. ({3}) Liebe Kollegen von der Union: Das ist exzellent. Das kommt nämlich von uns; das ist AfD pur. ({4}) Das kommt von Ihnen nur reichlich spät. Die Zeit der Willkommenskultur haben Sie offenbar hinter dem Mond verbracht; aber wir sagen Ihnen: Herzlich willkommen zurück auf der Erde! ({5}) Wir wollen heute von Ihnen wissen: Welche Konsequenzen hat das für die praktische Arbeit der Bundesregierung? ({6}) Jede Wette: keine. Es gibt zwei Gründe, warum das keine Konsequenzen haben wird. Erstens: Angela Merkel. Merkel ist nicht weg. Sie bestimmt weiter die Richtlinien der Politik, und sie denkt gar nicht daran, ihre Richtung zu ändern. Und zweitens: Ihr Koalitionspartner, die SPD, und Ihr Wunschkoalitionspartner, die Grünen, werden das niemals mittragen. Liebe Kollegen von der SPD und den Grünen: Nutzen Sie diese Aktuelle Stunde, und sagen Sie den Kollegen von der Union, was Sie von deren Werkstattvorschlägen halten! Dann wissen auch endlich die Wähler, woran sie sind. ({7}) Liebe Kollegen von der Union: Hier im Raum sitzt Ihr Dilemma. Mit dieser Kanzlerin geht es nicht, ({8}) und mit Ihrem Koalitionspartner geht es auch nicht. Die asylpolitische Wende und damit die Lösung der Schicksalsfrage für unsere Nation, für unsere Kultur und für ganz Europa gibt es nur mit Mehrheiten rechts von der Mitte; das sieht man in Österreich, das sieht man in Dänemark. Und eine Mehrheit rechts von der Mitte, die gibt es in Deutschland nur mit der AfD. ({9}) Solange Sie sich dieser Realität nicht stellen, bleiben alle Ihre Ankündigungen nichts als heiße Luft. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der CDU/CSU hat das Wort der Kollege Detlef Seif. ({0})

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Als Teilnehmer des Werkstattgesprächs bin ich beeindruckt von dem gefundenen Format. ({0}) Mitglieder des Bundesvorstandes der CDU, Innenpolitiker und weitere Experten haben hier Ergebnisse erarbeitet. ({1}) Ohne Umwege konnte hier die Expertise einfließen. Quatschen können Sie von der AfD ja immer. Aber es war ein mutiger Schritt der Parteivorsitzenden, eine derart offene Veranstaltung auf den Weg zu bringen, ({2}) ohne inhaltliche Vorgaben, ohne irgendeine Regieanweisung. Ich finde, das ist einen Applaus wert. Das ist eine tolle Veranstaltung gewesen. ({3}) Die AfD schläft ja. Sie hat gar nicht gemerkt, dass wir seit 2015 unwahrscheinlich viel auf den Weg gebracht haben: ({4}) mehrere Asylpakete, ein Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, ({5}) das EU-Türkei-Aktionsabkommen, ({6}) ohne das die heutige entspannte Situation gar nicht denkbar wäre. ({7}) Aber, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das reicht natürlich nicht. Es sind weitere Maßnahmen dringend erforderlich. ({8}) Zum Großteil wurden sie in den Masterplan aufgenommen, aber man kann 63 umfangreiche Punkte nicht binnen weniger Monate abarbeiten. Die Werkstattgespräche gehen über diesen Masterplan hinaus. Ein ganz wichtiger Punkt ist, ({9}) an den Außengrenzen nicht nur die Grenzsicherung zu verbessern, sondern bereits dort, in Transitzentren und in Hotspots, eine abschließende Prüfung zu vollziehen. Genau das ist eine wesentliche Forderung des Werkstattgesprächs. ({10}) Die Attraktivität, nach Deutschland zu kommen, müssen wir für die Leute, die kein Asylrecht haben – darum geht es –, deutlich reduzieren. Falsche Angaben, Täuschungen im Verfahren, mit uns spielen, obgleich wissend, gar keinen Anspruch zu haben – wer das macht, den müssen wir ins Visier nehmen, und das streben wir auch an. ({11}) Ausreisepflichtige Personen, die versuchen, unterzutauchen, müssen in Abschiebehaft genommen werden. Es fehlen Abschiebehaftplätze. Die Vorschriften zur Ausweisung straffällig gewordener Ausländer wollen wir darüber hinaus noch weiter verschärfen. ({12}) Das sind einige wichtige Ergebnisse der Werkstattgespräche. ({13}) Und eines ist ja richtig: Leider scheitern diese Maßnahmen, die erforderlich sind, an der Blockade anderer Parteien, und da schaue ich auch mal nach links. ({14}) Die EVP auf europäischer Ebene und wir, die Union in Deutschland und in den Ländern, haben nun mal leider keine eigene Gestaltungsmehrheit und sind auf andere angewiesen. Beispiel eins: Die zur Verfahrensbeschleunigung erforderliche Bestimmung weiterer sicherer Herkunftsländer wird ja diese Woche wahrscheinlich wieder am Widerstand der Grünen scheitern. Unfassbar, dass Deutschland hier einem erkennbaren Missbrauch nicht entgegenwirkt! ({15}) Beispiel zwei: Transitzentren. Mit der SPD haben wir in Deutschland die Einrichtung von Transitzentren versucht und es nicht hingekriegt, und mit der SPD, den Grünen und den Linken werden wir das auch auf europäischer Ebene nicht hinbekommen. ({16}) Und das ist schlimm. Ein ganz wesentliches Element der Ordnung und Steuerung der Migration steht uns nicht zur Verfügung. ({17}) Ich bin der festen Überzeugung: Die große Mehrheit in der Bevölkerung will diese Maßnahmen. ({18}) Ich kann dem Großteil der Bevölkerung nur den Ratschlag geben: Wählt demnächst die Union, wählt die EVP, sodass wir eine eigene Gestaltungsmehrheit haben. Meine Damen und Herren, wir stehen uneingeschränkt zum Asyl und Flüchtlingsschutz – das unterscheidet uns von Ihnen –, aber wir haben eine ganz schwierige Balance zu finden. Wir wollen keine Grenzschließung, wir wollen keinen Stacheldraht und keine Mauern, ({19}) und wir wollen auch nicht, dass irgendwas nach unten gefahren wird. Aber auf der anderen Seite wollen wir kontrollieren, wer zu uns kommt; wir wollen das wissen. Und wir müssen notfalls auch die Möglichkeit haben, Leute, die hier nichts zu suchen haben, auch schon an der Grenze zurückzuweisen. ({20}) Das ist die klare Erklärung und das Signal des Werkstattgesprächs: Wir brauchen eine intelligente, flexible und der Lage angepasste Grenzüberwachung, die – nur als letztes Mittel – auch die Zurückweisung an der Grenze vorsieht. ({21}) Der Staat muss seine rechtlichen Möglichkeiten nutzen, die wir heute gesetzlich auch schon haben, um einer derart unkontrollierten Zuwanderung – 2015 und 2016 kamen teilweise 10 000 Menschen am Tag – entgegenzuwirken. ({22}) Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir abschließend eine Anmerkung. Sie kennen ja Armin Schuster. Sie wissen, viele Innenpolitiker der Union arbeiten seit Jahren konstruktiv und kritisch an dem Thema. Und wenn diese Politiker begeistert sind, nicht nur vom Format, sondern auch von dem Ergebnis, das auf dem Tisch liegt, dann muss ich Ihnen sagen: Die CDU befindet sich auf einem guten Weg. Und wir haben es verdient, dass der Wähler uns das demnächst auch honoriert. Vielen Dank. ({23})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der FDP hat das Wort die Kollegin Linda Teuteberg. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was uns die CDU in dieser Woche geboten hat, das ist mehr als blamabel. Am Sonntag und Montag hat die CDU noch den großen Neuanfang in der Migrationspolitik verkündet. Die Parteivorsitzende, der hessische Innenminister, der Kollege Schuster und andere haben sich hingestellt und allerlei mehr oder weniger neue Ideen präsentiert, die man jetzt durchdenken wolle. Und Frau Kramp-Karrenbauer hat schließlich sogar im Fernsehen verkündet, sie würde im Notfall auch die Schließung der Grenzen in Betracht ziehen. Mehr rhetorische Härte war lange nicht in der Union – bis zum Mittwoch; denn da sind Sie beim ersten Härtetest gleich durchgefallen. ({0}) In der wichtigen Frage der sicheren Herkunftsstaaten gibt die Union im entscheidenden Moment nach. Ihr Neuanfang wird so leider zum kapitalen Fehlstart; denn Sie zeigen hier keine Stärke. Sie sind schneller umgefallen, als man „Kramp-Karrenbauer“ sagen könnte. ({1}) Aber vor allem ist das einfach ein Armutszeugnis für eine Partei, die jetzt seit über zehn Jahren in dieser Republik die Kanzlerin und den Innenminister stellt. Da will ich jetzt gar nicht auf alle Vorschläge im Einzelnen eingehen – da ist nämlich manches vernünftig, einiges überzogen und anderes eher rätselhaft –, sondern darauf hinweisen: Dass Sie als Regierungspartei fast vier Jahre nach der besonderen Situation des Jahres 2015 immer noch halbgare Ideen präsentieren, die jetzt in Gremien weiter beraten und durchdacht werden sollen, um dann irgendwann in Programmen zu landen, das kann doch nicht Ihr Ernst sein. ({2}) Viele Dinge, viele vernünftige Dinge, die Sie jetzt weiter beraten wollen, hätten wir in diesem Haus längst beschließen können. ({3}) Die Zurückweisung von Asylbewerbern, die bereits in anderen EU-Staaten registriert sind, stand hier im letzten Sommer zur Abstimmung. Mehr Aufgaben für den Bund bei der Rückführung, die dezentrale Verteilung auf die Kommunen nur bei guter Bleibeperspektive, schnellere Verfahren an den Verwaltungsgerichten – zu diesen und vielen anderen Punkten haben wir Freien Demokraten hier immer wieder Vorschläge gemacht. Und wir wären bereit, gute Lösungsansätze der Regierung mitzutragen; aber Sie kümmern sich nicht; Sie liefern nicht. Das gilt auch für Ihre eigenen Vorhaben. Seit Monaten warten wir darauf, dass Sie uns Ihre lange angekündigten Gesetzentwürfe zur Beratung vorlegen. Ich frage Sie, liebe Kollegen der Koalition: Worauf warten Sie noch? Weniger Werkstattgespräche und mehr gesetzgeberische Schwerstarbeit sind jetzt gefragt. Wenn wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Handlungsfähigkeit von Demokratie und Rechtsstaat wiederherstellen wollen, dann müssen wir diese Handlungsfähigkeit jetzt beweisen. Dazu müssen sich alle – das möchte ich zum Abschluss auch an die Adresse der Grünen sagen – den Realitäten stellen. ({4}) Winfried Kretschmann hat Ihnen mit der Zustimmung bei den sicheren Herkunftsstaaten vorgemacht, wie das geht. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass Sie ihm hier folgen und ihre kategorische Ablehnung noch einmal überdenken. Doch statt einen breiten Konsens der Mitte – wohlgemerkt: der Mitte – zu ermöglichen, verschanzen Sie sich weiter in Ihrem Schützengraben und blockieren damit nicht nur im Bundesrat weiter eine Lösung, ({5}) sondern Sie verhindern auch, dass wir diesen gesellschaftlichen Konflikt in unserem Land ein Stück weit befrieden können. ({6}) Das ist zutiefst beschämend; denn es geht um mehr als Profilierung. Es geht 100 Jahre nach Max Webers berühmtem Vortrag zu Verantwortungsethik darum, die Folgen des eigenen Tuns zu bedenken und die offene Gesellschaft auch mit einem handlungsfähigen Rechtsstaat zu verteidigen. ({7}) Daran werden wir Freien Demokraten weiter intensiv in der Sache, nämlich an einer besseren und geordneten Migrationspolitik, arbeiten. Ich hoffe sehr, dass die Regierungsparteien ihre Selbsttherapie bald beenden können und sich wieder um konkrete Lösungen bemühen. Ich kann Ihnen zusagen, dass wir Sie dabei konstruktiv begleiten und unterstützen werden. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat der Kollege Dr. Lars Castellucci, SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte gestern auch ein Werkstattgespräch – zu „Religion und Politik“. Wollen wir dazu auch bald mal eine Aktuelle Stunde machen? ({0}) Haben Sie nichts zu tun? Müssen Sie, nur weil sich jemand trifft und etwas zu besprechen hat, uns alle hier mit Aktuellen Stunden aufhalten? ({1}) Diesen Eindruck macht es auf mich. Die CDU hat etwas zu klären. ({2}) Das kommt in den besten Parteien vor. Sie macht das, indem sie sich zurückzieht, ihre Experten zusammentrommelt, sogar Leute von außen hinzuzieht und sich den Spiegel vorhalten lässt. ({3}) Das ist, finde ich, eigentlich eine gute Vorgehensweise. ({4}) Wenn ich mir umgekehrt Sie anschaue, stelle ich fest: Bei Ihnen ist das Weltbild geschlossen. Es ist einfach dunkel und fertig. ({5}) Abweichenden Meinungen wird nur mit Verschwörungstheorien begegnet. Das kommt in den schlechtesten Parteien vor, meine Damen und Herren von der AfD. ({6}) Vielleicht ist es Ihnen aufgefallen, dass die SPD jetzt nicht auf alles, was die CDU in irgendwelchen Gesprächen gerade berät, eingestiegen ist. Das wollen wir auch weiter so halten; denn es ist der CDU völlig unbenommen, dass sie Themen berät, so wie das alle Parteien in diesem Haus auch machen können. Für uns zählt der Koalitionsvertrag. Entlang diesem wollen wir konsequent und in der Sache hart arbeiten. Dann werden wir der Probleme in unserem Land gemeinsam Herr werden; das ist unsere feste Überzeugung. ({7}) Ansonsten wollen wir über die wichtigen Themen reden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus dieser Woche: Wir wollen, dass die Menschen in diesem Land, die hart arbeiten, Kinder erziehen, ihre Eltern pflegen, am Ende nicht zum Staat müssen, um ihre Rente aufzustocken. ({8}) Deswegen ist die Grundrente ein wichtiges Thema. Das, was Sie mit diesen Werkstattgesprächen in den Deutschen Bundestag zaubern, ist kein relevantes Thema. ({9}) Es gibt diesen Satz, den Sie für sich beanspruchen. Er lautet, 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Diesen Satz trage ich ausdrücklich mit. Sie werden aber merken, dass ich dazu ein bisschen ein anderes Verständnis habe. Es geht nämlich nicht nur darum, dass sich die Dinge bei uns nicht wiederholen. Ja, natürlich, wir wollen nicht, dass so viele Menschen auf einmal und unkontrolliert zu uns kommen. Dazu haben wir eine Menge Gesetzesvorhaben durch den Deutschen Bundestag gebracht. Wir haben auch an vielen Stellen auf Verwaltungsebene daran gearbeitet, damit sich das nicht wiederholt. Wir haben aber im Jahr 2019  68 Millionen Flüchtlinge, und wir hatten im Jahr 2015  65 Millionen Flüchtlinge. Das heißt, das Jahr 2015 wiederholt sich jeden Tag – nur nicht bei uns. Es ist unsere Verantwortung, dass wir weltweit an Bedingungen arbeiten, ({10}) damit sich dieses Jahr 2015 nicht wiederholt – im Sinne der Menschen, die davon betroffen sind. ({11}) Es geht also um eine internationale Verantwortung. Das ist unser Verständnis von diesem Satz: Das Jahr 2015 darf sich nicht wiederholen. ({12}) Wir haben also bleibende Aufgaben. Aber wir haben auch schon viel erreicht. Dass wir viel erreicht haben, beweist ausgerechnet die AfD-Fraktion an diesem Tag heute. ({13}) – Ja, jetzt passen Sie mal auf: Für 19.05 Uhr hatten Sie nämlich was beantragt. Der Titel Ihres Antrages lautete „Leerstehende Flüchtlingsunterkünfte für Obdachlose freigeben“. ({14}) Gibt es einen besseren Beweis dafür, dass wir die Lage wunderbar in den Griff bekommen haben, ({15}) als die Idee, leerstehende Flüchtlingsunterkünfte jetzt für Obdachlose zu verwenden? ({16}) Das ist Ihnen anscheinend auch aufgefallen; denn jetzt steht plötzlich in der Kurzübersicht: Dieser Tagesordnungspunkt wird abgesetzt. – Liebe AfD, „Eigentor“ kann ich dazu nur sagen. ({17}) Weil dieser Tagesordnungspunkt abgesetzt wurde, möchte ich an dieser Stelle etwas sagen. Sie schlagen vor, wir sollten jetzt etwas für Obdachlose und nicht für Flüchtlinge tun. Ich habe in meinem politischen Leben vor allem auf der kommunalen Ebene zum Beispiel einen Tafelladen, eine Beschäftigungsinitiative, eine Bürgerstiftung gegründet, ich habe eine Weihnachtswunschaktion initiiert, damit Eltern, die kein Geld haben, ihren Kindern auch was unter den Weihnachtsbaum legen können. Wissen Sie, wen ich da nie getroffen habe, wenn ich was für die Leute hier machen wollte? Solche Leute wie Sie! Es ist reine Heuchelei, was Sie hier vorführen. ({18}) Heute ist das mal wieder deutlich geworden. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({19})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollege Ulla Jelpke hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir erleben heute wieder, wie Flüchtlingspolitik im Wettbewerb um Schäbigkeit zwischen der AfD-Fraktion und leider auch der Union stattfindet. ({0}) Die AfD schreit; die Union liefert und bedient damit die Hetze. ({1}) Sie benutzen diese Aktuelle Stunde nur, um hier Klamauk durchzuziehen. Das zeigt Ihre gesamte Reaktion auf die bisherige Debatte. ({2}) In der Debatte hört man nur: Abschiebung, Zurückweisung, Abschiebung. Wenn man das Werkstattpapier der CDU liest, wird man sehr schnell feststellen, dass das Wort „Integration“ gar nicht vorkommt. ({3}) Arbeit, Ausbildung, menschenwürdiges Wohnen – Fehlanzeige. Statt Positivmaßnahmen wird einseitig auf Repression gesetzt. (Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig! Dabei sind die meisten Forderungen, die in diesem Werkstattprogramm stehen, längst gültiges Recht. Schon jetzt ist laut Dublin-Verordnung in der EU nur ein einmaliges Asylverfahren möglich. Schon jetzt gibt es Leistungskürzungen und Strafen für Schutzsuchende, die nicht ausreichend an ihrer eigenen Abschiebung mitwirken. Man fragt sich ernsthaft, ob die Union überhaupt ihre eigenen Gesetze kennt. ({4}) Und, meine Damen und Herren, anders als das Werkstattpapier suggeriert, erleben wir bereits seit 2015 eine beispiellose Verschärfung der Asylpolitik. Die von der Bundeskanzlerin eingeforderte „nationale Kraftanstrengung“ bei Abschiebungen führte dabei zu einer deutlichen Verrohung der Abschiebepolitik. Gesetzlich verordnete Überraschungsabschiebungen haben den Effekt, dass sich viele Geflüchtete nachts nicht mehr trauen, einzuschlafen. Andere gehen gleich in die Illegalität. Bei Abschiebungen in bestimmte Zielstaaten, wie Afghanistan oder Tunesien, werden Flüchtlinge routinemäßig mit Gurten, Hand- und Fußfesseln und einem Beißschutz ruhiggestellt, also wie wilde Tiere behandelt. Immer öfter werden kranke und schwer traumatisierte Menschen abgeschoben. Rücksichtslos werden Familien auseinandergerissen. Dazu ein aktuelles Beispiel aus Passau: Eine Familie soll nach Lettland abgeschoben werden. ({5}) Die schwangere Frau wird in Abschiebehaft genommen, ihr Sohn im Vorschulalter bleibt allein zurück und wird ins Waisenhaus gebracht. Der Vater geht aus Angst vor der Abschiebung in die Illegalität. Das ist leider kein Einzelfall. Man könnte stundenlang weiter solche Beispiele nennen. Bei so viel Inhumanität ist eines klar: Christliche Werte können es nicht sein, die Sie mit Ihrem Werteunterricht vermitteln wollen. ({6}) Und, meine Damen und Herren, relevanter als das Werkstattpapier ist ein Referentenentwurf für ein Zweites Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, ({7}) der aus dem Hause Seehofer stammt. ({8}) Abschiebehaft soll exzessiv ausgeweitet werden – im Zweifelsfall ohne richterliche Anordnung. ({9}) Abschiebehäftlinge sollen in normale Gefängnisse gesperrt werden – und dies, obwohl der Europäische Gerichtshof vor fünf Jahren eindeutig geurteilt hat, dass das ein klarer Verstoß gegen Europarecht ist. ({10}) Schließlich sieht dieser Horrorkatalog auch drakonische Strafen für Ehrenamtliche und professionelle Flüchtlingshelfer vor, deren Handlungen – ich zitiere – „auf eine Behinderung der Durchsetzung der Ausreisepflicht zielen“. ({11}) Ein Beispiel: Wer vorab Termine geplanter Sammelabschiebungen nach Afghanistan verbreitet, wer Proteste gegen Abschiebungen in den Krieg organisiert, soll mit einer Haftstrafe von bis zu drei Jahren bestraft werden können. ({12}) – Das passt zu Ihnen. – Das klingt arg nach ungarischen Verhältnissen, meine Damen und Herren von der AfD, ({13}) und die wollen wir hier garantiert nicht haben. ({14}) Meine Damen und Herren, akzeptieren Sie endlich, dass aus Krieg, Armut und politischer Verfolgung Geflüchtete gezwungen wurden, aus ihren Ländern zu fliehen, und häufig nicht zurückkehren können! Repressalien werden nicht zu höheren Ausreisezahlen führen. Das kann man einfach belegen, wenn man mal die Statistiken liest. Die Folgen werden eher sein: Entrechtung, Illegalisierung und Verelendung von Geflüchteten. Glauben Sie mir: Tun Sie endlich was gegen Fluchtursachen, damit die Menschen nicht mehr flüchten müssen! ({15}) Sie liefern nach wie vor Waffen in totalitäre Staaten, die Kriege führen, und die Menschen kommen hierher. Tun Sie vor allen Dingen was für die Integration! ({16}) Dann haben Sie für die Menschen, die geflohen sind, wirklich was Gutes getan. Ich danke Ihnen. ({17})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Filiz Polat, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von Menschen aus der Zivilgesellschaft, die an Ihrem Werkstattgespräch teilgenommen haben, habe ich während Ihrer Tagung einige SMS bekommen, ({0}) und ich las als Kommentare: „Ich dachte, ich bin auf einer AfD-Veranstaltung“ oder „Mir ist schlecht; das Mittagessen lasse ich aus“. ({1}) Dass am Montagabend sogar Beatrix von Storch über Twitter Blumen mit Glückwünschen schickte – ihre Rede hat das ja auch noch mal gezeigt –, sagt schon einiges darüber aus, welche Ergebnisse dort am Montagnachmittag vorgetragen wurden. Das war doch ganz klar – auch von Ihnen, Herr Seif; das hat sich bestätigt – ein Koalitionsangebot von beiden Seiten; Sie haben einen Schulterschluss gemacht. Das ist wirklich sehr, sehr traurig; das ist ein trauriger Tag für Deutschland gewesen. ({2}) Es ist insbesondere für die Migrationsgesellschaft beängstigend, wenn die größte Fraktion im Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren, für ihre Migrationspolitik Applaus von einer Partei bekommt – das haben wir gerade eben bestätigt bekommen –, die vor kurzem zum Prüffall des Bundesamtes für Verfassungsschutz wurde. ({3}) Abschottung, Abschreckung, Abschiebung – die Kollegin Jelpke hat es gesagt –: Das sind und bleiben die Grundpfeiler der Migrations- und Flüchtlingspolitik der Union. So gewinnt man kein Vertrauen zurück, wie Sie das ja versuchen. So gestaltet man keine Einwanderungsgesellschaft. So spaltet man eine Gesellschaft, meine Damen und Herren. ({4}) Das war eine verlorene Chance für einen Neuanfang, den Sie ja machen wollten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie haben jedoch gezeigt, dass Sie sich weiter von der Zivilgesellschaft entfernen. ({5}) Sie entfernen sich von einer Zivilgesellschaft, die sich für eine menschenrechtsorientierte Politik in Deutschland einsetzt. Sie entfernen sich von den Migrantinnenorganisationen, die diese Migrationsgesellschaft mitgestalten wollen. Sie entfernen sich von den „neuen deutschen organisationen“, von den Gewerkschaften, von den Wohlfahrtsverbänden, von den vielen Unternehmen, die Ihnen jetzt Briefe für ein Bleiberecht von Geduldeten schreiben. Sie entfernen sich von den Kirchengemeinden, der Bürger/-innenbewegung, der Seebrücke, den Kommunen, die zu Städten der Zuflucht werden. Es werden immer mehr, meine Damen und Herren. Reihen Sie sich bei #unteilbar mit der Botschaft „Teilhabe statt Ausgrenzung“ ein! ({6}) Frau Jelpke hat es gesagt: Mit dem neuen Referentenentwurf – das ist nur ein Punkt, den ich herausgreife, weil er die Spitze des Eisbergs ist – gießt die Union ihren Angriff auf die Zivilgesellschaft – anders kann man das nicht nennen – ({7}) und auf die Geflüchteten und Geduldeten in diesem Land in Gesetzesform. Kirchengemeinden und Flüchtlingsinitiativen, die sich aus gutem Grund gegen eine Abschiebung – zum Beispiel nach Afghanistan – engagieren, ({8}) drohen Sie jetzt – Frau Kollegin Jelpke hat es gesagt – mit einer Gefängnishaft von bis zu drei Jahren. Das kann nicht Ihr Ernst sein, meine Damen und Herren. ({9}) Sie verabschieden sich von unserem Rechtsstaat. ({10}) Nur weil bei Ihnen die Stimmung schlecht ist, müssen Sie die Stimmung in Deutschland nicht schlechtreden. In den letzten Monaten haben doch mehrere Studien gezeigt, dass die Mehrzahl der Menschen in Deutschland die Vielfalt unserer Einwanderungsgesellschaft positiv betrachtet ({11}) und dass die Mehrzahl der Menschen in Deutschland beim Thema Integration optimistisch ist und findet, dass Geflüchtete zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen werden – ({12}) so jüngst noch eine Studie der Stiftung Mercator, und der Sachverständigenrat sagt das auch. ({13}) Meine Damen und Herren, warum redet die Union Deutschland denn so schlecht? ({14}) Warum honorieren Sie nicht das Engagement der Zivilgesellschaft und Geflüchteten, statt sie mit Ihrer unsäglichen Bürokratie weiter zu frustrieren? Frau Amtsberg spricht in jeder Innenausschusssitzung an, dass die Reform des BAMF dringend notwendig ist. Warum bestrafen Sie die Unternehmen, die Sie 2015 aufgerufen haben, Geflüchtete zu integrieren, indem Sie ihnen jetzt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von der Werkbank weg abschieben? Warum schauen Sie nicht endlich nach vorne und machen Schluss mit Ihrer toxischen Beziehung zu Ihrer Vergangenheit? Dieses Land braucht eine inklusive Integrationsoffensive, die gesellschaftliche und politische Teilhabe für alle ermöglicht. ({15}) Dafür brauchen wir endlich die notwendigen Reformen und den erforderlichen Bürokratieabbau im Integrationsbereich. Dafür brauchen wir ein verbessertes Bleiberecht für Geflüchtete, und dafür brauchen wir, meine Damen und Herren – das geht auch in Richtung SPD –, ein Einwanderungsgesetz, das seinen Namen auch verdient. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, suchen Sie nicht weiter den Schulterschluss mit der Politik der AfD! Richten Sie den Blick endlich nach vorne, und stellen Sie die Weichen für positive und pragmatische Lösungen! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Dass die AfD sich heute ausnahmsweise mit Politik in der Sache befasst und von uns die Konzeption für die Weiterentwicklung der Asylpolitik und damit verbunden der Migrations- und Sicherheitspolitik hören möchte, ist nur halb so lustig, wie dass sich die Grünen auf die Zivilgesellschaft berufen – das ist wirklich nur halb so lustig –, auf eine Zivilgesellschaft, liebe Frau Kollegin Polat, der Sie vielleicht mal Ihr Abstimmungsverhalten im Bundesrat erklären sollten, der Sie vielleicht mal Ihre Konzeption eines Bleiberechts für alle erklären sollten, auf eine Zivilgesellschaft, der Sie vielleicht auch einmal erklären können, dass es in Ihren Reihen immer noch Kolleginnen und Kollegen gibt, die sich aktiv an der Verhinderung der Durchsetzung rechtsstaatlicher Maßnahmen beteiligen. ({0}) Dass Sie sich auf diese Zivilgesellschaft berufen haben, war wirklich witzig. Das ist wirklich genau mein Humor! Ich sage Ihnen von daher, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Hilfe in der Not muss gewährleistet sein, und der Schutz unserer Sicherheit und unserer nationalen Interessen muss ebenso gewährleistet sein. Vernachlässigen wir Zweiteres, gefährden wir Ersteres. Deshalb fasst die Formulierung „Humanität und Härte“ von Annegret Kramp-Karrenbauer präzise zusammen, ({1}) worum es uns in der Union geht: unsere humanitäre Hilfe für diejenigen, die sie dringend brauchen, zu erhalten, indem wir mit Härte gegen diejenigen vorgehen, die sie missbrauchen. Meine Damen und Herren, Sie entnehmen bitte der ungewöhnlichen Tatsache, dass ein Vertreter der CSU zustimmend die Vorsitzende der CDU zitiert, welche überaus positiven Kräfte in der Union dadurch entfesselt worden sind, ({2}) dass nach einer personellen Neuaufstellung in beiden Unionsparteien auch inhaltlich ein so intensiver Diskussionsprozess in Gang gekommen ist, wie er jetzt bei den Werkstattgesprächen öffentlich sichtbar geworden ist. ({3}) Wir haben als Union in den letzten Jahren mit einer Reihe von Maßnahmen dafür gesorgt, dass sich unter den gegebenen Umständen 2015 tatsächlich nicht mehr wiederholt hat. Und es geht jetzt darum, dafür zu sorgen, dass sich 2015 auch unter schwieriger werdenden Umständen in der Welt nicht nur nicht mehr wiederholt, sondern sich auch gar nicht mehr wiederholen kann. Diese nächste Phase, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nun eingeleitet worden mit der Klausur der CSU-Landesgruppe im Kloster Seeon, auf der die CDU-Vorsitzende zu sehr guten Gesprächen zu ebendiesem Thema zu Gast war, und jetzt im Gegenzug mit den CDU-Werkstattgesprächen unter Beteiligung von Vertretern der CSU. ({4}) Mit dieser Aufstellung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Union Impulsgeber, Motor und Garant für eine Asylpolitik, die verantwortlich handelt, die die Interessen Deutschlands und seiner einheimischen Bevölkerung im Blick hat ({5}) und die dabei dennoch bzw. gerade deswegen ihr menschliches Gesicht bewahrt. Wir wollen dabei ganz bewusst auf eine Doppelstrategie mit europäischen Maßnahmen und nationalen Maßnahmen setzen. Das Asylrecht muss in der Not helfen, so lange bis die Not beendet, sprich: eine Rückkehr möglich ist. Aber das Asylrecht ist kein Reiserecht innerhalb der Europäischen Union. ({6}) Deshalb müssen wir nicht nur die EU-Außengrenzen schützen, sondern auch weiterhin sehr entschieden die Sekundär- und die Binnenmigration bekämpfen. Deshalb wollen wir, dass es in der EU nur ein einmaliges Asylverfahren für einen Asylbewerber geben darf. Antragstellungen in mehreren Ländern müssen ausgeschlossen sein. ({7}) Dazu brauchen wir ein umfassendes elektronisches Ein- und Ausreiseregister und ein einheitliches Datensystem für die Behörden, national und auch international. ({8}) Wir wollen Frontex so schnell wie möglich zu einer operativen Grenzpolizei ausbauen. Aber gleichzeitig – auch das sage ich ganz deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen – muss damit eine Systemänderung einhergehen: Eine personelle Aufrüstung von Frontex muss, wenn sie nutzbringend sein soll, mit einem entsprechenden Werkzeugkasten dieser Kräfte einhergehen. Das Transitverfahren, wie wir es im letzten Jahr für die Binnengrenzen erarbeitet haben, muss auch an der EU-Außengrenze zur Anwendung kommen. Bereits an der Schengen-Grenze muss geprüft werden, ob ein Asylanspruch, ein Flüchtlingsstatus oder ein anderer Einreisegrund vorliegt, ({9}) und notfalls die Zurückweisung oder Rückführung vorgenommen werden. Gleiches, liebe Kolleginnen und Kollegen – damit komme ich zum Schluss –, gilt für das im letzten Jahr etablierte Transitverfahren an den nationalen Binnengrenzen, das wir ebenfalls weiter ausbauen wollen. Ich sage Ihnen zum Schluss: Wir können weiterhin auf die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung nur dann setzen, wenn wir die Eintrittskarte in das Bundesgebiet nicht auf das zur Hilfe in der Not absolut notwendige Maß beschränken. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat nun das Wort der Kollege Dr. Gottfried Curio. ({0})

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Wochenende haben die GroKo-Parteien ihre Wählertäuschungswerkstätten abgehalten. SPD und CDU in der Traumatherapiegruppe: Die SPD blinkt links, schwenkt die sozialpolitische Gießkanne; ({0}) der Bürger darf blechen, damit ihre Prozente steigen. Die Union blinkt rechts, will Merkels Migrationskatastro­phe aufarbeiten. Eine „einmalige Ausnahmesituation“, wird da behauptet; ein Dauerzustand des Rechtsbruchs bleibt etabliert. Der Koalitionsvertrag erwartet einfach Hunderttausende. Die Grenze wird bewusst weiter offengehalten – monatlich kommen 13 000. Man versichert, man habe nichts falsch gemacht, werde aber nie mehr so handeln. – Das klingt schon mal überzeugend. Was für ein Schauspiel, meine Damen und Herren! ({1}) Jede Menge Symptomdoktorei, statt der großen Abwesenden beizeiten die Richtlinienkompetenz zu entziehen. Der Elefant im Raum wird ausgeblendet. Sein gigantischer Rüssel – Problem der Grenzöffnung – bleibt ausgeblendet. Seine riesigen Ohren – Problem der europäischen Verteilung –: ausgeblendet. Die Analyse entspricht dann aber auffallend der der AfD: Fluchtursachenbekämpfung wegen Größenordnung aussichtslos; Abkommen mit Herkunfts- und Transitländern ebenso – die handeln nach Eigeninteresse –; Integration, heißt es, wegen wachsender Masse und Kulturfremdheit eigentlich gescheitert. Nach geltendem Recht hätten die Migranten gar nicht bis nach Deutschland kommen dürfen: Kriegsflucht endet im Nachbarland; bei temporärem Schutz sind Integration und Nachzug kein Anrecht. ({2}) Aber die sogenannten Praktiker schlagen dann vor: nur Kleinstreparaturen, Schaufensterabsichtserklärungen für den Wahlkampf Ost – ein schlechter Minimalabklatsch von AfD-Forderungen, dünne blaue Schminke auf pechschwarzem Grund. ({3}) „Praktiker“, das soll suggerieren: Es geht nur noch um ein paar Einzelmaßnahmen, nicht mehr um das Ob dieser Politik, sondern nur noch um das Wie ihrer Fortsetzung: Wo adjustieren wir im Kleinen, damit wir im Großen so weitermachen können? Aber: Unberechtigte nicht erst reinzulassen, die man sonst nicht mehr rauskriegt, das wäre praktisch, meine Damen und Herren. ({4}) Noch immer hören wir die Floskel „Frontex stärken“, obwohl unverblümt zugegeben wird: Außengrenzschutz heißt nicht: Grenzen sichern. Wie wahr! Dort tätige Beamte dürfen nur durchwinken – frustrierte Portiers der EU. Schutz geht anders. Noch immer wird das deutsche Asylanspruchsrecht glorifiziert, obwohl diese weltweit einmalige Sonderregelung, vielhunderttausendfach missbraucht, die deutsche Justiz zum Kollaps bringt. Alle rein, auf Teufel komm raus – so bringt ein hypermoralisierendes Deutschland sich selbst um. Aber diesen Leuten ist Ideologie wichtiger als Funktionieren des Staates. ({5}) Die Flickschusterei ist aber am Ende. Beschäftigungsduldung? Schafft neue Anreize. Sekundärmigration? Wieder neue Verfahren. Schlechte Bleibeperspektive? Dennoch dezentrale Unterbringung. AnKER-Zentren? Klappt nicht. Nationale Kraftanstrengung bei Abschiebungen? In Ba-Wü scheitern zwei Drittel davon. Dublin-Rückführungen? Die erzeugen einen Drehtüreffekt. Es gibt Welcome Partys für Leute, die, kaum abgeschoben, gleich wieder einreisen. Nach zehn Tagen sind 90 Prozent wieder da. Irrenhaus Deutschland ({6}) im Jahre 13 nach Merkel. ({7}) Im Lichte dieser vernichtenden Selbstanalyse der Union fordern wir umso deutlicher: Schluss mit Souveränitätsabbau – sofort! Rückkehr zum geltenden Recht – jetzt! Grenzsicherung – inklusive Zurückweisung! Bei Kriminalität und Identitätsbetrug kein Anrecht auf Schutz – Ausweisung! Bei Abtauchen und Widerstand gegen Abschiebung – Ende der Sozialleistungen! Das, meine Damen und Herren, bringt das Vertrauen der Bevölkerung zurück, nicht ein Stuhlkreis zur Wählertäuschung. ({8}) Aber Frau Widmann-Mauz will ohne Ansehen der Aufenthaltsberechtigung alle integrieren. Die Werte unseres Grundgesetzes werde man im Kindergarten vermitteln. Klappt ja auch super: Die Kleinsten bleiben unter sich, sprechen ihre Sprache, erschweren Lernerfolge aller Schüler und mobben später oft deutsche Kinder. Aber dann als Ziel: baldigste deutsche Staatsbürgerschaft. Wenn man die dann verschenkt hat, hätten wir ja ein Bekenntnis zu Deutschland von den Leuten bekommen, heißt es. Das heißt: weiterhin Politik gegen die eigenen Bürger. Euro, Einwanderung, Bundeswehr, Diesel, Energie: Bei Merkels Totalschaden hilft auch der Gang in die Werkstatt nicht mehr zum Reparieren. Da braucht es einen Neustart. Die Bürger spüren: Mehr denn je braucht es eine echte Alternative, eine Alternative für Deutschland, meine Damen und Herren! ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD hat das Wort der Kollege Helge Lindh. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Curio, wieso sind Sie immer so angestrengt und unentspannt in Ihren Hassetüden? Ich verstehe das gar nicht. Es müssen zu viele Stuhlkreise gewesen sein; anders kann ich es mir nicht erklären. ({0}) Sehr geehrte Damen und Herren, wir Sozialdemokraten sind zwar nicht in der Seele, aber im Verstand konservativ. ({1}) – Zur Freude der AfD konservativ. ({2}) Deshalb bewahren wir unsere Grundsätze. Einer dieser Grundsätze lautet, dass gewiss nicht Migration und Asyl die Mutter aller Probleme sind. So wenig wie Migration und Asyl die Lösung aller Probleme sind, ({3}) so wenig sind die Einschränkung und Verhinderung von Migration und Asyl die Lösung aller Probleme; denn Politik ist viel umfassender. Wir brauchen mehr denn je eine umfassende Gesellschaftspolitik, sehr geehrte Damen und Herren. ({4}) Der zweite Grundsatz lautet: Prinzip Würde. Die antragstellende Fraktion begann einst ihre Karriere damit, gegen die Währung des Euro, gegen Europa usw. Stimmung zu machen. ({5}) Dann zeichnete sich die Radikalisierung ab, indem Sie gegen eine andere Währung Stimmung machen; denn die Währung einer freien, offenen Gesellschaft ist die Würde. Sie führen einen Feldzug gegen die Würde. Das ist ziemlich erbärmlich und äußerst würdelos. ({6}) Fazit: Diese Aktuelle Stunde wie auch Ihre Fraktion sind überflüssig. ({7}) Warum haben wir sie heute? Die Instrumente der Werkstattgespräche, die heute Thema sind, sind, soweit sie Sinn machen, weitgehend bekannt. Wir haben sie gesetzlich umgesetzt, oder sie sind in Arbeit. ({8}) Alles Weitere, die zentralen Aufgaben, beruht darin, diese Maßnahmen endlich umzusetzen. Das ist die eigentliche politische Aufgabe; ({9}) das Bundesinnenministerium ist dazu aufgefordert. ({10}) Ich hörte dann eben auch, es gehe darum, die konservative Seele zu versöhnen. Das kann als Selbstbeschäftigung und auch als Vergangenheitsbewältigung wichtig sein. Wichtiger aber, als unsere eigenen Seelen zu versöhnen, ist, dieses Land da, wo es gespalten ist, mit sich selbst zu versöhnen. ({11}) Das ist nämlich unser aller Aufgabe, denke ich. ({12}) Ich höre weiterhin, es gehe um Humanität und Härte. Ganz sachlich als Innenpolitiker: Ich kann nachvollziehen, wenn wir bei innerer Sicherheit über Härte, besser vielleicht über Konsequenz, weil es pragmatischer ist, in der Verfolgung von Straftätern sprechen. Aber ob berechtigt oder auch unberechtigt, den Anspruch zu erheben, Schutz zu finden, ist aus meiner Sicht noch kein Verbrechen. Deshalb verstehe ich nicht, warum wir hier von Härte sprechen. ({13}) Ein weiterer Punkt. Ich hörte von Herrn Strobl, grün-schwarze Regierung in Baden-Württemberg, es ginge darum, zu verhindern, dass Welcome Partys in Aufnahmeeinrichtungen stattfinden würden. Bei aller Abwägung finde ich es immer noch besser, dass wir, wenn vielleicht auch übertrieben, euphorische Welcome Partys haben als geballte Fäuste und Steinewürfe vor Bussen mit verängstigten Flüchtlingen. Ich glaube, das ist das Angemessenere. ({14}) Sehr geehrte Damen und Herren, es geht doch eigentlich um was ganz anderes. Ich glaube dem, was ich hier erlebe, nicht; ich bin völlig verwirrt. ({15}) – Ja, ich erlebe, dass wir dank Ihrer Aufträge, vor allem Ihrer Gesetzentwürfe und Anträge, unendlich viel Zeit damit verbringen, uns aufgrund dieses angeblichen Schreckens im September 2015 zu beweinen. Ich denke, das ist eine krasse Fehlerzählung. ({16}) Ich finde nämlich, wir bräuchten eine, nein, besser fünf oder noch mehr Aktuelle Stunden, um uns zu verneigen: vor den unzähligen und auch jetzt noch zutiefst engagiert arbeitenden Ehrenamtlichen, die sich aus Überzeugung um geflüchtete Menschen kümmern. ({17}) Wir brauchen die Aktuellen Stunden, um zu danken: den Polizistinnen und Polizisten, den Kindergärtnerinnen, den Lehrern und Lehrerinnen. Das wäre die eigentliche Aufgabe. Darüber sollten wir an dieser Stelle sprechen ({18}) und nicht über vermeintliche Fehlerbewältigung und Ihre schlecht gemachten rhetorischen Übungen in Hass. ({19}) Noch ein Weiteres. Ich habe in der Vergangenheit mal über Menschen berichtet, die in meiner Heimatstadt Wuppertal sozial am Rande leben und deren Haus explodiert ist. Ich habe über ihre Wut und Verzweiflung angesichts ihrer Situation berichtet, auch über ihre Wut auf Geflüchtete im Heim nebenan. Die Antwort der AfD darauf lautet: Die Flüchtlinge von 2015, 2019 und 2021 sind daran schuld, dass ihr 2009 aufgrund des Strukturwandels eure Arbeit verloren habt. ({20}) Sehr geehrte Damen und Herren, das ist nicht nur eine logische Zumutung. Das ist zutiefst zynisch. Das ist das Ende der Politik. Der Anfang der Politik ist das Sozialministerium unter Hubertus Heil; denn er vermittelt den Menschen nicht solche Lügen, sondern er verbessert mit seinem Vorschlag zur Grundrente konkret die Situation dieser einzelnen Menschen. Er schürt eben nicht Hass, sondern kümmert sich um sie. ({21}) Es ist ziemlich erbärmlich, die Situation von Menschen dadurch besser machen zu wollen, dass man die Situation der Ärmsten schlechter macht. Nein, das ist nicht unsere Aufgabe.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Unsere Aufgabe ist es nicht, zu entsöhnen, sondern zu versöhnen. Ich sage es mit den Worten von Johannes Rau, einige hundert Meter von hier entfernt gesprochen im Jahr 2000: ohne Angst und ohne Träumereien. Das ist die Aufgabe. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion: der Kollege Marian Wendt. ({0})

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die Debatte hat wieder eins gezeigt: Die AfD hat mächtig Angst; ({0}) denn ihr bisheriges Feindbild, auf das Sie sich eingeschworen haben, ist bald nicht mehr da. Spätestens 2021 wird Frau Merkel nicht mehr Kanzlerin sein; das hat sie selber gesagt. ({1}) Und Sie haben Angst – das haben Ihre Reden gezeigt –; denn Sie wissen eins: Die Werkstattgespräche der CDU waren ein großer Erfolg. Über Unionsgrenzen hinweg hatten sie eine Strahlkraft, von der wir profitieren werden. ({2}) Deswegen haben Sie Angst. Das zeigt uns: Wir als Union sind auf dem richtigen Weg. ({3}) Wir haben ein Zeichen gesetzt, dass es innerhalb der Union eine hohe Debattenkultur gibt. Ich glaube, wir sind uns einig: Die Situation aus 2015 darf und wird sich nicht wiederholen. ({4}) Nun ist es so, dass wir kritikfähig sind. Wir haben aus dem Jahr, in dem diese Ereignisse geschehen sind – 2015 ist immer das Sinnbild –, bereits Lehren gezogen. Ich darf das noch mal in Erinnerung rufen – Zeit ist ja vergänglich –: 2015 trat das Asylpaket I in Kraft. Länder und Kommunen wurden entlastet, Asylverfahren beschleunigt und Fehlanreize deutlich reduziert. ({5}) Im Februar 2016 kam das Datenaustauschverbesserungsgesetz, ein Novum in unserer Bundesrepublik: medienbruchfreie Kommunikation, Einführung des Ankunftsnachweises, Digitalisierung des Asylverfahrens mit komplett neuer Hard- und Software. ({6}) Asylpaket II 2016 – hört! hört! –: die Bundespolizei bei der Passersatzbeschaffung gestärkt, Familiennachzug für sekundär Geschützte gedeckelt. Ich erinnere auch an die Einführung der Obergrenze, die wir im August 2018 beschlossen haben. Die freiwillige Rückkehr wurde angekurbelt. ({7}) – Schauen Sie sich die Zahlen an. Ich weiß, Sie argumentieren meistens faktenbefreit, aber als Union halten wir uns an die Wahrheit und die reinen Fakten. ({8}) Wir haben die Aufnahmebereitschaft der Herkunftsländer an die Entwicklungshilfe gekoppelt. Und – hört! hört! – das hat sogar zu Erfolgen geführt. Das mag Ihnen nicht schmecken. Ich möchte Ihnen nur einmal die Zahlen sagen. Asylanträge 2015: 476 000; ({9}) 2016: 722 000. Aber – da fangen unsere Maßnahmen an zu wirken – ({10}) 2017: nur noch 198 000 Asylanträge. Das heißt eine Reduzierung um über 500 000 Asylanträge innerhalb eines Jahres. ({11}) Und 2018: 161 000 Asylanträge in unserem Land. ({12}) Das heißt, wir als Große Koalition sind auf einem guten Weg und werden ihm weiter folgen. ({13}) Nun haben wir das Werkstattgespräch durchgeführt; denn wir blicken auch in die Zukunft. ({14}) Wir wissen, dass wir auch weiterhin einem erhöhten Flüchtlingsdruck ausgesetzt sind. Deswegen haben wir einen strategischen Blick dafür entwickelt. ({15}) Für uns als Union ist klar: Asylpolitisch sind eben Lesbos, Gibraltar und Sizilien Deutschlands Außengrenze. Ich bin der Meinung: Wir müssen es schaffen, die Zahl von aktuell 500 Asylanträgen pro Tag weiter zu reduzieren. ({16}) Aus unserer Sicht wäre es sehr hilfreich – wir setzen uns als Union dafür ein –, dass Georgien und die Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsländer eingestuft werden. Wenn wir von Zivilgesellschaft und Rechtsstaat sprechen, liebe Grünen, wäre es wirklich von Vorteil, wenn wir diesen Rechtsstaat auch einmal durchsetzen und die Menschen, die nun wirklich gar keine Aussicht auf Asyl haben – die Ergebnisse der Bescheide belegen das ja –, abschieben. Wir müssen dem einen klaren Riegel vorschieben und die Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen. ({17}) Deswegen unsere Aufforderung: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zur Einstufung als sichere Herkunftsstaaten im Bundesrat zu. ({18}) Meine Damen und Herren, ich kann es nur noch einmal kursorisch sagen; denn wir debattieren hier jede Woche über dieses Thema. Wir haben einen Masterplan des Bundesinnenministers, der in der Umsetzung ist. Wir haben die AnKER-Zentren eröffnet. Für uns als Union ist vollkommen klar: Im AnKER-Zentrum wird das Verfahren durchgeführt, und man verlässt das AnKER-Zentrum entweder, weil man ein Bleiberecht hat – dann geht man zur Integration in die Kommunen –, oder, weil man abgeschoben wird und ins Heimatland zurückkehrt. ({19}) An diesem Ziel arbeiten wir weiter. Wir arbeiten an der Verringerung der Unterschiede in der Asylpraxis zwischen den Bundesländern. Wir arbeiten an der Beseitigung der unzureichenden Digitalisierung im Asylverfahren. Und: Ja, wir müssen, glaube ich, das Ziel verfolgen, eine nationale Einwanderungs- und Ausländerbehörde zu schaffen. Damit können wir insgesamt punkten und unserem Ziel einer gesteuerten, geordneten Migration näher kommen. ({20}) Nun will ich Ihnen zum Schluss noch sagen, warum gerade Die Linke und die AfD überhaupt nicht geeignet sind, bei diesem Thema mitzureden: weil sie total unglaubwürdig sind. ({21}) Berlin, wo Die Linke mit Verantwortung trägt, verweigert sich geradezu, Abschiebungen überhaupt durchzuführen und Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen. Es ist ein Trauerspiel, dass in Fällen, in denen die Verwaltungsgerichte geurteilt haben, Leute nicht abgeschoben werden. Deswegen ist es richtig, dass hier der Bund die Kompetenzen an sich zieht. Sie von der AfD gebärden sich immer als große Rechtsstaatsbringer. Ich erinnere an Ihren Kollegen Nolte. Jan Nolte, allen bekannt, hat ja einen Freund von Franco A. beschäftigt. ({22}) Ich glaube, solange Sie Ihr Verhältnis zu dem Soldaten Franco A. und seinem Komplizen, der von Ihrem Kollegen beschäftigt wird, nicht geraderücken, sollten Sie beim Thema Asyl einfach mal ruhig sein. ({23}) Vielen Dank. ({24})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die SPD-Fraktion: der Kollege Sebastian Hartmann. ({0})

