Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Keine 90 Wörter umfassen die Rechtsänderungen, die wir heute beraten. Aber wie Sie wissen, steht dahinter eine der großen Debatten, die wir in unserem Land haben, nämlich über die Frage: Wie regeln wir den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte?
Lassen Sie mich ein paar Grundprinzipien umreißen, bevor ich auf die Details der Regelung eingehe. Humanitäre und zugleich verantwortungsvolle Zuwanderungspolitik braucht eine klare Differenzierung zwischen unterschiedlichen Gruppen. Einwanderung einerseits und Schutz für Geflüchtete andererseits: Das sind zweierlei Dinge. Die darf man nicht vermischen.
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Aber auch innerhalb der Gruppen der Schutzberechtigten ist zu unterscheiden. Auf der einen Seite stehen Schutzsuchende, die als politisch Verfolgte oder nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt worden sind. Auf der anderen Seite geht es um Menschen mit eingeschränktem Schutzstatus. Diese Unterscheidung ist wichtig. Sie ist geltendes Recht, sie entspricht dem Völkerrecht, und sie ist Spiegel unterschiedlicher Lebenssachverhalte. Und unterschiedliche Lebenssachverhalte muss man unterschiedlich regeln. Auch hier brauchen wir differenzierte Regelungen.
Das führt mich zu einem zweiten Faktor von humanitärer und zugleich verantwortungsvoller Zuwanderungspolitik. Wir müssen dafür sorgen, dass Integration gelingt. Das kann aber nur dann gelingen, wenn Schutzberechtigte integrationsbereit sind und wir die Grenzen der Integrationskraft unseres Landes benennen und beachten. Unterbringung, Lebensunterhalt und Integration kosten. Integrationskurse, Schulen, Wohnung, Ausbildung und Arbeitsplätze, alles das muss geleistet werden. All das ist aber nur begrenzt leistbar. Das wissen die Kommunen in unserem Land am besten.
Nach internationalem Recht, nach Völkerrecht und nach europäischem Recht gibt es keine rechtliche Verpflichtung, den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten unbegrenzt zu gewähren.
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Der Status subsidiär geschützter Menschen ist rechtlich einer auf Zeit. Wer keinen Schutz mehr in Deutschland benötigt, soll wieder in seine Heimat zurückkehren. Auch davon hängt gesellschaftliche Akzeptanz ab.
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Wer jedoch Angehörige nachholt, dessen Aufenthalt verfestigt sich. Freiwillige Ausreisen oder Rückführungen werden damit – auch das gehört zur Wahrheit – deutlich erschwert. Solche Signale wollen wir vermeiden, auch wegen der Sogeffekte.
Zugleich sehen wir die Not mancher Familien. Wir sehen auch – dafür brauchen wir keine großen Studien von Kriminologen –, dass das Zusammenleben von Familien manchem Problem des gesellschaftlichen Abrutschens vorbeugt und manches im sozialen Umfeld stabilisiert; das ist wahr. Andererseits wollen wir nicht, dass Familienmitglieder – erst recht nicht Kinder – auf einer gefährlichen Reise vorgeschickt werden, um selbst später nachkommen zu können.
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All das, diese drei Erwägungen, führen in ein nicht einfach zu lösendes Dilemma. Es gibt dort keine einfachen Antworten. Das hat sehr überzeugend Altbischof Huber in einem großen Artikel der „Zeit“ geschrieben. Jeder, der sich ernsthaft mit diesem Thema beschäftigt, wird und muss das zugeben.
Wir haben uns deshalb mit der SPD in den Sondierungen auf eine vernünftige, maßvolle Lösung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte verständigt. Wir haben die feste Absicht, bis zum Sommer hierzu eine Neuregelung zu verabschieden. Bis zum Inkrafttreten dieser Neuregelung aber müssen wir den Familiennachzug noch einmal kurz aussetzen. Das bildet der vorliegende Gesetzentwurf ab.
Zu den anderen Vorschlägen, die auf dem Tisch liegen, sage ich nur ganz kurz: Eine dauerhafte weitere bloße Aussetzung ist keine dauerhafte Lösung, sondern verschiebt nur eine Entscheidung. Sie wäre im Übrigen verfassungsrechtlichen Zweifeln ausgesetzt. Ein dauerhaftes ausnahmsloses Nachzugsverbot wird andererseits menschlichen Härten nicht gerecht. Ein unbegrenzter Nachzug überfordert alle und befriedet nicht, sondern spaltet unser Land.
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Deshalb schlagen wir einen vernünftigen Kompromiss vor. Wir wollen mit der Neuregelung aus der bisherigen Anspruchsregelung eine Kontingentlösung machen. Das bedeutet: Statt eines Anspruchs ermöglichen wir künftig für die Gruppe der subsidiär Schutzberechtigten einen monatlichen Nachzug von 1 000 Familienangehörigen. Kriterien für die Auswahl werden wir natürlich noch vorlegen und beraten.
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Schätzungen zum Umfang des Familiennachzugs – die einen, wie die Abgeordnete Jelpke gestern, sagen, es seien sowieso nur 60 000, andere sagen, es seien Hunderttausende – erledigen sich mit einer Kontingentlösung. Sie können dahinstehen, wie wir als Juristen sagen; denn auf jeden Fall begrenzen wir den Familiennachzug auf 12 000 im Jahr.
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Wir setzen also künftig auf einen begrenzten, gesteuerten und gestaffelten Familiennachzug, dem eine humanitäre Auswahl zugrunde liegt. Er wird nur möglich sein, wenn die Ehen vor der Flucht bestanden haben – ein sehr wichtiger Punkt –, wenn keine schwerwiegenden Straftaten begangen wurden, wenn es sich nicht um Gefährder handelt und wenn eine Ausreise kurzfristig nicht zu erwarten ist. Wir verbinden mit dieser Lösung Humanität und Verantwortung. Das ist zumutbar, das ist legitim, das ist angemessen, und das ist verantwortungsvoll.
Deshalb bitte ich um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Högl, SPD-Fraktion.
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Einen schönen guten Morgen, sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die SPD ist der Familiennachzug – auch zu subsidiär Schutzberechtigten – aus verschiedenen Gründen notwendig und richtig.
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Ich nenne sechs Gründe.
Der Schutz der Familie – das gilt für alle Menschen – ist zu Recht ein im internationalen und im deutschen Recht fest verankertes Grund- und Menschenrecht.
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Ohne ihre Familien werden Menschen krank, sind einsam, werden unglücklich und sogar kriminell. Das zeigen alle Studien, die uns vorliegen.
Die Gleichstellung von subsidiär Schutzberechtigten mit den Asylberechtigten und den Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist richtig und geboten; denn auch die subsidiär Schutzberechtigten bleiben bei uns. Sie suchen hier Schutz und bekommen ihn auch, und zwar nicht nur vorübergehend und auf Zeit. Vielmehr bleiben sie oft jahrelang, manche sogar für immer. Das gilt insbesondere für die Menschen, die aus Syrien zu uns geflohen sind; denn dass dort übermorgen Frieden herrscht, wird leider nicht der Fall sein.
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Die Familie – auch das ist ein wichtiger Gesichtspunkt – ist Voraussetzung für eine gute und gelungene Integration. Wer Sorgen um seine Liebsten im Herkunftsland hat, der kann sich nicht auf das Erlernen unserer Sprache und auf seine Arbeit oder seine Ausbildung konzentrieren.
Deswegen nenne ich noch einen weiteren Grund. Der Familiennachzug ist einer der ganz wenigen sicheren und legalen Einreisewege für schutzbedürftige Menschen. Ansonsten sind diese Menschen angewiesen auf Schlepper und Schleuser, und das ist nicht in unserem Interesse.
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Ich möchte noch einen sechsten Punkt nennen – das ist für uns alle in diesem Haus wichtig –: Wir wollen Zuwanderung ordnen und steuern. Familiennachzug ermöglicht gerade diese Ordnung und Steuerung; denn Familiennachzug geschieht nach festgelegten Kriterien. Wir können uns auch hier im aufnehmenden Land auf den Zuzug der Menschen vorbereiten.
Die SPD ist deswegen mit genau dieser Position in die Koalitionsverhandlungen 2013 hineingegangen und hat erfolgreich durchgesetzt, dass auch subsidiär Schutzberechtigte einen Familiennachzug bekommen. Mit dieser Begründung und mit dieser Haltung gehen wir in alle Debatten und in alle Verhandlungen: Wir halten Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für notwendig und richtig.
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Insofern ist aus SPD-Sicht das Ergebnis der Sondierungen nicht zufriedenstellend. Aber wenn es zu einem Koalitionsvertrag kommt, ist das immerhin – das sage ich ganz deutlich – ein Kompromiss, mit dem Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte wieder möglich werden wird. Der Familiennachzug wäre zahlenmäßig begrenzt – 1 000 Menschen pro Monat; so ist der Plan, wenn es zu einer Koalition und zu einer Mehrheit hier im Bundestag kommt – und verliefe nach klaren und einschränkenden Kriterien. Aber es ist wichtig, dass es überhaupt zum Familiennachzug kommt.
Bestandteil dieses Kompromisses – wir wissen ja nicht, ob er zustande kommt – ist, dass es einen Beschluss geben wird, dass der Familiennachzug zunächst einmal ausgesetzt bleibt, und zwar längstens bis zu einer Neuregelung, für die wir hier im Deutschen Bundestag hoffentlich eine Mehrheit bekommen und über die wir sicherlich engagiert verhandeln werden. Diese Aussetzung soll längstens bis 31. Juli dieses Jahres gelten.
Um die Frist zu wahren, legen die Kolleginnen und Kollegen von der Union bereits heute einen entsprechenden Antrag vor. Ich sage für die SPD ganz deutlich, dass die SPD einer solchen Vereinbarung nur zustimmen wird, wenn darin für die Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs das Datum 31. Juli 2018 ganz fest verankert wird,
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damit wir keine Aussetzung des Familiennachzugs in alle Ewigkeit bekommen, sondern eine klare zeitliche Begrenzung.
Außerdem muss festgeschrieben werden – auch das ist ein ganz wichtiger Punkt für uns –, dass all diejenigen Menschen, bei denen die Möglichkeit auf Familiennachzug nicht gegeben war, die Chance bekommen, ihre Anträge bereits jetzt, ab dem 18. März 2018, zu stellen und dass diese Anträge auch schon bearbeitet werden können.
Herzlichen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Martin Sichert von der AfD-Fraktion zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Asylpolitik ist einst geschaffen worden, um politisch Verfolgten Schutz zu gewähren. Wie es heutzutage in den Asylbewerberheimen zugeht, das hat nichts mit einem freiheitlichen, einem gleichberechtigten oder gar einem toleranten Land zu tun. In den Asylbewerberheimen sind Antisemitismus, Rassismus, Christenverfolgung und die Unterdrückung von Frauen und Minderheiten an der Tagesordnung.
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Sie haben dafür gesorgt, dass wirklich Verfolgte hierzulande wieder den Verfolgern aus ihren Heimatländern ausgesetzt sind. Sie haben das Asylrecht pervertiert, zu einem System der Masseneinwanderung umfunktioniert und damit Asylbewerberheime zu Hotspots der Kriminalität gemacht.
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In Mittelfranken, meinem Heimatbezirk, begehen Asylbewerber gemäß Statistik im Schnitt mehr als siebenmal so viele Straftaten wie Einheimische. In Nürnberg wurde das bundesweit erste Asylbewerberheim für Homosexuelle eröffnet, schlicht weil Homosexuelle in einem normalen Asylbewerberheim verfolgt werden. Sind Sie eigentlich stolz darauf, eine Politik pervertiert zu haben, die einst zum Schutz von wirklich verfolgten Menschen geschaffen wurde?
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Wir sprechen heute über subsidiär Schutzberechtigte, also über jene, die weder persönlich verfolgt sind noch Flüchtlinge sind, sondern die nur temporär nicht in ihr Heimatland zurückgeschickt werden können. Diese Menschen müssen mittelfristig heimkehren. Ein Familiennachzug macht da überhaupt keinen Sinn.
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Sie müssen mittelfristig schon allein deswegen zurückkehren, weil Deutschland mit der Integration heillos überfordert ist. Schuld daran – lassen Sie uns offen reden! – sind Sie alle hier. Sie reden immer von Integration, haben aber überhaupt keine Ahnung, was das bedeutet.
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Die Bundesbeauftragte für Integration, Aydan Özoğuz, ist die oberste Ahnungslose. Ja, sie ist ahnungslos; denn sie gibt ganz offen zu, dass sie keine Ahnung von deutschen Werten hat.
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Von Ihnen allen hören wir beim Thema Integration vor allem eine Diskussion über Essen, über Wohnung, über Arbeit oder über Geldleistungen. Integration bedeutet aber etwas anderes, nämlich die Werte des Landes, in das man kommt, anzunehmen und auch zu leben.
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Es bedeutet für alle, die nach Deutschland kommen, tolerant zu sein, andere als gleichberechtigt anzuerkennen und auch zu behandeln. Es ist eine Schande für dieses Hohe Haus, wenn beim Thema Integration wie gestern über Wiener Schnitzel anstatt über Christenverfolgung und Ehrenmorde gesprochen wird.
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Sie alle, von der Linkspartei bis hin zur FDP, tun Sie unserem Land einen großen Gefallen: Gehen Sie vor dieses Hohe Haus, und schauen Sie sich an, was dort in großen Lettern geschrieben steht, nämlich „Dem Deutschen Volke“.
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Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Haßelmann?
Es ist mein Verständnis von Demokratie, das durchaus zuzulassen. Ja.
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Deswegen werden Sie gefragt.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank auch Herr Kollege Sichert, dass Sie eine Zwischenfrage erlauben. Ich möchte Sie gern fragen, warum Sie gestern bei der Wahl des Parlamentarischen Kontrollgremiums eigentlich nicht anwesend waren oder Ihre Stimme nicht abgegeben haben. Ich habe gehört, dass Sie finden, dass wir das nicht richtig gemacht haben, weil wir Ihren Kollegen nicht unterstützt haben, wobei man ja nicht weiß, wer ihn gewählt hat oder nicht.
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Dem Protokoll des Deutschen Bundestages habe ich entnommen,
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dass zehn Abgeordnete der AfD bei dieser so wichtigen Wahl ihre Stimme nicht abgegeben haben, und Sie waren einer von denen. Deshalb möchte ich Sie gern fragen: Wenn das so bedeutend war, warum waren Sie eigentlich nicht da?
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Darauf kann ich gern antworten: weil es mir gesundheitlich momentan nicht so besonders geht. Deswegen war ich gestern früh nicht dort.
Aber lassen Sie uns noch einmal darüber reden: Wir haben gestern 210 Stimmen gehabt. Das heißt: Selbst wenn noch einmal so viele Abgeordnete der AfD zugestimmt hätten, wäre der Kollege nicht gewählt worden.
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– Bleiben Sie doch bitte stehen!
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Es ist eine Farce, was Sie hier betreiben, nämlich dass Sie tatsächlich verhindern wollen, dass der Kollege Glaser als Vizepräsident gewählt wird.
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Es ist eine Farce, was Sie hier mit dem Parlamentarischen Kontrollgremium betreiben usw.
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Auch die Diskussion über die Sitzordnung hier! Einer der Gründe, warum die AfD in diesem Hohen Hause sitzt, ist, dass die Leute diese politischen Machtspielchen hier leid sind. Es geht um unser Land und um die Politik für unser Land.
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Wir als AfD sind uns der Verantwortung für unser Land bewusst. Wir stehen für Freiheit, für Toleranz, für Gleichberechtigung, für Demokratie und für Rechtsstaatlichkeit.
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Wir wollen nicht noch mehr Parallelgesellschaften und noch mehr Menschen, die unsere Werte ablehnen. Je mehr Menschen Sie über unsere offenen Grenzen ins Land lassen, je mehr Sie mit Familiennachzug hierherholen, umso mehr stärken Sie autokratische patriarchalische Gesellschaften.
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Unsere Position – das sei ganz klar gesagt – hat nichts mit Rassismus, sondern etwas mit Werten zu tun; denn wir wollen auch Menschen wie Linda Wenzel oder andere Deutsche, die sich dem „Islamischen Staat“ angeschlossen haben, nicht zurück.
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Unser Asylsystem wurde für Menschen wie Rana Ahmad geschaffen, die als Atheistin in Saudi-Arabien mit dem Tode bedroht wurde. Sie hat hierzulande den Verein „Säkulare Flüchtlingshilfe“ gegründet, um auch anderen vom Islam unterdrückten Menschen zur Freiheit zu verhelfen. Solche Menschen sind uns deutlich lieber als IS-Bräute wie Linda Wenzel.
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Wer Freiheit, Toleranz, Demokratie und Gleichberechtigung den Rücken kehrt, den wollen und den brauchen wir in Deutschland nicht.
Es ist pervers, dass gerade die linken Parteien immer wieder für massive Einwanderung von Menschen plädieren, deren Weltbild von Rassismus, Unterdrückung von Frauen und Verfolgung von Andersgläubigen geprägt ist. Anstatt mit #MeToo harmlose Flirts zu Skandalen zu erklären,
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sollten Sie lieber dem Großteil der Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Nordafrika hierzulande beibringen, dass man in Deutschland seine Tochter nicht zwangsverheiratet und dass man sie auch nicht umbringt, nur weil sie westliche Freiheiten einfordert. 572 Fälle von Genitalverstümmelung sind im Jahr 2016 allein in Hessen aufgetreten. Machen Sie endlich die Augen auf, und erkennen Sie die wahren Probleme im Land!
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An die Abgeordneten der Union: Können Sie eigentlich noch in den Spiegel schauen, wenn Sie sich hierhinstellen und so tun, als wären Sie für eine Begrenzung der Zuwanderung? Sie wissen so gut wie wir, dass es dafür ein wirksames Mittel gibt, nämlich flächendeckende Grenzkontrollen.
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Sie jedoch halten die Grenzen offen für jeden, der nach Deutschland will.
Wir von der AfD stehen für Rechtsstaatlichkeit
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und wollen ein Asylrecht, das wirklich Verfolgte schützt. Wir sind gegen die weitere Masseneinwanderung von Menschen in unsere Sozialsysteme; denn für uns muss ein Sozialstaat sicherstellen, dass genug für die Bedürftigen im eigenen Land da ist.
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Wir lehnen folglich den Antrag und die Gesetzentwürfe von Grünen, Linken und der FDP ab, da sie die Parallelgesellschaften weiter stärken. Wir stimmen dem Gesetzentwurf der Union zu; denn inhaltlich bewirkt er genau das Gleiche wie der Antrag der AfD. Wir hoffen, dass der Verfasser nicht allzu lang gebraucht hat, um einen anderen Weg zum gleichen Ziel zu finden.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae von der FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, Sie haben von einem großen Thema gesprochen, einer großen Debatte, die aber nach unserer Auffassung auch eine große Vision benötigt, ein konzeptionelles Zu-Ende-Denken des ganzen Themas. Nachdem die Große Koalition es zwei Jahre lang nicht geschafft hat, ein Konzept zu entwickeln, wie wir Einwanderung endgültig und umfassend regeln wollen, fehlt mir der Glaube, dass Sie das in sechs Monaten schaffen.
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Deswegen stellen wir uns eine große Lösung vor: die Neuregelung der Zuwanderung von Menschen insgesamt. Der überwölbende Gedanke dieses Themas muss sein, eine Balance zu finden zwischen Möglichkeit und Menschlichkeit. Wir wollen eine rechtsstaatliche – nicht eine rechte – Lösung, in der wir klare Regeln schaffen, ohne uns abzuschotten.
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All das muss man konzeptionell zu Ende denken.
Wir brauchen eine klare Unterscheidung zwischen dem Asylrecht für Menschen, die persönlich, individuell in ihrer Heimat verfolgt werden, sowie Menschen, die auf der Flucht vor Krieg und Bürgerkrieg sind, und Arbeitsmigration. Wir brauchen eine Regelung für Menschen, die als Arbeitsmigranten für begrenzte Zeit oder dauerhaft zu uns kommen wollen. Das müssen wir nicht fürchten, aber wir müssen es klar ordnen und regeln.
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Heute befassen wir uns mit einem granulären Sonderthema: dem Familiennachzug von Menschen, die subsidiären Schutz für vorübergehende Zeit bei uns bekommen haben. Dazu gibt es keine völkerrechtliche Verpflichtung, das ist weder in der Genfer Flüchtlingskonvention noch in der EMRK noch in der UN-Kinderrechtskonvention noch in der europäischen Familienzusammenführungsrichtlinie festgelegt. Es ist etwas, was mit unserem Grundgesetz zu tun hat.
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Unser Grundgesetz geht weiter als völkerrechtliche Verpflichtungen.
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Deswegen stehen wir zu dieser weiter gehenden Verpflichtung, die das Grundgesetz uns auferlegt.
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Im Jahr 2016 wurde vor dem Hintergrund des großen Zustroms in den Jahren 2015 und 2016 der Familiennachzug ausgesetzt. Jetzt, nach zwei Jahren, stellen Sie überraschend fest, dass eine Frist abläuft, Sie zwei Jahre nichts getan haben und jetzt noch schnell eine neue Regelung finden müssen.
Es sind nicht einmal verlässliche Zahlen darüber zu bekommen, mit welchem Nachzug wir eigentlich zu rechnen haben. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung spricht von 50 000 bis 60 000 Personen, die Regierung geht von 200 000 oder mehr aus. Wir haben keine Ahnung; wir stochern mit der langen Stange im dichten Nebel.
Wir sind der Meinung, dass wir auf die begrenzten Möglichkeiten Rücksicht nehmen müssen. Wir sehen in der Tat die Notwendigkeit, den Familiennachzug kurz vor Fristablauf erneut auszusetzen; denn wir brauchen Zeit, um dieses große Thema, von dem Sie, Herr Minister, gesprochen haben, insgesamt und endgültig konzeptionell neu zu ordnen. Deswegen schlagen wir als Freie Demokraten vor, uns für dieses große Thema Zeit zu lassen und den Nachzug noch einmal für zwei Jahre auszusetzen. Das kann aber bedeuten, dass Familien bis zu vier Jahre getrennt sind. Aus diesem Grund ist aus unserer Sicht eine Korrektur dringend nötig, die dem Gebot der Menschlichkeit Rechnung trägt. Wir müssen Härtefälle berücksichtigen und bei solchen den Familiennachzug ermöglichen.
Eine Zahl von 1 000 Härtefällen, die Sie, Herr Minister, vorschlagen, ist völlig willkürlich gegriffen.
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Wo kommt sie eigentlich her? 1 000 kann einmal zu viel sein, es kann einmal zu wenig sein. Es kann einmal mehr als 1 000 Härtefälle geben, und es kann einmal weniger geben. Das müssen wir ordnen.
Darüber hinaus müssen wir das Thema der gut integrierten Selbstversorger angehen. Wie viele Menschen leben hier im Lande, die sich selbst versorgen, die gut integriert sind, deutsch sprechen, straffrei geblieben sind, vielleicht die F-Jugend im Fußballverein ihres Dorfes trainieren. Das sind doch Menschen – jetzt schimmert schon ein bisschen unser Konzept des Einwanderungsrechts durch –, von denen wir sagen würden: Warum sollen wir solche Menschen, die sich bei uns gut integriert haben, in der Gesellschaft, im Arbeitsmarkt einen Platz gefunden haben, die Steuern zahlen und auch für ihre Angehörigen ein gutes Vorbild sein werden, abschieben?
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Deswegen – damit komme ich zum Schluss – glauben wir: Wir sollten nicht noch einmal herumstöpseln und zu willkürlich gegriffenen Lösungen greifen. Wir brauchen ein Konzept. Dafür brauchen wir Zeit. Insofern ist der Vorschlag der FDP um Welten besser als Ihr Vorschlag.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke von der Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr de Maizière, aber auch andere Kollegen, ich denke, wer hier das Grundrecht auf Familienschutz infrage stellt, spaltet nicht nur unsere Gesellschaft, sondern macht auch jegliche Integration kaputt, und das geht gar nicht.
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Herr Kollege Thomae, ich teile Ihre grundlegende Einschätzung, was die Verfassung und das Grundrecht auf Familie angeht. Aber ich möchte allen hier im Hause einmal an einem Beispiel vorführen, was es eigentlich für einen minderjährigen jugendlichen Flüchtling aus Syrien bedeutet, wenn er oder sie keinen Familiennachzug bekommt: 2013 in den Kriegswirren von der Familie getrennt, nach langer Flucht 2015 endlich in Deutschland angekommen, dann ein Jahr warten auf eine Asylentscheidung, um dann die Familie nachholen zu können, dann die Entscheidung: subsidiärer Schutz, also vorübergehend für ein Jahr. Wir haben hier schon gehört: Gerade die Flüchtlinge aus Syrien werden über lange Zeit bleiben. Das ist auch unsere Einschätzung. Für unseren Flüchtling folgt dann die Aussetzung des Familiennachzugs im März 2016 für zwei Jahre. Härtefälle scheitern in der Regel. Dann, im Jahre 2018 – das Kind ist schon fünf Jahre von der Familie getrennt –, soll eine weitere Familienzusammenführung nicht folgen.
Meine Damen und Herren, das heißt: weiter warten, hoffen auf die Staffelung aus den Sondierungsgesprächen. Inzwischen naht der 18. Geburtstag. Das Recht auf Familiennachzug ist dann verwirkt, und wahrscheinlich wird dieser Jugendliche seine Familie über lange Jahre nie wiedersehen. An diesem Punkt kann ich nur sagen: Jedes Kind, jeder Jugendliche braucht seine Eltern, und die Eltern brauchen ihre Kinder, wenn sie wirklich integriert werden sollen. Dafür müssen wir hier kämpfen.
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Im Übrigen: Wie soll dabei überhaupt funktionieren, ein Kriegstrauma – Schutzsuchende werden mental dadurch zerstört – zu behandeln?
Frau Kollegin, ich bitte um Entschuldigung. Gestatten Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen der AfD-Fraktion?
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Nein. – Die Konsequenz Ihrer Politik ist eben, dass Familien zerrissen werden, Flüchtlinge auch schon in den Tod getrieben wurden. Ich habe hier einmal das Beispiel angeführt, wie Frau und Kinder im Mittelmeer ertrunken sind, weil eine Familie es nicht mehr ausgehalten hat. Es ist meines Erachtens auch von vielen Studien belegt worden, wie wichtig gerade die Familienzusammenführung für die Integration ist. Sie gehört ganz eindeutig dazu. Kirchen, NGOs fordern: Bitte, macht endlich die Familienzusammenführung wieder möglich. – Das wird hier einfach ignoriert.
Die Menschen, die helfen, haben mit der Bürokratie in Deutschland größte Schwierigkeiten. Sie sind frustriert und werden abgeschreckt, sodass sich manche nicht weiter engagieren. Auch das ist nicht hinnehmbar.
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Herr Innenminister, wir reden hier über 60 000 Menschen, die zuziehen würden. Das Ergebnis der Sondierungsgespräche für die GroKo ist, dass die Familien weiterhin fünf Jahre warten müssen, bis sie hierherkommen können. Ich halte das ganz klar für verfassungswidrig. Damit missachten Sie den Grundsatz des Schutzes der Familie ganz eindeutig.
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Da möchte ich auch noch einmal an die SPD appellieren. Wie kann es sein, dass Sie sich auf einen so faulen Kompromiss einlassen? Sie wissen ganz genau, wie die Zahlen aussehen, und Sie wissen auch ganz genau, was das im Einzelnen bedeutet.
Zum Schluss möchte ich noch ganz kurz darauf eingehen, dass die Union nicht einmal den Fachausschuss beraten lassen will,
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sondern im Hauruckverfahren am Montag der nächsten Sitzungswoche eine Anhörung im Hauptausschuss durchführen will, also nicht im Fachausschuss. Ich finde diese Durchzockerei unmöglich. Wir brauchen eine vernünftige Beratung mit Sachverständigen und keine Durchzockerei. Durch diesen Umgang mit den 60 000 Menschen machen Sie eine Politik in diesem Land, die unerträglich ist und die tatsächlich dazu führt, dass hier weiterhin Vorurteile geschürt werden, und vor allen Dingen dazu, dass diese Gruppe stigmatisiert wird. Die Linke steht ganz klar dafür, den Familiennachzug sofort wieder zuzulassen, damit endlich Humanität eintritt.
Ich danke Ihnen.
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Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Frau Göring-Eckardt.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nein, man kann nicht den Eindruck haben, es geht heute um den Familiennachzug – leider. Seien Sie ehrlich: Die Frage, ob Integration gelingt, diskutieren wir heute gar nicht – leider. Auch die Frage, ob Ehepaare, ob Familien zusammengeführt werden, ob Kinder wieder zu ihren Familien kommen, diskutieren wir heute nicht – leider. Das Ganze ist zu einer Symboldebatte geworden: Wie gehen wir eigentlich heute in Deutschland mit Flucht und Integration um? Ich sage Ihnen: Dieser Umgang mit Flucht und Integration hat nichts mehr mit dem zu tun, was wir in unserer Demokratie, was wir in unserem Land an Offenheit, an Freiheit, an Verlass auf Grundrechte und den Rechtsstaat erreicht haben, meine Damen und Herren.
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Genau darum geht es. Sie haben den Familiennachzug ausgesetzt, Herr de Maizière. Frau Högl hat gesagt, das sei ein Menschenrecht; man müsse in das Grundgesetz schauen.
