Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/1/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Anja Karliczek (Minister:in)

Politiker ID: 11004323

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jeder zweite von uns erkrankt im Laufe seines Lebens an Krebs. Krebs ist die zweithäufigste Todesursache. Wenn man fragt: „Vor welcher Krankheit fürchten Sie sich am meisten?“, dann antwortet die Mehrheit in Deutschland: Krebs. – Deswegen haben wir in dieser Woche die Nationale Dekade gegen Krebs gestartet. Zehn Jahre lang mobilisieren wir alle Kräfte. Wir wollen Krebs besser verstehen, wir wollen Krebs verhindern, wir wollen Krebs heilen. Die Nationale Dekade gegen Krebs ist ein zentrales Thema der Hightech-Strategie. An ihr möchte ich heute zeigen, wie wir mit der Hightech-Strategie Probleme lösen und was wir meinen, wenn wir sagen: Die Menschen stehen im Mittelpunkt unserer Innovationspolitik. Drei Beispiele dafür: Erstens ein Transferthema. Neue Therapien müssen schneller raus aus dem Labor, ran ans Krankenbett kommen. Je näher Forschung und Patienten beieinander sind, desto schneller gelingt uns das, so wie im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg und in Dresden. Im Rahmen der Nationalen Dekade gegen Krebs bauen wir weitere solcher Standorte auf. Die Ängste und Sorgen der Patienten sind wichtig. Nicht nur in der Therapie, auch in der Forschung werden sie in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Jeder Krankheitsverlauf ist individuell. Persönlich zugeschnittene Therapien helfen individuell. Das ist eine Chance, wie wir sie noch nie hatten, und diese Chance wollen wir nutzen. ({0}) Mit der Nationalen Dekade gegen Krebs fördern wir erstmals Studien, die solche Fortschritte möglich machen. Forschung durch Vergleich: Welche Ansätze in der Früherkennung, welche Therapien haben sich bewährt? Welche Unterschiede gibt es in den Kliniken? Welche Erfahrungen haben die Patienten gemacht? – So können sich am Ende die besten Therapien für die Menschen in unserem Land durchsetzen. Patienten eine Stimme zu geben, auch in der Forschung, das ist mir ein wichtiges Anliegen. Mit den Menschen gemeinsam Neues entwickeln, darum geht es, egal ob beim Kampf gegen den Krebs, ob bei der künstlichen Intelligenz oder wenn es um die Zukunft der Arbeit geht. Wir nutzen die neuen Hightechmöglichkeiten; das ist mein zweiter Punkt. Gerade in der Krebsforschung werden durch die Datenvernetzung und die künstliche Intelligenz große Fortschritte gemacht. Wir vernetzen die Zentren der Krebsforschung und die Krankenhäuser besser untereinander, damit sie Daten austauschen und Erkenntnisse gemeinsam nutzen können. Künstliche Intelligenz kann Muster in Krankheitsverläufen erkennen und daraus schließen, welche Therapien Erfolg versprechen, individuell und persönlich. Individuell und persönlich, gerade auch in der Medizin, das ermöglicht uns künstliche Intelligenz. Dazu brauchen wir viele Patientendaten. Je mehr Daten wir haben, umso besser. Gleichzeitig ist uns aber natürlich auch die Privatsphäre der kranken Menschen wichtig. Diesen Spagat gilt es zu leisten, nicht nur, wenn es um Patientendaten geht. Künstliche Intelligenz steckt überall, und damit bin ich beim dritten Beispiel. Unsere Autoindustrie forscht intensiv an selbstfahrenden Autos, damit wir wirtschaftlich erfolgreich bleiben. Der Wohlstand in Deutschland hängt stark vom Erfolg der Automobilindustrie ab. Wir wollen die Autonation Deutschland bleiben. ({1}) Das Auto der Zukunft fährt autonom und mit regenerativer Energie. Eine Möglichkeit ist dabei die Elektromobilität, und dafür brauchen wir Batterien. Die können wir heute nur in Asien kaufen. Die Autonation Deutschland darf nicht abhängig sein von Asien. ({2}) Eine eigene Batterieproduktion ist eine Frage wirtschaftlicher Unabhängigkeit und gleichzeitig der Sicherung von Wertschöpfung in Deutschland. Denn die Batterie wird ein wesentlicher Teil der Wertschöpfung im Auto der Zukunft sein. In der letzten Woche haben wir deswegen den Startschuss für eine Batterieforschungsfabrik gegeben. Wir nehmen 500 Millionen Euro in die Hand, um Batterieforschung in Deutschland voranzutreiben und eigene Wertschöpfung möglich zu machen. Die Batterietechnologie ist die Schlüsseltechnologie, nicht nur für Mobilität, sondern auch für viele industrielle Anwendungen und natürlich für die Energiewende. Damit ist die Aufgabe definiert: die technologische Souveränität Deutschlands in der Batterietechnologie zu sichern. Sie wird wesentlich dazu beitragen, dass wir Mobilität, Industrie und Klimaschutz miteinander in Einklang bringen. Das ist eine der großen Herausforderungen, vor denen wir stehen. ({3}) Klimaschutz und wirtschaftliche Entwicklung in Einklang zu bringen, ist eine der Kernherausforderungen in den nächsten Jahren. Batterieforschung, künstliche Intelligenz, Nationale Dekade gegen den Krebs: Das sind drei Beispiele für das, was die Hightech-Strategie ausmacht, wie wir Herausforderungen angehen, wie wir uns für die Zukunft aufstellen. Wir setzen auf die Verantwortung der Menschen in unserem Land. Wir setzen auf unsere Fähigkeiten, gemeinsam Neues zu schaffen, und wir setzen auf unsere Kraft, mit Innovation unsere Zukunft gut zu gestalten. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Götz Frömming, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin! Wir alle wissen: Deutschland ist heute noch die treibende Wachstumskraft im europäischen Wirtschafts-, Wissenschafts- und Forschungsraum. Unser Land ist wirtschaftlich breit aufgestellt und erwirtschaftet rund ein Drittel des europäischen Bruttoinlandsprodukts. Wir sollten eigentlich zu Beginn jeder Sitzung den deutschen Unternehmern und Arbeitern danken; denn ohne ihren täglichen Einsatz gäbe es das Geld gar nicht, das wir hier umverteilen können, wollen und müssen. ({0}) Allerdings ziehen am Horizont schon die ersten dunklen Wolken auf. Ein wichtiger Indikator für die Regenerationskraft einer Volkswirtschaft ist die sogenannte Gründungsrate, also die Zahl der Unternehmensneugründungen in Relation zum Bestand. Da stehen wir mit rund 7 Prozent ziemlich schlecht da. Die Gründungsrate in Großbritannien zum Beispiel ist doppelt so hoch. Betrachtet man nur die forschungs- und entwicklungsintensive Industrie, stellt man fest: Da sieht es noch finsterer aus. Da belegt Deutschland laut EFI-Gutachten, das wir heute auch debattieren, mit einer Gründungsrate von unter 4 Prozent den letzten Platz von allen acht im Bericht berücksichtigten Ländern. Ähnlich sieht es bei den transnationalen Patentanmeldungen aus, einem wichtigen Zukunftsindikator für uns als Exportnation. Seit Mitte der 2000er-Jahre stagnieren die Anmeldungen aus Deutschland, während Länder wie China, Japan und Korea hohe Wachstumsraten erzielen. Die Chinesen sind inzwischen an uns vorbeigezogen. Meine Damen und Herren, so eine Hightech-Strategie ist eine feine Sache, wenn sie denn funktioniert, wenn sie die richtigen Impulse setzt, wenn sie sich nicht durch innere Widersprüche, sondern durch eine kohärente, konsistente Planung auszeichnet. Das kann ich leider bei Ihrem Entwurf so nicht erkennen. Was Sie vorgelegt haben, ist kein schlüssiges Programm zur Förderung von Hochtechnologie, sondern eine Anhäufung von wohlklingenden Phrasen und Absichtserklärungen. ({1}) Sie wollen Forschung und Entwicklung fördern, aber eben auch nur eine ganz bestimmte. Denn gleichzeitig verfolgen Sie mit dieser Strategie ideologiegetriebene gesellschafts- und umweltpolitische Ziele, die sich mit dem Stichwort der „Großen Transformation“, also einer alle Bereiche erfassenden Umgestaltung unseres Landes, am besten beschreiben lassen – einem Begriff, den Sie, meine Damen und Herren, inzwischen ja vermeiden, weil Sie gemerkt haben, dass er den Menschen Angst macht, und zwar zu Recht. Aber die Sache selbst ist eben leider noch nicht weg. ({2}) Manche Leute denken, die Bundesregierung sei vielleicht verrückt geworden, wenn sie sich anschauen, wie Sie in der ganzen Grenzwert- und Dieseldebatte agieren oder vielmehr nicht agieren. Jetzt hat Herr Scheuer ja mal wieder Brüssel angerufen, um den Grenzwert überprüfen zu lassen. Aber warum entscheiden Sie denn nicht einfach einmal etwas selbst, anstatt immer die Verantwortung nach Brüssel zu delegieren? ({3}) Meine Damen und Herren, es entsteht der Eindruck, dass Sie, getrieben von den Grünen, aus Deutschland einen Öko-Musterstaat machen wollen, zentral gesteuert und gelenkt. Deshalb ist Ihnen auch der Föderalismus ein Dorn im Auge. Denn zur Großen Transformation gehört natürlich auch die Umgestaltung des Bildungswesens nach einheitlichen Vorgaben – gerade haben wir im Vermittlungsausschuss darüber debattiert –, damit Sie unsere Kinder mit Projekten wie „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ noch effizienter umerziehen können. Die AfD-Fraktion wird sich dieser schleichenden Deindustrialisierung und jeder Art von roter oder grüner Planwirtschaft entschieden entgegenstemmen! ({4}) Insbesondere ist die CDU aufgefordert, in dieser Frage nicht noch weiter auf die Grünen zuzugehen, als es unserem Lande guttut. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließen mit ein paar Zeilen aus Brechts Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens: Ja, mach nur einen Plan!  Sei nur ein großes Licht!  Und mach dann noch’nen zweiten Plan  Gehn tun sie beide nicht. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort Dr. Karl Lauterbach, SPD. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal will ich an das anknüpfen, was die Ministerin vorgetragen hat. Am Beispiel der Krebserkrankungen will ich die Nationale Dekade gegen Krebs erläutern, also darstellen, was die Problemlage ist, wie wir ihr mit der Nationalen Dekade begegnen können, was das für uns alle bedeutet, wo wir zusammenarbeiten müssen, wie groß die Herausforderungen sind und wie wir das alles machen können. Das Thema Krebsentstehung haben wir zum Unterthema bei gesellschaftlichen Herausforderungen gemacht. Wieso ist Krebs eine gesellschaftliche Herausforderung? Das ist der Fall – ich will hier niemandem die Laune verderben –, weil statistisch gesprochen jeder Zweite, der hier sitzt, einmal in seinem Leben betroffen sein wird. Jeder Zweite! Wir wissen, dass wir bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen 90 Prozent der Fälle unter optimaler Vorbeugung verhindern könnten. Bei Krebs sind das leider nur 40 Prozent der Fälle. Das heißt, 60 Prozent der Fälle könnten wir nach jetzigem Wissen auch dann nicht vermeiden, wenn wir alles umsetzen würden, was wir wissen. Wieso ist das so? Krebs ist extrem schwierig. Krebs entsteht aus einer einzigen Zelle. Später sind es dann ganz viele Krebszellen, die dazu noch unterschiedlich sind. Auf dem Weg dorthin gibt es unterschiedliche Schritte, die der Tumor gehen muss: Erst gibt es eine Veränderung, eine Mutation. Dann werden sozusagen gute Gene abgeschaltet, die einem helfen könnten. Die Gene, die, sagen wir, kaputt sind, werden nicht richtig entfernt, und das Immunsystem wird so manipuliert, dass es diesen Prozess im eigenen Körper nicht erkennt. Ganz zum Schluss wird auch noch Wachstumshormon produziert, damit der Tumor so schnell wie möglich wächst. – Das Ganze ist also super kompliziert. Wenn ich dem mit der Nationalen Dekade begegnen will, muss ich genau wissen, worauf ich hinauswill und wo wir unsere Probleme haben. Ich fange einmal an. Wir müssen die Grundlagenforschung stärken. ({0}) Bei Krebs wird viel zu wenig Grundlagenforschung betrieben. Erinnern Sie sich? Wir haben hier darüber gesprochen: Jim Allison hat in Berkeley den Gedanken gehabt, mit einer Immuntherapie Krebs sozusagen im Körper zu behandeln. Wir gehen jetzt sogar so weit, dass wir im Körper mit den eigenen Immunzellen sozusagen die Medikamente gegen den Krebs produzieren können. Somit wird, wenn Sie so wollen, mein eigener Körper die Pharmafabrik. Das war also ein genialer Gedanke. Dieser wäre tatsächlich in Deutschland in dieser Art und Weise nicht zu erfinden gewesen, weil die massive Unterstützung der Grundlagenforschung an den Universitäten in Deutschland in dem Volumen, das nötig ist, zum jetzigen Zeitpunkt konzertiert nicht geleistet wird. ({1}) Da haben wir ein Defizit. Wir haben ein zweites großes Defizit: Die außeruniversitären und die universitären Einrichtungen sind nicht ausreichend an die Industrie angebunden. Wenn man den nächsten Schritt hin zum Medikament gehen will, braucht man riesige Summen, braucht man Vertrauen, braucht man eine langfristige Sicht. Daher brauchen wir eine solche Anbindung. Wir erfinden in der Grundlagenforschung so einiges – das will ich auch nicht eingeschränkt wissen; das darf nicht eingeschränkt werden –, aber das kommt ganz selten beim Produkt an. Dafür haben wir weder Strukturen noch Vertrauen noch, wenn man so will, eine zentrale Vermittlung. Das gehört aber zu einer solchen Dekade. ({2}) Hinzu kommt: Wir haben sehr viele Daten in der Medizin, die aber oft nicht nutzbar sind, weil sie nicht im gleichen Format gesammelt werden. Bei 150 Genen, die bei Krebs eine Rolle spielen, kommt es genau darauf an, wie ich die Gene kartiere: am Protein, am Genort, an der Messenger-RNA. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, das Gleiche zu meinen, aber anders zu kartieren. Wenn ich das nicht in gleicher Weise kartiere, kann ich es nicht auswerten. Dafür brauchen wir nationale Vorgaben. Ich sage somit: In diesem Bereich ist sehr viel im Praktischen zu tun. Man muss sich gut auskennen. Aber wenn wir das nicht tun, dann kommen wir gegen Länder wie Amerika, wo es ein nationales Krebsinstitut gibt, was diese Aufgabe übernimmt, oder England mit seinem NHS und wenigen Spitzenuniversitäten oder Frankreich, wo es eine zentrale Planung gibt, nicht an. Daher brauchen wir dringend diese Strategie. Wir haben alle Voraussetzungen, wir haben alles, was sie braucht: Wir haben die Köpfe, wir haben das Geld, und wir haben die Möglichkeiten. Das muss zusammengebracht werden – dafür die Nationale Dekade gegen Krebs als Beispiel für unsere Hightech-Strategie. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nächster Redner ist der Kollege Thomas Sattelberger, FDP. ({0})

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Karliczek, schade, dass Sie gestern Abend ausgefallen sind bei meiner Rede zur Deutschen Transfergemeinschaft für die ländlichen Regionen. Das sind die Regionen mit den Milchkannen, die Sie vor lauter 5G nicht sehen. Stattdessen müssen Sie heute ganz tapfer und mutig das verteidigen, was das „Handelsblatt“ so skizziert: Alle Ressorts haben darin aufgeschrieben, was sie ohnehin … machen wollen. Im Kanzleramt heftet das jemand zusammen … und stempelt Hightech-Strategie drauf. In meinen Worten: Sie werfen Ihre strategischen Worthülsen wie tote Katzen über den Zaun und hoffen, dass die sich irgendwie von selber berappeln. ({0}) Auf die Hightech-Strategie der Bundesregierung passt die berühmte Frage: Was ist eigentlich das Strategische an dieser Strategie? Die Expertenkommission „Forschung und Innovation“ mahnt seit Jahren, dass der Hightech-Strategie konkrete Meilensteine fehlen, eine klare Zielhierarchie. Stärken-Schwächen-Analyse? Ehrliche Positionierung, wo Deutschland im internationalen Wettbewerb steht? Fehlanzeige. Der Schweizer Innovationsbericht analysiert diese Themen auf 60 Seiten. Die Bundesregierung schreibt wenige dürre Sätze. Frau Karliczek, im Beirat eines Mittelständlers hätte man Sie mit einer solchen Strategie kurz und bündig verabschiedet. ({1}) Vorher hätte man Ihnen aber einige Fragen gestellt: Warum steht trotz der 2005 begonnen Exzellenzstrategie die erste deutsche Universität erst auf Platz 31 im Innovationsranking, gefolgt von Universitäten auf den Plätzen 45 und 92? Warum verschweigen Sie bei Patenten, dass Deutschland zwar bei der schieren Anzahl auf Platz 1 ist, bei forschungsintensiven Patenten aber auf Platz 5 ({2}) und bei Spitzentechnologie nur auf Platz 8? ({3}) Und warum verlieren Sie kein Wort darüber, wie Sie die Expertenlücke schließen wollen in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik? ({4}) Data-Sciences-Experten, KI-Architekten, Tech-Spezialisten, Meister, Techniker – uns fehlen mehrere Hunderttausend. Warum, liebe Frau Karliczek, ignoriert die Strategie das wachsende Klumpenrisiko dieses Landes? Schön ist, dass die Autoindustrie wächst und gedeiht. 60 Prozent des gesamten Umsatzzuwachses der 50 größten deutschen Unternehmen in der letzten Dekade entfallen auf die Automobilindustrie. Doch dieses Land hat x Automobilhersteller und nur eine SAP. Gleichzeitig fließt die IKT-Förderung überwiegend an die etablierten großen Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Digitale Unternehmer und Gründer gehen fast immer leer aus und haben dann noch Fraunhofer als Wettbewerber. ({5}) Die Satten bekommen die Förderkohle. Diejenigen, die wachsen wollen, die Erfolgshungrigen, lässt diese Bundesregierung alt aussehen. Der Staat ist kein guter Unternehmer. Aber er könnte Innovationsgeist entfachen. Fördern wir die Richtigen, diejenigen, die sich reinhängen, die frische Ideen haben, die für künftiges Wachstum sorgen, nicht immer die fette Katze Deutschland AG! ({6}) Hören wir auf, immer alles das bewahren zu wollen, was in der Vergangenheit einmal getaugt hat. Fangen wir an, die Zukunft anzupacken! Sinnieren wir nicht über Verbote! Erlauben wir mehr! Was das Kabinett angeht: Ich bin hin- und hergerissen, wenn es um die Frage geht, ob Sie statt auf die Ministerbank zurück auf die Schulbank gehören, um zu lernen, was Strategie ist und Strategieumsetzung. Machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben! ({7}) Gründen Sie die Agentur für Sprunginnovationen! Diese ist bis heute ein Pappkamerad. Beschleunigen Sie die steuerliche Forschungsförderung! Bauen Sie Innovationsbrücken in die Regionen! Schließen Sie die MINT-Expertenlücke! Reformieren Sie Ihre bürokratischen Förderstrukturen! Machen Sie sie schlank und unbürokratisch! Es tut mir leid – auch für die Veganer –, dass ich das so oft sagen muss: Ran an den Speck, Frau Karliczek! ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Petra Sitte, Die Linke, ist die nächste Rednerin. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Sattelberger, ich glaube, dass Sie ein gestörtes Verhältnis zu Katzen haben. ({0}) Wenn ich hier zu diesem Tagesordnungspunkt nur die Überschriften der Vorlagen, über die geredet werden soll, vortragen würde, dann würde das bedeuten, dass ich meine Redezeit von sechs Minuten nahezu ausschöpfe. Ich erwähne das, weil Forschungs-, Innovations- und Technologiepolitik wie auch die Hightech-Strategie selbst so facettenreich und vor allem so entscheidend für die Entwicklung von Gesellschaft, Umwelt und Wirtschaft sind. Ich komme mir bei der Debatte über die Vorlagen wie in einem Durchlauferhitzer vor. Wir können uns des Themas gar nicht in der Tiefe annehmen, sondern nur den Versuch unternehmen, unsere Grundsatzfragen mehr oder weniger anzureißen. Das werde ich tun. ({1}) Erst in den vergangenen Tagen sind in ganz Europa Zehntausende Schülerinnen und Schüler für Klimaschutz auf die Straße gegangen. Was hat die 16-jährige Klimaaktivistin Greta Thunberg den sogenannten Topmanagern und Spitzenpolitikern in Davos gesagt? Ich zitiere: Erwachsene sagen immer wieder: Wir sind es den jungen Leuten schuldig, ihnen Hoffnung zu geben. Aber ich will eure Hoffnung nicht. Ich will, dass ihr in Panik geratet, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre. Was ist die Botschaft dahinter für uns? Wenn wir so weitermachen, zerstören wir unsere eigenen Lebensgrundlagen, und zwar weltweit. Also können die Lösungen, über die wir hier reden, nicht isoliert, nicht national gedacht werden. ({2}) Vielmehr bedarf es einer neuen Kultur. Es muss kollaborativ, multilateral und kooperativ statt rein konkurrierend gedacht werden. Genau solche Ansätze sucht man in den Hightech-Strategien und den einzelnen Programmlinien der Bundesregierung nahezu vergebens. Manche hier glauben allerdings noch immer, dass die meisten Probleme technologiegetrieben gelöst werden könnten. Mitnichten ist das so! ({3}) Mit Technologieentwicklungen und Digitalisierung stehen nicht nur Wirtschaften und Millionen Beschäftigte vor immensen Strukturbrüchen. Gesellschaften verändern sich grundlegend. Das bedeutet aber auch Ressourcenverschiebungen und Machtverschiebungen. Das bedeutet, dass sich vorhandene soziale Ungerechtigkeiten und ökologische Zerstörung vertiefen können. Wir erleben das gerade. Es ist geschehen. Technische Euphorie oder der Spruch der FDP „Digital first. Bedenken second.“ sind vor diesem Hintergrund längst oldschool. ({4}) Diese Vision ist für Gesellschaften nicht zukunftsfähig, weil sie eindimensional – technik- und wachstumsorientiert – ist. Positive transformative Effekte aus Technologieentwicklungen wie eine gerechtere soziale und gesellschaftliche Teilhabe, Ausbau demokratischer Strukturen und kulturelle Emanzipation erfordern neue Innovationen, erfordern eben – so wird das umschrieben – soziale Innovationen. Transformationsforschung und Forschung zu sozialen Innovationen müssen also inhaltlich und finanziell gestärkt werden. Sie müssen aber auch in alle Forschungsbereiche und alle Strategien integriert werden. ({5}) In der Hightech-Strategie der Bundesregierung finden sich nur in wenigen Förderlinien beispielsweise Forschungen zu sozialen und gesundheitsbezogenen Dienstleistungen, Forschungen an Szenarien zur Stärkung der Sozialsysteme oder Forschungen zu Familien‑, Arbeits- oder Lebensmodellen in ländlichen wie in städtischen Räumen. Es fehlt auch – Herr Sattelberger hat das schon angesprochen – Management- und Organisationsforschung sowohl für Unternehmen und staatliche Institutionen als auch für soziale Organisationen. Schließlich sei erwähnt – um einmal das zu konterkarieren, was Sie gerade gesagt haben –, dass im aktuellen Haushalt die Mittel für Nachhaltigkeits- und Transformationsforschung sogar gekürzt wurden. Das ist eine grandiose Fehlentscheidung. ({6}) Fazit aus Sicht der Linken: Was wir mit öffentlichen Geldern finanzieren, dient viel zu wenig uns selbst, dient viel zu wenig der Gesellschaft. Das ist eine wesentliche Fehlstelle der Hightech- und Innovationspolitik der Bundesregierung, und das muss sich dringend ändern. ({7}) Auch wenn weitere Strategiepapiere zum Beispiel zur zivilen Sicherheit, zur Quantentechnologie oder auch zur künstlichen Intelligenz durchaus interessante Themenfelder anreißen, habe ich das Gefühl, dass sie eher aus dem Wirtschaftsministerium als aus dem Forschungsministerium kommen. Manchmal frage ich mich schon – hier kann ich an den Antrag der Grünen im positiven Sinne anknüpfen –, weshalb eine Bundesregierung genau so entscheidet. Weshalb schlagen sich gesellschaftliche Debatten, wissenschaftliche Erkenntnisse der Zukunftsforschung oder Erfahrungen aus anderen Ländern so wenig in der Ausrichtung der Hightech-Strategie der Bundesregierung nieder? ({8}) Ich gehe davon aus, dass Sie sich nicht etwa zu wenig Beratung suchen – das ist sicherlich nicht der Punkt –, sondern dass Sie sich zu einseitig Beratung suchen. ({9}) Das Wissen von Interessenorganisationen der Zivilgesellschaft wie NGOs, Gewerkschaften, Umweltverbänden, Bürgerrechtsorganisationen oder Sozialverbänden wäre in Programmbeiräten der Bundesregierung zur Forschungsförderung genau richtig platziert. ({10}) Für die Ausrichtung der Forschungsförderung wird symbiotisches Denken, wird auch ein dialogisches Denken mit der Gesellschaft verlangt, wird Open Innovation gebraucht. Versuchen Sie es doch mal mit dieser Kooperationskultur! Dann wären sogar Sie, wäre das Ministerium, wäre die Bundesregierung sozial innovativ. Danke. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist Dr. Anna Christmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Anna Christmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004694, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wissenschaft wird in diesen Tagen stark strapaziert, nicht nur durch Vergleiche mit fetten Katzen, die ich für äußerst unangemessen halte ({0}) – nicht meine Erfindung –, sondern auch durch diese Bundesregierung. Sie haben sich auf die Autonation bezogen, Frau Karliczek. Ich frage mich, wie Sie eigentlich dazu stehen, dass Ihre Bundesregierung aufgrund eines Briefs von letztlich hundert Privatpersonen eben einmal einen gesamten Forschungsstand beiseitewischt und damit ihr Nichtstun in den Bereichen Gesundheitsschutz und saubere Luft rechtfertigt. ({1}) Das halte ich für äußerst kritisch im Hinblick auf die Haltung der Bundesregierung betreffend den Wissenschaftsstandort Bundesrepublik. Ich frage mich auch, wie Ihre Haltung als Wissenschaftsministerin dazu ist. Ich hoffe, sie ist eine andere als die anderer Kabinettsmitglieder; denn einen solchen Brief als neue Erkenntnis in diesem Bereich zu sehen, hielte ich für eine Wissenschaftsministerin wirklich nicht für angemessen. ({2}) Es ist ein Problem, wenn die Bundesregierung den Forschungsstand in vielen Feldern selbst nicht anerkennt. Damit leisten Sie letztlich einer Wissenschaftsskepsis Vorschub, die für unsere Gesellschaft gefährlich ist. ({3}) Ich wünsche mir von Ihnen, Frau Ministerin, glasklare Ziele zur Stärkung von Forschung und Innovation, die deutlich machen, dass wir eben wissenschaftliche Erkenntnisse benötigen, um Herausforderungen zu meistern. Aber von diesem klaren Bekenntnis zu Forschung und Innovation konnte ich bei dieser Regierung und auch bei Ihnen als Ministerin bisher leider noch nicht viel erkennen. Da erwarte ich deutlich mehr von einer Forschungsministerin. ({4}) Sie lassen uns auch ein Stück weit ratlos zurück; denn Sie haben sich ja noch beim Forschungsgipfel im April 2018 zum 3,5-Prozent-Ziel für Forschung und Entwicklung bekannt und gesagt, dass Sie dazu die nötigen Maßnahmen ergreifen werden. Dann lesen wir aber Interviews, in denen Sie sagen – ich zitiere –: „Mir geht es nicht darum, jedes Jahr mehr Geld ausgegeben zu können.“ Da frage ich mich doch: Was gilt denn nun? Wollen Sie dieses Land, wollen Sie Europa fit machen für die Zukunft? Oder wollen Sie den Wandel hin zu einer sauberen, klimaverträglichen Nation verschlafen? ({5}) Wenn man sich anguckt, was Sie zur Erreichung dieser Ziele konkret tun, stellt man fest, dass Sie die Mittel für den Wissenschaftsbereich gerade mal um 500 Millionen Euro pro Jahr erhöhen. Das ist im Hinblick auf dieses Ziel viel zu wenig. Das lässt leider nur den Schluss zu: Sie wollen das 3,5-Prozent-Ziel eigentlich überhaupt nicht erreichen. Kämpfen für die Wissenschaft sieht anders aus. ({6}) Stattdessen verwalten Sie, was es schon gibt. Die Hightech-Strategie gibt es seit 2006. Da sind keine neuen Ideen zu erkennen. ({7}) Wir haben zum Beispiel Experimentierräume für Mobilitätsforschung vorgeschlagen, wo es darum geht, den Transfer von den guten Ideen, die wir haben, im großen Stil in die Praxis zu bringen. Die Städte und Regionen könnten von der Mobilität der Zukunft längst viel stärker profitieren, wenn wir auch im Innovationsbereich einen größeren Schritt machen würden. Bei Ihnen ist da leider Fehlanzeige. ({8}) Nicht zuletzt würde ich auch im Bereich der europäischen Kooperation deutlich mehr erwarten. Meseberger Erklärung, Aachener Vertrag – die Bekenntnisse liegen auf dem Tisch. Die konkrete Kooperation, zum Beispiel im Bereich KI, lässt aber sehr lange auf sich warten. Ich würde mir wünschen, dass das deutlich schneller geht. Aber dafür bräuchten wir wohl eine Wissenschaftsministerin, die für die Sache brennt – für Forschung, für Europa und für unsere Zukunft. Ich fürchte, darauf müssen wir noch eine Weile warten. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Albert Rupprecht, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die deutsche Wirtschaft ist seit Jahren ausgesprochen stark; sie brummt. Der Arbeitsmarkt hat ein historisch herausragendes positives Niveau. Wir haben das erreicht, was Kanzlerin Merkel immer wieder gesagt hat: Wir wollen aus den Krisen der vergangenen Jahre gestärkt hervorgehen. – Das ist Realität. Trotzdem gibt es Stoff zum Nachdenken. Ich glaube, wir brauchen nicht drum herumzureden – das war gestern Abend Thema der Debatte und ist es auch heute –: Bei einer Schlüsselfrage, beim Thema Transfer, haben wir in der Tat Nachholbedarf. Wenn wir uns die größten, die wertvollsten Unternehmen im Bereich der Zukunftstechnologien auf dieser Welt anschauen, stellen wir fest, dass die vorderen fünf Unternehmen relativ junge US-Unternehmen sind. Sie dominieren die Weltmärkte in diesem Bereich. Deutschland liegt hier mit SAP auf Platz 62. Wenn wir uns die KMU in Deutschland anschauen, die an Prozessinnovation und Produktinnovation beteiligt sind, stellen wir leider Gottes fest, dass ihr Anteil von 43 Prozent im Jahr 2006 auf 22 Prozent im Jahr 2015 gefallen ist. ({0}) Das ist in der Tat Stoff zum Nachdenken. Das kann uns nicht zufriedenstellen. Wir haben im Bundeshaushalt, Frau Ministerin, im Bereich der Forschung und Wissenschaft in den letzten Jahren Gas gegeben sondergleichen und den Haushalt mehr als verdoppelt. Wir haben ein Rekordniveau bei den Forschern und Wissenschaftlern in diesem Land; 400 000 Frauen und Männer arbeiten im Bereich der Wissenschaft und Forschung, haben etwas anzubieten. Auf der anderen Seite aber müssen wir feststellen, dass die Innovationskraft in der Wirtschaft zurückgeht. Diese Innovationslücke, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir in der Tat sehr ernst nehmen. ({1}) Wenn wir Wohlstand und soziale Sicherheit auch in einer älter werdenden Gesellschaft aufrechterhalten wollen, dann geht das eben nur, indem wir die Produktivität steigern, und Produktivitätssteigerung schaffen wir nur, indem wir auf Innovationen setzen. Deswegen ist die Verbesserung des Transfers eine der zentralen Schlüsselaufgaben dieser Legislatur. Wir waren in den Koalitionsverhandlungen der Ansicht, dass das Ministerium für Forschung und Bildung eine dritte Säule bekommen sollte; diese dritte Säule sollte den Transfer beinhalten. Die Lebensabschnittspartner von der SPD waren davon nicht begeistert. Deswegen ist daraus nichts geworden. Das ändert aber nichts daran, dass das in der Sache absolut notwendig und begründet ist. ({2}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir haben uns nichtsdestotrotz im Koalitionsvertrag an vielen Stellen zum Transfer positioniert, mit vielen kleinen Passagen und Projekten, aber auch mit historisch großen Paketen. Ich nenne ein paar wenige: Zentral ist sicherlich die Hightech-Strategie. Die ist nicht ohne. Allein im Jahr 2018 haben wir im Bundeshaushalt 15 Milliarden Euro für Forschung und Transfer ausgegeben. In der Weiterentwicklung dieser Hightech-Strategie ist der Aspekt des Transfers neu herausgearbeitet worden und hat eine neue Bedeutung und Qualität bekommen. Zweites Thema: die Agentur zur Förderung von Sprunginnovationen, ein vollkommen neuer Ansatz, um hochinnovative Ideen umzusetzen und zur Anwendung zu bringen. Das ist etwas, was unserer Haushaltsgesetzgebung eigentlich widerspricht. Da werden wir Risiken eingehen und eingehen müssen. Ich bitte dieses Parlament, nicht nur zu kritisieren, wenn da mal was schief­läuft, sondern sich zu beteiligen und das mitzutragen. Wenn man Risiken eingeht, kann es hin und wieder eben vorkommen, dass was danebengeht. ({3}) – Doch, es tut sich sehr wohl etwas. ({4}) Dritter Punkt: die KI-Strategie der Bundesregierung. Ich finde, dass diese Strategie herausragend ist. ({5}) Wenn wir wissen, dass wir in Deutschland Exzellenzen in der Wissenschaft haben, dass das größte Forschungsinstitut auf dieser Welt seit 30 Jahren im Saarland ansässig ist, würden wir uns natürlich wünschen, dass wir in Deutschland auch in der Anwendung weiter wären. ({6}) Aber es ist, wie es ist. Wir haben Assets, in der Wissenschaft und bei vielen Unternehmen. Was die Bundesregierung jetzt macht, nämlich dies mit anspruchsvollen Maßnahmen zu einer Strategie über alle Bereiche hinweg zu verknüpfen, ist ein historisches Projekt mit außerordentlicher Kraft. Davon erwarten wir uns wirklich sehr viel. ({7}) Viertens: die steuerliche Forschungsförderung. Dieses Instrument, um insbesondere die Innovationskraft im Mittelstand zu stärken, kostet haushalterisch viel. Das weiß ich – wir haben das über Jahre rauf- und runterdiskutiert –; ich halte es aber für richtig. Wichtig ist jedoch, dass auch die Auftragsforschung Bestandteil dieser Förderung ist. Es kann nicht sein, dass Aufträge, die an das Fraunhofer-Institut, an Hochschulen vergeben werden, nicht bezuschusst werden. Das würde nämlich die Versäulung stärken und wäre genau das Gegenteil von dem, was wir brauchen. Wir brauchen Vernetzung, Zusammenarbeit, die Entstehung von Clustern statt eine Verhärtung der Versäulung. ({8}) Fünfter Punkt: die Verlängerung des Paktes für Forschung und Innovation. Das ist etwas, was in der Öffentlichkeit nicht so wahrgenommen wird, aber eine außerordentliche Bedeutung hat. Nur noch mal die Zahlen: Von 2016 bis 2020 geben wir 45 Milliarden Euro an die außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Das ist eine Menge Holz. Im Augenblick verhandeln wir die nächste Paktperiode, bei der es für uns ganz klar darum geht – das steht auch im Koalitionsvertrag –, dass es kein Weiter-so geben darf. Wir erwarten von den