Sebastian Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herzlichen Glückwunsch an die Union! Glauben Sie eigentlich nach dieser Aktuellen Stunde, dass es eine schlaue Idee war, drei Jahre nach 2015 ein Werkstattgespräch zum Thema Migration durchzuführen? ({0}) Sie haben gut hundert Leute zusammengerufen und am Ende hier im Plenum etwas aufgeführt, das sich echt sehen lassen kann. Wenn Sie die Geschichte schon nicht richtig erzählen, dann erinnere ich einmal daran, dass der ehemalige Innenminister Thomas de Maizière in dieser Woche ein Buch vorgestellt hat, in dem er das, was der jetzige Innenminister, ein CSU-Mann, mit Blick auf die damaligen Verhältnisse als „Herrschaft des Unrechts“ bezeichnet hat, ({1}) „ehrabschneidend“ genannt hat. Sie haben damit ein Thema aufgegriffen, von dem wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gedacht haben, dass wir es in der vergangenen Legislaturperiode auf einen guten Weg gebracht haben, dass wir es geordnet haben. ({2}) Sie müssen sich auch den Vorwurf gefallen lassen, dass Sie seit 2005 den deutschen Innenminister stellen und immer wieder die Verantwortung für die Migrationspolitik wegschieben, weil Sie von den wahren Problemen dieses Landes ablenken wollen. ({3}) Sie haben damit der AfD eine Steilvorlage geboten. Ich sage Ihnen in aller Klarheit: Ich würde mir wünschen, wenn Sie nur einen Bruchteil Ihres Engagements, das Sie im Kampf gegen Flüchtlinge aufbringen, auch einmal im Kampf gegen Steuerflüchtlinge einsetzen würden. ({4}) Denn darum geht es in unserem Land: Es geht nicht um die Frage der Pässe, sondern es geht auch um die Frage von oben und unten, von Arm und Reich, von Menschen mit Chancen und ohne Chancen in diesem Land. Kümmern Sie sich um die wahren Probleme in diesem Land. Darum hat sich die SPD am vergangenen Wochenende gekümmert. Während Sie in der Werkstatt saßen und sich über irgendetwas unterhalten haben, was Sie als Migrationspolitik der Vergangenheit bezeichnet haben, haben wir uns darum gekümmert, die wahren Probleme der Menschen in ihrem realen Leben zu lösen. Das ist gute Politik in diesem Land. ({5}) Glauben Sie denn – ich schaue dabei auf die Menschen, die ich als Gäste hier im Haus auf den Tribünen begrüße –, dass es irgendjemandem besser geht mit seiner Wohnung, wenn Sie weiter solche Selbstgespräche führen? Wir wollen Wohnen bezahlbar machen. Glauben Sie, dass die Perspektiven für 3 bis 4 Millionen Menschen besser werden, wenn Sie die Einführung einer Grundrente ohne Bedürfnisprüfung mit der Begründung blockieren, dass das keine Frage für die CDU/CSU ist? ({6}) Geben Sie den Widerstand auf, und machen Sie endlich wieder Politik für die vielen in diesem Land und nicht die wenigen, meine Damen und Herren! ({7}) Und wenn wir schon dabei sind: Wir wollen Wohnen bezahlbar machen. Wir wollen, dass es eine vernünftige Rente gibt. Sie haben aber das Thema Migration aufgemacht, und die AfD ist dabei willfähriger Helfer. Sie vernebeln die wahren Probleme. ({8}) Sie kümmern sich nur um die Fragen der Migration und um alles andere nicht. Sie lenken davon ab, dass es in diesem Land nicht gerecht zugeht. ({9}) Überlegen Sie sich mal, wessen Geschäft Sie hier betreiben. Sie reden nicht über die Steuerflucht. Sie reden nicht darüber, dass Banken sich nicht an die Regeln des Wirtschaftssystems halten. ({10}) Sie verhindern, dass die Mitte der Gesellschaft endlich wieder Anteil daran hat, dass es in diesem Land gerechter zugeht. Schaffung von Gerechtigkeit ist die Linie der Sozialdemokratie. ({11}) Wir kümmern uns um Arbeitsplätze, die gut bezahlt sind. Wir kümmern uns um Wohnen, das bezahlbar ist. ({12}) Wir kümmern uns um die Grundrente. ({13}) Wir kümmern uns auch um bezahlbare Energie, ({14}) und wir kümmern uns darum, dass der Klimawandel nicht dafür sorgt, dass alle absaufen. Meine Damen und Herren, das ist verantwortungsvolle Politik, die die realen Probleme von realen Menschen in den Mittelpunkt rückt und nicht ständig ablenkt. Liebe Kollegen von der CDU/CSU, wenn ihr meint, mit uns einen Koalitionsvertrag schließen zu können und ihn dann beim Thema Migration, das so genau geregelt ist wie kein anderes Thema, ändern zu können, dann sage ich: Früher aufstehen, besser aufpassen! Das ist geregelt. Da könnt ihr so oft, wie ihr wollt, in die Werkstatt fahren. So geht es nicht. ({15}) Meine Damen und Herren, wir haben um diese Aktuelle Stunde nicht gebeten. Es ist die Idee einer anderen Fraktion gewesen. Aber das Wunderbare an Politik ist: Politische Positionen werden wieder klar unterscheidbar. Das brauchen wir nach dem Katastrophenjahr 2018, das insbesondere die CSU und Horst Seehofer zu verantworten haben. Jetzt können wir Politik wieder unterscheidbar machen. Das geht auch in einer Großen Koalition ({16}) mit einem klaren Profil einer linken, progressiven Sozialdemokratie, einer Volkspartei, ({17}) die sich um die wahren Probleme der Menschen kümmert. Das ist die Linie. Sie lachen noch. Wir haben den Erfolg. Detlef Seif hat von der EVP gesprochen. Zur EVP gehört Viktor Orban. Der ist bei euch in der Parteienfamilie. Das müsst ihr verantworten bei der Europawahl. ({18}) Wir haben eine andere Linie. Wir kümmern uns um die Menschen in diesem Land. Herzlichen Dank. Glück auf! ({19})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Alexander Throm, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Was können wir am Ende dieser Aktuellen Stunde festhalten? Die CDU veranstaltet ein Werkstattgespräch, ({0}) die AfD beantragt eine Aktuelle Stunde, und von links bis rechts schreien alle auf. ({1}) Das heißt, wir haben als Union etwas richtig gemacht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Zur FDP. Frau Kollegin Teuteberg, es ist schon recht, wenn Sie hier versuchen, Kritik zu üben. ({3}) – Keine Sorge, warten Sie es ab. Immer an der richtigen Stelle. – ({4}) Die Kollegin Teuteberg hat versucht, Kritik zu üben. Nur, wenn Sie Kritik daran üben, dass es schwierig ist, mit den Grünen im Bundesrat die Einstufung von Ländern als sichere Herkunftsländer zu beschließen, ({5}) dann ist das Problem, dass auch Sie – zumindest in zwei Ländern – mit den Grünen in Koalitionen stehen und Sie es auch nicht durchsetzen können. Das heißt, Sie sollten, wenn Sie im Glashaus sitzen, nicht mit Steinen werfen. ({6}) Es wurde gesagt, dass wir die Lehren aus 2015 gezogen haben. Es wurde viel erreicht; aber das Thema „Steuerung, Begrenzung der Migration“ ist eine Dauerbaustelle. Deswegen auch die Bezeichnung „Werkstattgespräch“. Es ist wichtig und gut, dass wir uns heute, im Jahr 2019, ({7}) nach dem Start einer neuen Parteivorsitzenden, intensiv darüber unterhalten, Bilanz ziehen und Ausblick geben, wie wir die Situation in der Zukunft noch verbessern wollen. Denn wir stellen fest: In der Praxis ist das eine oder andere Werkzeug, das wir haben, stumpf oder stumpf geworden. Deswegen haben wir die Werkzeuge nachgeschliffen und teilweise unseren Werkzeugkasten aufgefüllt. Die Kollegen der SPD – jetzt kommt die Erwiderung – haben heute nur eines gezeigt: ({8}) Sie reden bei einem Tagesordnungspunkt, wo es um die Migration geht und darum, welche Konsequenzen dies für die Bundesregierung hat, nicht über dieses Thema. Sie reden über Rente und Wohnen – alles wichtige Themen –, ({9}) aber Sie haben Ihr Thema verfehlt, liebe Kollegen. Ihr Werkzeugkasten zur Steuerung der Migration ist offensichtlich leer. ({10}) Insofern kann ich nur allen Parteien – auch Ihnen und insbesondere den Grünen – empfehlen, sich einmal mit den Praktikern zusammenzusetzen. Ich war dabei. Das war hochinteressant. Sie sollten eben nicht nur diejenigen einladen, Frau Kollegin Polat, die Ihnen SMS schicken, sondern auch diejenigen, die Ihnen nicht nach dem Munde reden, diejenigen, die vielleicht mal eine andere Sicht der Dinge für Sie bringen. Dann ist das auch eine gewinnbringende Angelegenheit. ({11}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will auf ein Kernproblem hinweisen. Die Mehrheit derjenigen, die zu uns kommen und Schutz suchen, ist am Ende der Tage nicht schutzberechtigt. ({12}) 2017 wurden 60 Prozent, 2018 wurden 65 Prozent der Flüchtlinge nicht anerkannt. Diese Mehrheit der Flüchtlinge müsste wieder ausreisen ({13}) – das sagen selbst die Grünen –, sie tun es nur nicht. Wir haben heute 235 000 abgelehnte ausreisepflichtige Asylbewerber in Deutschland. 170 000 davon haben eine Duldung. Die Duldung selbst ändert normalerweise nichts an der Ausreisepflicht. Sie bedeutet nur, dass die Zwangsmaßnahme zeitweise ausgesetzt ist. Eigentlich sollte diese Duldung der Ausnahmefall sein, laut unserem Gesetz. ({14}) Tatsächlich ist sie zum Regelfall geworden. Unser Ziel als Union ist, dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis wieder richtig herzustellen. Wer rechtskräftig abgelehnt wurde, muss Deutschland in der Regel auch wieder verlassen. Liebe Frau Kollegin Polat, Sie und auch Ihre Parteivorsitzende Baerbock, die in diesem Jahr immer propagiert, dass wir den Rechtsstaat durchsetzen müssen, sind herzlich aufgefordert, an dieser Durchsetzung des Rechtsstaates auch mitzuarbeiten. ({15}) Denn das, was wir heute erleben – das wurde von Praktikern so bezeichnet –, ist ein Abschiebedebakel. Die meisten eingeleiteten Abschiebungen enden im Versuch, sie scheitern. Das führt zu Frust bei allen aktiven Beteiligten. Sprechen Sie auch einmal mit den Bundespolizistinnen und Bundespolizisten, mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Ausländerbehörden. Deshalb müssen wir hier aktiv werden, und das werden wir tun. Wenn gefragt wurde, insbesondere liebe Kollegen der SPD, welche Konsequenz das Werkstattgespräch hat – das ist Thema dieses Tagesordnungspunkts –, dann ist es die, dass wir auch mit unseren neuen Werkzeugen, mit den Vorschlägen, auf die wir uns konzentriert und festgelegt haben, das Gespräch mit Ihnen suchen und Ihnen auch die Möglichkeit geben, Ihren Werkzeugkasten ein bisschen aufzufüllen. ({16}) Wir werden dies in allernächster Zeit tun, indem wir das zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht einbringen werden und mit Ihnen gemeinsam eine vernünftige Gesetzgebung hier im Bundestag machen. ({17}) Ich freue mich auf die Abstimmung mit Ihnen, Herr Kollege Hartmann. Herzlichen Dank. ({18})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Throm. – Die Aktuelle Stunde ist beendet. Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen, darf ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der Wahlen bekannt geben. Ich beginne mit dem Ergebnis der Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung: abgegebene Stimmen 629, ungültige Stimmen 4. Mit Ja haben gestimmt 239, mit Nein 356, Enthaltungen 30. Der Abgeordnete Marcus Bühl hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen nicht erreicht. Er ist als Mitglied des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung nicht gewählt. Das zweite Ergebnis betrifft die Wahl von zwei Mitgliedern des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes. Hier gab es 628 abgegebene Stimmen. Für Albrecht Glaser haben mit Ja 181 gestimmt, 403 Neinstimmen, 39 Enthaltungen, 5 ungültige Stimmen. Für Volker Münz haben 243 mit Ja gestimmt, 341 mit Nein, 39 Enthaltungen, 5 ungültige Stimmen. Die Abgeordneten Albrecht Glaser und Volker Münz haben damit die erforderliche Mehrheit nicht erreicht. Dann kommen wir zum Ergebnis der Wahl eines Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene Stimmen 631, ungültig 1. Mit Ja haben 236 gestimmt, mit Nein 359, Enthaltungen 35. Der Abgeordnete Peter Boehringer hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen nicht erreicht ({0}) und ist damit als Mitglied des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes nicht gewählt. Das letzte Ergebnis, das ich zu verkünden habe, betrifft die Wahl des stellvertretenden Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene Stimmen 630, ungültig 4. Mit Ja haben 228 gestimmt, mit Nein 368, Enthaltungen 30. Die Abgeordnete Dr. Birgit Malsack-Winkemann hat die erforderliche Mehrheit von 355 damit nicht erreicht und ist als Mitglied des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes nicht gewählt. ({1})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn! Meine Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag für viele Menschen, die auf ein Spenderorgan warten; denn heute bringen wir das Zweite Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes auf den Weg. Damit tragen wir maßgeblich dazu bei, die Zahl der freiwilligen Organspenden in Deutschland zu erhöhen. ({0}) Vier zentrale Aspekte des Gesetzes werde ich hervorheben. Beginnen möchte ich damit, dass wir die Position der Transplantationsbeauftragten mit diesem Gesetz stärken und ausbauen. Denn erstens werden wir die Beauftragten für ihre wichtige Aufgabe nach bundeseinheitlichen Regeln freistellen. Zweitens erhalten Transplantationsbeauftragte künftig Zugang zu den Intensivstationen und zu allen erforderlichen Informationen, um das Spenderpotenzial auswerten zu können. Drittens müssen sie künftig hinzugezogen werden, wenn Patienten nach ärztlicher Beurteilung als Organspender in Betracht kommen. In einem Satz: Die Transplantationsbeauftragten werden mehr helfen können. ({1}) Ich begrüße die neuen Vergütungsregelungen für die Entnahmekrankenhäuser sehr; denn wir haben die Ab­geltungspauschalen besser als bisher ausdifferenziert. Damit bilden wir den jeweiligen sächlichen und personellen Gesamtaufwand in den einzelnen Prozessschritten einer Organspende besser ab. Zudem enthalten die Entnahmekrankenhäuser künftig einen Zuschlag als Ausgleich dafür, dass ihre Infrastruktur im Rahmen der Organspende in besonderem Maße in Anspruch genommen wird. Kurz: Wir verbessern die strukturellen und finanziellen Voraussetzungen in diesen Häusern erheblich. ({2}) Und noch etwas ist so neu wie wirkungsvoll: Wir stellen sicher, dass regional und flächendeckend die spezifisch qualifizierten Ärzte bereitstehen. Genau das gewährleistet der neurochirurgische und neurologische konsiliarärztliche Rufbereitschaftsdienst. Besonders freut es mich, dass wir die Betreuung der Angehörigen von Organspendern verbessern und erstmals auf eine gesetzliche Grundlage stellen. Das ist mir besonders wichtig. ({3}) Jetzt darf die Koordinierungsstelle den Angehörigen postmortaler Organspender ein Angebot machen. Sie kann Betreuung bereitstellen und Angehörigentreffen organisieren. Damit ist ein wichtiges kurz- und langfristiges Unterstützungsangebot gesetzlich verankert. Zudem regeln wir den Austausch zwischen den Organempfängern und den nächsten Angehörigen der Organspender in Form anonymisierter Schreiben verbindlich. Ein solcher Austausch ist für viele Betroffene von großer Bedeutung. Mit diesen Maßnahmen verbessern wir die Betreuung der Angehörigen. Dieser Prozess ist aber noch nicht abgeschlossen. Über den heutigen Fortschritt hinaus müssen wir über die Verbesserung der psychischen Versorgung von Spenderangehörigen und entsprechende Regelungen nachdenken. Dieses werden wir im Nachgang dieses Gesetzesverfahrens weiter im Blick behalten. Mit diesem Gesetzentwurf ist viel erreicht. Wir verbessern den Prozess der Organspende an entscheidenden Stellen. Dies wird zu einem nachhaltigen Anstieg der Organspendenzahlen in Deutschland führen. Damit werden wir mehr Leben durch Organspenden retten können. Vielen Dank allen, die an diesem Gesetzentwurf mitgewirkt haben. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Dr. Robby Schlund. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Werte Gäste auf den Rängen! Organspenden in Deutschland reichen nicht. Von 2012 bis heute ist die Zahl der Organspender zurückgegangen. Deshalb halten wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Transplantationsgesetzes zunächst für eine sehr gute Idee. Speziell die Verbesserung der Zusammenarbeit und die Stärkung der Transplantationsbeauftragten in ihrer Position sind die richtigen Hebel. Aber wenn man etwas macht, dann sollte man es auch gut machen und vor allem zu Ende diskutiert haben. Das Ziel muss eine Lösung sein, die den Menschen in unserem Land das Vertrauen in die Institutionen wieder zurückgibt, eine Vertrauenslösung gewissermaßen. Ansonsten würde man mit dem Gesetz eher das Gegenteil bewirken, nämlich weniger Organspendebereitschaft, und das, meine Damen und Herren, wäre tatsächlich fatal. Die Transplantationsbeauftragten erhalten durch das Gesetz weitreichende Kompetenzen. So weit, so gut! Was Sie allerdings nicht beachtet haben, ist, dass nur durch ein strenges, bundesweit einheitliches Ausbildungscurriculum der Bundesärztekammer die notwendige Qualitätssicherung erreicht werden kann. Das sollte allerdings mit einer entsprechenden Prüfung der fachlichen und ethischen Eignung der zukünftigen Transplantationsbeauftragten unter Beweis gestellt werden. ({0}) Ansonsten, mit Verlaub, erreichen Sie nur Chaos. Wir möchten bemängeln, dass Transplantationsbeauftragte selbstständig eigene Verfahrensabläufe für die Organentnahme in der Klinik erstellen können. In Deutschland sind derzeit mindestens 1 306 Entnahmemöglichkeiten verfügbar. Wollen Sie allen Ernstes riskieren, 1 306 Verfahrensweisen bei der Organentnahme einzeln irgendwie händeln zu müssen? Was ist denn, wenn ein Transplantationsbeauftragter vertreten werden muss, vielleicht von einem Kollegen aus einem ganz anderen Teil von Deutschland? Wird das selbst installierte System der Organentnahme, von der Vorbereitung bis zur Betreuung der Hinterbliebenen, dann etwa von einem Tag zum anderen komplett umgekrempelt, oder – schlimmer noch – soll dann ein Vertreter im eigenen Haus, der nach Ihrem Vorschlag noch nicht einmal Arzt sein muss, die Verantwortung für dieses hochsensible Prozedere übernehmen? Nein, nein und nochmals nein. ({1}) Sollte man nicht gerade hier bei der so massiven Erweiterung der Privilegien der Transplantationsbeauftragten bestimmte juristisch verankerte Verhaltensregeln und ‑verpflichtungen abverlangen? Wir denken, dass dies unumgänglich ist. Schaffen Sie bitte eine bundeseinheitliche Richtlinie, die im Einzelnen die Zuständigkeiten sowie Handlungs- und Prozessabläufe in Entnahmekliniken festlegt, ein Qualitätsmanagementsystem für den Prozessablauf bei der Organspende, verbindlich für alle Entnahmekliniken und Transplantationszentren. Das, meine Damen und Herren, schafft Vertrauen und Kontinuität. ({2}) Last, but not least: Erkennen Sie auch die Spendenbereitschaft als Ehrenamt an. Verbessern Sie die Überlebenschancen von Dialysepatienten durch die Einführung und Vergütung der Cross-over-Spende! Und bitte, liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Bundestag, lehnen Sie nicht gleich, ohne nachzudenken, jeden Antrag der AfD ab. ({3}) Die Grundidee des Gesetzentwurfs ist gut, aber es fehlt an Strukturierung und Qualitätsabsicherung. Stimmen Sie zu, unsere Zusatzanträge an den Ausschuss zu überweisen, damit wir darüber noch mal gemeinsam beraten können. Ich bin mir sicher, dass wir eine gute Lösung finden werden, mit der wir das Vertrauen in die Organspende wieder zurückgewinnen können. Es geht hier nicht um uns, meine Damen und Herren, es geht einzig und allein um das Interesse und das Wohl unserer Bürger und Patienten in unserem Land. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Karl Lauterbach. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal ist Ihnen, Herr Schlund, zu danken. Sie haben zur Sache geredet. Wir werden uns natürlich mit Ihren Anträgen beschäftigen. Das verdienen die Anträge. Ich bin nicht Ihrer Meinung. Ich glaube, dass das von Ihnen angesprochene Qualitätsmanagement sehr bürokratisch wäre und es auch nicht von Bundesseite kontrollierbar wäre. Trotzdem ist es mal ein konstruktiver Vorschlag – das muss hier erwähnt werden –, ({0}) der unserer Prüfung bedarf. Wir werden das im Ausschuss tatsächlich diskutieren. ({1}) Bei der Organspende müssen wir unbedingt etwas tun – das ist ganz klar. Die Organspende ist einer der Bereiche, in denen eine Organisation zwar besonders notwendig ist, aber nicht wirklich gut vorgehalten wird. Es ist auch einer der wenigen Bereiche in der Medizin, in denen man systematisch Verluste macht, wenn man sich dort engagiert. Die Pauschalen sind nicht kostendeckend. Das Engagement, das hier gezeigt wird, führt systematisch zu Verlusten. Der Bereich ist darüber hinaus sehr intransparent, und die Organisation ist nicht wirklich so straff, wie sie gerade in diesem Bereich sein müsste. Daher ist das heute vorliegende Gesetz ein wichtiges Gesetz – das ist keine Kleinigkeit. Es geht insbesondere darum, hier wirklich mit Kostendeckung zu arbeiten. Wir wollen diesen Bereich nicht in einen Bereich verwandeln, in dem man Gewinne macht; es soll kein Gewinnerzielungsbereich sein. ({2}) Daher ist es sehr sinnvoll, dass wir in diesem Bereich – genauso wie in der Pflege – erstmals zu einem System der Kostenerstattung kommen. Neben der Herausnahme der Pflege aus den Fallpauschalen ist das jetzt der zweite Bereich im Krankenhaussektor, in dem wir die Kostenerstattung wieder einführen, weil wir wollen, dass dort keine Gewinne, aber auch keine Verluste gemacht werden. ({3}) Das ist aus meiner Sicht ein Schritt in die richtige Richtung. Darüber müssen wir auch in Bezug auf andere Bereiche grundsätzlicher nachdenken. Wir haben hier Pauschalen, die sich nicht an den tatsächlichen Kosten orientieren. Das ändern wir, indem wir die Pauschalen differenzieren. Das Spezifische tut hier nichts zur Sache. Der grundsätzliche Unterschied ist aber, dass die Pauschalen, die in der Vorbereitung notwendig sind, in Abhängigkeit von der Schwere der Erkrankung und dem Aufwand der Transplantation – da gibt es große Unterschiede; eine Nierentransplantation ist weniger aufwendig als die Transplantation einer Herz-Lungen-Einheit – differenziert werden. Wir werden hier insgesamt dazu kommen, dass eine Win-win-Situation für das Gesundheitssystem entsteht: Wir geben etwas mehr Geld aus, aber wir sparen auch Geld. Denn wenn es zu mehr Transplantationen kommt, ersparen wir dem Gesundheitssystem die hohen Folgekosten, die bei jedem Patienten, bei dem nicht transplantiert werden könnte, entstehen würden, weil er beispielsweise dauerhaft in der Dialyse behandelt werden müsste. Somit ist es ein Gesetz, mit dem einerseits die Krankenkassen langfristig Geld sparen und andererseits die Leistungen der Krankenhäuser entsprechend gewürdigt werden. Es ist eine Win-win-Situation, die wir dringend benötigen. Daher ist es an der Zeit, dass wir das jetzt regeln. ({4}) Ich komme zum Abschluss. Das Gesetz wird nicht das Problem lösen, dass wir insgesamt zu wenige gespendete Organe haben. Jeder Fünfte auf der Warteliste stirbt in Deutschland. Das ist ein unerträglicher Zustand. 85 Prozent der Bevölkerung sind grundsätzlich spendebereit. Höchstens ein Drittel ist aber später in dem Sinne spendebereit, dass die Spendenbereitschaft dokumentiert wurde und eine Spende damit auch umgesetzt werden könnte. Diese riesige Lücke müssen wir schließen. Was nützt die beste Organisation der Organspende, wenn es keine Organe gibt? Daher brauchen wir darüber hinaus dringend die wichtige Reform der Art und Weise, wie die Einverständniserklärung eingeholt wird. Es ist bekannt, dass ich mich dort für eine Widerspruchslösung einsetze; ({5}) aber es gibt auch andere Möglichkeiten, die wir hier diskutieren werden. Das darf man nicht gegen das, was wir heute beschließen, ausspielen. Wir brauchen sowohl eine bessere Organisation der Spenden, die stattfinden, als auch eine Erhöhung der Zahl der Spenden, die überhaupt möglich sind, und wir machen heute den ersten wichtigen Schritt. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin Katrin Helling-Plahr. ({0})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Meine Damen und Herren! Das GZSO ist richtig. Gerade die Freistellung der Transplantationsbeauftragten haben auch wir Freie Demokraten lange und immer wieder angemahnt. Gut, dass sie nun endlich kommt! Aber, Herr Minister Spahn, es besteht keinerlei Anlass, sich auszuruhen. Die über 10 000 Betroffenen auf der Warteliste haben es verdient, dass wir jedwede mögliche Anstrengung unternehmen, um ihnen zu helfen. ({0}) Und, Herr Minister, das sehe ich bei Ihnen im Moment nicht. ({1}) Wir haben mit unserem Antrag eine Debatte darüber angestoßen, die Möglichkeiten der altruistischen Organ­lebendspende auszuweiten, um so mehr Erkrankten die Chance auf Genesung zu geben. Zur Thematik Lebendspende befragt, äußert Ihr Haus stets nur: Hm, ja, da müsste man mal eine Debatte führen, auch über die ethischen Dimensionen und so. – Das war es. Darauf, dass da mehr kommt, wartet man vergeblich. Herr Minister, eine Debatte führt nur, wer redet. Eine Debatte setzt Debattenbeiträge voraus. ({2}) Wenn Sie es nicht wollen, dann sagen Sie: Nein, kommt nicht in Betracht, ist mir ethisch zu schwierig, auch wenn dann weniger Menschen auf der Warteliste geholfen werden kann. Ich habe keine Lust, mir die Diskussion anzutun. Ich habe schließlich noch die Widerspruchslösung an der Backe und werde mit dem Vorstoß auf die Nase fallen. – Herr Spahn, eine Debatte anzukündigen und dann nichts dazu beizutragen, ist Duckmäusertum. ({3}) Auch die Koalitionsfraktionen schweigen sich im Gesundheitsausschuss zu der Thematik vollständig aus. Herr Minister, ich verrate Ihnen etwas: Die Ausweitung der Möglichkeiten der Lebendspende hat gegenüber der Einführung einer Widerspruchslösung einen entscheidenden Vorteil: Die Spender wollen sicher selbstbestimmt spenden. Warum also wollen Sie mit der Widerspruchslösung jemanden, der vielleicht gar nicht spenden möchte, zum Spender machen, ermöglichen aber auf der anderen Seite Menschen, die unbedingt spenden wollen, keine Spende? Das ist doch völlig widersinnig. ({4}) Wenn man sich den offenkundigen und breit von Medizinern, Verbänden und Betroffenen vorgetragenen Argumenten nicht verschließt, ist das alles gar nicht so schwierig. Herr Minister, Sie werden die Stellungnahmen für die öffentlichen Anhörungen zu Ihrem und unserem Antrag oder zumindest das Protokoll gelesen haben. Ich zitiere: Es ist „nicht zu verstehen, dass deutschen Patienten auf der Warteliste Lebendspende-Organübertragungen vorenthalten werden, die in vergleichbaren Ländern medizinischer Standard sind.“ Deutsche Transplantationsgesellschaft. Oder beispielhaft für einen Betroffenenverband, TransDia Sport e. V.: „Unter möglichen Verbesserungen … möchten wir die überfällige Schaffung einer sicheren Rechtsgrundlage für die Überkreuzlebendspende hervorheben.“ Oder auch: Wir sind hier tatsächlich im Niemandsland und fallen zunehmend zurück, was dazu führt, dass zunehmend auch Paare, jedenfalls die, die es sich leisten können, etwa nach Spanien gehen und dort die Überkreuzspende durchführen lassen. – Professor Ockenfels von der Uni Köln. Meine Damen und Herren, das ist Zweiklassenmedizin. Was also haben Sie ernsthaft gegen die Legalisierung von Überkreuzspenden auch in Deutschland? Wieso schaffen wir die Subsidiarität der Lebendspende nicht ab? Wieso soll ein Ehegatte seinem Partner nicht spenden dürfen, weil ein Organ eines Verstorbenen zur Verfügung steht, obwohl die Verträglichkeit einer Lebendspende höher ist und gleich einem weiteren Betroffenen auf der Warteliste mitgeholfen wäre? Es gibt keine nachvollziehbaren Gründe. Geben Sie sich einen Ruck! Stimmen Sie unserem Antrag zu! Er hilft, das Leid zu mindern und Betroffene von der Warteliste zu holen. Er bedeutet Leben für Schwerkranke. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Harald Weinberg. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben im Bundestag bereits eine längere Orientierungsdebatte über drei Stunden hinweg geführt. Es ging vor allem um die Zustimmungsregelung. Schon damals habe ich gesagt: Im Wesentlichen kommt es auf die Strukturen und die Organisation der Organentnahme an. ({0}) Das war die damalige Position. Sie ist meines Erachtens wichtiger als die Zustimmungsregelung. Genau das steht jetzt auch im vorliegenden Gesetzentwurf – weitgehend, es könnte besser sein –, und insofern stimmen wir dem Gesetzentwurf zu. ({1}) Auch in der Anhörung hat sich gezeigt, dass alle Beteiligten, die Verbände und die Kassen, sagen: Das ist ein gutes Gesetz, das sollten wir auf jeden Fall so umsetzen. Es stärkt das Amt des Transplantationsbeauftragten, klärt deren Kompetenz und verstärkt die Betreuung und Begleitung der Angehörigen in einer schwierigen und belastenden Situation. Bei der Vergütung – das ist uns sehr wichtig – bricht es mit der unseligen Logik der Fallpauschalen, und man kehrt zur Kostendeckung zurück. ({2}) Nach der Reform der Finanzierung der Krankenhauspflege ist das ein weiterer Ausstieg aus der fatalen Logik der DRG-Finanzierung der Krankenhäuser. Das können wir nur begrüßen. In der Debatte wurde häufig auf Dänemark als Vorbild verwiesen. Wir waren mit einer Delegation zwei Tage in Dänemark. Man muss Vorsicht walten lassen, um sich nicht zu sehr an Vorbildern zu orientieren. Bei näherem Hinsehen stellt sich häufig heraus, dass die Strukturen nicht übertragbar sind. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf einen wesentlichen Aspekt, den wir in Dänemark kennengelernt haben, zu sprechen kommen. Nach einigen schlechten Erfahrungen wurde in Dänemark gesagt: Den ökonomischen Wettbewerb zwischen Krankenhäusern wollen wir nicht. Er bringt uns an keiner Stelle weiter. Die Krankenhäuser sollen kooperieren. Wir wollen eine bedarfsgerechte und strukturierte Versorgung in der Krankenhauslandschaft. ({3}) Ich glaube, das ist sicher ein Aspekt, der es viel einfacher macht, die strukturellen und organisatorischen Rahmenbedingungen für eine höhere Spendenbereitschaft zu verbessern. Das sollten wir auch in der Diskussion in Deutschland berücksichtigen. Ich möchte die letzte Minute meiner Redezeit darauf verwenden, um auf die anderen Anträge einzugehen. Im Antrag der FDP geht es um die Nutzung von Chancen von altruistischen Organlebendspenden. Dieser Aspekt kommt in der aktuellen Debatte in der Tat viel zu kurz. Insofern ist es zu begrüßen, dass die FDP-Fraktion das Thema aufgegriffen und Vorschläge gemacht hat. Allerdings geht Ihr Antrag aus unserer Sicht an ein paar Stellen deutlich zu weit und wirft ethische und grundsätzliche Fragen auf, nicht bezogen auf die Überkreuzspende, sondern vor allen Dingen bezogen auf die nicht zielgerichtete Spende in einen Organpool. Das geht nun wirklich deutlich zu weit. Das ist meines Erachtens so nicht zu akzeptieren. ({4}) Im Antrag, den die AfD eingebracht hat, geht es darum, dass die Spendenbereitschaft als Ehrenamt anerkannt und durch Boni befördert werden soll, zum Beispiel durch vergünstigte Karten und andere Maßnahmen. Dieser Antrag ist eingebracht worden, hat aber dann bemerkenswerterweise in der weiteren Debatte überhaupt keine Rolle mehr gespielt. Null! Er ist weder in der Anhörung irgendwie zur Sprache gekommen noch in den Debatten, und auch heute ist er nicht zur Sprache gekommen. Es handelt sich ganz offensichtlich um einen Antrag, den die AfD-Fraktion selber für ungeeignet hält. Insofern werden wir ihn schlichtweg ablehnen. ({5}) Ich möchte noch kurz auf den Entschließungsantrag der Grünen zu sprechen kommen. Er enthält aus unserer Sicht einige sehr gute Punkte, unter anderem die Einbeziehung der privaten Krankenversicherungen in die Finanzierung. Insofern werden wir dem Entschließungsantrag zustimmen. ({6}) Ich bin – damit will ich enden – davon überzeugt, dass mit diesem Gesetz die Weichen richtig gestellt werden. Es werden wichtige Fragen zur Entwicklung der Spendenbereitschaft bei der Organspende geklärt. Das ist wichtiger als die Diskussion über die Zustimmungsregelung. Wir werden dem Gesetzentwurf also zustimmen. Vielen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Kirsten ­Kappert-Gonther von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Spahn, lange haben Sie nichts für die Verbesserung im Bereich Organspende getan und plötzlich galt dann Schnelligkeit vor Gründlichkeit. Schade! ({0}) Denn der vorliegende Gesetzentwurf ist im Kern genau richtig. Wir wissen: Im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn ist die Organspenderate in Deutschland mickrig. In Spanien sind die Zahlen sogar fünfmal höher als bei uns. Wie können wir besser werden? Wir haben es eben schon gehört – und genau das adressiert auch der Gesetzentwurf –: Das Entscheidende sind die Strukturen. Der Hebel, die Organspenderaten anzuheben, ist das Erkennen und Melden der potenziellen Spenderinnen und Spender, und mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird dieser Hebel gedrückt. ({1}) Die Transplantationsbeauftragten in den Krankenhäusern bekommen mehr Kompetenzen und werden für ihre besonderen Aufgaben freigestellt. Die Kliniken müssen klare Verfahren etablieren, wie sie bei möglichen Organspenden vorgehen, und werden künftig dafür angemessen vergütet. Es wird ein flächendeckender neurologischer Konsiliardienst eingerichtet, damit auch kleine Krankenhäuser mit nur wenigen Fällen pro Jahr auf die volle ärztliche Expertise zurückgreifen können. Hier wird es im Übrigen sehr auf die Umsetzung ankommen, damit man auf bestehende Strukturen aufbaut und sie nicht womöglich zerschlägt. Das alles sind gute und sinnvolle Vorschläge, und wir Grünen werden dem Gesetzentwurf zustimmen. ({2}) Ich hatte schon in der ersten Lesung gesagt, dass wir den Gesetzentwurf im Wesentlichen gut finden. Wir haben aber wie andere Fraktionen auch eine ganze Reihe von Verbesserungsvorschlägen gemacht. Darauf sind Sie leider überhaupt nicht eingegangen. Jetzt könnte man sagen: Das ist so eine parlamentarische Geschichte. – Aber warum Sie keinen der Änderungsvorschläge der Fachleute aus der Anhörung übernommen haben, das verstehen wir wirklich nicht, und das finden wir auch falsch. ({3}) Denn das Gesetz könnte besser sein, als es jetzt ist, und darum legen wir heute unseren Entschließungsantrag vor, um auch bisher ungenutztes Potenzial zu nutzen. Vertrauen. Vertrauen ist das A und O, um gute Organspenderaten zu realisieren, das Vertrauen der Bevölkerung in unser Transplantationswesen. Transparenz schafft Vertrauen. Darum sollte die staatliche Aufsicht gestärkt werden. ({4}) Ausbildung. In der pflegerischen und ärztlichen Ausbildung muss der Bereich Organspende/Transplantationsmedizin verbessert werden; denn es ist wie überall anders auch: Was man gut kann, das macht man auch eher. ({5}) Ein neues Organ zu bekommen, ist eine große Aufgabe für Körper und Seele. Menschen mit Spendeorgan und ihre Familien brauchen mehr und bessere psychosoziale Hilfen. Und: Schaffen Sie endlich ein Organspenderegister, in das sich die Bürgerinnen und Bürger eintragen können, wenn sie das wollen! ({6}) Ein Thema hat in der Anhörung eine besonders große Rolle gespielt: Die geplanten Strukturverbesserungen werden nach Ihrem Vorschlag von der Gemeinschaft der gesetzlich Versicherten bezahlt. Die Kostenbeteiligung der privaten Krankenversicherungen bleibt freiwillig. Das ist ungerecht und sollte sich noch ändern. ({7}) Herr Minister, wären Sie etwas gründlicher, hätten Sie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ministeriums etwas mehr Zeit gegeben, dann könnte dieses Gesetz nicht nur gut, sondern sehr gut sein. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist Bundesminister Jens Spahn. ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 2018 ist die Zahl der Organspenden um knapp 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Das hat vermutlich auch etwas damit zu tun, dass wir dem Thema durch Debatten wie diese, aber auch in der gesellschaftlichen Debatte insgesamt eine größere Aufmerksamkeit beigemessen haben. Und ich finde, das ist für parlamentarische Debatten, für Parlamentarismus, ein gutes Zeichen, wenn auch die Öffentlichkeit mitmacht. ({0}) Gute Debatten machen den Unterschied, und sie wieder mehr zu pflegen – vielleicht auch bei anderen Themen –, kann nie schaden. Wenn Debatten geführt werden, dann sollen sie auch – und das machen wir heute – in Entscheidungen münden. Frau Kollegin, den Gesetzentwurf haben wir noch innerhalb der ersten sechs Monate nach Antritt der Regierung vorgelegt. Er wird seit Oktober beraten und ist auf dem gesetzgeberischen Weg. Ich finde, das ist ausreichend Zeit, er wird aber – insbesondere angesichts des Umstandes, dass wir hier Menschen konkret helfen wollen – auch mit der notwendigen Geschwindigkeit realisiert, um schnell zu Verbesserungen zu kommen. Der Weg, den wir hier gewählt haben, ist – auch in der Schnelligkeit – genau der richtige Ansatz, verbunden mit der nötigen Gründlichkeit. ({1}) Die Koalitionsfraktionen haben sogar – darauf will ich auch kurz eingehen – noch Verbesserungsbedarf am Gesetzentwurf gesehen. Natürlich ist auch dieser Gesetzentwurf nach den Ausschussberatungen noch ergänzt worden, etwa dadurch, dass die Krankenhäuser einen Vergütungsanspruch erhalten, die hochqualifiziertes Personal freistellen, das dann etwa zur Hirntoddiagnostik in anderen Krankenhäusern aktiv ist. Die Häuser werden durch den Ausfall, der dadurch entsteht, dass das Personal nicht im eigenen Haus ist oder möglicherweise am Folgetag wegen der Arbeitszeitbestimmungen freibekommen muss, nicht bestraft. Das ist – der Kollege Lauterbach hat darauf hingewiesen – genau unser Leitmotiv. Wir wollen diejenigen, die sich in den Krankenhäusern um Organspende kümmern, und die Krankenhäuser, die dafür Ressourcen bereitstellen, nicht bestrafen, sondern sie fair so stellen, dass ihnen keine Kosten verbleiben. Daher gehen wir mit diesem Gesetz einen ganz, ganz großen und wichtigen Schritt. ({2}) Zur privaten Krankenversicherung, weil Sie noch einmal darauf eingegangen sind, Frau Kollegin ­Kappert-Gonther. Das ist ja ein Thema, das Sie bei jeder Debatte bewegt. Das ist ja eine ideologische Frage, wo dann auch das Thema Bürgerversicherung und alles andere mit hineinspielt. ({3}) Sie sagen in Ihrem eigenen Entschließungsantrag, dass sich die private Krankenversicherung seit Jahren und Jahrzehnten verlässlich an genau diesen Kosten im vorgesehenen und angemessenen Rahmen beteiligt; sie tun es also freiwillig. Die private Krankenversicherung verfassungsrechtlich zu zwingen, wäre, wie Sie wissen, eine ziemlich große Geschichte geworden. Diese tun es aber freiwillig. Dass Sie es aber nicht schaffen, ({4}) eine solche Debatte mal ohne diesen ideologischen Ballast zu führen, finde ich einfach schade. ({5}) Das hätten wir hier jetzt nicht noch gebraucht. Was die Lebendspende angeht, wäre es dem Thema nicht angemessen, das jetzt durch Änderungsantrag und Ergänzungen zu diesem Gesetzentwurf noch irgendwie zu regeln. Eine Lebendspende ist in vielerlei Hinsicht ein sehr sensibler Bereich, geht es doch um einen Eingriff am gesunden Menschen, der auch nicht ohne Risiko ist. Deswegen – dabei bleibe ich – bedarf es einer seriösen Debatte. Dass ich debattenscheu sei, ist ein Vorwurf, der mir – jedenfalls in jüngerer Zeit – nicht so oft gemacht wurde, aber ich nehme ihn gern an und mit. ({6}) Die Debatte braucht es aus meiner Sicht tatsächlich, und ich bin auch gern bereit, sie mit zu führen. Aber wir sollten die Dinge nicht parallel behandeln; denn das führt am Ende nicht dazu, dass sie besser diskutiert werden. Wir führen jetzt die Debatte zur Verbesserung der Strukturen in den Krankenhäusern und bringen sie zum Abschluss. Wir führen parallel – jetzt beginnend – die Debatte zu der Frage: Wie können wir verbindlicher die entsprechende Entscheidung – da immerhin über 80 Prozent der Deutschen sagen, dass sie sich Organspende vorstellen können –, also Widerspruchslösung oder eher Entscheidungslösung, abfragen, um dann die Debatte rund um die Lebendspende zu führen. Ich bin dazu bereit. Ich bin auch gerne dazu bereit, die nötigen Foren mit zu organisieren, aber wir sollten die Debatten gründlich führen – das hat dieses sensible Thema verdient – und sie nicht mit den anderen Debatten vermengen. ({7}) Das alles, Herr Präsident, zeigt: Es gibt viel Zustimmung, worüber ich mich freue, viel Übereinstimmung nicht nur im Ziel, sondern auch in den konkreten Maßnahmen. Es gibt auch eine gewisse Geschwindigkeit, ja, aber ich finde, sie ist dem Thema und dem Ziel angemessen. All das tun wir, um Hoffnung auf Leben erfüllen zu können. In diesem Sinne bitte ich um Ihre Zustimmung. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Hilde Mattheis. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Werter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist gut, dass wir hier eine breite Zustimmung haben; denn das ist ein Thema, das nicht nur die ältere Generation berührt, sondern auch Jüngere. Wer dieser Tage in Schulklassen zu Gast ist, dem werden auch dazu Fragen gestellt. Und ich finde es gut und richtig, dass diese Debatte mittlerweile eine breit geführte gesellschaftliche Debatte ist. ({0}) Rufen wir uns einen Termin ins Gedächtnis: Gestern vor 50 Jahren wurde an der Universität München die erste Herztransplantation in Deutschland vorgenommen. ({1}) Der Patient starb 27 Tage später. Erst 1981 ist aufgrund des medizinischen Fortschritts eine Transplantation gelungen. Mittlerweile gehören Transplantationen zwar nicht zu Standard-OPs, aber der medizinische Fortschritt ist so weit, dass die Überlebenschancen von Menschen so groß sind, dass die Hoffnung auf Spender einfach unglaublich groß ist. Trotz des medizinischen Fortschritts ist das Leiden auf beiden Seiten – bei den Angehörigen einer potenziellen Spenderperson und auch bei denen, die auf der Warteliste stehen, und ihren Angehörigen – sehr groß. Was wir heute und in großer Einigkeit tun, ist, die infrastrukturelle Frage besser zu beantworten. Egal wo wir uns verorten, egal ob bei der Widerspruchslösung oder der Zustimmungslösung: Wir sind in dem Bemühen einig, in den Entnahmekrankenhäusern in Deutschland bessere Voraussetzungen zu schaffen, damit es höhere Überlebenschancen gibt. Von daher sage ich an der Stelle auch herzlichen Dank für diesen Gesetzentwurf, den wir miteinander erarbeitet haben. Und egal ob wir jetzt an der einen oder anderen Stelle noch Nachjustierungsbedarf haben, sind wir doch im Großen und Ganzen einig, dass es um diese vier großen Themen geht, die wir hier aufgenommen haben. Ja, Transplantationsbeauftragte in den Kliniken sind wichtig, und sie müssen ergänzt werden durch Pflegekräfte; denn das ist die Arbeit vor Ort, die in einem Team erledigt werden muss, und diese Arbeit vor Ort muss unterstützt werden. In einem Entnahmekrankenhaus darf es nicht aufgrund fehlender Infrastruktur und Unterstützung zum Alltag gehören, dass man gar nicht erst darüber nachdenkt: „Kommt denn dieser Mensch als potenzieller Spender infrage?“ Wie wichtig die Unterstützung ist, das haben wir doch aus den Erfahrungen in anderen europäischen Ländern gelernt, in denen die Spendebereitschaft höher ist; das haben wir von unseren Reisen mitgebracht. Das Zweite ist natürlich die Vergütung. Ja – da dürfen wir uns nicht wegducken –, die Krankenhäuser müssen dafür etwas bekommen, damit auch die Bereitschaft größer ist, sich bei diesem Thema gegenseitig zu unterstützen. Das gilt auch für die Rufbereitschaft. Es muss sichergestellt sein, dass Ärztinnen und Ärzte vorhanden und in der Lage sind, auch in anderen Krankenhäusern genau festzustellen, ob es dort potenzielle Spender gibt, und dies vergütet wird, Die Angehörigenarbeit. Eine Organspende ist wirklich keine Routinegeschichte. Es darf in den Krankenhäusern keine Routinegeschichte sein, mit Menschen umzugehen, die eine schwere Entscheidung treffen müssen, die in ihrem Schmerz auch ein Stück weit rationale Entscheidungen treffen müssen. Mit diesem emotionalen Augenblick umzugehen, ist nicht leicht. Manch einer dreht sich lieber um und sagt: Oh, dafür bin ich heute nicht bereit. – Wir müssen hier stärker unterstützen, eine gewisse Ausbildung an die Hand geben und sagen: Wir unterstützen euch in eurer Teamarbeit, Angehörige da mitzunehmen und im Prinzip auch zu begleiten. Das alles gehört dazu. ({2}) Es wurde schon angesprochen: Das ist nicht die letzte Debatte, die wir zum Thema Organspende führen. In der Regel passt zwischen Herrn Lauterbach und mich kein Blatt; aber in diesem Zusammenhang ist es anders. ({3}) Ich sage schlicht und ergreifend: Wir werden mit dieser Zustimmungslösung auch ein Stück weit – in Verbindung auch mit einem Register – versuchen, die Spendebereitschaft noch einmal zu erhöhen. In Spanien hat man uns gesagt: Die Widerspruchslösung ist belanglos. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Ich glaube, dass es nicht nur uns als Parlamentarier, sondern auch der gesellschaftlichen Debatte guttut, wenn wir uns mit diesem Thema auseinandersetzen, und zwar so, wie wir das hier in der breiten Übereinstimmung des Parlaments tun. Vielen Dank. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Dr. Claudia Schmidtke für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Prof. Dr. Claudia Schmidtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004879, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Welt beneidet uns um unser Gesundheitswesen, um eine exzellente Versorgung und um die Forschungsstärke unseres Gesundheitsstandortes. ({0}) Worum uns die Welt nicht beneidet, sind unsere Organspendezahlen; denn da ist sie deutlich besser als wir. Die Einigkeit, mit der wir die heutigen Änderungen im Transplantationsgesetz als ersten wichtigen Schritt vornehmen, zeigt, dass die meisten in diesem Haus dies erkannt haben. Der Anstieg der Spenderzahlen im vergangenen Jahr – wir haben es gerade gehört – zeigt zudem, dass unsere Debatte ihre Wirkung nicht verfehlt hat. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass 20 Prozent mehr von sehr, sehr wenig immer noch sehr wenig ist; denn auch mit 955 Spendern und 3 113 vermittelten Organen konnte nicht einmal ein Drittel der gelisteten Patienten gerettet werden. Noch etwas zu Ihnen, Herr Kollege Gehrke: Schwerpunkt Ihrer letzten Rede zum GZSO war das Wort „angemessen“ im Zusammenhang mit der Arbeit der Transplantationsbeauftragten. Es ist mir heute, vier Wochen nach Ihrer Rede, noch ein Bedürfnis, Ihre unangemessene Unterstellung gegenüber den geschätzten Kolleginnen und Kollegen in den Kliniken richtigzustellen. Das Problem liegt nicht bei den überaus engagierten Beauftragten, das Problem ist vielmehr ihre schlechte Stellung, da sie aufgrund ihrer Doppelbelastung kaum Zeit haben, Spender zu identifizieren, ({1}) und darüber hinaus eine Organentnahme ohnehin bisher lediglich mehr Kosten und mehr Arbeit verursacht. Künftig werden die Transplantationsbeauftragten genügend Rechte und Zeit für die Identifikation der Organspender haben und besonnen alle weiteren Schritte einleiten können. Es wird auch mit der Neuregelung keinerlei Sanktionen oder Anreize für zu wenig oder zu viele Spenden in einer Klinik geben. Wir sind bei diesem sensiblen Thema ganz bewusst lediglich bei einer Kostendeckung angelangt und von der von Ihrer Fraktion unterstellten Gewinnmaximierung weit entfernt. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage vonseiten der AfD?

Prof. Dr. Claudia Schmidtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004879, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich mache mal lieber weiter. – Zweifelhaft ist übrigens eher der Vorschlag in Ihrem Antrag, Angehörigen von Spendern über Ehrenamtskarten Preisnachlässe beim Kauf von Waren, Dienstleistungen oder Eintrittskarten zu gewähren. Denken Sie etwa wirklich, auf diese Weise lassen sich Eltern, Partner, Kinder oder Freunde über den Verlust eines geliebten Menschen hinwegtrösten? Ich bitte Sie! ({0}) Im Vordergrund muss zukünftig die altruistische Bedeutung einer Organspende stehen, nämlich Leben zu schenken; das allein sollte die Motivation für eine positive Entscheidung sein – und nicht Rabatte im Supermarkt, im Aquarium oder im Legoland. ({1}) Verantwortliche Politik sieht deshalb anders aus als Ihr Antrag. Sie liegt Ihnen in Form dieses Gesetzes heute zur Verabschiedung vor. Ich stimme denen zu, die heute und auch bei der ersten Lesung auf Spanien zu sprechen gekommen sind: Die Strukturen in Spanien sind vorbildlich; wir nehmen uns deshalb ein Beispiel daran. Aber anders als von ihnen behauptet, ist die Grundlage aller Strukturen und Abläufe dort eben eine andere, wie mir die Leiterin der spanischen Organtransplantationsbehörde schriftlich bestätigte. In gewisser Weise geht der Gesetzgeber davon aus, dass die Organspende von den Bürgern zu erwarten ist in einem Land, in dem jeder Patient, der ein Organ benötigt, völlig gleichberechtigt Zugang zur Transplantation hat. Das macht die heutigen organisatorischen Verbesserungen nicht weniger wichtig. Künftig müssen die Kliniken verbindliche Verfahrensanweisungen erarbeiten, mit denen die Handlungsabläufe für den gesamten Prozess einer Organspende festgelegt werden. Angehörige sollen besser betreut werden. Insbesondere der Austausch zwischen den Organempfängern und den nächsten Angehörigen der Organspender in Form anonymisierter Schreiben wird verbindlich geregelt. Lassen Sie mich noch einmal ganz deutlich werden: Wer diese Veränderungen ablehnt, ist damit auch gegen jede Verbesserung bei der Organspende und lässt jeden einzelnen Menschen, der auf ein Organ wartet, im Stich. Die Patienten, die mir persönlich alle sehr am Herzen liegen, warten auf ein erstes Signal, dass wir hinter ihnen stehen, und genau das werden wir ihnen heute mit diesem Gesetz geben. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Der Abgeordnete Gehrke von der AfD erhält Gelegenheit für eine Kurzintervention.

Prof. Dr. Axel Gehrke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004725, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Frau Kollegin Schmidtke, ich möchte Sie bitten, im Protokoll nachzulesen: Ich habe auf die Rede von Herrn Bundesminister Spahn geantwortet, dass er im Gesetz an allen Ecken und Enden etwas geändert hat, nur an einer Stelle nicht, nämlich bei der angemessenen Betreuung der Patienten durch die Transplantationsbeauftragten. Nichts anderes habe ich gesagt – und schon gar nicht eine Wertung gegen Patienten oder gegen Ärzte, so wie Sie es hier darstellen. Danke.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Wollen Sie entgegnen? ({0}) – Das ist Ihre Entscheidung. Dann macht der Abgeordnete Jan Nolte von der AfD geltend, in der Debatte persönlich angesprochen bzw. angegriffen worden zu sein. ({1}) Deshalb erhält er jetzt Gelegenheit, hier vorne, für eine persönliche Erklärung.