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Jetzt setzen Sie ihn aber nicht einmal nur aus, sondern Sie schaffen ihn ab. Das steht in dem Gesetzentwurf, der heute vorliegt. Das ist der kategoriale Unterschied: Aus Menschenrecht wird Gnadenrecht, meine Damen und Herren.
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Das hat nichts mehr mit dem zu tun, was unser Land ausmacht.
Ich habe das Gefühl, dass die drei potenziellen Koalitionsparteien nur noch Getriebene sind. Die einen lassen sich von gigantischen Zahlen treiben. Frau Aigner von der CSU hat von bis zu 7 Millionen Menschen gesprochen. Andere sprechen von 100 000. Ich verlasse mich lieber auf das, was das Auswärtige Amt gesagt hat. Das Auswärtige Amt hat gesagt: 120 000 können wir im Jahr überhaupt nur bewältigen. Selbst das wäre planbar, und es wären nicht die peinlichen und überhaupt nicht untersetzten 12 000 Menschen, von denen Sie hier reden. Wenigstens so viel Realismus, so viel Menschlichkeit könnte man doch von Ihnen erwarten, meine Damen und Herren.
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Es geht offensichtlich um Angst. Es geht offensichtlich auch der SPD nicht mehr darum, etwas zu lösen.
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Ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie sich schon wieder hinter die Fichte führen lassen. Im Jahr 2016 war es doch schon einmal so. Sie haben immer lamentiert, dass Herr de Maizière und die CDU/CSU Ihnen nicht die Wahrheit gesagt haben. Damals hieß es, die subsidiär Geschützten seien doch keine Syrer; das seien doch überhaupt nur ganz wenige. Hinterher hat sich dann herausgestellt: Doch; es waren eben gerade die syrischen Geflüchteten. Es waren eben gerade diejenigen, bei denen man nicht davon ausgehen kann, dass sie schnell nach Damaskus zurückkehren. Wer sich die Nachrichtenlage einmal anschaut, weiß das auch. Um diese Menschen geht es. Nein, sie können nicht bald zurückkehren.
Die Frauen und Kinder sitzen in Libyen. Wie lange muss das eigentlich dauern? Wie lange muss man eigentlich in Haft sein in Libyen? Wie lange muss man sich versklaven lassen? Wie lange muss man nicht für seine Kinder sorgen können? Wie lange dauert es, bis man ein Härtefall ist? Was ist, wenn es mehr als 1 000 im Monat sind? Wie lange muss man denn in Libyen bleiben? Wie lange muss man in so einem Knast bleiben, den der Bundesaußenminister als „Lager“ bezeichnet hat?
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Wenn ich mir diese Debatte anschaue, kann ich nur sagen: Was Sie hier abschaffen, ist ein Menschenrecht. Zu Ihren großen Beteuerungen, man würde mit dem 31. Juli 2018 einen guten Kompromiss eingehen, sage ich Ihnen, Frau Högl: Nein, das ist kein guter Kompromiss. Es muss zwar irgendwie eine Regierung gebildet werden; das wollen wir, schon allein aus Erschöpfung, wahrscheinlich inzwischen alle, auch die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Aber jeder, der am Sonntag abstimmt, muss sich folgende Frage stellen: Wofür stimme ich eigentlich ab, wenn es um das Zusammenleben von Familien in unserem Land geht? Geht es um zwei verschiedene Klassen von Familien, geht es um unterschiedliche Familien, oder ist Familie gleich Familie?
Man muss nicht Papst Franziskus heißen, um sich zu fragen: Wo bleibt Ihr Mitgefühl? Mir würde es schon völlig reichen, wenn Sie ins Grundgesetz schauen oder sich einfach fragen: Was wäre denn, wenn es mein Kind, mein Enkelkind, meine Frau, mein Mann wäre? Keine Landtagswahl in Bayern und auch kein Parteitag kann wichtiger sein als diese Frage.
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Sie ist eminent politisch, weil es um unser Grundgesetz geht, und sie ist menschlich. Das ist keine Schande. Eine Schande wäre es, sich diese Frage nicht zu stellen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Stephan Harbarth von der CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der heutigen Debatte ist ausgeführt worden, dass ohne Familiennachzug keine Integration möglich sei. Meine Fraktion geht von einer anderen Prämisse aus: Für CDU und für CSU ist Flüchtlingsschutz zunächst und vor allem Schutz auf Zeit, und der Familiennachzug muss sich dabei nach unseren Aufnahmemöglichkeiten richten.
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Dies geschieht nicht aus einem Mangel an Mitgefühl, sondern wir weil wissen, dass Bundespräsident Gauck recht hatte, als er sagte: „Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich.“
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Der Umfang des Familiennachzugs zu Schutzberechtigten, mit dem Deutschland in den nächsten Jahren konfrontiert sein wird, kann nur mit einem mehr oder minder plausiblen Näherungswert beziffert werden, weil im Asylverfahren nicht erhoben wird, ob der Antragsteller über eine Familie im Ausland verfügt. Alle Berechnungen sind mit Unsicherheiten verbunden. Aber es steht fest, dass 2016/2017 deutlich mehr als 250 000 Menschen als subsidiär schutzberechtigt anerkannt wurden und im Falle des Auslaufens der bestehenden Regelung Familienangehörige nachziehen könnten.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat immer wieder dargelegt, dass bereits die Belastungen durch den Nachzug zu unter die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention fallenden Schutzberechtigten für die Kommunen außerordentlich hoch sind, und hat dementsprechend mehr als einmal an den Bundestag appelliert, die Aussetzung des Nachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten zu verlängern.
Seinen Grund hat dies auch darin, dass leider eine ganze Reihe von Bundesländern von der Möglichkeit der Wohnsitzauflage keinen Gebrauch gemacht hat und sich Schutzbedürftige stark auf bestimmte Ballungsgebiete konzentrieren. Wir verlängern deshalb zunächst die Aussetzung und werden bis zum 31. Juli 2018 eine Neuregelung verabschieden, die künftig nur einen sehr begrenzten Nachzug aus humanitären Gründen vorsieht.
Deshalb sind wir auch anderer Auffassung als die Freien Demokraten. Wir glauben nicht, dass es der richtige Weg ist, zu sagen, wir muten allen Beteiligten einen weiteren zweijährigen Schwebezustand zu.
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Das ist unzumutbar für die Flüchtlinge, das ist unzumutbar für die Kommunen. Wir sind nicht dafür gewählt worden, Dinge zu vertagen, sondern dafür, über Dinge zu entscheiden, und das werden wir in diesem Jahr tun.
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Für uns ist auch die europäische Situation ein zentrales Argument. Es besteht keine völker- oder europarechtliche Verpflichtung, subsidiär Schutzberechtigten einen privilegierten Nachzug zu gewähren. Jeder Staat schafft sein eigenes Recht. Deshalb sieht etwa die Rechtslage in Österreich, in den Niederlanden, in Schweden, in Finnland oder Tschechien nur einen konditionierten Nachzug, zum Teil erst nach Ablauf einer längeren Frist, vor. Dasselbe gilt etwa für die Schweiz. Mit anderen Worten: Der privilegierte Familiennachzug wäre ein ganz wesentlicher Anreiz für eine Antragstellung in Deutschland. Das würde Asymmetrien in der Flüchtlingsverteilung in Europa vertiefen; es würde eine starke Magnetwirkung zulasten Deutschlands entfalten, und genau das wollen wir nicht.
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Die Große Koalition hat konsequent und erfolgreich dafür gearbeitet, den Zustrom von Flüchtlingen deutlich zu senken. Wir wollen alles dafür tun, dass die Zahl der Flüchtlinge dauerhaft niedrig bleibt und die Zuwanderung auf ein Maß begrenzt wird, das die gesellschaftliche Akzeptanz und Integrationsfähigkeit nicht übersteigt. Deshalb wollen wir nicht, dass dies durch einen unbeschränkten Nachzug konterkariert wird.
Herzlichen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Burkhard Lischka von der SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor gut zwei Jahren arbeitete Khalid noch als Maurer in Syrien. Er hatte den Militärdienst des Assad-Regimes hinter sich, und als junger Familienvater befürchtete er Tag für Tag, wieder an die Waffe gepresst und in den Krieg geschickt zu werden. Daher hat er sich Anfang 2016 mit seiner hochschwangeren Frau und der achtjährigen Tochter auf den Weg gemacht.
In der Türkei kam das zweite Kind zur Welt. Die Familie schaffte es dennoch bis nach Griechenland und strandete im Flüchtlingslager Idomeni. Die Familie verabredete dort, dass Khalid sich zunächst allein auf den Weg macht und später Frau und Kinder nachholt. Er schafft es. Er stellt einen Asylantrag in Deutschland und erhält subsidiären Schutz.
Meine Kollegin Kirsten Lühmann kümmert sich hier in Deutschland um ihn. Sie stellt einen Kontakt zu einem ehemaligen deutschen Zollbeamten her, der in Griechenland lebt. Er holt Frau und Kinder in sein Zuhause in Griechenland. Über ein Jahr lang überweisen meine Kollegin und ein weiterer hilfsbereiter Mensch Geld für Medikamente, Nahrung, Kleidung und Windeln nach Griechenland.
Das Schlimmste ist abgewehrt, doch Khalid sehnt sich nach über einem Jahr nach seiner Frau und seinen Kindern. Inzwischen, nach knapp zwei Jahren, ist die Familie zusammen, nicht über Familienzusammenführung, nicht über Visa, sondern die Familie hat sich selbst auf den Weg gemacht.
Herr Kollege Lischka, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sichert?
Nein, das mache ich nicht, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Ich finde inzwischen Ihre Zwischenfragen genauso originell wie die immer gleiche Krawatte Ihres Fraktionsvorsitzenden.
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Meine Damen und Herren, es geht um Menschen wie Khalid, über die wir hier heute reden, um viele Einzelschicksale, die uns nicht unberührt lassen sollten. Denn wir wissen: Einer unserer Grundwerte ist die Achtung der Familie. Nirgendwo sonst wird unsere Gesellschaft so zusammengehalten wie in der Familie – nicht in Werkhallen, nicht in Büros, nicht in Schulen und nicht in Vereinen. Insofern heißt es im Grundsatzprogramm der CSU von 2007 folgerichtig: „Ehe und Familie sind Keimzellen menschlichen Zusammenhalts.“ Das stimmt, aber, meine Damen und Herren, das gilt überall auf der Welt.
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Ich füge hinzu: Grundwerte einer Gesellschaft lassen sich nicht auf Dauer aussetzen. Ansonsten verlören wir unseren Kompass.
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Ehemann und Ehefrau gehören zusammen, genau wie Kinder zu ihren Eltern gehören. Es gibt keine Teilzeitfamilien, keine Teilzeitelternschaften und auch keine Teilzeitehen.
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Der Familiennachzug ist eine sehr kontrollierte Form der Zuwanderung. Man kann nicht einfach so kommen, sondern man benötigt dafür ein Visum, auf das man viele Monate, oft sogar Jahre warten muss. Das bedeutet, die Angehörigen werden nach und nach eintreffen. Ihr Zuzug lässt sich steuern und vorbereiten. Man kann ihn gerade am Anfang auch an Bedingungen knüpfen wie das Vorliegen einer schweren Erkrankung beispielsweise oder den Betreuungsbedarf besonders junger Kinder. Daher ist es gut, dass wir im Sommer den Familiennachzug wieder zulassen.
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Bitte sehr, man kann sich lange und zu Recht darüber unterhalten, ob 12 000 Menschen, die über den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte pro Jahr kommen, eine angemessene Zahl sind. Es ist immerhin mehr als das, was ich aus den Jamaika-Verhandlungen gehört habe. Es ist eine Zahl, die uns angesichts von 82 Millionen Einwohnern nun wirklich nicht überfordert. Viele Samstagsspiele in der dritten Fußballbundesliga haben an einem Tag mehr als 12 000 Zuschauer.
Der Familiennachzug ist auch im deutschen Interesse. Wie sollen Menschen lernen, Deutschland und seine Werte zu achten, wenn dieses Deutschland ihnen auf Dauer die Familie verweigert?
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Deshalb: Lassen Sie uns den Familiennachzug organisieren und steuern; lassen Sie uns integrieren statt dramatisieren. Der Familiennachzug ist integrationspolitisch sinnvoll, realpolitisch verkraftbar und moralisch geboten.
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Jetzt erteile ich das Wort der Abgeordneten Dr. Frauke Petry.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden offenbar über die Fraktionsgrenzen hinweg von verschiedenen Dingen heute Morgen. Deswegen möchte ich meine zwei Minuten Redezeit nutzen, um Klarheit zu schaffen, warum die Frage, um die es geht, Frau Göring-Eckardt, nicht so sehr eine Frage des individuellen Falles ist, Herr Lischka, und auch keine Frage von Fußballspielen, sondern eine Frage des Rechtsstaats und der Fähigkeit, zwischen individuellen Entscheidungen, zwischen Moral und Recht zu differenzieren.
Wir sind der Gesetzgeber, und wir haben darüber zu entscheiden, was für dieses Land gut und richtig ist. In den vergangenen Jahren wurden Asyl und Zuwanderung permanent verwechselt. Häufig wollten Sie ganz bewusst nicht differenzieren zwischen Flüchtlingen und all den Ableitungen daraus, zwischen Asylbewerbern und illegalen Migranten. Deshalb ist es höchste Zeit, dies endlich zu tun und den Bürgern darüber reinen Wein einzuschenken, dass das Parlament und die Regierung in den vergangenen Jahren gerade hinsichtlich einer Differenzierung versagt haben und dass dieses Versagen ein Ende haben muss.
Herr Bundesminister de Maizière, es ist richtig, dass wir dringend eine Begrenzung des Familiennachzugs brauchen. Konsequent wäre, wenn Sie nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner mit der SPD fänden, sondern merkten, dass es in diesem Hohen Hause eine ganze Reihe von Abgeordneten gibt, die einer sehr viel konsequenteren Regelung zustimmen würden. Aber dies bedeutete Kompromisse über Parteigrenzen hinweg, und wir alle wissen, wie schwierig das ist.
Auch ich werde dem Gesetzentwurf der Union zustimmen, allerdings unter Schmerzen, weil ich eine Aussetzung bis zum 31. Juli dieses Jahres für zu wenig halte; aber sie ist besser als nichts, im Sinne der Bürger, im Sinne des Rechtsstaates und hoffentlich im Sinne einer zukünftigen Regelung, die endlich wieder differenziert: zwischen einer notwendigen geregelten Einwanderung und dem, was ein Gnadenrecht des Staates werden sollte, dem Asylrecht.
Danke schön.
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Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stephan Mayer von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es geht bei der Debatte, die wir heute führen, Frau Kollegin Göring-Eckardt, um weit mehr als nur um ein Symbolthema. Es geht aus meiner Sicht um die entscheidende Frage, ob wir weiter erfolgreich Kurs halten bei unserer Strategie der klaren Steuerung, aber auch der Begrenzung der Zuwanderung in unser Land.
Wir waren in den letzten beiden Jahren außerordentlich erfolgreich; das möchte ich an dieser Stelle betonen. Wir hatten im letzten Jahr nur ein Fünftel so viele Asylbewerber wie 2015. Das ist ein klarer Erfolg, und der kommt nicht von ungefähr; denn er resultiert – darauf dürfen wir von der vormaligen Großen Koalition durchaus ein Stück weit stolz sein – aus richtigen gesetzgeberischen Weichenstellungen. Wir haben das Asylpaket I und das Asylpaket II verabschiedet sowie ein Datenaustauschverbesserungsgesetz, ein Integrationsgesetz, das sich wirklich sehen lassen kann, und ein Gesetz zur Einstufung mehrerer Länder als sichere Herkunftsstaaten, und wir haben Grenzkontrollen eingeführt. Also: Der Umstand, dass wir im letzten Jahr nur 200 000 humanitäre Migranten und damit nur ein Fünftel der Zahl von 2015 hatten, ist ein Erfolg der Großen Koalition.
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Jetzt geht es bei der Frage des Familiennachzugs darum, ob wir im Jahr 120 000 Personen nachziehen lassen wollen. Ich sage ganz offen: Das wäre aus meiner Sicht eine deutliche Überforderung unserer Kommunen. Deswegen sehen wir uns bei dem Gesetzentwurf, den wir heute einbringen, im Einklang mit dem Deutschen Städte- und Gemeindebund. Das wäre eine Überforderung des Arbeitsmarktes und auch eine Überforderung des Wohnungsmarktes.
Ich bin der festen Überzeugung, sehr verehrte Frau Kollegin Högl und sehr geehrter Herr Kollege Lischka, dass der Kompromiss, der vor einer Woche gefunden wurde, durchaus gut und sehenswert und im Sinne aller drei Verhandlungspartner ist. Es bleibt bei der Festlegung, dass es keinen individuellen Anspruch für eingeschränkt schutzbedürftige Personen auf Familiennachzug gibt; aber wir schaffen eine durchaus großzügigere Härtefallregelung als bisher. Es gibt ja schon heute eine Härtefallregelung nach § 22 Aufenthaltsgesetz. Von dieser Härtefallregelung haben bislang pro Jahr aber – das ist wirklich bedenklich – weniger als 100 Personen Gebrauch gemacht. Deswegen glaube ich, dass diese Kontingentierung auf 12 000 Personen im Jahr durchaus angemessen und sachgerecht ist, insbesondere um schwere Härtefälle abzubilden. Und die gibt es.
Herr Kollege Mayer, Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche. Gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Selbstverständlich.
Vielen Dank, dass Sie mir die Zwischenfrage erlauben. – Ich durfte in dieser Woche Vertreter der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft treffen. Die haben mir interessanterweise erzählt, dass 50 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverträge, die von Angehörigen ihrer Vereinigung neu abgeschlossen werden, mit ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern abgeschlossen werden. Und sie sagten, das reicht noch nicht. Es geht vor allem um Rumänen und Bulgaren.
Ich gebe Ihnen ja recht, dass die Kommunen nicht überfordert werden dürfen. Aber muss man daraus nicht schließen, dass wir sowieso mehr in Integration investieren müssen, dass wir den Kommunen sowieso helfen müssen, Kinder zu beschulen, die nicht Deutsch können? Wäre das nicht der richtige Weg? Wäre das nicht besser, als zu sagen, wir setzen den Familiennachzug aus? Der Schutz der Familie gilt für alle, auch wenn das hier immer bestritten wird, für alle Familien, egal welchen Schutzstatus sie haben; denn sie bleiben Vater und Mutter, egal ob sie als Kriegsflüchtling anerkannt sind oder nur wegen der Kriegswirren nicht in ihr Land zurückkönnen. Also, ist es nicht falsch, zu sagen, die Kommunen können das nicht leisten? Müssten Sie sich nicht mehr anstrengen, um dafür zu sorgen, dass die Kommunen das leisten können?
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Sehr verehrte Frau Kollegin, ich bin Ihnen für die Frage sehr dankbar, weil sie mir die Gelegenheit gibt, stärker zu differenzieren. Ich bin der festen Überzeugung, man sollte das eine tun, ohne das andere zu unterlassen. Wir müssen klaren Kurs halten bei der Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung in unser Land. Deshalb sind wir als CDU/CSU – darauf haben wir uns gemeinsam verständigt – für eine weitere Aussetzung des Familiennachzugs bei subsidiär schutzberechtigten Personen. Aber wir sind auf der anderen Seite auch sehr wohl der Auffassung – ich habe das Bundesintegrationsgesetz genannt, das wir gemeinsam mit der SPD in der letzten Legislaturperiode erarbeitet und verabschiedet haben –, dass wir mehr tun müssen, um die Menschen, die eine dauerhafte Bleibeperspektive haben, schnellstmöglich in unsere Gesellschaft und vor allem auch in die kommunalen Strukturen und den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Im letzten Jahr haben wir allein als Bund deutlich über 600 Millionen Euro für Integrationsmaßnahmen ausgegeben. Daneben machen auch die Bundesländer sehr viel. Sie haben den Freistaat Bayern genannt. Allen Unkenrufen zum Trotz muss man hier unumwunden feststellen: Keines der 16 Bundesländer macht so viel in puncto Integration von Flüchtlingen wie der Freistaat Bayern.
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Ich bin vor allem der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, die Sie genannt haben, sehr dankbar dafür, dass die bayerischen Wirtschaftsunternehmen sich beispielsweise bereit erklärt haben, 60 000 Ausbildungs- und Praktikumsplätze für Flüchtlinge anzubieten. Das ist ein erfolgreicher Schritt in Richtung gute Integration.
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Aber das bedeutet im Umkehrschluss doch nicht, dass wir nicht klaren Kurs halten müssen, um unsere Strukturen nicht zu überfordern.
Ich bin der festen Überzeugung, dass eine zügellose und unumschränkte Zulassung des Familiennachzugs zu subsidiär schutzberechtigten Personen eine Überforderung darstellen würde.
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Ich möchte dazusagen: Es handelt sich hier um einen Personenkreis, der einen eingeschränkten Schutzstatus hat, etwa um Personen, die vor einem Bürgerkrieg fliehen, sodass wir als deutsche Gesellschaft zu Recht auch die klare Erwartung an den Tag legen dürfen, dass diese Personen Deutschland wieder verlassen, wenn der Bürgerkrieg beendet ist. Bei diesem Personenkreis ist also keine langfristige, nachhaltige Integration in unser Land angedacht und intendiert.
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Deshalb, meine sehr verehrte Kollegin, passen beide Punkte, die Sie genannt haben, durchaus zusammen. Man muss bei diesem Thema eben differenzieren. Das fällt manchem in diesem Haus nicht immer ganz leicht. Holzschnittartige, polemische und hetzerische Parolen bringen uns hier nicht weiter.
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Man muss beides tun: Auf der einen Seite müssen wir uns um die Integration derer, die eine dauerhafte Bleibeperspektive haben, kümmern. Auf der anderen Seite müssen wir sicherstellen, dass wir unsere Strukturen, unseren Arbeitsmarkt und unsere Bildungseinrichtungen, etwa die Schulen, nicht überfordern.
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Herr Kollege Mayer, die Präzision Ihrer Antwort führt dazu, dass es den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage gibt, und zwar von der Kollegin Polat. Gestatten Sie auch die?
Selbstverständlich, sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Mayer, wie erklären Sie sich, dass sich die Entscheidungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge mit der Einführung der Einschränkung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte beispielsweise bei Syrerinnen und Syrern diametral zur Entscheidungspraxis nach der Genfer Flüchtlingskonvention entwickelt hat, da die entsprechende Zahl um 40 Prozent zurückgegangen ist , während gleichzeitig die Zahl der Personen mit dem Status als subsidiär Schutzberechtigte um 40 Prozent gestiegen ist? Kann es sein, dass die Entscheidungspraxis des BAMF mit Ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Einschränkung des Familiennachzugs zu tun hat und Sie damit die Entscheidungspraxis des BAMF dahin gehend beeinflusst haben, dass jetzt immer auf den subsidiären Schutz abgestellt wird?
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Sehr verehrte Frau Kollegin, ich möchte in aller Entschiedenheit dem Eindruck entgegentreten, dass die Entscheidungspraxis des BAMF politisch beeinflusst worden ist.
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Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BAMF entscheiden nach Recht und Gesetz und nicht aufgrund von politischer Einflussnahme oder Indoktrination. Es gibt klare Parameter und eine klare gesetzliche Normierung, nach der sich bemisst, ob ein Antragsteller als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder als subsidiär Schutzberechtigter anerkannt wird.
Um Ihren Einwurf aufzugreifen: Das ist kein Zufall, sondern die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für die ich an dieser Stelle eine Lanze brechen möchte, entscheiden nach Recht und Gesetz. Dabei bleibt es. Ich möchte dem Eindruck, den Sie hier zu insinuieren versucht haben, deutlich entgegentreten, dass sich aufgrund gesetzgeberischer Veränderungen wie beispielsweise der Aussetzung des Familiennachzugs die Entscheidungspraxis beim BAMF geändert habe. Dem ist definitiv nicht so.
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Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, aus meiner Sicht ist der mit der SPD gefundene Kompromiss besser, als er teilweise dargestellt wird. Ich glaube, auch und gerade Sie, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, können mit diesem Kompromiss durchaus gut leben, weil er in Zukunft insbesondere in begründeten Härtefällen bzw. in bestimmten Ausnahmefällen auch bei eingeschränkt schutzbedürftigen Personen einen Familiennachzug ermöglicht.
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Ich denke da insbesondere an solche Fälle – es gibt sie immer wieder; an viele Mitglieder dieses Hauses werden sie in Sprechstunden oder bei anderer Gelegenheit herangetragen –, in denen Familienangehörige schwer oder schwerst erkrankt sind. Kein vernünftiger, christlich denkender, humanistisch ausgerichteter Mensch wird es einer Familie verweigern und verwehren können, dann, wenn ein Familienangehöriger schwerst erkrankt ist, vielleicht lebensbedrohlich erkrankt ist, die Familie zusammenführen zu lassen. Dafür haben wir diese Härtefallregelung geschaffen, allerdings unter bestimmten Kautelen wie beispielsweise, dass die Ehe vor Beginn der Flucht geschlossen wurde und dass es sich natürlich nicht um Gefährder oder um Personen, die schwer straffällig geworden sind, handeln darf.
Ich bin der festen Überzeugung: Der Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung beraten, kann sich sehen lassen. Wir sollten ihn schnell im parlamentarischen Verfahren vorantreiben. Es gibt vonseiten der CDU/CSU-Fraktion die klare Zusage – das darf ich abschließend sagen –, dass wir dieses Gesetzgebungsverfahren zeitnah und zügig durchführen wollen. Wir haben das klare Ziel, die bis zum 31. Juli dieses Jahres geltende Neuregelung, die wir vereinbart haben, in Kraft zu setzen. Ich hoffe, dass dies bei allen Beteiligten so Unterstützung findet.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht nur die Zuwanderungsfrage bewegt die Öffentlichkeit, sondern auch die sich häufenden Meldungen, dass ganz offensichtlich längst Volljährige offiziell als Minderjährige geführt werden, und das nicht nur in Einzelfällen.
Wie ist die Lage? Seit 2005 werden alle unbegleiteten Minderjährigen, die sich in Deutschland melden, der Jugendfürsorge überstellt, die sie in ihre Obhut nimmt. Die Zahlen waren anfangs noch überschaubar, sind dann aber natürlich stark gestiegen. Jetzt sollen es um die 56 000 Menschen sein – dies macht ungefähr die Hälfte derer aus, die sich überhaupt in der Obhut der Jugendbehörden befinden –, über 90 Prozent davon junge Männer.
Nach Mitteilung der Bundesregierung belaufen sich die Kosten pro Person je nach Fall zwischen 3 000 und 10 000 Euro im Monat. Nach Mitteilung des Bundesverwaltungsamtes sind durchschnittliche Kosten von 5 250 Euro pro Kopf und Monat zu bezahlen. Erzählen Sie das jemandem, der sich jeden Morgen um 4 Uhr oder 5 Uhr aus dem Bett quält, den ganzen Tag arbeitet und dann mit 1 500 Euro brutto nach Hause geht. Derjenige darf das bezahlen.
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Wenn man das zusammenzählt, kommen jährliche Kosten von etwa 3,7 Milliarden Euro auf den Haushalt zu.
Die Anreize, sich der Obhut der Jugendfürsorge zu unterstellen, sind gewaltig. Verglichen mit dem, was einen in Turnhallenlagern erwartet, ist die Versorgung Spitzenklasse, und es gibt eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Daneben ist man de facto sicher vor einer Abschiebung. Das geht nämlich de facto nicht, sondern nur theoretisch. Ein Mensch, der als Minderjähriger erfasst ist, hat durch die Anwendung des Jugendstrafrechts auch dramatische Vorteile, wenn er kriminell ist. Es hat schon mehr als einen Oberbürgermeister gegeben, der Hilferufe an die Regierung gerichtet hat, weil seine Stadt von minderjährigen kriminellen Schutzsuchenden terrorisiert wird.
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An der zuverlässigen Feststellung einer etwaigen Volljährigkeit führt also kein Weg vorbei. Nach bereits durchgeführten Untersuchungen sowohl im In- als auch im Ausland hat man mit einer Quote von 30 bis 80 Prozent Lügnern zu rechnen.
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Eine solche Untersuchung ist auch zuverlässig möglich. Der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Montgomery, hat das bestritten. Daraufhin bebte das Land, und zwar wegen des homerischen Gelächters der Gerichtsmediziner,
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für die das nämlich eine Standarduntersuchung bzw. -aufgabe ist. Die forensische Altersdiagnostik gibt es seit Ewigkeiten. Professor Schmeling, der diese Arbeitsgemeinschaft leitet, hat aus Anlass dieser Diskussion noch einmal darauf hingewiesen, dass es selbstverständlich kein Problem ist, festzustellen, ob jemand über oder unter 18 Jahre alt ist.
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Das genaue Geburtsdatum kann natürlich keiner feststellen. Es geht hier aber um die Frage der Volljährigkeit, und es ist überhaupt kein Problem, das festzustellen. Falls eine Röntgenaufnahme des Handgelenks gemacht werden müsste, würde die Strahlenbelastung in etwa der bei einem Atlantikflug entsprechen. Weshalb das ethisch nicht vertretbar sein soll, ist nicht nachzuvollziehen. Wer in der U-17-Mannschaft mitspielen will, muss sein Alter auch untersuchen lassen. Da schreit auch keiner, dass das unethisch ist.