außeruniversitären Forschungseinrichtungen, dass sie sich im Bereich des Transfers zu anspruchsvollen Zielen committen, die überprüfbar sind. Wir sagen nicht: Wir geben das planwirtschaftlich vor. – Wir bitten die außeruniversitären Forschungseinrichtungen, dass sie auf Basis ihrer Kultur und ihrer Kompetenzen Vorschläge machen. Aber Fakt ist: Wir erwarten das und werden nur Verträge unterschreiben, wenn der Transferbereich anspruchsvoll, präzise und greifbar formuliert ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Noch ein paar Anmerkungen, weil immer wieder spekuliert wird, was die Unionsfraktion und die Ministerin dazu meinen: Natürlich ist die Zahl der Ausgründungen nur ein Indikator. Wenn es heißt, dass sich Transfer auf die Zahl der Ausgründungen reduzieren lässt, und uns das unterstellt wird, ist das natürlich Blödsinn. ({10}) Transfer ist viel vielschichtiger und weitläufiger. Natürlich ist es so, dass ein Wissenschaftstransfer in den Geisteswissenschaften vollkommen anders ablaufen muss als in der Medizinforschung. Auch Aussagen, Frau Ministerin, wonach die Union die Grundlagenforschung zurückführen und die Wissenschaftsfreiheit begrenzen wolle, sind vollkommener Unsinn. Ganz im Gegenteil: Grundlagenforschung ist genau das, was wir brauchen, und zwar mehr denn je, um große Sprünge zu machen und Innovationen zu erreichen. Wenn das Max-Planck-Institut forscht, hat das immer wieder herausragende Ergebnisse für Innovationssprünge zur Folge. Deswegen brauchen wir nicht weniger Grundlagenforschung. Vielmehr müssen wir die Grundlagenforschung stärken. ({11}) Der nächste Punkt: Wissenschaftsfreiheit. Wir waren es, die 2012 das Wissenschaftsfreiheitsgesetz gegen harten Widerstand erkämpft haben; denn wir sind der festen Überzeugung: Wissenschaft wird nicht durch Budgetsteuerung kontrolliert, sondern anhand von Ergebnissen. In dem, was sie machen, sind sie frei. Sie müssen nur Qualität liefern und das, was sie an Erkenntnissen gewonnen haben, der Gesellschaft zur Verfügung stellen. Das ist der Auftrag. Deswegen steuern wir nicht mehr das Budget, sondern die Ergebnisse. Das ist unser Ansatz. Anders als die Grünen, die ideologisch begründen, was gut und schlecht ist, sagen wir: Die Wissenschaft ist frei; aber es müssen Qualität und Ergebnisse dabei herauskommen. ({12}) Danke schön. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Martin Reichardt, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist gut, dass unsere Regierung Visionen, Missionen und Zukunftsperspektiven hat. Die Hightech-Strategie liest sich leider zum großen Teil wie eine Absichtserklärung, ein Wunschzettel und eine Worthülsensammlung. Sie wollen Deutschlands Zukunftskompetenz stärken und vergessen dabei, das zu bewahren, was Deutschland einst groß gemacht hat. Das Fundament unseres Erfolges waren und sind gute Bildung und Ausbildung, ({0}) Menschen, die für Ziele kämpfen, in unserem Land anpacken und sich für unser Land einsetzen. Auch ihre Hightech-Strategie benötigt in Zukunft gute Bildung, Ausbildung und insbesondere Fachkräfte. Studien zeigen, dass die hohe Korrelation zwischen Innovationen und Qualifikationen in den MINT-Fächern klar und vorhanden ist. In Deutschland ist die Zahl der Beschäftigten im akademischen MINT-Bereich gestiegen, auch im akademischen Facharbeiterbereich, dort allerdings deutlich geringer. Dem ist aber entgegenzusetzen, dass die Zahl der MINT-Akademiker im Alter von über 55 Jahren sehr stark steigt; bereits 2012 waren es 470 000  Personen. Es besteht also ein hoher Bedarf an Ersatzfachkräften und darüber hinaus ein Bedarf an Fachkräften, die zusätzlich gebraucht werden. 2015 wurden 335 000 MINT-Stellen nicht besetzt. Die Zukunftsstrategie in dieser Frage lautet: Wir müssen Frauen und Mädchen stärker für die MINT-Fächer begeistern. – Sie lassen dabei allerdings außer Acht, dass, wenn wir diese Frauen und Mädchen für die MINT-Fächer begeistern, wir sie dann als Fachkräfte aus anderen Bereichen abziehen. Auch darüber, wie diese Begeisterung erzeugt werden soll, sagen Sie nichts. ({1}) Schon heute sagen 60 Prozent der Unternehmer, die größte Bedrohung für ihr Unternehmen sei der Fachkräftemangel. In technischen Unternehmen bleiben viele Stellen unbesetzt, weil es an qualifizierten Bewerbern fehlt. Auch wenn es den meisten hier nicht passt: Das ist die Folge der demografischen Katastrophe, meine Damen und Herren. ({2}) Deutschland ist nämlich nicht von jener Klimakatastrophe bedroht, die Sie als Ersatzfegefeuer für Ihre Klimareligion aufbauen wollen, sondern von der demografischen Katastrophe, und die sollten wir hier endlich zur Kenntnis nehmen. ({3}) In Ihrem Bericht sehen Sie sich in der Verantwortung für kommende Generationen. Die kommenden Generationen werden aber immer kleiner, und damit wird der Fachkräftemangel, auch im innovativen Bereich, eben immer größer. Da muss gegengesteuert werden. Qualitätsstandards in der Bildung setzen Sie ebenfalls nicht. Ausbildungsbetriebe klagen über mangelnde Ausbildungsreife bei Schulabgängern; sie müssen nachschulen. Auch die Hochschulen klagen über den Bildungsstand der Studenten; auch hier haben wir Nachholbedarf. ({4}) Das, meine Damen und Herren, ist die Folge einer jahrelangen ideologiegetriebenen falschen Bildungspolitik, die in sinnlose Bildungsexperimente investiert hat. ({5}) Qualifizierte Lehrer werden durch Quereinsteiger ersetzt; auch das ist eine Folge des Fachkräftemangels. Sie haben sich das Ziel gesetzt, 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aufzuwenden. Aber das Fundament für Forschung und Entwicklung ist gute Bildung. Die USA investieren 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Bildung, Deutschland gut 4 Prozent. Um zukunftsfähig zu werden, müssen wir in diesem Bereich mehr Geld in die Hand nehmen. Fehlende Fachkräfte und ein schlechter Bildungsstandard sind Realität in Deutschland. Es steht also schlecht um die Zukunftsperspektiven und insbesondere auch um Ihre Hightech-Strategie. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Manja Schüle, SPD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Dr. Manja Schüle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004885, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Im Dschungel der Nachrichten buhlen immerfort neue Wörter und Meldungen um unsere Aufmerksamkeit. Anfang Januar wurden unsere privatesten Daten ins Netz gestellt, und plötzlich reden alle über Promidoxing. Dabei vergessen wir, dass das nicht nur Prominente betrifft. Es betrifft unsere Familien, Kinder, Freunde, Kollegen und Mitarbeiter. Ihre und unsere Daten, unsere Wohnadressen, Telefonnummern, unsere Chats und Fotos werden ins Netz gestellt und können bis zum heutigen Tag heruntergeladen werden. Auch wenn der Link auf Twitter gelöscht ist: Das Internet vergisst bekanntermaßen nichts. Für mich steht fest: Der digitale Wandel erfordert auch neue Antworten im Bereich der zivilen Sicherheitsforschung, über den wir heute diskutieren. ({0}) Das Beispiel Doxing zeigt doch: Es braucht keine fremden Regierungen, die Kriminelle anwerben, um unserer Demokratie und uns zu schaden. Es reicht ein junger Mittelhesse, der für sich und seine rechte Gesinnung um Aufmerksamkeit buhlt. Der Staat hat für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu sorgen – Punkt. Deshalb verbietet sich auch eine Debatte, die sich ausschließlich auf Terrorabwehr oder Kriminalitätsbekämpfung beschränkt. Es geht auch nicht um Staatstrojaner oder Backdoors. Es geht schlicht darum, Technologien zu entwickeln, die uns alle schützen. Mit diesem Programm werden wir Projekte fördern, die den Helfern helfen. Es geht um eine bessere Koordination von Rettungskräften bei Großeinsätzen. Es geht darum, zu schauen, wie im Fall eines Stromausfalls lebenswichtige Infrastruktur aufrechterhalten werden kann. Kurz und gut: Es geht um uns alle. Und dabei sollte immer klar sein: Nicht Technik schafft Sicherheit. Sicherheit schaffen nur Menschen. ({1}) Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: Ich bin Potsdamerin. Bei uns werden sehr häufig ganze Stadtteile gesperrt, weil immer wieder Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden werden, die entschärft werden müssen. Dann kommt Sprengmeister Schwitzke, ein Held in meiner Region. Zukünftig wird er von Robotern unterstützt werden. Genau darum geht es in diesem Programm: Wir investieren viele Millionen Euro, um neue Sensoren zu erforschen. Das zweite Beispiel ist schon etwas problematischer: das Pilotprojekt Gesichtserkennung am Berliner Bahnhof Südkreuz. Hier testen Bundespolizei, BKA und Deutsche Bahn Videoanalysesysteme. Heute können wir uns noch entscheiden: Gehe ich durch die Tür mit Gesichtserkennung, oder gehe ich durch die Tür ohne Gesichtserkennung. Ich frage mich aber schon: Wie lässt sich mithilfe von Kameras und teilautonomen Systemen eigentlich erkennen, ob jemand rennt, weil er seinen Zug erreichen will oder weil er ein Attentat plant. Es ist also unsere Aufgabe, sorgsam austarierte Sicherheitslösungen vorzulegen und dabei auch immer an das zu denken, was das Bundesverfassungsgericht schon 1983 festgestellt hat: Allein das Wissen, dass ich beobachtet werden könnte, schränkt mich in meinen Grundrechten ein. ({2}) Wir geraten unter Druck: auf der einen Seite durch militante Ausspähversuche, auf der anderen Seite aber auch, wenn wir uns nur darauf konzentrieren, mit Videoüberwachung oder Videoanalysesystemen zu operieren. Deshalb ist dieses Programm mehr. Wir denken die nächsten Technologieschritte gleich mit, zum Beispiel durch Quantencomputer. Sie sind deutlich leistungsfähiger als klassische Computersysteme und ermöglichen neue Verschlüsselungsalgorithmen, die schwerer zu knacken sind. Sie wollen wir stärker in die Anwendung bringen. Dafür stellen wir in den nächsten Jahren 650 Millionen Euro zur Verfügung. ({3}) Noch mal zum Südkreuz. Ist unser Sicherheitsempfinden wirklich befriedigt, wenn überall Kameras hängen? Ich schaue da vor allen Dingen zu den Gästen auf der Tribüne. Ich bin mir ziemlich sicher: Ihre persönliche und berufliche Sicherheit ist eher bedient, wenn der Zug pünktlich und der Schaffner gesund ist. Das ist nicht trivial, sondern zeigt: Die Grenzen des Schutzes vor Bedrohung, aber auch der Schutz unserer Bürgerrechte sind fließend und nicht einseitig zu verletzen. Genau das ist unsere Aufgabe. Auch deshalb ist es uns Sozialdemokraten wichtig, nicht nur die technischen Voraussetzungen zu erforschen, sondern die gesellschaftlichen Folgen mitzudenken. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Mario Brandenburg, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Mario Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004677, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Stellen Sie sich vor, Sie sitzen hier, lauschen der Plenar­debatte und liegen parallel irgendwo anders noch am Strand und genießen die Sonne. Was sich wirr anhört, wäre Ihnen theoretisch möglich, wenn Sie ein Quantenteilchen wären. ({0}) Diese interessante Domäne der Physik wird wahrscheinlich unser Leben verändern. Deswegen möchte ich meine spärliche Redezeit von zwei Minuten und dreißig Sekunden dem Rahmenprogramm „Quantentechnologien“ widmen. Vorab: Ich bin froh, dass es dieses Programm gibt und dass – Kollegin Schüle hat es gesagt – Geld hineinfließt. Es gibt da durchaus Bereiche, die mich positiv stimmen. Bei industrienaher Forschung wie Quantensensorik oder Quantenkommunikation gibt es Partnerschaften mit Unternehmen. Dort sehe ich Fortschritt. Etwas problematischer sieht es bei Quantencomputern aus. Unsere klassischen Fördersysteme greifen dort leider oft nicht; denn es ist nicht ganz klar, welche Technologie sich durchsetzt, ob supraleitend oder gefangene Ionen. Des Weiteren ist es nicht möglich, Prototypen zu bauen und Umsätze zu zeigen, um in gängige Förderprogramme zu kommen. Deswegen haben die Freien Demokraten Ihnen – mein Kollege Thomas Sattelberger ist darauf eingegangen – verschiedene Lösungsmöglichkeiten vorgelegt. Greifen Sie zu! Bedienen Sie sich! So geht Forschungsförderung. ({1}) Ein weiterer Antrag von mir und meiner Fraktion zum Thema Quantencomputer liegt vor; denn hier liegen die Chancen auf der Straße. Gehen Sie zusammen mit unseren Forschern und Start-ups mutig voran, und setzen Sie sich für quantenresistente Kryptografie made in Germany ein! ({2}) Wir haben sowohl die Leute als auch die Reputation, um da einen Standard zu setzen, der weltweit lange gültig ist und von dem wir lange zehren können. Auch hier liegen Lösungen vor. Bedienen Sie sich! ({3}) Als letzter Bereich in dem Report wird die Sichtbarkeit dieser Industrie bzw. dieses Forschungsbereichs angesprochen. Wenn man mit Gründern in dieser Szene spricht, erfährt man, dass sie sich oft nicht richtig wahrgenommen fühlen. Wir variieren ja die Instrumente, auf die Sie potenziell reagieren könnten; wir haben es auch mit einer schriftlichen Einzelfrage versucht. Ich sage Ihnen: Schreiben Sie doch einen Wettbewerb mit einem Preisgeld auf das Erreichen eines in der Szene wirklich wahrgenommenen Meilensteins aus – das könnte beispielsweise der erste Rechner mit 50 Qubits sein –, um Aufmerksamkeit auf dieses Feld zu legen, in dem wir so viele schlaue Köpfe haben und sehr anerkannt sind. Greifen Sie ihnen unter die Arme! Die FDP unterstützt Sie dabei. Vielen Dank und ein schönes Wochenende. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Redner. ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Immer wieder frage ich mich, ob die Forschungsförderung der Bundesregierung eigentlich die richtigen Prioritäten setzt und inwieweit Sie damit die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit adressieren und bewältigen helfen. Artensterben, Vermüllung der Umwelt, Konflikte und Kriege weltweit, die lebensbedrohliche Klimakrise – dazu fehlt uns vieles in der Forschung, Frau Karliczek. ({0}) Damit wir den zukünftigen Generationen einen lebenswerten Planeten hinterlassen können, müssen wir im Forschungsbereich die richtigen Lösungen finden. Alles andere wäre zukunftsvergessen. In Ihrer Forschungsstrategie gehören Mensch und Umwelt endlich in den Mittelpunkt. ({1}) Aus dem BMBF hören wir zu den großen Fragen unserer Zeit leider wenig oder so wie heute leider auch nichts Neues. Dabei können Sie sich gerne an grünen Vorschlägen bedienen, ganz im Sinne von Open Access. „Wissen wächst, wenn es geteilt wird.“ ({2}) Erst in der letzten Sitzungswoche haben wir unseren Antrag zur Stärkung der Klimaforschung eingebracht. Und ich appelliere nochmals an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam die Grundlagen- und Anwendungsforschung in dieser Menschheitsfrage deutlich stärken! ({3}) Das Gleiche gilt für die Friedensforschung. Statt einseitig in die Militärforschung zu investieren, müssen wir durch die beste Forschung dabei helfen, Konflikte zu lösen, bevor sie in Gewalt ausbrechen und Menschen hunderttausendfach vertrieben werden. Das ist Deutschlands Verantwortung in der Welt als Global Player, als Friedensmacht und als Wissenschaftsland. ({4}) Forschung und Innovation sind eben mehr als Technik, Technik, Technik und mehr als Managersprech à la FDP. Gerade weil technologische Entwicklungen unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft so stark verändern, brauchen wir starke Geistes- und Sozialwissenschaften. ({5}) Ungleichheitsforschung, Migrationsforschung, Geschlechterforschung, Arbeitsmarktforschung – gerade solche Disziplinen geben Innovationen Sinn und eine Richtung, nämlich dem Gemeinwohl zu dienen. ({6}) Uns Grünen im Bundestag ist dabei besonders wichtig, die Gesellschaft einzubinden. Sehr zögerlich hat das auch die Regierung verstanden und widmet jetzt der Partizipation so ein ganz kleines Restekapitel in der Hightech-Strategie. Aber die Bürgerwissenschaften können viel mehr; das haben wir in unserem Antrag herausgearbeitet. Landauf und landab tüfteln die Menschen längst in Reallaboren und in Citizen-Science-Projekten an den großen Herausforderungen. ({7}) Also trauen Sie sich mehr, und trauen Sie den Menschen mehr zu! Die Bürgerwissenschaften gehören gestärkt. ({8}) Binden Sie zum Beispiel die Schulen noch stärker ein, damit auch Arbeiterkinder die Forschungsbegeisterung endlich stärker packt! Das Elternhaus darf nämlich nicht dafür verantwortlich sein, wer die Spitzenforscherin oder der Spitzenforscher von morgen ist. ({9}) Damit kein Talent auf der Strecke bleibt, brauchen wir vor allem auch gut ausfinanzierte Hochschulen. Garantieren Sie der Herzkammer unseres Wissenschaftssystems endlich verlässliche Aufwüchse, Frau Karliczek, die die außeruniversitären Forschungseinrichtungen längst haben; denn ein guter Hochschulpakt kommt Lehre und Forschung zugute. ({10}) Durch diese verlässliche Finanzierung haben wir natürlich auch hohe Erwartungen an außeruniversitäre Forschung: herausragende Resultate, gute Arbeitsbedingungen, Diversity und Geschlechtergerechtigkeit, Transparenz und Unabhängigkeit, aber eben auch starke Brücken in die Wirtschaft und in die Gesellschaft hinein. Diese Brücken brauchen Innovationen, die unsere Gesellschaft eben nicht nur technisch, sondern auch sozial-ökologisch voranbringen. Besten Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Frau Christmann, wenn hundert Lungenärzte und sonstige Experte nur Privatpersonen sind, frage ich Sie: Was ist dann Jürgen Resch? Ich möchte existenzielle Zukunftsfragen nicht unter Panik diskutieren; denn Panik ist in der Regel ein schlechter Ratgeber und führt selten zu rationalen Entscheidungen. Ich möchte unsere Zukunft nicht ideologisch am Reißbrett planen. Ich möchte auch nicht, dass man sich zu oft unrealistische oder gar unerreichbare Ziele setzt, mit denen man dann sehenden Auges scheitert. Statt aus dem Scheitern zu lernen und sich realistisch zu korrigieren, setzt man sich noch unerreichbarere Ziele und scheitert immer wieder. Unsere Gesellschaft kennt mittlerweile leider keine Fehlerkultur mehr. Nein, sie verlernt derzeit auch ihre Debatten- und Diskussionskultur. Es gibt nur noch Befürworter oder Leugner, und diese sind – das gilt für beide Seiten – viel zu bedingungslos. Jedem ist mittlerweile klar, dass nächstes Jahr nicht 1 Million Elektrofahrzeuge über unsere Straßen rollen werden, weil die Bürger das nicht wollen und der freie Markt das derzeit nicht möchte. Statt dem Rechnung zu tragen und den Kurs anzupassen, heißt das neue Ziel „emissionsfreie Mobilität“ oder auch – wie mittlerweile ganz unverhohlen geäußert wird – „Einschränkung der Mobilität“. Wenn im Rahmen dieser Strategien irgendwann einmal das Perpetuum mobile erfunden wird, bin ich gerne der Erste, der sich verneigt. Man wickelt führende Schlüsseltechnologien wie die Kernenergie ab, legt die Axt an die Automobilindustrie und findet faule Kohlekompromisse. Satte 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes sollen künftig für Forschung und Entwicklung ausgegeben werden. Das ist erst mal positiv; die Richtung stimmt. Ich will Ihnen aber mal sagen, wie viel ein echter weltweiter Technologieführer investiert: 7 bis 9 Prozent, und das über Jahrzehnte. Geld ist hier aber nicht alles; denn die Quelle aller Entwicklung ist die Bildung. Immer mehr Länder stellen fest, dass Inklusionsexperimente eben doch niemandem nutzen und mehr Schaden als Nutzen angerichtet haben. Dennoch ziehen einige ihre Pläne weiter durch. Die Aufhebung des Kooperationsverbotes steckt im Vermittlungsausschuss, und der Nachwuchs lernt derweil die Digitalisierung am Smartphone aus China. Leistungsbereitschaft vom Nachwuchs einzufordern, ist jedoch keine Sünde, sondern der verantwortungsvolle Grundstein für eine globale Wettbewerbsfähigkeit. Digitalisierung, Industrie 4.0, KI – alles Themen, deren Diskussionsstatus hier leider viel zu oft mit up to date nichts zu tun haben. Spricht man nämlich mit eben erwähnten Technologieführern, dann bemängeln diese, dass hier alles viel zu lange dauert. Im Bericht heißt es: „Wir etablieren eine offene Innovations- und Wagniskultur.“ Nein, hier sind wir einfach nicht konsequent genug; denn in jedem Wahlkampf hören die Bürger, wir müssen Demokratie abbauen, und erleben dann das Gegenteil. Das Gleiche gilt für Steuern. Wer wirklich offen ist, steigt auch nicht aus der Kernenergie aus. Bill ­Gates schiebt dieses Thema nicht von ungefähr in den USA gerade wieder richtig an. Aber hey, wer will Bill Gates schon den Sinn für Zukunftstechnologien unterstellen? Vielen Dank.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist Dr. Stefan Kaufmann, CDU/CSU. ({0})

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben heute Morgen von der Opposition schon viel Miesepetriges und Schiefes gehört. Herr Kollege Brandenburg, im Bereich der Quantentechnologie machen wir ein Programm in Höhe von 650 Millionen Euro, also viel mehr als das, was Sie heute Morgen hier glauben machen wollen. Auch das sei einmal an dieser Stelle gesagt. ({0}) Meine Damen und Herren, die Expertenkommission Forschung und Innovation – beileibe kein einseitiges Gremium, liebe Frau Kollegin Sitte – bescheinigt Deutschland in ihrem Gutachten von 2018 eine „positive Dynamik“ der Forschungs- und Innovationspolitik. Beim neuesten weltweiten Bloomberg Innovation Index hat Deutschland fast mit dem Spitzenreiter Südkorea gleichgezogen. Beides freut uns natürlich. Aber wir ruhen uns nicht darauf aus, sondern wir folgen gern der Aufforderung der EFI, angesichts der internationalen Herausforderungen und des digitalen Wandels in der Innovationspolitik weiter Gas zu geben. Meine Fraktion – auch unser Koalitionspartner – ist weiterhin bereit für verstärkte Investitionen im Bereich Forschung und Innovation. Hierfür bietet unser Koalitionsvertrag die richtigen Leitplanken. Auch der vor wenigen Wochen beschlossene und verabschiedete Haushaltsplan für das Jahr 2019 bietet den richtigen Rahmen. Die von der EFI formulierten Leitlinien für die F-und-I-Politik sind im Übrigen alle in unseren Koalitionsvertrag eingeflossen. Das 3,5-Prozent-Ziel wurde genannt. Es ist ein ehrgeiziges Ziel, das wir zum Beispiel durch die Fortschreibung des Paktes für Forschung und Innovation mit einem jährlichen Aufwuchs von 3 Prozent umsetzen; Albert Rupprecht hat darauf hingewiesen. An dieser Stelle sei gesagt, wir