Jan Ralf Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004842, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Es war in der letzten Debatte; ich habe es aber dann erst erfahren. Der Kollege Marian Wendt ({0}) – ja, das finden Sie lustig – von der CDU hat unserer Fraktion die Rechtsstaatlichkeit abgesprochen und sich darauf bezogen, dass mein Mitarbeiter angeblich Komplize von Franco A. sei. Das ist eine unwahre Behauptung. ({1}) Ich weiß nicht, ob für den Kollegen Wendt und seine Fraktion der Generalbundesanwalt Teil des Rechtsstaates ist. Er hat alle Anklagepunkte gegen meinen Mitarbeiter fallen lassen. Mein Mitarbeiter hat einen Bundestagsausweis. Wenn die Bundespolizei so etwas prüft, ({2}) geht sie auch nicht auf Märchen aus der CDU ein, sondern legt die wahre Lage zugrunde. Ich möchte bitten, solche Falschbehauptungen und Lügen hier in Zukunft zu unterlassen. Wir sollten in diesem Hause einen anderen Anspruch an uns haben. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Weitere Anträge auf persönliche Erklärungen oder Kurzinterventionen liegen mir nicht vor. – Ich beende die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Transplantationsgesetzes – Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7766, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/6915 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen von der Fraktion Die Linke, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der AfD angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – ({0}) Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf erneut mit den Stimmen von Linken, SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der AfD angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/7769. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Entschließungsantrag gegen die Stimmen der Grünen und der Fraktion Die Linke von der übrigen Mehrheit des Hauses abgelehnt. Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 19/7766 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/7034 mit dem Titel „Zahl der freiwilligen Organspender in Deutschland erhöhen – Spendenbereitschaft als Ehrenamt anerkennen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit der Mehrheit des Hauses gegen die Stimmen der AfD angenommen und der Antrag abgelehnt. Dann kommen wir zu einer weiteren Beschlussempfehlung des Ausschusses. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/5673 mit dem Titel „Chancen von altruistischen Organlebendspenden nutzen – Spenden erleichtern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der Linken ist von der übrigen Mehrheit des Hauses die Beschlussempfehlung damit angenommen. Dann kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 8 c bis 8 e. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/7719, 19/7722 und 19/7721 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Der vorliegende Antrag der AfD fordert eine Selbstverständlichkeit. Wir wollen, dass die Grundsatzfragen der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik hier im Bundestag debattiert werden. Meine Damen und Herren, der deutschen Sicherheitspolitik fehlt seit dem Ende des Kalten Krieges der Kompass. Die Regierungen der letzten drei Jahrzehnte haben es nicht geschafft, Deutschlands Interessen in der Welt ausreichend zu definieren, meistens unter dem Verweis auf Deutschlands historische Hypothek, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Doch dieser Verweis ist zur faulen Ausrede verkommen. Die Regierung versteckt sich dahinter und flüchtet sich stattdessen in untaugliche Allgemeinplätze einer sogenannten Friedenspolitik. Aber diese Friedenspolitik ist in Wahrheit gar keine Politik. Es ist nur eine vulgäre Art des Pazifismus, bei dem es am Ende egal ist, ob Menschen sterben oder nicht – Hauptsache, die politisch Handelnden fühlen sich rein. ({0}) Doch das ist eine Illusion. Die deutsche Verweigerung macht schuldig: schuldig durch Nichthandeln. Im Ausland werden die deutschen Ausreden schon lange nicht mehr akzeptiert. ({1}) Wenn nicht die deutsche Vergangenheit als Ausrede missbraucht wird, dann flüchtet sich die Regierung in ein imaginäres europäisches Interesse. Ein solches existiert weder in Frankreich noch in Großbritannien noch in Italien. ({2}) Es existiert nirgendwo. Aber die Regierung nutzt diese Illusion, um nicht liefern zu müssen. Der Lieblingssatz deutscher Außenminister lautet: Das muss auf europäischer Ebene beschlossen werden. – ({3}) Es ist das Synonym für: Jetzt passiert lange nichts, und Deutschland hat keine eigene Position. – Das muss sich ändern. ({4}) Deutsche Sicherheitspolitik gehört aus zweierlei Gründen hier ins Plenum. Zum einen sind sicherheitspolitische Entscheidungen in letzter Konsequenz auch immer Entscheidungen über Leben und Tod – nicht über Leben und Tod der Entscheider, sondern über Leben und Tod junger Männer und Frauen, die ihren Dienst etwa in den Streitkräften tun. Ein Parlament, das sich der Debatte verweigert, warum seine Soldaten ihr Leben geben, ist eine Schande. ({5}) Der zweite Grund hat weniger mit Anstand zu tun denn mit Handlungssicherheit. ({6}) – Hier regen sich die Richtigen auf. ({7}) Nur wenn die strategische Ausrichtung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik definiert ist, kann das operative Tagesgeschäft von Regierung und Parlament gelingen. Da die Regierung diese Basis nie geschaffen hat, stochert sie auch bei allen nachgeordneten Entscheidungen im Nebel. Einige Beispiele. Weil die Bundesregierung nie definiert hat, was Deutschlands Interessen im nördlichen Afrika sind, kann sie bis heute auch keine tragfähige Strategie für den Einsatz der Bundeswehr in Mali vorlegen. Weil die Bundesregierung nicht sagen will, dass es im deutschen Interesse liegt, die Fluchtrouten bereits südlich der Sahara abzuriegeln, kann sie der Bundeswehr kein robustes Mandat geben, um Schleuserbanden zu bekämpfen. Die Folge: Weder die Bevölkerung noch die Truppen wissen eigentlich, warum die Bundeswehr in Mali ist. Ein solcher Einsatz ist sinnlos. ({8}) Nächstes Beispiel. Weil die Bundesregierung den Konflikt um Syrien aus innenpolitischer Gefallsucht beurteilt, hat sie nichts zur Beendigung des furchtbaren Krieges beigetragen. Im Gegenteil: Die Bundesregierung gab vor Jahren die Parole aus: Assad muss weg! – Das war alles, ohne eine Alternative zu benennen, ohne eigenes Engagement, ohne einen Plan. Das ist keine Außenpolitik, das ist Gesinnungspolitik, man könnte auch sagen: Ideologie. ({9}) Richtig wäre gewesen, Deutschlands Interesse an Stabilität in dieser Region klar zu formulieren und danach das Handeln auszurichten; denn ohne Stabilität wird es auch keinen Frieden geben. Nur so funktioniert Realpolitik. Daran können sich dann deutsche Diplomaten und Militärs klar orientieren. Der bloße Wunsch, ein Diktator möge verschwinden, ohne zu sagen, was danach kommt, ist der stärksten Nation in Europa unwürdig. ({10}) Ein letztes Beispiel: die deutsche wehrtechnische Industrie. Was ist das strategische Ziel Deutschlands? Wir wissen es nicht. Welche Schlüsseltechnologien wollen wir rein national vorhalten? ({11}) Welche Exportquote brauchen wir, um das zu erreichen? Welche außen- und sicherheitspolitischen Interessen verfolgt Deutschland mit Rüstungsexporten, und an welche Bedingungen knüpfen wir diese Exporte? Das alles sind Fragen, die in diesem Parlament nie debattiert und deshalb auch nie abschließend behandelt wurden. ({12}) Aus diesem Mangel an Offenheit und demokratischer Debattenkultur entsteht Handlungsunsicherheit. Aus Handlungsunsicherheit entsteht deutsche Unzuverlässigkeit. Meine Damen und Herren, es reicht nicht, mit dem Finger des Moralisten auf die USA zu zeigen. Die Unzuverlässigkeit in Bündnisfragen ist eine deutsche Erfindung. ({13}) Wozu unterhält die Bundesrepublik Deutschland Streitkräfte? Das ist an und für sich eine simple Frage. Sie ist aber seit 1990 nicht mehr ausreichend beantwortet worden. Streitkräfte sollen uns verteidigen und unsere Interessen zur Not auch mit Gewalt durchsetzen. Genau das sagte der britische Verteidigungsminister für sein Land am Montag in einer Rede am Royal United Services Institute, an der unabhängigen Denkfabrik für Verteidigung und Sicherheit. Ja, die Briten haben so etwas. Und noch etwas haben die Briten: eine breite öffentliche Debatte darüber. Wann gab es das je in Deutschland? Deutschland ist heute nicht mehr zur Verteidigung befähigt, weder zur Landesverteidigung noch im Bündnis. Diese Tatsache allein sollte den Bundestag nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Doch was macht die Bundeskanzlerin? Sie schweigt, als ob sie mit diesem unhaltbaren Zustand nichts zu tun habe. Das ist nicht akzeptabel. Das Parlament sollte sie zwingen, sich zu erklären. Deutschland muss seine sicherheitspolitischen Interessen definieren. Vorher muss das höchste Verfassungsorgan darüber streiten. Danach muss die Gesellschaft darüber streiten. Streit gehört zur Demokratie. Morgen beginnt in München die Sicherheitskonferenz. Deutschland ist Gastgeber.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Sie müssen zum Schluss kommen, Herr Kollege.

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Deutschland sollte aber auch Teilnehmer sein. Das setzt voraus, die eigene sicherheitspolitische Position zu definieren. Es gibt nur einen Ort, das zu tun: Das ist der Deutsche Bundestag. Danke. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist der Kollege Manfred Grund für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Zuschauer auf den Tribünen und vor den Fernsehgeräten! Herr Kollege Lucassen, Kollegen von der AfD, wenn das an deutschen Positionen, was Sie hier herauszuarbeiten versucht haben, auf einen deutschen Alleingang in der Außen- und Sicherheitspolitik hinausläuft, dann schrillen bei unseren Nachbarn eingedenk ihrer Erfahrungen des letzten Jahrhunderts alle Alarmglocken. Wenn sich Ihre deutsche Positionierung vielleicht darauf beschränkt, dass wir zusammen mit Putin sicherheitspolitisch im Schulterschluss agieren, dann schrillen alle Alarmglocken in der Ukraine, in Polen und in den baltischen Staaten. Das heißt, bei allen deutschen Positionierungen, die denkbar sind, müssen wir immer die Geschichte mitdenken und immer auch die Nachbarschaft und die Erfahrungen, die sie mit uns gemacht haben, berücksichtigen. ({0}) Ich will auf Ihren Antrag eingehen. In diesem Antrag geht es darum – Sie haben es zu Teilen in der Rede dargelegt –, dass wir hier einen Mangel an strategischen, politischen und Sicherheitsdebatten haben, dass der Diskurs zwischen politischem Personal, Regierung, Parlament und Zivilgesellschaft zu kurz kommt und dass wir uns Ihrer Meinung nach anders positionieren müssten. Ich will einmal mit den Debatten anfangen, die wir hier führen. Wir führen derzeit jährlich 18 Mandatsdebatten über Auslandseinsätze der Bundeswehr. Wir hatten in dieser Legislaturperiode im Bereich der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen allein 14 Vereinbarte Debatten und Aktuelle Stunden im Bundestag. Dazu kommen die Regierungserklärungen durch die Bundeskanzlerin. Sicherheitspolitische Debatten werden durchaus in ausreichender Zahl geführt, möglicherweise etwas zu stark fragmentiert. Des Weiteren ist die Frage zu beantworten: Wie reagieren wir als Koalitionsparteien auf die sich ändernden internationalen und europäischen Rahmenbedingungen? Hier hilft ein Blick in den Koalitionsvertrag von Union und SPD, also in das Aufgabenheft von Regierung und Koalition. Dort heißt es: Wir wollen eine Europäische Union, die nach innen erfolgreich ist und zugleich in der globalisierten Welt unsere Interessen wahrt und mit unseren Werten überzeugt. Hierzu braucht sie eine kraftvolle gemeinsame Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik, die weit intensiver als bisher mit einer Stimme spricht und mit gut ausgestatteten und aufeinander abgestimmten zivilen und militärischen Instrumenten arbeitet. Weiter lesen wir im Koalitionsvertrag: Wir werden die Europäische Verteidigungsunion mit Leben füllen. Bleibt noch die Frage zu beantworten, ob sicherheitspolitische Debatten, sicherheitspolitische Themen und sicherheitspolitische Erfordernisse in ihrer ganzen Ambivalenz die Öffentlichkeit erreichen und ob der öffentliche Diskurs ausreichend in der politischen Debatte reflektiert wird. Denn wenn sich außen- und sicherheitspolitische Debatten auf das politische Personal und auf Zirkel mit hoher Expertendichte beschränken, hilft das wenig für die Legitimation und wenig für die Zustimmung durch die Zivilgesellschaft. Auch deshalb haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, die außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Handlungs- und Strategiefähigkeiten sicherzustellen, da es nach unserer Überzeugung wichtig ist, eine breite Öffentlichkeit und Experten zusammenzubringen. Bleibt die Frage: Ist damit alles gut geregelt? Problem benannt, Problem gebannt? Ja und nein. Die Gleichzeitigkeit von Krisen in und um Europa, im Äußeren durch kriegerische Konflikte und durch die Erosion von Gesellschaften und Staaten erfordert einen ständig weiterzuentwickelnden strategischen Diskurs in Deutschland. Ich will zum Schluss noch eine Frage aufwerfen, nämlich ob das alles schon im Sinne einer ausreichenden Gesamtstrategie beschrieben ist. Ich finde, wir brauchen ressortübergreifend und losgelöst von Tagesopportunitäten eine Einrichtung, eine Institution, um in einer nationalen Sicherheitsstrategie Bedrohungen für Europa zu definieren, Deutschlands Interessen, Absichten und Ziele festzulegen sowie die Aufgaben und die dafür notwendigen Instrumente, aber auch die Fähigkeitslücken zu identifizieren. Also, wir brauchen nach meiner Meinung einen Bundessicherheitsrat als zentrales außen- und sicherheitspolitisches Entscheidungs- und Koordinierungsgremium mit den Aufgaben, langfristig Interessen und Zielsetzung zu definieren, die Ressortaktivitäten zu koordinieren, und das bei regelmäßiger Evaluierung und Anpassung der Zielsetzung. Meine Damen und Herren, das könnte eine spannende Debatte werden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marcus Faber für die FDP. ({0})

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Werte Freunde des Rechtspopulismus, Sie wollen hier mehr über Sicherheitspolitik debattieren? Das finde ich gut, das finde ich schön, das ist auch absolut richtig. Aber was heißt bei Ihnen „Sicherheitspolitik“? Wenn man in Ihren Antrag schaut, findet man den Begriff „Vereinte Nationen“ da genauso wenig wie den Begriff „Europäische Union“. ({0}) Das kann eigentlich nicht Ihr Ernst sein; denn das sind zentrale Elemente der Sicherheitspolitik. ({1}) Es darf in diesem Hause auch nicht bei der Forderung nach einer Debatte bleiben. Handlungsfähigkeit ist ein zentraler Kern der Sicherheitspolitik, und den lassen Sie hier völlig vermissen. Jegliche Konsequenz in diese Richtung fehlt in Ihrem Papier. Dieses Papier hat ein sicherheitspolitisches Verständnis aus den 1980er-Jahren: statische Freund-Feind-Schemata, eindimensional. Das ist genau das, was wir hier eben gehört haben. ({2}) Wir müssen Sicherheitspolitik neu denken. Wir leben heute in einer wesentlich dynamischeren Welt, Stichwort „dreidimensional“. Wir müssen auch sehen, wie sich verschiedene Perspektiven in diesem Bereich kreuzen: Außen- und Verteidigungspolitik, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik. Das ist vernetztes Handeln, was hier notwendig wird. Wir Freie Demokraten haben dazu erst diese Woche einen umfassenden Antrag diskutiert, der genau diese Zusammenhänge darstellt, der die Sicherheitspolitik in Deutschland dreidimensional denkt. Unsere drei D sind dabei: Defence, Diplomacy und Development. Die müssen gemeinsam diskutiert werden – strategisch wie finanziell. ({3}) Insgesamt möchten wir für vernetzte Sicherheit 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts investieren. ({4}) – Ja, 3. – Es sind nämlich diese drei Dimensionen, die eine nachhaltige und gute Sicherheitspolitik gewährleisten. Das ist auch die Grundlage dafür, dass man sowohl bei den Vereinten Nationen als auch bei der NATO zu seinen Zusagen stehen kann. Meine Damen und Herren, uns liegt heute ein Antrag mit vier Seiten Prosa und einer einzigen inhaltlichen Forderung vor, nämlich nach einer jährlichen Debatte über Sicherheitspolitik in diesem Haus. Das ist zu kurz gesprungen. Das ist weitaus zu wenig. Stattdessen brauchen wir eine Debatte über die entscheidenden Themen, die es zu diskutieren gilt. Es darf nicht weiter so sein, dass wir über Entscheidungen der Bundesregierung und des Verteidigungsministeriums aus der Presse erfahren. ({5}) Bestenfalls soll die Legislative an dieser Stelle noch abnicken, was wir an Verlautbarungen lesen. Ich finde es unfassbar, dass wir von Frau von der Leyen aus der Presse erfahren, was der Tornado-Nachfolger werden soll, und dass das – eine Entscheidung, die milliardenschwer ist – in einem Kamingespräch mit Journalisten geklärt und nicht in diesem Haus diskutiert wird. ({6}) Die GroKo hat in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass sie eine Drohnendebatte anstoßen will. Das finde ich auch gut; das ist richtig. Doch was ist da bisher passiert? Nichts. Strategische Debatten, sicherheitspolitische Debatten aus dieser Koalition – völlige Fehlanzeige. Dabei kann es eben nicht bleiben. Meine Damen und Herren, solche Fragen sind Sicherheitspolitik. Solche Debatten gehören hierher, in den Deutschen Bundestag und in die Mitte unserer Gesellschaft. Ihr eigenes Weißbuch ignorieren Sie. Wo etwa hat die Bundesregierung die Strategiefähigkeit erhöht? Nichts haben Sie da unternommen. Für den Kleingeist der antragstellenden AfD ist die Lage viel zu ernst. Ebenso sind SPD und Union mutlos. ({7}) Wir brauchen kontinuierliche sicherheitspolitische Debatten hier und in der Mitte der Gesellschaft. Wir brauchen sie nicht einmal im Jahr, sondern wir brauchen sie kontinuierlich, und wir brauchen sie ernsthaft – jenseits von Skandalisierung und Extremen. ({8}) Die Aufrüstungsspirale, die Andrea Nahles anspricht, ist genauso von gestern wie der Austritt aus der NATO, den die Linkspartei fordert. Wir Freie Demokraten wollen stattdessen einen vernetzten Ansatz. Wir wollen Sicherheit dreidimensional denken ({9}) und die Schaufensterdebatten aus den 80er-Jahren endlich dahin zurückschicken, wo sie hingehören, nämlich in die 80er-Jahre. Vielen Dank. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Dr. Barbara Hendricks. ({0})

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Abgeordnete Lucassen hat hier eine Rede zur Begründung des vorliegenden Antrages vorgetragen, die nun wirklich mit der außen- und sicherheitspolitischen Realität der Bundesrepublik Deutschland oder Europas oder der NATO oder ({0}) was auch immer nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. ({1}) Er hat im Übrigen auch gar nicht den Antrag begründet, den die AfD hier vorgelegt hat; ({2}) denn in dem Antrag fordert die AfD eigentlich nur zwei Dinge: Sie möchte eine öffentliche Debatte über die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, und sie will eine starke NATO. – Damit kann man sich ja auseinandersetzen. Ich gehe gern auf diese beiden Forderungen ein; denn eigentlich ist das ja gar nicht abzulehnen. Diese Forderungen, dass wir eine ordentlich funktionierende NATO und eine öffentliche Debatte über Sicherheitspolitik brauchen, werden wahrscheinlich die allermeisten Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus teilen. Allerdings: Jeder Auslandseinsatz – das wissen wir – braucht ein Mandat durch den Bundestag. Und jedes einzelne Mandat wird sogar zweimal hier debattiert, nämlich bei der Einbringung und bei der Verabschiedung. Über jeden Einsatz wird also öffentlich debattiert und abgestimmt, und, wie ich meine, jeder Einsatz wird mit den Mehrheiten dieses Hauses legitimiert. Deswegen glaube ich nicht, dass wir hier einen Mangel an Debatten über Sicherheitspolitik haben. Selbstverständlich stellt sich die Bundesregierung regelmäßig den Fragen der Abgeordneten, natürlich auch zur Sicherheitspolitik. Die AfD fordert also eine Debatte, die es gibt. Im letzten Jahr haben wir praktisch in jeder Sitzungswoche eine sicherheitspolitische bzw. außenpolitische Debatte geführt. Ich wiederhole: praktisch in jeder Sitzungswoche! Ihre zweite Forderung ist: Deutschland soll ein starker Partner in der NATO sein. – Auch das ist sicherlich die Meinung der meisten Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus. Seltsam ist allerdings die Begründung für diese Forderung, die Sie in Ihrem Antrag liefern. Sie reden in Ihrem Antrag von – ich zitiere – „der drastischen Veränderung der sicherheitspolitischen Lage an Europas östlicher Peripherie“ seit „2014“. Was Sie hier so verschwurbelt umschreiben, ist nichts anderes als die Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2017. ({3}) Sie sagen also – um das verständlich auszudrücken –: Da Russland die Krim besetzt hat, braucht es eine starke NATO. Nun liest man ja immer wieder in den Zeitungen, dass Mitglieder der AfD-Fraktion regelmäßig auf die Krim gereist sind. ({4}) Darüber hinaus war ebenfalls der Presse zu entnehmen, dass Mitglieder Ihrer Partei Reisen in die besetzten Gebiete im Osten der Ukraine organisieren. In diesem Zusammenhang wurde auch über Kontakte von AfD-Mitgliedern zum russischen Geheimdienst berichtet. Ich muss Sie also fragen: Was wollen Sie? Wie passt dieser Antrag zu dem tatsächlichen Verhalten von Abgeordneten aus Ihren Reihen? ({5}) In Ihrem Antrag werden übrigens auch die nuklearen Fähigkeiten der NATO-Partner gelobt. Ich war bisher davon ausgegangen, dass nukleare Fähigkeiten und die damit verbundene Abschreckung durch ein System kollektiver Sicherheit auf der Basis von Verträgen eingehegt sein sollen. Daher bemüht sich auch die deutsche Politik um die hoffentlich gelingende Rettung des INF-Vertrages. Übrigens – da Sie behaupten, seit 30 Jahren seien sicherheitspolitische Debatten weder in der Öffentlichkeit noch im Parlament vorgekommen –: Diese Debatten haben wir in der Bundesrepublik Deutschland schon in den 80er-Jahren geführt. Die Debatten haben – auch ich selber war bei den Demonstrationen auf der Hofgartenwiese dabei – ja tatsächlich überall stattgefunden. ({6}) Zweifellos brauchen wir eine gut aufgestellte und eine gut ausgerüstete Bundeswehr. Doch Außen- und Sicherheitspolitik braucht eben mehr als die militärische Komponente. Es braucht die geduldige Beharrlichkeit der Diplomatie, die übrigens auf einem festen Wertegerüst beruht und sich auch von Rückschlägen nicht entmutigen lässt. Ich rede ausdrücklich von einem Wertegerüst, und ich werde nicht akzeptieren, wenn Sie das als Gesinnung oder Ideologie diffamieren. ({7}) Genau diesen Weg der Diplomatie beschreitet Deutschland aktuell zum Beispiel als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, als verlässliches Mitglied der Europäischen Union und in vielfältigen Strukturen bilateraler Zusammenarbeit weltweit. Ja, Politik kann mühsam sein. Aber das passt nicht in Ihr eindimensionales Weltbild, und vor allen Dingen sind Sie nicht bereit, Ihren verblendeten Anhängern beizubringen, dass es in dieser Welt eben nicht eindimensional zugeht. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist der Kollege Matthias Höhn. ({0})

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als der frühere Verteidigungsminister Peter Struck im Jahr 2002 davon sprach, die Sicherheit Deutschlands – darum geht es ja heute – werde auch am Hindukusch verteidigt, befand sich der Umbau der Bundeswehr zu einer weltweit agierenden Einsatzarmee noch in den Kinderschuhen. Heute ist die Bundeswehr in 16 Missionen aktiv. 16 900 Soldatinnen und Soldaten sind gegenwärtig im Namen einer völlig verfehlten Sicherheits- und Verteidigungspolitik in aller Welt unterwegs. 16 900-mal steht das aus meiner Sicht im Widerspruch zum Kernanliegen des Grundgesetzes. Nach dem Grundgesetz ist nämlich die Landesverteidigung die Kernaufgabe der Bundeswehr. ({0}) Die Sicherheit des Landes wird nicht mit der Entsendung von Militär quer über den Globus erhöht. Mehr Militär führt eben nicht zu mehr Sicherheit, auch nicht in Afghanistan, wo wir schon über 17 Jahre darauf warten. ({1}) Der AfD ist das alles noch viel zu wenig; das sieht man, wenn man in ihren Antrag schaut. Dort heißt es, Europa warte auf deutsche Führung und Unterstützung in militärischer Hinsicht. Was für ein Geschichtsverständnis! Herr Lucassen ist ja selber darauf eingegangen. Die Menschen in Europa warten auf vieles – ich rede von den Menschen, nicht von den Regierungen –, aber worauf sie sicherlich am wenigsten warten, ist eine deutsche militärische Führung. ({2}) Die Zeiten, in denen die deutsche Rechte eine militärische Dominanz Deutschlands auf diesem Kontinent anstrebte, waren sicherlich nicht die Glücksmomente Europas, sondern das Gegenteil. ({3}) Auch wir sind dafür, dass die größte Volkswirtschaft in Europa vorangeht. Die Frage stellt sich nur, womit. Meiner Ansicht nach sollte sie mit Abrüstung vorangehen und nicht dem US-Präsidenten bedingungslose militärische Gefolgschaft leisten. ({4}) Die AfD will wie die Große Koalition – so steht es in ihrem Antrag – 2 Prozent der Wirtschaftskraft für das Militär ausgeben, also rund 80 Milliarden Euro. ({5}) Das wäre ein Kniefall vor den Forderungen der US-Administration. Eine selbstbewusste Außen- und Sicherheitspolitik – davon reden Sie ja gerne – bedeutet aber, einen eigenen Ansatz zu finden. ({6}) Im Übrigen gelten laut Sicherheitsreport 2019 aus Sicht der Deutschen die USA – nicht völlig ohne Grund – als größte sicherheitspolitische Bedrohung. ({7}) In einer Welt des Verlustes von Regeln und Verlässlichkeit, des Hoch- und Wettrüstens, eines gekündigten INF-Vertrages brauchen wir deutliche Signale der Entspannung, der Abrüstung, der Zurückhaltung bei Investitionen ins Militärische. Gehen wir doch auf diese Weise einmal vorneweg, statt anderen immer nur hinterherzulaufen. ({8}) Die Bundesregierung macht leider das Gegenteil: 25 Milliarden Euro sollen dem Finanzminister in seiner Finanzplanung fehlen, haben wir gehört. Was ist die Konsequenz der Koalition? Sie versprechen der NATO, bis 2024  60 Milliarden Euro für die Bundeswehr zur Verfügung zu stellen. ({9}) Das würde bedeuten, dass sich der Verteidigungsetat innerhalb von zehn Jahren, seit dem Amtsantritt von Frau von der Leyen, verdoppelt hat. ({10}) Ich stelle mir einmal kurz vor, welche Reaktionen wir hier im Saal hätten, wenn wir an anderer Stelle das Rad so groß drehen würden. Warum können wir eigentlich nur in Rüstungsfragen das Rad so groß drehen und nicht in sozialen Fragen? ({11}) Sie können ja gerne einmal die Forderung stellen, die Rente zu verdoppeln. Vielleicht gäbe es dann eine andere Reaktion aus meiner Fraktion. Die Selbstverständlichkeit, mit der Sie immer mehr Geld in die Verteidigung stecken, ist schon atemberaubend. Schauen wir einmal, wohin das Geld geht. Mehr als 20 Milliarden Euro sind in die Auslandseinsätze geflossen. Die Kosten für militärisches Gerät explodieren. Allein die neun zentralen Beschaffungsvorhaben der Bundeswehr werden um 12,4 Milliarden Euro bzw. 20 Prozent teurer. Hinzu kommt: Die Projekte werden auch gerne von der Verteidigungsministerin schlank gerechnet. Es werden Preisgleitklauseln eingeführt, die den Steuerzahler zusätzlich 8,2 Milliarden Euro kosten. Wie wäre es denn mit Schutzklauseln für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bei den großen Rüstungsprojekten? ({12}) Wer die Interessen der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt stellen will, muss noch etwas anderes tun – auch dazu findet sich etwas im AfD-Antrag –: Er sollte Schluss damit machen, dass amerikanische Atomwaffen auf deutschem Boden stationiert sind. ({13}) 70 Prozent der Bevölkerung wollen das. Die AfD will das Gegenteil. Die Zeiten, in denen nukleare Abschreckung für einen Gewinn an Sicherheit gehalten wurde, müssen endlich aufhören. ({14}) Ich frage mich in diesen Diskussionen jedes Mal, ob Ihnen nicht auffällt, dass jeder Kriegseinsatz, jede Entscheidung, mehr Geld in den militärischen Bereich zu investieren, Teil einer globalen Aufrüstungs- und Eskalationsspirale ist. Aus Worten werden Stimmungen, aus Stimmungen werden Aufrüstungsentscheidungen, aus Aufrüstung wird Konfrontation. Was kommt eigentlich nach der Konfrontation? Wir müssen raus aus dieser Spirale, raus aus diesen Rüstungsprojekten. Wir müssen Schluss machen mit Waffenlieferungen in die gefährlichsten Regionen der Welt. ({15}) Wir müssen an internationalen Vereinbarungen festhalten, statt sie aufzukündigen. Wir brauchen Gespräche statt Großmanöver. Nun meinen einige, jeder müsse auf den anderen warten. Ich glaube, das wird nicht helfen. Einer wird den Anfang machen müssen, und das könnte und sollte die Bundesrepublik Deutschland sein. Herzlichen Dank. ({16})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Agnieszka Brugger. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man den Antrag liest und die Rede gehört hat, hat man den Eindruck, dass die AfD, seit sie im Bundestag ist, die Debatten hier komplett verschlafen hat. ({0}) Wie meistens bei AfD-Anträgen, lohnt sich auch hier ein Blick auf die reinen Fakten. Es gibt elf Auslandseinsätze der Bundeswehr – das ist schon erwähnt worden –; die Mandate werden jeweils zweimal, und zwar in der Regel zur Primetime, hier im Bundestag gelesen. Wir führen zweimal im Jahr eine Debatte zum Verteidigungshaushalt. Wir debattieren einmal im Jahr den Jahresbericht des Wehrbeauftragten; so etwas hat übrigens kein anderer Ausschuss im Bundestag. Viele Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ausschüssen beneiden uns nicht nur um die Häufigkeit und Plenumsplätze dieser Debatten, sondern auch – da nehme ich Sie aus – um den Ton, der trotz der großen inhaltlichen Unterschiede, die man auch in dieser Debatte wieder beobachten kann, in diesen Debatten herrscht. ({1}) Ich erinnere zum Beispiel an die in meinen neun Jahren im Bundestag, wie ich finde, mit bewegendste Debatte hier zum Thema „60 Jahre Bundeswehr“. Wir werden demnächst sicherlich auch leidenschaftlich zu dem Thema „70 Jahre NATO“ streiten und debattieren. Ich möchte noch ein anderes Beispiel herausgreifen, wo wir, von der FDP über die Union, die Grünen und die SPD bis hin zur Linkspartei, trotz der großen inhaltlichen Unterschiede alle an einem Strang gezogen haben. Es ging darum, gegen Widerstand aus dem Verteidigungsministerium die Versorgung der im Einsatz körperlich oder seelisch versehrten Soldatinnen und Soldaten zu verbessern. Das war für mich wirklich eine der tollsten Sachen, die ich in diesem Parlament erlebt habe. Dafür sage ich vielen Dank. Das hat die Realität der Betroffenen verändert; man braucht einfach nur mit ihnen zu sprechen. ({2}) All das hat die AfD verschlafen. Ich kann Ihnen nur einen Blick in die Mediathek empfehlen. Unter www.bundestag.de können Sie das nachschauen und noch etwas lernen. Sie haben aber auch die sicherheitspolitische Debatte der letzten Jahrzehnte völlig verschlafen. Ich bin ja sonst mit der FDP nicht immer einer Meinung, aber der Hinweis auf die 80er-Jahre stand auch in meinem Redemanuskript; denn das ist der Eindruck, der entsteht, wenn man Ihren Antrag liest. ({3}) Und Sie haben noch ein drittes Mal geschlafen – ich weiß, es passt nicht in Ihre ideologische Welt –: Es geht um die Erklärung des Bundeskanzlers. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass wir seit 2005 in der Bundesrepublik Deutschland eine Bundeskanzlerin haben. ({4}) In einer Zeit, in der die internationale Ordnung unter Beschuss steht, stellen Sie sich mit einem solchen Antrag an die Seite der Populisten und Autokraten, der Trumps, der Putins und der Bolsonaros. Einige versuchen gerade, unsere Ordnung zu zerschlagen. Es muss doch oberste Priorität der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik sein, unsere gemeinsame internationale Friedensordnung zu verteidigen und zu stärken – ja, aus einer tiefen Werteorientierung heraus, aber auch aus unserem ureigensten Interesse, damit am Ende nicht das brutale Recht des Stärkeren, sondern die kluge Stärke des Rechts gewinnt. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU bis zur Linkspartei, ich halte hier gerne streitbare Redebeiträge. Aber in dieser Debatte würde ich gerne etwas Versöhnliches, etwas nach vorn Gerichtetes sagen, das ich mit einer Bitte verbinde. Natürlich wird die Bundeswehr immer eine herausragende Rolle in sicherheitspolitischen Debatten spielen. Die Frage der Militäreinsätze ist eben schwerwiegend und wird zu Recht im Deutschen Bundestag so ausgiebig diskutiert. Aber zu kluger und echter Sicherheitspolitik gehört nun einmal so viel mehr. Ich werde nie vergessen, was mir auf meiner allerersten Reise nach Afghanistan – das war im Jahr 2010 – ein Soldat gesagt hat, der wütend zu mir kam. Er hat wirklich die krassesten Einsatzrealitäten des Krieges dort erlebt. Was er gesagt hat, kann ich nicht in seinen Worten wiedergeben. Der Inhalt war folgender: Frau Brugger, ich riskiere hier mein Leben im Auftrag des Parlaments. Wir können hier im besten Fall ein bisschen Sicherheit schaffen. Warum aber passiert hier so wenig im zivilen Bereich? Warum wird nicht mehr für Bildung getan? Warum wird nicht mehr getan, um die Konfliktursachen anzugehen? Warum macht man nicht mehr gegen Korruption und für die Perspektiven der Menschen in diesem Land? Und warum müssen wir eigentlich mit den Warlords kooperieren? – Ich kann Ihnen sagen: Das sind Sätze, die mich noch heute in meiner Arbeit im Verteidigungsausschuss bewegen; sie lassen mich nicht los. Ich wünsche mir, dass wir alle gemeinsam mehr über diese Fragen sprechen. ({6}) Ich bin mir sicher – das haben alle Fraktionen außer der AfD hier schon oft gesagt –: Konflikte lassen sich nicht militärisch lösen. Es kommt darauf an, die Konfliktursachen mit zivilen Mitteln anzugehen. Dabei erinnere ich an die gemeinsame interfraktionelle Initiative für mehr Polizistinnen und Polizisten in internationalen Friedenseinsätzen. Man kann die Bundesregierung und auch die Landesregierungen nur auffordern, diesen richtig großartigen Bundestagsbeschluss endlich in die Tat umzusetzen. ({7}) Ich würde mir auch wünschen, dass wir alle gemeinsam den internationalen Tag des Peacekeepers mit viel Nachdruck begehen. Und ich wünsche mir, dass wir statt dieser irrsinnigen Debatte um das 2-Prozent-Ziel der NATO zum Beispiel endlich darüber sprechen, dass Donald Trump mit seiner nationalistischen Kürzungspolitik bei den Friedensmissionen der Vereinten Nationen eine 200-Millionen-Euro-Lücke gerissen hat. Es wäre doch eine tolle deutsche Initiative, wenn die europäischen Mitgliedstaaten diese Lücke füllten. Das wäre ein echter Beitrag für mehr Sicherheit und mehr Frieden auf der Welt. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns einig sind, dann sollten wir doch in der Lage sein, gemeinsam für mehr Öffentlichkeit, für mehr Personal und für mehr Geld in diesem Bereich zu sorgen – übrigens gerade im Sinne der Soldatinnen und Soldaten. Wenn wir hier nicht genug tun, sie aber in gefährliche Einsätze schicken, werden diese nicht erfolgreich und nachhaltig sein. Wir alle hier brauchen keine Belehrungen durch die AfD. Wir brauchen ein größeres Engagement für Frieden und Sicherheit, für Menschenrechte und Völkerrecht. Wir brauchen auch mehr Anerkennung für die Menschen, die sich – mit Uniform oder ohne – unter gefährlichen Bedingungen dafür einsetzen. Das sollten wir alle gemeinsam, von der FDP bis zur Linkspartei, angehen. Vielen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Henning Otte für die CDU/CSU. ({0})

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der AfD ist Ausdruck von Realitätsverweigerung und purer Schlichtheit. ({0}) Wer an den Debatten im Parlament teilnimmt, der wird feststellen, dass wir die über zehn Mandate in zwei Lesungen beraten. Das macht schon einmal eine Anzahl von mindestens 20 Debatten. Es gibt die Haushaltsdebatten, die wir dazu nutzen, Generalaussprachen durchzuführen. Außerdem gibt es die Aktuellen Stunden zu verschiedenen Themenblöcken. Es zeigt sich, dass Außen- und Sicherheitspolitik ein Kernthema dieser Regierung und dieses Parlaments ist und dass wir dieses Kernthema auch gerne in der Kernzeit debattieren, um der Öffentlichkeit zu zeigen, worum es bei unseren sicherheitspolitischen Debatten geht. Der Antrag der AfD suggeriert ja geradezu, es gäbe diese Debatten nicht bzw. sie würden in Hinterzimmern geführt. Das ist eine schlichte Vereinfachung, eine einfache Schlagzeile, die nicht ausreicht, um Politik zu machen. Vielmehr braucht man Sachkenntnis und Realitätsbetrachtung. Mit dem Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr hat die Bundesregierung deutlich gemacht, wie der sicherheitspolitische Kompass ausgerichtet ist: im vernetzten Ansatz und mit der Konzeption der Bundeswehr, um anzuregen, dass wir, mandatiert, mit Organisationsstrukturen wie den Vereinten Nationen, der NATO, der EU und der OSZE die Stabilität unseres Landes, die Stabilität Europas gewährleisten. Da helfen keine Muster aus dem Kalten Krieg. Ich stelle fest, dass der verteidigungspolitische Sprecher der AfD die Bundeswehr um 2004 bzw. 2005 verlassen hat, um in die Industrie zu gehen. So wird vielleicht verständlich, dass man in diesen alten Mustern verblieben ist. Wir müssen heute allerdings im vernetzten Ansatz vorgehen. Wir müssen zeigen, dass wir Krisen eindämmen können und die Bündnisverpflichtung aufrechterhalten, um dem aggressiven Vorgehen Russlands Einhalt zu gebieten. Wir müssen sagen, dass es nach der Strategie „Abschreckung und Dialog“ nicht darum geht, Grenzen mit militärischen Mitteln zu verschieben. Es geht vielmehr darum, dass wir Krisen eindämmen und Länder stabilisieren, damit diese Krisen nicht bis nach Europa kommen. Deswegen ist es so wichtig, dass wir als CDU/CSU in der Koalition, aber eben auch mit der FDP und den Grünen – die Extremisten links und rechts lasse ich mal außen vor – hier verantwortungsvolle Sicherheitspolitik machen. Das zeigt sich auch in dieser Debatte. ({1}) Wir haben festzustellen, dass der INF-Vertrag durch Russland gebrochen wird. Wir müssen jetzt die Zeit, bis die Kündigung wirksam wird, gemeinsam nutzen, um Sicherheitspolitik zu generieren und vielleicht einen INF-Vertrag zu schließen, der in das 21. Jahrhundert passt. Wir dürfen nicht in alte Strukturen verfallen und eine Aufrüstungsdebatte beginnen, um das parteipolitisch zu nutzen. Vielmehr geht es darum, dass wir auch Länder wie China, Pakistan und den Iran einbinden, dass wir als NATO geschlossen stehen, um deutlich zu machen: Wir wollen dieses Verteidigungsbündnis. Wir wollen – das ist angesprochen worden – keinen Bruch von Verträgen. Deswegen ist es auch im umgekehrten Sinne so wichtig, dass wir mit dem „Strategic Level Report“ deutlich gemacht haben: Wir halten unsere Verpflichtung ein, bis 2024  1,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in die Sicherheit zu investieren, ({2}) und behalten das 2-Prozent-Ziel fest im Auge. Unser Anspruch ist es, dies möglichst früher zu erreichen, meine Damen und Herren. ({3}) Wir brauchen die strategische Souveränität Europas. Da muss Deutschland einen Führungsanspruch haben. Deswegen investieren wir mit diesem Haushalt 43 Milliarden Euro. Wir investieren in modernes Gerät. Mit den Verpflichtungsermächtigungen wird es möglich sein, ein Luftverteidigungssystem einzuführen und einen schweren Transporthubschrauber und ein Mehrzweckkampfschiff anzuschaffen. Dieses Geld ist gut investiert, weil es in die Sicherheit unseres Landes investiert ist. Ich stelle fest: Es wird in Deutschland – von der Jugend bis zu den Älteren – so viel über Sicherheitspolitik debattiert. Deswegen mache ich mir keine Sorgen, dass eine solche Diskussion nicht ausreichend stattfindet. Wir stehen vor wichtigen Entscheidungen bei den Mandatsverlängerungen. Die AfD sagt: Wir wollen raus aus den Mandaten. – Nein, das machen wir nicht; denn wir sind davon überzeugt, dass wir mit einem vernetzten Ansatz Länder stabilisieren und Menschen eine Perspektive geben können – auch damit sie ihr Land nicht als Flüchtlinge verlassen. Wir müssen aber besser werden. Wir müssen die Strukturen der Bundeswehr wieder auffüllen. Wir müssen die Attraktivität des Dienstes erhöhen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Soldatinnen und Soldaten und deren Familien mehr Anerkennung erfahren, die sie berechtigterweise verdienen. Wir müssen unserem Anspruch, den Schutz für unsere Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, gerecht werden, unseren Soldatinnen und Soldaten den Stolz zurückgeben und sagen: Sie haben eine klare und gute Haltung als Staatsbürger in Uniform. Sie sind die Säulen einer verteidigungsfähigen Republik, eines Rechtsstaates für Frieden und Freiheit. Nicht die Phrasen der AfD helfen. Vielmehr geht es darum, gemeinsam für unsere Soldatinnen und Soldaten Sicherheitspolitik zu machen, damit Frieden und Freiheit gewahrt bleiben. Dafür gebührt den Soldatinnen und Soldaten, die als Staatsbürger in Uniform Dienst für unser Land tun, ein ordentlicher Dank. Herzlichen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Renata Alt für die FDP. ({0})

Renata Alt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004654, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz steht unter dem Motto: „Das große Puzzle: Wer sammelt die Teile auf?“, die Einzelteile der zerbrechenden Weltordnung. Deutschland steht gemeinsam mit seinen europäischen Partnern vor immer komplexeren transnationalen Herausforderungen: Terrorismus, Rüstungswettläufe, Cyberangriffe, globale Umweltrisiken, Handelskriege, Flucht und Migration, um nur einige zu nennen. Gleichzeitig steht die regelbasierte und multilaterale Ordnung unter Druck. Ja, wir brauchen sicherheitspolitische Debatten. Aber Ihr Antrag, Kollegen der AfD, ist wirklich von gestern. ({0}) Eine jährliche Generaldebatte zur Sicherheitspolitik und zur Lage unserer Streitkräfte reicht nicht. Dafür ist Sicherheitspolitik heute bei weitem zu komplex. Im Koalitionsvertrag vertritt die Bundesregierung einen vernetzten Ansatz in der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Liebe Vertreter des Kabinetts, Sie haben angekündigt, die Ministerien besser zu koordinieren, um effizienter zu wirken. Aber was erleben wir? Stillstand oder, wie man im Verteidigungsministerium sieht, völliges Chaos! ({1}) Deutschland braucht eine sicherheitspolitische Gesamtstrategie. Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik müssen miteinander abgestimmt sein, und wir brauchen eine regelmäßige Evaluierung sowie im Notfall auch eine strategische Neuausrichtung. ({2}) Im Gegensatz zu Ihnen, Kollegen der AfD, gilt für uns Freie Demokraten der feste Grundsatz: Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik ist im europäischen Rahmen zu denken und umzusetzen. ({3}) Deutschland und Frankreich wollen mit dem Vertrag von Aachen ihre Außen- und Sicherheitspolitik vertiefen. Ich frage mich: Warum wurden bisher keine Freundschaftsverträge mit den östlichen Nachbarn Deutschlands abgeschlossen? Dadurch könnte die Außen- und Sicherheitspolitik der EU wesentlich gestärkt werden. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen einen neuen sicherheitspolitischen Kompass. Wir brauchen intensive Debatten darüber, was Sicherheitspolitik heute für Deutschland und für die EU bedeutet und wie wir Sicherheitspolitik gestalten wollen. Wo sollen diese Debatten stattfinden, wenn nicht hier, im Deutschen Bundestag? Sie werden aber anders aussehen, als Sie von der AfD es sich wünschen. Der Überweisung in den Ausschuss werden wir zustimmen. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Abgeordnete Siemtje Möller. ({0})

Siemtje Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sicherheitspolitische Debatten gehören in den Bundestag. Genau das war die Überzeugung der Mütter und Väter des Grundgesetzes, und deswegen beseelt diese Idee schon 70 Jahre ebendieses unser Grundgesetz. ({0}) Aufwühlende Debatten um die NATO, um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und um nukleare Abrüstung gehören seit Anbeginn der Bundesrepublik zum spezifisch deutschen politischen Diskurs – hier im Bundestag. Diese intensiven Diskussionen, aber auch jene um die Beteiligung der Bundeswehr – beispielsweise an den Jugoslawien- und Balkankriegen oder am bisher einzigen NATO-Bündnisfall und die damit einhergehende Intervention in Afghanistan – politisierten ganze Generationen. Nicht zuletzt das Nein eines deutschen Kanzlers zum Irakkrieg unter äußerster Strapazierung des westlichen Bündnisses wühlte auf und wurde intensiv hier im Bundestag diskutiert. Der Gedanke der Parlamentsarmee ist ebenso in dieser Idee begründet und genau von diesem Geist beseelt: Nur ein Parlament, das die Einsätze intensiv und kontrovers diskutiert, wird seiner Rolle als Volksvertretung und oberster Dienstherr gerecht. – Alles das wussten wir schon lange, lange, bevor es die AfD gab, und alles das haben wir seit Jahrzehnten verinnerlicht und zum festen Bestandteil unserer parlamentarischen Arbeit gemacht. ({1}) Jedes Jahr führen wir zahlreiche sicherheitspolitische Debatten im Parlament: zu jedem Bundeswehrmandat zweimal, zum Haushalt zweimal, zum Bericht des Wehrbeauftragten, zu aktuellen Vorkommnissen wie der drohenden und nun leider vollzogenen Aufkündigung des INF-Vertrags, zu Angriffen in Syrien und kriegerischen Handlungen nahe der türkischen Grenze, über das NATO-­2-Prozent-Ziel und nicht zuletzt über den Einsatz von externen Dritten im Verteidigungsministerium. Das sind nur einige der Debatten, die wir letztes Jahr im Bundestag geführt haben. Dazu kommen wöchentlich vierstündige Sitzungen und Zusatzsitzungen des Verteidigungsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses. ({2}) Sicherheitspolitische Debatten gibt es also zahlreiche. Sie sind fester Bestandteil der Arbeit des Parlaments. Wenn ich nun aber daran zurückdenke, wie die Abgeordneten der AfD hier im Plenum bereits verschiedene Bundeswehrmandate durcheinandergebracht haben, bin ich mir nicht ganz sicher, ob Ihnen das auch so bewusst ist wie uns. ({3}) Auch Ihr Antrag mit der Forderung nach einer Regierungserklärung des Bundes kanzlers zeigt ja, dass Sie ganz offensichtlich noch nicht ganz im Hier und Jetzt angekommen sind. ({4}) Ich bin der festen Überzeugung, dass es viele Debatten gibt, denen wir uns zu Recht im Parlament stellen und die wir in die Gesellschaft tragen: die Debatte um Rüstungskontrolle und Abrüstung, die Debatte um den Erhalt von Frieden auf dem europäischen Kontinent, das Ringen um das Aufrechterhalten der internationalen Bündnisse und unsere Rolle in ebendiesen Bündnissen und nicht zuletzt die Debatte um die finanzielle Hinterlegung der Bundeswehr. Diese Debatten führen wir nicht nur im Parlament, sondern beispielsweise auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz, im Austausch mit den Stiftungen und Thinktanks, im Gespräch mit den Foren und Kommissionen unserer Parteien und nicht zuletzt mit vielen Bürgerinnen und Bürgern in den Wahlkreisen. Was macht da eigentlich die AfD? Die fährt in Zeiten des wütenden Bürgerkriegs nach Syrien und tut so, als gäbe es gar kein Problem. Die fährt auf die Krim und tut so, als gäbe es dort keinen Völkerrechtsbruch, also gar kein Problem. ({5}) Sie ignoriert also einfach die von ihr so geforderten sicherheitspolitischen Debatten. ({6}) Die AfD schreibt auf den Facebook-Seiten ihrer Abgeordneten Unwahrheiten, um Ressentiments zu wecken. Johannes Huber ereifert sich beispielsweise, den Verteidigungsfall auszurufen. Das muss man sich mal vorstellen: den Verteidigungsfall, für Deutschland, mitten im Herzen von Europa, von Freunden umgeben! Und jede, wirklich jede Fachdiskussion wird auf das Thema Geflüchtete gebracht, um eine diffuse Angst vor dem Fremden zu schüren. Ich bin der festen Überzeugung: Reden hilft und kann Sicherheit schaffen. Europa ist hierfür der lebendige Beweis. ({7}) Sie wollen aber gar nicht über Sicherheit reden. Nein, Sie wollen Unsicherheit verbreiten. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Anita Schäfer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich vorweg eine Bemerkung machen: Lieber Kollege Lucassen, Sie haben gesagt, wir hätten keinen sicherheitspolitischen Kompass. Dem muss ich leider Gottes widersprechen. Sie sind seit 2017 im Parlament. 2016 haben wir das Weißbuch verabschiedet, in dem unsere Ziele klar definiert sind. ({0}) Holen Sie sich also das Weißbuch zur Vorlage, und Sie werden sehen, wo wir stehen und wo wir hingehen. – Danke. ({1}) Meine Damen und Herren, wir debattieren heute ein ernstes und wichtiges Thema. Die Gewährleistung von Sicherheit ist eine der wesentlichen Kernaufgaben eines jeden Staates. Deshalb nimmt die Befassung mit der Sicherheit auch einen so breiten Raum in unserer parlamentarischen Arbeit ein. Erstens verfügt der Deutsche Bundestag gleich über drei Ausschüsse, die sich schwerpunktmäßig mit der äußeren Sicherheit befassen, nämlich den Auswärtigen Ausschuss, den Verteidigungsausschuss und den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Sie alle leisten kontinuierlich hervorragende Arbeit mit dem Ziel, Deutschlands Sicherheit zu gewährleisten. ({2}) Zweitens debattieren wir hier im Plenum regelmäßig über die sicherheitspolitische Lage. Jeder bewaffnete Einsatz der Bundeswehr wird durch ein Mandat beschlossen; das haben wir jetzt öfter von allen Seiten gehört. ({3}) – Aber noch nicht von mir, richtig. – Wir haben derzeit elf Mandate. Zu jedem Mandat gibt es im Bundestag zwei Debatten. Wir reden also 22‑mal im Jahr über die Einsätze und beleuchten dabei die sicherheitspolitische Lage in Deutschland. Drittens ist Deutschland sicherheitspolitisch fest verankert in internationalen Bündnissen und Organisationen wie VN, EU, NATO, OSZE und vielen anderen. Deren Aufgabe ist es, im Auftrag der Mitgliedsländer auch unsere Sicherheit kollektiv zu gestalten; denn Sicherheitspolitik ist im 21. Jahrhundert nicht national zu denken, auch wenn die Damen und Herren der AfD das gerne so hätten. ({4}) Das bringt mich zum vierten Aspekt: Äußere Sicherheit ist untrennbar verknüpft mit innerer Sicherheit, mit einem funktionierenden Transport- und Versorgungswesen, mit sozialen Aspekten usw. Ihr Antrag, der sich auf NATO und Verteidigung beschränkt, zeigt, dass die AfD das Wesen von Sicherheitspolitik wohl nicht so ganz verstanden hat. Im Übrigen wundert es mich doch, dass die AfD hier im Parlament sich zur NATO anders positioniert als in ihrem eigenen Grundsatzprogramm; denn dort fordert sie auf Seite 60 den Abzug der alliierten Truppen und Atomwaffen aus Deutschland. Wie passen diese Forderungen dazu, dass die AfD die NATO in ihrem Antrag nun als stärkstes und erfolgreichstes Bündnis der Welt lobt ({5}) oder dass sie im Antrag mehr deutsches Engagement in der NATO fordert? Zugleich unterstreicht sie die Bedeutung der nuklearen Abschreckung für die deutsche Sicherheit und schreibt, Deutschland profitiere vom nuklearen Schutz der NATO. Trotzdem fordert ihr Grundsatzprogramm den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland. ({6}) Bevor Sie große Debatten anregen, müssen Sie erst einmal selbst zu einer klaren Linie kommen. ({7}) Fünftens, meine Damen und Herren, ist Sicherheitspolitik etwas Hochdynamisches. Die sicherheitspolitische Lage ändert sich permanent und ist geprägt von plötzlich aufflammenden Krisen, Naturkatastrophen und daraus resultierenden Notsituationen sowie permanenten Verschiebungen der Machtsphären. Da hilft es doch nicht, einmal im Jahr eine sicherheitspolitische Generaldebatte abzuhalten. Nein, meine Damen und Herren, wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, haben die kontinuierliche Pflicht, die Sicherheit Deutschlands und seiner Bürger zu gewährleisten. Und das tun wir seit nunmehr 70 Jahren mit großem Erfolg. ({8}) Diese Erfolgsgeschichte deutscher Sicherheitspolitik gründet sich insbesondere auch auf einem bestimmten, aber maßvollen und Kompromisse suchenden Handeln. Eine laute und polternde Generaldebatte, wie Sie die AfD bezeichnenderweise vorschlägt, entspricht nicht unseren Interessen und auch nicht unserem Stil. Deshalb lehnen wir den Antrag ab. Herzlichen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Thomas Hitschler für die Fraktion der SPD. ({0})