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Die Lösung kann also nur darin bestehen, eine gesetzliche Verpflichtung einzuführen, die den mit diesen jungen Ausländern befassten Ausländer- und Asylbehörden übertragen wird. Sobald eine Minderjährigkeit möglich erscheint, müssen sie verpflichtet sein, eine solche Untersuchung unverzüglich innerhalb einer kurzen Frist durchführen zu lassen. Abgesichert werden muss das durch eine Kostentragungspflicht dieser Behörden, die, wenn sie das versaubeuteln, für die Kosten der Luxusunterbringung aufzukommen haben.
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Das wird den Behördenleitern Beine machen, und die machen ihren Leuten dann Beine. So funktioniert das.
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Wer sich weigert, bei dem hat eine gesetzliche widerlegbare Vermutung der Volljährigkeit zu greifen. Wir machen uns hier die Anregung des grünen Oberbürgermeisters Boris Palmer sehr gerne zu eigen.
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Anders als die Mehrheit dieses Hauses beurteilen wir eine Idee nicht danach, wer sie äußert, sondern danach, ob sie gut ist, und diese Idee ist gut.
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Schließlich und endlich ist eine Strafbarkeit für diejenigen einzuführen, die falsche Angaben zu ihrem Alter machen. Diese Strafe muss, damit das funktioniert, mindestens sechs Monate betragen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und bitte, zuzustimmen.
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Jetzt erteile ich der Kollegin Nadine Schön von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weltweit sind über 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Hälfte davon sind Kinder und Jugendliche. Viele fliehen gemeinsam mit ihren Eltern, aber immer mehr Kinder und Jugendliche machen sich auch alleine auf die gefährliche Reise. Allein in Deutschland sind von 2010 bis 2016 laut dem Statistischen Bundesamt insgesamt über 116 000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Obhut genommen worden. Für sie gilt das Jugendhilferecht. Maßnahmen, um Traumata zu überwinden, schnell unsere Sprache zu lernen, in die Schule zu gehen und sich in unsere Gesellschaft integrieren zu können, sind bei Jugendlichen intensiver als bei Erwachsenen. Das ist richtig und nicht zuletzt eine Verpflichtung, die wir aufgrund der UN-Flüchtlingskonvention und der UN-Kinderrechtskonvention haben.
Fakt ist aber auch: Die besondere Behandlung ist auch besonders aufwendig und natürlich besonders kostenintensiv. Deshalb ist es aus Sicht meiner Fraktion, der Unionsfraktion, wichtig, dass wir hier keine Sozialromantik betreiben, sondern nur den Menschen helfen, die wirklich Hilfe brauchen. Das heißt, dass nur diejenigen die besondere Behandlung für minderjährige Schutzbedürftige bekommen können, die tatsächlich minderjährig und schutzbedürftig sind.
Jetzt könnte man ja meinen, die AfD und wir hätten hier ein gemeinsames Anliegen. Aber liest man den Antrag bzw. den Gesetzentwurf der AfD und hört man die Reden im Bundestag dazu, und zwar nicht nur heute, sondern auch in den letzten Tagen, dann wird einem schnell klar, dass auch dieses Mal nur ein Aufhänger gesucht wurde, um pauschal gegen Flüchtlinge zu hetzen und sie zu diffamieren.
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Ich empfehle wirklich jedem, einmal den Antrag bzw. den Gesetzentwurf der AfD zu lesen. Darin ist nur die Rede von Kostenverursachern, von Lügnern, von Schwerverbrechern und Kriminellen. Dass es dabei auch um Menschen geht, um Kinder und Jugendliche, die mehr Schlimmes erlebt haben als jeder von Ihnen und jeder von uns sich vorstellen kann – sie haben gesehen, wie ihre Häuser zerbombt und ihre Familien getötet wurden, wie ihre Mütter vergewaltigt und ihre Schwestern verschleppt worden sind; sie haben vielleicht selbst körperliches und seelisches Leid erfahren –, davon ist in Ihren Texten und in Ihren Reden kein einziges Wort zu lesen und zu hören. Kein einziges Wort!
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Der Gesetzentwurf, den Sie Mitte der Woche verschickt haben, kommt völlig ohne das Wort „Hilfe“ aus. Er ist ein Konglomerat von polemischen Aussagen und wirklich fremdenfeindlicher Prosa. Dann schaffen Sie es nicht einmal, diesen inhaltlich schlechten Gesetzentwurf formal richtig einzubringen. Deshalb müssen wir heute Ihren Antrag beraten und nicht Ihren Gesetzentwurf.
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Ich möchte sagen: Das ist doch ziemlich peinlich.
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Frau Kollegin Schön, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Frau von Storch?
Ja, gerne.
Bitte sehr.
Nur eine ganz kurze Frage: Sind Sie der Ansicht, dass bei Minderjährigen, bei denen wir Zweifel haben, dass sie minderjährig sind, diese Minderjährigkeit überprüft werden sollte oder nicht?
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Bitte bleiben Sie stehen, weil ich Ihre Frage gerne beantworten möchte.
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Ja, meine Fraktion und ich sind der Meinung, dass bei Minderjährigen überprüft werden muss, ob sie minderjährig sind oder nicht.
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Dafür brauchen wir keine Nachhilfe der AfD-Fraktion.
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Wir haben bereits 2015 ein Gesetz eingebracht, mit dem alle Möglichkeiten der Altersfeststellung erlaubt werden, auch die medizinische Untersuchung.
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Da wir gesehen haben, dass diese Möglichkeit von den Jugendämtern nicht genutzt wird, haben wir bereits im November vorgeschlagen – schon lange vor Ihren Gesetzentwürfen, schon lange vor der öffentlichen Diskussion; das können Sie gerne in meiner eigenen Pressemeldung vom November 2017 nachlesen –, bundesweit einheitliche Verfahren und Standards festzulegen. Damit kann ich Ihre Frage ganz klar beantworten: Wir sind dafür, eine Altersfeststellung zu machen
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und dass wir die Jugendhilfe nur denjenigen zugestehen können, die tatsächlich minderjährig sind.
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– Wenn Sie eine Nachfrage haben, beantworte ich sie gerne.
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– Nein, wir stimmen Ihrem Antrag nicht zu, weil Ihr Antrag nämlich nur eine Seite der Medaille beleuchtet. Ihr Antrag ist von der Wortwahl und auch vom Inhalt her sehr polemisch. Das Wort „Hilfe“ kommt überhaupt nicht vor.
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Ihr Antrag ist weit weg davon, auch nur in die Nähe einer ausgewogenen Lösung zu kommen. Wir sind für eine klare Altersfeststellung und für eine klare Trennung zwischen minderjährigen und nicht minderjährigen Flüchtlingen. Wir sind aber im Gegensatz zu Ihnen auch dafür, dass denjenigen geholfen wird, die Schutz und Hilfe benötigen. Davon ist in Ihrem Antrag überhaupt nicht die Rede.
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Natürlich fragen sich viele Menschen in Deutschland, wieso es nach den Zahlen, die jetzt bekannt geworden sind, so ist, dass etwa ein Drittel derjenigen, die von der Jugendhilfe derzeit betreut werden, gar keine Minderjährigen sind. Das liegt nicht daran, dass die Gesetzeslage zu schwach ist – das habe ich eben in meiner Antwort auf die Frage der Kollegin gesagt –: 2015 haben wir bereits auf Bundesebene ein Gesetz geschaffen, das alle Möglichkeiten der Altersfeststellung, auch der medizinischen, eröffnet. Dies wird aber vor Ort in den Jugendämtern und in den Kommunen sehr unterschiedlich gehandhabt. Ein Jugendamt, das sowieso schon sehr belastet ist, das nicht jeden Tag eine Altersfeststellung durchführt und das durch die öffentlich kontrovers geführte Debatte bezüglich des medizinischen Verfahrens geprägt ist, winkt gerne einmal jemanden durch, bei dem eigentlich eine medizinische Altersfeststellung durchgeführt werden müsste. Wir sind der Meinung: Das darf nicht sein.
Deshalb sollten wir den Blick auf Regionen bzw. Länder werfen, wo das gut funktioniert. Als Beispiel nenne ich mein Heimatbundesland, das Saarland. Im Saarland werden alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in eine Vorclearingstelle gebracht, und dort wird zentral das Alter der Flüchtlinge festgestellt. Wenn das nicht direkt erkennbar ist, auch nicht anhand der Ausweispapiere, dann muss eine medizinische Altersfeststellung durchgeführt werden. Im Zweifel wird sogar ein Gerichtsmediziner herangezogen. Das führt dazu, dass im Saarland bei etwa einem Drittel derjenigen, die sich für minderjährig erklären, festgestellt wird, dass sie nicht minderjährig sind. Sie fallen natürlich aus der Jugendhilfe heraus.
Dieses einheitliche Verfahren, also weg von den einzelnen Jugendämtern, ist der Weg, den wir gemeinsam mit der SPD für die nächsten vier Jahre vereinbart haben. Wenn es zu einer Koalition kommt, dann werden wir überall in Deutschland diese AnkER-Zentren errichten, also gemeinsame Stellen, wo die Identität der Flüchtlinge und auch das Alter der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge unter Ausschöpfung aller medizinischen Möglichkeiten geklärt werden können. Damit schaffen wir neue Kapazitäten und Freiräume in den Jugendämtern und lassen die Hilfe denjenigen zugutekommen, die sie wirklich brauchen. So schaffen wir es, dass die zugegebenermaßen sehr teuren Jugendhilfeverfahren nicht für Menschen durchgeführt werden, die keinen Anspruch darauf haben. Dies ist eine ausgewogene und richtige Vorgehensweise. Dafür brauchen wir keine polemischen Anträge und keine tendenziösen Gesetzentwürfe der AfD.
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Wir gehen das Thema sachlich und ohne Polemik an. Daher bitte ich um Ihre Zustimmung für unseren Ansatz.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Gülistan Yüksel von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In ihrem Antrag fordert die AfD die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, welcher Altersfeststellungen für begleitete und unbegleitete junge Flüchtlinge verbindlich vorschreibt, wenn die „behauptete Minderjährigkeit ... nicht gegeben ist“.
Zuerst einmal vorweg: Die Altersfeststellung bei unbegleitet minderjährigen Flüchtlingen ist bereits gesetzlich verbindlich geregelt. In der letzten Legislaturperiode haben wir in § 42f SGB VIII bereits ein zielführendes abgestuftes Verfahren zur Altersfeststellung von jungen Flüchtlingen beschlossen. Dabei werden zunächst etwaige Ausweispapiere oder ähnliche Dokumente gesichtet. Fehlen diese oder wird an den Angaben gezweifelt, führen Fachkräfte eine sogenannte qualifizierte Inaugenscheinnahme durch. Hierbei wird der Gesamteindruck des jungen Menschen gewürdigt und der Entwicklungszustand erfasst. Auskünfte jedweder Art können eingeholt, Zeugen und Sachverständige vernommen, Dokumente und Akten einbezogen werden. Bestehen weiterhin Zweifel, ist im Gesetz die Veranlassung einer medizinischen Untersuchung vorgesehen. Weigert sich der Betroffene, sich einer Untersuchung zu unterziehen, kann das Jugendamt die Leistungen entziehen. Allein die Behauptung, minderjährig zu sein, reicht also nicht aus, um die Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen.
Mit dem gestuften interdisziplinären Verfahren haben wir 2015 einen richtigen und wichtigen Schritt gemacht. Das Verfahren entspricht kinderrechtlichen sowie europäischen und völkerrechtlichen Vorgaben und nutzt unterschiedliche Untersuchungsmethoden, um sich dem Alter so gut wie möglich anzunähern. Der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf sieht Hamburg, das immer wieder als Vorreiter genannt wird, übrigens nicht in einer Sonderrolle, sondern sagt: Wir halten uns nur ans Gesetz. – Es existiert also ein klar aufgeführtes und einheitliches Verfahren. Falls die Evaluation des Gesetzes zeigen sollte, dass Umsetzungsdefizite in der Praxis bestehen und Nachbesserungen erforderlich sind, stehen wir dem offen gegenüber.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Altersfeststellung muss unter Einbehaltung des Kindeswohls sowie unter Achtung der Menschenwürde und der körperlichen Integrität erfolgen.
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Die im Antrag geforderten Genitaluntersuchungen sind aufgrund unserer Verfassung ausgeschlossen, was auch richtig ist.
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Die große Mehrheit der Fachwelt spricht sich gegen eine obligatorische medizinische Altersfeststellung aus. Wie schon öfter angeführt, ist eine exakte Feststellung des Alters auch medizinisch nicht möglich.
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Das haben auch alle meine Vorredner gesagt. Es wird immer eine Ungenauigkeit geben.
Der Deutsche Ärztetag, die Bundesärztekammer und die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin seien hier stellvertretend für viele andere genannt, die sich deshalb nachdrücklich dagegen aussprechen. Der Präsident der Deutschen Ärztekammer sieht das Röntgen zur Altersfeststellung als Körperverletzung, da die Strahlen gerade Kinder und junge Menschen in hohem und unnötigem Maße belasten. Ich zitiere:
Es gibt für diese Untersuchungen keine medizinische Notwendigkeit, dabei sollte die immer höchstes Gebot ärztlichen Handelns sein.
Dem gibt es nichts hinzuzufügen.
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Wenn ich den Antrag der AfD lese, frage ich mich, ob irgendeiner glaubt, dass medizinische Altersfeststellungen Gewaltverbrechen verhindern würden. Glaubt irgendeiner, ein Mensch begeht keine Straftat, weil in seinem Ausweis 18 und nicht 15 Jahre steht? Glaubt irgendeiner, obligatorische Röntgen- oder Genitaluntersuchungen verhindern Gewalttaten?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
Nein, weil die sich sowieso nicht ändern. Sie bleiben bei ihrem Standpunkt.
({0})
Ich möchte gerne weiter fortführen.
({1})
Niemand sollte Gewaltverbrechen missbrauchen und das Leid und die Trauer der Menschen instrumentalisieren, um Stimmung zu machen und gegen andere zu hetzen.
({2})
Ich möchte noch kurz darauf hinweisen, dass unser Strafgesetzbuch bereits die Möglichkeit gibt, in Zweifelsfällen eine medizinische Altersfeststellung anzuordnen, um so zwischen Erwachsenen- und Jugendstrafrecht entscheiden zu können. Eine obligatorische medizinische Altersfeststellung ist weder erforderlich noch zielführend.
({3})
Sie verletzt das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Grundgesetz
({4})
und ist nicht mit der UN-Kinderrechtskonvention vereinbar.
({5})
Der Antrag der AfD ist mit rechtspopulistischer Symbolpolitik durchzogen, die an der Realität vorbeigeht. Wenn Sie anstelle des Jugendamtes das für Verbrechensbekämpfung zuständige Bundeskriminalamt bei der Altersfeststellung von unbescholtenen Menschen hinzuziehen wollen, tun Sie das, was Sie gerne tun: Sie bedienen Vorurteile und schüren Ängste, um so unsere Gesellschaft zu spalten.
({6}) – Dr. Alice Weidel [AfD]: Bleiben Sie bei der Sache!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns vielmehr um gelingende Integration, gute psychologische Betreuung und die Einbindung in die Gesellschaft bemühen.
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Dabei ist gerade auch die Unterstützung von jungen Menschen über die Volljährigkeit hinaus wichtig: die Integration in Schule und Bildung.
Der 15. Kinder- und Jugendbericht fordert eine stärkere Berücksichtigung der Lage junger Volljähriger in unserem Land und empfiehlt, eine Infrastruktur zu schaffen, durch die junge Volljährige auch nach Beendigung dieser Hilfen weitere Unterstützung finden können. Dem schließe ich mich ausdrücklich an. Wir dürfen Kinder und Jugendliche nicht alleinlassen. Denn was wir heute im Kinder- und Jugendalter versäumen, fällt uns später teurer auf die Füße.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Richard von Weizsäcker hat einmal gesagt: „Menschlichkeit ist nicht teilbar.“ Deshalb: Lassen Sie uns einfühlsam und mitmenschlich bleiben und nicht dem Hass nachgeben, der in unserer Welt leider immer mehr um sich zu greifen scheint.
({9})
Das ist vielleicht der anstrengendere Weg, aber es ist der einzige Weg, der uns als Menschen und als Gesellschaft gemeinsam weiterbringt und zusammenhält.
Herzlichen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Matthias Seestern-Pauly von der FDP-Fraktion zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der heutigen Debatte geht es um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und im Besonderen um deren Alter. Wir müssen eine Lösung finden, wie wir im Zweifel das Alter bestimmen können. Leider ist die heutige Debatte wieder geprägt von Generalisierung und dumpfen Pauschalierungen.
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Das aber bringt uns in der Sache keinen Schritt weiter. Für meine Fraktion und mich ist völlig klar, dass Kinder und Jugendliche einen Anspruch auf besonderen Schutz haben. Dies gilt für alle Kinder und Jugendlichen, egal welcher Herkunft.
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Klar ist aber auch: Wer besonderen Schutz und Leistungen in Anspruch nehmen will, muss hierzu nachweislich berechtigt sein. Diese Feststellung ist dringend notwendig, da eine Einstufung als Minderjähriger weitreichende Konsequenzen nach sich zieht, beispielsweise bei der Unterbringung, der Betreuung, der Höhe der Sozialleistungen und der Bleibeperspektive. Daher ist es für mich umso bemerkenswerter, dass es in den Bundesländern sehr unterschiedliche Vorgehensweisen gibt, dass es also keine vergleichbaren Ergebnisse bei der Altersfeststellung gibt. Angesichts dessen spreche ich mich für die Einsetzung einer Expertenkommission aus. Wir können nur durch eine Diskussion in der Sache und nicht mit blindem Populismus zu einer bundeseinheitlichen Regelung gelangen.
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Dann hängt die Feststellung der Minderjährigkeit nicht mehr vom jeweiligen Bundesland ab. Diese Gerechtigkeit schulden wir den Jugendlichen, aber auch unserer rechtsstaatlichen Ordnung.
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Außerdem sollte aus unserer Sicht eine objektive medizinische Einschätzung des Alters möglich sein. Wenn ein bundeseinheitliches Verfahren, wie wir es fordern, nach einer sogenannten qualifizierten Inaugenscheinnahme das Alter nicht zweifelsfrei klären kann, muss eine medizinische Einschätzung vorgenommen werden. Auf diese Weise werden wir sicherlich nicht jeden Einzelfall klären können. Aber wir werden eine deutliche Eingrenzung der Zweifelsfälle ermöglichen.
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In diesem Zusammenhang möchte ich einen kurzen Auszug aus dem Bericht der Landesjugendhilfeplanung 2017 des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung zitieren. Dort heißt es:
Die individuellen Erfahrungen und Strategien der Fachkräfte reichen im Rahmen der Altersfeststellung von Aussagen, dass das Alter eigentlich nicht zu erkennen sei, bis hin zu der Selbstbeobachtung: „Mit der Zeit bekommt man ein Gefühl dafür.“
Eine so weitreichende Entscheidung für zum Teil stark traumatisierte Menschen auf der Grundlage eines Gefühls zu treffen, reicht mir ausdrücklich nicht.
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Außerdem sollte die Altersfeststellung der jungen Flüchtlinge erfolgen, bevor sie auf die Jugendämter vor Ort verteilt werden.
Das Wohl der tatsächlich Schutzbedürftigen steht für mich und meine Fraktion im Mittelpunkt. Dies sollte die Grundlage für unsere Debatte in Deutschland sein. Für mich geht es um eine Versachlichung dieses hochemotionalen Themas. Das Wohl der Kinder und Jugendlichen ist mir wichtiger als politische Stimmungsmache.
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Das muss unser gemeinsamer Konsens werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner ist der Kollege Norbert Müller von der Fraktion Die Linke.
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Guten Morgen, sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Gäste! Die AfD-Fraktion blamiert sich mit ihrem Antrag auf zwingende Altersfeststellung bei minderjährigen Flüchtlingen – egal ob begleitet oder unbegleitet – nach Strich und Faden. Warum? Ich möchte Ihnen vier Gründe nennen.
Erstens war sie offenbar gar nicht in der Lage, ihren großangekündigten Gesetzentwurf fristgerecht einzubringen. Nun haben Sie Ihren Gesetzentwurf in einen Antrag umgewandelt, damit Sie hier wenigstens nicht mit leeren Händen dastehen; das wäre ein wenig peinlich gewesen. Großspurig wollen Sie andere zum Jagen tragen, und dann scheitern Sie hier an den simpelsten Regeln. Das ist ein Trauerspiel.
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Zweitens – das ist viel ernster –: Sie verstoßen systematisch gegen Recht, nämlich gegen die UN-Kinderrechtskonvention, gegen die EU-Aufnahmerichtlinie und gegen das Grundgesetz. Für eine zwingende medizinische Altersfeststellung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gibt es gegenwärtig gar keine Rechtsgrundlage. Selbst dann, wenn Sie es irgendwann einmal hinbekommen, Ihren Gesetzentwurf hier ordentlich einzubringen, und wenn er angenommen werden würde – was nicht passieren wird, wie wir nach dieser Debatte wissen –, wäre er schlicht verfassungswidrig, EU-rechtswidrig und verstieße gegen internationale Kinder- und Menschenrechte.
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Die EU-Aufnahmerichtlinie regelt zwar, dass das Alter eines minderjährigen Flüchtlings auch medizinisch festgestellt werden kann – aber eben nur kann. Die Europäische Union legt in der Aufnahmerichtlinie ausdrücklich klar, dass bei fortbestehendem Zweifel von Minderjährigkeit auszugehen ist. Das ist auch vernünftig, weil sonst die Gefahr droht, dass man einen Minderjährigen, der fälschlicherweise volljährig geschätzt wird, als Volljährigen behandelt, obwohl er in Wahrheit ein Kind ist. Damit verstoßen Sie wiederum gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Sie wissen ganz genau: Deutschland hat sie ratifiziert. 2011 ist sie voll in Kraft getreten. Ein solcher Verstoß wäre schlichtweg rechtswidrig.
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Aber genau das bezweckt die AfD-Fraktion mit ihrem Antrag.
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Kinderrechte und Menschenrechte – da können Sie jetzt ruhig lachen – sind Ihnen schlicht egal, erst recht, wenn es um die Menschenrechte und die Kinderrechte der von Ihnen so verabscheuten Flüchtlinge geht.
Drittens. Sie glauben ernsthaft, dass man das Alter eines Menschen exakt, also präzise, bestimmen kann. Das ist besonders absurd, weil Sie im Gegenzug Dokumente, die das Alter eines Geflüchteten belegen, am liebsten gar nicht akzeptieren wollen. Bundesärztekammer, Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, das Deutsche Kinderhilfswerk, SOS-Kinderdorf, alle drei kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbände, Terre des Hommes, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, alle seriösen Fachleute bestreiten, dass man das exakte Alter ermitteln kann.
Dabei haben wir in Deutschland drei Verfahren zur medizinischen Altersfeststellung:
Ein Verfahren ist das Röntgen der Hand. Dieses Verfahren ist hochumstritten, weil die Referenzwerte für Knochenvermessungen aus den USA der 30er-Jahre stammen. Der statistische Fehler bei einem 17-jährigen männlichen Jugendlichen liegt bei über 15 Monaten. Wenn man, was die Unionsfraktion, insbesondere die CSU-Landesgruppe, teilweise gefordert hat, möglichst das exakte Geburtsdatum bestimmen will, dann muss man bedenken: Der statistische Fehler bei einem 17-jährigen männlichen Jugendlichen liegt bei fünf Jahren. Dieser Jugendliche kann also 12 Jahre alt sein; er kann aber auch 22 Jahre alt sein. Das heißt, dieses Verfahren ist vollständig ungeeignet.
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Hinzu kommt, dass der Präsident der Bundesärztekammer Montgomery noch einmal deutlich gemacht hat, dass das Röntgen ohne medizinische Indikation ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist.
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Womöglich sagen Sie: Das macht das Klinikum Hamburg-Eppendorf. – Ja, das stimmt. Das Klinikum Hamburg-Eppendorf sagt aber: Wir machen das natürlich nur freiwillig. – Das Landesjugendamt Hamburg sagt: Wenn die Jugendlichen zu dieser Freiwilligkeit nicht bereit sind, gehen wir automatisch von Volljährigkeit aus. – Das ist ein Witz. Es verstößt gegen jede Form ethischer Standards in der Medizin. Dagegen wenden sich die Bundesärztekammer und auch der Deutsche Ärztetag.
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Aber Ihr eigentlicher Liebling scheint das zu sein – Sie wollen das explizit –, was die „taz“ bereits im Sommer 2015 berichtete und seitdem in Deutschland keine Praxis mehr ist: „Schwanzvergleich bestimmt das Alter.“ Verzeihen Sie, Herr Präsident, das sind Worte aus der Presse und nicht meine. Die „taz“ berichtete damit über eine sehr verdienstvolle Anfrage der FDP-Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft. Sie machte nämlich öffentlich, dass man in Hamburg mit Beschau des Genitals und der weiblichen Brust das Alter eines minderjährigen Flüchtlings exakt festzustellen glaubte. Deswegen ist in die Stellungnahme der Bundesregierung zur Begründung des Umverteilungsgesetzes aufgenommen worden, dass das in Zukunft in Deutschland auszuschließen ist. Die deutsche Bundesärztekammer wehrt sich explizit dagegen, dass Penis oder Brust betastet werden, um festzustellen, wie alt Jugendliche sind.
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Viertens. Sie täuschen Ihre eigene Klientel, weil Sie mehr Sicherheit versprechen. Das ist natürlich blanker Unsinn. So werden keine Straftaten verhindert. Wir brauchen eine Stärkung der Kinder- und Jugendhilfe. Da ist im Bund in den letzten Jahren zu wenig passiert. Wir brauchen die Ausweitung der Hilfen für junge Volljährige, gerade für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die mit 18 eben nicht aus allen Hilfsangeboten heraus sein sollen. Es ist völlig inakzeptabel, dass Kinder und Jugendliche, die unbegleitet sind, aus der Jugendhilfe herausfallen, wenn sie volljährig werden. Gerade sie müssen wir besonders schützen.
Letzter Gedanke, Herr Präsident. – Das sage ich auch in Bezug auf die vorherige Debatte: Wir brauchen den Familiennachzug gerade für diese Gruppe, weil er Integration erleichtert, weil wir damit viele aus der Kinder- und Jugendhilfe herausbekommen und weil diesen Jugendlichen nichts Besseres passieren kann. Was wir nicht brauchen, sind verstümperte Anträge der AfD-Fraktion, die nur Stimmung gegen Geflüchtete machen will.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Katja Dörner von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Gäste! Wer den Antrag kennt und wer den Wortbeitrag des Herrn von der AfD verfolgt hat, der erkennt auf den ersten Blick: Es geht nicht darum, die Validität der Altersfeststellung zu verbessern; es geht darum, Stimmung gegen junge Geflüchtete zu machen. Ich finde das schäbig, liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allem vor dem Hintergrund, dass viele dieser jungen Menschen traumatische Erlebnisse durch Krieg und Gewalt mit sich tragen, die wir alle hier im Raum uns überhaupt nicht vorstellen können.
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Um erst gar keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Selbstverständlich ist es notwendig, dass der Staat, dass unsere Behörden die Identität derer kennen, die sich in Deutschland aufhalten, und das betrifft natürlich auch das Alter junger Geflüchteter. Aber Fakt ist: Mit der Gesetzeslage gibt es überhaupt kein Problem. § 42f SGB VIII, der da heißt „Behördliches Verfahren zur Altersfeststellung“, regelt alles Notwendige. Ich zitiere einmal aus dem Gesetz, insbesondere auch für Frau von Storch, die jetzt gar nicht mehr da ist: Das Jugendamt hat „in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen“. – Das ist die Gesetzeslage.
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Wichtig ist, liebe Kolleginnen und Kollegen: Im SGB VIII ist das Verfahren zur Altersbestimmung genau richtig angesiedelt, weil es in den Händen derer liegt, die tatsächlich etwas davon verstehen, nämlich in den Händen der Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe.
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Die Altersbestimmung ins Asyl- und Aufenthaltsgesetz ziehen zu wollen und dann auch noch mit Strafandrohung herumzufuhrwerken, das ist aus unserer Sicht genau der falsche Weg. Ich lese im Antrag auch noch, dass sich das BKA, das Bundeskriminalamt, zukünftig um die Altersfeststellung kümmern soll. Das ist völlig absurd. Das BKA wird sich bedanken, wenn es sich mit Mann und Maus von morgens bis abends mit solchen Dingen beschäftigen soll.
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Die AfD macht hier immer ein Riesenbrimborium um – angebliche – Sicherheit. Derartig absurde Vorschläge zeigen, wer das Sicherheitsrisiko in Deutschland tatsächlich ist.
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Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nun gibt es auch Streit um die Methode der Altersbestimmung. Hier würde ich sagen: Es bietet sich immer an, auf Leute zu hören, die wirklich Ahnung vom Thema haben, und das ist in allererster Linie die Ärzteschaft. Die Bundesärztekammer lehnt Alterstests für junge Geflüchtete ausdrücklich ab, und zwar aus ethischen Gründen, aber auch schlicht deshalb, weil es keine medizinisch unzweifelhafte Methode gibt, die eindeutige und unzweifelhafte Ergebnisse bringt. Herr Reusch, ein Rechtsmediziner ist nicht die Rechtsmedizin. Das ist ein Fehler, den die AfD dauernd macht.