werden dieses 3,5-Prozent-Ziel nicht ohne die Privaten, nicht ohne die Unternehmen schaffen. Deshalb freue ich mich, dass beispielsweise BASF seinen ohnehin schon hohen F-und-E-Etat zuletzt fast verdoppelt hat. Auch das ist ermutigend, wenn wir auf das 3,5-Prozent-Ziel schauen. ({1}) Außerdem werden wir eine steuerliche Forschungsförderung etablieren, und das, lieber Kollege Sattelberger, wohlgemerkt neben der Projektförderung und insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, also nicht nur für die Satten und die Fetten. Das ist das Entscheidende, lieber Kollege. ({2}) Hier müssen wir jetzt ein bisschen Tempo machen. Hier gilt meine Aufforderung an den Finanzminister Scholz, bald einen Vorschlag vorzulegen. Die Hightech-Strategie, die wir vorgelegt haben, greift die Empfehlungen der EFI auf. Das betrifft insbesondere die stärkere Berücksichtigung wichtiger Querschnittsthemen wie autonome Systeme und künstliche Intelligenz – Frau Ministerin, Sie haben dazu ausgeführt –, aber auch die Förderung von Sprunginnovationen und eine konsequente Stärkung des Transfers. Hier darf ich gerne auf die Ausführungen von Albert Rupprecht verweisen. Wir sind in die Umsetzung gegangen. Wir haben eine KI-Strategie vorgelegt. Die Agentur zur Förderung radikaler Innovationen ist auf dem Weg. Auch hier werden wir bald einen entsprechenden Aufschlag machen. ({3}) Apropos Tempo. Meine Damen und Herren, dass der dringend erforderliche DigitalPakt Schule getrieben von der Eitelkeit der Länder vom Bundesrat ausgebremst wurde, ist angesichts des enormen Nachholbedarfs im Bereich der digitalen Bildung mehr als ärgerlich. ({4}) Diesen Nachholbedarf hat auch die EFI ganz klar benannt. Nun drohen die Länder – ich sage das ganz deutlich –, den DigitalPakt als Geisel für ihren Bund-Länder-Streit über Finanzbeziehungen zu nehmen. Das kann uns nicht gefallen, meine Damen und Herren. ({5}) Wir als Bund sind bereit, in dieser Legislaturperiode 3,5 Milliarden Euro zu investieren, um die Länder bei ihrer Aufgabe zu unterstützen, die Schulen, aber auch die Lehrer und Schüler besser auf die digitale Welt vorzubereiten und damit das Lernen an sich zu modernisieren. In diesem Zusammenhang, liebe Frau Christmann, einen Satz in Richtung Baden-Württemberg und Ministerpräsident Kretschmann: Es geht nicht nur um zwei Laptops mehr oder weniger pro Schule, es geht darum, die Schulen endlich ans Netz zu bringen, und zwar flächendeckend und schnell. Das ist einer gemeinsamen Anstrengung aller Länder wert, meine Damen und Herren. ({6}) Sehr wertvoll sind die Ausführungen der EFI zum Thema „Zielkonflikt Nachhaltigkeit versus Innovationspolitik“ und das klare Bekenntnis zu einer technologieoffenen staatlichen F-und-E-Förderung. Wir müssen die Chancen innovativer Technologien, wie zum Beispiel CRISPR/Cas im Sinne eines zukunftsfähigen Innovationsstandortes in Deutschland nutzen und nicht von vornherein verteufeln, meine Damen und Herren. ({7}) Außerdem geht es um eine bessere Verzahnung von Innovations- und Industriepolitik. Gut ist in diesem Zusammenhang, dass wir in die neue Hightech-Strategie das Innovationsprinzip aufgenommen haben, also die Prüfung neuer Gesetze auf die Folgen für das Innovationsklima. Nochmals zurück zum Genome Editing bzw. der Biotechnologie, einem sehr zentralen Thema für unsere Zukunftsfähigkeit. Warum richten wir eigentlich nicht einen Biotechrat ein, vergleichbar der Nano-Kommission, die wir 2005 ins Leben gerufen haben, mit dem Ziel, die Chancen und Risiken der Gentechnik in einem breiten öffentlichen Dialog zu erörtern? Das scheint mir angesichts der Bedeutung des Themas angemessen, meine Damen und Herren. Zum Ende noch ein Blick über den Tellerrand. Der Forschungsstandort Deutschland wird nur dann langfristig eine Perspektive haben und weltweit wettbewerbsfähig bleiben, wenn wir einen starken europäischen Forschungsraum entwickeln. Deshalb ist es gut und richtig, dass Deutschland den von Kommissar Oettinger ausgearbeiteten mittelfristigen Finanzrahmen und auch den Entwurf zu Horizon Europe von Carlos Moedas unterstützt, und zwar mit deutlichen Mehrausgaben für den Bereich der Forschung. Ich darf zusammenfassen, meine Damen und Herren. Erstens. Deutschland ist gut aufgestellt. Zweitens. Wir arbeiten mit Hochdruck an allen relevanten Stellschrauben. Drittens. Jetzt geht es darum, gemeinsam noch mehr Dynamik zu entfachen. Wir als Parlament tragen unseren Teil dazu bei. Danke sehr. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege René Röspel, SPD. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute auch den Bundesbericht Forschung und Innovation, ein fast 400 Seiten starkes Dokument, in dem man lesen kann, wie hervorragend und breit Deutschland wissenschaftlich aufgestellt ist. Ein Blick hinein lohnt sich. Herr Katzenberg – – ({0}) Herr Sattelberger, ich habe beim Blick da hinein wirklich keine toten und fetten Katzen gefunden, sondern einen Überblick über ganz viele engagierte Institute und Menschen, die Wissenschaft in Deutschland betreiben. Es lohnt sich, nicht nur darüber zu reden, sondern auch einmal dorthin zu gehen; denn dann lernt man auch als Politiker tatsächlich, was längst gemacht werden müsste. Das wird an vielen Orten schon fast wie selbstverständlich gemacht. Meine SPD-Ruhrgebietskollegen und ich sind im September ein bisschen durch das Ruhrgebiet gefahren und haben uns in Dortmund das Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie angeschaut. Wir haben vier Direktoren angetroffen, zwei davon kommen aus dem Ausland. Wir haben gefragt: Warum sind Sie eigentlich nach Dortmund gekommen? Wohl nicht wegen des merkwürdigen Blicks auf das komische Stadion dort? ({1}) – „Unruhe bei den Sozialdemokraten“. ({2}) Sie haben gesagt: Weil wir tatsächlich Arbeitsbedingungen für unsere Forschung finden, die wir sonst nirgends finden, und zwar weltweit nirgends finden. – Das heißt, Deutschland ist mittlerweile hervorragend aufgestellt, und wir machen gute Arbeit. ({3}) Übrigens: Die meisten dieser Parteien, die in den Ländern beteiligt sind, bis auf ganz rechts, waren daran beteiligt, den Wissenschaftsstandort in den letzten Jahren deutlich nach vorne gebracht zu haben. Jetzt reicht es aber nicht, sich selbst zu beweihräuchern, sondern auch zu sehen: Was müssen wir eigentlich kritisch sehen? – Weil es ein richtiger Weg ist, sich immer wieder einen Spiegel vorzuhalten, ob man auf dem richtigen Weg ist, hat noch die rot-grüne Bundesregierung vor etwas über zehn Jahren gesagt: Es reicht nicht, wenn wir den BuFI präsentieren, sondern wir wollen eine kritische Reflexion dessen, was wir politisch tatsächlich machen. So ist die Expertenkommission Forschung und Innovation entstanden, die uns jährlich einen kritischen Bericht liefert und ihre Sicht auf die technologische Leistungsfähigkeit Deutschlands darstellt. Das ist gut so; denn wer glaubt, dass Politik Forschung machen könne, irrt. Das machen immer noch die Forscherinnen und Forscher. Die Aufgabe der EFI ist, uns die strukturellen Defizite oder auch das zu benennen, was positiv läuft. Wir bekommen jedes Mal einen interessanten Bericht. Im jetzigen Bericht, den wir diskutieren, steht, dass Grundlagenforschung ganz wichtig ist und ausgebaut werden muss. Das machen wir. Das ist auch richtig. Dann wird gesagt: Wir brauchen eine Agentur für Sprunginnovationen, um Innovationen, die sich nicht langsam entwickeln, sondern von heute auf morgen geschehen, anzukurbeln. Auch das wird auf den Weg gebracht, und auch das ist ein richtiger Weg. Also, wir lernen auch von dem, was uns die EFI sagt. Dann gibt es auch Punkte, an denen es immer noch Fragezeichen gibt. Wenn es zum Beispiel darum geht, dass die Gründungsraten oder die Innovatorenquoten in Deutschland zurückgehen, also die Zahl der Unternehmen, die innovativ arbeiten, dann hat EFI auch nicht so recht eine Antwort. Was die Gründungsraten anbelangt, so geht aus der Abbildung im Bericht der Expertenkommission hervor, dass die Zahl der Gründungen in der Zeit deutlich nach der Finanzkrise dramatisch abgenommen hat, in einer Zeit übrigens, in der die FDP regiert hat, nämlich zwischen 2009 und 2013. Glauben wir einmal den Experten, die das geschrieben haben. Da muss wohl irgendetwas nicht richtig gut gelaufen sein, und es ist gut, dass es jetzt wieder besser läuft. ({4}) Trotzdem haben wir noch nicht das richtige Patentrezept in dieser Frage gefunden, und wir müssen alle daran arbeiten. Nun kann Politik tatsächlich nicht forschen, aber wir können bestimmte Rahmenbedingungen setzen und Anforderungen an Forschung stellen. Deswegen gibt es zum Beispiel die Hightech-Strategie, die seit 2006 auf dem Weg ist und im Rahmen derer wir immer wieder nachfordern, immer wieder ändern, eine übergreifende Programmatik entwickeln und sagen: Ja, wir wollen im Bereich Klima mehr machen. Wir müssen im Bereich Energie mehr machen. Wir brauchen Quantencomputertechnologie; Herr Brandenburg, Sie haben das sehr sachkundig dargestellt. Dann geht es in die speziellen Programme, die in der Hightech-Strategie nicht unbedingt ausgewiesen sind, und das ist ein richtiger Weg. Dann üben wir auch politischen Einfluss aus. Wir als Sozialdemokraten haben gesagt, es reicht nicht, wenn man Gesundheitsforschung immer nur unter dem Blickwinkel sieht: Was müssen wir molekularbiologisch herausfinden? Vielmehr wollen wir auch mehr Versorgungsforschung. Wir wollen wissen: Wie müssen Menschen gepflegt werden, damit sie gesund werden? Und wie ist überhaupt Krankheit zu verhindern? Wir wollen also, dass Gesundheitsforschung auch bedeutet, Prävention zu erforschen, also Möglichkeiten zu entwickeln, dass man gar nicht krank wird. ({5}) Einen Bericht müssten wir eigentlich auch mitdiskutieren, der an anderer Stelle noch diskutiert werden wird. Das ist nämlich der Nationale Bildungsbericht; denn unsere Nobelpreisträger und ‑trägerinnen werden nicht an den Universitäten gemacht, sondern in den Kindergärten. ({6}) Vielleicht sitzen da ja schon die künftigen Nobelpreisträger und wissen das noch gar nicht, wissen noch nicht einmal, ob in Literatur, Physik oder Medizin. Es geht darum, jedes Talent, das wir haben, zu heben. Deswegen finde ich es ausdrücklich zynisch, wenn die AfD, wie mehrfach im Ausschuss geschehen, sagt, für jedes Kind ist ja seine Schule da. Wer also als Arbeiterkind auf die Hauptschule kommt, der soll auch da bleiben. Nein, wir sagen, jedes Kind muss zu dem gemacht werden, was es am besten kann, und wir wollen volle Unterstützung, auch als Sozialdemokraten. ({7}) Wir haben ein anderes Verständnis von Bildung und Bildungspolitik. Deswegen ist es der wesentliche Ansatz, alle Menschen und alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft auszubilden und ihnen die bestmöglichen Chancen zu geben, damit wir auch zukünftig hervorragende Forscher und übrigens auch gute Handwerker haben. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/4100, 19/1140, 19/2600, 19/2910, 19/4645, 19/7118 und 19/4857 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Bevor ich die nächsten Punkte aufrufe, bitte ich darum, die offenbar notwendigen Platztausche zügig vorzunehmen.