Thomas Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004303, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über einen Antrag der AfD, der – zumindest habe ich den Eindruck; viele andere haben auch diesen Eindruck – von einer falschen Grundannahme ausgeht. Ich bin froh, dass nicht nur ich mein Büro darangesetzt habe, herauszufinden, wie viele Debatten wir hier eigentlich pro Jahr über Sicherheitspolitik führen. Heraus kam die Zahl 20. Wenn man bedenkt, dass wir 21 oder 22 Sitzungswochen haben, dann merkt man, dass das im Schnitt eine Debatte pro Woche ist. Die Anzahl der sicherheitspolitischen Debatten hier im Deutschen Bundestag ist also doch enorm. Wer vor diesem Hintergrund behauptet, das Thema werde im Parlament nicht ernst genommen, der hat entweder letztes Jahr üppig alimentierte Nickerchen auf blauen Stühlen gehalten oder bastelt sich seine eigenen Fakten lieber selbst zusammen, Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Allein die Tatsache, dass wir als eines der wenigen Länder weltweit einen Parlamentsvorbehalt haben, zeigt doch, dass das Thema Sicherheitspolitik hier im Hohen Haus einen wirklich hohen Stellenwert hat. Dass wir als gewählte Volksvertreterinnen und Volksvertreter darüber diskutieren und entscheiden, ob Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsatz gehen, gerade das macht doch deutlich, dass uns das Thema eben nicht gleichgültig ist. ({1}) Diese Debatten sind wichtig; aber sie sind nicht das, was an Diskussionen über Sicherheitspolitik möglich und wünschenswert ist. Ich meine, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein anderer Punkt, auf den wir hinwirken müssen: Sicherheitspolitik gehört viel mehr in die breite, ja gesellschaftliche Debatte. Ich will, dass die Sicherheitspolitik und die Friedenspolitik in Deutschland dort diskutiert werden, wo Politik auch im Allgemeinen diskutiert wird. Ich will, dass die Sicherheitspolitik herauskommt aus Hinterzimmern und auch aus bayerischen Konferenzräumen und Teil der normalen politischen Debatte wird. Es muss uns gemeinsam gelingen, dass über die essenziellen friedenspolitischen Fragen der Zeit an Stammtischen und Gartenzäunen in der Nachbarschaft gesprochen wird, dass das Thema an der Kassenschlange, im Wartezimmer und beim Friseur diskutiert wird, da, wo eben auch andere Bereiche der Politik diskutiert werden, Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ich meine, nur so können wir es schaffen, die wichtige Debatte über unsere Verantwortung in der Welt und unsere Verantwortung gegenüber der Bundeswehr noch fester gesellschaftlich zu verankern. Lassen Sie mich Ihnen das an zwei Beispielen, wo wir hätten besser sein können, deutlich machen. Gerade die Grundlagendokumente unserer Sicherheitspolitik entstehen viel zu häufig im Vakuum der Hauptamtlichkeit, losgelöst vom gesellschaftlichen Kontext und auch von gesellschaftlichen Kommentaren. Ich meine, gerade die wichtigen Dokumente wie das Weißbuch zur Sicherheitspolitik oder das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr müssen stärker mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen diskutiert werden. Genau an dieser Stelle muss der breite Diskurs starten. Es muss einfach normal werden, dass wir uns in der Öffentlichkeit um friedenspolitische Themen kümmern. Zweites Beispiel. Wenn wir uns die thematischen Auseinandersetzungen der letzten beiden Bundestagswahlkämpfe vor Augen führen, erkennen wir schnell, dass die sicherheitspolitischen Fragen hier eher im Hintergrund standen. So wurde bei den Kanzlerduellen nirgends über eine strategische Grundausrichtung unseres Landes in Fragen der Friedens- und Sicherheitspolitik diskutiert. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir ändern. Die Fragen nach Sicherheit und Frieden gehören auch in den Wettstreit der Ideen. Sie gehören in die Debatte zwischen den Parteien, und sie gehören auch in Wahlkämpfe hinein. Kolleginnen und Kollegen, allein die Tatsache, dass sich die Bundeskanzlerin Anfang letzten Jahres in einer Regierungserklärung ausführlich mit dem Thema Bundeswehr auseinandergesetzt hat, zeigt, dass Sicherheitspolitik und auch die sicherheitspolitischen Debatten im Bundestag durchaus eine große Bedeutung haben. Ich meine, dass diese Bedeutung unbestritten ist. Genauso unbestritten ist aber auch unsere Verantwortung, die Diskussion hinauszutragen, vom Konferenztisch an den Stammtisch, vom Hinterzimmer ins Wartezimmer, vom Sachverständigen zum Skatbruder und vom Gesprächskreis zum Gartenzaun. Vielen herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist Dr. Volker Ullrich für die CSU. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Abschluss die Debatte noch einmal einordnen. Die AfD hat darüber debattieren wollen, ob wir debattieren sollen, ohne zu sagen, worüber wir debattieren sollen. Das heißt im Grunde genommen, dass Ihr Antrag eine Verweigerung von Verantwortung ist, weil Sie nicht sagen, worüber in welchem Umfang debattiert werden soll, sondern einfach nur diesen Satz rausholen: Es wird nicht genügend debattiert. – Das hat mit der Realität in diesem Parlament und mit der sehr erfrischenden Debatte in unserem Lande nichts zu tun. ({0}) Wir müssen darüber sprechen, dass wir mehr Verantwortung in der Welt übernehmen müssen. Wir sind die viertstärkste Wirtschaftsnation, die dank der Einbettung in die europäische Friedensordnung seit über 70 Jahren in Frieden und Freiheit lebt. Das gibt es nicht zum Nulltarif. Wir werden daran gemessen, wie es uns gelingt und wie wir es schaffen, auch international die Bereitschaft zu erklären, mehr Verantwortung zu übernehmen. Deswegen ist es richtig, dass wir uns auf den Weg machen, das 2-Prozent-Ziel der NATO anzugehen, weil Vertragstreue und Ernsthaftigkeit in internationalen Beziehungen ein hohes Gut ist, und unser Land sollte dieses Gut nicht verletzen. ({1}) Wir müssen auch stark darauf achten, dass die Frage des INF-Vertrages auch von uns gestaltet wird, weil es eben darauf ankommt, wie die nukleare Ordnung in der Welt gestaltet wird. Wir müssen Russland an die Vertragstreue erinnern und Vertragsbrüche mit Stärke beantworten und gleichzeitig auch ein Gesprächsangebot machen. Das wird nicht einfach werden; aber wir müssen diesen Weg gehen. Das bedeutet aber nicht, dass die Entfernung zu Russland und zu den Vereinigten Staaten gleich groß ist. Ich sage Ihnen deutlich: Auch wenn es ab und zu Schwierigkeiten in der Kommunikation gibt: Wir stehen fest auf dem Boden des transatlantischen Bündnisses. ({2}) Wir wissen, dass das eine Wertegemeinschaft ist. Die Sicherheitsordnung Europas kann nur mit der NATO erfolgen und nicht gegen sie, meine Damen und Herren. ({3}) Wir müssen auch darüber sprechen, wie wir die Sicherheitsordnung in Europa besser und anders organisieren. Es ist die Frage, ob wir in außenpolitischen Entscheidungen der Europäischen Union vom Einstimmigkeitserfordernis zum Mehrstimmigkeitserfordernis kommen. ({4}) Dass sich die Europäische Union in Sachen Venezuela nicht darauf hat einigen können, mit einer Stimme zu sprechen, und dieses Vorhaben an Populisten gescheitert ist, die Sie unterstützen, zeigt, dass Sie eigentlich im Lager derjenigen stehen, die Europa spalten wollen, und dass Sie auch im Lager derjenigen stehen, die das Europäische Parlament abschaffen wollen. Das hat mit einer Friedens- und Freiheitsordnung für Europa nichts zu tun, sondern mit einer Ordnung, die Europa abschaffen möchte. Das ist mit uns nicht zu machen. ({5}) Wir müssen über die Antwort sprechen, die wir auf den Herrschaftsanspruch von China geben, wie wir Zusammenarbeit einerseits und wirtschaftliche Gestaltung andererseits auf den Weg bringen. Wir müssen darüber sprechen, welche Strategie wir in Afrika an den Tag legen. Ich glaube, wir hätten Grund genug, noch stärker über die Frage zu reden, wie wir unseren Entwicklungshilfeminister Gerd Müller bei der Strategie unterstützen, einen Marshallplan mit Afrika auf den Weg zu bringen. Dazu haben Sie gar nichts gesagt, weil eben in Ihre Strategie nur passt, auf Flüchtlinge zu schimpfen, aber nicht, darüber zu reden, wie wir Fluchtursachen bekämpfen können. Auch das ist ein wichtiger sicherheitspolitischer Ansatz. ({6}) Der letzte Punkt, meine Damen und Herren, betrifft die Bundeswehreinsätze, die unsere Soldaten weltweit wahrnehmen. Das ist eine gelebte Friedensordnung. Das trägt zum Ansehen unseres Landes in der Welt bei. ({7}) Das ist auch ein Teil der Verantwortung, die wir gemeinsam beschreiben müssen. Wir müssen uns auf den Weg machen, für die Ausrüstung der Bundeswehr noch besser zu sorgen, damit wir unsere Soldaten hier nicht alleine lassen. Das heißt aber auch, dass dieser Bundestag hinter unseren Soldaten steht und dass wir heute klar und deutlich zum Ausdruck bringen, dass wir unseren Soldaten für ihren harten Einsatz danken, den sie für uns alle leisten. Herzlichen Dank! ({8}) Wir stehen, meine Damen und Herren – das ist mein letzter Satz –, für eine multilaterale, wertebasierte Ordnung mit der Geltung des Völkerrechts und der Menschenrechte. Dafür setzen wir uns ein. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Am Ende der Debatte erhält der Kollege Lucassen Gelegenheit für eine Kurzintervention.

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Liebe Kollegen, in den Beiträgen war allesamt eines gleich: dass Sie meinten, dass die jeweiligen Debatten über die Mandatsverlängerung die grundsätzliche sicherheitspolitische Debatte, die wir für erforderlich halten, ersetzen. ({0}) Das ist verkehrt. Das ist so verkehrt, dass das sogar SPD-Politiker durchaus anders gesehen haben. Herr Kollege Hitschler, um Sie persönlich zu erwähnen: Mag sein, dass Sie Ihren Genossen nicht in den Rücken fallen wollten. Aber Sie wissen natürlich sehr wohl, dass Sie bereits im Juni 2014 einen Antrag auf eine grundsätzliche Debatte gestellt haben ({1}) und auch die Bundeskanzlerin zu einer Erklärung auffordern wollten und sich Ende 2016 darüber beklagt haben, dass eine Antwort nie gekommen ist. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Kollege Hitschler, wollen Sie entgegnen?

Thomas Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004303, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehen Sie, Herr Lucassen, ich habe damals auch etwas gemacht. Ich habe nämlich der Bundeskanzlerin einen Brief geschrieben und habe sie darum gebeten, hier eine sicherheitspolitische Regierungserklärung abzugeben, also sich darum zu kümmern: Wie ist es denn um die Bundeswehr bestellt? Was müssen wir tun, um die Bundeswehr besser aufzustellen? – Wissen Sie, was die Bundeskanzlerin letztes Jahr gemacht hat? Eine sicherheitspolitische Grundsatzerklärung abgegeben, hier im Deutschen Bundestag. Verblüffend, oder? Genau deshalb kann ich Ihnen nur raten: Agieren Sie lieber politisch, ich sage mal, auf einer faktisch korrekten Ebene. Vielleicht schreiben Sie auch mal einen Brief an die Bundeskanzlerin. Vielleicht gibt sie dann auch eine Regierungserklärung für Sie ab. Das hilft auf jeden Fall mehr, als hier Schaufensteranträge zu stellen und so zu tun, als hätte man eine bessere Idee als andere. Das kann ich Ihnen nur raten und empfehlen. Danke schön. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7716 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, aber die Federführung ist strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen wünschen Federführung beim Auswärtigen Ausschuss, die Fraktion der AfD wünscht Federführung beim Verteidigungsausschuss. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der AfD abstimmen, Federführung beim Verteidigungsausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Das ist die Fraktion der AfD. Wer stimmt dagegen? – Das sind alle übrigen Fraktionen des Hauses. Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt. Ich lasse nunmehr über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Erwartungsgemäß sind das die Antragsteller und dazu die FDP. Wer ist dagegen? – Die AfD. Enthaltungen? – Damit ist dann der Überweisungsvorschlag angenommen.

Kai Wegner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003860, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gutes Wohnen zu angemessenen Preisen ist ein Eckpfeiler sozialer Gerechtigkeit. Deshalb steht das bezahlbare Wohnen bei dieser Koalition ganz oben auf der Agenda. ({0}) – Sie können mir ja noch ein bisschen zuhören, Frau Lay. Dann werden Sie das vielleicht auch merken. – Für bezahlbares Wohnen gibt es nicht das eine Patentrezept. Deshalb setzen wir auf ein ganzes Maßnahmenbündel im Bereich des Wohnungsbaus. Wir haben ja schon einiges umgesetzt. Ich will das Baukindergeld nennen, das Mietrechtsanpassungsgesetz, die steuerliche Förderung des Mietwohnungsneubaus und die Zukunft der sozialen Wohnraumförderung. Das sind vier Bausteine, die wir als Bund bereits auf den Weg gebracht haben. ({1}) Im Bundesrat hängen derzeit leider die Regelungen zur Sonder-AfA und die Grundgesetzänderung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, das sind in der Tat zwei ganz wichtige Maßnahmen für das bezahlbare Wohnen in unserem Land. Deshalb rufe ich auch von dieser Stelle die Länder noch einmal auf, bitte endlich den Weg freizumachen. Die Länder sind hier gemeinsam mit uns in der Pflicht und in der Verantwortung. Wir brauchen die Grundgesetzänderung. Wir brauchen auch die steuerliche Förderung, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ein weiterer Baustein ist natürlich der Dachgeschoss­ausbau. Uns liegt ein Antrag der FDP vor. Ich freue mich übrigens auf die Debatte dazu auch dann in unserem Bauausschuss. Natürlich müssen wir auch im Bereich des Dachgeschossausbaus die Potenziale besser nutzen. Deshalb war es uns als Koalition so wichtig, zu sagen, dass wir zum Beispiel das Baukindergeld und die Sonder-­AfA auch für den Dachgeschossausbau öffnen wollen, damit wir diesen fördern können, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Aber klar ist auch – das wissen Sie natürlich auch –: Nur über Dachgeschossausbau, nur über Nachverdichtung wird es nicht gehen. Wir brauchen vor allem mehr Bauland. Das ist der entscheidende Flaschenhals beim bezahlbaren Wohnen und Bauen. Von daher begrüße ich es außerordentlich – Staatssekretär Wanderwitz ist unter uns –, dass wir eine Baulandkommission ins Leben gerufen haben, die aktiv ihre Arbeit aufgenommen hat. Ich freue mich geradezu auf die Ergebnisse, die wir bis zum Sommer vorliegen haben und die wir dann als Koalition natürlich auch schnellstmöglich umsetzen wollen und werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, weitere Punkte, die wir als Koalition angehen werden, sind ein Bürgschaftsprogramm für den Bau von selbstgenutztem Wohneigentum, Verbesserungen beim Wohngeld, die Anpassung des Mietspiegelrechts und der Abbau überflüssiger Bauvorschriften. Ich will auch ausdrücklich Genossenschaftsmodelle nennen. Ich will die Wohnungsbauprämie nennen, mit der wir in dieser Legislaturperiode noch für massive Verbesserungen sorgen werden und auch sorgen müssen. ({4}) Liebe Frau Lay, Sie haben gesagt: Nun mal los. – Der Entschließungsantrag, den wir als Koalition heute in diese Debatte einbringen, macht, finde ich, sehr deutlich, ({5}) dass wir das als Schwerpunktthema ansehen. Von daher ist der Einsatz für bezahlbares Wohnen und Bauen wichtig, aber er ist vor allen Dingen eine Gemeinschaftsaufgabe zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil ich gerade in meiner Heimatstadt Berlin die Probleme überhitzter Wohnungsmärkte hautnah erlebe, weil nicht genug Neubau stattfindet, weil die Angebotsmieten steigen, weil viele Familien keine passende Bleibe mehr finden, weil die Angst vor Verdrängung umgeht, kann ich nur eins sagen: Was sich die Berliner Bausenatorin hier leistet, ist eine beispiellose Serie von Pleiten, Unvermögen und offener Arbeitsverweigerung, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Das Ganze ist kombiniert mit einer rückwärtsgewandten Debatte. Ich hätte niemals gedacht, dass wir 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ernsthaft wieder über Enteignung sprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich hätte es nicht für möglich gehalten. ({7}) Statt über Enteignung zu sprechen, sollten wir gemeinsam darüber reden, wie wir zu mehr Wohnungsbau kommen, wie wir zu mehr Neubau kommen; denn planwirtschaftliche Instrumente haben uns nicht geholfen. Was wir brauchen, ist ein Wohnungsmarkt mit starken sozialen Leitplanken. Wir im Bund sind uns dieser Verantwortung bewusst, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Um diese Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen, sollten wir nicht „gegeneinander“ arbeiten. Mit gegeneinander meine ich, dass wir nicht Investoren, Bauwirtschaft verschrecken sollten. Was wir brauchen, ist die Bauwirtschaft. Wir brauchen die gesamte Immobilienwirtschaft. Wir brauchen die Bauwirtschaft nicht als Gegner, sondern als Partner; denn wir haben uns hohe Ziele gesteckt. Dafür brauchen wir genau diese Wirtschaftszweige als Partner. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Beste ist, wenn wir endlich eine Antwort auf das Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage finden. Das muss wieder stimmig gemacht werden.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Sie müssen zum Schluss kommen.

Kai Wegner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003860, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mache ich, Herr Präsident. – Jede Mietpreisbremse, jede Erhaltungssatzung bringt nichts, wenn nicht genug Angebot da ist, meine Damen und Herren. Darin sehen wir unsere Verantwortung als Koalition, und der werden wir nachkommen. Herzlichen Dank. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Marc Bernhard für die Fraktion der AfD. ({0})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Die Situation im Land ist dramatisch. Die Ballungsräume bersten. Die Menschen leiden unter Höchstmieten und dem Mangel an Wohnungen und Bauland. All Ihre vollmundigen, realitätsfernen Versprechungen wie 1,5 Millionen neue Wohnungen, Mietpreisbremse, Dachgeschossausbau sind aber nichts als Taschenspielertricks, um vom eigentlichen Thema abzulenken, dem weißen Elefanten, der mitten im Raum steht und über den niemand sprechen darf, nämlich die Bevölkerungsentwicklung. ({0}) Die deutsche Bevölkerung schrumpft seit 2010 um circa 175 000 Menschen pro Jahr. Jedes Jahr verschwindet eine Stadt wie Potsdam oder Saarbrücken. ({1}) Eigentlich müsste also ein Überangebot an Wohnungen da sein. Tatsächlich wird die Wohnungsnot in Deutschland jedoch jedes Jahr größer. Das hat einen klaren Grund: In Deutschland kommt jedes Jahr eine Stadt wie Hannover oder Dresden durch Zuwanderung dazu, in den letzten acht Jahren also 4 Millionen Menschen. Bei einer durchschnittlichen Haushaltsgröße von zwei Personen benötigen diese Menschen also 2 Millionen Wohnungen. Die aktuelle Wohnungsnot ist also das Ergebnis eines totalen Regierungsversagens. ({2}) Ich kann doch nicht ernsthaft die Grenzen öffnen, jeden reinlassen – allein in den letzten drei Jahren 2 Millionen illegale Migranten – und glauben, dass das keine Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt hat. ({3}) Ja, es hat Auswirkungen. Jeder sechste Haushalt zahlt mehr als 40 Prozent seines Einkommens nur für die Kaltmiete. Für viele dieser Menschen bedeutet das, dass ihnen nicht genug Geld für den Alltag bleibt. Es entstehen dann ganz sonderbare Verzerrungen: Während viele Flüchtlingsunterkünfte leer stehen, müssen Obdachlose draußen frieren. Hier in Berlin treibt man es dann noch auf die Spitze. Einer, der schon länger hier lebt, und ein sogenannter Flüchtling bewerben sich für dieselbe Wohnung. Beide erhalten Hilfe vom Staat, aber der rot-rot-grüne Senat bezahlt dem Vermieter für ein und dieselbe Wohnung 20 Prozent mehr, wenn die Wohnung an den Flüchtling vermietet wird. ({4}) Sie hier auf der linken Seite machen damit Inländerdiskriminierung zum Prinzip des Staates, und das schlägt dem Fass den Boden aus. ({5}) Solange die Bundesregierung nicht willens ist, die Kontrolle über unsere Grenzen wiederzuerlangen, und solange die Bundesregierung sich weigert, unkontrollierte Zuwanderung zu unterbinden, wird sich die Wohnungsnot in Deutschland unweigerlich weiter verschlimmern. Ein weiterer Aspekt, der von Ihnen gerne einfach ausgeblendet wird: Die Deutschen erarbeiten zwar den meisten Wohlstand für Europa, sind aber nach Angaben der Europäischen Zentralbank die Ärmsten im Euro-Raum. ({6}) So ist zum Beispiel das durchschnittliche Haushaltsvermögen der Griechen doppelt so groß und das der Italiener sogar dreimal so groß wie das deutscher Familien. ({7}) Einer der wichtigsten Gründe dafür ist die extrem niedrige Wohneigentumsquote, die immer noch weiter sinkt, weil viele Landesregierungen die Menschen, die sich eine Wohnung kaufen wollen, als Melkkuh missbrauchen und die Grunderwerbsteuer immer weiter erhöhen. Die Aufgabe des Staates ist es aber nicht, Menschen beim Kauf einer Wohnung abzukassieren, sondern im Gegenteil dafür zu sorgen, dass sie sich eine Wohnung leisten können. ({8}) Dazu muss die Grunderwerbsteuer gesenkt werden und so umgestaltet werden, dass eine vierköpfige Familie beim Kauf einer Wohnung oder eines Hauses in Zukunft überhaupt keine Steuern mehr bezahlen muss. ({9}) Außerdem fordern wir die völlige Abschaffung der Grundsteuer. Dadurch würde das Wohnen in Deutschland von heute auf morgen sofort für alle um 14 Milliarden Euro billiger. ({10}) Erzählen Sie mir nicht, dass dafür kein Geld da sei. Welche Schande für ein Land, das in der Lage war, letztes Jahr mit einem Federstrich 54 Milliarden Euro für Griechenland bereitzustellen, 50 Milliarden Euro für Flüchtlinge, aber gleichzeitig nicht in der Lage ist, für ausreichend bezahlbare Wohnungen für seine eigenen Bürger zu sorgen. ({11}) Hören Sie endlich auf, an Symptomen herumzudoktern, und beseitigen Sie endlich die Ursachen der Wohnungsnot, indem Sie unsere Grenzen schützen und aufhören, die Menschen fürs Wohnen abzukassieren! ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Sören Bartol. ({0})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Bernhard, wenn man Ihre Rede gehört hat, fragt man sich einfach, was in Ihrem Leben schiefgelaufen ist. Mehr ist dazu nicht zu sagen. ({0}) Als ich 2002 zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, gab es viele wichtige Themen, über die die Menschen in diesem Land geredet haben, die sie beschäftigt haben. Aber über eines hat man damals nicht geredet: über zu teure Wohnungen. Selbst in Großstädten wohnten auch Studierende in großzügigen Altbauwohnungen, oft zu Schnäppchenpreisen. Heute ist das anders. Überall, auf Elternabenden, Geburtstagen, werden Horrorstorys von überlaufenen Wohnungsbesichtigungen ausgetauscht, von Familien, die seit Monaten eine größere Wohnung suchen und keine finden. Ich sage einmal: Die Statistik bestätigt die gelebte Realität vieler Menschen in unserem Land. Der Bericht der Bundesregierung, über den wir heute reden, konstatiert nüchtern: Im Berichtszeitraum hat sich die seit 2012 zu beobachtende angespannte Lage auf den Wohnungsmärkten in einer Reihe von Städten und Regionen verschärft. Besonders Unistädte wie Marburg oder Heidelberg können ein Lied davon singen. Zu Semesterbeginn sind temporäre Notquartiere keine Seltenheit mehr. Wenn man sich fragt, wie es dazu kommen konnte, kann man der Politik sowohl im Bund als auch in den Ländern berechtigterweise vorwerfen, geschlafen zu haben. Es reicht aber nicht, die Fehler der Vergangenheit nur zu analysieren. Deshalb arbeiten wir in dieser Regierung auch mit Hochdruck daran, die Lage für die Menschen auf dem Wohnungsmarkt zu verbessern. Ein gutes Beispiel dafür ist das Tempo, mit dem wir auf dem Wohnungsgipfel beschlossene Maßnahmen umsetzen. Der Wohngipfel fand im September letzten Jahres statt. Insgesamt sind dort über 30 Maßnahmen für investive Impulse, für den Wohnungsbau, die Sicherung der Bezahlbarkeit des Wohnens und die Senkung der Baukosten sowie zur Fachkräftesicherung beschlossen worden. In meiner Rede, die ich hier im Plenum zu den Ergebnissen des Wohngipfels gehalten habe, habe ich diese Beschlüsse begrüßt, aber auch eine zügige Umsetzung angemahnt. Umso mehr freut es mich, dass wir wirklich Fortschritte verzeichnen können. Das Mietrechtsanpassungsgesetz, das die Mietpreisbremse wirksamer macht und den Umlagesatz nach Modernisierung auf 8 Prozent senkt, ist seit Anfang dieses Jahres in Kraft. Damit ist beim Mietrecht noch nicht Schluss. Wir werden das Mietrecht weiter reformieren, unter anderem, indem wir den Betrachtungszeitraum bei der ortsüblichen Vergleichsmiete von vier auf sechs Jahre verlängern. Ebenfalls extrem wichtig für mehr bezahlbare Wohnungen ist eine aktive und nachhaltige Bodenpolitik. Diesbezüglich habe ich sehr hohe Erwartungen an die Expertenkommission „Nachhaltige Baulandmobilisierung und Bodenpolitik“, die im Sommer 2019 konkrete Vorschläge zur nachhaltigen Mobilisierung von Bauland vorlegen wird. Auch bei der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben hat ein Richtungswechsel stattgefunden. Mit der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 2018 kann sie den Kommunen ihre entbehrlichen Liegenschaften zum Zwecke des sozialen Wohnungsbaus mit erheblichen Vergünstigungen zur Verfügung stellen. Auf dem Wohngipfel wurde auch beschlossen, dass das Verbot der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen wirksamer gestaltet werden muss; denn die Entmietung durch Umwandlung ist ein massives Problem in unseren Städten. Das muss jetzt zügig in ein Gesetzgebungsverfahren eingebracht werden. ({1}) Aber das sind nur erste Schritte. Hohe Mieten, Wohnungsmangel und Spekulationen werden wir damit allein kein Ende setzen können. Hier muss noch mehr passieren. Die gute Nachricht ist, dass wir bereits sehr gute und sehr konkrete Vorschläge für eine nachhaltige Trendwende in der Wohnungspolitik haben. Andrea Nahles hat zusammen mit Thorsten Schäfer-Gümbel im vergangenen Jahr einen Zwölf-Punkte-Plan für die Mietenwende vorgelegt. Dieser Plan sieht unter anderem einen temporären Mietenstopp vor, der über die verbesserte Mietpreisbremse hinausgeht und der besonders die Preisspirale bei den Bestandsmieten unterbricht. ({2}) Wir brauchen außerdem einen neuen Sozialpakt zwischen der öffentlichen Hand auf der einen Seite und den Immobilieneigentümern auf der anderen Seite. Wer im Interesse der Mieterinnen und Mieter und nicht nur für den eigenen Profit baut, sollte auch vom Staat unterstützt werden. Wie ich gehört habe, beschäftigen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, sich jetzt auch sehr intensiv mit den Rechten der Mieterinnen und Mieter. Das freut mich sehr; denn wenn sich die Union den Mieterschutz auf die Fahne schreibt, dann steht einer guten und gerechten Wohnungspolitik in diesem Land wirklich nichts mehr im Wege. ({3}) Ich freue mich wirklich, gemeinsam mit Ihnen auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun Daniel Föst das Wort. ({0})

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Staatssekretär! Als Bau- und Wohnungspolitiker hätte ich gerne wieder einmal den Minister gesehen. Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Anstieg der Mieten nimmt den Menschen die Luft zum Atmen. In den Städten ist es am krassesten. Dort sind die Mieten in den letzten zehn Jahren regelrecht explodiert. Das ist den Menschen schlichtweg nicht mehr zumutbar. Aber die Mieten explodieren nicht ohne Grund. Wie auch der Bericht der Bundesregierung feststellt, explodieren die Mieten, weil schlichtweg zu wenige Wohnungen entstehen, weil Wohnraum fehlt. Um Wohnen wieder bezahlbar zu machen, gibt es eine einfache Lösung: Wir müssen mehr bauen, wir müssen schneller bauen, und wir müssen günstiger bauen. ({0}) Übrigens, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, da hilft der Ruf nach noch mehr Regulierung auch nicht. Ich möchte sehen, wie Sie 200 Menschen in ein und dieselbe Wohnung hineinregulieren. Damit werden Sie scheitern. ({1}) Es hilft nur, mehr zu bauen. Aber, wie bereits erwähnt, es gibt ein wirklich großes Problem: das fehlende Bauland. Das ist allen bekannt. Trotzdem hat diese Bundesregierung bisher noch keinen einzigen Vorschlag gemacht, wie in großen Städten, also dort, wo die Wohnungsnot hoch und die Mieten noch höher sind, ({2}) neuer bezahlbarer Wohnraum schnell entstehen kann. Keinen einzigen Vorschlag! ({3}) Zum Glück gibt es uns Freie Demokraten als Serviceopposition. ({4}) Herr Bauminister Seehofer hat jüngst beim Branchentreffen die Chancen des Dachausbaus gelobt. Ich vermute einmal: Herr Seehofer hat seine Inspiration aus dem Antrag der FDP zum Dachausbau. ({5}) Das soll mir auch recht sein, weil schlussendlich wir die Probleme der Menschen lösen wollen und Wohnen wieder bezahlbar machen wollen. Werte Kollegen, die Lösung für das Wohnraumproblem schlummert tatsächlich auf den Dachböden und auf den Flachdächern in unseren Städten. Eineinhalb Millionen Wohnungen könnten auf unseren Dächern gebaut werden. Das haben Forscher der TU Darmstadt berechnet. Eineinhalb Millionen Wohnungen! Wenn wir diese eineinhalb Millionen Wohnungen auf den Dächern bauen würden oder auch nur die Hälfte, wäre die Wohnungsnot Geschichte, Mieten würden sinken, und, liebe Grüne, ganz nebenbei würden wir sogar die Umwelt entlasten, weil wir keine neuen Flächen versiegeln müssen. ({6}) Doch bisher wird dieses Potenzial viel zu wenig genutzt. Wenigstens wir Freie Demokraten wollen das ändern. Wir wollen den Weg freimachen für einen umfassenden und schnellen Dachausbau. Wir wollen, dass Deutschland quasi eins obendrauf setzt. ({7}) Aber wir sind wieder bei dem Problem, vor dem wir immer stehen: Überbordende Bürokratie vernichtet den Traum von der Dachgeschosswohnung. Aus dem Traum der Dachgeschosswohnung wird ein Albtraum. Absurde Regelungen zu Stellplätzen, Energievorschriften oder Aufzügen machen den Dachausbau zu einem frustrierenden Unterfangen und meistens noch vollkommen unwirtschaftlich. Die Bundesregierung muss endlich Bürokratie abbauen und unnötige Regelungen streichen, aber auch die Länder; denn in diesem ganzen baurechtlichen, föderalen Wust braucht es eine gemeinsame Kraftanstrengung. ({8}) Ich will Ihnen jetzt in aller Schnelle unsere wichtigsten Forderungen darstellen. Erstens. Wir wollen, dass für einen einfachen Dachausbau keine Genehmigung mehr erforderlich ist, wenn ein Ingenieur oder Architekt keine statischen Bedenken hat. Die Haftung liegt ohnehin beim Planer. Er braucht den Stempel vom Amt nicht. Zweitens. Die Aufzugspflicht muss bei Aufstockungen entfallen. Ja, wir brauchen mehr barrierefreie Wohnungen. Aber müssen die unter dem Dach liegen? ({9}) Drittens. Bei den Stellplatzverordnungen müssen Länder und Kommunen endlich ran. Gerade in den Städten braucht heute nicht mehr jeder ein Auto. ({10}) Das Mobilitätsverhalten hat sich verändert. Das muss aber auch in den Bauvorschriften Niederschlag finden. Werte Kollegen, uns läuft die Zeit davon. ({11}) Wir brauchen schnell mehr Wohnraum. Aber bis Sie Ihre neuen Flächen ausgewiesen haben, bis die Bebauungspläne stehen, bis die Baugenehmigungen erteilt sind, bis die Wohnungen fertig sind, vergehen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Föst, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass auch Ihnen die Zeit davongelaufen ist. Kommen Sie bitte zum Schluss. ({0})

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Menschen brauchen jetzt Lösungen. Jetzt kommt noch ein Brüller für die SPD: Diese Lösungen liegen nicht nur auf der Hand, sondern auch auf dem Dach. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Caren Lay für die Fraktion Die Linke. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erst gestern sagte ein Sonderschullehrer beim Warnstreik des öffentlichen Dienstes, er habe Angst, sich bald keine Wohnung mehr leisten zu können. Immer höhere Mietpreise, immer höhere Ausgaben für das Wohnen – immer mehr trifft es auch Normalverdiener. Das alles ist nicht neu, aber es ist dramatisch, und wir müssen diesen Mietenwahnsinn endlich stoppen. ({0}) Auch der Wohngeld- und Mietenbericht der Bundesregierung ist trotz aller Prosa, die um die Zahlen herumgebaut wurde, alarmierend. Wir sprechen hier heute über die Zahlen von 2016. Bereits damals zeichnete sich die Entwicklung ab. Im Durchschnitt sind im Jahr 2016 die Mieten um 5 Prozent gestiegen. Damals wurden schon 36 Prozent des Einkommens für das Wohnen ausgegeben – im Schnitt, und wir wissen ja, dass der Durchschnitt trügt. Am härtesten trifft es die unteren Einkommensgruppen, das heißt Erwerbslose und Studierende. Sie müssen häufig die Hälfte ihres Einkommens für das Wohnen ausgeben. Diese Mietenexplosion zieht den Menschen das Geld aus der Tasche. Das können wir als Linke nicht akzeptieren. ({1}) Und eines können wir mit Sicherheit sagen: In den letzten beiden Jahren ist es nicht besser geworden, ganz im Gegenteil! Sie von der Union spielen sich jetzt hier auf und tun so, als ob Sie für bezahlbaren Wohnraum kämpfen; aber Sie regieren doch seit über 13 Jahren, seit über fünf Jahren gemeinsam mit der SPD. Die hohen Mieten sind doch das Ergebnis Ihrer Politik. Die Mietenexplosion liegt in Ihrer Verantwortung. ({2}) Allein dass wir heute, zwei Jahre später, den Bericht über 2016 diskutieren, ist ein ausdrücklicher Beleg für das Schneckentempo dieser Regierung. Was sind eigentlich die Ursachen für die Mietenexplosion? Ich muss sagen: Ich habe hier selten eine Rede gehört, die so bar jeder Kenntnis, aber dafür voller Vorurteile war wie die heutige Rede der AfD. Spekulation mit Wohnraum – das ist die Ursache für die Mietenexplosion und nicht der Zuzug von Geflüchteten. ({3}) Das will ich mal ganz klar sagen. Das Einzige, was Sie hier bisher wohnungspolitisch auf den Weg gebracht haben, war ein Antrag zur Kürzung der Ausgaben für den sozialen Wohnungsbau. ({4}) Das ist keine soziale Politik. ({5}) Die Koalition gibt sich selber eine Reform des Mietspiegels auf. Na endlich! Die Linke – meine Kollegin Frau Bluhm – hat das hier erstmals im Jahr 2007 gefordert. Es hat also nur zwölf Jahre gedauert, bis die Union von der Notwendigkeit einer Mietspiegelreform überzeugt war. Ich denke, das muss in Zukunft ein bisschen schneller gehen. ({6}) Was Sie hier vorschlagen, wird aber nicht ausreichen. Was wir aus unserer linken Sicht brauchen, ist ein Mietendeckel, der seinen Namen auch verdient. Ich freue mich ja, dass die SPD diese Forderung übernommen hat – leider nur auf Twitter. In Ihrer Vorlage findet sich dazu kein Wort, noch nicht mal ein einziges Wort zur Verlängerung der Geltungsdauer der ohnehin nur zahmen Mietpreisbremse. So kommen wir hier nicht weiter, meine Damen und Herren. ({7}) Herr Seehofer hat ja zu seinem Amtsantritt noch deutlich größere Töne gespuckt. Er hat uns das größte Wohnungsbauprogramm der deutschen Geschichte versprochen. Seitdem hat man ihn, ehrlich gesagt, selten im Bauausschuss oder bei den Wohnungsdebatten gesehen, sehr wohl aber bei den Empfängen der Immobilienlobby. ({8}) Das, meine Damen und Herren, ist keine verantwortungsvolle Politik. ({9}) Ich möchte noch etwas zu Ihrem Lieblingsprojekt, dem Baukindergeld, sagen. Nach den Zahlen Ihrer Regierung, Ihres Ministeriums, sind die Mittel in über 90 Prozent der Anträge auf Baukindergeld nicht für den Neubau ausgegeben worden, sondern für Wohnungen, die erstens schon gebaut wurden und zweitens längst finanziert wurden. Diese werden nachträglich mit Steuergeldern subventioniert. Das ist wirklich Steuerverschwendung, aber es ist keine soziale Wohnungspolitik. ({10}) Was wir stattdessen brauchen, ist ein öffentliches Wohnungsbauprogramm nach Wiener Vorbild. Wir als Linke wollen, dass 250 000 neue Sozialwohnungen und bezahlbare Wohnungen für Normalverdiener entstehen. So geht Baupolitik für die Mehrheit der Bevölkerung. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Christian Kühn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Frau Präsidentin. – Werte Kolleginnen und Kollegen! Ehrlich gesagt, ist es mir ein bisschen peinlich, heute hier zu sprechen. Der Bericht ist aus dem Jahr 2016. ({0}) – Ja, aber er bezieht sich auf den Zeitraum 2016. – Wir hätten ihn auch 2017, vor der Bundestagswahl, schon beraten können. Das war Ihnen aber zu peinlich. Dass wir heute, drei Jahre danach, über dieses Thema sprechen, ist wirklich zu spät. Ich finde, wir müssen da in unseren Verfahren deutlich schneller werden. Auch die Große Koalition muss bei diesen Fragen deutlich schneller werden. ({1}) Dieser Bericht stellt der Wohnungspolitik und der Baupolitik der Großen Koalition ein katastrophales Zeugnis aus. Wenn Sie sich die Details des Berichts genau anschauen, dann sehen Sie, dass da nichts anderes drinsteht, als dass die Wohnungsmärkte überhitzt sind, die Neuvertragsmieten steigen, die Bestandsmieten auch steigen, die Immobilienpreise in den Universitätsstädten und Ballungsräumen extrem steigen, Wohnungskosten steigen, die Kosten der Unterkunft für die Kommunen zu einer immer größeren Belastung werden und wir einen massiven Rückgang des sozialen Wohnungsbaus haben. Das ist drei Jahre her, und seitdem hat sich die Situation weiter dramatisiert. Ich kann deswegen nicht verstehen, dass Sie sich hier in der Großen Koalition im Klein-Klein verlieren und irgendwie noch versuchen, bei diesem Bericht ein nettes Gesicht zu machen. Dieser Bericht ist nichts anderes als ein Offenbarungseid Ihrer Politik. ({2}) Dieser Bericht sagt: Houston, wir haben ein wohnungspolitisches Problem, und wir müssen endlich handeln. ({3}) Jetzt schauen wir uns mal an, wie Sie in der Großen Koalition gehandelt haben. ({4}) Fangen wir mal bei der größten wohnungspolitischen Maßnahme an, die Sie in den letzten Jahren auf den Weg gebracht haben: das Baukindergeld. 12 Milliarden Euro wird es uns insgesamt kosten. Im Bericht steht zur Eigentumsbildung geschrieben, dass es im Augenblick kein Problem mit der Eigentumsbildung von Menschen, die Vermögen haben, gibt. Da findet sich kein Wort darüber, dass wir jetzt in dieser Gesellschaft massiv in die Eigentumsbildung gehen müssen. Das Baukindergeld kostet uns 12 Milliarden Euro. Ich glaube, das Geld wäre besser da angelegt gewesen, wo der Bericht den Finger in die Wunde legt, nämlich bei denjenigen, die sich nicht selbst auf den Wohnungsmärkten mit Wohnraum versorgen können, also im sozialen Wohnungsbau. Diese 12 Milliarden Euro hätten Sie in den sozialen Wohnungsbau stecken müssen. ({5}) Dass Sie als Union angesichts dieses Berichtes immer noch das Baukindergeld loben, zeigt ja, dass Sie im Kern eigentlich eine ideologische Wohnungspolitik machen. ({6}) Sie machen im Kern eine hoch ideologische Wohnungspolitik, weil Sie die Zahlen und Anmerkungen aus Ihrem eigenen Bericht überhaupt nicht ernst nehmen. Dieser Bericht besagt nicht, dass wir beim Eigentum ein Problem haben, sondern, dass wir bei den Mieten ein Problem haben. Damit müssen Sie sich endlich mal auseinandersetzen. ({7}) Kommen wir zur Wohngeldnovelle, werter Kollege Kai Wegner. In der „Süddeutschen Zeitung“ wird berichtet, dass Sie eine Wohngeldnovelle auf den Weg bringen und wieder mehr Menschen ins Wohngeld bringen wollen. Ich habe bereits in der letzten Legislaturperiode eine Wohngeldnovelle mitgemacht. Da haben Sie keine Dynamisierung vorgesehen. Das war ein Kernfehler der letzten Wohngeldnovelle. Diesen scheinen Sie nun zu wiederholen. Sie haben wieder eine Wohngeldnovelle vor der Brust und machen keine Anstalten dahin gehend, beim Wohngeld eine Klimakomponente vorzusehen. In dem Referentenentwurf, den die „Süddeutsche Zeitung“ veröffentlicht hat, ist keine Klimakomponente enthalten. Ich sage Ihnen eines: So wird es Ihnen nicht gelingen, soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz beim Wohnen miteinander zu verbinden. ({8}) Deswegen sind Sie als Union, als Große Koalition wohnungspolitisch einfach nicht auf der Höhe der Zeit. ({9}) Ich hoffe, dass wir es hinbekommen, den nächsten Bericht nicht erst 2023 zu beraten. Ich hoffe, dass Sie sich als Große Koalition nicht weiter im Klein-Klein verhaken, sondern mal die großen Themen angehen, nämlich wie wir den sozialen Wohnungsbau und den sozialgebundenen Wohnungsbau auf Dauer stärken können, wie man Mieten wirklich stabilisieren kann. Wir alle hier sind es den Menschen draußen schuldig, schneller über diese Themen zu sprechen und dann auch gemeinsam zu handeln. Danke schön. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Emmi Zeulner für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Lieber Kollege Kühn, die Wohnraumoffensive steht gerade im Bundesrat zur Entscheidung an. Da können Sie, die Sie an Regierungen in den Ländern beteiligt sind, natürlich entsprechend Unterstützung leisten, damit wir sie durchsetzen können. ({0}) Heute beraten wir den Dritten Bericht der Bundesregierung über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Deutschland und den Wohngeld- und Mietenbericht sowie den Antrag der Kollegen von der FDP zum Thema Dachgeschossausbau. Wir sind uns alle einig: Wohnen ist eine der sozialen Fragen unserer Zeit. – Diesen Satz hat unter anderem unser Innen- und Bauminister Horst Seehofer geprägt. Insofern war es gerade uns Parlamentariern wichtig, in dieser Legislaturperiode wieder einen eigenen Bauausschuss einzurichten. Das unterstreicht die Bedeutung des Themas und gibt Raum, die Themen rund ums Bauen gezielt und konzentriert zu behandeln. Es war folgerichtig, auf Einladung unseres Bundesinnenministers Horst Seehofer einen Wohngipfel einzuberufen. Dieser Wohngipfel war wichtig wegen der Beschlüsse, beispielsweise zum Baukindergeld oder zur Stärkung des sozialen Wohnungsbaus. Aber das eigentlich Entscheidende war etwas anderes: Es war nämlich das erste Mal, dass alle Ebenen, also Bund, Länder und Kommunen, sowie die Verbände in einer so prominenten Form zusammengekommen sind, um Lösungen zu finden. Durch den Wohngipfel ist es zum Gemeinwissen geworden, dass die Herausforderungen auf dem Wohnungsmarkt nur gemeinsam und durch das Zusammenspiel aller Ebenen gelöst werden können. Es kann sich also keiner mehr hinter dem anderen verstecken. Das war das wesentliche Ergebnis des Gipfels. In Ihrem Entschließungsantrag, liebe Linke, erheben Sie zum Beispiel einmal mehr die immer gleiche Forderung nach einem faktischen Mietenstopp. Ich bleibe weiterhin dabei: Damit werden Sie das Problem der Wohnungsnot gerade hier in Berlin nicht lösen. ({1}) Die Urbanisierung ist leider ein Megatrend. Eine Verringerung des Zuzugs in die Großstädte und eine damit verbundene wirkliche Entlastung der Ballungsräume können wir effektiv nur durch eine massive Stärkung der ländlichen Räume erreichen; denn in den Städten ist Wachstum begrenzt. Eine weitere Verschärfung der Mietpreisbremse würde nur zu noch mehr Druck auf dem städtischen Wohnungsmarkt führen. Deswegen haben wir eine Mietrechtsreform mit Augenmaß durchgeführt, die weiteren Mietwohnungsbau nicht verhindert. Hinter dem sozialen Wohnungsbau stehen wir als Union selbstverständlich auch. Hierfür nehmen wir als Bund jährlich 1,5 Milliarden Euro in die Hand. Damit wird Menschen, die bisher keinen Zugang zu Wohnungen haben, weil es für sie finanziell nicht darstellbar ist, der Zugang zu Wohnraum ermöglicht. Eine Ergänzung dazu ist das Wohngeld, das reformiert werden muss. Es entlastet Haushalte mit niedrigen Einkommen von nicht tragbaren Wohnkostenbelastungen; denn das Wohngeld unterstützt vor allem Alleinerziehende und Rentner, deren Einkommen knapp über der Grundsicherung liegen. Eine Reform des Wohngelds fordern wir auch in unserer Vorlage. Aber das allein kann natürlich nicht die ganze Lösung sein. Ich finde es wichtig, dass wir mehr Menschen ermöglichen, zu selbstgenutztem Wohneigentum zu kommen. Deutschland hat innerhalb der EU mit 50 Prozent die geringste Wohneigentumsquote, in Berlin lag sie 2014 bei nur 15 Prozent. Das kann uns doch nicht zufriedenstellen. Wohneigentum schafft Unabhängigkeit, schafft einen beständigen Wert und ist zugleich ein wesentlicher Bestandteil einer sicheren Altersvorsorge. Klar kann man ein System wie in Wien aufziehen, das den Schwerpunkt vor allen Dingen auf öffentlichen Mietwohnungsbau legt. Aber ich will nicht, dass Menschen von einem politischen System derart abhängig sind. ({2}) Wir als Union fordern die Stärkung der Wohnungsbauprämie, indem wir die Einkommensgrenzen anpassen und den Prämiensatz erhöhen. Der Bausparer muss einfach wieder sexy werden. Denn wie man bei uns in Franken sagt – auch am Valentinstag –: Liebe vergeht, Hektar besteht. ({3}) Deswegen fordern wir weiter ein Wirtschaftsprogramm, das es Menschen ohne das nötige Eigenkapital ermöglicht, einen Kredit für den Bau oder für den Erwerb von Wohneigentum aufzunehmen. Das ist mir persönlich ein Herzensanliegen und gerade für die junge Generation wichtig. Das Bundesfinanzministerium und das Bundeswirtschaftsministerium müssen hier endlich die Weichen stellen. Die Kollegen von der FDP haben natürlich von uns abgeschrieben. ({4}) Wir als CSU haben bereits im August im Bundesrat eine Vorlage zur Verbesserung des Dachausbaus eingebracht. ({5}) Wie gesagt: Nachmachen können Sie das Ganze auch bei der Grunderwerbsteuer. In Bayern und in Sachsen liegen wir bei 3,5 Prozent.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin Zeulner, achten Sie bitte auf die Zeit?

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In NRW können Sie beweisen, dass Sie dem nachstreben wollen. Vielen herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Michael Groß für die SPD-Fraktion. ({0})

Michael Groß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004045, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir fällt ein, dass auch wir uns irgendwann einmal für den Dachgeschossausbau eingesetzt haben, aber ich lege auf das Copyright keinen Wert. ({0}) Vielmehr möchte ich darauf eingehen, dass Sie gesagt haben: Wir wollen nicht von Politik abhängig sein. Ich kann nur sagen: Wir als SPD legen Wert darauf, dass wir auf dem Wohnungsmarkt nicht von ausländischen Investoren abhängig werden, ({1}) dass wir nicht von Menschen abhängig werden, die nicht auf Augenhöhe mit ihren Mietern und Mieterinnen umgehen. In Deutschland gibt es 22 Millionen Mietwohnungen. Die wichtigen Fragen sind heute schon gestellt worden: Wer baut für wen, und wie viel muss gebaut werden? Wir als SPD sind der Meinung, dass wir erst mal denjenigen danken müssen, die als Kleinvermieter vernünftig mit ihren Mieterinnen und Mietern umgehen. Wir müssen den kommunalen Wohnungsgesellschaften danken, die dafür sorgen, dass die Mietpreise auf einem vernünftigen Niveau bleiben. In Deutschland haben wir es mit einer sehr differenzierten Situation zu tun. Wir lesen in dem vorliegenden Bericht, dass es Mietpreisangebote zwischen 4 und 15 Euro pro Quadratmeter gibt, bei Neubauten ist es etwas mehr. Wir lesen auch, dass die Menschen, die ein geringes Einkommen haben, immer mehr durch die Wohnkosten belastet werden, dass im Berichtszeitraum 15 Prozent der Menschen mehr als 40 Prozent des Haushaltseinkommens für Miete ausgeben müssen. Das ist uns natürlich viel zu viel. Heute liegt ein Entschließungsantrag vor, der im Ausschuss schon behandelt worden ist. Es wird zum Beispiel gefordert, dass Wohnungsbaugenossenschaften und kommunale Wohnungsunternehmen besonders unterstützt werden. ({2}) Die 2,3 Millionen Wohnungen in der Hand von kommunalen und die 2,1 Millionen Wohnungen in der Hand von Genossenschaften sind viel zu wenige Wohnungen als Korrektiv auf dem Markt. Hier müssen wir investieren. Wir müssen dafür sorgen, dass sich das Angebot verbreitert. ({3}) Der Markt alleine wird es nicht richten. Vielmehr müssen wir dafür sorgen, dass wir als Staat, als öffentliche Hand wieder aktiv werden. Die BImA ist dabei, Flächen zur Verfügung zu stellen. ({4}) Wir in NRW fordern eine Landeswohnungsbaugesellschaft, die als Korrektiv wirken könnte. ({5}) Das Thema Bodenpolitik ist schon angesprochen worden. Wir haben das Mietrecht reformiert. Die Mietpreisbremse ist seit 2015 in Kraft. Wir werden die Geltungsdauer nach der Evaluation verlängern. Ich bin der Meinung, dass wir als Koalition dies tun müssen. Wir haben die Modernisierungsumlage gekürzt. Jemand, der nach Modernisierung 180 Euro mehr Miete für eine 60-Quadratmeter-Wohnung zahlen musste, muss jetzt nur noch 133 Euro mehr zahlen. Wenn er weniger als 7 Euro pro Quadratmeter Miete zahlt, dann sind es nur noch 120 Euro. Das ist ein Erfolg dieser Koalition. Das sorgt dafür, dass Mieten in unserem Land bezahlbar bleiben. Ich möchte nur noch einen Satz sagen, dann bin ich fertig, Frau Präsidentin. Sie können in NRW sehen, wie es nicht funktioniert. NRW war 2015 deutscher Meister beim Bau von Sozialwohnungen und bei der Schaffung von Bindung. Weil Sie nur der Marktwirtschaft vertrauen, haben Sie es geschafft, dass sich die Zahl der Wohnungen in diesem Bereich von 9 300 auf 6 300 im Jahr 2015 reduziert hat. Das ist ein „Erfolg“ der schwarz-gelben Koalition. Diese Politik lehnen wir ab. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Mechthild Heil das Wort. ({0})

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht der Bundesregierung über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft sowie der Wohngeld- und Mietenbericht wurden Mitte 2017 vorgelegt, Herr Kühn, also kurz vor der Bundestagswahl. Er beschreibt etwas, was derzeit in der öffentlichen Wahrnehmung in ganz Deutschland in den Blick genommen wird: Preiswerter Wohnraum ist in vielen Ballungsgebieten in Deutschland mittlerweile zur Mangelware geworden. Wir haben auf diesen Mangel mit ambitionierten Vorhaben im Koalitionsvertrag, also so schnell als möglich, reagiert. Einige Vorhaben sind schon umgesetzt worden – wir haben davon gehört –, und andere befinden sich gerade in der Umsetzung. Ja, auch die Opposition hat interessante Vorschläge vorgelegt. Die Diskussion eben hat es gezeigt. Herr Föst, Sie sprachen vom Dachausbau. Das betrifft die Landesbauordnung. Ich rate Ihnen daher: Kümmern Sie sich in Ihrem Land darum, dass die Landesbauordnung entsprechend geändert wird. Bei mir in Rheinland-Pfalz ist es so: Ab vier Geschossen muss man einen Aufzug einbauen. Es gibt andere Länder, die als Regel haben, dass man ab 13 Meter einen Aufzug einbauen muss. Vielleicht kann auch das Land Berlin sagen: „Wir kümmern uns um unsere eigenen Sachen“, ehe das Problem immer dem Bund vor die Füße geworfen wird. ({0}) Ich gehe davon aus und ich bin fest davon überzeugt, dass es dann gelingen wird, den Wohnungsausbau in den stark nachgefragten Regionen in den nächsten Jahren deutlich zu steigern. Aber ich möchte an dieser Stelle als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt die Diskussion noch in eine andere Richtung lenken. Ich frage mich: Reicht das, was wir vorhaben, eigentlich aus? Können wir mit den beschlossenen Maßnahmen genug Bauland in den Mangelgebieten aktivieren und genug Kapazitäten im Bauhauptgewerbe schaffen, um den Wohnungsbau wirklich anzuregen? Ich fürchte, die Antwort könnte lauten: Nein. Ich begründe das auch gern. Wenn die wirkliche oder auch nur gefühlte Attraktivität der Ballungsgebiete gegenüber dem ländlichen Raum weiterhin so stark steigt, dann wird es auch die beste Wohnungspolitik kaum schaffen, dauerhaft gegen die stetig steigende Nachfrage anzubauen. ({1}) Diese Erkenntnis ist wahrlich keine neue Erkenntnis; das lehrt uns schon die Geschichte. Bereits bei der großen Urbanisierungswelle in Deutschland um 1900 konnte der Wohnungsbau mit der Nachfrage nicht Schritt halten. Wenn wir einmal die Entwicklung zum Beispiel in Japan – des stark urbanisierten Japans – betrachten, so stellen wir fest: So etwas wollen wir auch nicht. Dort gibt es heute oft kein Wohnraumangebot, das unserer Vorstellung vom Wohnen entspräche. Neben allen Bemühungen zur Steigerung des Wohnungsbaus, die notwendig und auch richtig sind, müssen wir deswegen noch etwas anderes im Auge behalten. Wir brauchen die Entlastung der Zentren, und die kann eigentlich durch eine Attraktivierung der ländlichen Räume erreicht werden. ({2}) Laut einer Umfrage von Infratest dimap würden 40 Prozent der Deutschen am liebsten in einer Kleinstadt und 38 Prozent sogar auf dem Dorf wohnen. 78 Prozent der Deutschen würden gern im ländlichen Raum wohnen. ({3}) Nur 52 Prozent der Großstädter geben an, dass die Großstadt ihr bevorzugtes Lebensumfeld ist. ({4}) Das Potenzial, um die Wohnungsmärkte in den Ballungsgebieten zu entlasten, ist also da. Was wir brauchen, ist eine Stärkung auch der ländlichen Räume. Wir müssen dafür sorgen, dass die Heimat im ländlichen Raum eine ernsthafte Alternative ist. Was dafür nötig ist, ist hinreichend bekannt und lässt sich zusammenfassen mit: Infrastruktur, Infrastruktur und noch mal Infrastruktur. ({5}) Was ist daran so schwierig? ({6}) Straßen, Bahnverbindungen, Arbeitsplätze, funktionierende Verwaltungen, Kindergärten, ({7}) Schulen, schnelles Internet und Handyempfang überall! In allen Grenzregionen in Deutschland kann man erleben, dass das Mobilfunksignal aus unseren Nachbarländern bereits weit vor der Landesgrenze wesentlich besser ist als das aus Deutschland, und dabei arbeiten in Belgien, Dänemark und Tschechien oder auch in Österreich sogar weitgehend die gleichen Mobilfunkanbieter wie bei uns.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Heil, achten Sie bitte auf mein Signal und kommen zum Schluss?