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Ich bin dem Präsidenten der Bundesärztekammer sehr dankbar, dass er sich mit einem so klaren Statement in die Debatte eingebracht hat und klargestellt hat, dass es sich beispielsweise beim Röntgen ohne medizinische Indikation um einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit handelt. Deshalb kann das immer nur das letzte Mittel zur Feststellung sein. Die Ethikkommission der Bundesärztekammer hat sowohl die Zulässigkeit als auch die Verfassungskonformität von ärztlichen Altersfeststellungsverfahren zu Recht angezweifelt.
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Deshalb ist es richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich am Leitfaden der Landesjugendämter zu orientieren. Die setzen auf einen Methodenmix, und damit werden die Rechte der jungen Geflüchteten und das berechtigte Kenntnisinteresse der Behörden in ein vernünftiges Verhältnis zueinander gesetzt.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Kinder und Jugendliche – das ist hier heute schon ein paarmal gesagt worden – haben ein Recht auf besonderen Schutz und Unterstützung. Das gilt selbstverständlich auch für junge Geflüchtete. An die Adresse der Union und der SPD will ich sagen: Es reicht nicht, im Sondierungspapier zu schreiben: „Die UN-Kinderrechtskonvention gilt“, wenn wenige Sätze später die Planungen dafür dargelegt werden, auch geflüchtete Kinder und Jugendliche, also Minderjährige, zu internieren und sie dieses besonderen Schutzes der Kinder- und Jugendhilfe zu berauben.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die AfD erzählt immer viel von jungen Geflüchteten, die kriminell sind. Die gibt es, und selbstverständlich müssen Straftaten auch geahndet werden. Aber gerade die vielzitierte Studie von Professor Pfeiffer belegt den sehr engen Zusammenhang zwischen Perspektivlosigkeit und Kriminalität. Das ist übrigens bei deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen gar nicht unterschiedlich. Deshalb brauchen junge Geflüchtete Zugang zu Bildung, zu Ausbildung, auch wenn sie nicht auf Dauer in Deutschland bleiben. Wir sollten viel mehr über Integration reden, weniger über Abschreckung und über die Frage, ob ein junger Mensch 17 Jahre und 10 Monate oder 18 Jahre und 2 Monate alt ist.
Der Antrag der AfD ist aus unserer Sicht völlig überflüssig, er ist schädlich. Wir lehnen eine solch perfide Stimmungsmache gegen junge Geflüchtete ab.
Vielen Dank.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Marcus Weinberg von der CDU/CSU-Fraktion.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich will eines zu Ihrer Masche sagen, nachdem ich Sie gestern und heute beobachtet habe. Gestern melden Sie ein Thema an – „Freiheit und Gleichheit von Frauen“ – und kommen relativ schnell zum Thema Kandel und dem Bereich Ausländerpolitik. Heute melden Sie das Thema „Altersfeststellung von jungen geflüchteten Migranten“ an und kommen relativ schnell über die Sprache zu den Themen „volkswirtschaftlicher Schaden“, „Lügner“ etc.
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Für uns als Union steht eines fest: Das Thema Altersfeststellung von jungen geflüchteten Personen ist ein wichtiges Thema. Ich stimme den Kollegen der FDP ausdrücklich zu, dass wir dieses Thema versachlichen müssen; das steht außer Frage. Aber außer Frage steht für uns auch: Wenn man Ihren Antrag liest, Ihre Rede hört, Ihre Sprache identifiziert, stellt man fest, dass das mit unseren Grundwerten einer freiheitlich-christlichen Grundordnung nichts zu tun hat, sondern dass es weitestgehend Hetze gegen Ausländer ist. Das werden wir als solches nicht unterstützen.
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Die Kollegen haben es angesprochen: Wir reden hier im Kern über Kinder.
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Wir haben nicht nur eine UN-Kinderrechtskonvention, sondern auch eine Sozialgesetzgebung. Dabei sind Herkunft oder Geschlecht und Ähnliches für uns nicht relevant. Gerade geflüchtete Kinder verdienen unseren Schutz, unser Vertrauen und unsere Zuwendung.
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– Sie nicken, das nehme ich gerne zur Kenntnis. – Es ist unsere Aufgabe, ihnen dieses zu geben.
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Deutschland zeigt diesen Menschen gegenüber Solidarität und Anstand – aber: Das betrifft Kinder.
Das Ausnutzen des besonderen Schutzes für Kinder durch Erwachsene, die gegebenenfalls falsche Altersangaben machen, ist auch für uns nicht hinnehmbar.
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Wird die Großzügigkeit des Staates durch Unberechtigte ausgenutzt, höhlt das die Hilfsbereitschaft und die Offenheit unserer Gesellschaft aus. Das werden wir nicht hinnehmen.
Ihr Antrag insgesamt ist aus unserer Sicht in seiner Sprache menschenverachtend,
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weil Sie nur Misstrauen und Anklage formulieren und nicht zum Thema kommen.
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– „Volkswirtschaftlicher Schaden“ steht im Antrag, dann Ausnutzung und es diene der Abwehr von Gefahren. Es ist also nur eine Anklage und ein Misstrauen jungen Menschen gegenüber.
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Deswegen will ich zu dem kommen, was wir in den letzten Jahren gemacht haben. Nadine Schön hat schon angesprochen, dass das Saarland mit dem Vorclearingverfahren einen sehr klugen Weg gegangen ist. Ich kann als Hamburger sagen – das ist für die Sozialdemokraten vielleicht ganz interessant –, dass wir ein besonderes Verfahren, das „Hamburger Modell“, haben, das vom Institut für Rechtsmedizin am UKE unterstützt und durchgeführt wird. Ähnliches gilt für die Regelung, die in Bayern getroffen wurde.
Ganz interessant – nur am Rande notiert –: Die CSU in Bayern, die SPD in Hamburg und die CDU im Saarland haben hierzu gemeinsame, kluge Vorgehensweisen entwickelt. Mit Blick auf Sonntag wäre das, was wir in den Sondierungen verhandelt haben – nämlich diese Ankersysteme bundesweit zu implementieren –, ein gangbarer Weg.
Herr Kollege Weinberg, jemand aus der AfD würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, gerne.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Sehr geehrter Herr Kollege, als man das Alter von angeblich minderjährigen Flüchtlingen beispielsweise in Dänemark feststellte, waren 75 Prozent von denen über 18 Jahre. Wieso sind Sie der Meinung, dass dann in Deutschland ein gewisses Misstrauen menschenverachtend wäre?
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Eines müssen Sie wissen: Ja, in Dänemark waren es 75 Prozent. Wir haben im Saarland 35 Prozent, in Hamburg 40 Prozent falscher Altersangaben. Das ist ein Problem, und dieses Problem müssen wir angehen.
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Aber 60 Prozent von denen waren minderjährig. Sie diffamieren diejenigen, die minderjährig sind. Bei uns gibt es eine ganz klare Aussage: Wir wollen die Kinder schützen und haben gewisse Vorgaben, wie wir Kinder in Deutschland betreuen. Bei denjenigen, wo es nicht stimmt, werden wir das über Verfahren entsprechend regeln.
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Ich glaube, dass wir mit dem Sondierungspapier als Ergebnis der Sondierung richtig liegen. Wir haben – auch das wurde angesprochen – schon Ende 2015 in der Gesetzgebung den § 42f im Sozialgesetzbuch VIII dahin gehend verändert, dass das Jugendamt die Minderjährigkeit feststellen muss und medizinische Überprüfungen anordnen kann. Warum das nicht so erfolgt, wie wir uns das vorgestellt haben, dafür mag es viele Gründe und Ursachen geben. Ich habe es schon angesprochen: Jetzt wird man dahin kommen müssen, dass man sozusagen die Kompetenzen bündelt, dass man die Verfahren klarer macht. Das muss man aber sehr sorgsam machen. Auch da kann ich dem Kollegen der FDP nur zustimmen: Es gilt weiterhin, dass wir bei all den Maßnahmen, die wir entwickeln, den Schutz der Kinder in den Vordergrund stellen. Die geplanten ANkER-Einrichtungen sind vor diesem Hintergrund, glaube ich, gut und sinnvoll.
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Abschließend muss noch einmal gesagt werden: Für uns in der Union – ich glaube, dass weite Teile des Plenums uns dabei unterstützen – besteht die Herausforderung jetzt darin, das Ganze deutlich zu verbessern. Es muss aber auch ganz klar gesagt werden – das meine ich mit der Formulierung, was man in Ihrem Antrag zwischen den Zeilen liest –:
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Reines Misstrauen darf es nicht geben. Reines Misstrauen wird es mit uns nicht geben;
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denn wir stehen zu einer humanen Gesellschaft mit einem christlichen Menschenbild. Das unterscheidet uns von Ihrem Ansatz.
Vielen Dank.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Frieser von der CDU/CSU-Fraktion.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist notwendig, dass man in dieser Debatte, die vielleicht deshalb emotional aufgeladen ist, weil es um Menschen geht, auf bestimmte Dinge hinweist. Es ist berechtigt, dass man das tut. Ich bitte aber darum, dass man dieser Aufgeregtheit, die hier durch einen Antrag der AfD inszeniert wird, nicht noch auf den Leim geht.
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Ich glaube, das Haus wusste auch bisher schon, wie man mit solchen Themen gut umgehen kann. Wir haben dazu auch Beispiele aus den Ländern gehört. Ich glaube, wir sind auch zukünftig in der Lage, das unaufgeregt und im Sinne der Menschen, auch der Minderjährigen, umzusetzen – auch ohne Antrag der AfD.
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Auf der einen Seite muss man schon sagen: Man muss erkennen und bewusst dazu stehen, dass es sich um eine Problemsituation handelt. Auf der anderen Seite geht es nicht um das Dramatisieren von Zahlen. Es geht auch um mehr als nur die Buchstaben des Gesetzes und des Rechtes. Es geht darum, dass diese Gesellschaft Menschen ein Schutzversprechen gibt: Wer minderjährig ist, steht unter dem besonderen Schutz dieses Staates. Deshalb muss erkannt werden, und zwar im Groben: Handelt es sich hier um Minderjährige, oder handelt es sich hier nicht um Minderjährige? Insofern sind wir, glaube ich, gut beraten, zu den eigentlichen Wurzeln zurückzukehren. Wer als Flüchtling in dieses Land kommt und einen Antrag auf Asyl stellt, macht einen Anspruch gegen diesen Staat geltend und stellt gleichzeitig einen Anspruch an die Gesellschaft. Deshalb muss er sagen, wer er ist, woher er kommt und wie alt er ist.
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Das heißt also, er muss beweisen, will er das Recht auf Asyl und das Schutzversprechen dieses Staates tatsächlich in Anspruch nehmen. Deshalb sagen wir ohne jede Aufregung: Selbstverständlich müssen auch gezielte Falschangaben, die im Einzelfall vielleicht sogar nachvollziehbar sind, Einfluss auf das Antragsverfahren haben. Aber jetzt einmal ganz ehrlich die Frage: Geht’s noch, in einem solchen Fall mit drakonischen Haftstrafen zu reagieren? Ich dachte immer, Ihnen ginge es mit Ihrem Antrag auch um Einsparungen. Stattdessen wollen Sie jemanden, dessen Asylantrag abgelehnt wird, dann hinterher drei Monate oder sechs Monate oder ein Jahr in Haft stecken. Da ist meines Erachtens tatsächlich jeder Rahmen überschritten.
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Insofern glaube ich schon: Das Entscheidende ist, dass wir das ganze Verfahren – das klingt jetzt vielleicht etwas hart – praktikabel machen müssen, dass es der Normalfall ist, dass die Inaugenscheinnahme – oftmals ist darauf hingewiesen worden – bereits den Buchstaben des Gesetzes entspricht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nein, es geht nicht um Kinder in dieser Debatte. Nein, es geht nicht darum, dass wir durch irgendwelche Methoden exakte Geburtsdaten und am besten noch das Tierkreiszeichen ermitteln. Es geht darum, dass wir generell unterscheiden können, ob Menschen, die hierherkommen, des besonderen Schutzes des Staates wert und würdig sind oder nicht, um damit den anderen, die diese Kapazitäten, die diesen Schutz wirklich brauchen, die Möglichkeit zu geben, ihn auch wirklich zu erhalten. Nur darum geht es. Es geht also um eine generelle Feststellung des Alters und nicht um die genaue Bestimmung des Alters.
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Deshalb glaube ich, diese Entscheidung, die wir getroffen haben, es in den Entscheidungs- und Rückführungszentren zu machen, ist richtig; denn dort bündeln wir den Sachverstand. Wenn jemand sein Alter nachweisen muss, weil die Inaugenscheinnahme nicht hilft, die Papiere, die Beweise nicht helfen, kann die Einräumung der Möglichkeit eines minimalen medizinischen Eingriffes diese Klarheit im Sinne der Gesellschaft, im Sinne der Geflüchteten und im Sinne der Minderjährigen tatsächlich erbringen. Dazu bedarf es mit Sicherheit keines Antrages der AfD.
Vielen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/471 an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeitslosigkeit ist niedrig, die Kassen sind voll. Die Rücklagen bei der Bundesagentur für Arbeit summieren sich derzeit auf fast 20 Milliarden Euro, mehr als genug, um eine Rezession abzufedern und beispielsweise Kurzarbeitergeld zu bezahlen. Die Aussichten für die weitere Arbeitsmarktentwicklung sind dank der Innovationskraft und der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft gut, sodass wir an dieser Stelle mit diesem Gesetzentwurf eine maßvolle Entlastung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge beantragen. Sozialkassen sind keine Sparkassen, meine Damen und Herren.
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Im Jahr 2016 lagen die Einnahmen der Bundesagentur für Arbeit 5 Milliarden Euro über den Ausgaben. 2017 waren es sogar 5,5 Milliarden Euro. In unserem Gesetzentwurf, den wir Ihnen hier heute vorlegen, schlagen wir wie der Sachverständigenrat, die Wirtschaftsweisen, die Absenkung der Beitragssätze um 0,5 Prozentpunkte vor.
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Der Präsident der Bundesagentur für Arbeit selbst, der frühere sozialdemokratische Senator in Hamburg, hat eine Absenkung der Beiträge für möglich, für geboten gehalten. Deshalb appellieren wir an die großen Fraktionen in diesem Haus: Folgen Sie unserem Antrag! Insbesondere unser Appell an die CDU/CSU: Wenn jetzt im Sondierungspapier gerade unsere mittelständischen Personengesellschaften durch die Einführung der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung belastet werden, besteht hier die Möglichkeit, durch die Absenkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge eine Entlastung sowohl für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber zu schaffen.
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Eines, meine Damen und Herren, ist klar: Das Geld gehört den Beitragszahlern. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben es sich erarbeitet. Solidarität heißt nicht nur, wenn es schlecht läuft, die Beiträge anzupassen, sondern Solidarität heißt auch, wenn es gut läuft, die Beiträge zu senken. Das ist das Ziel unseres Gesetzentwurfes.
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Meine Damen und Herren, wir befinden uns in einer Welt, die sich verändert. Der digitale Tsunami ist in vollem Gange. Wir laufen Gefahr, dass weite Teile des Mittelstandes davon erfasst werden. Andere Länder passen ihre Standortbedingungen an, etwa die USA durch eine weitgehende Steuerreform. Deshalb ist es dringend an der Zeit, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland überlegen, wie wir die politischen Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung verbessern können. Hier kann man durch die Absenkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge einen Beitrag dazu leisten.
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Wir wollen die arbeitende Mitte entlasten. Gerade die Absenkung von Sozialversicherungsbeiträgen hilft den unteren und mittleren Einkommen ganz besonders, also eben denjenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die keine oder wenig Steuern bezahlen. Hier wirkt sich das direkt auf den Geldbeutel aus. Manche behaupten, es seien nur kleine Summen. Aber gerade für Geringverdiener ist dieses Geld ein wichtiger Beitrag, der hilft, notwendige Ausgaben zu tätigen.
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Wir wollen klar sagen: Wenn sich Geld in öffentlichen Kassen befindet, weckt das häufig Begehrlichkeiten. Diesen Begehrlichkeiten sollten wir widerstehen. Ausgabewünsche müssen kritisch auf Notwendigkeit und Wirksamkeit untersucht werden.
Ich fasse zusammen: Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf einen Beitrag zur Entlastung der arbeitenden Mitte leisten. Wir fordern Sie auf, ein klares Signal zu geben, nachdem auch die Bundesagentur für Arbeit dies genauso vorgeschlagen hat. Das ist der Weg. Hier können wir schnell handeln. Bitte stimmen Sie diesem Gesetzentwurf später zu.
Vielen Dank.
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Jetzt hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten unter diesem Tagesordnungspunkt auch einen Antrag der Linken, die eine Kehrtwende in der Arbeitsmarktpolitik einfordern. Der Kollege Theurer hat recht: Die Arbeitsmarktdaten sind fantastisch. Ich habe mir das einmal angeschaut: Die Arbeitslosigkeit ist in den letzten Jahren massiv gesunken. Im Dezember 2017 haben wir ein Minus von über 180 000 im Vergleich zum Dezember 2016. Gleichzeitig ist die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze im gleichen Zeitraum um mehr als 740 000 gestiegen. Damit haben wir die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 1990 und die höchste Anzahl an sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen. Deswegen sage ich in aller Deutlichkeit, meine Damen und Herren: Wir brauchen keine Wende in der Arbeitsmarktpolitik.
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Wenn wir eine höhere Arbeitslosigkeit wollen, dann brauchen wir eine Wende. Wenn wir weniger Beschäftigung wollen, dann brauchen wir eine Wende. Kurz gesagt: Wir brauchen eine Wende nur dann, wenn wir jene Bedingungen von Not und Elend herstellen wollen, aus dem Die Linke ihren Honig für die eigene Sache saugt. Aber das wollen wir nicht. Wir wollen unseren Wahlerfolg nicht auf Not und Elend aufbauen, sondern auf guter Arbeit. Wir wollen, dass die Menschen in unserem Land die Chance haben, sich zu entfalten.
Schaut man sich den Antrag der Linken genauer an, wird deutlich: Es ist der alte Wein in neuen Schläuchen. Der Grundgeschmack ist immer gleich: Der Staat weiß es besser. Der Staat kann es besser. – Das ist völlig gegensätzlich zu unserer Auffassung. Wir sind der Meinung, der Staat ist zwar notwendig, aber in einem sehr abgegrenzten Rahmen.
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Er muss die Ordnung des Wettbewerbs garantieren. Er muss fördern und Chancen eröffnen, und er muss für einen Ausgleich sorgen, wenn und insofern es sozial geboten ist. Aus den Dingen, die die Tarifpartner nach unserer Meinung regeln können, soll sich der Staat heraushalten. Wir nennen dies „subsidiär“. Dies beinhaltet ein Kompetenzanmaßungsverbot des Staates.
Übrigens ist das Prinzip der Subsidiarität – hier erlaube ich mir eine kleine Abschweifung – auch der Grund für die Zwangsverrentung, die die AfD auch in dieser Tagesordnung mit einem eigenen Antrag abschaffen will. Der Grund dahinter ist einfach: Bevor Steuergelder in Anspruch genommen werden, müssen andere Leistungen und Ansprüche aufgebraucht werden, auch Rentenzahlungen. Also: Rente vor Hartz IV. Das haben wir aber mit einer Unbilligkeitsklausel versehen. Demnach greift die Zwangsverrentung dann nicht, wenn die Höhe der Rente zu Bedürftigkeit führt.
Ihrem Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen der AfD, merkt man an: Das haben Sie nicht gewusst. Macht nichts. Mehr Glück beim nächsten Mal!
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Ich will noch einen weiteren Unterschied hervorheben, über den zu reden der Antrag der Linken Anlass gibt. Wir haben das Leitbild eines eigenständigen, selbstverantwortlichen Menschen. Es ist die Voraussetzung für Freiheit, dass der Mensch für sein eigenes Leben selbst verantwortlich ist. Die Linken hingegen trauen den Menschen nichts zu. Für sie ist der Mensch mehr ein Objekt staatlicher Fürsorgeprogramme.
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Wohin das führt, sieht man an einem Teil dieses Antrags. Es geht um die Forderung der sanktionsfreien Mindestsicherung. Das ist nichts anderes als die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens durch die Hintertür.
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Marx und Engels würden sich da im Grabe umdrehen.
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Nur zur Erinnerung, lieber Kollege Birkwald: Für Marx und Engels war die Arbeit nicht nur Grundlage allen Reichtums, sondern Voraussetzung für das Menschsein schlechthin.
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Da fragt man sich dann schon, lieber Kollege Birkwald: Auf wen berufen sich die Linken heute eigentlich, wenn es Marx und Engels wohl nicht mehr sind?
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Ich habe da ja einen Verdacht: Es sind Paul Lafargue mit seinem Recht auf Faulheit und Gordon Gekko, der mit dem Geld anderer Leute arbeitet.
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Das Recht auf Faulheit, finanziert mit anderer Leute Geld – treffender lässt sich der Postsozialismus von heute nicht darstellen.
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Warum man dann übrigens, meine Damen und Herren, bei einer sanktionsfreien Mindestsicherung von 1 500 Euro – wie von den Linken gefordert –
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eine Arbeit annehmen soll, die nach Abzug der Steuern weniger als 1 500 Euro einbringt, ist mir nicht klar – den Linken vermutlich auch nicht, aber das ist ja eigentlich auch egal, weil es für diesen Unfug ohnehin keine Mehrheiten geben wird.
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Der Antrag der Linken ist mit Versatzstücken aus der Asservatenkammer des politischen Scheiterns gespickt, und wir tun gut daran, dem nicht zu folgen. Ebenso tun wir gut daran, die erfolgreiche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der letzten Jahre fortzusetzen. Dazu gibt es ein vernünftiges Sondierungsergebnis, das wir ab nächster Woche hoffentlich auch zu einem Koalitionsvertrag weiterentwickeln können.
Herzlichen Dank.
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Dann erteile ich jetzt der Kollegin Sabine Zimmermann von der Fraktion Die Linke das Wort zu einer Kurzintervention.
Danke schön, Herr Präsident. – Ich will nur kurz eine Richtigstellung vornehmen, weil Matthias Zimmer davon sprach, wir wollten eine Mindestsicherung in Höhe von 1 500 Euro. Wir wollen immer eine Mindestsicherung in Höhe von 1 050 Euro – das will ich hier für alle klarstellen. Es ist ein Druckfehler in unserem Antrag enthalten; aber so etwas passiert.
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– Ja, ich glaube, es menschelt überall. Da kann man jetzt sagen, was man will. – Auf jeden Fall ist unsere Forderung: 1 050 Euro Mindestsicherung.
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Danke sehr. – Herr Kollege Zimmer, Sie haben zur Kenntnis genommen: Es sind nicht 1 500 Euro, sondern 1 050 Euro. Sie dürfen darauf antworten.
Ich will es ganz kurz machen. – Ich finde es bemerkenswert, dass der ganze Antrag der Linken nicht nur inhaltlich mit einer mangelnden Sorgfalt bearbeitet worden ist, sondern offensichtlich auch redaktionell. Die Ergänzung nehme ich aber gerne zur Kenntnis.
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Danke sehr. – Damit erteile ich jetzt als nächstem Redner dem Kollegen Dr. Matthias Bartke von der SPD-Fraktion das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der letzten Wahlperiode – Matthias Zimmer hat es gesagt – war der Arbeitsmarkt von einer Positivmeldung nach der anderen gekennzeichnet. Die Arbeitslosenzahlen sind gesunken wie noch nie. Wir freuen uns darüber. Es ist für uns ein Ansporn, weiter für gute Arbeit zu kämpfen. Ich sage Ihnen: Die SPD-Fraktion kämpft für gute Arbeit. Wir kämpfen nach wie vor dafür, dass sachgrundlose Befristungen abgeschafft werden,
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weil nur das eine Planbarkeit des Lebens gerade für junge Menschen gewährleistet. Wir kämpfen dafür, dass Leiharbeitnehmer ab dem ersten Tag so vergütet werden wie Stammbelegschaften.
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Wir kämpfen dafür, dass die Bekämpfung des Missbrauchs von Werkverträgen verstärkt wird. Und wir kämpfen dafür, dass die Arbeit auf Abruf eingedämmt wird.
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Die SPD fordert einen Pakt für anständige Löhne, eine stärkere Tarifbindung und den Ausbau der Mitbestimmung. Wir wollen eine Weiterbildungsoffensive – mit einem Recht auf Weiterbildung – und ein neues Arbeitslosengeld Q.
Meine Damen und Herren, unser wichtigstes Ziel ist in dieser Legislaturperiode aber die Einführung eines sozialen Arbeitsmarktes. Denn es gibt viele Langzeitarbeitslose, die den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt schlicht und ergreifend nicht mehr schaffen. Es ist nicht richtig, solche Menschen auf Dauer zum Nichtstun zu verdammen.
({3})
Denn Arbeit – da schließe ich mich Matthias Zimmer an – ist mehr als nur Geldverdienen; Arbeit gibt dem Leben Sinn und strukturiert den Tag.
Meine Damen und Herren, egal wie Sie die Sondierungsvereinbarung zwischen Unionsparteien und SPD bewerten – die Passage zum sozialen Arbeitsmarkt ist schlichtweg großartig.
({4})
Wir wollen 150 000 Langzeitarbeitslosen eine Beschäftigung geben.
Noch besser ist es, wie die Finanzierung funktionieren soll. Zum ersten Mal werden wir Mittel aus der passiven Arbeitsmarktpolitik in die aktive Arbeitsmarktpolitik transferieren. Das heißt, dass wir einen Passiv-Aktiv-Tausch machen und künftig nicht Arbeitslosigkeit, sondern Arbeit finanzieren wollen.
({5})
In der letzten Legislaturperiode war es vor allen Dingen Bundesfinanzminister Schäuble, der das verhindert hat. Leider sitzt er jetzt gerade nicht mehr hinter mir, aber ich muss gestehen: Ich habe mich richtig gefreut, als wir Herrn Schäuble zum Bundestagspräsidenten gewählt haben.
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Meine Damen und Herren von der Linken, Ihr Antrag – das werden Sie gemerkt haben – ist in Teilen durchaus deckungsgleich mit dem, was wir wollen.
({7})
Frau Zimmermann, ich danke Ihnen, dass Sie klargestellt haben, dass es nur um 1 050 Euro geht. Ich war schon einigermaßen konsterniert, dass Sie Arbeitslosen mehr Geld zahlen wollen als Menschen auf dem sozialen Arbeitsmarkt. Ich habe gedacht: Jetzt will die Linke Arbeitslosigkeit schon besser alimentieren als Arbeit? Das kann ja wohl nicht wahr sein. – Ich danke Ihnen für die Klarstellung.
({8})
Die FDP fordert eine Beitragssatzsenkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge um 0,5 Prozentpunkte. Ich sage Ihnen: Eine Beitragssatzsenkung ist in Ordnung; aber die letzte Finanzkrise hat uns doch eines gezeigt, nämlich dass es ratsam ist, immer ein Finanzpolster in der Hinterhand zu haben, und das gerade im Bereich der Arbeitsmarktpolitik. Deswegen ist es richtig, was im Sondierungspapier steht: Eine Absenkung um 0,3 Prozentpunkte reicht aus.
({9})
Ohnehin ist festzustellen: Der Teil zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik im Sondierungspapier ist richtig stark. Dennoch: Wir Sozialdemokraten tun uns nicht leicht damit – das wissen Sie alle –, in eine dritte Große Koalition mit Bundeskanzlerin Merkel einzutreten. Das wird in unserer Partei sehr kontrovers und auch intensiv diskutiert. Sie von der CSU nennen das einen „Zwergenaufstand“. Ich finde, das sagt viel über Ihr Demokratieverständnis aus.
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Ich fürchte, Sie haben einfach zu häufig Herrn Orban in Ihr Kloster eingeladen.
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Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist: Sie wollen eine gelenkte Demokratie, wir eine gelebte Demokratie.
Ich danke Ihnen.
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Der nächste Redner ist Kollege Martin Sichert von der AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man sich den Antrag der Linken anschaut, dann erkennt man: Er ist weder sozialpolitisch noch wirtschaftspolitisch geeignet, er ist vielmehr Sozialismus in Reinkultur.
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Sie wollen auf Kosten der Steuerzahler 200 000 staatlich finanzierte Arbeitsplätze schaffen. Sie wollen den Anspruch auf Arbeitslosengeld bereits nach vier Monaten, was nicht nur unfair gegenüber jahrelang Beschäftigten ist, sondern auch zusätzliche Kosten verursacht. Und Sie wissen auch schon, wie das finanziert werden soll. Sie wollen mit einer Sonderabgabe Unternehmen belasten und durch diese neue Sonderabgabe weitere Bürokratie schaffen.
Wir haben in Deutschland schon heute eine der höchsten Steuer- und Abgabenlasten weltweit.
({1})
Die Bürokratie, die wir im Land haben, ist überbordend. Um Menschen in Arbeit zu bringen, muss man den umgekehrten Weg gehen, nämlich Steuern und Abgaben senken und Bürokratie abbauen.