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere föderale Sicherheitsarchitektur stammt im Prinzip aus einem Land vor unserer Zeit, genauer gesagt, aus den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts, einer Zeit ohne Handys, ohne Internet, ohne Tablets, ohne Globalisierung und vor allem ohne weltweit organisierten Terrorismus. Was sich über Jahrzehnte bewährt hat, das föderale Prinzip, sieht sich heute anderen, neuen Bedrohungslagen ausgesetzt. Da waren der rechtsterroristische NSU und der Fall Amri, die ganz eindeutig klargemacht haben, wo die Probleme liegen und wie wir sie lösen könnten. Auf der einen Seite haben wir es mit kleinsten, hochmobilen terroristischen Zellen zu tun, die sich im Alltag ganz normal über Bundesländergrenzen hinweg bewegen und ihre Taten planen. Auf der anderen Seite stehen 40 Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder, die genau diese Terroristen stoppen sollen. Man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass es da auf Dauer zu Problemen kommt. Leider müssen wir feststellen, dass bei der inneren Sicherheit in Deutschland zu oft zu viele zuständig sind und, wenn es darauf ankommt, keiner verantwortlich ist. ({0}) Ich möchte den Reformbedarf aufgrund der begrenzten Redezeit nur kurz aufzeigen. Wir müssen uns beispielsweise überlegen, ob es wirklich noch 16 Landesämter für Verfassungsschutz braucht, ob wir einem Landesamt in Bremen mit 49 Vollzeitstellen den gleichen Arbeitsumfang zumuten wollen wie in Baden-Württemberg mit 350 Stellen, obwohl wir wissen, dass sich Extremisten nicht proportional über unser Land verteilen. ({1}) Weshalb ist es eigentlich in Deutschland möglich, dass die Länder gemeinsame Rundfunkanstalten, aber keine gemeinsamen Sicherheitsbehörden unterhalten? Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir mit weniger Behörden mehr Sicherheit organisieren können. ({2}) Zweiter Aspekt: Gemeinsames Terrorabwehrzentrum. Was ist dort die Lage? Wir wissen, im September 2016 hat das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum den Attentäter aus Berlin als kleinkriminellen Drogendealer eingeschätzt. Parallel plant er mit einem französischen Salafisten Anschläge. Die Polizei vereitelt diese. Das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum weiß von nichts. Das ist ein Problem. Wir brauchen ein GTAZ-Gesetz, das die Verantwortlichkeiten klar regelt. Wir müssen den Zustand der organisierten Verantwortungslosigkeit beenden. ({3}) Das Traurige ist aber, dass die Strukturprobleme bei der inneren Sicherheit jahrelang bekannt sind und wir sie hier auch diskutieren. Der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat 2017 radikale Vorschläge gemacht, die ich im Übrigen gar nicht in allen Punkten teile. Wer sie aber damals geteilt hat, war Volker Kauder, war Clemens Binninger und waren auch Sie, Herr Kollege Schuster. Ich weiß, dass Sie eigentlich auf unserer Seite sind, genau wie Herr Lischka von der SPD, der sich geäußert hat, wie Frau Mihalic und Herr von Notz, die sich geäußert haben. Uns ist es bewusst. Wem es aber nicht bewusst ist, ist das Bundesinnenministerium, das gar nicht hier ist. ({4}) Herr Seehofer ist schon im Wochenende. Er lebt ja auch in seiner eigenen Welt. ({5}) Herr Krings, jetzt bekommen Sie eben die Prügel ab; das tut mir sehr leid. Ich schätze Sie. – Aber Ihr Minister spricht beim Antrittsbesuch im GTAZ allen Ernstes davon – ich zitiere –, die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern funktioniere sehr gut. Und weiter: Die Grundstrukturen bei der Sicherheit passen. – Herr Krings, die FDP-Fraktion gönnt Herrn Seehofer nach einem langen politischen Leben wirklich seinen Ruhestand. Aber muss er allen Ernstes schon im Bundesinnenministerium anfangen? Er ist noch Minister. Er soll mal seine Arbeitsverweigerung beenden und die Probleme anpacken, die in unserem Land drängen. ({6}) Wir werden den gordischen Knoten bei der Föderalismusdebatte nur lösen können, wenn Bund und Länder sich an einen Tisch setzen, hinter verschlossenen Türen Tacheles reden und vor allem Konsequenzen ziehen. Die Föderalismuskommissionen I und II haben gezeigt, dass der Föderalismus zur Reform fähig ist, ohne das Prinzip als solches über Bord zu werfen. Hören wir auf, nur zu reden, handeln wir! Eine Föderalismuskommission III wäre das richtige Mittel der Wahl. Vielen herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Armin Schuster, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte eigentlich damit aufhören, Herr Strasser. Jetzt fange ich damit an: Sie wollen eine Regierungskommission. Das müssen wir schon genau benennen, so wie es in Ihrem Antrag steht. ({0}) Jetzt einigen Sie sich einmal mit Ihrem Partei- und Fraktionschef. Der sagte hier gestern Mittag – Zitat –, eine gewisse Regierungspraxis sei es wohl geworden, Entscheidungen in Kommissionen zu verlagern, statt sie im Parlament zu treffen. ({1}) Also, da muss ich Christian Lindner zustimmen. Das ist jetzt ein merkwürdiger Vorschlag von der FDP. ({2}) Im Übrigen, Herr Strasser, ist es eine ganz perfide Taktik, mich zu loben; aber Sie haben recht. ({3}) Ich widerstehe jedem Reflex, Sie jetzt in der üblichen Manier – Regierungsfraktion, Oppositionsfraktion – anzugreifen. ({4}) Nein, das tue ich nicht, weil ich Ihren Antrag – ich gehe auf keines der vielen Details ein – gut finde. ({5}) Ja, 80 Prozent der Inhalte dieses Antrags – da fehlen noch ein paar Sachen – sind in Ordnung. Warum? Sie sind fast alle von mir. Entschuldigung! ({6}) Im Ziel dieses Antrags, meine Damen und Herren, sind sich unglaublich viele Sicherheitspolitiker in diesem Land einig – im Ziel! Der vorgeschlagene Weg einer Kommission ist eingetreten, ausgelatscht und bisher völlig unerfolgreich. Sie haben es selber aufgezählt: Otto Schily verliert mit ernsten Reformvorschlägen, die ich gut fand, 16 : 0 im Bundesrat. ({7}) Wolfgang Schäuble hatte als Innenminister den Weg dafür gebahnt, endlich eine Schnittstellenbetrachtung der Bundeszollverwaltung und der Bundespolizei vorzunehmen – gescheitert! Die Werthebach-Kommission wurde erster Klasse von Hans-Peter Friedrich beerdigt. Ich glaube, er musste es, er wollte es vielleicht gar nicht. Wir haben zusammen mit der FDP in unserer gemeinsamen Regierungszeit eine Kommission eingerichtet, ({8}) um die Sicherheitsgesetzgebung zu evaluieren. Wir haben uns so verhakt – BMJ und BMI –, dass es nie zu einem Ergebnis kam. Der Empfehlungskatalog NSU 1.0 enthält Handlungsempfehlungen für die Sicherheitsarchitektur, die wir mit den Ländern nicht umsetzen konnten – es wird bis heute hartnäckig verweigert –, ({9}) die darauf zielen, dass es in Fällen wie Amri oder NSU eine zentrale Ermittlungsführung mit Durchgriffsrechten gibt. Ich erinnere hier an den Anschlag vom Breitscheidplatz und die Rolle des GTAZ. Ich würde kein Gesetz machen, sondern einen anderen Weg gehen. Das müssten wir aber diskutieren. Meine Damen und Herren, internationaler Terrorismus, Cybercrime, OK in Europa und weltweit – was für ein Anachronismus ist es da, dass der Bundesinnenminister in der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder nur ein Gastrecht genießt!

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Schuster, der Kollege Strasser würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich warte schon darauf. ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schuster, Sie haben jetzt mit vielen schönen Worten erklärt, was alles notwendig wäre und warum man nicht handelt. Stimmen Sie mir nicht zu, dass das vor allem ein Problem der Unionsfraktion ist? Ich habe den Kollegen Krings hier einmal in der Fragestunde gefragt, wie die Bundesregierung sich denn jetzt stellt: auf die Seite von Herrn de Maizière und Ihnen, die sagen, dass wir Reformen im Bereich der inneren Sicherheit brauchen – das haben Sie in einem Gastbeitrag mit Herrn Binninger im April 2017 entsprechend dargelegt –, oder auf die Seite von Horst Seehofer, der „Passt schon“ sagt und lieber die Finger davon lässt? ({0}) – Hat er doch gesagt. – Was können wir als Parlament von dieser Regierung eigentlich noch erwarten? ({1})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Strasser, mit der Performance verschlechtern Sie einen guten Antrag. ({0}) Meine Damen und Herren, ich habe es versucht, ich versuche es noch einmal: Mit der FDP konnten wir bisher nicht so klug diskutieren, wie Sie gerade zum Thema Cybersicherheitsarchitektur und Onlinebefugnisse vorgetragen haben. ({1}) Es ist ein sehr guter Antrag. Das ist das erste Mal, dass ich von Ihnen so etwas höre. Wir sind gesprächsbereit. Zum Trennungsgebot. Sie sind auch eine Fraktion, die daran Schuld trägt, dass wir nicht weiterkommen. ({2}) Die Grünen regieren in diesem Land mit, oder sie regieren wie in Baden-Württemberg. ({3}) Freunde, wir müssen, wenn wir das, was Sie vorschlagen, tun wollen, konstruktiver über AnKER-Zentren und sichere Herkunftsstaaten reden können, ({4}) dann müssen wir konstruktiv über ein Muster-Polizeigesetz reden können. ({5}) Jetzt komme ich zu uns. ({6}) Ich schone uns nicht und betreibe Selbstkritik. SPD und Union sind in diesem Land garantiert dafür verantwortlich, dass einige Landesinnenminister sich aufführen, als wenn sie ein Fürstentum führen würden. ({7}) So, das sage ich auch einmal. Das ist die Gemengelage, über Bodo Ramelow, Winfried Kretschmann und alle anderen Ministerpräsidenten. Sie von der FDP regieren in Nordrhein-Westfalen mit ({8}) und wollten die Schleierfahndung nicht im Koalitionsvertrag haben, Herr Strasser. Das ist doch ein Oberwitz. ({9}) – Ich gestatte Ihnen sogar, sich jetzt wieder hinzusetzen. Sonst wäre es unfair. Was will ich damit sagen? Wir haben zwei Kommissionen, ({10}) die den Auftrag haben, den gordischen Knoten zu durchschlagen, den Sie und auch ich durchschlagen wollen. Die erste Kommission nennt sich Ministerpräsidentenkonferenz, und die zweite Kommission nennt sich Innenministerkonferenz. Meine Damen und Herren, da sitzen wir alle zusammen drin. ({11}) Alle zusammen sind wir dafür verantwortlich, dass sich diese Dinge nicht bewegen und wir sie nicht konstruktiv diskutieren. Und wenn die Regierungen in diesem Land, mit dieser bunten Farbenlehre, nicht in der Lage sind, diesen Knoten zu durchschlagen, dann ist es eine Aufgabe für uns hier in diesem Parlament. ({12}) Dann müssen wir uns dem Selbsttest aussetzen, ob wir in der Lage sind, so konstruktiv gemeinsam über all die strittigen Punkte zu diskutieren, dass wir zu einem Plan kommen. Ich glaube, dass solch ein Plan hochnotwendig ist. Jetzt verrate ich Ihnen, warum ich nur 80 Prozent Ihres Antrags gut finde. Wenn wir das schaffen und eine nationale Sicherheitsstrategie, die wir gemeinsam entwickeln, obendrauf setzen, könnte ich mir – der Staatssekretär hält sich vielleicht besser die Ohren zu – ({13}) im Bundeskanzleramt auch einen nationalen Sicherheitsberater vorstellen. ({14}) Aber bei dieser Idee wird mir seit zehn Jahren erklärt: Vergiss es! Da machen die Länder nie mit. Meine Damen und Herren, wir haben globale Bedrohungen, wir haben europäische Bedrohungen. Der Bund muss mehr Verantwortung erhalten. Ich bin der festen Überzeugung: Das alles gemeinsam in eine nationale Sicherheitsstrategie zu gießen und sie vielleicht auch mit einem Kopf zu versehen, wäre etwas, was die Lebensqualität der Menschen in Deutschland deutlich positiv beeinflussen würde. Ich möchte – erstens – den Ländern etwas sagen. Wer glaubt, er müsse seine Pfründe verteidigen, der irrt in den Augen der Bevölkerung ganz sicher. Ihr sind Zuständigkeitserwägungen völlig wurscht. ({15}) Sie will Sicherheit, und wir müssen sie