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Was ich sagen möchte, ist, dass diese Frage eine Frage der gleichwertigen Lebensverhältnisse ist, aber damit auch eine Frage der umfassenderen Wohnungspolitik für dicht und weniger dicht besiedelte Regionen. Wir brauchen mehr Wohnraum.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das war ernst gemeint!

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir brauchen mehr Wohnraum in den Zentren, aber eben auch mehr Wohnraum in den ländlichen Gebieten. Vielen Dank, Frau Präsidentin, und vielen Dank, liebe Kollegen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen zu dem Dritten Bericht der Bundesregierung über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Deutschland und dem Wohngeld- und dem Mietenbericht 2016. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7762, in Kenntnis der Unterrichtung auf Drucksache 18/13120 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der AfD-Fraktion, der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/7770. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der AfD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Tagesordnungspunkt 10 b. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/6219 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn Sie später den Bundestag verlassen, müssten Sie wirklich schon große Scheuklappen tragen, um die steigende Anzahl von Obdachlosen nicht zu bemerken. Menschen übernachten gleich hier vorn im Tiergarten, am Hauptbahnhof, in vielen U-Bahnhöfen. ({0}) Bundesweit sind circa 1 Million Menschen ohne Wohnung. 50 000 leben auf der Straße, und allein im Januar wurden zehn Kältetote gezählt. Das sind Rekordwerte, und ich finde, das ist eine Schande für ein reiches Land. ({1}) Eines möchte ich hier ganz klar sagen: Es geht nicht um individuelles Versagen. Es ist das Ergebnis dessen, dass Mieten explodieren, die Löhne stagnieren und deswegen immer mehr Menschen aus dem System fallen. Die Zunahme der Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist ein strukturelles Problem. Es ist das Ergebnis einer verfehlten Mieten- und Wohnungspolitik, und die müssen wir endlich ändern. ({2}) Zweitens möchte ich ganz klar sagen: Es ist ein bundesweites Phänomen. Die meisten Großstädte und viele Kleinstädte haben inzwischen mit diesem Problem zu kämpfen. Das sage ich ganz bewusst; denn ich kenne ja die Masche der Union, die Schuld für alle wohnungspolitischen Probleme den Ländern und Kommunen in die Schuhe zu schieben. Es ist ein bundespolitisches Problem, und deswegen muss es auch bundespolitisch angegangen werden. ({3}) Wir als Linke legen heute als Erstes ein Konzept gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit vor. Erstens brauchen wir natürlich mehr Wohnungen. Deswegen haben wir vorgeschlagen, nach dem Wiener Vorbild für mehr Sozialwohnungen und mehr bezahlbare Wohnungen, gemeinnützige Wohnungen bei den Städten und bei Genossenschaften zu sorgen. Wir wollen, dass mehr Wohnungen im sozialen und bezahlbaren Bereich entstehen. ({4}) Zweitens müssen wir uns natürlich zuallererst auch um die Schwächsten auf dem Wohnungsmarkt kümmern. Deswegen ist beispielsweise eine Erhöhung der übernommenen Kosten der Unterkunft für Menschen auf Hartz IV längst überfällig. ({5}) Drittens möchte ich sagen, dass unsere Vorschläge tatsächlich für alle gelten. Migrantinnen und Migranten haben es nämlich auf dem Wohnungsmarkt besonders schwer. Geflüchtete Menschen aus Osteuropa sind besonders stark betroffen, ({6}) gerade seitdem EU-Bürger einen erschwerten Zugang zu den Sozialleistungen haben. Wir als Linke sagen ganz klar: Jeder Mensch verdient ein Dach über dem Kopf. ({7}) Einmal ohne Wohnung, ist die Lage nahezu aussichtslos. Wer keine Wohnung hat, keine Adresse, kein Konto, keine Bankverbindung, der kommt auf einem angespannten Wohnungsmarkt einfach nicht mehr rein, und deswegen finde ich es völlig gut und richtig, dass Berlin jetzt unter einer linken Senatorin das Programm „Housing First“ gestartet hat, das besagt: Menschen bekommen zuallererst ein Zuhause, können von dort wieder Fuß fassen. – Wir schlagen vor, dieses Programm unserer linken Sozialsenatorin Elke Breitenbach jetzt auch bundesweit zu unterstützen. ({8}) Natürlich brauchen wir nicht nur bezahlbare Mieten, einen Mietendeckel, sondern wir brauchen auch einen besseren Kündigungsschutz. Schwarz-Gelb hat 2013 Zwangsräumungen von Wohnungen erleichtert. Das Ergebnis ist fatal: Die Zahl der Zwangsräumungen ist erheblich gestiegen. Wir als Linke wollen Zwangsräumungen verhindern. Erst recht finden wir, dass Menschen nicht einfach auf die Straße gesetzt werden können. Kein Mensch darf ohne Alternative auf die Straße gesetzt werden! ({9}) Zu guter Letzt, meine Damen und Herren, freue ich mich auch, dass sich der Widerstand regt. Eine Initiative „Parlament der Wohnungslosen“ ist in Gründung, es gibt in wenigen Tagen Proteste des „Bündnis Zwangsräumung verhindern!“ gleich hier gegenüber, gegen die Immobilienkonzerne im Hotel Adlon. ({10}) Ich finde es gut, dass sich wenigstens hier eine neue Bewegung formiert. Wir als Linke sagen: Keine Räumungen in die Wohnungslosigkeit! Wohnen ist ein Menschenrecht! Wir brauchen endlich ein Konzept gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Anja Weisgerber für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Persönliche Schicksalsschläge, der Verlust des Arbeitsplatzes, Suchtprobleme, all das sind Auslöser für Wohnungslosigkeit. Aber auch der Wohnraummangel und die steigenden Mieten führen dazu, dass die Wohnungslosigkeit gerade in den Ballungszentren steigt. Besonders in den kalten Wintermonaten sind die eisigen Temperaturen für Menschen ohne ein Dach über dem Kopf lebensgefährlich. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Immer wenn ich, auch hier in Berlin, Obdachlose sehe, dann fühle ich mit ihnen und frage mich, wie es so weit kommen konnte, dass diese Menschen auf der Straße leben. ({0}) Insofern muss ich zustimmen: Jeder Obdachlose ist einer zu viel; da sind wir uns alle einig, meine Damen und Herren. ({1}) Deshalb ist es wichtig, dass wir für die Menschen, die obdach- und wohnungslos sind, Hilfsangebote machen. Die Angebote müssen für die persönliche Situation individuell erfolgen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der Staat bereits zahlreiche Maßnahmen anbietet, um Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu vermeiden. Deutschland ist ein funktionierender Sozialstaat. ({2}) Meine Damen und Herren, die Politik verfolgt in erster Linie einen präventiven Ansatz und vermittelt vor allem Hilfen, bevor Wohnungslosigkeit entsteht. Es gibt die Ansprüche der Mindestsicherung nach dem Zweiten und dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch. Es muss bei uns in Deutschland niemand auf der Straße leben; der Staat bietet Hilfen an. ({3}) Trotzdem – ich gehe gern darauf ein – passiert es, und dem müssen wir entgegenwirken. Aber entgegen der Behauptung der Antragsteller macht die Bundesregierung bereits einiges, um den betroffenen Menschen zu helfen. ({4}) Es gibt in Deutschland eine Vielzahl von Programmen, um Menschen, die in Not geraten sind, zu unterstützen. ({5}) Weil Sie es mir nicht glauben, möchte ich auf die einzelnen Programme eingehen: Der Bund unterstützt seit mehreren Jahren die Projekte der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Allein in den letzten drei Jahren wurden über 900 000 Euro durch den Bund investiert. Hier werden bestimmte Adressaten­gruppen wie Straßenkinder oder auch obdachlose Frauen besonders in den Fokus genommen. Mit dem Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen in Deutschland, kurz: EHAP, werden Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen besonders durch Bundes- und EU-Mittel mit Hilfsangeboten unterstützt. Gefördert werden insbesondere Beratungsstellen, die mit zusätzlichem Personal ausgestattet werden, um Förderprogramme mit den jeweiligen Zielgruppen zu vernetzen. Viele Menschen wurden bereits beraten, und es wurde Hilfe angeboten, und diese Hilfsangebote wurden auch bereits angenommen. Ich kann Ihnen auch noch berichten: Aus meiner Zeit als Europaabgeordnete weiß ich, dass es den Europäischen Sozialfonds gibt. Ich habe da viele Projekte in Deutschland besucht – auch in meiner Heimatstadt Schweinfurt –, mit denen Jugendliche, die aus schwierigen Familien stammen – auch mit langjährigem Hartz-IV-Bezug, Hartz-IV-Generationen –, an die Hand genommen wurden. Ihnen wurde der Weg bereitet, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, aus diesem Umfeld auszubrechen; denn vielleicht könnten auch sie auf der Straße enden. Das wollen wir nicht. Gerade diesen jungen Menschen müssen wir doch eine Chance geben, meine Damen und Herren! ({6}) Ich halte es auch für ganz wichtig, den ehrenamtlichen Beitrag von vielen Menschen in Deutschland, die auch den Obdachlosen helfen, an dieser Stelle einmal zu würdigen. ({7}) Hier leisten Kirchengruppen, Stadt- und Bahnhofsmission, Caritas und ehrenamtliche Vereine großartiges Engagement für ihre Mitmenschen. So vermeiden wir auch eine Ausgrenzung dieser Menschen. Das macht eine funktionierende Gesellschaft aus. Das weiß ich zu schätzen und bedanke mich noch mal ganz außerordentlich für dieses ehrenamtliche Engagement. ({8}) Gerne möchte ich auch noch auf die immer wieder geforderten Statistiken zur Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland zu sprechen kommen. Zweifelsfrei können exakte Zahlen ein besseres Hilfsangebot für Menschen in Not ermöglichen. Die Umsetzung – das gehört auch zur Wahrheit – ist aber schwierig; denn selten bleiben Obdachlose dauerhaft an einem Ort. Wie soll hier denn Erfassung erfolgen? Auch wollen sich viele Menschen, die in solche Situationen geraten, einer Erfassung eher entziehen. Die Motive dafür sind auch durchaus nachvollziehbar. Zusätzlich weisen Experten richtigerweise darauf hin, dass es schwierig ist, zwischen vorübergehender und dauerhafter Obdachlosigkeit zu unterscheiden. Dies macht eine exakte Erfassung so schwierig. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hat heute schon sehr hilfreiche Zahlen. Das sind wohl Schätzungen; aber darauf kann man aufbauen. Trotz aller Statistiken und der Programme, die ich gerade angesprochen habe: Ein wichtiger Schlüssel ist und bleibt, dass wir auf allen Ebenen – ich betone noch mal: auf allen Ebenen –, Bund, Länder und Gemeinden, für mehr Wohnungen sorgen. Da muss man einfach noch mal feststellen: Seit der Föderalismusreform liegt die Zuständigkeit für den sozialen Wohnungsbau bei den Ländern. Der Bund hat dennoch die Kompensationsmittel für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt. Es gibt Länder, die hier mit gutem Beispiel vorangehen – ich möchte selbstverständlich Bayern erwähnen – ({9}) und intensiv in den sozialen Wohnungsbau investieren. Für die Jahre 2020 und 2021 erhalten die Länder vom Bund mindestens 2 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau. Wir setzen jetzt darauf, dass die Grundgesetzänderung, die vor kurzem im Bundestag beschlossen wurde, auch kommt. Wir appellieren an die Länder, dass diese Gelder in den Ländern endlich zielgerichtet eingesetzt werden, meine Damen und Herren. ({10}) Um die Wohnraumoffensive durchzusetzen, ist es wichtig, dass wir uns an verschiedene gesellschaftliche Gruppen und Akteure wenden. Wir haben zum einen die Sonderabschreibung, damit mehr Wohnungen gebaut werden. Wir haben die Erhöhung des Wohngeldes, die ja auch im Koalitionsvertrag schon verankert wurde und die kommt. Wir haben die Wohnungsbauprämie, um junge Menschen aufzufordern, zu sparen, ({11}) damit sie sich später auch eine Wohnung leisten können. Wir haben das KfW-Bürgschaftsprogramm. Und wir haben das Baukindergeld. Wir haben auf allen Ebenen etwas. Ich sage Ihnen auch: Wir brauchen auch die Eigentumsförderung; das werden wir vonseiten der Union immer wieder betonen. ({12}) Sie sehen: Wir tun einiges. Ich würde mich freuen, wenn auch die Opposition das mal anerkennen würde. Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Detlev Spangenberg für die AfD-Fraktion. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! ({0}) Sehr geehrte Damen und Herren! „Wohnungs- und Obdachlosigkeit bekämpfen, Zwangsräumungen verhindern“, „Menschenrecht auf Wohnen dauerhaft sicherstellen“ – so die die Anträge der Fraktionen Die Linke bzw. Bündnis 90/Die Grünen. Ich habe mir das mal durchgelesen und dann eine neue Überschrift für Sie gefunden: ({1}) „Sozialneid schüren und Eigeninitiative verhindern“, das würde ich über diesen Antrag schreiben, meine Damen und Herren, so könnte man das sehen. ({2}) Wir wissen alle, dass Mietverträge – und auch Arbeitsverträge – besondere Verträge sind: Da haben wir keine Gleichstellung, diese sind nicht auf einer Augenhöhe. Das ist auch richtig so; das ist ein besonderer Vertrag. Trotzdem, meine Damen und Herren, Sie bedienen mal wieder das Klischee des raffgierigen Vermieters und des ausgebeuteten Mieters. So ist das nicht. In den meisten Fällen ist es eine Sozialpartnerschaft, die wir auch hier brauchen; aber das kommt in Ihrem Antrag wieder mal nicht zum Ausdruck. ({3}) – Sie müssen mal zuhören! Viele Jahre müssen die Leute sparen, um Eigentum zu erwerben. Manche wollen das nicht; sie wollen zur Miete wohnen. Das ist eine eigenständige Entscheidung, die jeder für sich selbst trifft. Die hohe Anspardisziplin und auch unternehmerisches Risiko – Mietausfall durch nicht bediente Annuitäten – können viele Vermieter in den Ruin treiben, meine Damen und Herren. Das, wie gesagt, sollte man, wenn man diese Zielgruppe immer so angreift, dabei mitbedenken. Sie machen hier einen Rundumschlag bei den Gründen von Wohnungslosigkeit, ohne die Ursachen zu unterscheiden. Das machen Sie nicht. Sie nennen zum Beispiel Überschuldung, insbesondere Mietschulden. Wo liegt hier die Rechtfertigung, Mietschulden gegenüber anderen Schulden anders zu bewerten oder zu bagatellisieren? Für Schulden ist grundsätzlich erst mal der Schuldner verantwortlich. Das ist Vertragsrecht. Das ist nun mal so, meine Damen und Herren. ({4}) Der Vermieter hat auch nicht die Aufgabe, staatliche soziale Aufgaben zu übernehmen. Das hat er nicht. Arbeitsplatzverlust und Krankheit – das führen Sie auf – werden in Deutschland grundsätzlich sozial abgefedert. Auch hier ist nicht der Vertragspartner verantwortlich, sondern allein unser Sozialsystem, wenn überhaupt. Sie nennen weiter die Trennung vom Lebenspartner. Da frage ich mich, wieso hier die Gesellschaft mit Wohnungen zur Verantwortung zu ziehen ist. Das müssen die beiden oder die drei oder vier, die da wohnen, schon selber klären. ({5}) Das hat vorher geklappt und klappt auch hinterher. ({6}) – Hören Sie jetzt erst mal zu! Sie nennen den Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Da kommen wir zu dem, was mein Kollege vorhin schon gesagt hat. Wer ist denn für diese Kostenexplosion verantwortlich? Dafür sind Sie mitverantwortlich mit Ihrer multinationalen globalen Politik auf dem Rücken der einheimischen Bevölkerung. ({7}) Sie können scheinbar nicht mal rechnen. Wenn Hunderttausende in das Land strömen: Wo sollen die denn wohnen? ({8}) Die Wohnungen kommen doch nicht schlagartig wie Gras aus der Erde. Wie stellen Sie sich das vor? Die müssen gebaut werden. Dann nehmen Sie auch noch Leute aus der EU mit hinein – die wollen Sie auch noch haben –, dass sie bloß noch einen Antrag schreiben müssen „Ich suche Arbeit“, und dann sollen sie nach drei Monaten die gleichen Rechte bekommen. ({9}) Also, Sie haben irgendwie noch einen Goldesel, den Sie ständig aufmachen können, um das zu bezahlen. ({10}) Geschätzt geht das in viele Milliarden. Meine Damen und Herren, gerade diese Gruppe von Personen, die ich eben genannt habe und die jetzt zu uns geströmt sind oder immer noch strömen, will aber nicht in den ländlichen Raum ziehen. Dort haben wir unheimlich viel Leerstand, meine Damen und Herren. Nein, die wollen natürlich alle in die Städte ziehen, und dafür haben Sie mit Ihrer Mietpreisbremse und Kappungsgrenze noch einen Anreiz geschaffen. Obwohl sie doch schon dicht besiedelt sind, knallen Sie die Leute immer noch dort rein, anstatt den ländlichen Raum zu stärken. ({11}) – Nein, Sie müssen den ländlichen Raum stärken. Das begreifen Sie nicht. Sie müssen den stärken und nicht die überfüllten Gebiete mit diesen Instrumenten bedenken, meine Damen und Herren. Das ist entscheidend. Wo sollen denn die Wohnungen herkommen, und warum soll die deutsche Bevölkerung die Kosten für diese Wohnungen wieder stemmen? Das ist gar nicht einzusehen. Wir kommen jetzt mal dazu, wie die Mietsteigerungen überhaupt zustande kommen. Zum einen haben wir erhöhte Baukosten. Daran haben Sie alle mitgewirkt: Dämmvorschriften, Energieeinsparverordnung, Energieausweis, Solardächer usw. usw. Das kostet doch alles Geld. Das wird doch umgelegt. Ich glaube, Sie haben immer noch nicht verstanden, dass Ihre Aktionen natürlich das Bauen verteuert haben, in jeder Beziehung. ({12}) Dann haben wir noch solche Kuriositäten wie das Sperren von Öfen und Heizungsanlagen wegen angeblich überzogener Abgaswerte. Sie haben doch Öfen rausgeschmissen, die noch ganz normal funktionieren. Die müssen alle verschrottet werden. Wieder neu Erz abbauen und neue herstellen! Wunderbare Planung! Auch Umweltkosten! Meine Damen und Herren, noch eins zum Thema: Nebenkosten sind keine Mietkosten. Das können Sie sich auch mal anhören. Nebenkosten sind Abgaben, die der Staat teilweise mit zu verantworten hat. ({13}) Da haben wir die Energieabgaben, die Umsatzsteuer, die EEG-Umlage auf Strom und Gas, und das macht im Monat pro Haushalt bis zu 80 Euro aus. Da könnte man auch sparen, wenn man das mal zurückfahren würde. Darüber könnte man nachdenken. ({14}) Sie wollen die Erleichterung der Zwangsräumung aufheben. Die wollen Sie einschränken. ({15}) Aber für den Bürger, der in die dritte Säule der Altersvorsorge investiert hat, haben Sie nichts übrig; der interessiert Sie nicht. ({16}) – Das haben Sie nicht verstanden, nicht? – Er kann durch die säumigen Zahler in den Ruin getrieben werden. Auch das ist für Sie uninteressant. Sie machen hier eine angeblich soziale Welle durch Ausgrenzung derer, die allein den Wohnraum erst geschaffen haben. Die grenzen Sie aus, meine Damen und Herren. ({17}) Zur Forderung nach Begrenzung des Mietpreises: Wer übernimmt denn die steigenden, auch durch die Politik verursachten Kosten? Wer soll die übernehmen? Wenn Sie das dem Vermieter aufdrücken, dann wird die Attraktivität der Vermietungen natürlich zurückgehen; es wird weniger Angebote geben. Das müsste selbst Ihnen einleuchten, aber da habe ich so meine Zweifel, ob Sie das nachvollziehen können. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Spangenberg, achten Sie bitte auf die Zeit und kommen Sie zum Schluss!

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Dann komme ich zurück zu den Linken. Sie haben doch beklagt, dass der soziale oder der städtische Wohnungsbau zurückgegangen ist. ({0}) – Hören Sie erst mal zu!

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das müssen Sie bitte jetzt im Ausschuss klären. Kommen Sie zum Schluss!

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

2013 wurden 1,7 Milliarden Euro durch den Verkauf aller Dresdner Sozialwohnungen eingenommen – mit den Stimmen der Linken. Recht vielen Dank. Wiedersehen! ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Bernhard Daldrup das Wort. ({0})

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben zu diesem Tagesordnungspunkt zwei Anträge vorliegen, von denen ich meine, dass sie sich mit einem wichtigen Thema seriös auseinandersetzen, ({0}) und deswegen diskutiere ich darüber auch so. Wir haben eben Ihren Beitrag gehört, Herr Spangenberg. Es war zwar nicht so viel zu verstehen, ({1}) aber Sie haben irgendwie mit Sozialneid angefangen und dann ein Bild von Gesellschaft gezeichnet, das wiederum das, was ich schon vorher wusste, wieder mal bestätigt: Sie sind dieser Gesellschaft eigentlich fremd. Sie verstehen sie nicht. ({2}) Ich finde es gut, dass das Thema heute aufgegriffen wird. Obdach- oder Wohnungslosigkeit ist individuell eine ganz dramatische Situation. Das ist allerdings keineswegs nur sozusagen auf Wohnungslosigkeit zu reduzieren, aber es ist ganz zweifellos das Hauptthema. Wohnungslosigkeit, Obdachlosigkeit macht Armut in diesem Land sichtbar. Wir sehen sie auf den Straßen unserer Städte. Deswegen ist es richtig, dass wir uns auch damit beschäftigen. Ja, die Zahlen steigen; das stimmt. Das wissen wir auch ohne überprüfbare Statistiken. In einigen Ländern haben wir so was allerdings. In Nordrhein-Westfalen haben die Sozialdemokraten dafür gesorgt, dass es so etwas gibt. Aber ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, die Aussage „Die Bundesregierung sieht seit Jahrzehnten untätig zu“ entwertet ein bisschen die Ernsthaftigkeit der Debatte, die wir zu dem Thema führen. Ich glaube, das ist nicht richtig. Die Frage muss lauten: Wer muss eigentlich etwas tun? Was muss getan werden, und reicht es? Wohnungslosigkeit hat nämlich viele Ursachen, bei deren Bekämpfung meines Erachtens – das steht auch im Antrag der Grünen unter dem Begriff „Primärprävention“ – der vorsorgende Sozialstaat eine große Rolle spielt, vielleicht manchmal sogar mehr als der reparierende oder reagierende. Wir haben heute Morgen gehört, was Franziska Giffey zu dem Starke-Familien-Gesetz gesagt hat. Wir haben gehört, dass es einen höheren Kinderzuschlag und mehr Geld im Bereich von Bildung und Teilhabe geben soll; 1 Milliarde Euro gegen Kinderarmut. Das alles gehört dazu. Bei anderen Altersgruppen gehört eine erhöhte Grundrente dazu. ({3}) Das sind die Bedingungen für den vorsorgenden Sozialstaat, um den wir uns kümmern müssen, wenn wir darüber reden. Zuständig – das ist aber kein Wegschieben; überhaupt nicht – sind auch Länder und Kommunen, selbstverständlich, wie auch die Kreise. Wenn die Grünen sagen, man müsse einen Dialog beginnen, dann sage ich, und ich weiß, wovon ich rede: Diesen Dialog gibt es schon lange und intensiv. – Und ich weiß, dass angespannte Wohnungsmärkte dazu führen, dass sich Städte und Gemeinden mit viel Engagement, viel Einsatz und im Übrigen auch mit viel Geld um die Bekämpfung von Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit kümmern. Es gibt kaum eine Stadt, die sich nicht wirklich umfassend darum kümmert, Wohnungsnot zu bekämpfen. In München geht es sogar so weit, dass nicht nur leerstehende Flüchtlingsunterkünfte genutzt werden, sondern auch Pensionen angemietet werden, um Angebote zu machen. Es gibt eine ganz kompetente und komplexe Sozialberatung dazu, wie es sie beispielsweise auch in Frankfurt und Hannover gibt, wo alle Möglichkeiten genutzt werden. ({4}) Ich kann Ihnen auch Duisburg nennen mit seinen 108 Häusern in den statistischen Bezirken, um Wohnungslosigkeit zu verhindern. Es gibt viele, viele gute Geschichten, auch in Dortmund beispielsweise. Aber am Schluss heißt es trotzdem: Trotz höchster Not lassen sich nicht alle helfen. Aber der Anspruch bleibt: Integration in das qualifizierte Hilfesystem ist unser Anspruch dabei. ({5}) Es ist also keineswegs so, wie in dem Antrag zu lesen war. Nicht soziale Kälte, sondern Engagement, gesetzlich wie ehrenamtlich, prägt die Haltung von Staat und Gesellschaft in diesem Land, jedenfalls gegenüber Menschen, die wohnungslos sind. Ich will aber gar nicht davon ablenken: Wohnungsnot hat in erster Linie mit Wohnungsmangel zu tun. Deswegen sage ich Ihnen: Wir nehmen das Recht auf Wohnen ernst, indem wir erstens Mieterinnen und Mieter besser schützen, nämlich mit einem Mietrechtsanpassungsgesetz, das hier thematisiert worden ist, indem wir zweitens das Wohngeld deutlich erhöhen und uns der Aufgabe stellen, indem wir drittens Mietspiegel anpassen, indem wir viertens mit unglaublich viel Geld soziale Wohnraumförderung betreiben und indem wir uns fünftens um Stadtentwicklung, Städtebauförderung und soziale Quartiere kümmern, um auf diese Weise Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit vorbeugend zu vermeiden. Trotzdem freue ich mich auf die Beratung der Anträge.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Daldrup!

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, ich wollte nur noch diesen Satz sagen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Es ist alles okay. Ich will nur nicht, dass Ihre Kollegin Ihnen böse wird, wenn ich ihr Ihre Redezeit anrechne. ({0}) Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Hagen Reinhold das Wort. ({1})

Hagen Reinhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004229, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Daldrup, es kommt nicht so oft vor, dass wir uns einig sind. Aber Sie haben recht: Auch ich freue mich, dass wir hier heute so eine wichtige Debatte führen. Ich hätte gedacht, dass wir das auch quer durch das Haus mit dem nötigen Ernst tun. Diesen vermisse ich bei einigen. Ich fange einmal bei dem Antrag der Linken an. Frau Lay, immer nur auf die Mieten abzustellen, ist leider viel zu kurz gesprungen. ({0}) Deshalb bin ich sehr dankbar, dass wir nicht nur einen Antrag von Ihnen, sondern auch einen Antrag von den Grünen haben, der deutlich differenzierter an die Sache herangeht und der einen großen Unterschied macht, was auch richtig ist, zwischen Obdachlosigkeit und Leuten, die davon bedroht sind, wohnungslos zu werden. Das ist auch wichtig. Housing First jetzt für sich als linke Idee zu vereinnahmen, wo ich weiß, dass das in Düsseldorf und in anderen Städten seit Jahren über alle Parteien hinweg breit getragen und bei privaten Stiftungen unterstützt wird, das zeigt, wie ernst Sie die Debatte nehmen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir hier viel ernsthafter miteinander diskutieren würden. ({1}) – Bleiben Sie doch einmal entspannt. Ich finde in den Anträgen gute Sachen. Das will ich nicht verschweigen; das ist auch völlig in Ordnung. Aber nicht alles, was darin steht, ist richtig; das können Sie sich vorstellen. Aber ich hätte gedacht, wir fassen wenigstens die guten Punkte aus den Anträgen zusammen. Housing First ist einer davon, auch die Verantwortung – das ist hier dargestellt worden – dafür, dass Kommunen, Länder und der Bund gemeinsam agieren müssen. Ich halte viel davon, dass die Kommunen endlich eine solche finanzielle Ausstattung bekommen, damit sie das auch machen können. Wenn man sich einmal mit dem Thema auseinandersetzt, wenn man in Obdachlosencafés geht, wenn man sich mit den Leuten unterhält, dann stellt man fest, dass die Sozialarbeiter manchmal nur 24 Monate davon entfernt sind, ihre eigenen Kunden zu werden – das ist doch die Wahrheit vor Ort –, weil sie nicht ausfinanziert sind und befristete Arbeitsverträge haben. Darüber muss doch einmal gesprochen werden. Aber darüber finde ich in diesen Anträgen gar nichts, und das ärgert mich. ({2}) – Deshalb will ich da einen Unterschied machen. In Bezug auf die Notunterkünfte müssen wir darüber reden, dass es viele Notunterkünfte gibt, in die Leute mit Hund oder unter Drogen gar nicht hineindürfen, dass wir andere Konzepte brauchen und dass sie personell besser ausgerüstet werden müssen, um jedem eine Chance zu geben, nicht nur denjenigen, die stark sind und manchmal – ja – gar nicht in diesen Unterkünften sein dürften. Auch darüber muss geredet werden. Gerade in den Ballungsräumen gibt es auch viele Menschen, die aus anderen Ländern kommen und die eben keinen Anspruch darauf haben, bei uns die Kosten der Unterkunft bezahlt zu bekommen. Die verdrängen die Schwachen, die es eigentlich nötig hätten. Auch darüber muss gesprochen werden. ({3}) Was wir nicht brauchen – jetzt komme ich zu den von Wohnungslosigkeit Bedrohten – ist mehr Regulierung. Damit bekommen Sie das mit Sicherheit nicht hin. Glauben Sie mir: Bezüglich der Forderung nach mehr Wohnraum sind wir uns einig. Aber ich will an die Grundlagen heran. Warum zieht es denn alle in die Ballungsräume? Warum ist denn der Druck in den Ballungsräumen so enorm? Darüber muss doch geredet werden. Das bekommt man auch mit den schönsten Reden über ländliche Räume nicht wegdiskutiert. Das ist übrigens ein Trend, der sich in den nächsten Jahren verstärken wird. Insofern muss ich gucken: Wo sind soziale Netzwerke, die ich auch in anderen Gebieten anbieten kann, damit diese Leute auch in anderen Gebieten überhaupt eine Chance haben. ({4}) Worüber auch nicht geredet wird, ist ein Thema, mit dem die Gesellschaft ziemlich schwach umgeht. Ich erzähle Ihnen einmal eine Geschichte aus meiner Heimatstadt: Ich habe viele Deutschkurse für Flüchtlinge angeboten, als sie zu uns kamen, und gesagt: Wir brauchen auch Alphabetisierungskurse für Deutsche. In Deutschland gibt es nämlich fast 10 Prozent funktionelle Analphabeten. – Man hat mich in meiner kleinen Heimatstadt zusammen mit den Helfern, die das gemacht haben, beschimpft und gesagt: Das kann nicht wahr sein. Bei uns gibt es keine funktionellen Analphabeten. Das alles ist nicht wahr. – Fürchterlich! Stigmatisiert hat man diese Leute. Die trauen sich mit Sicherheit nicht mehr zu uns in die Deutschkurse. Warum erzähle ich das eigentlich? Weil wir sehr oft wissen, welche Leute von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Die kennt unser System. Das kommt nicht von heute auf morgen. Aber es sind auch viele Menschen dabei, die einfach den Brief vom Amt nicht lesen. Es gibt übrigens schon lange die Meldepflicht vom Amtsgericht an die Sozialämter; das ist in den Anträgen falsch dargestellt. Da liegt der Brief auf einem Stapel mit 50 ungeöffneten anderen Briefen obendrauf: teilweise, weil sie es sozial nicht mehr schaffen, teilweise aber auch, weil sie diese Briefe nicht lesen können. Deshalb müssen wir uns deutlich breiter aufstellen. Wir dürfen diese Leute nicht stigmatisieren. Wir müssen in Bildung investieren, damit sie, wenn sie Netzwerke in den Ballungsräumen suchen, nicht feststellen müssen, dass wir nicht genügend Möglichkeiten haben, ihnen zu helfen. Ich freue mich darauf, wenn wir ernsthaft über die Anträge diskutieren. Ich finde gerade in dem der Grünen eine ganze Menge Punkte, die auch wir unterstützen können. Ich teile aber mitnichten die Ansicht, dass das Ganze ausschließlich über die Mieten geht. Auch mit dem Geld, das Sie in die Hand nehmen wollen, um das zu ändern, wird das nicht funktionieren. Da entzaubern Sie sich ja selbst. Sie schreiben, 10 Milliarden Euro reichten aus, und in der Begründung werden dann zehn Jahre lang jeweils jährlich 10 Milliarden Euro gefordert. Sie haben auch noch nicht gehört, über wie viel Geld wir im Bundeshaushalt verfügen und was wir damit alles machen wollen. Aber das war ich von den Linken nicht anders gewohnt. Schönen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Christian Kühn das Wort. ({0})

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über nicht weniger als über das Menschenrecht auf Wohnen. In der Sozialcharta der Europäischen Union, in Artikel 31, steht: 1. den Zugang zu Wohnraum mit ausreichendem Standard zu fördern; 2. der Obdachlosigkeit vorzubeugen und sie mit dem Ziel der schrittweisen Beseitigung abzubauen; 3. die Wohnkosten für Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, so zu gestalten, daß sie tragbar sind. Ich finde, das sind sehr gute und schöne Sätze, die hier in Europa formuliert worden sind. Ich hoffe, dass wir sie endlich auch national in der Sozial- und Wohnungspolitik umsetzen. ({0}) Dieses Recht auf Wohnen kennt keine Nationalität, dieses Recht auf Wohnen kennt kein Geschlecht, und dieses Recht auf Wohnen kennt auch keine Religion. Das Recht auf Wohnen ist unteilbar und steht allen Menschen zu. ({1}) Wir haben uns hier im Deutschen Bundestag mit den globalen Nachhaltigkeitszielen verpflichtet, Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030 zu überwinden. Wir Grünen arbeiten daran, dass das auch gelingt. ({2}) Leider sind wir als Gesellschaft davon noch sehr weit davon entfernt. Nach Schätzungen sind 900 000 Menschen in Deutschland wohnungs- und obdachlos – 900 000! Diese Zahl ist stark gestiegen, und wir haben eine hohe Dunkelziffer. Ich finde, es ist ein Alarmsignal, dass wir mittlerweile Unterkünfte für obdachlose Familien und Frauen aufmachen müssen, weil es in diesem Bereich einen riesigen Druck gibt. ({3}) Deswegen kann ich, Frau Weisgerber, nicht verstehen, dass Sie in Ihrer Rede sagten: Wir tun doch schon alles. Es ist doch alles schon super. – Das ist es nicht, überhaupt nicht. Die Situation wird immer dramatischer. Deswegen müssen wir handeln. ({4}) Machen wir uns nichts vor: Wohnungslosigkeit ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die Angst davor hat wirklich auch die Mitte erfasst. Um Obdachlosigkeit zu bekämpfen, brauchen wir überhaupt erst einmal Zahlen, basierend auf einer vernünftigen Statistik. Wir wissen noch viel zu wenig über die Struktur von Wohnungslosigkeit in Deutschland. Dass Sie als Große Koalition nicht die Kraft haben, sich dieser Frage wirklich zu stellen, finde ich, ist ein wohnungs- und sozialpolitischer Skandal. ({5}) Wir versuchen seit Jahren über Anträge, hier eine Statistik zu bekommen. Aber Sie verweigern sie. Sie machen es wie die drei Affen: nichts sehen, nichts hören und nichts sagen. Aber damit werden Sie das Problem nicht lösen. ({6}) Und an die Kolleginnen und Kollegen der AfD: Die Geflüchteten in Deutschland sind nicht am Wohnungsmangel schuld. ({7}) Die Geflüchteten sind nicht schuld daran, dass in Deutschland mit Immobilien spekuliert wird. Sie sind nicht schuld daran, dass die Mieten nach oben gegangen sind. Sie sind auch nicht schuld daran, dass wir zu wenig Sozialwohnungen haben. Sie können gerne die wahren Schuldigen benennen. Sie können der Bundesregierung sagen: „Hier wird zu wenig getan“, oder auch uns anderen Parteien vorwerfen, dass hier nichts getan wird. Aber dass Sie auf dem Rücken der Geflüchteten bei dieser Frage die soziale Spaltung vorantreiben – ich habe Ihren Antrag, den Sie heute bei der nächsten Debatte einbringen, sehr genau gelesen; darin geht es um nichts anderes als um Spaltung –, das ist armselig. ({8}) Dass Sie keinen einzigen Punkt zum Mietrecht, zur sozialen Vorsorge und zum Sozialstaat anführen, zeigt doch genau, was Sie wollen: Sie wollen das Problem nicht lösen, sondern Sie wollen sozusagen an dieser Stelle einfach nur diejenigen, die Sie die ganze Zeit, seitdem Sie im Bundestag sind, als Schuldige benennen, auch an dieser Stelle als Schuldige benennen. Ich sage Ihnen: Das ist einfach nur entlarvend. ({9}) Was wir brauchen, um das Menschenrecht auf Wohnen zu gewährleisten, ist endlich eine Wohnungslosenstatistik, um handeln zu können. Wir brauchen mehr sozial gebundenen Wohnungsbau in Deutschland, und dieser muss gemeinnützig werden, damit wir die negative Spirale beim sozialen Wohnungsbau durchbrechen. ({10}) Wir brauchen einen besseren Kündigungsschutz, und wir müssen dafür sorgen, dass Familien am Ende nicht mehr aus ihren Wohnungen zwangsgeräumt werden; denn diese Erfahrung wollen wir doch eigentlich Kindern in dieser so reichen Gesellschaft ersparen. ({11}) Lassen Sie uns gemeinsam das Versprechen der Sozialcharta der Europäischen Union endlich in Deutschland auf den Weg bringen, nämlich: Jeder Mensch hat das Recht auf eine Wohnung. Danke schön. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Karsten Möring das Wort. ({0})

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dem Kollegen Kühn recht dankbar dafür, dass er noch mal darauf hingewiesen hat, dass wir ein Menschenrecht auf Wohnraum haben. Die Debatte, die wir heute führen, muss durchaus von Ernsthaftigkeit gezeichnet sein, weil es hier um individuelle Schicksale geht, mit denen man nicht einfach spielen kann. Man sollte aus denen aber auch nicht unbedingt politischen Honig saugen, wie wir es vorhin gehört haben, ({0}) wie es aber leider auch in dem einen oder anderen Teil der vorliegenden Anträge geschieht. Die Frage, wer welche Aufgabe zu erfüllen hat, ist nicht einfach so wegzuschieben. Wir haben vom Kollegen Daldrup und von meiner Kollegin Weisgerber vorhin gehört, was auf der Ebene des Bundes alles gemacht wird, um dieses Problem zu lösen. Das ist wirklich viel. Im Antrag der Grünen steht, dass die Primärprävention zu stärken ist, also dass ausreichend bezahlbarer Wohnraum und mehr Geld maßgeblich sind, um der Wohnungslosigkeit entgegenzutreten. Mehr Mittel bereitzustellen, ist nicht unser Problem. Unser Problem liegt woanders, nämlich bei der Umsetzung, die in den Ländern und in den Kommunen passieren muss. Liebe Grüne, ich appelliere an Sie – Sie sitzen in genug Landesregierungen und in genug Kommunalregierungen –: Sorgen auch Sie in diesen Bereichen dafür, dass ausreichend Bauland zur Verfügung gestellt wird, damit auch gebaut werden kann. Denn – das ist schon gesagt worden –: Das ist unser Engpass. – Da gibt es eine Aufgabe, die auch Sie erfüllen müssen. ({1}) Der zweite Punkt, an dem Sie mitwirken können: Machen Sie sich doch mal stark dafür, dass wir die Grundgesetzänderung durchkriegen, ({2}) damit wir die Länder weiterhin dauerhaft bei der sozialen Wohnraumförderung unterstützen können. Das ist doch die Voraussetzung dafür, dass das Problem besser angegangen werden kann. Zum Antrag der Linken, in dem – Herr Kühn, Sie haben es auch gefordert – eine Wohnungsnotfallstatistik verlangt wird: Es ist doch sichtbar und erkennbar, dass es sich um ein großes Problem handelt. Wozu brauchen wir noch mehr Zahlen? Nordrhein-Westfalen – Herr Daldrup hat darauf hingewiesen – hat seit Jahren eine Wohnungslosenstatistik, die auch die jetzige Regierung fortführt. Hinter ihr versteckt sich keiner; sie macht vielmehr die Dimension dieses Problems deutlich. Es geht nunmehr darum: Was muss man tun? Es gibt einige interessante Aspekte – darauf ist schon hingewiesen worden –, die wir in den Ausschussberatungen noch mal vertiefen müssen. Es gibt aber auch welche, die so klingen, aber in der Durchführung sehr ambivalent sind, und einige sehr populistische Forderungen. Nun ist es sehr schön, zu fordern: Zwangsräumungen müssen verboten werden. Es ist sehr schön, zu fordern: Schufa-Auskünfte dürfen nicht erfragt werden. Ich will Ihnen eine Geschichte aus meinem Wahlkreis erzählen, bei der die Kehrseite dieser Forderungen zum Tragen kommt. Ein Ehepaar hat ein Haus mit vier Wohnungen geerbt und vermietet diese. Es handelt sich um eine mittlere Wohnlage in ordentlichem Zustand, keine besonders hohe Miete; alles ganz ordentlich, so wie wir uns das von privaten Vermietern wünschen. In den letzten zehn Jahren haben sie bei der Neubelegung ihrer Wohnungen dreimal Mietnomaden gehabt: einmal einen, den sie einigermaßen glücklich wieder losgeworden sind. Das nächste Mal war fast existenziell; da waren es zwei, und es ging einmal über Monate, in einem Fall sogar über Jahre. Das führte so weit, dass die Kredite für das Haus nicht mehr bezahlt werden konnten. Das Ehepaar musste Erbauseinandersetzung durchführen und stand kurz vor der Zwangsversteigerung. ({3}) Auch das muss man berücksichtigen. Wir können doch kein Interesse daran haben, dass die Möglichkeiten für Vermieter – da geht es mir nicht um die großen Wohnungsunternehmen; die haben andere Möglichkeiten –, also vor allen Dingen für die vielen Vermieter mit einer mittleren Anzahl von Wohnungen, die ihren Beitrag zur Wohnungsversorgung leisten und das ordentlich tun, eingeschränkt werden. Auch deren Möglichkeiten müssen gesichert bleiben. ({4}) Also, so einfach geht es nicht. Trotzdem: Die Probleme sind groß. Ich möchte an dem Beispiel meiner Stadt Köln ein paar Punkte dazu sagen, wie in einer Kommune dieses Problem geregelt werden kann. Die Stadt Köln hat 10 000 Wohnungen, für die sie das Belegrecht hat. Diese befinden sich zum Teil in eigenen Gesellschaften, zum Teil sind das angekaufte Rechte. Diese Wohnungen werden benutzt, um Wohnungsnot zu verhindern. Mieter können sich selbst auf diese Wohnungen bewerben. Sie müssen nicht hingehen und sagen: „Weis mir eine Wohnung zu“, sondern sie können sich dort eine suchen, was im Hinblick auf die Würde der Betroffenen nicht völlig ohne Sinn und Verstand ist. Ferner gibt es eine Reihe von Wohnungen, die für Notfälle freigehalten werden, in die man kurzfristig Leute reinsetzen kann. Da sind auch freie Wohnungsgesellschaften dabei, also nicht nur städtische. Das ist der eine Punkt. Ergänzt wird das um niederschwellige Angebote, um Obdachlosigkeit zu bekämpfen. Niederschwellige Angebote heißt: Da können Leute tagsüber rein, sich aufwärmen, da können sie was essen, da können sie Wäsche waschen. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Anlaufpunkten. Das kostet zwar alles Geld, es ist aber gut investiertes Geld. Außerdem gibt es Winterschlafplätze mit geheizten Schlafmöglichkeiten, damit keiner im Winter auf der Straße liegen und erfrieren muss. Wenn trotzdem welche auf der Straße liegen und erfrieren, dann hat das auch mit der individuellen Situation Einzelner zu tun: mit psychischen Problemen, mit Hunden – für die gibt es übrigens auch eigene Plätze –, mit Krankheiten, mit Unverträglichkeiten, mit Psychosen, mit Angstzuständen, wenn man in geschlossenen Räumen oder mit anderen Leuten zusammen ist. All diese Dinge hindern viele daran, das Angebot anzunehmen. Dafür gibt es dann Möglichkeiten zur gesundheitlichen Vorsorge im Gesundheitsamt der Stadt Köln, wo Angebote bis hin zur psychischen Betreuung vorgehalten werden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ergänzt um ehrenamtliche Tätigkeit – der Dank ist schon ausgesprochen worden, die Wiederholung kann ich mir sparen; ich finde aber richtig, dass wir das noch mal deutlich machen –, sind die Möglichkeiten, die eine Kommune hat: Zuwendungen, personeller Einsatz, materielles Vorhalten. Das ist der Kern zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit – vorausgesetzt, dass wir es schaffen, das Wohnungsangebot so groß zu machen, dass man auch eine Wohnung findet, wenn man sie braucht. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Abschließend hat nun Ulli Nissen für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für uns von der SPD ist die Beseitigung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit von herausragender Bedeutung – dies möglichst umgehend, aber spätestens bis zum Jahr 2030. Dazu haben wir uns in den SDGs, den Nachhaltigkeitszielen 2030, verpflichtet. Ziel 11 fordert: „Nachhaltige Städte und Gemeinden“. Im Unterziel 11.1 wird präzisiert: Bis 2030 den Zugang zu angemessenem, sicherem und bezahlbarem Wohnraum und zur Grundversorgung für alle sicherstellen … Bezahlbares Wohnen ist ein elementares Grundbedürfnis. Dies ist aktuell einer der größten sozialen Sprengsätze, liebe Kolleginnen und Kollegen. Gerade in der kalten Jahreszeit ist die Situation für Menschen ohne Wohnung besonders dramatisch. Ich bin dankbar, dass es Ehrenamtliche gibt, die sich für die Betroffenen einsetzen. Am letzten Sonntag durfte ich mit den Frankfurter Street Angels mitarbeiten. Seit fünf Jahren geben diese jeden Sonntag kostenlos ein warmes Essen – bisher mehrere Hunderttausend Portionen – an Bedürftige ab. Sabi Uskhi und sein Team haben meine große Hochachtung. Ich danke euch! Leider kann ich wegen meiner kurzen Redezeit nicht alle anderen super Initiativen in Frankfurt aus diesem Bereich nennen. Auch diesen gilt mein Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele Menschen haben Angst, ihre Wohnungen zu verlieren, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können. Gut, dass die rot-schwarze Bundesregierung gehandelt hat und dies auch weiter tut. Eine ganz wichtige Entscheidung war die Deckelung der Modernisierungskosten. Jetzt kann bei Mieten unter 7 Euro pro Quadratmeter diese nur noch um 2 Euro innerhalb von sechs Jahren pro Quadratmeter angehoben werden. Bei Mieten darüber ist die Erhöhung beschränkt auf 3 Euro. Aufgrund dieser Regelung habe ich in Frankfurt glückliche Mieterinnen und Mieter erlebt. Diese hatten jahrzehntelang einen guten Vermieter, der freundschaftlich und in gutem Einvernehmen mit ihnen zusammen im Haus gewohnt hat. Die Miete lag unter 7 Euro. Nach dessen Tod wurde das Haus wohl zum 70-Fachen der Jahresmiete an einen Investor verkauft. ({0}) Dieser hatte anscheinend gehofft, durch hohe Mietsteigerungen nach Modernisierung alle zu vertreiben. So passierte es in der Lersnerstraße nach Erhöhung der Miete um 14 Euro pro Quadratmeter. Auch die genannten Bewohnerinnen und Bewohner hatten große Angst, ihre Wohnungen zu verlieren. Für mich war es sehr schön, ihnen mitteilen zu können, dass mehr als 2 Euro Erhöhung pro Quadratmeter nicht drin sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Moment der beruhigten Mieterschaft werde ich so schnell nicht vergessen. Um die Mieten zu dämpfen, wollen wir auch den Betrachtungszeitraum für den Mietspiegel von vier auf sechs Jahre ausweiten. Ich persönlich hätte mir auch gut eine Ausweitung auf zehn Jahre vorstellen können. ({1}) Die SPD möchte einen Mietenstopp. In Gebieten mit angespannten Wohnungsmärkten sollten Mieten nur noch in der Höhe der Inflationsrate steigen können. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft ABG FRANKFURT HOLDING mit mehr als 50 000 Wohnungen hat einen Mietenstopp eingeführt. Für insgesamt zehn Jahre dürfen die Mieten dort nicht mehr als um 1 Prozent steigen. Das finde ich großartig, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Vielleicht ein gutes Beispiel für andere Wohnungsbaugesellschaften in anderen Städten. Ich selber bin Vermieterin und habe die vollständige Mietpreisbremse eingeführt und noch nie im Bestand erhöht, nur einmal bei Wiedervermietung um 20 Euro. Beim Wohngipfel haben wir beschlossen, dass wir die Verdrängung der Mieterschaft durch Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen erschweren wollen. Umwandlungen müssen in stark nachgefragten Gebieten erheblich eingeschränkt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, grundsätzlich sollten Eigenbedarfskündigungen erschwert werden. Wir wollen unter anderem, dass Vermieter nicht mehr durch Gründung einer Personengesellschaft die Beschränkung der Kündigungsmöglichkeit auf Eigenbedarf umgehen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, da sind wir uns alle einig: Wir wollen Menschen aus der Wohnungs- und Obdachlosigkeit holen. Da steht eine gewaltige Aufgabe vor uns. Lassen Sie uns gemeinschaftlich daran arbeiten. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({3})