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Wenn man hört und liest, wie leichtfertig von Politikern aus diesem Hause immer wieder mit dem hart verdienten Geld der Steuerzahler umgegangen wird, dann erkennt man, dass viele hier noch nie in der freien Wirtschaft gearbeitet haben.
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Lassen Sie uns eines festhalten: Für uns sind im Gegensatz zu Ihnen die steuerzahlenden Arbeitnehmer und Unternehmer keine Melkkühe, für uns sind diese Menschen das Rückgrat und der Motor der deutschen Wirtschaft.
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Unser Dank und unser Respekt müssen diesen Menschen gelten, die mit ihrer täglichen Arbeit dafür sorgen, dass wir hier in diesem Hohen Hause überhaupt darüber diskutieren können, Steuermittel zu verteilen.
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Ihnen von der Linkspartei sei gesagt: Mit Ihren feuchten sozialistischen Träumen haben Ihre Vorgänger bereits einmal einen deutschen Staat in den Ruin getrieben,
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und ein zweites Mal werden wir das nicht zulassen.
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Sie haben anscheinend nichts aus der Geschichte gelernt; denn Sie vertreten hier dieselbe wirtschaftspolitische Ideologie wie Hitler, Stalin, Mao oder Honecker.
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Und egal ob nationaler oder internationaler Sozialismus: Das ist in der Vergangenheit immer gescheitert, und das ist auch gut so. Deutschland braucht keine Planwirtschaft, es braucht auch keine staatliche Bevormundung. Unser Land braucht Freiheit.
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Machen Sie doch mal ein Praktikum in einem Unternehmen. Schauen Sie sich an, wie die freie Wirtschaft funktioniert. Erleben Sie, wie hart die Menschen in diesem Land arbeiten müssen, um die Steuern bezahlen zu können, die Sie hier so freizügig verteilen.
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Ihr Antrag ist auch deswegen ungeeignet, weil Sie die sozialen Spannungen im Land befeuern. Sie fordern – ich zitiere –, „eine auskömmliche Finanzierung und bessere integrative Leistungen besonders auch für Geflüchtete zu gewährleisten“. Wer sollen denn die „Geflüchteten“ sein? Meinen Sie damit, wie so viele Linke, Asylbewerber? Dann lassen Sie mich eines klarstellen: Der Begriff ist falsch; denn der Großteil der Menschen, die hierzulande Asyl beantragen,
({11})
ist weder asylberechtigt noch vor etwas geflohen, sondern sie werden angelockt von unseren Sozialleistungen, von denen sie besser leben können als im Heimatland.
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Asylbewerber werden bereits jetzt im Vergleich zu einheimischen Bedürftigen in vielen Bereichen bevorzugt, zum Beispiel dadurch, dass bei ihnen keine Vermögensprüfung stattfindet, während man bei Deutschen sogar Eltern und Kinder zur Kasse bittet.
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Eines sei klargestellt: Weitere Extrawürste für Asylbewerber wird es mit uns nicht geben.
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Der einzig sinnvolle Ansatz in Ihrem Antrag – da stimmen wir Ihnen zu – ist, die Regelung zur Zwangsverrentung ersatzlos zu streichen. Ja, dieser Zwang gehört abgeschafft. Deswegen haben auch wir einen Antrag gestellt, diese Zwangsverrentung abzuschaffen.
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Zum Gesetzentwurf der FDP sei gesagt: Die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ist eine gute Sache. Das sieht nicht nur der Bund der Steuerzahler so, sondern das sehen auch wir von der AfD so. Das mit Abstand beste Programm zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsabschwung sind nicht aufgeblähte Töpfe der Sozialversicherungen, sondern ist der Abbau von Bürokratie, Abgaben und Steuern.
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Im Gegensatz zu Herrn Lindner sind wir aber nicht darum bemüht, uns von irgendjemandem abzugrenzen, sondern für uns steht sachorientierte Politik zum Wohle unseres Landes im Fokus. Daher wollen wir gemeinsam mit der Linksfraktion die Zwangsverrentung abschaffen und gemeinsam mit der FDP die Steuer- und Abgabenlast im Land senken.
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Wir von der AfD stimmen folglich der Überweisung an den Ausschuss zu und hoffen, dort dem einen oder anderen von der Linksfraktion beibringen zu können, wie man ein Land nicht in den Ruin treibt.
Vielen Dank.
({18})
Für die Fraktion Die Linke spricht nun die Kollegin Sabine Zimmermann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Sichert, Ihre Rede war so unqualifiziert, dass ich darauf überhaupt nicht eingehe.
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Ich muss Ihnen sagen: Sie wissen gar nicht, wie „sozial“ geschrieben wird. In Ihrem Wahlprogramm findet man überhaupt nichts Soziales. Darüber sollten Sie einmal nachdenken.
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Wenn es um Geldgeschenke an Unternehmen geht, ist die FDP immer wieder an vorderster Front. Man muss aber sagen, dass die Kollegen von SPD, CDU und CSU das auch können; das haben sie mit den Sondierungsergebnissen bewiesen.
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Die von Ihnen vorgeschlagenen Beitragssatzsenkungen sind durchschaubare Manöver. Herr Theurer, Sie sprachen von Entlastungen für die Arbeitgeber. Ja, Ihnen geht es um die Arbeitgeber; Ihnen geht es nicht um die Arbeitnehmer.
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Die Arbeitnehmer bekämen dabei nicht viel raus. Das sind vielleicht 2,50 Euro. Ja, das ist viel Geld für manche. Trotzdem muss ich Ihnen sagen: Hier geht es darum, dass die Arbeitgeber Geld sparen.
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Es geht auch nicht um die kleinen Betriebe, sondern es geht um die großen Konzerne, die richtig Geld abschöpfen können; denn Masse bringt Kasse.
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Das, meine Damen und Herren, werden wir Linken nicht mitmachen.
Genau das Gegenteil wäre richtig. Wir müssen investieren, um vor allen Dingen die Langzeiterwerbslosigkeit endlich zu bekämpfen. Es geht hier um fast 1 Million Menschen, die seit Jahren von Ihnen im Stich gelassen werden.
Meine Damen und Herren der alten und vielleicht auch neuen Großen Koalition, Ihr Argument ist immer wieder die demografische Entwicklung. Wegen der demografischen Entwicklung fallen so viele aus der Statistik heraus. Sie gehen in Rente. Für viele heißt das: von Hartz IV direkt in die Grundsicherung. Was für ein Armutszeugnis!
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Die Linke fordert: Zeiten des Bezuges von Arbeitslosengeld II müssen wieder für die Rente zählen, und Grundsicherungsbezieher dürfen nicht mehr gezwungen werden, vorzeitig in Altersrente zu gehen.
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Ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz deutlich: Wenn wir als Linke nicht so hartnäckig gewesen wären, gäbe es heute noch keine Verbesserungen bei den Regelungen zur Zwangsverrentung. Die Zwangsverrentung muss aber endlich abgeschafft werden. Das ist die richtige Richtung.
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Die Rentenkasse ist nicht dazu da, die Kosten für Hartz IV zu sparen, sondern für eine gute Rente zu sorgen.
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Ihre Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahre ist in einer Sackgasse. Wir haben heute einen Antrag vorgelegt, der endlich aus dieser Sackgasse herausführt. Herr Kollege Zimmer, wir brauchen eine Kehrtwende in der Arbeitsmarktpolitik.
({10})
Das bedeutet auch, den Zugang zum Arbeitslosengeld zu erleichtern, damit endlich wieder mehr Menschen von der Arbeitslosenversicherung profitieren können. Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Qualifizierung und Weiterbildung und nicht, wie die SPD gerade ausgehandelt hat, ein Recht auf Weiterbildungsberatung. Nein, wir brauchen ein Recht auf Qualifizierung und eine Förderung, die den Namen verdient – ohne Zwang, jeden beliebigen Job anzunehmen.
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Und schaffen Sie endlich die unsäglichen Sanktionen ab! Wir fordern eine Vermittlung auf Augenhöhe, damit Erwerbslose nicht mehr als Bittsteller stigmatisiert werden, und einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor. Wir freuen uns, dass die SPD 150 000 entsprechende Arbeitsplätze fordert. Wir wollen 200 000.
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Die Ausnahmen vom Mindestlohn für Langzeiterwerbslose müssen natürlich abgeschafft werden.
({13})
Nur so geht eine gute Arbeitsmarktpolitik.
Meine Damen und Herren, zusammengefasst: Wir brauchen eine Kehrtwende in der Arbeitsmarktpolitik. Uns geht es um die Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und von Erwerbslosen. Deshalb wollen wir keine Beitragssenkungen, sondern eine Absicherung für den Fall der Erwerbslosigkeit, auf die man sich verlassen kann.
Danke.
({14})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Markus Kurth vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es immer wieder interessant, dass man Parallelen zwischen der FDP und der Linkspartei feststellen kann.
({0})
Erstens geht es dabei um die Flucht vor der Verantwortung. Sie beide wollen nicht regieren. Sie beide ziehen es vor, aus der Ecke des Plenarsaals zu krakeelen.
({1})
Kolleginnen und Kollegen von der FDP, eine Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung, wenn die Rücklage gefüllt ist, hätten wir vereinbaren können. Wir hatten auch schon eine Zielsetzung im Hinblick auf die Gesamtsozialversicherungsbeiträge vereinbart. All das hätten Sie haben können, wenn Sie nicht Angst bekommen hätten und vor der Verantwortung geflohen wären.
({2})
Von der Linken kennen wir es ja schon seit vielen, vielen Jahren, dass Sie die Verantwortung scheuen. Ich muss an dieser Stelle sagen: Wer vor den Souverän tritt und sagt: „Ich möchte eine Stimme für mein politisches Angebot“, der muss auch in schwieriger Lage den Stier bei den Hörnern packen und Verantwortung übernehmen.
({3})
Dafür sind wir hier.
({4})
Der zweite Punkt, an dem es Parallelen zwischen Ihnen gibt, ist die geradezu groteske Überzeichnung des Sozialstaats, natürlich in unterschiedlicher Richtung. Sie von der FDP sehen den Sozialstaat bzw. die Sozialversicherungen ausschließlich als Kostgänger der Wirtschaft, als Kostenbelastung und nicht als Einrichtungen, die Chancen für die Menschen und damit die Voraussetzungen für Freiheit schaffen können.
({5})
Wo wird dies deutlicher als bei der Arbeitslosenversicherung, bei der wir, gerade angesichts der Digitalisierung, Weiterentwicklungsbedarfe haben? Darauf gehe ich gleich noch ein.
Bei der Linken gibt es eine groteske Überzeichnung und Vereinseitigung des Sozialstaatsbegriffs, da Sie den Sozialstaat vorwiegend als gigantische Alimentationsmaschine verstehen. Die Debatte um die von Ihnen geforderte Mindestsicherung in Höhe von 1 500 Euro
({6})
– nach Berichtigung des Druckfehlers sollen es jetzt nur noch 1 050 Euro sein – ist in gewisser Weise sehr erhellend. Man wundert sich über Ihre Forderung nach 1 500 Euro nämlich gar nicht.
({7})
Ich würde mich auch nicht wundern, wenn Sie da die Zahl 2 000 hingeschrieben hätten. Wir sind von Ihnen nämlich gewohnt, dass bei den Zahlen, die Sie in Ihre Anträge schreiben, die Skala nach oben offen ist.
({8})
Das wirft ein bezeichnendes Licht auf Ihre Überzeichnung des Sozialstaatsbegriffs.
Jetzt möchte ich auf die Aufgabe der Arbeitslosenversicherung eingehen.
({9})
Wir müssen, bevor wir über die Kosten reden, eine Aufgabenkritik vornehmen. Sie müsste eigentlich länger ausfallen, als mir an Redezeit noch zur Verfügung steht.
({10})
Ich möchte das Beispiel der Digitalisierung aufgreifen. Digitalisierung ist nämlich verbunden mit der immer schnelleren Entwertung des Wissens von Beschäftigten. Ausbildungsinhalte verändern sich immer schneller. Es besteht ein kontinuierlicher Weiterbildungsbedarf. Wem beim Thema Digitalisierung, Herr Theurer, nichts anderes einfällt als eine Steuer- und Beitragssatzsenkung, der hat den Prozess mit seinen ganzen tiefgreifenden Umbrüchen überhaupt nicht verstanden.
({11})
Was wir brauchen – in diesem Punkt muss die Arbeitslosenversicherung weiterentwickelt werden –, ist zum Beispiel ein Anspruch auf Weiterbildung schon während der Beschäftigung und nicht erst wenn der Fall der Arbeitslosigkeit eingetreten ist.
({12})
Gerade bei älteren Beschäftigten in kleinen Betrieben besteht ein enormer Nachholbedarf. Insgesamt ist der Umfang der betrieblichen Weiterbildung Gott sei Dank angestiegen; aber gerade dort, wo einfache Tätigkeiten durch die Digitalisierung in Zukunft ersetzt zu werden drohen – manchmal ist es auch gut, dass monotone Tätigkeiten ersetzt werden –, haben wir einen Bedarf an präventiver Weiterbildung und haben Vorsorge zu schaffen. Die Arbeitslosenversicherung in diesem Sinne fit zu machen, das würde zu einer umfassenden ganzheitlichen Betrachtung gehören. Dafür stehen wir als Bündnis 90/Die Grünen und werden dafür kämpfen.
({13})
Das hätten wir auch gerne in einer Regierung getan.
Danke.
({14})
Das Wort hat Dr. Albert Weiler für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren auf der Tribüne! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kurth, ich habe mich gefragt, wer der Stier ist, den Sie bei den Hörnern packen wollten; inhaltlich hatten Sie recht.
Ich frage mich angesichts dessen, dass wir uns Hitler-Vergleiche anhören mussten, aber auch, welche Redekultur hier in diesem Hause eingeführt wird. Ich glaube, das geht zu weit. Das müssen wir uns nicht antun.
({0})
Wir haben die besten Arbeitsmarktzahlen mit fast 45 Millionen Menschen in Lohn und Brot mit der Tendenz steigend. Hier fordert Die Linke eine – ich zitiere – „Kehrtwende in der Arbeitsmarktpolitik“. Die Linken scheinen sich wohl wohler zu fühlen, wenn es mehr Arbeitslose gibt.
({1})
Die AfD fordert merkwürdigerweise die Abschaffung der Zwangsverrentung. Wir haben gemeinsam mit der SPD bereits vor über einem Jahr die Flexirente eingebracht, die eine geniale Möglichkeit zur Abschaffung der Altersarmut bietet. Die FDP will eine aus meiner Sicht sinnvolle Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung, worauf wir uns aber auch schon in den Sondierungsgesprächen mit der SPD geeinigt haben.
({2})
Wir haben in den Sondierungen gemeinsam die richtigen Prioritäten für die kommenden Jahre festgehalten. Es ist uns gelungen, in wenigen Tagen ein verbindliches Zukunftskonzept für eine starke Regierung und ein starkes Deutschland zu schaffen. Dafür hat uns der Bürger einen Auftrag gegeben. Das sind wir den Wählerinnen und Wählern schuldig. Ich bin davon überzeugt, dass sich die SPD am Sonntag mit uns auf einen gemeinsamen Weg begeben wird; denn mit einer starken Regierung wollen wir den Arbeitsmarkt für die Zukunft fit machen.
Die Bundessagentur für Arbeit schloss im Haushaltsjahr 2017 zum wiederholten Male mit einem Milliardenüberschuss ab. Eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften, niedrige Arbeitslosenzahlen, geringe Ausgaben für Insolvenzgeld und höhere Löhne sind gute Indikatoren für einen robusten Arbeitsmarkt. Das zeigt, dass es der Großen Koalition bereits in der Vergangenheit gelungen ist, den Arbeitsmarkt mit einer verantwortungsvollen Haushaltspolitik und den richtigen Anreizen nachhaltig zu stärken. Das wollen wir gemeinsam fortführen. Deswegen ist es richtig, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung zu senken. Wir schaffen so finanzielle Entlastungen. Aber trotz aller Euphorie müssen wir auf die nächste Krise vorbereitet sein und verantwortungsvoll mit den Rücklagen umgehen.
({3})
Das gemeinsame Papier von Union und SPD bildet eine gute Grundlage für das „Chancenland“ Deutschland. Besondere Einigkeit herrscht bei dem Ziel der Vollbeschäftigung. Auf dem Weg dahin gibt es noch einige Weichen zu stellen. Ein wichtiger Schritt hin zur Vollbeschäftigung ist ein effektiver Einsatz gegen Langzeitarbeitslosigkeit. Dafür wollen wir 1 Milliarde Euro mehr zur Verfügung stellen.
Gemeinsam haben wir uns zu einer nationalen Weiterbildungsstrategie bekannt, die die Chancen auf beruflichen Aufstieg und die Beschäftigungsfähigkeit nachhaltig verbessert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ich konnte Ihnen hoffentlich verdeutlichen, dass sich die Union ihrer sozialpolitischen Verantwortung bewusst ist.
({4})
In der von Ihnen vorgelegten Allgemeinkritik arbeiten Sie mit falschen Anreizen und werben Sie für die Auflösung des bewährten Prinzips „Fördern und Fordern“. Dafür habe ich überhaupt kein Verständnis.
Ich sehe in der SPD weiterhin einen verlässlichen Partner und zweifle nicht an einer guten Zusammenarbeit. Lassen Sie uns jetzt die gefundenen Kompromisse gemeinsam umsetzen; denn nur eine stabile und handlungsfähige Regierung schafft soziale Sicherheit in Deutschland.
Vielen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Dr. Martin Rosemann.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es schon bemerkenswert, wie stark offenbar die gescheiterten Jamaika-Gespräche hier im Hause nachwirken und wie stark Sie da doch jeweils nacharbeiten müssen.
({0})
Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass das vielleicht auch kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass Sie acht Wochen lang zwar schöne Balkonfotos produziert, am Ende aber eben keine Regierung zustande gebracht haben.
({1})
Ich kann hier nur nüchtern festhalten: Offenbar brauchte es des Einstiegs der SPD in die Gespräche um die Regierungsbildung, um wieder ein Mindestmaß an Professionalität in diesen Prozess hineinzubringen.
({2})
Wenn ich dem Kollegen Weiler zuhöre, dann merke ich, dass er sich geradezu danach sehnt, in den nächsten vier Jahren so professionell von uns durch die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik geführt zu werden wie in den letzten vier Jahren.
({3})
In der Tat ist es so: Wir haben eine langanhaltende und auch aktuell positive, gute Entwicklung am Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 2005 nahezu halbiert. Mit fast 33 Millionen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen haben wir heute den höchsten Stand seit der Wiedervereinigung.
({4})
Trotz all dieser positiven Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt sage ich: Die Spielräume für die Senkung des Beitrags zur gesetzlichen Arbeitslosenversicherung sind begrenzt, und zwar deshalb, weil wir gleichzeitig vor neuen Herausforderungen in der Arbeitsmarktpolitik stehen. Das Stichwort „Digitalisierung“ ist schon genannt worden.
Wir haben es mit immer schnelleren Veränderungen zu tun, damit, dass sich die Qualifikationsanforderungen immer häufiger und immer schneller verändern. Wir haben es daneben mit immer häufigeren Wechseln von Tätigkeiten zu tun. Eine gute und vorausschauende Arbeitsmarktpolitik muss die Beschäftigten dabei unterstützen, diese Veränderungen zu bewältigen. Sie muss diese Trends frühzeitig erkennen, in Weiterbildung investieren und die Beschäftigten auf diesem Weg unterstützen.
Deswegen brauchen wir eine Weiterentwicklung der Bundesagentur für Arbeit zu einer Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung. Wir brauchen den Einstieg in die Arbeitsversicherung mit einem Rechtsanspruch auf Weiterbildung.
Lieber Herr Theurer, deswegen wollen wir Geringverdiener entlasten, aber eben nicht auf Kosten der Handlungsfähigkeit der Bundesagentur für Arbeit in Bezug auf diese Herausforderungen.
({5})
Daneben haben wir es mit einer zweiten großen Herausforderung für die Arbeitsmarktpolitik zu tun, nämlich mit der Langzeitarbeitslosigkeit. Wichtig ist: Auch die Langzeitarbeitslosigkeit ist in den letzten zehn Jahren deutlich gesunken; sie hat sich etwa halbiert. Fakt ist aber auch, dass die Langzeitarbeitslosen von den guten Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt aktuell nur sehr wenig profitieren. Deswegen meinen wir, die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit muss auf die Tagesordnung dieser Legislaturperiode.
Ich finde, das haben die Linken richtig erkannt. Im Unterschied zu den Linken wollen wir aber eben keine Abkehr vom Prinzip „Fördern und Fordern“, sondern wir wollen mehr und besser fördern. Wir wollen das Förderversprechen aus dem SGB II umfassend umsetzen. Alle müssen die individuelle Unterstützung bekommen, die sie brauchen. Alle müssen die Qualifizierung bekommen, die sie benötigen. Wir wollen zweite und dritte Chancen eröffnen, meine Damen und Herren.
({6})
Deshalb sind für mich in dieser Wahlperiode zwei Dinge wichtig:
Erstens müssen wir die Jobcenter in die Lage versetzen, wirklich individuell und passgenau zu fördern, gut zu beraten und zu unterstützen. Voraussetzung dafür ist eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung der Jobcenter.
Zweitens müssen wir Teilhabe durch Arbeit durch einen richtigen, dauerhaft gesicherten sozialen Arbeitsmarkt auch für diejenigen schaffen, die eben keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Damit schaffen wir Perspektiven.
Ich kann in Richtung Linke nur sagen: Wenn wir 150 000 sagen, dann sagt ihr 200 000. Wenn wir 200 000 sagen würden, dann würdet ihr 250 000 sagen.
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Für euch kann es nie genug sein. Ich sage: Wir packen es an! Es ist allemal besser, Arbeit zu finanzieren als Arbeitslosigkeit.
Herzlichen Dank.
({8})
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: Kollege Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir leben in einer Welt im Wandel. Megatrends sind der demografische Wandel, die digitale Revolution, Globalisierung und vieles mehr. Politik muss diese Trends gestalten, damit wir den Wohlstand sichern können und unsere Art zu leben für die Zukunft erhalten können.
Wir als Union wollen gestalten. Wir wollen Verantwortung übernehmen. Wir stellen uns dieser Verantwortung. Andere tun dies nicht. Wieder andere sind sich noch nicht ganz sicher. Aber Union und SPD haben mit dem Sondierungsergebnis eine wirklich gute Basis für eine mögliche schwarz-rote Koalition geschaffen; denn wir geben die richtigen Antworten, die den Menschen nutzen. Wir wollen unser Land zusammenführen statt spalten. Deswegen setzen wir auf echte Entlastungen, mehr Unterstützung für Familien und mehr Sicherheit im Alter.
Wir sind diejenigen, die beispielsweise mit dem schrittweisen Abbau des Solis für Entlastungen sorgen. Wir haben es im Bereich der Rente vorgemacht: Hier haben wir den Rentenversicherungsbeitrag um 0,1 Prozentpunkte gesenkt. Genau das wollen wir jetzt auch beim Arbeitslosenversicherungsbeitrag machen und ihn um 0,3 Prozentpunkte verringern: eine echte Entlastung für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Lieber Kollege Kurth, wir hätten das natürlich auch mit Ihnen machen können; aber die Grünen waren es letztendlich, die sich geweigert haben, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag zu senken.
({0})
Wir setzen auch mit einer Rückkehr zur Parität, zur hälftigen Finanzierung der Krankenversicherungsbeiträge durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber, auf eine Entlastung der Beitragszahler.
Wir wollen den Fortschritt gestalten. Wir sind uns sicher: Die Zukunft einer Nation wird in den Klassenzimmern, in den Laboren entschieden. Deswegen wollen wir wuchtige Investitionen vornehmen, gerade im Bereich der Bildung und im Bereich der Forschung. Natürlich wissen wir auch, dass die Digitalisierung vor dem Arbeitsmarkt nicht haltmachen wird. Aber Digitalisierung immer nur angstvoll zu beschreiben ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es, die Herausforderung der digitalen Revolution zu gestalten und sie als Chance für mehr Arbeit und für bessere Arbeit zu begreifen.
Deswegen wird in einer sich wandelnden Arbeitswelt natürlich die Weiterbildung einen höheren Stellenwert einnehmen. Die betriebliche Weiterbildung soll weiterhin im Betrieb stattfinden. Es ist unsere Aufgabe, passgenau dort zu unterstützen, wo Betriebe der Unterstützung bedürfen. Dieser Aufgabe stellen wir uns.
Wir wollen Arbeit, Wachstum und Wohlstand sichern. Deswegen verschreiben wir uns dem Ziel der Vollbeschäftigung. Das ist richtig. Wir wollen die Sozialabgaben bei 40 Prozent der Bruttolöhne halten und unsere erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik kraftvoll fortsetzen.
Aber wir wissen auch: Deutschland ist erfolgreich, aber nicht jeder in Deutschland hat in gleichem Maße Anteil an diesem Erfolg. Dies wollen wir ändern, gerade in der Arbeitsmarktpolitik. Deswegen nutzen wir verstärkt die Möglichkeiten, gerade Langzeitarbeitslosen Perspektiven zu eröffnen und Brücken zu bauen. Dafür wollen wir über 1 Milliarde Euro zusätzlich in die Hand nehmen. Das ist das zentrale Ergebnis der Sondierungsverhandlungen zwischen SPD und Union in diesem Bereich. Ich denke, das ist ein gutes Ergebnis, weil wir den Menschen weitere Möglichkeiten eröffnen, am Arbeitsmarkt teilzuhaben. Das wollen wir gestalten.
Entscheidend ist für uns immer, eine gute Zukunft zu erreichen. Das ist sicherlich eine Frage der Ordnung der Wirtschaft; aber es ist auch eine Kulturfrage. Deswegen setzen wir auf Aktivierung statt Alimentierung. Auch darin unterscheiden wir uns von den Linken. Wir setzen auf Anreize statt Verbote und auf das Motto „Privat vor Staat“. Das sind die Prämissen, unter denen wir erfolgreiche Unionspolitik gestalten.
Herzliches Dankeschön.
({1})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/434, 19/105 und 19/462 an den Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben als Linksfraktion einen kurzen, klaren Antrag aufgesetzt – ich zitiere –:
Der Deutsche Bundestag lehnt die auf den NATO-Gipfeln von Wales und Warschau beschlossenen Planungen der NATO, dass alle Mitgliedsstaaten ihre Militärausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes erhöhen sollen, ab.
Außerdem:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die Zustimmung … im NATO-Rat gegenüber den NATO-Partnern zurückzuziehen.
({0})
Es ist an der Zeit, dass endlich von hier aus zu dieser NATO-Vereinbarung, die de facto eine Aufrüstungsvereinbarung ist, klar Nein gesagt wird.
({1})
Lassen Sie mich kurz beschreiben, woher diese Erklärung zum 2-Prozent-Ziel der NATO kommt. Im Jahr 2002 – damals ging es noch vor allem um die NATO-Beitrittskandidaten – tauchte dieses 2-Prozent-Ziel erstmals in NATO-Dokumenten auf. Im Abschlussdokument des NATO-Gipfels im Jahr 2014 findet sich dann eine gemeinsame Verpflichtung: Erstens. Wer 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Militärisches ausgibt, soll das weiter tun. Zweitens. Wer keine 2 Prozent des BIP ausgibt, soll – ich zitiere – „die realen Verteidigungsausgaben im Rahmen des BIP-Wachstums“ erhöhen und „sich innerhalb von zehn Jahren auf den Richtwert von 2 Prozent“ zubewegen, um seine „NATO-Fähigkeitenziele zu erreichen und Fähigkeitslücken der NATO zu schließen“.
Der zentrale Punkt ist: Das ist eine Zielvereinbarung; und diese Zielvereinbarung haben alle bisherigen Bundesregierungen mitgetragen. Wir fordern Sie auf, damit zu brechen und zu sagen: Nein, wir wollen nicht mehr Geld für Rüstung ausgeben, sondern wir wollen endlich abrüsten.
({2})
Was würde denn diese NATO-Vereinbarung bedeuten, wenn sie hierzulande eins zu eins umgesetzt würde? Dazu haben sich Martin Schulz und Sigmar Gabriel im Wahlkampf deutlich geäußert. Herr Schulz sagte:
Ich glaube nicht, dass diese Aufrüstungsspirale Sinn macht.
Und weiter:
Ich kann auch nicht verstehen, warum man so eine Verpflichtung eingeht.
Herr Schulz – er ist nicht da – sollte einfach den heutigen Bundespräsidenten fragen; denn dieser hat diese Erklärung unterschrieben.
Herr Schulz sagte außerdem, er sei „nicht bereit zu sagen: Ich unterwerfe mich einer von den USA verlangten Aufrüstungslogik“. Es war aber eben nicht nur die US-Regierung, die dieses NATO-Ziel festgeschrieben hat. Es waren auch alle bisherigen Bundesregierungen. Deshalb geht unsere Kritik an die Bundesregierung.
({3})
Auch Sigmar Gabriel äußerte sich deutlich:
Denn 2 Prozent würde eine gewaltige Steigerung der Verteidigungsausgaben auf 70 Milliarden Euro pro Jahr bis 2024 bedeuten.
Und weiter:
Ich weiß gar nicht, wo wir die ganzen Flugzeugträger hinstellen sollen, die wir kaufen müssten, um 70 Milliarden Euro pro Jahr in die Bundeswehr zu investieren.
Schöne Worte sind das, kann ich sagen. Die CSU bekennt sich wenigstens offen dazu, dass sie eine Aufrüstungspartei ist; die SPD dagegen betreibt Abrüstungsrhetorik im Wahlkampf, um danach die gesamte Aufrüstung mitzutragen.
({4})
Im Sondierungspapier haben wir nichts zum 2-Prozent-Ziel der NATO gelesen, aber Ursula von der Leyen hat in der „Bild“-Zeitung geäußert, dass „10 Milliarden mehr für die Bundeswehr durchgesetzt“ seien.
Ich verstehe das Ganze so, dass vermutlich der 51. Finanzplan als Grundlage genommen wird. Das heißt, der Verteidigungsetat wird in den nächsten Jahren Stück für Stück um insgesamt 10 Milliarden Euro hochgefahren – das sind 6,8 Prozent mehr als im 50. Finanzplan –, und es soll eine Konzentration vor allem auf rüstungsinvestive Ausgaben – sprich: Beschaffungsprojekte – erfolgen.
Lassen Sie mich klar sagen: Es geht nicht um eine angebliche Unterversorgung oder so etwas, wenn bei der Bundeswehr ziemlich viel nicht funktioniert, sondern es geht um Dysfunktionalität. Über das 2-Prozent-Ziel der NATO freut sich die Rüstungsindustrie. Die Menschen brauchen etwas anderes als diese Kriegswaffen. Die Menschen brauchen zum Beispiel endlich mehr Ausgaben im Sozialbereich. Das ist es, was benötigt wird, statt dieser Aufrüstungsspirale, die hier vorangetrieben wird.
Deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht. Stimmen Sie ihm zu!
Vielen Dank.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Henning Otte.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist eben deutlich geworden: Die Fraktion Die Linke sagt Nein zur Sicherheit.
({0})
Wir dagegen sagen Ja zur Sicherheit, und wer Ja zur Sicherheit sagt, sagt auch Ja zu Frieden und Freiheit.
({1})
Das unterscheidet uns, meine Damen und Herren. Deswegen leisten wir einen Beitrag in der Gemeinschaft, und wer sich in einer Gemeinschaft einbringen will, der muss auch bereit sein, etwas zu geben. Deswegen sagen wir: Wir investieren aus voller Überzeugung in die Sicherheit Deutschlands und in unsere Bündnisse, Vereinte Nationen, NATO und Europäische Union, und das ist eine gute Investition.
({2})
Sie wollen einen Sonderweg gehen, einen Alleingang machen. Sie wollen den Weg aus der Gemeinschaft heraus beschreiten, Verbindlichkeiten nicht einzuhalten. Sie haben offensichtlich auch vor, einen Sonderweg in Ihrer Partei zu gehen, einen Marsch der Bewegung, wie Frau Wagenknecht ihn nennt.
({3})
Was wir brauchen, sind Verlässlichkeit und Verbindlichkeit. Deswegen stehen wir auch zu unseren Verpflichtungen, und ich will Ihnen sagen, warum: Wir orientieren uns an der sicherheitspolitischen Veränderung. Es gibt eine Veränderung, meine Damen und Herren. Es gibt ein aggressives Vorgehen Russlands auf der Krim. Es gibt die Zapad-Manöver an der Grenze zum Baltikum. Das beunruhigt die Menschen dort, und darauf müssen wir mit einer stärkeren Bündnisverteidigung reagieren.
Wir müssen in Ländern, die instabil sind, wie zum Beispiel Mali und Afghanistan, einen Beitrag leisten, weil wir nicht wollen, dass von dort aus wieder Terror und Kriminalität kommen. Und wir leisten einen Beitrag gegen das furchtbare Vorgehen des IS. Wir sagen: Wir stellen uns dem entgegen. Wir stellen uns Terror entgegen. Wir stehen für Frieden und Freiheit ein. – Das ist Verantwortung, meine Damen und Herren.
„Wer die Verantwortung in der Welt bejaht, darf sich der Last, die sich daraus ergibt, nicht entziehen.“ Das hat der Philosoph Picht gesagt, und ich finde, das bringt es gut zum Ausdruck. Wer Werte und Verantwortung bejaht, der muss sich auch einbringen. Deswegen sagen wir, wie auf den NATO-Gipfeltreffen in Wales und Warschau vereinbart: Jeder muss auch bereit sein, sich als Mitglied eines Bündnisses mit bis zu 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts einzubringen.
Ich will Ihnen sagen, warum, meine Damen und Herren. Wir müssen in Fahrzeuge und Cybertechnik investieren. Wir müssen modernisieren, und wir müssen uns auch darüber klar sein, dass wir die Fähigkeiten, die wir haben, weiterentwickeln müssen. Wir brauchen eine Vollausstattung, aber vor allem müssen wir auch in Personal investieren. Wir müssen bereit sein, für unsere Soldatinnen und Soldaten etwas einzubringen. Der Beruf des Soldaten ist kein Beruf wie jeder andere. Deswegen muss sich das auch in der Attraktivität dieses Berufs wiederfinden.
Wir gehen in Europa einen Weg der Verteidigungsunion, Stichwort: PESCO. Wir sagen: Dort, wo es funktioniert, wollen wir in Europa enger zusammenarbeiten, auch um effizientere Strukturen zu bekommen. Interoperabilität und Standardisierung sind dabei zwei wichtige Punkte.
Wir sind der Überzeugung, dass man Konflikte nicht allein militärisch lösen kann, sondern immer nur im vernetzten Ansatz. Deswegen wollen wir neben der Grundlage des 51. Finanzplanes auch in die sogenannte ODA-Quote – das ist der Anteil der öffentlichen Ausgaben für Entwicklungshilfe am Bruttosozialeinkommen – investieren. Denn ohne Sicherheit ist in den Ländern keine zivile Entwicklung möglich. Wir wollen beides. Wir werden diesen vernetzten Ansatz voranbringen, weil wir meinen, alles hat grundlegend etwas miteinander zu tun.
Wir wissen, dass sich die sicherheitspolitische Lage grundlegend verändert hat. Wir wissen, dass wir mehr in die Sicherheit unserer Bündnisse und unseres Landes investieren müssen. Wenn wir das tun, erfüllen wir den Anspruch der Bürgerinnen und Bürger, dass Steuergelder effizient eingesetzt werden. Wir stehen zu der Verantwortung für unser Land sowie für Frieden und Freiheit.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Thomas Hitschler von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was würde eigentlich geschehen, wenn die Bundesrepublik Deutschland die zur Erreichung des 2-Prozent-Ziels der NATO bis 2024 notwendigen Maßnahmen umsetzen würde? Der Kollege Pflüger hat darauf schon den einen oder anderen Hinweis gegeben. Wollten wir dieses Ziel erreichen, müssten wir den Verteidigungshaushalt um gut ein Drittel aufpumpen. Das entspräche etwa 20 Milliarden Euro. Ich weiß, dass hier die Berechnungen ein Stück weit auseinandergehen.
({0})
Von den Befürwortern des 2-Prozent-Ziels möchte ich gerne hören, womit die immensen Mehrausgaben kompensiert werden sollen: Durch höhere Steuern, weniger Sozialausgaben, Verzicht auf Digitalisierungsprojekte? Die Antwort darauf bleiben viele schuldig.
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Würden wir das 2-Prozent-Ziel bis 2024 erreichen, wären wir schlagartig die größte Militärmacht des Kontinents, und das mit Abstand. Ich halte das für kein erstrebenswertes Ziel.
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Ich glaube auch nicht, dass eine deutsche Dominanz für die europäische Sicherheit positiv wäre. Besser wäre es, wenn wir uns um einen harmonisierten Anstieg der europäischen Verteidigungshaushalte bemühen würden. Die Ausgaben liegen bei den meisten EU-Ländern konstant auf einem ähnlichen Niveau. Mehr Europa wäre auch hier die richtige Antwort.
Die Probleme, die unser Rüstungswesen in den letzten vier Jahren hatte, lagen sicherlich nicht nur an einem zu niedrigen Budget. Wir sind schon jetzt kaum in der Lage, das vorhandene Budget voll auszuschöpfen. Etwas mehr Personal bei den Beschaffungsbehörden – vor allem Ingenieure und Techniker – wäre hilfreich.
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Durch effizientere, gemeinsame europäische Beschaffungsprozesse ließe sich gleichzeitig deutlich mehr erreichen, als wenn wir einfach den Geldhahn aufdrehten. Für die Weiterentwicklung der europäischen Rüstungsindustrie wäre es sogar kontraproduktiv, wenn wir mit kurzfristig aufgepumpten Wehretats das Klein-Klein nationaler Rüstungsindustrien weiter zementierten. Es gilt – darin stimme ich dem Kollegen Otte zu –, PESCO mit Leben zu erfüllen, um die Effizienz der eingesetzten Finanzmittel zu erhöhen.
Bevor wir die Ausgaben so deutlich erhöhen, sollten wir zunächst Folgendes klären: Warum und wofür? Wir Sozialdemokraten fordern eine grundsätzliche Debatte über Sinn und Zweck unserer Verteidigungspolitik und unserer strategischen Ausrichtung. Leider hat sich die Bundeskanzlerin in der vergangenen Legislaturperiode dieser Debatte verweigert. Aber wir brauchen grundsätzliche Überlegungen, um daraus sinnvoll ableiten zu können, warum und wofür wir welche Mittel benötigen.
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Das starre 2-Prozent-Ziel gibt keine sinnvolle Antwort auf das Warum und das Wofür. Deshalb lehnen wir es genauso ab wie Ihren Antrag. Wir teilen nämlich nicht die dahinterstehende Grundintention. Wir wollen die Finanzierung und die Verantwortung für unsere Sicherheit nicht einfach auf andere schieben.
Etwas mehr Geld brauchen wir schon. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten denken dabei an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Bundeswehr, die Soldatinnen und Soldaten, aber auch an die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir wollen nicht nur neues Personal gewinnen – ich habe eine Stelle beschrieben, bei der dringender Personalbedarf besteht –, sondern uns auch um die jetzigen Angehörigen der Bundeswehr kümmern, also um den Bestand. Wenn Sie einmal mit diesen Menschen sprechen, dann werden Sie feststellen, was alles fehlt. An diesem Punkt müssen wir ansetzen.
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Wir müssen die Situation der Angehörigen bei der Vereinbarkeit von Familie und Dienst verbessern. Wir müssen den Dienst insgesamt attraktiver machen, finanziell, aber auch bei anderen Faktoren. Wir müssen eintreten für eine modernisierte Infrastruktur, gut ausgestattete Arbeitsplätze, bessere Unterkünfte, Sanitäts-, Sport- und Betreuungseinrichtungen sowie eine aufgabenorientierte Ausstattung und moderne Ausrüstung, die unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz bestmöglich schützt und die schon da ist, bevor wir die Soldaten in den Einsatz schicken, genauso wie für eine gute Ausbildung, zu der auch das passende Material gehört. Genau dem muss sich die kommende Regierung stellen.
Abschließend: Das Etatrecht ist das Königsrecht des Parlaments. Wie viel Geld die Bundesrepublik für Verteidigung ausgibt, entscheidet noch immer der Bundestag, und zwar dann, wenn er den Gesamthaushalt beschließt. Wir stehen für ein selbstbewusstes Parlament, das diese Entscheidung dann trifft, wenn sie ansteht. Diesen Antrag brauchen wir dafür nicht. Die Debatte halte ich trotzdem für wichtig. Die Überweisung an die zuständigen Ausschüsse ist deshalb absolut richtig.
Vielen Dank.
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Als Nächster spricht für die AfD-Fraktion Rüdiger Lucassen.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Der Antrag der Linken und die Debatte dazu offenbaren zwei Dinge:
Das Erste ist die völlige Unfähigkeit der Linkspartei, sich ernsthaft mit Sicherheits- und Verteidigungspolitik auseinanderzusetzen.
({0})
Ihr Denkmuster geht so: Militär führt Krieg. Krieg ist schlecht, und wenn man sein eigenes Militär nur gründlich genug herunterwirtschaftet, gibt es keinen Krieg. – Dieses Denkmuster ist auf dem Argumentationsniveau eines Fünfjährigen.
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Es ist wie bei einem Kind, das sich die Hände vor das Gesicht hält und alles Böse nicht mehr sieht. Aber hier kommt die Überraschung: So funktioniert die Welt nicht.
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Viel schlimmer als diese Naivität ist aber die zweite Erkenntnis der Debatte: Die Regierungsparteien halten sich offenbar nicht mehr an internationale Vereinbarungen, allen voran die SPD. Es war ihr eigener Außenminister Steinmeier, der 2014 die Erklärung von Wales unterschrieben hat. Darin haben sie sich verpflichtet, den deutschen Verteidigungshaushalt aufzustocken und bis 2024 das 2-Prozent-Ziel zu erreichen.
Was ist heute? Sie verleugnen Ihre eigene Politik. Außenminister Gabriel nannte die Vereinbarung von Wales „irre“. Dann frage ich den Außenminister: Warum hat Ihre Regierung denn so etwas Irres unterschrieben?
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Deutschlands außenpolitische Verlässlichkeit war ein Markenzeichen der Bundesrepublik. Verträge wurden eingehalten. Diese Bundesregierung verspielt jedoch mehr und mehr den guten Ruf Deutschlands.
(Beifall bei der AfD – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das ist der Richtige, der das sagt! – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Den guten Ruf Deutschlands gefährden Sie woanders!
– Regen Sie sich doch bitte nicht so auf. Sie sind auch nicht mehr der Jüngste. Seien Sie vorsichtig!
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Ich wiederhole: Diese Regierung verspielt jedoch mehr und mehr den guten Ruf Deutschlands; denn sie macht es zu ihrem Markenzeichen, sich an internationale Abmachungen nur noch nach Lust und Laune zu halten.
Aber auch ganz unabhängig von der Vereinbarung von Wales: Die Bundeswehr ist unterfinanziert. Es geht doch nicht nur um Flugzeuge, Schiffe und Panzer. Was wir zuallererst benötigen, ist ein tragfähiges Rüstungskonzept. Frau von der Leyens „Trendwende Material“ ist doch nichts weiter als Politmarketing. Jedes Vorhaben zur Beschaffung von Großgerät bringt massive Probleme mit sich: Es kommt immer zu spät, es sprengt immer den Kostenrahmen, und es erfüllt die Forderungen der Truppe nur zum Teil.
Ich sage es Ihnen einmal ganz deutlich: Die Bundeswehr ist dabei, den Anschluss zu verlieren. Den Auftrag unserer Bundeswehr zur Landes- und Bündnisverteidigung streitet kein verantwortungsbewusster Parlamentarier ab. Er ist aber nicht mehr sichergestellt.
Was brauchen wir? Wir sprechen über die Wehrfähigkeit Deutschlands. Wehrfähigkeit! Dazu braucht die Bundeswehr natürlich auch Nachwuchs. Frau von der Leyens „Trendwende Personal“ findet bislang aber nur in ihren Interviews statt.
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Die De-facto-Abschaffung der Wehrpflicht war ein kapitaler Fehler der CDU.
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Korrigieren Sie ihn! Wir brauchen die Wehrpflicht zurück. Ja, das kostet Geld. Wir brauchen ein Reservistenkonzept, das der dramatisch veränderten Sicherheitslage in Europa Rechnung trägt.
Die AfD plädiert für ein Konzept ähnlich dem der National Guard in den USA: geschlossene Einheiten, regelmäßiges Training,
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anständige Besoldung.
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Ja, das kostet Geld.
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– Sind Sie fertig? – Okay.
Ja, wir brauchen auch ein Konzept zur Grenzsicherung. Ich spreche da von den EU-Außengrenzen und den eigenen Staatsgrenzen. Innere und äußere Sicherheit gehören untrennbar zusammen.
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Auch die Bundeswehr muss zukünftig in ein Konzept zur Grenzsicherung eingebunden werden. Und, ja, auch das kostet Geld.
Es geht natürlich auch um neues Material für die Bundeswehr. Hier jedoch von Aufrüstung zu sprechen, ist grober Unfug.
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Es geht schlichtweg um die Einsatzbereitschaft unserer Streitkräfte.
({12})
Jetzt muss die Ministerin offenbar schon zivile Hubschrauber chartern, um den Einsatz in Afghanistan weiterführen zu können. Die wenigen Hubschrauber, die in Mali fliegen, müssen zurück nach Hause. Warum? Weil die Piloten und Flugschüler sonst kein Ausbildungsgerät im Heimatland haben.
Wenn das alles nicht so bitterernst wäre, könnte man hier von Realsatire sprechen.
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Herr Kollege, denken Sie an die Zeit.
Ja; danke.
Deutschlands Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist in einem schlechten Zustand. Wir brauchen deshalb dringend die Diskussion in den zuständigen Ausschüssen. Die AfD stimmt der Überweisung dieser Thematik in den Verteidigungsausschuss zu.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Strack-Zimmermann von der FDP. Liebe Frau Kollegin, bitte.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Derzeit gibt Deutschland circa 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung aus. Im Gegensatz zu den Antragstellern sind die Freien Demokraten der Meinung, dass Deutschland angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Herausforderungen seinen Etat erhöhen muss.
({0})
Im Sondierungspapier von Union und SPD finden wir dazu nichts wirklich Konkretes, nur ein bisschen Wachsweiches. Es wird spannend sein; wir haben gerade die Reden vom Kollegen Otte und vom Kollegen Hitschler gehört.
({1})
Aber wir gehen davon aus, dass sich das in den Koalitionsverhandlungen ändern wird und das präzisiert wird.
Meine Damen und Herren, angesichts der Krisen auch vor unserer Haustür, angesichts des Gebarens des russischen Staatspräsidenten – das sollte auch von den Linken wahrgenommen worden sein – und der besorgniserregenden Entwicklung bei unserem NATO-Partner Türkei sollten wir nicht naiv sein.
({2})
Auch unser bisher stärkster Bündnispartner, die Vereinigten Staaten, ist nicht mehr bereit, wie selbstverständlich Verantwortung für alles und für jeden zu übernehmen. Dieser Prozess wurde übrigens schon vor Jahren unter Präsident Obama eingeleitet. Es wäre verantwortungslos, so zu tun, als ob wir für ein Leben in Frieden und Freiheit nichts oder nicht mehr tun müssten.
({3})
Deswegen, meine Damen und Herren, begrüßen wir ausdrücklich die Bemühungen im Rahmen von PESCO, die schließlich in einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik münden sollten. Aber auch das gibt es nicht zum Nulltarif.
Zu den großen Herausforderungen gehört weiter, dass unsere Bundeswehr, die erfreulicherweise eine Berufsarmee ist, professionell ausgerüstet sein muss. Das gilt für Auslandseinsätze genauso wie für die Ausbildung und für Übungen zu Hause.
({4})
Das, meine Damen und Herren, gebietet allein schon der Respekt vor dem Einsatz der Soldatinnen und Soldaten.
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Die Schlussfolgerung hieraus kann nur sein, dass wir unseren Etat erhöhen müssen, um einen angemessenen Beitrag im Bündnis mit unseren europäischen Partnern in der NATO leisten zu können.
Wir dürfen in der Diskussion um eine Etaterhöhung allerdings nicht aus dem Auge verlieren, dass es hierbei nicht nur um Waffensysteme geht, die zu modernisieren sind, und nicht nur darum geht, dass die Ausrüstung verbessert werden soll. Die Freien Demokraten verfolgen einen umfassenden Sicherheitsbegriff. Es muss darum gehen, Krisenprävention, Entwicklungsarbeit und Verteidigung als Ganzes zu betrachten.
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Für dieses Gesamtkonzept, meine Damen und Herren, halten wir einen Beitrag von 3 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für erforderlich; denn diese drei Aspekte, diese drei Aspekte gemeinsam, sind wesentlich, um gemeinsam mit unseren Bündnispartnern füreinander einzustehen und Frieden, Freiheit und Sicherheit zu garantieren.
Die Zeiten, meine Damen und Herren, in denen wir wie selbstverständlich hofften: „Die Partner machen das schon“, gehören angesichts der komplexen Sicherheitsprobleme in der Welt der Vergangenheit an. Wir sollten uns der Realität stellen und einen Beitrag leisten, der der politischen Bedeutung und Wirtschaftskraft der Bundesrepublik entspricht. Wir werden der Überweisung zustimmen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Dr. Tobias Lindner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, es ist richtig: Wir stehen, was die Sicherheit auf diesem Planeten angeht, vor gigantischen, vielfach komplexen Herausforderungen. Aber gerade dann muss man sich doch die Frage stellen: Was ist denn die richtige Antwort darauf? Wir Grüne sagen an dieser Stelle ganz klar: Es ist nicht nur ein naiver, es ist auch ein gefährlicher Weg, in diesem Zusammenhang nur über Ausgaben zu diskutieren und schließlich einzig und allein Militärausgaben erhöhen zu wollen.
({0})
Es ist schon angeklungen: Wenn man über das 2-Prozent-Ziel redet – so wie Sie, Herr Otte, es hier zum Beispiel tun –, dann zäumt man das Pferd von hinten auf. Das haben Sie leider auch in Ihrem tollen Sondierungspapier getan. Dort reden Sie davon, Sie wollen die Bundeswehr bestmöglich ausstatten, damit sie ihren Auftrag erfüllen kann. Wenn man dann darüber diskutiert: „Was ist denn der Auftrag?“, stellt man fest, dass sich dazu in Ihrem Papier, ehrlich gesagt, so gut wie gar nichts findet.
({1})
Nein, meine Damen und Herren, wenn wir verantwortungsbewusst über Sicherheitspolitik reden wollen, brauchen wir hier in diesem Hause eine Debatte darüber: Was wollen wir mit unseren Streitkräften tun, und was sollten wir besser nicht tun? Wo müssen wir etwas im zivilen Bereich tun? Wo können wir Dinge besser gemeinsam – wenn möglich europäisch – tun?
Wenn wir über Geld reden, brauchen wir eine Debatte darüber, wo und an welchen Stellen in der Bundeswehr Geld besser verwendet werden kann. Wahr ist doch, dass wir in den letzten Jahren zum Thema Beschaffung zwar dicke Berichte erhalten haben und irgendwelche Kommissionen eingesetzt wurden. Aber wenn man sich die Ergebnisse anschaut, wenn man sich anschaut, dass Rüstungsprogramme immer noch zu spät, nicht mit den vereinbarten Eigenschaften und in den meisten Fällen viel zu teuer abgeschlossen werden, wird man einsehen: Es ist doch ein Irrglaube, zu meinen, dass mehr Geld im Verteidigungsetat dieses Problem löst.
({2})
Herr Kollege Pflüger, bei aller Sympathie für den Antrag, den Sie gestellt haben: Ein Fehler ist Ihnen dabei unterlaufen. Sie beantragen nämlich – das meine ich gar nicht als Angriff –,
({3})
der Verpflichtung der Bundesregierung, die Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent zu erhöhen, zu widersprechen. Dieser Fehler wird oft gemacht. Frau von der Leyen hat bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahr 2017 gesagt – ich zitiere –:
Wir alle haben uns 2014 in Wales verpflichtet, innerhalb von 10 Jahren die 2 Prozent zu erreichen.
Ich habe das Auswärtige Amt gefragt, zu was wir uns in Wales tatsächlich verpflichtet haben. Herr Staatsminister Roth hat mir daraufhin am 29. März 2017 geantwortet – ich zitiere erneut –:
Die Beschlüsse von Wales sind somit eine politische Selbstverpflichtung und zweckgebundene Richtungsentscheidung und gehen nicht mit der Vorgabe einer bestimmten Ausgabenhöhe zu einem festen Zeitpunkt einher.
So ist die Lage, meine Damen und Herren.
({4})
– Herr Pflüger, Sie brauchen sich darüber gar nicht aufzuregen.
Deshalb sage ich Ihnen, Herr Kollege Otte: Packen Sie bitte Ihren Pappkameraden mit der Forderung eines 2-Prozent-Ziels ein.
({5})
Hören Sie auf, so zu tun, als müssten wir in den Haushaltsberatungen Geld um des Geldausgebens willen ausgeben.
Lassen Sie uns, wenn wir über diesen Antrag in den Ausschüssen und hoffentlich wieder hier im Plenum diskutieren, darüber reden, was eine wirklich verantwortungsbewusste Sicherheitspolitik ist:
({6})
nämlich eine Sicherheitspolitik, die über das Militärische hinausgeht. Auch darin besteht nämlich die Verantwortung, die wir unseren Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz schulden. Wenn wir sie irgendwohin schicken, sollten wir auch bedenken: Was können wir bei humanitärer Hilfe tun? Was müssen wir im Bereich der Diplomatie tun? Was müssen wir in der Entwicklungszusammenarbeit tun? Und vor allem: Was können wir präventiv tun, damit Konflikte gar nicht erst ausbrechen und wir am Ende nicht in Auslandseinsätze gehen müssen, meine sehr geehrten Damen und Herren?
({7})
In diesem Geist und mit dieser Einstellung wird meine Fraktion in die weitere Beratung dieses Antrags sowie in die Debatten über Sicherheitspolitik in dieser Legislaturperiode gehen.
Herzlichen Dank.
({8})
Der Kollege Florian Hahn spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was ist uns unsere Sicherheit wert? Diese Frage müssen wir uns als gewählte deutsche Volksvertreter stellen. Die Linke hat diese Frage für sich heute eindeutig beantwortet: nicht viel bzw. gar nichts. Anders kann man den Antrag der Linken nicht verstehen; anders kann man es nicht verstehen, wenn in Zeiten sich verändernder globaler Sicherheitslagen solche verantwortungslosen Forderungen gestellt werden. Und es wäre verantwortungslos, wenn wir auf diese veränderten Gegebenheiten nicht reagieren würden. Sicherheit müssen wir zunehmend global denken. Die Bedrohungslage hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Krisen im Osten oder in Afrika haben direkte Auswirkungen auf unser Leben in Europa.
({0})
Die Flüchtlingskrise hat uns das eindrücklich vor Augen geführt.
Deshalb übernimmt Deutschland in zunehmendem Maße weltweit Verantwortung. In Mali beispielsweise leistet die Bundeswehr einen substanziellen Beitrag zur Stabilisierung dieser wichtigen Transitregion für Flüchtlinge in Afrika. Von Jordanien aus beteiligt sie sich am Kampf gegen die menschenverachtenden Schlächter des IS. In Afghanistan hilft sie, damit das Land den mühsam begonnenen Weg zur Freiheit und zur Selbstständigkeit weitergehen kann.
All diese verschiedenen Einsätze sind wichtig. Sie bedeuten aber auch gestiegene Anforderungen an die Truppe. So unterschiedlich die Einsätze und Bedrohungen sind, so unterschiedlich müssen auch die Fähigkeiten der Bundeswehr sein, um darauf reagieren zu können. Daher muss die Bundeswehr ihre Fähigkeiten erhalten und ihre Kapazitäten erweitern; denn sowohl Mensch als auch Material dürfen nicht überbelastet werden. Der zusätzliche Bedarf der Bundeswehr an Ausrüstung und an Material ist dabei unbestritten. In diesem Zusammenhang sind bewaffnungsfähige Drohnen, schwere Transporthubschrauber, neue Cybereinheiten, Kommunikation und vieles andere wichtig. All das sind Schlüsselsysteme für die zukünftige Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. All das kostet auch Geld. Es ist gut investiert für unsere Zukunft, für die Sicherheit unseres Landes.
Neben den Auslandseinsätzen der Bundeswehr erfordert jedoch auch die neue NATO-Abschreckungsstrategie bessere Verteidigungsfähigkeiten von uns. Deutschland ist gegenüber dem Bündnis Verpflichtungen eingegangen, und das auch aus gutem Grund. Wir dürfen hinter diesen Verpflichtungen nicht zurückbleiben. Deswegen ist das 2-Prozent-Ziel für uns eine wichtige Marke, der wir nachkommen müssen und wollen. Als europäische Rahmennation der NATO und als Anlehnungspartner innerhalb der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die wir durch die PESCO-Initiative fortentwickeln, stehen wir in der Verantwortung, unsere Fähigkeiten auszubauen, um sie in die Gemeinschaft in Europa einbringen zu können. Durch unsere Beteiligung an der NATO-Präsenz im Baltikum und in Polen stärken wir das transatlantische Bündnis in Europa und nehmen Sicherheitsinteressen unserer östlichen Partner ernst. Die NATO, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ist für uns kein Anachronismus. Auch 28 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges ist das Bündnis unverzichtbares Rückgrat unserer deutschen und europäischen Sicherheitsstruktur.
({1})
Gerade in Zeiten eines russischen Hegemonialstrebens im postsowjetischen Raum, das im Westen weit nach Europa hineinreicht, ist die Bedeutung der NATO für unser aller Sicherheit so wichtig wie seit dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht mehr.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Nein. – Das russische Großmanöver an der NATO-Ostgrenze im letzten Jahr hat Russlands Ambitionen und sein militärisches Potenzial eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Landes- und Bündnisverteidigung haben durch die zunehmende offensive Außenpolitik Russlands in unseren Planungen einen neuen Stellenwert bekommen. Das ist leider die Realität, und diese Realität kostet Geld. Aus diesem Grund ist es umso bedauerlicher, dass wir heute einen Antrag beraten müssen, der nicht nur unsere Bündnisfähigkeit gefährden, sondern auch die NATO in Europa schwächen würde.