Frank Magnitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004810, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauer! ({0}) Erlauben Sie mir bitte, einleitend einige persönliche Worte zu sagen. Sie alle wissen, was mir geschehen ist, und ich muss Ihnen sagen: Das war für mich eine wirklich grauenvolle Erfahrung und es war für mich eine tief einschneidende Zäsur in mein bisheriges Leben. Allerdings hat mich auch das Ausmaß der Reaktionen auf den Überfall überwältigt. Ich habe Zuspruch und Solidaritätsbekundungen buchstäblich aus der ganzen Welt bekommen, ebenfalls auch aus diesem Hause. Und dafür und für Ihre Genesungswünsche bedanke ich mich auf diesem Weg ganz herzlich, da, wo ich es persönlich noch nicht getan habe. ({1}) Eine Bemerkung noch dazu. Es ist mir durch dieses Ereignis etwas deutlich geworden: Ich weiß seither, wie wenig selbstverständlich es ist, hier zu stehen und reden zu können. Ich glaube, wer jemals ein ähnliches Erlebnis gehabt hat, wird das nachvollziehen können. Aber gut, lassen wir es dabei bewenden, und befassen wir uns mit anderen Problemen, die alleine dank der Jahreszeit eine hohe Aktualität besitzen. Menschen werden in unserem Land aus verschiedensten Gründen wohnungslos. Ich führe mal aus: Der Markt für preiswerte Wohnungen ist ausgedünnt, oder Menschen sind nicht länger in der Lage, dem Druck stark steigender Mieten standzuhalten. Die Folge ist in vielen Fällen die Wohnungslosigkeit, und naturgemäß trifft es die Schwächsten: Rentner, die auch noch durch das gleichzeitig sinkende Rentenniveau doppelt benachteiligt sind, hatten 2017 einen Anteil von etwa 7 Prozent an den schätzungsweise etwa 1,2 Millionen Obdachlosen, ({2}) also etwa 80 000 ältere und alte, teils kranke Menschen, die jahrelang in diesem Land gearbeitet, Beiträge eingezahlt, zum Wohlstand beigetragen und in der Nachkriegszeit das Land wieder aufgebaut haben. Es ist die Pflicht des Staates, den einzelnen Bürger vor existenziellen Notlagen zu schützen. ({3}) Notunterkünfte werden nur in der Zeit von Anfang Oktober bis Ende März betrieben, danach sind die Obdachlosen wieder darauf angewiesen, irgendwo einen Schlafplatz zu finden. Und in der saisonalen Öffnungszeit reichen die vorgehaltenen Plätze in den Obdachlosenunterkünften oft nicht aus. Im Gegensatz dazu erhalten Flüchtlinge Obdach und Verpflegung auf unbestimmte Zeit. ({4}) Zu Beginn der Flüchtlingskrise wurden geltende Gesetze eilig geändert, wenn nicht gar gebeugt. ({5}) In die Vorschriften des Baugesetzbuches und der Energieeinsparverordnung wurde noch im Jahr 2015 deutlich eingegriffen. Grundsätze des Bauplanungsrechts wurden für Flüchtlingsunterkünfte weitgehend außer Kraft gesetzt. Mobile Behelfsunterkünfte konnten grundsätzlich in allen Baugebieten und auch im Außenbereich – ein absolutes Novum – zugelassen werden. Die Nutzungsänderung bereits bestehender Gebäude wurde erleichtert und konnte unabhängig von den Festsetzungen des jeweils gültigen Bebauungsplanes erfolgen. Die Vorgaben der EnEV wurden eingeschränkt. Diese Regelungen wurden zunächst bis zum 31. Dezember 2019 befristet und gelten ausschließlich für Unterkünfte von Flüchtlingen und Asylsuchenden. Die Bundesregierung war sofort bereit, bis dahin bestehendes geltendes Recht zugunsten von Flüchtlingen außer Kraft zu setzen und Unsummen von öffentlichen Geldern für deren schnellere und bessere Unterbringung auszugeben. Sie sieht aber offenbar keine Veranlassung, den schon immer hier lebenden und von sozialem Elend betroffenen Menschen wenigstens gleichwertige Hilfe angedeihen zu lassen. ({6}) Diese Zustände sind inakzeptabel. Obdachlose Menschen sind gerade in den Wintermonaten oftmals entwürdigenden Umständen und der Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt. Ein kurzer Aufenthalt im Kältebus oder in S-Bahn-Stationen ist kein sicherer Hafen. Um eine Benachteiligung deutscher Obdachloser zu vermeiden, ist es zwingend erforderlich, Unterkünfte für Obdachlose im Baurecht den Unterkünften für Flüchtlinge und Asylsuchende gleichzustellen. Es darf nicht sein, dass in Deutschland Einheimische, deutsche Staatsbürger, schon per Gesetz schlechtergestellt sind als Flüchtlinge und Asylsuchende. ({7}) Bevor Sie diese Ideen nun reflexartig als nationales und rechtes AfD-Gedankengut ablehnen, bedenken Sie bitte, dass es Kurt Tucholsky war, der unter seinem Pseudonym Theobald Tiger bereits 1928 formulierte: „Asyl für Obdachlose“. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. So steht es in Artikel 1 des Grundgesetzes. Von einer Besserstellung legal oder illegal eingereister Personen gegenüber einheimischen Personen ist im Grundgesetz keine Rede. ({8}) Bitte befragen Sie Ihr Gewissen, und lassen Sie uns heute ohne Ansehen der Person allen Menschen in Deutschland ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit sichern! Danke schön. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Torsten Schweiger das Wort. ({0})

Torsten Schweiger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004889, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will gleich am Anfang sagen: Die von Ihnen, Herr Magnitz, dargelegte Ungleichbehandlung kann ich beim besten Willen nicht erkennen. ({0}) Ich will einfach mal zum Titel ihres Antrags zurückkommen, der „Anpassung des öffentlichen Baurechts zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit“ lautet. Der Antrag basiert im Wesentlichen auf den Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Aus unserer Sicht ist er nicht geeignet, die aufgeworfene Problematik – es ist eine Problematik; das wissen auch wir – grundlegend zu ändern. Warum das so ist, will ich auch gern erläutern. Zunächst mal ist die Datenlage, die in dem Antrag benutzt wurde, sehr, sehr dünn und nicht sauber differenziert; denn nach einschlägigen Definitionen, die auch die BAG selber benutzt, sind keineswegs alle wohnungslosen Menschen gleichzeitig obdachlos. Da muss man gut unterscheiden. Immer dann, wenn der Staat aus welchen Gründen auch immer die Bereitstellung und Finanzierung von Wohnungen oder Unterkünften selber übernimmt, gelten die Personen, die dort unterkommen, zwar als wohnungslos, nicht aber zwangsläufig als obdachlos. Dass hier gehandelt werden muss, ist, denke ich, unstrittig; auch darauf werde ich noch mal eingehen. Von den im Antrag der AfD genannten 860 000 Betroffenen im Jahr 2016 sind nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe circa 52 000 Personen in der Tat obdachlos. Alle anderen gelten als wohnungslos, weil sie in staatlich finanzierten Wohnheimen, Notunterkünften oder bei Freunden und Bekannten wohnen bzw. übernachten. So lautet die Auskunft der zitierten Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Allein die erstmalige Aufnahme von circa 440 000 Flüchtlingen im Jahr 2016 in diese Statistik zeigt die Notwendigkeit der Differenzierung. Im Rahmen der föderalistisch verteilten Aufgaben stellen Kommunen Notunterkünfte bereit, die allerdings zunehmend mit regulären Wohnungsangeboten, insbesondere in Ballungszentren, konkurrieren. Folgerichtig ist die Schaffung von Wohnungen auch erklärtes Ziel der Koalition. Die umfassende Wohnraumoffensive mit 1,5 Millionen neuen Wohnungen, die Stärkung des sozialen Wohnungsbaus mit Milliarden aus Bundesmitteln – das sind die sogenannten Kompensationsmittel –, das Baukindergeld, die Sonderabschreibungen etc. bis hin zur Weiterführung des Städtebaus auf einem Rekordniveau wie 2018 sind die richtigen Reaktionen auf die genannte Problematik. Nun kommt es darauf an, das auch umzusetzen. Da bitte ich alle, mitzuhelfen. Dass bestimmte Vorhaben im Bundesrat zurzeit festhängen, wissen wir alle. Es wäre gut, wenn jeder auf seiner Schiene einfach ein Stückchen mithilft. ({1}) Der Antrag der AfD geht aber auch deshalb am Problem vorbei, weil er eine isolierte einzelne Änderung des § 246 BauGB vorsieht. Das ist der Paragraf, der 2015 geändert wurde, um eine Erleichterung zu schaffen. Diese Änderung wird aber allein und isoliert der Problemlage überhaupt nicht gerecht, erst recht nicht – das ist vorhin auch schon angeklungen –, wenn man versucht, Flüchtlinge und Obdachlose gegeneinander auszuspielen. ({2}) Auch formell erfüllt der Antrag aus unserer Sicht nicht die Anforderungen. Zuerst will man – so ist es dort aufgeführt – die Unterkünfte für Obdachlose den Unterkünften für Flüchtlinge und Asylsuchende gleichstellen, dann will man die Privilegierung der Flüchtlingsunterkünfte abschaffen, obwohl diese bereits im BauGB bis Ende 2019 befristet ist. Spätestens hier stellt sich die Frage, was mit der Gleichstellung, die man eingangs wiederum wollte, ist. Bedeutet das die Gleichstellung in der Abschaffung der Privilegierung? Ich glaube nicht, dass es so gemeint ist. Die heiße Nadel, mit der dieser Antrag gestrickt wurde, ist sehr deutlich erkennbar. ({3}) Ich fasse die Punkte aus meiner Sicht also noch einmal zusammen: Problematische Faktenrecherche verbunden mit ungenügender Reichweite des Vorschlags und das Ausspielen von Obdachlosen und Flüchtlingen gegeneinander sind der wesentliche Inhalt des Antrages. Der vorhandene Vorschlag der Regierungskoalition – ich hatte die einzelnen Punkte vorhin erwähnt – ist wesentlich weitreichender, auch wenn die Umsetzung sicherlich in vielen Punkten noch aussteht. Es bleibt aber zum Schluss nur ein Resümee: die Ablehnung des vorliegenden Antrags. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Abgeordnete Hagen Reinhold das Wort. ({0})

Hagen Reinhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004229, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich musste lange suchen, bevor ich in dem Antrag Richtiges gefunden habe. Ich habe aber etwas gefunden. Ich habe mir das Rubrum angeguckt: Soweit ich das abschätzen kann, sind alle Namen richtig geschrieben. Danach flacht der Antrag deutlich ab. ({0}) Das fängt schon damit an – mein Vorredner hat es gesagt –, dass wohnungslose und obdachlose Menschen hier in einen Topf geworfen werden und dann einmal kräftig durchgeschüttelt wird. So kommt man auf 1,2 Millionen Obdachlose. Das entspricht glücklicherweise nicht der Realität. Daran sieht man, wie Sie mit der Problematik umgehen. Ich fand es bemerkenswert, dass Sie, Herr Magnitz, zur Einführung des Antrags, den Sie hier einbringen, sagen, es wäre alles eilig geändert und es wäre Recht gebeugt worden. Und wahrscheinlich deshalb kommen Sie in Ihrem Antrag zu dem Schluss: Das wollen Sie jetzt weiterhin. ({1}) Das ist genial. Ich muss sagen, das offenbart, wie Sie mit dem Parlament umgehen und welche Auffassung Sie dazu haben. Erstaunlich ist: In den Jahren 2014, 2015 und 2016 kam die AfD langsam auf. Sie war bei jedem Protest gegen jedes neue Flüchtlingsheim zugegen. Was waren damals die Argumente der AfD? Da wurde gesagt: Es kann doch nicht sein, dass man sich über den Willen der Einwohner hinwegsetzt. Hier werden Grundstücke ausgesucht, die anders genutzt werden könnten. – All das waren damals Ihre Argumente gegen Flüchtlingsheime. Jetzt kommen Sie mit einem Antrag um die Ecke, mit dem Sie sagen: Super! Das brauchen wir jetzt alles – nur dieses Mal für Obdachlose. Sie sollten in dem, was Sie machen, schon konsequent sein. Sie sind es nicht. Aber das sind wir von Ihnen gewohnt. ({2}) Ich könnte das fortführen. Damals sprachen Sie davon, dass das Zusammenleben von so vielen Leuten auf engem Raum zu Alkoholismus und Kriminalität führt. Ich will das gar nicht ausführen. Das ist alles Humbug. Ich hätte es aber gut gefunden, wenn wir uns Gedanken über einige Änderungen gemacht hätten, die wir damals vorgenommen haben. Ich fange mal mit einer Änderung an, die Sie gar nicht aufgeschrieben haben, nämlich mit dem ersten Schritt, und zwar der deutlichen Vereinfachung des Planungsrechts in 2014. Das und nicht so sehr das Baugesetzbuch und die EnEV, die Sie anführen, sind für mich, ehrlich gesagt, ein viel spannenderes Thema. Es geht hier übrigens um das EEWärmeG. Aber das lassen wir mal dahingestellt. Das zieht sich so durch Ihren Antrag. Das Planungsrecht wurde deutlich vereinfacht. Zum Beispiel ist dort reingekommen, dass Gemeinden die Zustimmung erteilen, wenn sie nicht nach einem Monat widersprechen. Das gilt übrigens auch für das Naturschutzrecht und das Landschaftsrecht. Das ist damals so dargestellt worden. Einen Monat hat man Zeit, zu widersprechen. Sonst galt es für die entsprechende Flüchtlingsunterkunft als genehmigt. Das finde ich einen interessanten Ansatz. So kriegt man die Planung mal beschleunigt. Das klappt natürlich nur, wenn ich die Planungsämter mit genug Personal ausstatte. Ich bin sehr dafür. Ich hätte es interessant gefunden, wenn solche vernünftigen Vorschläge tatsächlich herausgesucht und in dieser Situation, in der wir über Wohnungen reden, die wir schnell bauen wollen, genutzt worden wären. Das ist bei Ihnen aber leider nicht drin. ({3}) Jetzt zur EnEV, die Sie ansprechen. Wie gesagt, es geht um das EEWärmeG. Das sollte übrigens nur ausgesetzt werden, wenn es zu erheblichen Verzögerungen bei der Erstellung kommt. Ich weiß nicht, was das bei einer Sache, die man dauerhaft einführen soll, zu suchen hat. Was Sie mit diesem Antrag eigentlich wollen, erschließt sich mir überhaupt nicht. Das Ausspielen der Flüchtlinge gegen die Obdachlosen: Ich habe lange überlegt, was man als Vergleich für die Scheinheiligkeit des Antrags anführen kann. Mir ist dann ein Vergleich eingefallen, und ich habe gedacht: Das ist genauso geil, als wenn man mit einem Sozial-Maserati vor ein Obdachlosencafé fährt. ({4}) Das passt, glaube ich, ganz gut zur Scheinheiligkeit Ihres Antrags, und nichts anderes präsentieren Sie hier heute. Sie haben keine Ahnung von dem, was Sie hier zur Diskussion stellen wollen. Sie offenbaren, gegen wen es eigentlich geht. Wenn wir ernsthaft über Planungserleichterungen beim Bauen reden wollen, bin ich gerne dabei, aber doch nicht mit so einem Antrag, der von vorne bis hinten einfach nur Blödsinn ist und falsch geschrieben ist. Tut mir leid, damit haben Sie mich nicht auf Ihrer Seite. Schönen Abend noch. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Elisabeth Kaiser das Wort. ({0})

Elisabeth Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute den Antrag der AfD-Fraktion mit dem Titel „Anpassung des öffentlichen Baurechts zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit“. Bei diesem Titel mag man noch glauben, der AfD ginge es wirklich um Obdachlose. Beim Lesen bestätigt sich dann aber doch schnell die Vermutung, dass ein AfD-Antrag etwas mit Geflüchteten zu tun haben muss, egal aus welchem Fachbereich er originär stammt. ({0}) Sie schlagen in Ihrem Antrag vor, Baustandards, die für die Errichtung von Flüchtlingsunterkünften galten, auf Unterkünfte für Obdachlose anzuwenden. Schon allein dieser Vorschlag zeigt wieder, dass die AfD nicht verstanden hat, was Humanität und politische Verantwortung bedeuten. ({1}) Es ist doch so, dass 2015 Städte und Gemeinden vor der Herausforderung standen, einer Vielzahl von Geflüchteten kurzfristig eine Unterkunft anzubieten. Gerade, um niemanden auf Dauer in Zelten oder gar auf der Straße übernachten lassen zu müssen, zeigten sich Bund und Länder pragmatisch, und sie senkten befristet die baurechtlichen Anforderungen an die neugeschaffenen Einrichtungen. Dabei war doch allen klar, dass es sich hierbei nicht um dauerhafte Unterbringungslösungen handelt. Wir sind froh über jeden Geflüchteten, der dezentral untergebracht werden kann. ({2}) Wenn sich die AfD mehr mit Integration statt mit Ausgrenzung befassen würde, dann wüssten Sie auch, dass eine dezentrale Unterbringung essenziell für gelingende Integration ist. Massenunterkünfte haben viele Nachteile – angefangen bei der Enge über eine fehlende Privatsphäre bis hin zu schwierigen hygienischen Bedingungen. Deshalb ist es das Ziel verantwortungsvoller Politik, wie sie vielerorts in den Ländern und Kommunen betrieben wird, den Menschen in Not – ob geflüchtet oder obdachlos – ein Wohnumfeld zu bieten, das auch Teilhabe und Integration ermöglicht. ({3}) Glauben Sie denn wirklich, dass das Problem der Obdachlosigkeit behoben wäre, wenn wir die Menschen von den Straßen und damit aus dem Blickfeld der Bevölkerung entfernen und in Unterkünfte schaffen würden? ({4}) Die Problemlagen obdachloser Menschen sind doch ganz andere, und sie sind viel vielfältiger. Manche von ihnen scheuen sich, in die Unterkünfte zu gehen, weil dort auch ein striktes Alkohol- und Drogenverbot herrscht und weil sie keine Hunde mitbringen können. Frauen haben Angst vor gewaltsamen Übergriffen, und diese Unterkünfte liegen oft weitab des sozialen Umfelds. All das kann man doch nicht einfach ignorieren. Vor allen Dingen muss man hier doch auch feststellen: Obdachlosigkeit ist kein rein baurechtliches Problem. Sie ist vor allen Dingen ein soziales Problem. ({5}) Wir wollen Obdachlosigkeit erst gar nicht entstehen lassen. Da, wo es sie gibt, müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen wieder zurück in die Gesellschaft und damit natürlich auch in ihre eigenen vier Wände finden. Deshalb haben wir als SPD erst kürzlich Vorschläge für die Reform des Sozialstaats unterbreitet, die auch das Thema Obdachlosigkeit aufgreifen. So wollen wir beispielsweise die Kürzung der Mittel für die Wohnkosten abschaffen, damit niemand Angst haben muss, seine Wohnung zu verlieren. ({6}) Jeder soll eine Wohnung finden können. Auch dafür hat die SPD mit ihrem Zwölf-Punkte-Plan zur Mieten- und Wohnungspolitik sehr gute Vorschläge unterbreitet. Auch beim Wohngipfel der Bundesregierung im letzten Jahr haben wir uns auf konkrete Vorhaben geeinigt, mit denen wir den sozialen Wohnungsbau wieder ankurbeln und bezahlbaren Wohnraum schaffen können. Aber auch in den Kommunen, die für die Unterbringung von Obdachlosen zuständig sind, gibt es sehr viele gute Projekte und Initiativen, um Obdachlose kurzfristig unterstützen zu können. Hier sind sehr viele Ehrenamtliche tätig. Erwähnenswert sind natürlich gerade im Winter auch die Kältebusse, die im Einsatz sind. Das sind wichtige Hilfeangebote. Das A und O bleibt aber natürlich Wohnraum. Ziel muss eben sein, Obdachlose, soweit es möglich ist, wieder in Wohnungen zu bringen. Und ja, da müssen wir ehrlich sein: Da haben wir auch noch Steigerungsbedarf. Wir müssen noch ein Konzept finden, mit dem uns das am besten gelingt. Finnland hat mit dem Housing-First-Programm ein gutes Beispiel gegeben, an dem wir uns orientieren können. ({7}) Vergeuden wir also nicht länger Zeit mit populistischen Anträgen, sondern widmen wir uns lieber gemeinsam Lösungen, wie wir das Problem Obdachlosigkeit an der Wurzel packen können, um es zu beseitigen. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Nicole Gohlke das Wort. ({0})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD-Fraktion redet heute also über Obdachlosigkeit. Es wäre ja mal was, einmal über echte Probleme in dieser Gesellschaft zu reden. Aber auch heute macht die AfD natürlich genau das, was sie immer macht, nämlich – das ist sozusagen die Kernkompetenz der AfD – Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen. ({0}) Diesmal suggerieren Sie, geflüchtete Menschen seien bessergestellt als Obdachlose. Meine Damen und Herren von der AfD, dieses Gegeneinander-Ausspielen mag ja die gesamte Substanz Ihrer Politik sein, aber es ist und bleibt eindimensional. Es ist unsozial und wirklich schäbig. ({1}) Zu keinem Zeitpunkt geht es der AfD um die Schicksale von wohnungs- und obdachlosen Menschen. Alle Vorschläge, die hier im Plenum gemacht wurden, um Wohnungslosigkeit zu bekämpfen und ihr vorzubeugen – zum Beispiel Vorschläge für mehr sozialen Wohnungsbau, Vorschläge zur Stärkung der Rechte von Mieterinnen und Mietern, ein verbesserter Kündigungsschutz, Vorschläge zur Deckelung der Mietpreise –, haben Sie abgelehnt. Da ist die AfD ganz konsequent an der Seite der Investoren und der Immobilienspekulanten. Die Mieterinnen und Mieter interessieren Sie überhaupt nicht. ({2}) Vergebens sucht man in Ihrem Programm nach dem Thema Obdachlosigkeit. Dass das ein gesellschaftliches Problem ist, haben Sie doch vor lauter rassistischer Hetze gar nicht auf dem Schirm. ({3}) Stattdessen fordert die AfD im Kölner Stadtrat zum Beispiel die Einführung von mehr Kontrollen bei aggressiven Obdachlosen. Wie Sie die Menschen herabwürdigen! Sie wollen Anzeigen erleichtern und Bußgelder gegen Obdachlose von 1 000 Euro verhängen. Wissen Sie eigentlich, was ein Bußgeld von 1 000 Euro für einen Obdachlosen bedeutet? Sie, die AfD, bekämpfen die Obdachlosen in Wahrheit. Heucheln Sie hier nicht das Gegenteil! ({4}) Obdachlose Menschen entdecken Sie heute nur zu einem einzigen Zweck, nämlich um sie zu instrumentalisieren, um am Ende wieder gegen Flüchtlinge zu hetzen. Das ist schäbig und wird vor allem diesem ernsten Thema nicht gerecht. ({5})) Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist ein ernstes Thema und ein wachsendes Problem. Meine Fraktion hat gerade eben einen Antrag dazu eingebracht. Ungefähr 1 Million Menschen sind deutschlandweit von Wohnungslosigkeit betroffen, haben also keine eigene Wohnung mehr. 50 000 Menschen leben ohne Obdach auf der Straße. Die Zahl der Zwangsumzüge und Zwangsräumungen steigt, und wer erst mal wohnungslos geworden ist, hat kaum noch eine Chance, eine neue Wohnung zu finden. Die wesentliche Ursache für die hohe Wohnungslosigkeit ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und nicht etwa, wie die AfD hier erzählt, dass im Jahr 2015 relativ unbürokratisch Unterkünfte für nach Deutschland geflüchtete Menschen geschaffen wurden. Natürlich ist es richtig, dass man schnell und unbürokratisch hilft, wenn Menschen vor Verfolgung oder Krieg aus ihren Heimatländern fliehen müssen. ({6}) Zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit braucht es aber ganz andere Maßnahmen als die dauerhafte Unterbringung in Massenunterkünften, wie das die AfD fordert. Es braucht zum Beispiel ein öffentliches Wohnungsbauprogramm für sozialen und bezahlbaren Wohnraum oder die Anpassung des Wohngeldes an die Mietpreise. Helfen würde auch, dass Zwangsräumungen in die Wohnungslosigkeit gesetzlich ausgeschlossen werden. ({7}) Wenn die AfD das Thema sachlich bearbeitet hätte, dann hätte sie zum Beispiel auch auf die Idee kommen können, die Umwandlung von leerstehenden Büroräumen in bezahlbare Wohnungen zu fordern; denn hier ist der Leerstand immer noch riesig. In München und Hamburg sind es circa 500 000 Quadratmeter, in Frankfurt über 1 Million Quadratmeter. Da könnte man wirklich etwas tun. ({8}) Aber das fordert die AfD natürlich nicht; denn damit könnten Sie Zugewanderte und Deutsche nicht mehr gegeneinander ausspielen, und dann wären Sinn und Zweck Ihrer Partei nicht mehr gegeben. Die Menschen und ihre Probleme nehmen Sie auf jeden Fall nicht ernst. Das ist auch bei diesem Thema mehr als deutlich geworden. Kolleginnen und Kollegen, vielen Dank fürs Zuhören. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Bayram das Wort. ({0})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu dem Antrag der AfD lässt sich relativ kurz sagen: Die zitierten Baurechtsvorschriften sind nicht zutreffend dargestellt. Die rechtliche Lage als Privilegierung darzustellen, ist schon absurd. Es ist aus der Not erwachsen, dass man Vorschriften abgesenkt hat, eben um Menschen in Not unterbringen zu können. Daraus eine Privilegierung abzuleiten, die Sie auch den Wohnungslosen zukommen lassen wollen, ist an Absurdität kaum zu überbieten. Das Problem bei den Wohnungslosen und den Obdachlosen stellt sich – das haben viele Kollegen schon dargestellt – ganz anders dar. Deswegen will ich eingangs aufzeigen, wo das Problem eigentlich beginnt. Das Problem beginnt beim Kündigungsschutzrecht. Auch heute ist es möglich, dass einem die Wohnung unverschuldet gekündigt wird. Die Eigenbedarfskündigung kann man in diesem Zusammenhang nennen oder Modernisierungen, die die Kosten so hoch schnellen lassen, dass man die Wohnung nicht mehr bezahlen kann. Es wird für die Menschen, gerade für die älteren, zu einer Schicksalsfrage, wenn sie aus ihrer Wohnung rausmüssen. Ob sie rechtzeitig eine neue Wohnung finden können, ist ein Thema, über das wir tatsächlich in Ruhe und sachlich diskutieren sollten. Ein weiteres Thema sind die Zwangsräumungen. So viele Menschen werden zwangsgeräumt. Das heißt, sie werden auf die Straße gesetzt, ohne dass der Staat ein Verfahren vorhält, in dem geklärt wird, wo sie die Nächte über bleiben und schlafen sollen. Deswegen würde ich sagen: Man könnte es sich in dieser Rederunde leicht machen, indem man auf die AfD schimpft und über die Konzepte streitet, die uns einen oder unterscheiden. Aber ich würde wirklich auch einmal darauf aufmerksam machen wollen, dass die Herausforderung der Obdach- und Wohnungslosigkeit eine nationale Verantwortung ist, dass wir einen nationalen Plan brauchen, mit dem wir darauf reagieren; ({0}) denn damit würde es uns gelingen, der AfD den Bodensatz zu nehmen, der es ihr überhaupt erst ermöglicht, diese rassistische, spalterische Neiddebatte ({1}) in die Gesellschaft zu tragen. Das ist doch das zentrale Problem. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will noch mal deutlich machen: Diese AfD ist in keiner einzigen Regierung in Deutschland derzeit vertreten. ({3}) Alles, was wir derzeit zum Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit diskutieren, sollten wir unter dem Aspekt diskutieren: Was müssen wir vielleicht besser machen, damit es auch in Zukunft – auch mit Blick auf dieses Thema – so bleibt, dass die AfD nicht mitregiert? Schließlich hat sie mit diesem Antrag deutlich gemacht, dass sie keinerlei Kompetenz hat, um Lösungen vorzuschlagen oder gar mit uns anständig zu diskutieren. Das, glaube ich, wäre das beste Mittel. Jeder von uns sollte genau hinschauen: Wo liegt die Verantwortung? An dieser Stelle will ich den beiden Regierungsfraktionen sagen: Es hilft niemandem, wenn Sie auf die Bundesländer oder die Gemeinden schauen und sagen: Die machen es nicht, obwohl wir ihnen Geld gegeben haben. – Lassen Sie uns doch lieber gemeinsam einen nationalen Plan aufstellen – die Berliner Alternative ist der runde Tisch – und Lösungen entwickeln. Das ist das beste Rezept gegen solche Rechtspopulisten. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun Michael Kießling. ({0})

Michael Kießling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004779, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In einem Punkt sind wir uns einig: Jeder Obdachlose in Deutschland ist einer zu viel. Hinzu kommt, dass das in einem Land mit einem so guten sozialen Sicherungssystem wie Deutschland theoretisch kein Thema sein dürfte. Und trotzdem reden wir heute über obdachlose Menschen in Deutschland. Obdachlosigkeit hat verschiedene Gründe, auf die ich noch eingehen werde. Ich glaube aber, es ist erst einmal sinnvoll, die Zahlen, die die AfD in ihrem Antrag nennt, differenziert zu betrachten. Das möchte ich gerne tun. Es gibt keine bundesweite offizielle Erfassung von Obdachlosigkeit oder Wohnungslosigkeit. Darüber, ob man eine solche braucht, kann man diskutieren. Aufgrund der Zuständigkeit der Kommunen bzw. der Länder für die Betreuung und Unterbringung von Wohnungs- und Obdachlosen wäre es aber nahe liegend, dass dort auch die Erhebung der Zahlen stattfindet. ({0}) Wenn wir auf Bundesebene über das Thema sprechen, ziehen wir meist die Zahlen der BAG Wohnungslosenhilfe heran; das tut auch die AfD. Die BAG schätzt die Anzahl der Menschen ohne eigene Wohnung in Deutschland tatsächlich auf etwa 860 000 bis 1,2 Millionen. Doch die BAG differenziert im Gegensatz zur AfD. Die AfD versucht, Wohnungslose gegen Flüchtlinge auszuspielen; doch man muss sagen, dass mehr als die Hälfte der sogenannten Wohnungslosen, diese 860 000 bis 1,2 Millionen, die die AfD skandalisiert, Fehlbeleger in Flüchtlingsunterkünften sind, also Flüchtlinge mit Schutzstatus, die eigentlich Anspruch auf eine Wohnung hätten, aber keine finden und deshalb weiterhin in den Gemeinschaftsunterkünften leben müssen. Und diesen Personenkreis will die AfD laut ihrem Antrag in Obdachlosenheimen unterbringen. Das erschließt sich mir nicht. Wenn Sie den Personenkreis nicht meinen, liebe AfD, warum nennen Sie dann diese große Zahl, die diesen Personenkreis einbezieht? Das ist Populismus. ({1}) Obdachlosigkeit ist in Deutschland kein Massenphänomen. Wenn der Volksmund von Obdachlosigkeit spricht, ist meist die Straßenobdachlosigkeit gemeint. Das sind die Menschen, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben und im Alltag in den Städten zu sehen sind. Die BAG schätzt die Anzahl dieser Personen auf etwa 52 000. Diese Zahl ist in den letzten Jahren gestiegen – das haben wir gehört –, doch auch der Anstieg der von Straßenobdachlosigkeit betroffenen Personen ist durch Migration entstanden. Der Anteil von EU-Bürgern an den Personen ohne jede Unterkunft auf der Straße beträgt laut BAG bis zu 50 Prozent. Das ist erschreckend. Der Teil des Problems der Wohnungslosigkeit, der auf Zuwanderung beruht – und das ist der Großteil –, ist meines Erachtens daher stark vom Rest der Wohnungslosigkeit zu unterscheiden, sowohl was die Gründe für die Wohnungslosigkeit als auch die Lösungsansätze betrifft. Ich denke, ähnlich wie meine Vorredner, das ist kein baurechtliches Problem. ({2}) Eines gilt allerdings für alle: Obdachlosenheime statt Flüchtlingsheime zu bauen, hilft keinem Fehlbeleger. Das hilft weder den Menschen noch der Statistik. Außerdem steht es ja jeder Kommune frei, zum Beispiel mit dem Bauleitplanverfahren Voraussetzungen für Obdachlosenunterkünfte zu schaffen. Sicher kann man darüber hinaus an der Situation der Wohnungslosen noch einiges verbessern. Der Neubau, das Schaffen von bezahlbarem Wohnraum ist dabei die Grundlage. Wir haben mit unserer Koalition einiges auf den Weg gebracht. Auch bei der sozialen Wohnraumförderung haben wir noch eine Schippe draufgelegt. Die Vorlage liegt jetzt im Bundesrat. Der Appell ist heute schon ein paarmal ergangen: Helfen Sie im Bundesrat dabei mit, dass diese Beschlüsse durchkommen, damit wir unsere Wohnraumoffensive endlich starten können. ({3}) Aber auch bezahlbare Mieten müssen bezahlt werden. Da sind wir auch schon beim Kern des Problems. Die Wohnungslosigkeit von Deutschen beruht häufig gerade nicht auf fehlendem Wohnraum, sondern hat andere Gründe, etwa soziale und psychosoziale Ursachen. Das heißt, die Gründe der Wohnungslosigkeit sind im Gegensatz zu den von zugewanderten Wohnungslosen höchst individuell. Die Menschen brauchen spezielle Hilfe zur Problemlösung, sei es zur Prävention, sei es die Beratung vor Ort, nicht durch Änderungen im Baurecht. Will man also etwas gegen Obdachlosigkeit tun und den betroffenen Menschen wirklich helfen, dann müssen wir den Kommunen helfen. Wir müssen die Menschen, die in Obdachlosigkeit gelangt sind, beraten oder auch im Rahmen der Prävention dafür sorgen, dass die Menschen gar nicht erst in diese missliche Lage kommen. Da, denke ich, lohnt sich wieder mal ein Blick nach Bayern. Die Bayerische Staatsregierung hat einen Aktionsplan „Hilfe für Obdachlosigkeit“ angekündigt und plant eine Stiftung „Obdachlosenhilfe Bayern“, um die Kommunen bei der Aufgabe zu unterstützen. Im Entwurf für den Doppelhaushalt sind dafür fast 10 Millionen Euro vorgesehen. Ich denke, das ist ein Statement. Alle anderen hier vertretenen Parteien, die in den Ländern in der Verantwortung sind, könnten sich Bayern als Beispiel nehmen, um der Obdachlosigkeit entsprechend entgegenzutreten. Herzlichen Dank. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Bernhard Daldrup das Wort. ({0})

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, ehrlich gesagt, darüber, dass es hier im Hause so eine einheitliche Auffassung zu dem Antrag gibt, den die AfD uns vorgelegt hat. Deshalb kann ich den Hinweisen der Präsidentin nachkommen und mich vielen Auffassungen von Ihnen anschließen. Ich muss nicht alles wiederholen. Ich will aber an dieser Stelle doch schon sagen, dass Linke und Grüne in ihren Anträgen zum vorherigen Tagesordnungspunkt, in denen es um Fragen der Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit ging, sozial differenziert versucht haben, ein Problem mit komplexen Lösungen anzugehen. Was hier zum gegenwärtigen Zeitpunkt passiert, ist, ein soziales Problem zu instrumentalisieren, ({0}) um Gruppen gegeneinander auszuspielen, um Empörung auszulösen, um Stimmung zu machen: hier die Obdachlosen – „angestammte Bevölkerung“ heißt das bei Ihnen –, dort die rundum versorgten Flüchtlinge. ({1}) Einmal abgesehen davon, dass es sich bei den Obdachlosen nicht nur um die „angestammte Bevölkerung“ handelt, ist die Antwort auf Obdachlosigkeit jedenfalls nicht in § 246 des Baugesetzbuches zu finden. Obdachlosigkeit ist nämlich in großem Maße ein Problem von Zentren, weniger von ländlichen Räumen. Die genannten Ausnahmetatbestände in § 246 Baugesetzbuch sind im Wesentlichen schon allein deswegen auf den Außenbereich bezogen, weil in den Innenstädten die entsprechenden Flächen gar nicht vorhanden sind. Fazit – ich sage das, ohne weiter zu differenzieren –: Obdachlosigkeit ist jedenfalls nicht durch Privilegierung im Baurecht zu lösen. ({2}) Der AfD-Antrag ist auch gar nicht auf Lösung aus, sondern auf Emotionalisierung, auf Agitation. ({3}) Ich könnte mir vorstellen, dass möglicherweise dann, wenn wir keine Debatten mehr um die Flüchtlinge führen, die Obdachlosen die nächste Gruppe sind, die Sie zum Thema machen. ({4}) Das kann ich mir gut vorstellen, weil Sie ja Sündenböcke in der Gesellschaft brauchen, um sich selbst zu legitimieren. Das ist Ihr Politikverständnis. ({5}) – Das ist Ihr Politikverständnis, Herr Magnitz. Darauf fallen wir nicht rein. ({6}) – Nein, das ist nicht lächerlich. Ich reiße Ihnen die Maske vom Gesicht, und das tue ich gerne. ({7}) Also, wir haben schon mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass wir mit zahlreichen unterschiedlichen Maßnahmen auf Probleme von Wohnungslosigkeit, auch von Obdachlosigkeit reagieren. Wir machen das mit Geld an verschiedenen Stellen, mit sehr viel Geld sogar. Wir machen es mit Recht, indem wir Mieterinnen und Mieter schützen, um Menschen vor Obdachlosigkeit zu bewahren. Wir machen es mit Verfahren, beispielsweise die Mobilisierung von Bauland, und vielem mehr. Vieles davon ist konkretisiert worden. Wir machen es dadurch, dass man Kommunen stärkt, dass man die Zivilgesellschaft stärkt, dass man die demokratische Kultur stärkt und sie nicht abschreibt, so wie Sie das machen. ({8}) Deswegen sage ich Ihnen: Viele Politikfelder sind gefragt. Die Komplexität des Themas ist mit Schwarz-Weiß-Denken und mit Entsolidarisierung nicht zu lösen. Wir brauchen eine solidarische Gesellschaft. Dafür streiten wir hier gemeinsam – außer Ihrer Gruppe. Herzlichen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Ich bedanke mich herzlich, dass es gelungen ist, unter Beachtung der kleinen Hinweise nicht nur in der vereinbarten Redezeit zu bleiben, sondern auch an bestimmten Stellen deutlich zu machen, dass es hier keine Mindestredezeit gibt. Wenn wir weiter so verfahren, denke ich, können wir hier kollegial alle vereinbarten Tagesordnungspunkte entsprechend abwickeln. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7717 an den Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon das letzte Rentenpaket dieser Bundesregierung war wirklich ein fataler Irrweg. 90 Prozent der Ausgaben helfen gar nicht zielgerichtet gegen Altersarmut, und gleichzeitig manipulieren Sie die Rentenformel zulasten der Jüngeren. ({0}) Jetzt – das muss man sagen – reden wir wenigstens über ein richtiges Ziel, nämlich konkret etwas gegen Altersarmut zu tun. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade von der SPD, gut gemeint ist wahrlich nicht gut gemacht. ({1}) Das konkrete Modell, das der Arbeitsminister vorschlägt, ist gleich aus drei Gründen nicht überzeugend. Erstens. Es ist ungerecht, weil es mit einem Grundsatz unserer Rentenversicherung bricht, nämlich dass die Auszahlungen von den Einzahlungen abhängen. Um nur mal ein Beispiel zu nennen: 35 Jahre Arbeit in Vollzeit und 35 Jahre in Teilzeit mit nur wenigen Stunden in der Woche können nach Ihrem Modell zu exakt derselben Rente führen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das legt die Axt an die Grundlage unserer Rentenversicherung. Das ist nicht fair. Das verletzt den Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit. So einfach ist das. ({2}) Zweitens. Das Modell ist völlig ungenau. Sie gehen schon wieder mit der Gießkanne vor. Auch sehr viele sehr gut versorgte Menschen würden Hubertus Heils Grundrente erhalten. Die einen haben andere Quellen der Altersvorsorge, aus der sie Einkommen haben. Andere haben vielleicht etwas geerbt. Wieder andere haben als Paar gemeinsam vorgesorgt. Bekämpfung von Altersarmut, ohne auch nur einmal zu fragen, ob überhaupt wenig Geld da ist, das ist so wie Kindergeld zahlen ohne Kinder. Überzeugend ist das nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Der dritte Grund ist, auch mit Blick auf die Bundesregierung: Das Modell ist teuer, und zwar genau wegen dieser Gießkannenpolitik, die ich gerade beschrieben habe. ({4}) Wie schon in Ihrer bisherigen Rentenpolitik ist die Finanzierungsfrage ja völlig ungeklärt. Ich meine, das muss man erst mal schaffen: An einem Tag legt der Arbeitsminister einen Vorschlag zur Rente vor, der milliardenschwer ist, und der Finanzminister sagt am selben Tag, dass ihm im Haushalt 25 Milliarden Euro fehlen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist doch nicht ernst zu nehmen. Man ahnt, worauf das hinausläuft – das wäre leider typisch für Ihre Rentenpolitik –, ({6}) nämlich auf den Griff in die Kasse der Beitragszahler zulasten der Jüngeren. Das darf nicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Ich kann mir die Motive der SPD schon vorstellen. Sie wollen Profil gewinnen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um eine gute Lösung für die Menschen. Die Rentenkasse ist keine Förderbank zur Rettung der SPD, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. ({8}) Weil wir aber glauben, dass das Ziel richtig ist, machen wir heute mit der Basisrente unseren Gegenvorschlag. Wir wollen dafür sorgen – unser Modell würde das leisten –, dass nach einem fleißigen Arbeitsleben ({9}) jede und jeder immer mehr hat als die Grundsicherung und mehr als diejenigen, die das nicht getan haben. Wer in die Rentenkasse eingezahlt hat oder Kinder großgezogen oder Angehörige gepflegt hat, der hat im Alter sicher mehr als die Grundsicherung. Der Freibetrag für private Vorsorge käme sogar noch obendrauf; denn wir wollen Eigenverantwortung und Anstrengung belohnen und nicht bestrafen. Das ist vernünftige Rentenpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) Nach einem fleißigen Arbeitsleben würden die Menschen, die lange gearbeitet haben, selbst bei niedrigen Löhnen nach unserem Modell der Basisrente immer vergleichbar viel oder sogar mehr bekommen als nach Heils Grundrente, aber ohne die ganzen Nachteile und ohne mit der Gießkanne Geld auszuschütten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das nenne ich ein überzeugendes Modell. ({11}) Ja, wir wollen zielgenau nur da helfen, wo auch Bedarf besteht, wo auch wirklich wenig Geld im Alter da ist. Aber wir wollen Beantragung und Auszahlung unter dem Dach der gesetzlichen Rentenversicherung zusammenführen; denn so wäre sichergestellt, dass niemand, der Ansprüche aus der Rentenversicherung hat, im Alter zum Sozialamt muss. Das wäre ein überzeugendes Modell gegen Altersarmut, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({12}) In aller Kürze – Frau Präsidentin, in einem Satz zusammengefasst –: Ihr Modell ist ungerecht, Gießkanne und teuer. Unser Modell ist fair, zielgenau und finanzierbar. Auf die weitere Debatte freue ich mich. Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Kai Whittaker das Wort. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Man möchte schon fast sagen: Es sprach die Marketingabteilung der FDP-Fraktion. ({0}) Meine Damen und Herren, ich möchte mit etwas anfangen, worüber wir uns hier, glaube ich, zwischen den Fraktionen größtenteils einig sind, nämlich dem Grundsatz „Arbeit muss sich lohnen, auch im Alter“. Es freut uns als Union, dass sich mittlerweile hier fast alle Fraktionen diesem Punkt anschließen, dass Leistung sich auch im Alter lohnen muss. ({1}) Wir haben uns deshalb zusammen mit der SPD – das war eine gute Vereinbarung, die wir im Koalitionsvertrag getroffen haben – auf eine Grundrente verständigt, ({2}) um zu gewährleisten, dass ich, wenn ich gearbeitet habe, mir im Alter sicher sein kann, dass ich mehr im Geldbeutel habe als jemand, der nicht gearbeitet hat. ({3}) Das ist ein Signal, das wir heute Abend an die Bürgerinnen und Bürger senden können: dass diese Große Koalition diese Vereinbarung in diesem Jahr umsetzen wird. Darüber freue ich mich. ({4}) Der zweite Grundsatz, der uns als Union wichtig ist, lautet: Wer mehr arbeitet, muss am Ende des Tages auch mehr im Geldbeutel haben als jemand, der weniger arbeitet. ({5}) Das ist der zweite Grundsatz, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, und da werden wir noch in die Diskussion gehen müssen; denn das erfüllt die Respektrente von Hubertus Heil nicht zu 100 Prozent. ({6}) Wenn man sich das mal anschaut, sieht das folgendermaßen aus: Ein Busfahrer oder ein Altenpfleger mit 2 600 Euro Monatsgehalt brutto kriegt nach 35 Jahren 28,0713 Entgeltpunkte. Das macht unterm Strich 899,12 Euro. ({7}) Wenn jemand den gleichen Job beim gleichen Arbeitgeber halbtags macht, hat er am Ende 449,56 Euro Rente. Matthias, ich nehme dir den Rang des Zahlenmenschen jetzt mal ab, aber es muss sein. ({8}) Nach Hubertus Heil würde dessen Rente auf 28 Entgeltpunkte aufgestockt. Er bekäme also am Monatsende 896,84 Euro ({9}) und damit exakt 2,28 Euro weniger als derjenige, der Vollzeit gearbeitet hat. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, kann nicht gerecht sein. Jemand, der Vollzeit gearbeitet hat, muss mehr als 2 Euro am Monatsende mehr haben als jemand, der halbtags gearbeitet hat. Alles andere macht uns, glaube ich, das System kaputt. ({10}) Deshalb ist es wichtig, dass wir zielgenau helfen. Wir haben über eine halbe Million Menschen, die Grundsicherung im Alter beziehen. Das ist sicherlich zu viel. Das sind Menschen, die frustriert sind, dass ihre Arbeitsleistung sich nicht auszahlt. Deshalb wollen wir ihnen helfen. Aber wir müssen nicht noch weiteren Menschen helfen, die unsere Hilfe nicht brauchen. Deshalb werden wir uns das noch mal sehr genau anschauen. Nur, lieber Kollege Vogel, das Konzept der FDP ist mitnichten besser. ({11}) Gerechnet habt ihr auch nicht. ({12}) Ihr sagt: 20 Prozent der Rente sollen nicht auf die Grundsicherung angerechnet werden. Wenn man sich das mal genau anschaut, dann muss man sagen: Wenn wir jetzt mal einen Rentner mit 800 Euro Rente nehmen, dann kriegt der 160 Euro on top. Bei einer Grundsicherung von, sagen wir mal, 850 Euro, irgendwo in diesem Land, hat er dann am Schluss statt 850 Euro 1 010 Euro im Monat. Derjenige, der aber 900 Euro Rente hat, also knapp über der Grundsicherung liegt, kriegt nichts. ({13}) – Von einer Gleitzone steht in eurem Antrag aber nichts drin; tut mir leid. – Er kriegt am Ende auch 900 Euro und steht schlechter da als derjenige, der Grundsicherung im Alter bezieht. ({14}) Das zeigt, dass ihr das nicht ganz durchdacht habt und nicht wisst, was ihr wollt. ({15}) Ihr sagt im Übrigen auch nicht, was passiert, wenn jemand umzieht; denn die Grundsicherung im Alter hängt ja vom Wohnort ab. Da ist ja der Wohnort der entscheidende Faktor. ({16}) Was passiert, wenn jemand von A nach B umzieht? Wird dann die Rente komplett neu berechnet? Wird das Fass dann noch mal aufgemacht? ({17}) Das sagt ihr alles nicht in eurem wunderschönen, schlanken Antrag, und deshalb ist das, was ihr da präsentiert, eher was für die Werbeabteilung als für den Deutschen Bundestag. ({18}) Trotzdem bin ich froh, mit euch darüber zu diskutieren. Ich bin gespannt. ({19})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Ulrike Schielke-­Ziesing für die AfD-Fraktion. ({0})

Ulrike Schielke-Ziesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004873, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Bürger! Heute werden hier im Plenum ein Antrag der FDP und unser Antrag behandelt, die in der Intention ähnlich sind. Das ist kein Zufall; denn diese Anträge sind die einzig logische Antwort auf das Vorhaben des Ministers Heil, Armut bei den Rentnern zu bekämpfen, indem man Geld mit der Gießkanne über einen Teil davon ausschüttet. ({0}) Was hat Minister Heil mit der sogenannten Respektrente vor? Wer 35 Beitragsjahre geschafft und im Durchschnitt weniger als 0,8 Entgeltpunkte im Jahr erreicht hat, dessen Entgeltpunkte werden automatisch auf den Wert von jährlich 0,8 aufgestockt. Der so zustandegekommene neue Rentenbetrag soll ohne Prüfung der Bedürftigkeit ausgezahlt werden. Das ist nicht nur unseriös, sondern auch höchst verschwenderisch und respektlos denen gegenüber, die sich in Vollzeit ihre Rente erarbeitet haben und im Endeffekt mit Teilzeitkräften gleichgestellt werden. Und das nennt der Herr Minister Respektrente. ({1}) Im Modell des Ministers findet keine Unterscheidung zwischen Teil- und Vollzeitstellen statt. ({2}) Es werden lediglich die Beitragsjahre und die erworbenen Entgeltpunkte betrachtet. Bei „Maybrit Illner“ meinte der Herr Minister, dass für das Problem der Teilzeitkräfte eine Lösung gefunden wird. Da frage ich mich schon, wie das gemacht werden soll. In den Versicherungskonten wird nur das Einkommen gespeichert, nicht die Arbeitszeit. ({3}) Wie soll hier eine Teilzeitbeschäftigung lokalisiert werden? Wir mussten in den letzten Tagen vom Minister viel über die hart arbeitenden Menschen hören, die doch jetzt Anerkennung verdient hätten, ohne Prüfung der Bedürftigkeit. Schade, dass dabei die hart arbeitenden Steuerzahler vergessen werden, die nun ein weiteres Mal geschröpft werden sollen. ({4}) Warum gebührt den hart arbeitenden Menschen erst Dank und Anerkennung, wenn sie 35 Arbeitsjahre geschafft haben? Was unterscheidet diese Menschen von den anderen? Müssen sich hier nicht alle anderen Versicherten verhöhnt vorkommen? Was ist mit den Erwerbs­unfähigkeitsrentnern, die, weil sie schon eine Rente beziehen, im letzten Rentenpaket bei der Erhöhung der Anrechnungszeiten übergangen wurden? Werden sie hier wieder vergessen? ({5}) Im September 2018 bezogen über 600 000 Rentner neben einer Rente Grundsicherung im Alter. Bei Rentnern, die in die Grundsicherung fallen, wird die gesamte Rente voll auf diese Grundsicherung angerechnet. An diesen Rentnern geht jede Rentenerhöhung vorbei. Sie bekommen keinen Cent mehr. Genauso verpufft die Mütterrente II bei den Müttern, die in der Grundsicherung sind. Das Konzept von Minister Heil löst diese Ungerechtigkeiten nur für einen Teil. Alle anderen gehen dabei leer aus. Ist das gerecht? Minister Heil diskriminiert hier einen großen Teil dieser Rentner, und das darf einem Minister für Arbeit und Soziales nicht passieren. ({6}) Es geht aber auch anders. Unser Konzept richtet sich gezielt an die Rentner mit geringem Einkommen, die eine Grundsicherung beantragen müssen, um ihren Bedarf zum Leben überhaupt decken zu können. Genau diesen über 600 000 Alters- und Erwerbsminderungsrentnern möchten wir mit einer Anrechnungsfreistellung ihrer Rente bei der Grundsicherung helfen, sodass sie mindestens 15 Prozent ihrer anrechenbaren Rente behalten können. Dieses Geld haben die Rentner dann real mehr zur Verfügung. Anrechnungsfreistellungen gibt es bereits für die Riester-­Rente. Auch Hartz-IV-Bezieher dürfen in bestimmten engen Grenzen dazuverdienen. Einen Teil der Rente anrechnungsfrei zu stellen, wäre bedeutend gerechter, als sich nur eine Gruppe herauszupicken und diese dann ohne jegliche Prüfung zu bedenken. ({7}) In einer Anhörung zum Rentenpaket im November 2018 äußerten sich DGB und Sozialverband Deutschland auch zur teilweisen Anrechnungsfreistellung. Beide forderten, dass alle Rentenansprüche teilweise anrechnungsfrei gestellt werden können. Die volle Anrechnung der gesetzlichen Rente auf die Leistungen der Grundsicherung im Alter wird von den Betroffenen als ungerecht empfunden. Sie werden Beziehern von Grundsicherung, die keine Beiträge eingezahlt haben, gleichgestellt. Spätestens mit der Einführung eines Freibetrages für Betriebsrenten im Rahmen des Betriebsrentenstärkungsgesetzes hätte es eine analoge Regelung auch bei der gesetzlichen Rentenversicherung geben müssen. Diese Regelung wollen wir nun nachholen. Wir kalkulieren mit einem überschaubaren Betrag, der weitaus geringer ist als der Vorschlag des Ministers und dabei noch effektiv und zielgenau den Rentnern zugutekommt, die diese Hilfe auch benötigen. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Abgeordnete Ralf Kapschack das Wort. ({0})