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr wird in den nächsten Jahren einen Spagat hinlegen müssen: Sie muss sowohl für die Bündnisverteidigung gewappnet sein als auch für ihre Auslandseinsätze auf der ganzen Welt, wenn wir Deutschlands Verantwortung nachkommen wollen. Diesen Spagat kann die Bundeswehr nur durch eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben meistern. Wir als Bundestag sollten im Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten, die tagtäglich im Dienst für unsere Sicherheit sind und dabei oft ihr Leben riskieren, unserer gestiegenen Verantwortung gerecht werden und die Bundeswehr adäquat für diese Anforderungen ausstatten. Deutschland muss in Zukunft mehr für seine Sicherheit tun.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Wenn wir die Bundeswehr fit für die Zukunft machen wollen, müssen wir mehr Geld als bisher ausgeben. Das sind wir unseren Soldatinnen und Soldaten und unserer Verantwortung schuldig.
Danke schön.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Dehm von der Fraktion Die Linke.
Herr Kollege, es wäre besser gewesen, wir hätten dies durch das Genehmigen einer Zwischenfrage klären können, da Sie sich jetzt sicher nach meinem Beitrag auch melden werden.
Erstens. Wissen Sie, dass Russland abrüstet, dass Russland den Militäretat gesenkt hat?
({0})
Und wissen Sie, in welchem Verhältnis der Militäraufwand der NATO und der Militäraufwand Russlands zueinander stehen? Es ist 12:1. Es ist überhaupt nicht die Zeit, über weitere Aufrüstung nachzudenken. Wissen Sie ferner, dass zahlreiche Künstler, Wissenschaftler, das frühere Mitglied Ihrer Bundestagsfraktion Willy Wimmer und andere einen Appell „abrüsten statt aufrüsten“ gestartet haben? Er ist jetzt sechs Wochen alt. Würden Sie auch Willy Wimmer, Wolfgang Niedecken und den vielen Künstlern, die unterschrieben haben, wegen dieser Verantwortungslosigkeit beschimpfen, die Sie den Linken bescheinigt haben?
Herr Kollege Hahn, Sie können antworten.
Herr Kollege Dehm, mit Blick auf die Ausgaben der Russischen Föderation allein in den letzten fünf bis zehn Jahren im Bereich der Verteidigung und im Bereich der Investitionen in Verteidigung kann ich nicht sehen, und zwar überhaupt nicht sehen, dass man hier von Abrüstung sprechen kann. Das Gegenteil ist der Fall: Die Russische Föderation rüstet massiv auf.
({0})
Wir sehen auch bei den Aktivitäten, beispielsweise bei den verschiedenen Manövern an den Grenzen zum Baltikum, nicht, dass es sich um Friedfertigkeit oder Passivität handelt; ganz im Gegenteil. Wir müssen es so sehen, dass hier stark aggressiv auch gegen unser Bündnis Signale gesetzt werden. Das können wir nicht einfach so hinnehmen. Das sollte man auch nicht verharmlosen.
Wenn sich Künstler für Frieden und Abrüstung einsetzen, dann finde ich das in Ordnung. Unsere Verantwortung im Hause hier ist aber, den Realitäten Rechnung zu tragen. Deswegen ist es wichtig, dass wir im Rahmen der NATO unsere Soldatinnen und Soldaten entsprechend ausrüsten für ihre Aufgabe der Landesverteidigung und für ihre Aufgaben in den Auslandseinsätzen.
({1})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Hellmich von der SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich müssten wir der Fraktion Die Linke dankbar sein für diesen Antrag,
({0})
und zwar deswegen, weil uns dieser Antrag die Gelegenheit gibt, das zu Beginn der Legislaturperiode zu tun, was wir in der vergangenen nicht getan haben, nämlich an dieser Stelle eine umfassende Debatte über unsere Positionen, über die Ziele der Verteidigungspolitik zu führen. Zu diesem Punkt haben wir im Weißbuch immer wieder gefordert, dass das Parlament diese Debatte führen muss, aber wir haben sie nicht geführt. Das war ein Fehler in der Vergangenheit, der schwer wiedergutzumachen sein wird. Wir werden ihn aber wiedergutmachen müssen, indem wir solche Grundsatzdebatten im Bundestag führen.
Die meisten Kolleginnen und Kollegen haben darauf hingewiesen: Die Soldatinnen und Soldaten, die im Einsatz sind, sowie die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen die Debatte dieses Parlamentes als Orientierung dazu, wofür sie in den Einsätzen sind, wofür sie ihren Dienst versehen. Sie müssen wissen, mit welchem Ziel wir sie in Einsätze schicken, und sie müssen wissen, dass wir sie gut ausrüsten und wie wir ihren Auftrag definieren.
Eigentlich hat die Fraktion Die Linke den falschen Antrag gestellt. Sie hätte eigentlich den Antrag stellen müssen, das Parlament und die Bundesregierung dafür zu loben, dass keine Fraktion einen Antrag eingebracht hat, den Einzelplan 14 auf diese 2 Prozent zu erhöhen. Warum mag das wohl so sein?
({1})
Es ist ja in den Verpflichtungen enthalten. Diese Erklärungen werden immer „Verpflichtungen“ genannt. Jede politische Interpretation und jede juristische Interpretation besagen aber: Es ist eine politische Selbstverpflichtung; die rechtliche Bindungswirkung ist gleich null.
Wir, die Abgeordneten hier in diesem Parlament, sind es, die – so steht es im Grundgesetz – auf Antrag der Bundesregierung über Struktur und Ausstattung der Bundeswehr im Haushalt entscheiden – niemand anderes. Ich bin dafür, dass wir dies in aller Konsequenz beibehalten und diese Debatte entsprechend führen.
Zu der Zielmarke von 2 Prozent: Gerade erschien in einer Zeitung eine Analyse zu der Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen prozentualen Rüstungssteigerungen und der atomaren Aufrüstung gibt. Es gibt ihn. Der Zusammenhang besteht in vielen Strategien darin – wir haben gestern über eine neue Strategie der USA gelesen –, dass man, wenn man im konventionellen Bereich nicht die Überlegenheit über einen Gegner hat, in aller Konsequenz über die Anwendung von atomaren Waffen nachdenkt; das ist auch Gegenstand der Strategie Russlands, die im Jahre 2014 verabschiedet wurde. In diesen Staaten gibt es daher Initiativen, am atomaren Potenzial qualitative Veränderungen vorzunehmen: Durch eine Verkleinerung der Sprengköpfe will man dafür sorgen, dass die Einsatzschwelle – so das Ziel – dieser atomaren Waffen gesenkt wird.
Eigentlich hätte der Antrag ein Lob an die Bundesregierung dafür enthalten müssen, dass sie sich international für mehr Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung einsetzt, wie wir dies auch in der NATO tun.
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– Ich bin sehr gespannt, an welcher Stelle, an welchem Punkt wir und ob wir überhaupt zusammenkommen. Ich habe da meine Zweifel.
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Das sind die Punkte, mit denen wir uns sehr intensiv auseinandersetzen müssen. In Bezug auf die internationale Entwicklung müssen wir uns folgende Frage stellen: Wann droht Krieg, und was bedroht den Frieden auf dieser Erde? Dies werden wir in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen müssen.
Wir müssen uns auf das konzentrieren, was die Bundeswehr wirklich braucht. Ich sage an dieser Stelle noch einmal, was ich immer sage: Wir müssen die Bundeswehr mit dem ausstatten, was sie braucht. Wir müssen den Modernisierungsprozess vorantreiben. Wir müssen uns um die Infrastruktur und die persönliche Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten kümmern. Im Sondierungspapier wurde ja formuliert, dass wir uns darauf konzentrieren wollen. Ich hoffe, dass wir uns im Verteidigungsausschuss bald an die praktische Arbeit der Umsetzung machen können. Wir brauchen eine Konzeption für die Bundeswehr, und wir brauchen Entscheidungen – und das schnell.
Vielen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Punkt ist Herr Dr. Karl Lamers von der CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen, zum Jahreswechsel, haben wieder viele Menschen in unserem Land gute Vorsätze für das neue Jahr gefasst. Das gilt auch für uns. Wir wollen am Vorsatz der NATO festhalten, die Verteidigungsausgaben bis 2024 schrittweise bis zur Zielmarke von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben. Wenn wir der Fraktion Die Linke folgen, machen wir genau das nicht. Und das ist schlecht, meine Damen und Herren.
({0})
Herr Kollege Pflüger, Ihr Antrag ist kurz und knapp, aber er ist leider inhaltlich zu kurz gesprungen. Es geht nämlich nicht um mehr Geld für Rüstung, sondern um mehr Geld für Sicherheit.
({1})
Dem Kollegen Lindner sage ich: Es geht nicht um einen Pappkameraden, sondern um eine Zielmarke, und dabei soll es bleiben.
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Die Vereinbarung von Wales im September 2014 – diese wurde übrigens im Konsens aller NATO-Mitgliedstaaten mitgetragen, auch, lieber Kollege Hitschler, von unserem heutigen Bundespräsidenten und damaligen Außenminister Steinmeier – hat damals genauso Sinn gemacht wie heute. Der Beschluss dient unserer Sicherheit in einer instabiler gewordenen Welt.
Der Grund für den damaligen NATO-Beschluss lag in der geostrategischen Veränderung im Umfeld der NATO. Ich denke an die völkerrechtswidrige Annexion der Krim – für Die Linke buchstabiere ich es noch einmal: völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland – und den andauernden Konflikt im Osten der Ukraine.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, das möchte ich nicht. Ich sehe gerade, dass der Kollege Neu sich meldet. Wir haben schon so oft darüber diskutiert. Hören Sie einfach zu, dann verstehen Sie es.
({0})
So erklärt sich auch die Bereitschaft aller NATO-Staaten, die Verteidigungsausgaben generell zu erhöhen.
Wir alle wissen: Das hat nicht originär etwas mit US-Präsident Donald Trump zu tun, der das nur – wie wir ihn halt kennen und wie es seine Art ist – ein bisschen unfreundlicher und direkter formuliert. Gefordert wird es schon lange – seit 2002 –, etwa von US-Präsident Barack Obama und vielen anderen hochrangigen US-Politikern. Und wenn wir in uns hineinhorchen, dann erkennen wir, dass sie alle doch nicht ganz unrecht haben. Denn in einer Gemeinschaft – das ist doch die NATO; Henning Otte hat zu Recht davon gesprochen – haben wir nicht nur Rechte, sondern müssen auch Pflichten, Lasten und Bürden gerecht miteinander teilen. Herr Neu kennt diese Diskussionen aus vielen Debatten in der Parlamentarischen Versammlung der NATO, gell?
In einer immer fragiler werdenden Welt ist Sicherheit natürlich nicht zum Nulltarif zu bekommen. Entscheidend ist für mich dabei auch, die Bündnis- und Landesverteidigung zu stärken. Den Linken rufe ich zu: Lösen Sie sich von Ihren ideologischen Scheuklappen, und erkennen Sie, dass Verteidigungsfähigkeit und Verteidigungsbereitschaft in einem Bündnis die Voraussetzungen dafür sind, dass man sich auf uns verlassen kann. Das ist wichtig.
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Hinzu kommt, dass wir gut beraten sind, als Europäer mehr in unsere eigene Sicherheit zu investieren. PESCO ist genannt worden. Zur Erklärung: Das ist die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit in Europa, die zugleich der Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO dient. Dazu brauchen wir eine Bundeswehr mit modernster Ausrüstung. Mit der von unserer Bundesverteidigungsministerin eingeleiteten Trendwende ist ein wichtiger Schritt getan worden. Jetzt heißt es, diese Trendwende zu verstetigen – mit einer planbaren Steigerung der Haushaltsmittel. Das sind wir unseren Soldatinnen und Soldaten schuldig.
({2})
Wer über das 2-Prozent-Ziel der NATO spricht, muss den Menschen aber auch deutlich machen, dass es nicht von heute auf morgen erreicht werden soll, sondern eben bis 2024. Unsere Politik – es ist wichtig, auch das zu betonen – ist immer auch mit Dialogbereitschaft verbunden.
Lassen Sie mich zum Schluss auf den Wappenspruch der NATO verweisen: „Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit“. So steht es im Wappenspruch der NATO. Diese Freiheit unseres Landes und unseres nordatlantischen Bündnisses wollen wir unter allen Umständen erhalten und notfalls auch verteidigen. Wenn sich Die Linke in einer ruhigen Minute einmal vertieft Gedanken darüber macht, dann wird sie erkennen, wie richtig das ist.
Herr Kollege.
Bis zur Diskussion im Verteidigungsausschuss haben Sie dazu genügend Zeit.
Ich danke Ihnen.
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Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Neu von der Fraktion Die Linke das Wort.
Vielen Dank. – Es scheint bei der CDU/CSU eine gewisse Hemmung zu geben, Zwischenfragen zuzulassen. Von daher müssen wir auf das Instrument der Kurzintervention zurückgreifen.
Ich möchte zwei Anmerkungen machen.
Die erste Anmerkung. Sie sprachen von der Annexion der Krim als erstem Akt der Auflösung der europäischen Friedensordnung nach 1990. Ich möchte daran erinnern: Die Auflösung der europäischen Friedensordnung hat bereits 1992 mit der Anerkennung Sloweniens, Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas begonnen
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– Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates – und kulminierte in der Operation der NATO im Rahmen des Kosovokriegs 1999, übrigens mit Zustimmung der meisten Fraktionen in diesem Hause. Das heißt: Wenn Völkerrecht gebrochen wurde, wurden die Präzedenzfälle dafür bereits seit 1992 geschaffen.
Zweite Anmerkung. Wir reden hier über Geld, wir reden über die 2 Prozent; Sie haben es gerade noch einmal bestätigt, Herr Dr. Lamers. Ich möchte mit harten Zahlen argumentieren: Die Mitgliedstaaten der NATO geben insgesamt über 920 Milliarden Dollar für ihre Militärs aus, die Russische Föderation 70 Milliarden Dollar. Die NATO gibt also das 13-Fache aus. Nahezu bei allen Großwaffensystemen ist die NATO überlegen; das Verhältnis liegt zwischen 1,3 und 1,5.
Also: Was wollen Sie uns erzählen? Von wem gehen hier Gefahren aus? Sie reden hier einer Eskalationspolitik das Wort. Das können wir in Europa nicht gebrauchen.
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Wollen Sie antworten, Herr Kollege?
Ich möchte sehr gerne antworten.
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Herr Kollege Neu, zum einen versuchen Sie, Verteidigungshaushalte einander gegenüberzustellen. Es kommt nicht nur darauf an, was man in einen Haushalt einstellt; vielmehr kommt es vor allem darauf an, was man mit dem Geld macht. Ich glaube, dass Russland gerade in der letzten Zeit bewiesen hat, dass es sein Militär zu aggressiven Zwecken einsetzt, und dagegen müssen wir uns wappnen.
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Das Zweite ist: Sie wissen aus vielen Diskussionen, die wir geführt haben, auch in der Parlamentarischen Versammlung der NATO, dass man die Ereignisse im Kosovo rechtlich und völkerrechtlich überhaupt nicht mit denen auf der Krim vergleichen kann. Was Sie sagen, das ist russische Propaganda. Sie wissen genau, dass sich die Vereinten Nationen über Monate und Jahre mit der Situation im Kosovo beschäftigt haben und erst nach langer Zeit der Beschluss gefasst wurde, die von Ihnen genannte Aktion durchzuführen.
Deswegen meine herzliche Bitte: sich nicht die Propaganda Russlands zu eigen zu machen, sondern zu erkennen, dass die Annexion der Krim ein völkerrechtswidriger Akt war, den wir nicht hinnehmen können und hinnehmen werden.
Ich danke Ihnen.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/445 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Wenn Sie damit einverstanden sind – das ist der Fall –, dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich möchte Sie davon in Kenntnis setzen, dass die Fraktionen vereinbart haben, dass die heutige Tagesordnung erweitert wird um die Beratung der Anträge der Fraktion der FDP zu unwürdigen Tiertransporten sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu einem Moratorium für Tiertransporte in außereuropäische Länder.
Die Entscheidung über die Überweisung dieser Vorlagen konnte gestern infolge der Beschlussunfähigkeit des Deutschen Bundestages nicht getroffen werden, sodass wir das ohne Aussprache am Ende der heutigen Tagesordnung vorsehen. Der ebenfalls nicht behandelte Tagesordnungspunkt 16 von gestern, der die Krankenversicherungsbeiträge für Betriebsrenten betrifft, soll heute nicht beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann machen wir das so.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit langem wird in Deutschland über den Pflegenotstand gesprochen, aber wenig getan. Nun stehen wir kurz vor einer Pflegekatastrophe. Deswegen muss jetzt sofort gehandelt werden.
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Der Pflegenotstand betrifft uns alle. Er ist einer der größten wachsenden Herausforderungen in unserer Gesellschaft. In Krankenhäusern in weiten Teilen unseres Landes können offene Stellen nicht mehr besetzt werden. In der Altenpflege ist der Fachkräftemangel sogar flächendeckend. Zehntausende gut ausgebildeter Fachkräfte haben dem Beruf den Rücken gekehrt, weil die Arbeitsbelastung immer weiter steigt und die Arbeitsbedingungen immer schlechter werden. Diese Entwicklung muss gestoppt werden, und das kann man nur mit unseren Sofortprogrammen.
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Meine Damen und Herren, was bedeutet diese Situation? Die Pflegefachkräfte gehen über ihre Grenzen hinaus, aber sie schaffen es trotzdem nicht, ihrem Wunsch entsprechend die Menschen gut zu pflegen. Das bedeutet, dass wir für die Pflegebedürftigen nicht mehr sicherstellen können, dass sie eine menschenwürdige Pflege bekommen. Wir wissen, dass den Angehörigen, Freunden oder Verwandten, die sich Tag und Nacht um Pflegebedürftige kümmern, durch diesen Mangel Unterstützung und Entlastung im Alltag fehlen.
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Meine Damen und Herren, gute Pflege braucht Zusammenhalt. Wenn ich das hier ganz kurz sagen darf: Einige Beiträge in den Diskussionen von heute Morgen machen mir große Sorge; denn Gift und Galle ist nicht die Lösung für dieses Problem. Vielmehr brauchen wir gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dafür wollen wir hier zusammen kämpfen, soweit wir Demokraten sind.
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Leider sind laut dem Sondierungspapier, das uns jetzt vorliegt, nur 8 000 zusätzliche Plätze vorgesehen. Meine Damen und Herren, das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Tropfen reichen aber nicht mehr. Der Pflegenotstand muss sofort angegangen werden.
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Deswegen bringen wir heute zwei Sofortprogramme ein, eines für die Krankenpflege und eines für die Altenpflege. Diese Sofortprogramme möchte ich Ihnen jetzt kurz vorstellen.
Im Krankenhausbereich wollen wir 25 000 zusätzliche Fachkraftstellen schaffen. Dafür wollen wir 1,3 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, damit keine Fachkraft mehr alleine eine Nachtschicht besetzen muss.
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Wir wollen verbindliche Personalbemessungsinstrumente, die sich am tatsächlichen Bedarf der pflegebedürftigen Menschen orientieren.
Auch in der Altenpflege brauchen wir dringend neue Stellen, und zwar heute. Wir schlagen vor, den Pflegevorsorgefonds aufzulösen, weil wir jetzt in mehr Personal investieren müssen.
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Deswegen schlagen wir vor, auch in diesem Bereich, unter anderem finanziert durch die Auflösung des Pflegevorsorgefonds, rund 25 000 Arbeitsplätze für Pflegekräfte neu zu schaffen. Das ist das Dreifache dessen, was laut Sondierungspapier vorgesehen ist.
Natürlich ist es berechtigt, die Frage zu stellen, woher diese zusätzlichen Fachkräfte kommen sollen. Das Potenzial ist groß. Wir können zum Beispiel die Rückkehr in den Beruf erleichtern. Wir können mehr Anreize für Vollzeit statt Teilzeit schaffen. Wir können einen flächendeckenden Tarifvertrag unterstützen. Wir können auch endlich in der Pflege Arbeitsbedingungen schaffen, die eine gute Arbeit ermöglichen, und natürlich brauchen wir mehr Ausbildungsplätze.
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Meine Damen und Herren, die Pflege muss gesamtgesellschaftlich aufgewertet werden. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, weil der Anteil pflegebedürftiger Menschen in Zukunft steigen wird. Wir dürfen die Angehörigen damit nicht alleine lassen.
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Deswegen schlagen wir diese zwei Sofortprogramme gegen den Pflegenotstand vor. Sie sind ein guter Anfang. Lassen Sie uns sofort anfangen!
Ich danke Ihnen.
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Der Kollege Erwin Rüddel spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben einen guten Plan für die Pflege in Deutschland. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode gemeinsam mit der SPD und an der Spitze mit Gesundheitsminister Hermann Gröhe umfangreiche Verbesserungen in der Pflegeversicherung für Pflegebedürftige und deren Familien beschlossen.
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Meine Fraktion wird diese erfolgreiche Politik in dieser Legislaturperiode fortsetzen. Der Schwerpunkt wird dieses Mal eindeutig bei den Pflegekräften liegen.
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Dazu haben CDU, CSU und SPD in ihrem Sondierungspapier vorige Woche klare Aussagen getroffen: Wir wollen ein Sofortprogramm für eine bessere Personalausstattung, und zwar sowohl für die Pflege im Krankenhaus als auch für die Pflege im Altenheim, eine flächendeckende Stärkung der tariflichen Entlohnung in der Alten- und Krankenpflege und eine groß angelegte Ausbildungsoffensive. Die Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung mit Pflegekräften gehört zu den zentralen Aufgaben der Politik in den Jahren, die vor uns liegen. – Insofern unterstützen Sie mit Ihren Anträgen unser Vorhaben. Dafür danke ich Ihnen.
Wir steigen ein mit einem Sofortprogramm für 8 000 neue Fachkraftstellen allein für die medizinische Behandlungspflege in Pflegeeinrichtungen. Wir werden das Personal kontinuierlich weiter aufstocken, gerade bis und nach 2020, wenn die wissenschaftlich fundierte Personalbemessung abgeschlossen ist. In den Kliniken wird es zusätzliche Untergrenzen für bettenführende Abteilungen geben.
Mit mehr Händen in der Pflege kommen wir auch zu verlässlichen Arbeitszeiten. Das gehört zu besseren Arbeitsbedingungen auf jeden Fall dazu. Überforderung durch ausufernde Arbeitszeiten, gerade auch an Wochenenden, ist eine zentrale Ursache für den vorzeitigen Abschied aus dem Pflegeberuf.
Darüber hinaus benötigen wir ein E-Health-Gesetz für die Pflege, das beinhaltet, dass die Pflege in den nächsten Jahren in die Telematikinfrastruktur eingebunden und dadurch entlastet wird. Wir brauchen technische Unterstützung in der Pflege, die die Mitarbeiter nicht ersetzt, sondern entlastet, sodass diese mehr Zeit für Zuwendung haben, zum Beispiel durch digitale Entbürokratisierung.
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Im Krankenhausbereich ist mir besonders wichtig, dass die Länder endlich genug Geld für Krankenhausinvestitionen aufbringen. Die Länder müssen eine angemessene Investitionsquote garantieren, sodass die Krankenhäuser ihre Investitionen nicht aus dem Geld finanzieren müssen, das für Ärzte und Pflege bereitgestellt ist. Deshalb streben wir nicht nur eine vollständige Refinanzierung von Tarifsteigerungen an, sondern verbinden dies auch mit der Nachweispflicht, dass diese tatsächlich bei den Beschäftigten ankommt.
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Wir wollen auch und gerade die Aussteiger zurückgewinnen, diejenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, der Pflege den Rücken gekehrt haben. Wir brauchen ihre Kompetenzen und ihre Erfahrungen. Deshalb werden wir Anreize für die Rückkehr von Teil- in Vollzeit und für den Wiedereinstieg in die Pflege schaffen, und wir werden für eine bessere Gesundheitsvorsorge der Beschäftigten sowie für die vermehrte Weiterqualifizierung von Pflegehelfern zu Pflegefachkräften sorgen.
Um Menschen zu motivieren, in der Pflege zu arbeiten, muss man auch den Ruf und die Wertschätzung der Pflege stärken. Wir müssen endlich auch einmal gut und wertschätzend über die Pflege reden und die hervorragende und wertvolle Arbeit würdigen, die zahllose Menschen Tag für Tag leisten.
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Wir müssen mit der fast schon lustvollen Verbreitung von Defiziten in der Pflege Schluss machen. Unsere Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen in der Pflege so zu gestalten, dass man von der Ausbildung bis zur Rente gern in diesem Beruf arbeitet.
Die Pflegeberufe haben in unserer Gesellschaft eine sichere Zukunftsperspektive und sind, insbesondere die Altenpflege, heute schon beliebte Ausbildungsberufe. Der demografische Wandel und die Ausweitungen der Leistungen erfordern aber überproportional viele neue Pflegekräfte. Wir haben uns deshalb viel vorgenommen, meine Damen und Herren. Wir werden zügig handeln, sobald die Koalition steht. Ich hoffe, das wird in wenigen Tagen der Fall sein.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Heike Baehrens von der SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist Dampf im Kessel. Es ist zwingend nötig, Druck aus diesem Kessel herauszulassen. Und: Ja, wir brauchen mehr Courage, um die brennenden Probleme der Pflege anzupacken.
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Darum ist es gut, dass sich hier ein breiter Wille abzeichnet, die Situation in der Kranken- und Altenpflege spürbar zu verbessern. Die Pflegestärkungsgesetze waren wichtig. Auch mit der Krankenhausstrukturreform haben wir wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Aber jetzt ist die Zeit reif für Maßnahmen, die die Pflegekräfte spürbar entlasten.
In Ihren Anträgen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, nennen Sie wichtige Punkte, die, wie Sie selbst einräumen, schon weitgehend politisch konsentiert sind. Dennoch muss klar sein: Ein solches Sofortprogramm reicht nicht aus. Wir brauchen grundlegende strukturelle Veränderungen. Wir brauchen einen Plan, wie die notwendigen Einzelmaßnahmen zu einem Gesamtkonzept zusammengeführt werden und wer als Bündnispartner dafür gewonnen werden muss.
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Wer dem Fachkräftemangel wirksam begegnen will, der muss gleichzeitig die Arbeitsbedingungen verbessern. Das erscheint wie die Quadratur des Kreises. Doch nur wenn beides gleichermaßen ernst genommen wird, werden die in der Pflege Tätigen wieder Vertrauen fassen. Darum ist klar: Es ist nicht nur die Politik in Bund, Ländern und Gemeinden gefragt, sondern es müssen auch die Sozialpartner mit ins Boot geholt werden. Sie müssen allgemeinverbindliche Tarifverträge für die Pflege erkämpfen.
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Es ist einfach nicht länger hinzunehmen, dass eine Altenpflegerin im Schnitt nur 2 600 Euro im Monat verdient, während eine Krankenpflegerin 3 200 Euro bekommt. Noch skandalöser ist es, wenn eine Altenpflegerin in Sachsen-Anhalt fast 1 000 Euro weniger verdient als eine Kraft für die gleiche Arbeit in Baden-Württemberg.
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Ähnliche Differenzen gibt es bundesweit auch bei den Personalanhaltszahlen. Ein Instrument zur Personalbemessung wird da wichtige fachliche Grundlagen schaffen. Aber auch das reicht nicht; denn in der Praxis ist allen klar, dass wir schleunigst bessere Personalschlüssel brauchen, sowohl in der Altenpflege als auch in den Krankenhäusern und dort selbstverständlich auf allen bettenführenden Stationen.
Die zusätzlichen Kosten für einen Heimplatz – das wissen alle – können nicht mehr allein von den Pflegebedürftigen getragen werden. Ihr Vorschlag, liebe Grüne, das brachliegende Geld aus dem Pflegevorsorgefonds für ein Sofortprogramm einzusetzen, kann durchaus ein sinnvoller Finanzierungsbaustein sein.
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Würde man diese 1,2 Milliarden Euro pro Jahr dafür verwenden, je Wohngruppe mit 30 Bewohnern eine zusätzliche Stelle zu finanzieren, würden sogar die Pflegeschlüssel unmittelbar verbessert. Das wäre tatsächlich ein starkes Signal.
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Wer also die Pflege nachhaltig verbessern will, Frau Haßelmann, der braucht einen Plan und muss vor allem alle Ebenen an einen Tisch holen.
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– Nein, was bei Ihnen fehlt, ist, dass alle an einen Tisch gebracht werden.
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Es sind Bund, Länder und Gemeinden gefragt, es sind die Sozialpartner gefordert, die Leistungserbringer wie auch die Kranken- und Pflegekassen.
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Auch zivilgesellschaftliche Akteure und Interessenvertretungen und – das ist besonders wichtig – die Pflegekräfte selbst müssen mit ins Boot geholt werden und mitreden können.
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Ja, es ist Zeit für einen Masterplan Pflege. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen dafür bereit.
Vielen Dank.
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Zu seiner ersten Rede erteile ich jetzt dem Kollegen Dr. Robby Schlund von der AfD-Fraktion das Wort.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Gäste auf den Rängen! In fernöstlichen Kulturen hat das Altern traditionsgemäß eine beeindruckend positive Belegung und wird mit Autorität, Weisheit, Güte und Wertevermittlung assoziiert. Die Familie als wichtiges und zuverlässiges Element war in diesen Wertekanon immer eingebunden und nahm und nimmt auch heute noch einen großen Platz in der Begleitung des Älterwerdens und den damit verbundenen Pflegearbeiten ein,
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obgleich auch hier schon in den letzten Jahrzehnten westliche Anschauungen in einem atemberaubenden Tempo assimiliert wurden. Diese westlichen Anschauungen sind von starker, kulturell bedingter Angst und Abneigung gegenüber dem Altern geprägt. Diese Abneigung führt nicht nur dazu, dass zunehmend immer mehr junge Menschen das Alter einfach nicht mehr sehen wollen, sondern auch dazu, dass Alter einfach in Heime exportiert wird.
({1})
In diesem Kontext ist eine psychologische Negativbelegung des Berufes des Altenpflegers faktisch omnipräsent. Die AfD fordert deshalb zu Recht eine Aufwertung des Pflegeberufs im Allgemeinen und des Altenpflegeberufs im Speziellen.
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Dazu muss der Beruf nicht nur durch Tarifsteigerungen, sondern auch durch begehrenswerte soziale Anreize wie sehr gute Arbeits- und Erholungsbedingungen in einem familienfreundlichen Kontext gesamtgesellschaftlich und politisch aufgewertet werden. Selbstverständlich gehört dazu, in der Pflege einen verbindlichen länderübergreifenden Mindestpersonalschlüssel zu schaffen, der auch bei den Krankenhausentgelten Berücksichtigung finden muss.
Unter den genannten Aspekten fällt beim Betrachten des hier vorliegenden wohlklingenden Antrags für ein Sofortprogramm für mehr Personal in der Altenpflege schnell auf, dass mit der Auflösung des Pflegevorsorgefonds und einem Sofortprogramm die Probleme in der Pflege vor Ort nicht vollumfänglich gelöst werden können.
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Deshalb geht uns der Antrag, ehrlich gesagt, noch nicht weit genug. Er muss weiter intelligent strukturiert werden.
Maßnahmen, bei denen sich bereits eine politische Einigkeit über alle Fraktionen hinweg abzeichnet, sollten in der Tat zeitnah umgesetzt werden. Darüber hinaus muss die Pflege durch Angehörige dringend aufgewertet werden.
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Pflegende Angehörige werden oft mit unglaublichen organisatorischen und finanziellen Problemen alleingelassen. Deshalb wollen wir uns auch für die Fürsorge pflegebedürftiger Familienangehöriger in vertrauter familiärer Umgebung einsetzen und diese aufwerten, zum Beispiel in Form eines umfassenden Betreuungsnetzwerkes. Gleichzeitig sollte man die Pflegesätze an die Leistungen für Pflegedienstleister angleichen. Die individuelle häusliche Pflege muss zu einem Hauptbestandteil der sozialen Sicherungssysteme ausgebaut und belebt werden.
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Sie ist Garant für ein würdiges Älterwerden in einem durch unsere Heimat und unser Leben geprägten, aber vertrauten kulturellen und sprachlichen Umfeld.
Grundsätzlich aber ist eine Stärkung des Pflegepersonals und der Krankenhauspflege zu befürworten. Dies muss dringend gleichzeitig durchgeführt werden, um eine Abwanderung der qualifizierten Altenpfleger in die Krankenhauspflege zu verhindern; denn eine Veränderung bzw. Aufwertung des Anteils der Pflege am Ressourcenaufwand im Case-Mix-Index des Krankenhauses würde zeitlich gesehen eher wirken als die Programme in der Altenpflege. Es wäre durchaus zu erwarten, dass dann, bedingt durch die Abwanderung, nicht, wie derzeit, zwei freie Stellen auf einen Bewerber kämen, sondern vielleicht drei oder vier. Ein Mindestpersonalschlüssel in beiden Bereichen setzt natürlich valide Normen und könnte dem entgegenwirken.
Die Einführung eines länderübergreifenden Mindestpersonalschlüssels, der zeitversetzt in beide Pflegesparten implementiert werden sollte, sollte mit einer Ausbildungs- und Qualifizierungsinitiative einhergehen. Diese Ausbildungs- und Qualifizierungsinitiative muss so gestaltet werden, dass als unabdingbare Voraussetzung auch hier das Beherrschen der deutschen Sprache und das Verständnis für die Kultur der anvertrauten Patienten reine Herzenswünsche der zukünftigen Pflegekräfte sein sollten.
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Die AfD möchte unsere älteren und pflegebedürften Menschen, die Deutschland mit ihrer Lebensarbeitskraft Würde, Wirtschaftskraft und Kinder gegeben haben, gut versorgt wissen.
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Deshalb sollte der Antrag zur weiteren Beratung an den Gesundheitsausschuss überwiesen werden.
Vielen Dank.
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Ebenfalls zu ihrer ersten Rede darf ich nun der Kollegin Nicole Westig von der FDP-Fraktion das Wort erteilen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP begrüßt, dass wir das Thema Pflege heute hier behandeln; denn wir sind der Meinung, dass die Beseitigung des Pflegenotstands ganz oben auf unsere gemeinsame politische Agenda gehört. Es darf nicht sein, dass in unserem Land in einzelnen Bereichen der Pflege unwürdige Zustände herrschen,
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für Patientinnen und Patienten, aber auch für die Pflegekräfte selbst. Die Probleme werden wachsen; denn die Lebenserwartung steigt und damit die Zahl der Pflegebedürften. Eine steigende Lebenserwartung ist nur dann erfreulich, wenn auch ein Altern in Würde möglich ist. Deshalb müssen wir dringend handeln.
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Wir Freie Demokraten schließen uns deshalb der Forderung nach einer konzertierten Aktion Pflege an.
In meiner früheren Berufstätigkeit bei einem großen diakonischen Verein habe ich viele Menschen erlebt, die mit Leib und Seele in der Pflege arbeiten und sich liebevoll und mit Hingabe um alte Menschen, um Menschen mit Demenz und auch um Menschen mit Behinderung kümmern. Unterstützen wir diese und alle Menschen in der Pflege bei ihrem Bemühen um bessere Arbeitsbedingungen, und setzen wir mit dieser Debatte auch ein öffentliches Zeichen der Anerkennung und der Wertschätzung!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns einig: Alles steht und fällt mit einer angemessenen Personalausstattung. Wir brauchen mehr Menschen in der Pflege. Dazu bedarf es einer Aus- und Weiterbildungsoffensive. Bei der Ausbildung aber hat die vergangene Regierung ihre Hausaufgaben nicht richtig gemacht.
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Es war richtig, das Schulgeld für Pflegeberufe abzuschaffen. Aber bei der künftigen Finanzierung hängen wir noch in der Luft. Gleichzeitig soll, so steht es zu Recht im Sondierungspapier, auch das Schulgeld für Heilberufe abgeschafft werden.
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Als FDP fordern wir, die Finanzierung all dessen schnellstmöglich zu klären.
Wir müssen aber auch die Arbeit in der Pflege attraktiver machen. Dazu gehören eine angemessene Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen. Wir verlieren wertvolle Fachkräfte, wenn sich die Arbeit in der Pflege nicht mit der Familie vereinbaren lässt,
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wenn Arbeitnehmer frühzeitig ausscheiden, weil sie die körperlichen Belastungen nicht mehr schaffen, wenn der seelische Druck so hoch ist, dass er zum Burn-out führt. Verlässliche Dienstpläne und eine bessere Ausstattung mit Hilfsmitteln können die Situation verbessern. Hier sind die Arbeitgeber und die Einrichtungen stärker gefordert.
Wir müssen aber auch die vorhandenen Ressourcen besser nutzen. Wenn 13 Prozent der Arbeitszeit in der Pflege für Dokumentationspflichten aufgewandt werden müssen – das entspricht immerhin 100 000 Vollzeitarbeitsplätzen –, dann liegt da etwas gehörig im Argen.
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Menschen engagieren sich in der Pflege, weil sie anderen Menschen helfen wollen. Der tägliche Papierkrieg demotiviert sie. Wir müssen die Misstrauenskultur beenden, die eine aufwendige Dokumentation verlangt, ohne Missstände zu beseitigen.
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Selbst wenn es uns gelingt, durch eine Aus- und Weiterbildungsoffensive mehr Menschen für die Pflege zu gewinnen, wird das nicht ausreichen. Wir werden auf qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen sein.
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Auch um dem Fachkräftemangel in der Pflege zu begegnen, brauchen wir endlich ein Einwanderungsgesetz.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir zum Pflegevorsorgefonds. Dieser ist zweckgebunden angelegt worden, um potenzielle Defizite in der sozialen Pflegeversicherung aufzufangen. Bündnis 90/Die Grünen wollen diesen nun auflösen und verweisen auf den zu geringen Stabilisierungseffekt. Das kann nicht die Antwort sein. Wir Freie Demokraten warnen davor, das beitragsfinanzierte Tafelsilber anzutasten, erst recht nicht in Zeiten sprudelnder Steuereinnahmen. Lassen Sie uns gemeinsam einen anderen Weg finden,
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um die dringendsten Probleme in der Pflege finanziell zu lösen.
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Ich freue mich auf unsere Diskussion im Ausschuss. Lassen Sie uns gemeinsam dafür kämpfen, die Lebensqualität der Menschen in unserem Land auch in Krankheit und Alter zu sichern.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke spricht nunmehr die Kollegin Pia Zimmermann.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke wirkt. Ich freue mich, dass die Kollegen von den Grünen einen Teil der Forderungen aus unserem Sofortprogramm vom November letzten Jahres übernommen haben. Ich freue mich auch darüber, dass ein Teil unserer Forderungen in die Sondierungsverhandlungen von SPD und CDU/CSU Einzug gehalten haben.
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Aber Sie sind ziemlich kurz gesprungen. Sie haben in Ihren Anträgen und Vereinbarungen nämlich einen ganz wichtigen Punkt vergessen, und zwar die nachhaltige Finanzierung. Wer eine gute, menschenwürdige Pflege für alle möchte, die nicht vom Geldbeutel abhängig ist, der darf über die Finanzierung nicht schweigen, meine Damen und Herren.
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Die Linke fordert als einzige Fraktion eine solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung, die eine gute Pflege für alle garantiert.
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Die Regierung hat es geschafft, dass die Pflegeversicherung gegenwärtig nicht einmal 50 Prozent der anfallenden Kosten übernimmt und dass die steigenden Kosten den Menschen mit Pflegebedarf zusätzlich aufgebürdet werden und der Eigenanteil somit für viele explodiert.
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. – Es ist längst klar, wohin die Pflegepolitik in den letzten Jahren geführt hat: zu einem skandalösen Pflegenotstand. Das belegen auch Zahlen des CARE Klima-Index und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
Haben Sie, als Sie ein Pflegestärkungsgesetz nach dem anderen beschlossen haben, eigentlich völlig vergessen, dass diese Gesetze nur mit viel qualifiziertem Personal umgesetzt werden können? In Deutschland leben heute – ich nenne die aktuelle Zahl – 3,6 Millionen Menschen mit Pflegebedarf, und 100 000 Pflegekräfte fehlen in den Krankenhäusern, mindestens 30 000 Pflegekräfte in den Pflegeheimen, Tendenz steigend. Bitte nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass selbst bei einer gut finanzierten Pflege, wie wir sie vorschlagen, Pflegekräfte fehlen werden. Die durchschnittliche Verweildauer einer Pflegekraft beträgt, je nach Arbeitsbereich und Studie, zwischen sieben und zwölf Jahren; danach gehen sie. Darüber sollten Sie sich einmal Gedanken machen.
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Zurzeit ist eine Verbesserung der Situation nicht in Sicht, im Gegenteil. Auf der einen Seite haben wir einen wachsenden Bedarf an Pflegeleistungen, aber immer weniger Pflegekräfte. Auf der anderen Seite haben wir eine wachsende Anzahl von Pflegeeinrichtungen, die an internationale Investoren verkauft wurden. Die Immobilienmanager werben mit besten Renditen; denn eine Geldanlage in der Pflegewirtschaft gilt als sicheres Geschäft. Es ist doch wirklich das Letzte, dass Pflege unter wirtschaftliche Interessen gestellt wird.
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Und es ist das Allerletzte, dass es einen Markt gibt, der nicht die beste Versorgung für die Menschen mit Pflegebedarf zugrunde legt, sondern den Wettbewerb um das beste Geschäft mit diesen Menschen. Das ist mit uns Linken nicht zu machen.
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Schließlich geht es hier um die Pflege und Betreuung von Menschen, die ein Teil unserer Gesellschaft sind. Wir benötigen endlich klare Regeln, damit Pflegekräfte nicht länger als lästiger Kostenfaktor in der Wirtschaftsbilanz von Gesundheitsunternehmen auftauchen und Menschen mit Pflegebedarf nicht bloß als Mittel für ein gutes Geschäft kalkuliert werden.
Ich fasse zusammen: Pflege und Gesundheit sind Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Wir benötigen eine solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung, damit gute Pflege für alle selbstverständlich ist. Eine Aufwertung der Pflegeberufe ist dringend notwendig; denn nur mit ausreichend qualifiziertem Personal gelingt auch gute Pflege. Um das zu erreichen, ist eine bundesweit einheitliche Personalbemessung in Krankenhäusern und Pflegeheimen notwendig.
Ein Tipp noch: Wenn Sie Fragen zum Bedarf haben, dann fragen Sie nicht die Versicherungen; denn die wollen sparen. Fragen Sie die Betroffenen, die Menschen mit Pflegebedarf, deren Angehörige und die Pflegekräfte; denn das sind die wirklichen Expertinnen und Experten.
Herzlichen Dank.
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Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Schulz-Asche von den Grünen das Wort.
Frau Kollegin Zimmermann, wir saßen in der letzten Legislaturperiode gemeinsam im Gesundheitsausschuss und haben da bereits über die Frage diskutiert. Angesichts Ihrer Forderung nach einer solidarischen Bürgerversicherung in der Pflege, frage ich Sie, ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass auch wir als Bündnis 90/Die Grünen eine solidarische Pflegeversicherung fordern? Damit es keine weitere Kurzintervention gibt, füge ich hinzu: Auch die Kollegen von der SPD fordern eine solche Versicherung.
Die Frage ist: Wie schnell geht das? Wir brauchen – Sie haben es gesagt – ein Sofortprogramm. Wenn wir die Pflegeversicherung nicht auf Anhieb solidarisch gestalten können, brauchen wir andere Mittel. Vor diesem Hintergrund frage ich Sie: Welche Maßnahmen schlagen Sie im Rahmen eines Sofortprogramms vor, und welche Finanzierung sehen Sie dafür vor?
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Wollen Sie antworten, Frau Zimmermann? – Ja.
Vielen Dank für die Nachfrage. – Zum ersten Punkt kann ich sagen, dass unsere Anträge dazu bereits vorliegen; das hätte man nachlesen können.
Natürlich, Frau Schulz-Asche, ist es auch unsere Forderung – darüber haben wir gesprochen –, den Pflegevorsorgefonds aufzulösen, um Sofortmaßnahmen ergreifen zu können. Ich habe auch zur Kenntnis genommen, dass eine solidarische Pflegeversicherung für Sie diskutabel ist. Aber wir haben zwei unterschiedliche Anträge, und wir haben unterschiedliche Ansätze. Das heißt, es steht zwar das Gleiche drauf, es ist aber nicht das Gleiche drin. Darüber muss man natürlich trefflich streiten.
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Aber ich will auch eines sagen – die Kolleginnen und Kollegen von der SPD sind auch angesprochen worden –: Wir hätten es doch in der letzten Legislatur durchsetzen können. Mit Grünen, SPD und Linken hätten wir die solidarische Pflegeversicherung – wenigstens die! – durchsetzen können.
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Aber das war ja nicht zu machen.
Jetzt rudern die Kolleginnen und Kollegen von der SPD schon wieder zurück, weil man nicht ganz genau weiß, ob man vielleicht noch in die Regierungsverantwortung kommt. Was ich überhaupt nicht leiden kann, ist, in Wahlkämpfen immer einen sozialpolitischen Bauchladen vor sich herzutragen, und wenn man dann in der Regierung ist, wird er fein säuberlich eingepackt, und dann spielt das keine Rolle mehr. So kommen wir nicht zu einer auskömmlichen Finanzierung in der Pflege. Das funktioniert so nicht.
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Ich erteile als nächstem Redner das Wort dem Kollegen Erich Irlstorfer von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns einig, dass die Pflege ein Zukunftsthema ist, das alle Fraktionen im Deutschen Bundestag beschäftigt. Ich möchte aber noch anmerken: Mit der Beschreibung von Problemen löst man keine Probleme.
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Deshalb ist es richtig, dass wir ein Sofortprogramm auf den Weg bringen und dass das Ganze schnell passieren muss. Wir sind uns nicht nur in der Union einig, sondern das ist, denke ich, auch in den anderen Fraktionen Konsens.
Die 8 000 neuen Personalstellen, die wir bereitstellen werden, sind nur ein Einstieg. Uns ist natürlich klar, dass das nicht das Ende der Fahnenstange sein kann. Ich möchte aber die Aussage korrigieren, Frau Kollegin Schulz-Asche, man hätte wenig getan. Ich denke, das ist inhaltlich nicht ganz korrekt; denn wir haben in der letzten Legislatur viele Punkte nicht nur besprochen, sondern auch auf den Weg gebracht. Dazu gehört das Pflegestellen-Förderprogramm. Krankenhäuser mit einem höheren Pflegepersonalkostenanteil bekommen einen Pflegezuschlag. Es geht auch darum, die infolge von Tarifabschlüssen entstehenden Kosten zu refinanzieren.
All diese Dinge hat man doch schon gut angepackt. Wesentlich ist, glaube ich, auch, dass in den Pflegesatzverhandlungen die Entlohnungen bis zur Höhe des Tarifniveaus von den Krankenkassen als wirtschaftlich anerkannt werden müssen. Auch das ist ein sehr, sehr wichtiger Punkt.
Mit dem Pflegeberufegesetz gehen wir einen Weg in der Ausbildung, der den künftigen Entwicklungen des Pflegebedarfs und auch des Pflegeberufs gerecht wird. Ich verweise auf erste Erfolge bei den stationären Pflegeeinrichtungen. Diese erhalten einen Vergütungszuschlag bei Anspruch auf zusätzliche Betreuung, die über die nach Art und Schwere der Pflegebedürftigkeit notwendige Versorgung hinausgeht. Dass hier zwischen 2013 und 2015 ein Plus von über 49 000 zusätzlichen Betreuungskräften verzeichnet werden kann, ist, denke ich, auch wesentlich.
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Ich möchte auch wiederholen, dass unsere Pflegekräfte Enormes leisten und eine hervorragende Arbeit machen. Aber wir streben weitere Verbesserungen und mehr Personal auf den Stationen an. Wir brauchen aber auch die entsprechenden Mittel dafür und vor allem die notwendigen Instrumente bei der Gewinnung von Pflegepersonal.
Man kann nicht wegdiskutieren, dass der Wegfall des Zivildienstes uns hier auch geschadet hat. Während 2010 noch mehr als 78 000 junge Männer Zivildienst geleistet haben, konnten wir 2016 im Durchschnitt gerade einmal über 41 000 junge Frauen und Männer verzeichnen. Das ist ein Punkt, der uns natürlich beschäftigt.
Fest steht: Wir müssen neue Wege des Einstiegs in diesen Beruf entwickeln, um junge Menschen und vielleicht auch Menschen mittleren Alters, die diesem Beruf den Rücken gekehrt haben, wieder zurückzugewinnen. Herr Kollege Dr. Schlund, Sie haben das mit den jungen Leuten in eine – zumindest habe ich es so verstanden – negative Richtung gebracht. Ich mache die Erfahrung, dass junge Leute sehr verantwortungsbewusst handeln, gerne in der Pflege arbeiten und auch das notwendige Gespür für ältere Menschen haben.
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Da meine Redezeit abgelaufen ist, komme ich zum Schluss. Junge Menschen müssen sich auch ausprobieren dürfen, gerade in Mangelberufen und in Berufen, die sie nicht kennen. Das sollten wir bei der ganzen Diskussion nicht vergessen. Das ist wichtig. Dafür treten wir ein.
Herzlichen Dank.
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Zu ihrer ersten Rede darf ich nun Frau Kollegin Claudia Moll von der SPD-Fraktion aufrufen. Liebe Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
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Danke schön. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bis zum 24. September 2017 habe ich 27 Jahre sehr gerne und mit Leidenschaft als Altenpflegerin gearbeitet.
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Ich liebe meinen Beruf. Ich vermisse meine Bewohner und die Kollegen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass der Pflegenotstand längst Realität geworden ist. Tag für Tag habe ich die Probleme in der Pflege mitbekommen, die vielen Überstunden, den Stress und den Zeitdruck bei der Erfüllung der Aufgabe, allen Bewohnern eine vernünftige, respektvolle und würdevolle Versorgung zukommen zu lassen.
Das Personal im Bereich der Pflege ist unterbezahlt, vollkommen überlastet und arbeitet sich krank.
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Darunter leiden natürlich diejenigen, die auf eine qualitative Pflege angewiesen sind. Eines bitte ich zu beachten: Nicht jeder kann pflegen. Aber jeder von uns kann von heute auf morgen pflegebedürftig werden.
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Fakt ist jedenfalls, dass die Pflegebedürftigen, deren Familien und das Pflegepersonal nicht alleine gelassen werden dürfen.
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Ich bin letztes Jahr angetreten, um unter anderem für meine Kolleginnen und Kollegen in der Pflege, aber auch für die Angehörigen und die zu Pflegenden Verbesserungen herbeizuführen. Ich freue mich, dass im Wahlkampf dieses Thema endlich einen entsprechenden Stellenwert bekommen hat;
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denn dieses Thema ist in der Lebensrealität vieler Menschen angekommen, die selbst oder als Angehörige davon betroffen sind. Deshalb wünsche ich mir, dass wir die nun angestoßene Debatte aufgreifen und fortführen.
Die Probleme sind aber nicht nur mit Sofortprogrammen und Personalbemessungen gelöst, auch wenn dies vernünftige Schritte sind. Die Forderungen der Fraktion der Grünen sind insgesamt nicht schlecht, aber noch ausbaufähig.
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Vergessen dürfen wir nämlich nicht, dass die größte Gruppe des Pflegepersonals die Bürgerinnen und Bürger sind, die ihre Angehörigen teilweise bis zur Erschöpfung zu Hause pflegen.
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Hier helfen Sofortprogramme leider nur wenig. Ich hoffe, dass wir uns mit allen anderen Fraktionen darauf verständigen, an dieser Stelle zusammenzuarbeiten und nicht nur Anträge schnell einzubringen, sondern auch Mehrheiten für eine bessere Pflege zu organisieren und umfassend an diesem Thema zu arbeiten.
Vor allem müssen wir endlich dafür sorgen, dass der Pflegeberuf attraktiver wird.
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Das hängt nicht nur von der Bezahlung ab; denn bei guten Rahmenbedingungen ist es ein wunderbarer Beruf. Dabei wird es endlich Zeit, dass Pflegekräfte für ihre körperlich und geistig schwere Arbeit angemessen bezahlt werden.
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Ich bin in den letzten Wochen und Monaten sehr oft gefragt worden, ob ich als kleine Altenpflegerin keine Angst vor der großen Politik in Berlin habe.
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Nein, ich habe keine Angst. Angst hatte ich in den vielen Nachtdiensten, wo ich alleine für 56 teilweise schwerstkranke Menschen verantwortlich war
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und am nächsten Morgen froh war, dass der Dienst zu Ende und nichts passiert war. Damals hatte ich Angst. Aber ich habe keine Angst, hier zu stehen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich auf die Debatten über die Pflegesituation in unserem Land und wünsche mir, dass wir in diesem Bereich gemeinsam etwas anpacken. Vielleicht gibt es bald ein Pflegeministerium. Genau deshalb stehe ich hier.
Vielen Dank.
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Der letzte Redner in der Debatte ist der Kollege Lothar Riebsamen von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! So viel zeichnet sich bei dieser Debatte heute ab – auch die Diskussionen um die Sondierungsgespräche der letzten Wochen und Monate haben es gezeigt –: Die Pflege wird auch in der neuen Legislaturperiode ein Topthema sein. Das ist auch notwendig. Wir stehen damit in der Kontinuität der letzten Legislaturperiode, in der die Pflege bereits einen breiten Raum eingenommen hat. Es wurde heute schon von verschiedenen Rednern zur Sprache gebracht: Wir haben in den Krankenhausbereich ganz wichtige Momente eingebracht, etwa die Einführung des Pflegezuschlags und den Einstieg in den Tarifausgleich.
Aber eines muss klar sein – um es einmal in der Fußballsprache zu sagen –: Geld allein schießt noch keine Tore. Geld ins Schaufenster zu stellen, schafft möglicherweise Stellen in den Altenheimen und in den Krankenhäusern, aber noch nicht die Menschen, die diese Stellen auch tatsächlich besetzen können. Wir wissen doch, dass an die 10 000 Stellen in den Krankenhäusern zwar ausgeschrieben sind, aber nicht besetzt werden können, dass über die Hälfte der Abteilungen in der Neonatologie schon seit Jahren Stellen nicht besetzen können. Davor dürfen wir die Augen nicht verschließen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie haben recht große Zahlen ins Schaufenster gestellt: Sie fordern ein Sofortprogramm in Höhe von 1,3 Milliarden Euro, durch das etwa 25 000 zusätzliche Pflegekraftstellen ermöglicht werden. Aber ich hätte schon erwartet, dass man ein paar Sätze dazu schreibt, aus denen hervorgeht, woher die Menschen kommen sollen, die diese Stellen ausfüllen.
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Dass es keinen Königsweg gibt, das wissen wir beide. Aber ein paar Sätze dazu hätten Sie doch verlieren können.
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Dann komme ich noch zu dem wichtigsten Thema überhaupt: Auf der einen Seite gilt es, die Attraktivität des Pflegeberufs zu steigern, damit wir genug Menschen finden, die ihn ausüben wollen; auf der anderen Seite gilt es, die Effizienz der vorhandenen Pflegekräfte zu verbessern.
Meine Damen und Herren, natürlich ist es wichtig, dass die Pflegekräfte in ganz Deutschland gleichermaßen gut bezahlt werden. Ich denke an alle in allen Bundesländern in der Altenpflege und in der Krankenpflege Tätigen. Hier mangelt es. Um diesen Mangel zu beheben, brauchen wir den kompletten Tarifausgleich. Dieser sollte insbesondere dem Pflegepersonal zugutekommen.
Aber wir müssen uns auch die Effizienz anschauen. Wir vergleichen uns – das ist auch richtig so – mit der OECD, wenn es darum geht: Wie ist die Proportion zwischen Pflegekräften und Patienten? Da stehen wir nicht besonders gut da; das wissen wir. Auf der anderen Seite ist es so, dass wir in Deutschland 13,5 Pflegekräfte pro 10 000 Einwohner haben. Im Durchschnitt sind es in den OECD-Ländern gerade einmal 9 Pflegekräfte pro 10 000 Einwohner. Es gibt nur vier Länder, die mehr Pflegekräfte pro 10 000 Einwohner haben: die Schweiz, Island, Dänemark, Norwegen. Das sind die vier Länder, die einen besseren Durchschnitt als wir haben.
Aber selbst bei den Ländern, die nicht so viele Pflegekräfte wie wir haben, ist die Relation zwischen Krankenpflege und Patienten manchmal besser. Der Frage „Woher kommt das?“ müssen wir nachgehen. Natürlich spielt dabei das Thema „Bürokratie in Deutschland“ eine Rolle. Es geht an dieser Stelle durch Bürokratie zu viel Manpower – oder Womanpower – verloren. Ich nenne das Stichwort „Digitalisierung“, ich nenne das Stichwort „elektronische Patientenakte“, und ich nenne auch das Stichwort „Fehlsteuerung zwischen ambulant und stationär“. Auch die Notfallversorgung gehört dazu; denn allzu viele Menschen landen im stationären Bereich, weil bei der Honorierung leider falsche Anreize gesetzt werden. Auch das müssen wir uns anschauen.
Ein letzter Gedanke – meine Redezeit ist schon abgelaufen –: Stärkung der ambulanten Pflege der Angehörigen. Wir haben Geld gegeben, um die Dauer der Kurzzeitpflege zu verdoppeln; das ist gut. Aber wir haben zu wenige Kurzzeitpflegeplätze in Deutschland. Deswegen ist es wichtig, dass wir in den Sondierungsgesprächen auch dieses Thema aufgenommen haben. Es liegt mir sehr am Herzen, dass den Menschen jetzt die Möglichkeit gegeben wird, die bereitgestellten Mittel einzusetzen.
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Meine Damen und Herren, die Union setzt auf Pflege, auch in der kommenden Legislaturperiode. Ich bin sicher, dass wir, wenn wir an einem Strang ziehen, auch zu deutlichen Verbesserungen kommen.
Herzlichen Dank. Ihnen ein schönes Wochenende!
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/446 und 19/447 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.