Ralf Kapschack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004321, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Wie schaffen wir es, dass Menschen, die lange gearbeitet haben, auch eine ordentliche Rente bekommen? Das ist die Frage, um die es heute geht. Wie sicher wäre das Vertrauen in den Sozialstaat auch bei denen, die wenig verdient haben und eine niedrige Rente bekommen, obwohl auch sie mit ihrer Arbeit und Leistung den Laden am Laufen halten, und zwar jeden Tag, wie Reinigungskräfte, Lkw-Fahrer, Lagerarbeiter und Arzthelferinnen? Rente ist das Spiegelbild des Erwerbslebens. Ordentliche Löhne sind Voraussetzung für eine ordentliche Rente. Klar, wir haben aber nicht überall solche guten Bedingungen. Das hat Konsequenzen. Deshalb bin ich froh, dass das Thema Altersarmut offenbar mittlerweile bei allen Fraktionen hier im Haus angekommen ist. Die FDP hat jetzt ein Konzept für eine sogenannte Basisrente vorgelegt. Der Vorschlag der AfD geht in eine ähnliche Richtung. Es geht um eine Grundsicherung de luxe, nicht mehr. Der zentrale Gedanke ist nicht verkehrt. Wer gearbeitet und Beiträge in die Rentenkasse gezahlt hat, soll auch in der Grundsicherung mehr haben als jemand, der nicht eingezahlt hat. Das reicht aber nicht. Deshalb hat Hubertus Heil ein Paket vorgelegt mit einem Freibetrag für die gesetzliche Rente in der Grundsicherung, mit Verbesserungen beim Wohngeld, weil gerade Rentnerhaushalte unter steigenden Mieten leiden. Der Kern des Vorschlags ist aber die schon erwähnte Grundrente, und zwar eine Grundrente, die ihren Namen verdient, nicht nur eine Grundsicherung de luxe. ({0}) Wir wollen eben nicht, dass Frauen und Männer, die lange gearbeitet haben und eine mickrige Rente bekommen, in der Fürsorge landen. Deshalb wollen wir auch keine Bedürftigkeitsprüfung bei der Grundsicherung. Es geht um Anerkennung und Respekt, nicht um Almosen. ({1}) Lebensleistung verdient Respekt. Wer ein Leben lang gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt hat, muss im Alter mehr haben als die Grundsicherung. ({2}) Grundsicherung ist das Existenzminimum. Aber selbst das nehmen viele Ältere aus Unkenntnis, vor allem aber aus Scham nicht in Anspruch, obwohl sie ein Recht darauf haben. Wer viele Jahre gearbeitet hat, soll sich nach unserer Vorstellung im Alter eben nicht finanziell ausziehen müssen, um staatliche Hilfe zu bekommen. ({3}) Deshalb muss die Grundrente eine Leistung der Rentenversicherung sein, eine normale Rente eben. Konkret sollen – das ist schon angesprochen worden – Ansprüche ab einer Versicherungszeit von 35 Jahren aufgewertet werden. Dazu gehören auch Kindererziehungszeiten und Zeiten der Pflege. Die Rentenversicherung kennt keine Bedürftigkeitsprüfung. Das ist auch gut so. ({4}) Im Übrigen habe ich von Bedürftigkeitsprüfung nichts gehört, als es um die Einführung und die Ausweitung der Mütterrente ging. Da ging es um ein ähnliches Thema, ({5}) nämlich eine gesellschaftliche Leistung, die honoriert werden soll – für alle Väter und Mütter. ({6}) Nun wird auch gesagt, von der vorgeschlagenen Grundrente würden viele profitieren, die sie gar nicht brauchen: die oft bemühte Zahnarztgattin zum Beispiel. Wie gesagt, bei der Mütterrente war das überhaupt kein Thema. Außerdem sollten wir das Bild einer Gesellschaft, in der sich Frauen über ihre Männer definieren, überwunden haben. ({7}) Wer lange arbeitet, verdient Respekt für die eigene Leistung. Zum anderen zahlt der Zahnarzt über die Einkommensteuer die Rente seiner Frau mit; denn die Grundrente soll vollständig aus Steuergeldern finanziert werden. ({8}) Es gibt das Argument, das Ganze sei nicht zu bezahlen. Das kommt ausgerechnet von denen, die meinen, man müsse für die obersten Einkommensgruppen die Steuern senken und auch da den Soli vollständig abschaffen. ({9}) Dafür ist dann offenbar Geld da. Das ist eine merkwürdige Logik. Man muss sich entscheiden, wie wichtig es einem ist, soziale Sicherheit zu garantieren – nicht nur in Sonntagsreden, sondern in der Realität. Das ist nicht zuletzt eine Verteilungsfrage. Gut, dass in diesen Tagen klar wird, wer wofür Steuermittel einsetzen will. ({10}) Wir finden, die Grundrente ist eine gute Investition in den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Matthias W. Birkwald das Wort. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass wir endlich über Altersarmut reden, und zwar anhand von konkreten Vorschlägen. Aber worüber reden wir überhaupt? Die AfD spricht in ihrem Antrag von 421 000 Menschen. In den Talkshows hört man immer: Nur 2,7 Prozent der Rentnerinnen und Rentner seien arm, weil sie in der Grundsicherung im Alter sind. Das, meine Damen und Herren, sind aber nicht arme Rentnerinnen und Rentner, sondern das sind die sehr armen, die unterhalb des Existenzminimums von weniger als 796 Euro durchschnittlich leben müssen. Arm ist nach EU-Definition aber, wer als alleinlebender Mensch in Deutschland weniger als 1 096 Euro im Monat zur Verfügung hat. Wenn wir diese Zahl nehmen, dann sind heute bereits 17 Prozent aller Menschen über 65 Jahre in unserem Land als arm zu bezeichnen. Das sind 1,2 Millionen Männer und 1,6 Millionen Frauen. 2,8 Millionen Menschen – das ist eine Schande. Dagegen müssen wir dringend etwas tun. ({0}) Bundesminister Heil hat ein Konzept zur Grundrente vorgelegt. Meine Damen und Herren, vergessen Sie diesen Begriff. Was er vorgelegt hat, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist alles, nur keine Grundrente. Was er vorgelegt hat, ist eine gute Sache, jedenfalls im Kern, aber es ist die Rente nach Mindestentgeltpunkten, ({1}) die – surprise, surprise – heute schon Zeiten bis 1991 einschließt und die es schon einmal in einer anderen Form gab. Diese Rente nach Mindestentgeltpunkten hat natürlich nie eine Bedürftigkeitsprüfung gekannt. Da hat auch die FDP zugestimmt, aber dazu später. ({2}) Gewerkschaften, Sozialverbände und Die Linke sagen, es gibt auch Kritisches an der sogenannten Grundrente. Beispielsweise sind die 35 Beitragsjahre mindestens 10 Jahre zu viel. Das, was vorgelegt worden ist, sind Bruttowerte und keine Nettowerte. Aber so weit, so gut. Kommen wir zu den beiden Schnellschüssen von AfD und FDP. Frau Schielke-Ziesing, ehrlich gesagt, Ihr Antrag ist wohl Hasenfüßigkeit pur. Sie schreiben im Titel des Antrages „Armutsbekämpfung“, aber wenn man den Antrag liest, so wollen Sie die Altersarmut nur abmildern. Das von Ihrer Truppe: abmildern! Da muss ich sagen: Das ist ein bisschen wenig. Wir müssen Altersarmut vermeiden und bekämpfen. ({3}) Ihr Antrag bezieht sich auf einen einzigen Punkt. An den Freibetrag für Riester und für bAV von 212 Euro wollen Sie nicht ran. Sie wollen nur die gesetzliche Rente anrechnungsfrei stellen, und das auch nur mit popeligen 15 Prozent. Also, da sind die FDP mit 20 Prozent und Herr Heil mit 25 Prozent deutlich weiter. Da kann ich nur sagen: Die Freibeträge für die gesetzliche Rentenversicherung sind okay – das wollen wir auch –, aber die Rente nach Mindestentgeltpunkten ist besser. Das, was Sie und auch die FDP machen, bekämpft nicht Armut. Wir müssen an die Wurzeln gehen. Wir haben einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa, und deswegen brauchen wir dringend einen gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro. ({4}) Auch das Mitglied der Mindestlohnkommission, Robert Feiger, hat heute gesagt, dass die Kommission so nicht weitermachen kann. Wir müssen außerdem die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen dringend erleichtern. ({5}) So, nun zur FDP. Liebe FDP, Ihr Antrag ist wirklich mit heißer Nadel gestrickt, und er ist auch schlecht. Er hat nichts mit Rente zu tun. Sie wollen ausschließlich die Grundsicherung ein bisschen reformieren. Sie schreiben in Ihrem Antrag, pauschale Aufwertung verbiete sich, alle Ansprüche seien gleich viel wert. Das ist historisch falsch. Seit 1992 gibt es die Rente nach Mindestentgeltpunkten. ({6}) Beide Gesetze wurden mit einer großen Mehrheit von Union, SPD und – hören Sie zu! – FDP angenommen ({7}) und haben das beitragsäquivalente System der gesetzlichen Rente um die Aufwertung ergänzt. Da hinten sitzt der Kollege Cronenberg. Sein Vater hielt damals die Rede für die FDP zur Rentenreform 1992, in der einer Rente nach Mindestentgeltpunkten zugestimmt wurde. ({8}) Ich sage Ihnen: Das, was Sie vorgelegt haben, reicht vorne und hinten nicht. Was wir brauchen, ist eine lebensstandardsichernde Rente, weil das Prophylaxe gegen Altersarmut ist. Wir brauchen ein Rentenniveau von 53 Prozent. Die Rente nach Mindestentgeltpunkten in reformierter Form haben wir schon lange gefordert. Ich sage Ihnen eins: Lassen Sie uns was Vernünftiges machen. Wir brauchen eine einkommens- und vermögensgeprüfte Solidarische Mindestrente, die vor Armut schützt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Birkwald.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Niemand in diesem Land soll im Alter von weniger als 1 050 Euro leben müssen. Was in Österreich geht, geht auch in Deutschland. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Markus Kurth hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Menschen, die den größten Teil ihres Lebens gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben“, sollen im Alter mehr haben als die Grundsicherung. Das steht im Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen und stand in den Vorjahren in Beschlüssen. Es steht tatsächlich fast genau so im Koalitionsvertrag der Großen Koalition – man staune! Wir hatten es auch in die Sondierungspapiere für Jamaika reingeschrieben. Jetzt plötzlich steht hier mein Kollege Ralf Kapschack und verkündet es als Kernbotschaft bei der Grundrente. Zumindest in dieser Hinsicht der Werte- und Zielausrichtung sieht man: Grün wirkt. ({0}) – Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, da kommen Sie jetzt natürlich ins Raunen. Ich weiß, dass sich ein Mitglied Ihres Kabinetts mit Plagiatsvorwürfen plagt. Aber in der Politik gibt es kein Copyright. Da dürfen Sie ruhig abschreiben und Ideen von uns übernehmen. Sogar FDP und AfD können sich zumindest dem Sog dieser Botschaft nicht entziehen. Sonst hätten wir die Anträge nicht. Allerdings hätten Sie es besser so wie die SPD gemacht, wenngleich sie auch nicht 100 Prozent unseres Garantierentenkonzepts übernommen hat. Sie hätten aber ruhig etwas bei uns abschreiben sollen. Dann wären Ihre Anträge besser als das, was Sie hier vorlegen. Ihre Anträge sind letzten Endes Täuschkörper und Mogelpackungen; denn im Kern bleiben Sie der Grundsicherungslogik verhaftet, ({1}) wenn auch auf etwas unterschiedliche Art und Weise. Es sind keine Lösungen im Rahmen des Versicherungssystems; aber darauf käme es an. ({2}) Das ist im Übrigen, Matthias Birkwald, der Vorteil der Garantierente gegenüber der Mindestsicherung der Linken, die wiederum Vermögensprüfungen und dergleichen vorsieht. ({3}) Eine vernünftige, niedrigschwellige Garantierente, von der gerade Frauen profitieren, die – wie beschrieben – ihr ganzes Leben in verschiedenen Feldern gearbeitet haben, ist wesentlich besser innerhalb des Versicherungssystems anzulegen und umzusetzen. ({4}) Der von der AfD vorgeschlagene Freibetrag birgt eine große Gefahr für das Versicherungssystem. Frau Schielke-­ Ziesing hat es direkt gesagt: Bei Hartz IV könne man ja auch was behalten. – So würden Sie eine Kombirente und damit das Pendant zum Kombilohn schaffen. Wenn man in der Grundsicherung einen Freibetrag einführen würde, würde dies dazu führen, dass das Rentenniveau sehr stark unter Druck gerät und dass plötzlich das Versicherungssystem nur noch ein Anhängsel des Grundsicherungssystems ist. Das würde die Grundfesten der gesetzlichen Rentenversicherung untergraben. – Diese systematischen Überlegungen zum Sozialrecht haben Sie offensichtlich gar nicht erst angestellt, und das ist sehr schade. ({5}) Es ist so, dass die Garantierente, wie wir sie vorschlagen, etwas besser ist als das, was jetzt bei der SPD im Gespräch ist, weil die Anspruchsvoraussetzung bei uns nur 30 Versicherungsjahre sind. Dadurch können wir insbesondere weibliche Bevölkerungsgruppen, die stark von Altersarmut betroffen sind, dort wesentlich besser mit hineinnehmen. Wir schlagen ebenfalls vor, dass man die Anreize für Betriebsrenten und private Vorsorge erhält. Das heißt, Riester-Renten und Betriebsrenten werden nicht angerechnet. Zielgenauigkeit können wir sehr gut durch eine Teilung der Rentenansprüche im Rahmen eines Rentensplittings erreichen, unabhängig davon, wie sich Ehepaare Erwerbs- und Sorgearbeit aufteilen. Beide Ehepartner erhalten eigenständige Ansprüche, was zur Folge hat, dass die Garantierente zielgenau und bedarfsgerecht wirken kann. Wir werden diese Punkte in die Debatte einbringen und hoffen, dass wir einen guten Ansatz in den parlamentarischen Beratungen noch sehr viel besser machen können, damit Grün dann auch in der Praxis wirklich wirkt. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Jana Schimke das Wort. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man hat schon den Eindruck, dass wir uns in diesen Tagen in der Rentendebatte in einem Überbietungswettbewerb befinden. 15 Prozent, 20 Prozent, 25 Prozent Freibetrag in der gesetzlichen Rente – das sind die Vorschläge, die im Raum stehen. Es geht im weitesten Sinne immer darum: Was ist in unserer Gesellschaft gerecht? Was ist an unserem Rentensystem gerecht? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie daran erinnern: Denken Sie bei der Frage, was gerecht ist, bitte auch an diejenigen, die all das bezahlen müssen: ({0}) an die Beitragszahler, an die Steuerzahler in unserem Land. Stichwort: Freibetrag in der gesetzlichen Rente. Hier sind verschiedene Zahlen im Umlauf. Ich kann nur zu einem mahnen, nämlich daran zu denken: Je höher der Freibetrag sein würde oder nach Ihrer Auffassung sein sollte, desto teurer würde das Ganze, und – das sage ich auch – desto ungerechter würde es. Sie unterstützen damit natürlich Bedürftige umso mehr, während all jene, die knapp über der Grundsicherung liegen und am Ende vielleicht auch mehr gearbeitet haben – es ist hier ja heute schon mehrfach ausführlich dargestellt worden –, mit der gleichen Rente nach Hause gehen. Wir müssen uns eines vor Augen führen: Das, was wir gerade partei- und fraktionsübergreifend hier im Deutschen Bundestag diskutieren, ist etwas, was irgendwo in unserem gesetzlichen Rentenversicherungssystem neue Verwerfungen und neue Ungerechtigkeiten produzieren wird. Eine Debatte darüber wird es geben – so oder so. Meine Damen und Herren, wenn wir über die ganze Frage der Steuerfinanzierung reden – versicherungsfremde Leistungen sollen ja steuerfinanziert werden –, möchte ich nur daran erinnern, dass die gesetzliche Rente damit immer mehr zum Spielball der Politik wird. Steuern rauf, Steuern runter – das ist eigentlich bisher nicht Bestandteil unserer gesetzlichen Rentenversicherung. Wir haben das Versicherungsprinzip und sollten uns auch bei den anstehenden Reformen immer daran orientieren. ({1}) Da die AfD nicht wirklich viel in ihrem Antrag stehen hat, will ich einfach mal ein paar Sätze zum Antrag der FDP sagen, der ein bisschen mehr Diskussionsstoff zu bieten hat. Sie üben sich ja sehr stark in der Ausweitung der sogenannten Ausnahmen: Immer mehr soll anrechnungsfrei sein; künftig sollen es alle privaten und freiwilligen Vorsorgeformen sein. Das ist etwas, mit dem man das Bedürftigkeitsprinzip in unserer Gesellschaft immer mehr außer Kraft setzt. Man leistet als Staat Hilfe, wo Hilfe eigentlich gar nicht erforderlich ist. ({2}) Wir sollten uns schon die Frage stellen, ob es das ist, was wir wollen, ob wir uns den Sozialstaat der Zukunft so vorstellen. Ein Satz, liebe Kollegen von der FDP, zum Thema Kinder. Unser Sozialstaat ist so aufgebaut, dass wir sagen: Bevor jemand, der auf Unterstützung angewiesen ist, eine staatliche Leistung erhält, muss die Familie einspringen, ({3}) werden bestimmte Dinge wie das Einkommen und das Vermögen geprüft. Bei Ihrer Grundsicherung im Alter wäre es so, dass Kinder nur dann herangezogen werden, wenn sie mehr als 100 000 Euro Jahreseinkommen haben. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich schaue jetzt mal Sie alle hier an. 100 000 Euro Jahreseinkommen entsprechen ungefähr dem, was wir jährlich an Diäten erhalten. Liebe Kollegen der FDP, wären Sie mit Ihren Diäten nicht bereit, Ihre Eltern zu unterstützen, wenn sie bedürftig sein sollten? Ich frage mich, welche Kinderstube Sie haben und welche Motivation dahintersteht, diese Forderung in Ihrem Antrag so zu formulieren. ({4}) Auch beim nächsten Punkt kläre ich Sie gerne auf. Sie fordern in Ihrem Antrag, dass das angemessene Eigenheim bei der Bedarfsprüfung künftig nicht mehr einbezogen wird. Schauen Sie ins SGB XII – das ist immer lohnenswert –: Es wird schon heute nicht mehr angerechnet. Noch ein letzter Satz zum Thema „Verschmelzung von Grundsicherung und Rente“. Ich kann nur davor warnen, das Solidarprinzip und das Versicherungsprinzip in unserem Lande zu verschmelzen. Die gesetzliche Rentenversicherung hätte auf einen Schlag die Aufgabe, die Bedürftigkeit von Menschen zu prüfen. Das macht sie bis zum heutigen Tag nicht. Das ist eine Aufgabe, mit der sie sicherlich überfordert sein würde, die nicht leistbar ist. Noch ein Punkt. Herr Vogel, sind Sie sich sicher, dass wir in zehn Jahren nicht vor derselben Situation stehen und die Leute sagen: „Hm, ich muss zur Rentenversicherung; ich bin bedürftig“? Wir diskutieren über das Stigma Grundsicherung oder das Stigma Hartz IV oder was auch immer. Dass wir das mit der Grundrente umgehen können, ist, glaube ich, ein Trugschluss.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Schimke, jetzt muss ich die Interessen des Kollegen Straubinger zumindest andeuten. Sie reden demnächst auf seine Kosten.

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. – Ich halte es mit einem Satz des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, der sagte: Zu fordern sind mehr Nachhaltigkeit, Folgerichtigkeit und Rationalität in der Sozialpolitik. – Dafür sollten wir uns einsetzen. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Bernd Rützel das Wort. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir die Debatte anhöre, so stelle ich fest – ich hoffe es zumindest –, dass Konsens darüber herrscht, dass diejenigen, die ein Leben lang gearbeitet haben und in Rente gehen, mehr Rente bekommen müssen als diejenigen, die nie oder nur kurz gearbeitet haben. ({0}) Wenn dieser Konsens Gültigkeit hat – es geht um ein Kernversprechen unseres Sozialstaates –, dann ist die Grundrente die gerechte und verdiente Rente und dann sind die vorliegenden Anträge Mogelpackungen, weil es dort nämlich heißt, es gehe um Almosen und um Betteln. Unsere Grundrente ist verdient. Letztendlich auch deswegen ist unsere Grundrente derzeit so populär in der Bevölkerung, in der Gesellschaft. Ich will aber auch sagen: Der Arbeitsmarkt hat sich in den letzten 20, 25 Jahren extrem verändert. Es gibt einen sehr großen Niedriglohnsektor in Deutschland. Die Zahl der Beschäftigten, die unter einen Tarifvertrag fallen, hat sich halbiert. Das sind Beschäftigte im Einzelhandel, das sind Busfahrende, das sind Menschen, die in der Gastronomie, in der Altenpflege, im Lager und im Transportgewerbe arbeiten. Mein Kollege Ralf Kapschack hat sie alle aufgezählt. Das sind Menschen, die bald aufstehen – der Wecker klingelt sehr früh – bzw. um Mitternacht nach Hause kommen, weil sie Schichtdienst haben. Sie sind es, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Sie haben es verdient, dass wir uns um sie kümmern. Und am Ende dürfen sie nicht die Dummen sein; sonst verliert die Rentenversicherung insgesamt an Legitimation. Die Rente ist immer auch ein Spiegelbild des Arbeitslebens. Aus diesem Grunde kümmern wir uns die ganze Zeit um beide Gruppen: um die, die im Arbeitsleben sind, und um die, die in Rente gehen. Wir haben den Mindestlohn eingeführt. Das ist ein wichtiger erster Schritt. Ja, es stimmt: Er ist zu niedrig, er muss deutlich steigen. – Das sage ich an dieser Stelle. ({1}) Dass immer weniger Beschäftigte unter Tarifverträge fallen, das tut niemandem gut. Wir werden die Allgemeinverbindlichkeit deutlich verbessern und erleichtern. Tarifgebundene Unternehmen können wir steuerlich besserstellen. ({2}) Wir müssen und werden Union Busting bekämpfen, und wir wollen ein Tariftreuegesetz auf Bundesebene. Denn nicht der billige Jakob soll das Geschäft machen, sondern derjenige, der gute Löhne hat. ({3}) Auf diejenigen, die in Rente sind, und auf all diejenigen, die in Rente gehen, müssen wir unser Augenmerk legen; denn es geht um die Lebensleistung der Menschen. Deutschland ist ein wirtschaftlich starkes Land. Wir haben hohe Steuereinnahmen. Wir haben ein gutes Wirtschaftswachstum. Wir haben Wohlstand, der aber nicht bei allen ankommt. Deswegen kümmern wir uns um diejenigen, die bedürftig sind. Wir werden entsprechend Geld in die Hand nehmen. Wir können Geld gegen Altersarmut in die Hand nehmen; denn das Geld ist vorhanden. Es ist nur eine Verteilungsfrage, wofür wir das Geld ausgeben. ({4}) Ich will auch darauf hinweisen, dass diejenigen, die eine niedrige Rente haben und jetzt ein paar Groschen mehr bekommen, das Geld sofort wieder in den Wirtschaftskreislauf bringen, indem sie es ausgeben. ({5}) Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Das Geld fließt sofort wieder zurück. Je mehr Menschen einen ordentlichen Lohn bekommen, umso weniger wird in Zukunft eine Grundrente gebraucht werden. Ich freue mich, dass Hubertus Heil die Grundrente vorgeschlagen hat und dass diese Grundrente eingeschlagen ist wie eine Bombe. ({6}) Es gibt eine breite Zustimmung in der Bevölkerung. Laut ZDF-„Politbarometer“ finden fast zwei Drittel der Deutschen die Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung gut. Vor ein paar Stunden, um 18 Uhr, wurde der „ARD-Deutschlandtrend“ veröffentlicht. 67 Prozent sagen danach: Die Grundrente ist richtig. – Die Menschen wissen, was richtig ist; denn sie sind davon betroffen. ({7}) Zusammenfassend will ich sagen: Eine ordentliche Rente nach einem langen Erwerbsleben ist sozial, sie ist gerecht, sie ist christlich, aber vor allen Dingen ist sie verdient. Das Geld ist da. Lasst es uns an der richtigen Stelle ausgeben. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Abschließend in dieser Debatte hat nun der Kollege Max Straubinger aus der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Bundestagspräsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Bundestagspräsidentin, die Linken sind doch immer für mehr und nicht für weniger. Also können Sie mir doch die Redezeit nicht kürzen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich kann das.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will auf die vorliegenden Anträge von FDP und AfD eingehen. Bemerkenswerterweise haben sich die Rednerinnen und Redner beider Fraktionen mehr mit den Vorschlägen von Bundesminister Heil befasst als mit ihren eigenen Anträgen. Die Anträge sind wohl so dürftig, dass sie nicht mehr dürftiger sein könnten. ({0}) Die billige Nummer, zu fordern, in der Grundsicherung einen Teil der gesetzlichen Rentenversicherung anzurechnen – die AfD fordert 15 Prozent des Rentenzahlbetrages; die FDP ist großzügiger, sie fragt: warum rechnen wir nicht 20 Prozent an? –, zugleich aber die Grenze so zu festzulegen, dass derjenige, der kurz unterhalb der Grundsicherungsgrenze liegt, plötzlich bessergestellt wird als der, der sich 1 100 Euro Rente durch Beitragszahlungen selbst erworben hat, das muss man unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit manchem in der Bevölkerung erst mal verklickern. Dabei wünsche ich der FDP sehr viel Vergnügen. ({1}) So viel zu den dürftigen Anträgen, die schnell zusammengeschustert wurden. In der Koalition ist eine wichtige und eine richtige Vereinbarung getroffen worden: Diejenigen, die lange Jahre Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung einbezahlt haben, sollen bessergestellt sein. Aber das darf nicht ins Kraut schießen, indem die Bedürftigkeit angerechnet wird. Es ist meines Erachtens unbedingt notwendig und auch richtig, darauf zu achten. Um das zu verdeutlichen, möchte ich den Kollegen der SPD ein Beispiel unterbreiten, das zeigt, wie schwierig es ist, die fehlende Bedürftigkeitsprüfung als gerecht darzustellen. Ich berichte aus meinem eigenen Umfeld. Es geht um die Rentenansprüche meiner Frau, die seit mittlerweile 36 Jahren in die Rentenversicherung einbezahlt. Daraus ist mittlerweile ein Anspruch von gut 500 Euro Rente entstanden. Ohne Bedürftigkeitsprüfung würde der Betrag aufgrund der Heil’schen Eingebung auf mehr als 900 Euro angehoben. Das wäre eine tolle Nummer für die Gazetten, liebe Freunde von der SPD. ({2}) Auch Herr Birkwald wird berauscht sein davon. ({3}) Ich bin überzeugt, dass es nicht gut ankommt, wenn die Rente der Frau des Abgeordneten so kräftig angehoben würde. Werte Damen und Herren, das zeigt doch, dass es nach einer Bedürftigkeitsprüfung nur so ruft. ({4}) Wir können es den Beitragszahlern nicht antun, dass sie für solche Ungerechtigkeiten Beiträge zahlen müssen. Deshalb lohnt es sich, noch einmal darüber nachzudenken. Ich möchte Ihnen noch zwei Sätze mit auf den Weg geben. Sie sind kein Kommentar zur sozialen Marktwirtschaft, sondern sie stammen von der Caritas. Es sind wirklich zwei wunderbare Sätze – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –:

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie müssen sich beeilen.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heils Grundrente belohnt diese „kleinen Fluchten“ aus der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung und schafft so gefährliche Fehlanreize: Wer nur Teile des Einkommens sozialversichert, spart zulasten der Versichertengemeinschaft Beiträge. Dem können wir nicht stattgeben, und das können wir nicht hinnehmen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Jetzt setzen wir bitte einen Punkt.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch deshalb werden wir dies zu verhindern wissen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und herzlichen Dank an die Präsidentin für die Geduld. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich wollte mich eigentlich bedanken, dass unsere vor zwei Tagesordnungspunkten getroffene Vereinbarung auch hier gehalten hat. Leider hat das ganz zum Schluss nicht so funktioniert. ({0}) Aber ich denke, wir verfahren nun weiter wie vereinbart. Sie wissen: In zehn Minuten kommt hier der Kollege Kubicki. ({1}) Da haben wir jetzt schon mal ein bisschen geübt. Seine Geduld ist meist nicht ganz so groß. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/7694 und 19/7724 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dienst in der Bundeswehr kann leisten, wer das 17. Lebensjahr vollendet hat. Unsere Einstellungspraxis steht damit vollständig im Einklang mit unseren völkerrechtlichen Verpflichtungen. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verbietet es Staaten, Menschen zu den Streitkräften einzuziehen, bevor sie das 15. Lebensjahr vollendet haben, und die Bundesrepublik Deutschland gehört darüber hinaus zu den Staaten, die das Fakultativprotokoll von 2000 unterzeichnet haben, und das sieht ein Mindestalter von 17 Jahren für den Freiwilligendienst in den Streitkräften vor. Genau das praktizieren wir, und insofern ist in der Bundeswehr niemand Soldat, der das 17. Lebensjahr nicht vollendet hätte. Das entspricht also genau dem, wozu sich die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich verpflichtet hat. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir verfolgen mit der Einstellungspraxis der Bundeswehr das Ziel, jungen Leuten die Möglichkeit zu eröffnen, eine Ausbildung bei der Bundeswehr ohne Wartezeit und ohne weitere Nachteile gegenüber gleichaltrigen Berufseinsteigern beginnen zu können. Das setzt aber voraus, dass man vor dem Eintritt der Volljährigkeit auch eine Ausbildung beginnen kann. Andere können das schon mit 15 oder 16 Jahren. Bei der Bundeswehr kann man erst mit 17 anfangen – genau deshalb, weil wir uns unserer besonderen Verantwortung bewusst sind. Aber Menschen, die freiwillig mit 17 Jahren in den Streitkräften Dienst tun wollen, die dürfen wir und die wollen wir daran nicht hindern, sondern wir wollen ihnen eine Perspektive geben, so wie jeder andere Arbeitgeber auch. ({0}) Wir klären umfassend auf. Wir beraten bezüglich der Chancen und Risiken des Soldatenberufs, und wir haben ein intensives Assessment-Verfahren, das sicherstellt, dass 17-Jährige nur dann eingestellt werden, wenn sie sich mit den Anforderungen des Soldatenberufs eingehend auseinandergesetzt haben und die erforderliche Eignung aufweisen. Zu ihrem Schutz ist übrigens sichergestellt, dass nur mit Zustimmung der gesetzlichen Vertreter eine Einstellung von Minderjährigen stattfinden darf. Im Übrigen darf ich darauf hinweisen, dass die Einstellung Minderjähriger in der Bundeswehr ohnehin begrenzt bleibt. Die Zahlen sind aktuell sogar rückläufig. Wir hatten im Jahr 2017 noch 2 126 Personen oder 9,1 Prozent aller Eingestellten. Im Jahr 2018 waren es nur 1 679 Personen oder 8,4 Prozent aller Eingestellten. Ich will allerdings ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt ist. Das funktioniert nur, wenn und solange Nachwuchs auf anderen Wegen rekrutiert werden kann, und dabei steht die Bundeswehr im Wettbewerb zu allen anderen Arbeitgebern. Es wird ja niemand gegen seinen Willen zum Dienst in den Streitkräften herangezogen. Wir reden also über junge Menschen, die aus freien Stücken – und wenn sie minderjährig sind, mit Zustimmung der gesetzlichen Vertreter – sich dafür entscheiden, die Bundeswehr als ihren Arbeitgeber zu sehen; übrigens einen der größten Arbeitgeber in Deutschland. Wir bieten tausend unterschiedliche Berufe in der Bundeswehr an, und dafür entscheiden sich junge Leute auch im Rahmen auch ihres Rechts auf freie Berufswahl. Wer sich für den Arbeitgeber Bundeswehr interessiert, wird durch das Personal der Karriereberatung informiert und beraten und auf dem weiteren Weg begleitet und betreut. Ich finde im Übrigen, dass unser Personal der Karriereberatung wirklich einen klasse Job macht. ({1}) Es ist das Verdienst der Karriereberatung, dass bislang auch nach Aussetzung der Wehrpflicht ausreichend Nachwuchs für die Bundeswehr bisher rekrutiert werden kann, meine Damen und Herren. Den Schwerpunkt der Karriereberatung bilden natürlich Zielgruppen, die sich in der Berufsorientierung befinden, die sich über potenzielle Arbeitgeber informieren wollen oder die gezielt durch ihre Bildungseinrichtungen an das Berufsleben herangeführt werden. Und deswegen ist die Bundeswehr auf Einladung an Schulen unterwegs oder bei Ausstellungen, bei Jobmessen, Projekttagen und ähnlichen Veranstaltungen. Wir stellen auch sicher, dass Vorgesetzte, wenn sie Minderjährige in ihren Truppenteilen haben, darauf vorbereitet werden und sensibilisiert werden für die besonderen Anforderungen. Im Übrigen ist die Ausbildung für alle Soldaten gleich. Ja, auch 17-Jährige werden an der Waffe ausgebildet. ({2}) Ich darf an dieser Stelle darauf hinweisen, dass das bei der Bundespolizei bereits mit 16 Jahren der Fall ist – auch in den Bundesländern, in denen Ihre Partei mitregiert, insbesondere in Berlin und Brandenburg. Die Bundeswehr stellt allerdings sicher, dass minderjährige Soldaten auf keinen Fall dort eingesetzt werden, wo sie eigenverantwortlich mit dem Gebrauch der Waffe konfrontiert sein könnten. ({3}) Wir schließen alle Situationen aus, in denen diese Gefahr besteht, dass Minderjährige über den Einsatz der Waffe eigenverantwortlich entscheiden müssten. Sie werden also nicht herangezogen für Auslandseinsätze und auch nicht eingeplant für Wachdienste.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Staatssekretär, Sie können selbstverständlich weiterreden. Ich mache nur darauf aufmerksam: Das hat Konsequenzen für den weiteren Verlauf der Debatte. ({0})

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Ich würde gerne noch eine Minute in Anspruch nehmen mit demütiger Erwartung an meine Fraktion, mir das nicht nachzutragen. Denn es ist ein ganz anderes Thema, meine Damen und Herren, wenn man darüber spricht, dass Minderjährige als Kindersoldaten für militärische Zwecke missbraucht werden, versklavt werden, unterdrückt werden. Das in der Tat ist ein Missbrauch, gegen den auch die Bundesregierung sich wendet, und wo wir alle Initiativen dagegen mit unterstützen. ({0}) Aber auch wenn es allen freisteht, 17-Jährige, die freiwillig in der Bundeswehr Dienst leisten, auch als Kindersoldaten zu bezeichnen, will ich darauf hinweisen: Die UN-Kinderrechtskonvention bezieht sich gerade nicht auf 17-Jährige, die freiwillig in Deutschland Wehrdienst leisten. Wer sich dafür entscheidet, wer zur Wahrung von Recht und Freiheit ein Bekenntnis zu unserer Demokratie ablegt, der, meine Damen und Herren, verdient unsere Unterstützung und unsere Anerkennung. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Jan Nolte für die AfD-Fraktion. ({0})

Jan Ralf Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004842, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über Anträge von Linken und Grünen, die so hier schon mehrfach eingebracht wurden. Die Kolleginnen und Kollegen wurden in diesem Hause mehrfach darauf hingewiesen, dass das Problem, das sie vorgeben lösen zu wollen, überhaupt nicht existiert. Sie versuchen heute, politisches Kapital daraus zu schlagen, indem Sie der Öffentlichkeit den Eindruck zu vermitteln versuchen, der Alltag in der Bundeswehr hätte irgendetwas mit dem Leid von Kindersoldaten zu tun. ({0}) Sie erfinden Schauermärchen. Ich wünsche mir wirklich, dass mancher Soldat, der wegen solcher und ähnlicher Desinformation schon angepöbelt und beschimpft wurde, ({1}) Ihnen mal schreibt und Sie in die Realität zurückholt. ({2}) Zunächst einmal ist die Zahl der minderjährigen Soldaten im letzten Jahr um etwa 20 Prozent gesunken. Und die besondere Schutzbedürftigkeit von Minderjährigen nimmt die Bundeswehr sehr ernst. Fakt ist, dass minderjährige Soldaten nicht an Auslandseinsätzen teilnehmen. Sie nehmen nicht am Wachdienst teil, und sie dürfen noch nicht einmal geimpft werden ohne Erlaubnis ihrer Eltern. Sie scheinen vom Bundeswehralltag überhaupt keine Ahnung zu haben. Ihre Argumentation beruht im Wesentlichen auf dem plumpen linken Narrativ, dass der Soldat ein Mörder sei und Töten Schwerpunkt seines Dienstes sei. ({3}) Pöblern, die Gelöbnisse stören, mag eine solche Grundlage genügen. Aber in diesem Hohen Hause sollte selbst Die Linke andere Ansprüche an sich stellen. Es gibt keinen Grund, einem 17-Jährigen, der zur Polizei gehen darf oder zum Rettungsdienst, nicht zu erlauben, sich als Arbeitgeber die Bundeswehr auszusuchen. ({4}) Ihre Ideologie verstellt Ihnen auch hier wieder den Blick auf die Realität. Sie glauben Ihre eigenen Märchen ({5}) und halten die Bundeswehr offenbar für einen ganz schlimmen Ort, den man 17-Jährigen nicht zumuten könne. Dabei kann die Bundeswehr gerade jungen Menschen viel Wertvolles mitgeben: Sie fordert vom Soldaten Kameradschaft, und zwar nicht nur bis zum Dienstschluss und auch dann, wenn es mit Anstrengung verbunden ist oder Mut erfordert. Sie bringt jungen Menschen Selbstvertrauen bei und vermittelt ihnen Verantwortungsbewusstsein für Demokratie und Vaterland. ({6}) Die Kollegen der Linken bezweifeln ja die Glaubwürdigkeit derer, die heute nicht ihrer Meinung sind. Das Argument kann ich nicht nachvollziehen. Aber über Glaubwürdigkeit können wir gerne sprechen. Zum Beispiel können wir über Frau Jelpke aus Ihrer Fraktion reden, die bei der Bundesregierung Informationen über die Bundeswehr erfragt und diese dann linksextremen Bundeswehrgegnern zur Verfügung stellt. ({7}) Wie glaubwürdig ist denn eine Fraktion, die heute vorgibt, am Wohl der Soldaten interessiert zu sein, und dabei einem Milieu zuarbeitet, aus dessen Umfeld heraus Angriffe auf Soldaten erfolgen und Bundeswehrfahrzeuge in Brand gesetzt werden? ({8}) Wir können auch gerne über Minderjährige in bewaffneten Konflikten sprechen. 2014 antwortete Ihnen die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zum Thema PKK Folgendes – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –: ({9}) Die Jugendorganisation der PKK hat in einem Aufruf vom 20. Juli 2014 alle Jugendlichen in Deutschland und Europa zu einer sechsmonatigen Wehrpflicht in Rojava – Syrien – … aufgefordert. Unzählige Male haben Sie sich seitdem wieder mit der PKK solidarisiert, obwohl die Information, dass die PKK Jugendliche zur Wehrpflicht aufruft, direkt an Sie übermittelt wurde. Wenn wir heute bei diesem Thema über Unglaubwürdigkeit reden, dann muss es die Unglaubwürdigkeit der Linken sein. Die Anträge sind PR auf Kosten unserer Soldaten. Wir lehnen sie ab. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Nolte. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, es hat eine Veränderung in der Sitzungsleitung gegeben. Ich entdecke auch gerade meine weibliche Seite in mir. ({0}) Frau Präsident Pau hat schon darauf hingewiesen, dass sie eine gewisse Erwartung an meine Sitzungsleitung hat. Ich möchte sie da nicht enttäuschen. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass es Redezeitüberschreitungen nicht mehr geben wird. Es gibt eine einmalige Aufforderung von mir, mit einem letzten Satz zum Ende zu kommen. Ansonsten entziehe ich das Wort, damit wir die Sitzung rechtzeitig beenden können. ({1}) Als nächster Redner spricht zu uns für die SPD-Fraktion der Kollege Josip Juratovic. ({2})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kinder und Jugendliche sind besonders schutzbedürftig; da sind wir uns, glaube ich, alle einig. Sie gelten zu Recht als noch nicht erwachsen. Wir müssen daher auf allen Ebenen dafür sorgen, dass sie behütet sind. Das gilt auch für den Bereich Militär. Wie stellt sich die Situation derzeit dar? Die Bundeswehr, die im Übrigen eine Parlamentsarmee ist und im Auftrag von uns Parlamentariern handelt, ist auf Nachwuchs angewiesen. Seit der Aussetzung der Wehrpflicht gibt es keinen gewachsenen Nachwuchs aus sich selbst mehr, wie er während der Wehrpflicht entstand. Vielmehr muss die Bundeswehr sich aktiv darum bemühen, zum einen für alle Altersgruppen attraktiver zu werden, zum anderen aber auch gezielt junge Leute für sich zu begeistern. ({0}) Schulabgänger sind heute in der Regel unter 18; die Kinder werden früh eingeschult und durchlaufen häufig nur noch zwölf Schuljahre. Diese jungen Leute wollen wissen, was sie werden. Sie wollen in den seltensten Fällen warten, bis sie 18 sind, um eine Ausbildung zu beginnen. Erinnern wir uns doch an unser eigenes Zeitgefühl in dem Alter! Ein paar Monate kamen uns wie Jahre vor. Die Bundeswehr braucht die jungen Leute und steht damit in direkter Konkurrenz zu anderen attraktiven Arbeitgebern, Stichwort „Fachkräftemangel“. Das heißt, dass die Bundeswehr auf die Rekrutierung Minderjähriger zum jetzigen Zeitpunkt nicht vollständig verzichten kann. Dabei muss aber klar sein: Minderjährige müssen die Ausnahme bleiben. Dass das tatsächlich kein Regelfall wird, zeigen die Zahlen. Im Jahr 2018 hat die Bundeswehr laut Bericht des Wehrbeauftragten gut 1 600  17-Jährige eingestellt, mit Zustimmung ihrer Erziehungsberechtigten; das macht 8,4 Prozent aller Diensteintritte aus. 2017 waren es noch 9,1 Prozent. Das zeigt: Die Zahlen sind rückläufig. Zudem umfasst das Problem nur eine relativ kurze Zeitspanne; denn – und das ist wichtig – 96 Prozent der minderjährigen Rekruten wurden bereits in den ersten sechs Monaten ihrer Ausbildung 18. Wenn wir von Minderjährigen in der Bundeswehr sprechen, reden wir also von einem sehr begrenzten Zeitraum. In diesem Zeitraum jedoch – da stimme ich der Linken und dem Bündnis 90/Die Grünen voll zu – muss dem Wohlergehen der jungen Leute besondere Beachtung geschenkt werden. Kolleginnen und Kollegen, tatsächlich gibt es bereits jetzt diverse Schutzmaßnahmen, die für diese Altersgruppe gelten: Die Ausbildung an der Waffe findet unter strengerer Dienstaufsicht statt. Minderjährige Soldatinnen und Soldaten dürfen nicht an Auslandseinsätzen teilnehmen. Und sie dürfen außerhalb der militärischen Ausbildung keine Nachtdienste und Wachen übernehmen, bei denen sie zum Gebrauch der Waffe gezwungen sein könnten. – Das ist der bestehende Schutz, mit dem die Union zum Beispiel zufrieden ist. Uns Sozialdemokraten geht das definitiv nicht weit genug. Wir haben zwar Verständnis für die schwierige Position der Bundeswehr in ihrer Werbung um geeignetes Personal. Aber das Wohl der Minderjährigen muss im Mittelpunkt stehen. Um es klar zu sagen: Auch wir Sozialdemokraten finden, dass Minderjährige nicht an der Waffe ausgebildet werden sollten. ({1}) Wir setzen uns dafür ein, dass minderjährige Bewerberinnen und Bewerber bei der Bundeswehr bis zum Erreichen der Volljährigkeit ein ziviles Beschäftigungsverhältnis mit der Bundeswehr eingehen. In diesem Zeitraum könnten sie Dinge lernen, die für die militärische Ausbildung ebenfalls wichtig sind, wie politische Bildung, Fremdsprachen, Technik und Fahrerlaubnis. Mit 18 erst beginnt nach unserer Vorstellung dann das militärische Dienstverhältnis einschließlich der Ausbildung an der Waffe. Damit werden die Schutzbestimmungen für minderjährige Soldatinnen und Soldaten eindeutig verbessert, und es droht auch keine Traumatisierung mehr, die Die Linke beim frühzeitigen Umgang mit der Waffe befürchtet. Darüber hinaus unterstützen wir die Empfehlungen der Kinderkommission des Deutschen Bundestages. Dazu zählt vor allem die Einführung einer erneuten Dienstverpflichtung, wenn die Minderjährigen 18 werden, um sicherzustellen, dass sie freiwillig und sehenden Auges rekrutiert werden. Wir möchten außerdem, dass spezielle Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für die Interessen von Minderjährigen und Rekruten geschult werden. Und wir setzen uns für eine getrennte Unterbringung von Minderjährigen und Volljährigen in Einrichtungen der Bundeswehr ein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nicht die reine Lehre von Straight 18, die auch wir langfristig durchaus anstreben. Aber mit diesen Vorstößen werden wir unseren eigenen Ansprüchen an uns und unseren internationalen Verpflichtungen gerecht. Das lässt sich auch international ohne Weiteres vernünftig darlegen. Da wir gerade bei Vernunft sind: Ich begrüße an den Anträgen der Linken und vom Bündnis 90/Die Grünen, dass sie weitgehend ideologiefrei formuliert sind. Häufig klingt diese Diskussion vor allem vonseiten der Linken wie ein einziges Misstrauensvotum gegen die Bundeswehr. Die Bundeswehr ist – ich sage es noch einmal – eine Parlamentsarmee, die in unserem Auftrag handelt und unserer Kontrolle unterliegt und der in zunehmend stürmischen Zeiten eine wachsende Bedeutung zukommt. ({2}) Dafür erbitte ich mehr Respekt. Ich sträube mich dagegen, Minderjährige in der Bundeswehr und Kindersoldaten weltweit argumentativ in einen Topf zu werfen. ({3}) Das ist wirklich ein unredlicher Vergleich und verhöhnt das Leid von so vielen Kindern, die weltweit kämpfen und sterben müssen oder auch als lebende Bomben missbraucht werden. ({4}) Kolleginnen und Kollegen, wir sollten unsere Energien darauf konzentrieren, international ganz konkret gegen genau diese Missstände vorzugehen. Die Bundesregierung muss gemeinsam mit internationalen Organisationen dem Einsatz von Kindersoldaten den Kampf ansagen. Dabei ist es sehr wichtig, dass man sich zum Beispiel darauf fokussiert, dass Kinder weltweit zur Schule gehen; denn dort sind sie am besten geschützt. Wir brauchen eine abstimmte Außen- und Sicherheitspolitik und Entwicklungszusammenarbeit, um zu verhindern, dass Kinder so häufig Opfer kriegerischer Handlungen werden. ({5}) Wir reden von 250 Millionen Kindern, die in Kriegen weltweit vielfach missbraucht werden, nicht nur als Kindersoldaten. Darauf sollten wir unsere Energien konzentrieren: Kinder erfolgreich vor Ausbeutung zu schützen. ({6}) Und wir müssen aufpassen, dass wir keine Scheingefechte über Symbolpolitik führen. Das würde dem Ernst der Debatte nicht gerecht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Juratovic. – Als nächste Rednerin erhält die Kollegin Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben vor zwei Tagen den Red Hand Day erlebt. Hier vor der Tür waren auch viele aus dem Plenum dabei und haben ihre rote Hand ausgestreckt, und es wurden Fotos für die sozialen Netzwerke gemacht. Dieser internationale Gedenktag, der auf den 12. Februar 2002 zurückgeht, erinnert an das Thema Kindersoldaten. Für die, die es noch nicht genau wissen – jetzt schaue ich zur linken Seite des Hauses; denn offensichtlich wissen Sie nicht so genau, was das ist –: Das sind Kinder, die in Kriegen im Kampf eingesetzt werden und die töten und plündern müssen, die in Minenfelder getrieben werden, die zur Spionage eingesetzt werden und die sich in die Luft sprengen, weil sie dazu gezwungen werden, als Attentäter zu fungieren. Davon gibt es laut UNO 250 000 Kinder. Sie sind fester Bestandteil militärischer Infrastruktur in Armeen und Rebellengruppen. Sie werden sexuell missbraucht und versklavt, und sie werden oft zu Tätern, weil sie unter Drogen gesetzt werden. Das alles macht einen fassungslos und ist unvorstellbar. Die UN spricht zu Recht von einer Liste der Schande, in der diese Fälle dokumentiert werden. Die internationale Gemeinschaft, auch Deutschland, ächtet dies. Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, kann man darüber diskutieren, ob diese Ächtung wirkt; denn diese Probleme gibt es nach wie vor. Man muss auch die Frage stellen, ob man sich bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die in die Städte kommen, dieses Themas korrekt annimmt. Aber darum geht es Ihnen überhaupt nicht. Ihnen geht es um etwas ganz anderes. Sie wollen mit dem Wort „Kindersoldaten“ im Kontext der Bundeswehr eine Assoziation erzeugen. Sie wollen, dass im Kopf der Menschen Bilder entstehen. In diesem Kontext von Kindersoldaten in der Bundeswehr zu sprechen, ist perfide und widerlich, und Sie sollten sich dafür schämen. ({0}) Um das direkt zu sagen: Sie müssen nicht begrüßen, dass junge Menschen zur Bundeswehr wollen. ({1}) Sie müssen auch nicht begrüßen, dass die Eltern dieser Kinder das erlauben. Das geht Sie gar nichts an. Sie müssen es nicht begrüßen, aber es geht Sie nichts an. ({2}) Sie können kritisieren, dass Kinder unter 18 an Waffen ausgebildet werden. Das sehe ich persönlich übrigens auch kritisch. Der Wehrbeauftragte hat in diesem Kontext gesagt, die Rekrutierung von 17-Jährigen müsse eine Ausnahme sein. Das teile ich persönlich. Es gibt eine Reihe von Auflagen – das wurde gerade gesagt – für den Dienst vor dem 18. Geburtstag, und das wissen Sie ganz genau. Aber Sie vermischen – und das ist das Allerletzte; Sie müssen wirklich Tinte gesoffen haben – ({3}) wissentlich, aus reiner Ideologie, Themen miteinander. ({4}) – Nein, es ist eben nicht gut, lieber Kollege. Es ist einfach ekelhaft. Nehmen Sie das zur Kenntnis! Das macht man nicht. Dass Sie gegen die Bundeswehr sind, das ödet die Bundeswehr und den Rest des Hauses an. ({5}) Es interessiert einen überhaupt nicht mehr, dass Sie dagegen sind. ({6}) Sie können übrigens Ihre Kollegen Bartsch und Gysi fragen – wenn die Herren mal irgendwann hier auftauchen –, wie die Nationale Volksarmee 16-Jährige rekrutiert hat. Eines aber lassen wir nicht zu, nämlich dass Sie das Leid von Hunderttausenden von Kindern relativieren. Und wir lassen auch nicht zu, dass Sie mit Ihrer linken Ideologie unter dem Deckmantel der Humanität die Themen vermischen. ({7}) – Es ist schön, dass Sie sich aufregen. Wir können dazu nur sagen: Treffer! Versenkt! ({8}) Wir nehmen es nicht hin, dass Sie hier Debatten vermischen, nur weil Sie das selber nicht auf die Kette bekommen. Sie sollten sich wirklich schämen. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Strack-­Zimmermann. – Als Nächster spricht für die Fraktion Die Linke der Kollege Norbert Müller. ({0})

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, an dieser Stelle muss man die Debatte doch etwas versachlichen. ({0}) Vor zwei Tagen – in diesem Punkt kann ich Ihren Beitrag unterschreiben – haben wir hier auf Initiative der Kinderkommission zum wiederholten Mal den Red Hand Day begangen, und ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die daran teilgenommen haben. ({1}) Der Red Hand Day ist der Internationale Tag gegen den Einsatz von Kindersoldaten. Er wird begangen, weil am 12. Februar 2002 das Fakultativprotokoll über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten in Kraft getreten ist. ({2}) Und – da irrt Herr Staatssekretär Silberhorn – das Fakultativprotokoll setzt durchaus einen internationalen Standard – der internationale Standard im ersten Fakultativprotokoll sind die Straight 18 –, aber es lässt Ausnahmen zu. ({3}) 151 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben inzwischen die Straight 18 zum Standard erhoben und machen von den Ausnahmen, die das Fakultativprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention zulässt, keinen Gebrauch mehr. ({4}) Von den Staaten, die noch davon Gebrauch machen, gibt es drei große westliche Industrienationen – das sind die USA, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland –, die in großer Zahl Minderjährige in die nationalen Streitkräfte rekrutieren. Drei Staaten: die USA, Großbritannien und Deutschland! Seit 2011, als die Wehrpflicht ausgesetzt wurde, haben mehr als 10 000  17-Jährige den Grundwehrdienst bei der Bundeswehr durchlaufen, und diese Zahlen sind lange gestiegen. Sie haben sich bis 2017 im Vergleich zu 2011 sogar verdreifacht und sind letztes Jahr erstmals leicht zurückgegangen. ({5}) Wir lehnen das ab. Wir sagen: Die Bundeswehr als Armee ist kein Ort für Minderjährige. 17-Jährige haben im Wehrdienst nichts zu suchen. ({6}) Ich will Ihnen an dieser Stelle gerne ein Zitat vorlesen, ({7}) von Renate Winter. Viele werden sie nicht kennen. Sie ist die Vorsitzende des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes, die schildert, warum genau das nicht sein sollte. Ich zitiere: Anstelle des glamourösen heroischen Umfelds, das ihnen in der Militärwerbung versprochen wurde, finden Minderjährige … harte Bedingungen, Mobbing, Demütigung als Mittel zur Kontrolle, Einschränkung der Bewegungsfreiheit und, noch wichtiger, Einschränkung der Meinungsfreiheit vor. ({8}) Glaubt wirklich jemand, dass das Militär ein Ort für Diskussionen und eine gute individuelle Entwicklung ist? Ist es nicht eher ein Ort, an dem man lernt, reflexhaft zu gehorchen? Um zu lernen, zu funktionieren, und um zu gehorchen, ohne zu denken? ({9}) – Also wissen Sie, dass Sie selbst für die Repräsentanten und die Institutionen der Vereinten Nationen keinen Respekt haben, würde mich bei der AfD nicht wundern, aber bei Ihnen entsetzt es mich wirklich. – ({10}) Um eine Berufsausbildung für die Bedürfnisse der Armee zu haben und keine für die zivile Arbeitswelt? Und Renate Winter weiter: Und wie sieht es mit der Gesundheit aus? Mobbing, sexualisierte Gewalt, Gruppenzwang zu gewalttätigem Verhalten – all dies führt zu hohen Selbstmordraten. ({11}) Es wird viel Alkohol konsumiert, um seine „Männlichkeit“ zu beweisen. Es gibt Verletzungen im Training, die zu einer sofortigen Entlassung führen können. Sind dies die „höchsten erreichbaren Gesundheitsstandards“, auf die ein Kind ein Recht hat?“, … Ich finde, das muss man berücksichtigen. Renate Winter als Vorsitzende des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes hat recht. Diese Bedenken kann man nicht einfach wegwischen und wegpöbeln, wie Sie das hier gerade getan haben. ({12}) Die Kinderkommission des Deutschen Bundestages hat in der letzten Wahlperiode mit Zustimmung aller Vertreter – das können AfD und FDP nicht wissen; aber immerhin auch mit Zustimmung der Vertreter von SPD und CDU/CSU – eine Reihe von Empfehlungen abgegeben. ({13}) Zwei Empfehlungen davon stellen wir heute zur Abstimmung, auch Bündnis 90/Die Grünen. Wir wollen erstens, dass ein Gesetzentwurf eingebracht wird, dass keine 17-Jährigen mehr in die Bundeswehr eingezogen und an Waffen ausgebildet werden. Zweitens wollen wir, dass in Kraft tritt, die Ausbildung an Waffen umgehend zu beenden. Ich will zum Schluss kommen, Herr Präsident. Hier wurde in den Raum gestellt, wie mustergültig die Beschränkungen aus dem Fakultativprotokoll umgesetzt werden. Der Wehrbeauftragte – Sie können ihm einen schönen Dank für den Bericht ausrichten; den finde ich an der Stelle nämlich sehr hilfreich –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie jetzt wirklich zum Schluss!

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– weist darauf hin, dass im Berichtsjahr 2018 eine 17-jährige Soldatin zum Wachdienst mit der Schusswaffe – –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, ich habe Ihnen das Wort entzogen, weil ich Sie gebeten hatte, zum Schluss zu kommen. Sie haben bereits 22 Sekunden überzogen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Dr. Tobias Lindner, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch wenn mich Ihre weibliche Seite, Herr Präsident, eher an meine Frau erinnert, die dann sagt: „Komm bitte ins Bett. Es ist jetzt spät genug“, will ich zum Thema kommen. ({0}) – Wir beruhigen uns alle einmal wieder. Vielen Dank. ({1}) Herr Staatssekretär, ich fand die Pirouetten, die Sie gedreht haben, durchaus interessant. Sie haben das Argument genannt, nämlich dass es nach der Abschaffung der Wehrpflicht, die wir richtig finden, notwendig sei, zur Rekrutierung junger Menschen auch 17-Jährige für die Bundeswehr heranzuziehen. Meine Fraktion ist der Auffassung, es wäre vernünftiger, den Schritt zur Berufsarmee konsequent zu gehen und eine verantwortungsbewusste und vernünftige Rekrutierungspolitik hinzubekommen, die eben nicht auf Minderjährige setzen muss, statt sich hier auf 17-Jährige zu stützen. ({2}) Das ist im Übrigen die Altersgruppe, bei der die Union auf Landesebene, in Länderparlamenten regelmäßig der Auffassung ist, diese Menschen seien noch nicht reif genug, an Wahlen teilzunehmen. Für mich persönlich ist dies ein Widerspruch, um das in aller Deutlichkeit zu sagen. ({3}) Ich will Ihnen in der Kürze der Zeit einfach einmal zwei Zahlen entgegenhalten. Während bei allen freiwillig Wehrdienstleistenden im Jahr 2017  17 Prozent der Menschen in den ersten sechs Monaten den Dienst bei der Bundeswehr entweder beendet haben oder er beendet wurde, so war das bei der Gruppe der 17-Jährigen fast jeder Zweite. 10 Prozent der 17-Jährigen haben von ihrem Recht auf Widerspruch Gebrauch gemacht. Bei 40 Prozent hat sich der Dienstherr von sich aus entschlossen, das Dienstverhältnis zu beenden. Also, meine Damen und Herren: Wer hier in den Raum stellt, man bräuchte die 17-Jährigen zur Personalbindung, der muss nur einmal in die Antworten schauen, die die Bundesregierung auf Kleine Anfragen gegeben hat, um zu sehen, dass es völlig ineffektiv ist, 17-Jährige für die Bundeswehr zu rekrutieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Zweitens. Es ist notwendig – ich will das in aller Deutlichkeit sagen –, dass Sie die Beschränkungen, was die Ausbildung an der Waffe und den Dienst anbetrifft, haben. Aber jetzt lügen wir uns einmal nicht in die Tasche: Diese Einschränkungen führen doch zu einem Mehraufwand und zu Komplikationen im Ausbildungsbetrieb, die unseres Erachtens nicht in einem gesunden Verhältnis dazu stehen, mit all den Problemen und all den Grauzonen, die sich ergeben, wenn man 17-Jährige für die Bundeswehr rekrutiert, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Ich will Ihnen einen letzten Punkt nennen. ({6}) Es geht nicht darum, geschätzte Kollegin Strack-­Zimmermann, Kindersoldaten und die Rekrutierung 17-Jähriger zu vermischen; das will ich auch nicht tun. Aber ich finde, wenn Deutschland glaubhaft international Antreiber und Vorbild für die Einhaltung des Fakultativprotokolls zur Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen sein will, wenn wir international glaubhaft gegen den Einsatz von Kindersoldaten kämpfen wollen, dann sollten wir mit einem guten Beispiel voranschreiten und die Rekrutierung 17-Jähriger für die Bundeswehr beenden. ({7}) Sie ist nicht notwendig. Sie bringt der Bundeswehr nichts. Im Gegenteil: Sie führt auf einen schiefen Pfad, den wir nicht gehen müssen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Lindner. – Ich finde, Sie haben eine sehr kluge Frau, an die Sie sich gelegentlich halten sollten. Man muss um diese Tageszeit auch keine Reden mehr halten. ({0}) Als nächste Rednerin spricht zu uns die Kollegin Kerstin Vieregge, CDU/CSU-Fraktion, mit einem Drei-Minuten-Beitrag. ({1})

Kerstin Vieregge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004924, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch aus meiner Perspektive könnte der Zeitpunkt der Beratung kaum passender sein. Es wurde darauf hingewiesen: Vor zwei Tagen fand der jährliche Red Hand Day der Vereinten Nationen statt. Auf Initiative der Kinderkommission des Deutschen Bundestages haben zahlreiche Abgeordnete, natürlich auch ich, einen rot gefärbten Handabdruck hinterlassen und damit ein Zeichen gegen Kindersoldatentum gesetzt. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat an jenem Tag in einem Beitrag darauf hingewiesen, dass zurzeit rund 50 Armeen oder bewaffnete Gruppen Kinder als Soldaten missbrauchen. Man gehe weltweit von etwa 250 000 betroffenen Kindern aus. Als Schwerpunkt dieser schlimmen Praxis werden einerseits afrikanische Krisenstaaten wie Somalia oder die Demokratische Republik Kongo, andererseits aber auch zum Beispiel Syrien oder Afghanistan genannt. Insbesondere als Mitglied im Verteidigungsausschuss bin ich auf das Tiefste davon überzeugt, dass Kinder ein Leben in Frieden und Freiheit verdient haben und nichts in kriegerischen Auseinandersetzungen verloren haben. Wer wissen will, wie traumatisierend diese Schicksale sind, braucht nicht nur in die genannten Kriegsregionen der heutigen Zeit zu schauen, sondern sollte sich auch mit den Schicksalen der deutschen Kinder auseinandersetzen, die als Angehörige von Hitlerjugend, Jungvolk oder Volkssturm in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs in aussichtslose Gefechte geschickt wurden. ({0}) Noch besteht die Möglichkeit zum Austausch mit Zeitzeugen. Umso wichtiger erscheint es mir, an dieser Stelle erneut klarzustellen, dass die Rekrutierungspraxis der Bundeswehr überhaupt gar nichts mit den schlimmen Schicksalen von Kindersoldaten zu tun hat. ({1}) Es besteht ein riesiger Unterschied zwischen einem 15-Jährigen, der in Somalia eine Kalaschnikow in die Hand gedrückt bekommt, und einem 17-Jährigen, der sich im Rahmen der üblichen Berufsorientierung und nach notwendigem schriftlichem Einverständnis der Eltern dazu entscheidet, seinem Land zu dienen, zur Bundeswehr zu gehen, und zum Dienstantritt noch nicht volljährig ist. Wir alle wissen sehr genau, dass die Rekrutierung noch nicht Volljähriger durch die Bundeswehr sehr strengen Regeln unterliegt. Es gibt viele bereits bekannte Argumente. Die Schutzmechanismen sind vielfältig. Das wichtigste Argument kann aber gar nicht oft genug wiederholt werden: Die Bundeswehr ist ein guter, seriöser und verantwortungsbewusster Arbeitgeber. Unsere Streitkräfte schneiden nicht ohne Grund in Attraktivitätsrankings regelmäßig besonders gut ab. Den jungen Menschen bietet der Dienst in der Bundeswehr vielfältige Entwicklungs- und auch Karriereperspektiven. Als Abgeordnete im Deutschen Bundestag sollten wir alle froh und stolz darüber sein. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Vieregge. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält der Kollege Jens Lehmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort, ebenfalls zu einem Drei-Minuten-Beitrag. ({0})

Jens Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland hat die Konvention über die Rechte des Kindes und das dazugehörige Fakultativprotokoll ratifiziert. Danach dürfen Minderjährige nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen. Sie können auch nicht obligatorisch in die Streitkräfte eingezogen werden. Zudem sind Schutzmaßnahmen für Freiwillige unter 18 Jahren zu gewährleisten. Meine Damen und Herren, gegen keinen dieser Punkte wird oder wurde verstoßen. Die Behauptung, Deutschland mache von einer Ausnahmemöglichkeit Gebrauch, ist unzutreffend. Sie nehmen Anstoß an der Rekrutierung von unter 18-Jährigen. Zum einen sorgen Sie sich um das Wohl junger Menschen, zum anderen um die Glaubwürdigkeit unseres Landes. Zutreffend ist, dass im vergangenen Jahr rund 1 700 Rekruten bei Dienstantritt minderjährig waren. Aus diesem Grunde durchlaufen die Bewerber ein intensives Auswahlverfahren bei der Bundeswehr, das die Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Soldatenberufes sicherstellt. Nach der erforderlichen Eignung muss selbstverständlich das Einverständnis der Eltern vorliegen. Auch hier scheint bei Ihnen ein sehr negatives Bild von Elternverantwortung zu herrschen. Sie versehen keinen Wachdienst und nehmen nicht an Einsätzen teil. Und: Sie können die Ausbildung in den ersten sechs Monaten auch ohne Angabe von Gründen jederzeit verlassen. Tatsache ist auch, dass die Zahl von Minderjährigen in der Bundeswehr rückläufig ist. Von 2017 auf 2018 waren es rund 20 Prozent weniger. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun zu Ihrer Sorge um die Glaubwürdigkeit Deutschlands. Sie erwecken den Eindruck, wir würden nicht entschieden genug gegen die Rekrutierung von Kindersoldaten kämpfen. Damit vermitteln Sie das Bild, die Bundeswehr würde selbst Kinder als Soldaten rekrutieren und ausbilden. Das sind 17-Jährige, von denen 96 Prozent innerhalb von sechs Monaten volljährig werden. Sie nennen Kinder, die unter Zwang und ideologischer Verblendung in den Tod geschickt werden, in einem Atemzug mit unseren Soldaten. Angesichts der Not und des Leidens von Kindersoldaten weltweit finde ich es in höchstem Maße zynisch. ({0}) Wie können Sie dieses unsägliche Leid so instrumentalisieren, nur um die Rekrutierung deutscher Schulabgänger, die freiwillig ihrem Land dienen wollen, zu unterbinden? Einerseits wollen Sie auf Bundesebene ein Wahlrecht ab 16 Jahren und damit die Mitentscheidung über Einsätze der Bundeswehr. Andererseits trauen Sie denselben jungen Menschen die Ausbildung in der Bundeswehr nicht zu. ({1}) Offenbar geht es Ihnen nicht um das Wohl der jungen Menschen, sondern darum, der Bundeswehr die Werbung um Nachwuchs zu erschweren. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Danke. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vorbildlich. Vielen Dank, Herr Kollege Lehmann. – Damit schließe ich die Aussprache. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe zunächst Tagesordnungspunkt 14 a auf. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 19/1747. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/475 mit dem Titel „Rekrutierung von Minderjährigen für die Bundeswehr sofort beenden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen Mitglieder des Hauses angenommen. Wir bleiben beim Tagesordnungspunkt 14 a. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/979 mit dem Titel „Keine Rekrutierung Minderjähriger in die Bundeswehr“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Dann stelle ich fest, dass gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen Mitglieder des Hauses die Beschlussempfehlung angenommen worden ist. Tagesordnungspunkt 14 b. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/5549 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist erkennbar der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Hermann Färber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über drei Anträge der Opposition zu Glyphosat und dem Ausstieg aus Glyphosat. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, zu wissen: Was hat sich seit der Wiederzulassung im Jahr 2017 getan? Bereits im April des vergangenen Jahres hat unsere Bundesministerin Julia Klöckner einen Verordnungsentwurf vorgelegt, der den Einsatz von Glyphosat in Deutschland sehr streng regeln wird. Zum Ersten gibt es keine Anwendung mehr im privaten Bereich. Zum Zweiten gibt es ein Verbot der Anwendung auf öffentlichen Flächen wie Kindergärten, Schulen, Sportanlagen, Altenheimen oder in der Nähe von Gewässern. Und zum Dritten: Ja, sogar in der Landwirtschaft wird ein Großteil der bisherigen Anwendung untersagt. Damit wären eigentlich die heutige Debatte und die Inhalte der Anträge bereits überholt. Ich möchte aber trotzdem kurz auf die Anträge eingehen. Im Antrag der Grünen wird darauf verwiesen, dass Frankreich ein nationales Verbot binnen drei Jahren angekündigt hat. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass Präsident Macron, nachdem er sich ein bisschen näher mit der Thematik befasst hat, bereits den Ausstieg aus dem Ausstieg angekündigt hat. Frankreich wird Glyphosat also auch weiterhin zulassen. ({0}) Im Antrag der Linken wird darauf verwiesen, dass es einen Widerspruch zwischen der wissenschaftlichen Bewertung der Internationalen Agentur für Krebsforschung, IARC, und der Europäischen Chemikalienagentur, ECHA, gibt. Allerdings muss dazu gesagt werden, dass bekannt geworden ist, dass es seitens der IARC Manipulationen gegeben haben soll, die die Einschätzung der IARC doch sehr infrage stellen. ({1}) Vor der Veröffentlichung ihres Prüfberichts wurden bei der Internationalen Agentur für Krebsforschung an ihrem Entwurf zehn Manipulationen vorgenommen und damit das Ergebnis der Untersuchung ins Gegenteil verkehrt. Nur durch diese Manipulationen kam die Einschätzung „wahrscheinlich krebserregend“ überhaupt erst zustande. ({2}) Zum Antrag der FDP. Das ist der einzige Antrag, der wirklich auf wissenschaftlicher Basis erarbeitet wurde. ({3}) Es tut sehr gut, in diesem Zusammenhang, zu diesem Thema auch mal einen Antrag der Opposition zu lesen, der auf einer wissenschaftlichen Basis steht. Sie verweisen auch darauf, dass bei Mulch- und Direktsaatverfahren Glyphosat nach der Aussage vom Julius-Kühn-Institut nicht ersetzt werden kann; das ist korrekt. Allerdings fordern Sie in Ihrem Antrag, dass die an der Zulassung beteiligten Behörden künftig auch selber Studien zur Zulassung durchführen sollen. Dazu muss ich Ihnen sagen: Dieser Aufwand ist, glaube ich, von diesen Behörden überhaupt nicht zu leisten. Die Behörden – das ist allgemein bekannt – sind momentan mit Zulassungsanträgen total überlastet; die haben einen riesigen Stau abzuarbeiten. Gerade bei Neuanträgen kommen sie trotz Personalaufstockung nicht hinterher. Deshalb halte ich das für von den Behörden nicht leistbar. Ich möchte an dieser Stelle klar zum Ausdruck bringen: Sowohl die Antragsteller als auch alle am Verfahren beteiligten Behörden in Deutschland und Europa haben sich total korrekt verhalten, haben eine absolut ordnungsgemäße Arbeit abgeliefert. Die vorliegenden Anträge sind daher abzulehnen. Grundsätzlich, sage ich mal, ist jede Reduktion von Pflanzenschutzmittel zu begrüßen und richtig. Aber man muss natürlich auch das Gesamtkonzept berücksichtigen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Hermann Färber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Man muss ein Gesamtkonzept haben. Deshalb ist die Ackerbaustrategie, wie sie derzeit vom Bundesministerium für Ernährung geplant wird, richtig, weil sie nämlich alles in den Blick nimmt: den Pflanzen– – ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen. Sie dürfen sich setzen. ({0}) Wir waren schon wieder 22 Sekunden über der Zeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner hat das Wort der Kollege Stephan Protschka, AfD-Fraktion. ({1})

Stephan Protschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004858, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Habe die Ehre, Herr Präsident! Die Uhr stimmt: Fünf Minuten Redezeit. – Gott zum Gruße, liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Geschichte: Glyphosat ist nun seit über 40 Jahren auf dem Markt und wurde erst 1977 erstmals in Deutschland in einem Pflanzenschutzmittel zugelassen. 1992 erfolgte der erste Aufruf der Europäischen Kommission zur Verteidigung des Wirkstoffs Glyphosat. 2001 wurde der Wirkstoff Glyphosat erstmalig von der Europäischen Kommission genehmigt. Die Umsetzung in nationales Recht erfolgte bis zum 1. Januar 2003. Wer war damals eigentlich Landwirtschaftsministerin und zuständig für die Zulassung – und ist heute leider nicht anwesend? Frau Renate Künast von den Grünen, meine Damen und Herren. ({0}) Dieselbe Renate Künast übrigens, die damals auch das Bundesinstitut für Risikobewertung geschaffen hat. Das Bundesinstitut für Risikobewertung kam bereits damals und kommt auch heute noch zu dem Schluss, dass nach derzeitiger wissenschaftlicher Kenntnis bei bestimmungsgemäßer Anwendung von Glyphosat kein krebs­erzeugendes Risiko für den Menschen zu erwarten ist. Trotzdem fordern die Linken und die Grünen in ihren Anträgen, dass Glyphosat jetzt sofort verboten werden muss. Ihr Verbotsgeschrei ist Populismus in Reinform, sonst gar nichts, liebe Grüne und Linke – Sternchen Innen. ({1}) Warum wollen Sie ausgerechnet nur einen einzelnen Wirkstoff verbieten? Vielleicht weil es aktuell populistisch ist und man damit vielleicht irgendetwas bewegen kann? Mit Ihren Anträgen erreichen Sie in erster Linie zwei Dinge, liebe Öko-Fasch– – Sternchen Innen: Sie beschädigen massiv das Ansehen wissenschaftlicher Experten und Institutionen, die Sie noch dazu selbst eingeführt haben, und Sie entziehen den Bauern ein wichtiges Pflanzenschutzmittel, für das es aktuell leider keine Alternativen gibt. Sie verstärken das Bauernsterben dramatisch, meine Damen und Herren. ({2}) Ihnen geht es bei dem Verbot ja nicht einmal um Umweltschutz; denn Sie wissen genau, dass es in der konventionellen Landwirtschaft derzeit keine Alternativen gibt. Der Vorteil von glyphosatbegleiteter Direktsaat liegt darin, dass man auf das Pflügen verzichten kann. Beim Pflugeinsatz leidet das Bodenleben, und es drohen Erosion und Verschlämmung. Das gehört auch zur Wahrheit dazu. Die ökologische Landwirtschaft geht diesen Weg; das funktioniert natürlich auch nur bedingt ohne Umweltschäden, da erhöhter Maschineneinsatz zur Feldbearbeitung, wie zum Beispiel Pflügen, nötig ist. Das ist natürlich mit höheren Kosten und dem Verbrauch von Kraftstoff verbunden. Was verursachen Kraftstoff- und Maschineneinsatz nach Ihren Aussagen? Richtig, CO 2 , das wiederum nach Ihren Aussagen klimaschädlich ist. Wissen Sie eigentlich, was Sie wollen? Entweder Klimaschutz oder Umweltschutz oder wie auch immer – Sie drehen es, wie Sie wollen, aber Sie kommen zu keinem Punkt. ({3}) Ehrlicher ist deshalb der Antrag der AfD, dessen Überweisung an den Ausschuss Sie in der letzten Sitzungswoche zugestimmt haben. Danke schön dafür. In unserem Antrag vereinbaren wir die Interessen des Umweltschutzes, der Landwirtschaft und der Verbraucher. Wir wollen die Landwirtschaft durch Anreize dabei unterstützen, alle chemischen Pflanzenschutzmittel zu reduzieren. Ich hoffe, dass die CDU/CSU – wie Herr Färber es gerade gesagt hat – auch dazu steht. Dadurch versetzen wir die Landwirte in die Lage, teure, nichtchemische Maßnahmen des integrierten Pflanzenschutzes und/oder der Ausbringungstechnik anzuwenden, ohne dadurch Wettbewerbsnachteile zu erleiden. Die Umwelt würde von der allgemeinen Reduktion chemischer Pflanzenschutzmittel profitieren, und wir alle zusammen bekämen den gewünschten Glyphosatverzicht und den Erhalt der Bienen und Insekten, und das ganz ohne Verbot. Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Das ist der richtige Weg, und so funktioniert verantwortungsvolle Politik, meine Damen und Herren. Umweltschutz ist Heimatschutz; aber von Heimat hatten Sie sowieso noch nie eine Ahnung. Danke schön. Ich bin unter der Zeit geblieben. Habe die Ehre! Schönen Feierabend! ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege, ich gehe davon aus, dass Sie mit dem Begriff „Ökofaschisten“ niemand in diesem Hause gemeint haben, ({0}) ansonsten hätten wir ein Problem. Als nächster Redner wird zu uns sprechen der Kollege Rainer Spiering von der SPD-Fraktion. ({1})

Rainer Spiering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004410, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kolleginnen und Kollegen! In dem Antrag der Linken steht: Kurzfristig muss der Einsatz von glyphosathaltigen Pflanzenschutzmitteln auf Ausnahmen beschränkt werden. Die Grünen fordern in ihrem Antrag: … jetzt den Glyphosatausstieg einzuleiten und einen Ausstiegsplan mit umweltverträglichen Alternativen zu erarbeiten … Im Antrag der FDP steht: … Glyphosat hat gegenüber Mensch und Tier nur eine geringe Giftwirkung … Immerhin wird attestiert: Es hat eine Giftwirkung. ({0}) Alle wollen Transparenz und wissenschaftliche Aussagen. So weit, so gut. Die Koalition hat im Koalitionsvertrag festgehalten, der Glyphosatausstieg soll „so schnell wie möglich“ und „grundsätzlich“ durchgeführt werden. Wir haben das UBA personell aufgestockt, um zu überprüfen, welche neuen Verfahren und welche Mittel wir einsetzen können, um Glyphosat zu ersetzen. Also könnte man sich an dieser Stelle analog zu Hermann Färber hinstellen und sagen: Die Sache ist durch Koalitionshandeln beendet. Aber so einfach will ich mir das nicht machen. Glyphosat hat in der Wahrnehmung der Menschen, die etwas älter sind als ich, das Format, zu erinnern, und zwar an Begriffe wie „DDT“ oder „Agent Orange“. ({1}) Diese Stoffe stehen jeweils als Symbol für einen Umgang mit Natur und Gesellschaft, den selbige Gesellschaft nicht mehr wollte. DDT und Agent Orange sind natürlich vom Markt verschwunden. ({2}) Glyphosat hat in der gesellschaftlichen Diskussion dieselbe Wirksamkeit. Ich habe einen wunderbaren Spruch der Dakota gefunden: Wenn du entdeckst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab. Ich glaube, das sollten wir uns sehr zu Herzen nehmen. Bevor die Erregung hier jetzt noch größere Wellen schlägt: Die Aktionäre von Bayer haben das entdeckt. Es ist heute um 16.45 Uhr eine Schockmeldung durch die Börse gegangen, der Aktienkurs ist um 3,5 Prozent gesunken, weil in den USA eine neue Studie auf den Markt gekommen ist, die sich mit dem Zusammenhang von Krebs und Herbiziden auseinandersetzt. Wie ich das bewerte, steht hier überhaupt nicht zur Debatte. Zur Debatte steht, wie der Markt das wahrnimmt. Wenn Sie sich die Bayer-Aktie einmal anschauen – sie war vor einem Jahr noch 105 Euro wert; ({3}) jetzt liegt sie bei 65 Euro –, dann stellen sie fest, dass zumindest die Aktionäre von Bayer gemerkt haben: Das Pferd ist tot. ({4}) – Ich merke an Ihrer Erregung, dass Sie offensichtlich Schwierigkeiten mit der Argumentation haben. Das sind aber Fakten. Man muss, glaube ich, merken: Vermeintlich billige Lösungen müssen nicht zwangsläufig preiswerte Lösungen sein. Und vermeintlich einfache Lösungen müssen auch nicht erfolgversprechend sein. Die Frage ist: Wie gehen wir verantwortungsvoll mit Glyphosat um? Hermann Färber hat das nicht so direkt benannt, aber man kann es direkt beim Namen nennen. Wir werden ein Ausstiegsszenario brauchen, und das muss kurzfristig sein. Natürlich wissen wir alle, dass in den Weinbaugebieten der Ausstieg aus Glyphosat jetzt und heute und sofort nicht geht. Selbiges gilt für Obstanbaugebiete. Aber wir haben extrem gute Möglichkeiten in der Fläche, wo keine Bodenerosion zu befürchten ist, Glyphosat durch mechanische Mittel zu ersetzen. Dann kann ich, glaube ich, von der Ministerin erwarten – die hoffentlich kein totes Pferd reiten will –, dass sie einen Vorschlag machen wird, um dieses Ausstiegsszenario einzuleiten. Jetzt kommt noch eine wunderbare Pressemeldung von heute dazu: Jetzt will Söder „die Bienen und die Bauern retten“ Jetzt gibt es das Volksbegehren. … Die wichtigsten Maßnahmen, mit denen das Volksbegehren den Artenschwund stoppen will, lauten: den Anteil der Öko-Landwirtschaft in Bayern von aktuell zehn Prozent bis 2030 auf 30 Prozent zu erhöhen. Feldgehölze, Hecken, Säume und andere Lebensräume von Wildtieren und Pflanzen sollen erhalten und ein Biotopverbund geschaffen werden, der bis 2027 wenigstens 13 Prozent des Agrarlandes umfassen soll. Und jetzt: Außerdem soll der Pestizideinsatz auch in der konventionellen Landwirtschaft eingeschränkt werden. Ich komme wieder auf mein Pferd zu sprechen, und, Nicole Bauer, ich rate dazu, einmal vor der Welle oder auf der Welle zu surfen. Herr Söder ist offensichtlich der Meinung: Das Pferd ist tot, und ich reite die Welle. – Frau Ministerin, ich bitte Sie in unser aller Interesse, dazu beizutragen, dass wir auf der Welle surfen und nicht ein totes Pferd reiten. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Spiering. Als Mann von der Küste kann ich Ihnen sicher sagen, dass Sie hinter der Welle auch nicht mehr surfen können. ({0}) Als Nächstes spricht zu uns die Kollegin Carina Konrad, FDP-Fraktion. ({1})

Carina Konrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004789, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute hier verschiedene Anträge, das ist schon sehr deutlich geworden. Der Antrag der Grünen zielt im Wesentlichen darauf ab, im Schulterschluss mit den französischen Kollegen zu handeln. Emmanuel Macron selbst hat den Ausstieg vom Ausstieg angekündigt; das ist noch keine vier Wochen her. Wenn ich Ihren Antrag ernst nehme, bedeutet das also, dass Sie ab sofort gegen nationale Alleingänge sind. Das begrüßen wir sehr. ({0}) Das Bundesamt für Risikobewertung schreibt noch am 5. Februar in einem offenen Brief an die Europaabgeordnete Maria Noichl, SPD – ich zitiere mit Ihrem Einverständnis –: Wir sind uns beim BfR mit sämtlichen EU-Bewertungsbehörden und vielen anderen Behörden weltweit einig, dass Glyphosat nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht genotoxisch und nicht krebserregend wirkt. Damit ist auch das nächste Problem benannt, nämlich dass das im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vereinbarte Ausstiegsziel ganz klar politisch motiviert und nicht wissenschaftlich fundiert ist. Wir haben eine große Aufgabe. In Zukunft sind 9 Milliarden Menschen auf dieser Erde zu ernähren, gesund zu ernähren. ({1}) – Sie sagen: „Ach Gott!“? Jeder auf dieser Erde hat einen Anspruch auf Nahrung. Das werden Sie den Menschen doch wohl nicht vorenthalten. ({2}) Wir liegen hier in einem Gunststandort in der Mitte von Europa, und wir haben die Aufgabe, diesen Gunststandort hier zu beackern, und zwar nachhaltig. ({3}) Eine nachhaltige Landwirtschaft muss den Boden schützen: vor Erosion, für eine bessere Bodenstruktur, mehr Biodiversität und eine bessere Bodenfruchtbarkeit. ({4}) Könnte man Europa komplett auf konservierende Bodenbearbeitung umstellen und den Boden nur noch minimal bearbeiten, könnte man so viel CO 2 einsparen wie durch die Abschaltung von 50 Kohlekraftwerken. Das sage nicht ich, sondern das sagt der Europäische Verband für konservierenden Ackerbau. ({5}) Also muss es doch das Ziel sein, diese Verfahren voranzubringen. Glyphosat und andere Pflanzenschutzmittel sind aber nötig, um diese Ziele zu erreichen. ({6}) Es wird nicht ohne gehen; denn Ackerbau ohne Unkraut­regulierung zu betreiben, ist utopisch. Das wird wohl keiner in Abrede stellen. ({7}) – Natürlich, es gibt auch andere Mittel. Aber wie entwickeln Sie diese weiter? Ihre Ministerin im Bundesumweltministerium, die sich heute vor der Debatte hier drückt, verhindert doch die Entwicklung und die Zulassung neuer Produkte auf diesem Markt. ({8}) Damit stellen Sie die deutsche Agrarnationalmannschaft in Flipflops aufs Spielfeld. Ohne Schutz, ohne irgendeinen Halt sollen die Spieler ein internationales Turnier bestreiten, und die gegnerischen Mannschaften aus ganz Europa und aus der ganzen Welt spielen in neuesten Fußballschuhen. Das ist doch keine Chancengleichheit. Das ist auch keine zukunftsgewandte Debatte; das ist einfach rückwärtsgerichtet und verweigernd. Um es ganz klar zu sagen: Ich würde mir wirklich wünschen, Frau Klöckner, dass diese Streitdebatten zwischen den beiden Ministerien auch einmal hier im Plenum geführt werden könnten. ({9}) Frau Schulze ist nicht da. Wo ist sie denn? ({10}) Sie verweigert sich dieser Debatte und führt diese lieber über die Medien bzw. über die Zeitungen. So kann man doch nicht mit dem Parlament umgehen. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Konrad, herzlichen Dank für Ihren Beitrag. – Als nächste Rednerin spricht für uns die Kollegin Sabine Leidig, Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Glyphosat, bekannt unter dem Markennamen „Round­up“, ist das meistverkaufte Unkrautvernichtungsmittel der Welt, ein sogenanntes Totalherbizid, ein Produkt von Bayer/Monsanto. Es tötet jede Pflanze, die nicht gentechnisch so verändert wird, dass sie den Einsatz überlebt. Glyphosat ist laut Krebsforschungsagentur der WHO wahrscheinlich krebserregend beim Menschen. Seine Rückstände findet man in Gewässern, in Lebensmitteln und dementsprechend auch im Urin von Menschen, die gar nichts mit Landwirtschaft zu tun haben. ({0}) Glyphosat trägt maßgeblich zum Artensterben auf dem Land bei. ({1}) 2017 stand übrigens die Wiederzulassung für weitere fünf Jahre in Europa zur Debatte. Es war der damalige Landwirtschaftsminister Schmidt, der persönlich dafür gesorgt, dass es nicht vom Markt genommen werden muss. ({2}) Die Gewinnquelle für Bayer/Monsanto sollte nicht versiegen. Anstatt sich für die Agrochemie ins Zeug zu legen, hätte die Regierung längst Forschungsprojekte für alternative bodenschonende Anbaumethoden auf den Weg bringen müssen, damit am Ende die Landwirte nicht die Dummen sind. ({3}) Inzwischen kommen Sie etwas in die Gänge, und die Anwendung von Glyphosat wird eingeschränkt. Aber das ist erstens viel zu wenig, und zweitens kommt es viel zu spät. Eine aktuelle Studie zum Insektensterben aus den USA, die gerade veröffentlicht wurde, zeigt, dass es höchste Eisenbahn ist. Wenn wir so weitermachen, werden die Insektenbestände in den nächsten zehn Jahren weltweit um ein Viertel dezimiert. ({4}) In Deutschland sind schon mehr als drei Viertel aller Flug­insekten aus Schutzgebieten verschwunden. ({5}) Wir fordern, dass glyphosathaltige Pflanzenschutzmittel in Deutschland unverzüglich verboten werden, und wir fordern mehr Unterstützung für ökologische Methoden in der Landwirtschaft. ({6}) Derzeit werden 4 000 Tonnen Glyphosat pro Jahr auf deutschen Äckern eingesetzt, ({7}) die Hälfte im Getreideanbau. Weil dieses so behandelte Getreide nicht zur Verarbeitung in Brauereien zugelassen wird, wird zum Beispiel Brot daraus, ({8}) Brot und Brötchen in unzähligen Backshops, in Supermärkten und Bäckereien. Schätzungsweise 1,7 Millionen Tonnen von diesen Backwaren werden allerdings jedes Jahr vernichtet, auf den Müll geworfen. Die Ernte von fast 400 000 Hektar Ackerland wird verschwendet. ({9}) Das ist wirklich absurd. Auf der einen Seite werden Pestizide und Stickstoffdünger eingesetzt, um die landwirtschaftlichen Ernteerträge zu intensivieren, und zugleich werden tonnenweise Lebensmittel weggeworfen, die daraus hergestellt werden. Dieses System ist einfach falsch; ({10}) es muss sozial und ökologisch umgebaut werden. Das Verbot von Glyphosat wäre ein Schritt in diese Richtung. Dass wir vollen Rückenwind aus der Bevölkerung haben, zeigen uns gerade die Menschen in Bayern; wir haben es gerade schon gehört. Dort haben sich binnen zwei Wochen 1,7 Millionen Menschen am Volksbegehren „Rettet die Biene“ beteiligt. Das sind 18,4 Prozent aller Wahlbeteiligten. ({11}) Das ist das Volksbegehren mit der höchsten Beteiligung, das jemals in Bayern stattgefunden hat. Das ist absoluter Rekord. ({12}) Selbstverständlich haben wir das als Linke mit allen Kräften unterstützt. Wir brauchen diese Aktivität der Bürgerinnen und Bürger. Das ist wirklich toll. Ich bin zuversichtlich, dass solche Aktionen die Agrar­wende schneller vorantreiben, als unsere Anträge das könnten. ({13}) Ja, Bienen sind systemrelevant, wie Frau Klöckner es gesagt hat. Aber wir retten sie nur, wenn sich Bayer und Monsanto endlich vom Acker machen müssen. Danke. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin erwarten wir die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner. ({0})

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Guten Abend, sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist eine wichtige Debatte. Deshalb freue ich mich sehr, dass der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion heute Abend um diese Uhrzeit auch da ist. Das sieht bei den anderen Fraktionen anders aus. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Ministerin, gestatten Sie mir die Zwischenbemerkung, dass es bei der Bundesregierung auch ziemlich mau aussieht. ({0})

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Es kommt wie bei dem Präsidium ja auf Qualität und nicht auf Quantität an. Das gilt auch für die Bundesregierung. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das sagen wir der Kanzlerin. Keine Sorge, das geben wir ihr weiter. ({0})

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Ja, gut, sie ist außen vor. – Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich, jetzt wieder etwas Sachliches zur Frage des Einsatzes von Glyphosat beitragen zu können. Ganz kurz und knapp: Die Bundesregierung empfiehlt, die drei vorliegenden Anträge abzulehnen. Sie sind schlichtweg überflüssig; denn die Bundesregierung ist bereits dabei, eine Minderungsstrategie für den Einsatz von Glyphosat zu erarbeiten. Im Koalitionsvertrag haben wir eine systematische Minderungsstrategie – das ist nämlich auch europarechtskonform; das versuchen einige auszublenden – vorgesehen. Im Grunde ist es ein Aufruf von den Grünen, Europarecht zu ignorieren, indem immer wieder, auch in den Medien, gesagt wird, man solle sofort aus dem Einsatz von Glyphosat aussteigen. Man unterstützt übrigens etwa vonseiten der Grünen und der Linken auch Petitionen gegen den Einsatz von Glyphosat. Das ist nichts anderes als ein Aufruf, sich europarechtsinkonform zu verhalten. Das halte ich wirklich für nicht in Ordnung. ({0}) Am Ende geht es auch darum, dass sich Deutschland ordentlich verhält und den unionsrechtlichen Rahmen im Blick behält. ({1}) Ich werde das auch gerne noch kurz erläutern. Wir alle wissen, dass Glyphosat auf Europaebene noch fünf Jahre zugelassen sein wird. Deswegen wird ein Totalverbot – das wissen Sie, wenn Sie Richtung Kärnten, nach Österreich, schauen – europarechtlich nicht machbar sein. Was machen wir also? Wir haben natürlich auch noch die Pflanzenschutzmittelzulassungsverfahren. Auch da müssen wir, glaube ich, unser Verfassungsrecht ernst nehmen. Wir, das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, haben – Herr Kollege Spiering, ich weiß zu schätzen, dass Sie es zu schätzen wissen – sehr frühzeitig, bereits im April des vergangenen Jahres, gehandelt. ({2}) Da war von toten oder lebendigen Pferden überhaupt nicht die Rede. Da haben wir ein Eckpunktepapier zu einer Minderungsstrategie vorgelegt. Wir sind in Gesprächen mit unseren Kollegen im BMU. Gut Ding braucht Weile. Ich kann Ihnen aber sagen, was der Vorschlag des unionsgeführten Ministeriums gemäß Koalitionsvertrag ist: Erstens werden wir nichtberuflichen Anwendern die Anwendung von Glyphosat untersagen. Hier haben wir nach Länderauskunft häufig Fehlanwendungen. Zweitens wird die Anwendung von Glyphosat auf Flächen, die für die Allgemeinheit bestimmt sind – zum Beispiel Kindergärten, Schulen, Sportanlagen, Altenheime –, untersagt. ({3}) Drittens wird die Anwendung von Glyphosat in der Nähe von Gewässern verboten. Wir sehen, dass es dort noch Schlupflöcher gibt, und ich gehe noch einen Schritt weiter: Vor allen Dingen in Naturschutzgebieten, wo wir sensible Ökosysteme haben, wird die Anwendung von Glyphosat verboten. Übrigens wird die Anwendung von Glyphosat auch auf gartenbaulich und landwirtschaftlich genutzten Flächen verboten, wenn – das zeigt unser differenziertes Vorgehen – nicht genügend Saumstrukturen vorhanden sind. Es gehört aber auch dazu, dass man allen, die schon morgen ein Totalverbot wollen, was europarechtlich schwierig ist, sagt, dass es Zielkonflikte gibt; diese müssen wir benennen. Schauen wir uns das mal an: Auf der einen Seite haben wir erosionsgefährdete Gebiete. Da besteht der Wunsch, eben nicht mechanisch zu arbeiten, weil dadurch der Bodenabtrag befördert wird, also schneller erfolgt. Auf der anderen Seite haben wir Landwirte, die ihren Ertrag sichern wollen. Wenn Sie sagen, dass weder mechanisch gearbeitet werden soll noch Pflanzenschutzmittel angewandt werden sollen, dann kommt das der Forderung nach einer Enteignung des Landwirts gleich, und das werden wir natürlich nicht mitmachen; Sie werden das so auch nicht aufrechterhalten können. Ein differenziertes Vorgehen ist also notwendig. ({4}) Sehr geehrte Damen und Herren, grundsätzlich gilt – das ist wichtig –: vorbeugen, geeignete nichtchemische Maßnahmen einsetzen, soweit verfügbar und zumutbar, und damit die Beschränkung auf das notwendige Maß erreichen. Wenn wir ehrlich sind – und das gehört ja dazu –, müssen wir uns auch mal die Zahlen zum Glyphosat-Einsatz anschauen und sagen: In den vergangenen Jahren haben wir den Einsatz um ein Drittel reduziert. Ich werde jetzt die Ackerbaustrategie nicht nur erarbeiten, sondern bis zum Herbst auch vorlegen und zur Diskussion stellen. Am Ende haben wir bei allen Unterschiedlichkeiten – das spreche ich keinem ab – doch die gleichen gemeinsamen Ziele: Wir wollen sichere Nahrungsmittel, wir wollen das Gesundheitsniveau in der Bevölkerung hochhalten, wir wollen das Klima und die Umwelt schützen, wir wollen gesunde Böden. Das geht nur mit Augenmaß und nicht mit Ideologie. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Ministerin, herzlichen Dank für Ihre Ausführungen. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Harald Ebner, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die schlechte Nachricht zuerst: ({0}) Das Insektensterben – die Kollegin Leidig hat es schon gesagt – geht weiter, und zwar weltweit. Eine neue Studie belegt: Es ist alarmierend, die Landwirtschaft ist daran beteiligt, und es ist höchste Zeit, zu handeln. ({1}) Es gibt aber auch gute Nachrichten: Unterschreiben lohnt sich, Frau Kollegin. In Bayern hat das Volksbegehren „Rettet die Bienen“ 1,7 Millionen Menschen in die Rathäuser getrieben. ({2}) Damit treiben sie jetzt die dortige CSU-Regierung zu mehr Bienenschutz, und das ist gut so. Davon sollte sich auch die Bundesregierung antreiben lassen. ({3}) Vor allem aber die 1,3 Millionen Unterschriften unter der Europäischen Bürgerinitiative gegen Glyphosat zeigen Wirkung. Die Reform für mehr Transparenz im EU-Zulassungsverfahren für Pestizide ist jetzt endlich auf dem Weg. Und in den Behördenberichten zur Risikobewertung, da soll jetzt künftig richtig zitiert werden, sodass man künftig auch erkennt, ob die Hersteller die Texte geschrieben haben oder die Behörden selber. ({4}) Das ist ein Riesenerfolg für alle, die sich für eine bessere Landwirtschaft, für Artenvielfalt, gesundes Essen ohne Gift und mehr Transparenz einsetzen. ({5}) Schon dafür hat sich die Glyphosat-Debatte der letzten Jahre wirklich gelohnt. Aber das Thema, Frau Ministerin, ist damit nicht erledigt; so billig kommen Sie hier nicht davon – mit diesen Taschenspielertricks. ({6}) Vor Jahresfrist hat der damalige Minister Schmidt für die Glyphosat-Zulassung in Europa gesorgt, und quasi tags darauf hat genau die Koalition, der er angehörte, den Menschen in diesem Land wieder den Ausstieg versprochen – in ihrem Koalitionsvertrag. Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich ja sagen: Sie haben echt Humor. Dass es ganz offenkundig aber gar nicht so gemeint war, sehen wir jetzt schon deutlich. Mittlerweile haben Sie den versprochenen Ausstieg verbal längst weit hinter die Legislatur verschoben. ({7}) Die Begründung haben wir gerade von der Ministerin gehört: Wegen der Schmidt’schen Verlängerung der Zulassung um fünf Jahre sei das gar nicht möglich. – Während die Ministerin das Thema regelrecht totlächelt, ist die Glyphosat-Menge nicht gesunken, Frau Ministerin, ({8}) sondern sie ist von 2016 auf 2017 um 1 000 Tonnen angestiegen. 1 000 Tonnen mehr landen auf unseren Äckern. Das sind fast 25 Prozent. ({9}) – Das ist nicht falsch, Frau Ministerin. Das sind Ihre Zahlen vom BVL. – Das Problem löst sich eben nicht von allein und schon gar nicht durch wechselseitige Pressekonferenzen der Landwirtschafts- und der Umweltministerin, Frau Klöckner. ({10}) Sie haben jetzt angekündigt, Ihr Konzept zur Reduzierung von Pestiziden im Herbst vorstellen zu wollen. Im Herbst! Da ist Halbzeit! Zur Halbzeitevaluation steht doch was im Koalitionsvertrag. Was wollen Sie denn dann evaluieren? Konzepte oder Ankündigungen? Es wäre doch mal schön, wenn sich beide Ministerinnen auf ein zügiges Handeln einigen würden, und zwar an den Brennpunkten, von denen es – Sie haben es schon gesagt – ein paar gibt. Brennpunkt eins: nationale Zulassungen. Was haben Sie gemacht, Frau Ministerin? Gerade erst wurde das Gegenteil gemacht: Die Zulassung von 106 Glyphosat-Mitteln in diesem Land wurde ungeprüft und ohne neue Bedingungen um ein Jahr verlängert. Ausstieg? Fehlanzeige! Privatanwenderverbot? Wo bitte ist denn die Verordnung, die Herr Färber angesprochen hat? Sie ist nicht da; niemand kennt sie. – Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. – Auch da: Ausstieg? Fehlanzeige! Ein bisschen weniger vom Falschen nutzt uns nichts. Wir brauchen das Richtige. Wir müssen Alternativen fördern, und da versagt die Koalition. Nur 0,003 Prozent der Mittel des Agrarhaushaltes gehen in die Forschung für Alternativen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das muss besser werden. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als vorletzter Redner spricht nun zu uns der Kollege Johann Saathoff, SPD-Fraktion. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich – das haben wir gerade schon gehört – wäre diese Debatte gar nicht nötig gewesen. Wir hätten den Ausstieg aus Glyphosat längst auf EU-Ebene einleiten können. Es gab einen Alleingang – ({0}) Frau Ministerin, Sie haben ja Wert darauf gelegt, in Ihrer Rede zu betonen, dass das Haus CDU-geführt ist – des Landwirtschaftsministers der Union, Christian Schmidt, der unabgesprochen und entgegen den Regelungen, die im Kabinett eigentlich gelten, die Verlängerung der Zulassung von Glyphosat eingeleitet bzw. auf die Verlängerung hingewirkt hat, und das geht eigentlich nicht. ({1}) Wir haben einen Koalitionsvertrag miteinander, in dem wir sagen: Wir wollen aus Glyphosat aussteigen. Wir als sozialdemokratische Fraktion wollen den Einsatz dort einschränken, wo es heute schon geht. Wir brauchen eine Strategie für den grundsätzlichen Ausstieg. Wir wollen den Schutz unserer Böden und die Artenvielfalt erhalten – auch im Sinne unserer Bäuerinnen und Bauern; das muss an dieser Stelle gesagt werden. Auch für unsere Nahrungsgrundlage ist das wichtig. Diese hat nämlich einen besonderen Schutz verdient. Den besonderen Schutz der Böden erreicht man nicht nur durch das Verbot von Glyphosat. Perspektivisch brauchen wir eine neue Landwirtschaft; daran geht gar kein Weg vorbei. Wir müssen von der konventionellen Landwirtschaft mit Monokulturen zu mehr Biodiversität und zum Ökolandbau kommen. ({2}) – Herr Kollege, „EEG abschaffen“: Das ist einer der faktenbefreitesten Einwürfe, die ich hier in der Vergangenheit gehört habe. ({3}) Glyphosat ist Teil des Problems. Erst mit Glyphosat ist eine intensive Landwirtschaft möglich, die zu einem rückläufigen Trend bei der Artenvielfalt führt, und ausgestorbene Arten lassen sich nun mal nicht wieder zurückholen. Den Ausstieg aus Glyphosat kann man leider nicht sofort durchführen, und er kann nicht ohne Weiteres erfolgen; denn das würde zu erheblichen Mehrkosten für die Landwirtschaft führen, und auch für die Nutzer und Verbraucher von landwirtschaftlichen Produkten könnte es zu erheblichen Mehrkosten führen, wenn man das sofort machen würde. Die Diskussion muss also mit Augenmaß erfolgen. „An’t Oogenmaat süchst du de Weert van Minsken“, seggen wi ok in Oostfreesland. Die Diskussion muss aber jetzt auch ernsthaft geführt werden, und wir wollen den Ausstieg dort einleiten, wo er heute schon problemlos möglich oder zwingend notwendig ist, nämlich in ökologisch sensiblen Gebieten und in Wasserschutzgebieten. Wir müssen – das ist vollkommen richtig – jetzt wirklich mal die Forschung verstärken; denn es gibt Alternativen. Beispiel gefällig? – Mir würde als Beispiel die Bodenbearbeitung mit dem System Sepp Hägler einfallen. Der hat sich nämlich von den gängigen Methoden verabschiedet und bearbeitet seine Böden mit einer Fräse. Ich glaube, dass man das, gepaart mit Automatisierungstechnik, noch viel, viel besser voranbringen könnte. Der Nebeneffekt ist nämlich: Man kann auf Glyphosat verzichten. Das Motto lautet: Mechanik statt Chemie. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Saathoff. – Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt spricht jetzt zu uns die Kollegin Marlene Mortler, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe zuletzt selten so viel Doppelzüngigkeit und selten so viele Fake News in den Reden gehört wie heute. Schade! ({0}) Ich rede hier als jemand, der zu Hause einen landwirtschaftlichen Betrieb hat, der biologisch bewirtschaftet wird, und muss an dieser Stelle zum Thema Doppelzüngigkeit klar sagen, dass auch die Biolandwirtschaft nicht ohne Pflanzenschutzmittel auskommt. ({1}) Wenn ich alleine an sogenannte Pyrethroide denke! Pyrethroide sind Insektizide, die in und an Kulturpflanzen gegen Insekten, gegen Spinnmilben eingesetzt werden. Pyrethroide fragen nicht: Wer ist der Schädling? Die nehmen alles mit. Selbst Greenpeace hat in diesem Zusammenhang gesagt: Pyrethroide sind giftig für Bienen. Weshalb erzähle ich das? Wir müssen endlich wieder zu einer faktenbasierten und wirklich wissenschaftlich abgesicherten Diskussion kommen. ({2}) Unsere Bauern und Bäuerinnen im Land sind die Verlierer. Ich habe es satt, dass Biobauern als gut und konventionelle Bauern als schlecht bezeichnet werden. Dieser Sündenfall ist unter Künast entstanden; sie hat diese Einteilung vorgenommen. Ich bin nicht mehr bereit, das hinzunehmen. Wir müssen endlich wieder zu einer sachlichen Diskussion zurückkehren. ({3}) Meine Damen und Herren, die Kernaufgabe unserer Bauern und Bäuerinnen ist, gesunde Lebensmittel zu erzeugen. In Urzeiten waren alle Selbstversorger. Heute ernähren immer weniger Bauern mit immer weniger Flächen immer mehr Menschen. Die Herausforderung heute ist doch eine ganz andere, nämlich: Wie können wir ressourcenschonend, effizient und trotzdem nachhaltig für unsere Menschen im Land produzieren? Dafür brauchen wir eine bedarfsgerechte Düngung, so wie wir uns als Menschen bedarfsgerecht ernähren sollten. Das Gleiche gilt für die Pflanze. Wenn die Pflanze krank wird – das gilt auch für den Menschen –, muss sie behandelt werden. ({4}) – Ich rede über Grundsätzliches. Ihr Grünen wisst genau: Glyphosat ist ein Symbolthema, um den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln grundsätzlich schlechtzumachen. Das lassen wir euch nicht mehr durchgehen. ({5}) Nachhaltig ist es für mich, wenn die Pflanzen so bearbeitet werden, dass sie gesund werden bzw. gesund bleiben. Es liegt einfach in der Natur der Sache, dass Pflanzen auch krank werden – je nach Witterung; viel Regen, kein Regen, zu viel Trockenheit – und entsprechend behandelt werden müssen. Ich glaube, es ist nicht zu viel verlangt, das zu verstehen, und das geht, denke ich, auch in jeden Kinderkopf hinein. ({6}) Meine Damen, meine Herren, wenn Sie Pflanzenschutzmittel inzwischen als „Pestizide“ bezeichnen – es gibt ja noch eine Steigerung, nämlich „Ackergifte“ –, müssen Sie auch zur Kenntnis nehmen, dass sie auch im biologischen Landbau eingesetzt werden. Ich will solche Debatten aber nicht. Ich will – abschließend –, dass wir, dass Sie alle zur Kenntnis nehmen, dass es unsere Aufgabe und Verantwortung ist, Pflanzenschutzmittel zu optimieren und solche zuzulassen, die eine noch bessere und gezieltere Wirkung haben als die, die aktuell zur Verfügung stehen. Das ist unsere Verantwortung. Darum bitte ich Sie. Vielen herzlichen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Mortler. – Damit ist die Aussprache beendet. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 19/7148. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/216 mit dem Titel „Nationale Strategie für den Umgang mit dem Herbizid-Wirkstoff Glyphosat“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Fraktionen der AfD und der FDP bei Zustimmung der übrigen Fraktionen des Hauses so angenommen. Weiter empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/226 mit dem Titel „ Glyphosathaltige Pflanzenschutzmittel in Deutschland verbieten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/230 mit dem Titel „Glyphosatausstieg jetzt einleiten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses ebenfalls angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedanke mich für den wunderschönen Abend. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf morgen, Freitag, den 15. Februar 2019, 9 Uhr. Pünktlich! Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 23.16 Uhr)