garantieren. Zweitens sei mir ein Satz an die Presse erlaubt, mit der ich seit zehn Jahren darüber diskutiere und von der ich immer den Satz höre: Ach, Herr Schuster, Strukturdebatten sind total langweilig und machen keine Auflage. – Liebe Journalisten, bleibt dabei! – Wir sollten uns aber nicht davon beeindrucken lassen, dass man damit nicht in die Zeitung kommt. ({16}) Wir sollten es tun. Ich danke Ihnen. ({17})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Martin Hess, AfD. ({0})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen von der FDP, in Ihrem Antrag beschreiben Sie zutreffend, welche massiven Probleme die Sicherheitsbehörden bei der Bekämpfung des enormen islamistischen Terrors in unserem Land haben. Zur Lösung dieser erheblichen Sicherheitsprobleme wollen Sie eine Kommission einrichten, die bis zum Jahr 2020 Vorschläge zur Neuausrichtung der föderalen Sicherheitsarchitektur machen soll. Das Problem ist nur: Wir haben keine Zeit mehr bis 2020. ({0}) Wir können nicht mehr nach der Devise handeln: Wenn ich nicht mehr weiterweiß, dann bilde ich einen Arbeitskreis. Das bisherige politische Versagen wurde ja von Ihnen, Kollege Schuster, gerade sehr anschaulich dargestellt. Die Terrorgefahr ist so hoch wie nie vorher. Deshalb müssen wir jetzt sofort handeln, und wir müssen jetzt wirksame Maßnahmen zum Schutz unserer Bürger umsetzen. ({1}) Anders formuliert: Der Worte sind genug gewechselt, jetzt muss endlich gehandelt werden. Dazu ist es erforderlich, dass als Erstes das Hauptproblem gelöst wird, das für die desaströsen Zustände im Bereich der inneren Sicherheit verantwortlich ist, und das sind unsere offenen Grenzen. ({2}) Es müssen endlich alle Fraktionen in diesem Haus zur Kenntnis nehmen, dass wir nur mit einer ehrlichen und ideologiefreien Problemanalyse die Sicherheitsprobleme unserer Zeit lösen können. Daran fehlt es außer der AfD bedauerlicherweise allen Fraktionen in diesem Hause. ({3}) Die Wahrheit ist und bleibt: Deutschland ist so unsicher wie nie zuvor. ({4}) Noch nie zuvor in unserem Land mussten die Weihnachtsmärkte mit Betonpollern vor islamistischen Anschlägen geschützt werden. Noch nie zuvor in der Geschichte unseres Landes mussten zum Schutz unserer Frauen bei öffentlichen Veranstaltungen Frauenschutzzonen eingerichtet werden. ({5}) Noch nie zuvor in der Geschichte unseres Landes ist die Zahl der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte mit dem Tatmittel Messer so exorbitant in die Höhe geschossen wie in den letzten Jahren. Und noch nie gab es für die Bürger unseres Landes eine so hohe terroristische Anschlagsgefahr. ({6}) Wir hatten im Juli 2018 einen Höchststand von 776 islamistischen Gefährdern; zum Jahresbeginn 2014 waren es lediglich 165. Die Anzahl der Gefährder hat sich also seit der Grenzöffnung fast verfünffacht. Zur Erinnerung: Bei Gefährdern stellt sich nicht mehr die Frage, ob sie einen Terroranschlag begehen, sondern nur noch, wann . Auch bei den Salafisten, dem islamistisch-terroristischen Personenpotenzial und den islamistischen Terrorverfahren haben wir stetig steigende Zahlen zu verzeichnen. Das belegt ganz eindeutig, dass alle Maßnahmen, die diese Regierung zur Bekämpfung des islamistischen Terrors ergreift, völlig unzureichend sind. Sie vernachlässigen in unverantwortlicher Art und Weise die Sicherheit und den Schutz unserer Bürger. ({7}) Schauen Sie sich die Terrorlage doch einmal genau an! Nahezu alle Terrorverdächtigen sind als Flüchtlinge in unser Land eingereist. ({8}) Ich könnte viele Beispiele aufzählen, will mich aber jetzt auf den aktuellsten Fall beschränken, nämlich den der drei Iraker, die am Mittwoch festgenommen wurden, weil sie in einem Dorf in Schleswig-Holstein einen Terroranschlag geplant hatten, bei dem möglichst viele Bürger umgebracht werden sollten. Meine Fraktion dankt von dieser Stelle ganz ausdrücklich allen Sicherheitskräften, die an der Verhinderung dieses Anschlages beteiligt waren. Super Job gemacht! ({9}) Aber auch diese Terroristen – das gehört zur Wahrheit – sind als vermeintlich Schutzsuchende über die offenen Grenzen in unser Land gekommen. Und solange wir diesen Kardinalfehler der offenen Grenzen in der deutschen Sicherheitspolitik nicht endlich korrigieren, so lange laufen alle Versuche, die Sicherheitsbehörden besser aufzustellen, ins Leere. ({10}) Wissen Sie, was die Bürger nicht mehr nachvollziehen können? Wenn es um Ihren Schutz geht, dann werden die Grenzen massiv kontrolliert. Beim G‑20-Gipfel 2017 wurde die Grenze durch die Bundespolizei massiv kontrolliert. Ergebnis: In fünf Tagen nahm die Bundespolizei 744 per Haftbefehl gesuchte Straftäter fest. Das beweist doch ganz eindeutig: Grenzkontrollen bringen Sicherheit; sie schützen unsere Bürger vor Gewaltverbrechern und Terroristen. Deshalb muss jeder Politiker, dem die Sicherheit unseres Landes wirklich am Herzen liegt, dieser Regierung laut und klar sagen: Wenn Sie die Sicherheitslage in diesem Land wirklich verbessern wollen, dann schützen Sie endlich unsere Grenzen! Weisen Sie Personen ohne Einreiselegitimation konsequent zurück! Und schieben Sie endlich alle Personen ab, die sich illegal in unserem Land aufhalten! ({11}) Aber – auch das gehört zur Wahrheit – mit diesen Maßnahmen alleine können wir den islamistischen Terror nicht stoppen; denn die Polizei verfügt schlicht und ergreifend nicht über genügend Ressourcen, um alle islamistischen Gefährder, die sich bereits in Deutschland befinden und einen Terroranschlag planen, lückenlos zu überwachen. Es ist daher zum Schutz unserer Bevölkerung, gerade unter Verhältnismäßigkeitserwägungen, zwingend erforderlich, alle Gefährder entweder in ihre Heimat abzuschieben oder in Abschiebehaft zu nehmen. Dort, wo das nicht möglich ist, muss der längerfristige Gewahrsam zur Anwendung kommen. Anders kann die Gefahr für Leben und Gesundheit unschuldiger Bürger in unserem Land unmöglich abgewehrt werden. ({12}) Mit der Umsetzung dieser Maßnahme können auf einen Schlag 776 tickende Zeitbomben effektiv entschärft werden. Für uns und für die Bürger unseres Landes ist es daher in keinster Weise nachvollziehbar, warum Sie sich diesem massiven Sicherheitsgewinn verweigern. Die Sicherheit und der Schutz unserer Bürger sind für uns nicht verhandelbar. Oder, um es mit den Worten der FDP auszudrücken: Sicherheit first. Bedenken second. ({13}) Wir haben es heute mit islamistischen Terroristen zu tun, die international vernetzt, kriegserfahren und zum Massenmord selbst an unschuldigen Frauen und Kindern bereit sind. Die Überwachung dieser Terroristen kann in vielen Bundesländern aber nur unzureichend erfolgen, weil die Vielzahl der unterschiedlichen Polizeigesetze keinen geeigneten Rechtsrahmen für effektive Gefahrenabwehr bietet. Und das ist keine neue Erkenntnis; das sagen uns die Sicherheitsexperten seit Jahren. Deshalb können wir den Kampf gegen den islamistischen Terrorismus nur gewinnen, wenn wir, wie wir das in unserem Antrag fordern, dem Bund die Zuständigkeit für die Gefahrenabwehr im Bereich der Terrorbekämpfung übertragen. Als Polizist und Pragmatiker fordere ich Sie deshalb auf, endlich zu handeln. Was wir jetzt brauchen, liebe Kollegen von der FDP, sind keine Kommissionen. ({14}) Wir brauchen auch keine Politiker wie Martin Schulz von der SPD, der uns vor geraumer Zeit darüber aufklären wollte, dass Terror ein Lebensrisiko des 21. Jahrhunderts sei. Wir brauchen auch keinen Herrn de Maizière, der behauptet: Wir werden lernen müssen, mit dem Terror zu leben. ({15}) Denn genau das Gegenteil ist richtig: Im Namen unserer Bürger, unserer Kinder und unserer Enkel dürfen und werden wir nicht mit diesem Terror leben. ({16}) Wir wollen endlich wieder ein sicheres Deutschland ohne Betonpoller und ohne Frauenschutzzonen. Deshalb sage ich Ihnen: Was wir jetzt wirklich brauchen, das sind Politiker, die fest entschlossen sind, den islamistischen Terrorismus wirksam zu bekämpfen, und diesen Kampf jetzt endlich zur Chefsache machen, die sich nicht hinter irgendwelchen rechtlichen Regelungen verstecken und sagen: Das können wir nicht machen; denn da spricht geltendes Recht dagegen. – Aufgabe von Politik ist es, immer zu prüfen, ob mit den geltenden Rechtsgrundlagen die Probleme unseres Landes gelöst werden können. Und wenn wir feststellen, dass wir die Sicherheitsprobleme mit geltendem Recht nicht lösen können, dann müssen wir unsere Rechtsgrundlagen modifizieren, ergänzen und gegebenenfalls neue schaffen. ({17}) Denn das Recht ist für die Menschen da; die Menschen sind nicht für das Recht da. Mit unseren Vorschlägen wird die Sicherheit zeitnah und nachhaltig verbessert. Deshalb kann ich nur an Sie appellieren: Stimmen Sie unseren parlamentarischen Initiativen zu, damit Deutschland wieder sicher wird! ({18})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist Sebastian Hartmann, SPD. ({0})

Sebastian Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Freiheit ist unmöglich, wenn sie nicht durch den Staat gesichert wird. – So formulierte es Karl Popper. ({0}) Das ist ein guter Anlass, sich den FDP-Antrag mal zu Gemüte zu führen und zu schauen, wie Sie klagen, dass aus der Werthebach-Kommission oder aus den Vorschlägen von Thomas de Maizière nichts geworden ist. Es gab tatsächlich Politiker, die damals reflexartig sagten: „Das ist kompletter Nonsens. Noch mehr Konzentration führt zu noch mehr Fehlern. Wir haben doch schon ein FBI; es heißt nur Bundeskriminalamt.“ Man solle doch nur klären, was besser zu machen ist. – Das sagte Ihr Wolfgang Kubicki, ({1}) der die Vorschläge von Thomas de Maizière sofort ablehnte. Auch Christian Lindner ließ kein gutes Haar an den Vorschlägen. Er wies selbst darauf hin, dass sie schon 2012 bei der schwarz-gelben Koalition in der Diskussion waren und man das alles hätte machen können. So ist es nämlich mit Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP: ({2}) Sie suggerieren an dieser Stelle, dass Sie die Lösung hätten, und wollen bei dieser Frage gleichzeitig davon ablenken, dass dahinter ein nicht handlungsfähiger Staat steht, wofür Sie die Verantwortung tragen, ({3}) weil Sie mit Ihrer falschen Marktgläubigkeit und Ihren Steuersenkungsparolen selbst dafür gesorgt haben, dass es den Nachtwächterstaat gibt, der Polizistinnen und Polizisten nicht vernünftig bezahlt hat bzw. nicht genug Polizistinnen und Polizisten eingestellt hat. ({4}) Sie sind selbst dafür verantwortlich, dass wir in dieser Lage sind, meine Damen und Herren. Und jetzt lenken Sie ab, indem Sie eine Zuständigkeitsdebatte führen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Hartmann, der Kollege Strasser würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Sebastian Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielleicht kommen wir mal zur Sachdebatte zurück. Wenn Sie mir zugehört hätten, wüssten Sie, dass ich vorhin gesagt habe, dass wir nicht alle Vorschläge von Thomas de Maizière teilen. Ihre Vorwürfe kann ich deshalb nicht nachvollziehen. Ich will Ihnen mal vorhalten – ich weiß, Ihre Kollegin Högl denkt anders als Ihr Kollege Lischka –, was Herr Lischka am 24. April 2015 in einer Bundestagsrede gesagt hat: Gerade föderale Strukturen verlangen beim Antiterrorkampf klare Führung und Verantwortung sowie einen schnellen Daten- und Informationsaustausch auch über Ländergrenzen hinweg. Ich weiß, dass sich einige Bundesländer mit der Stärkung der Zen­tralstellenfunktion des Bundesamtes sehr schwertun. Aber ich sage auch: Für Behördenegoismen darf es nach dem NSU-Skandal keinen Platz mehr geben. Ist das jetzt Ihre Haltung, oder ist es die Haltung von Frau Högl, die das alles für Nonsens hält? ({0})

Sebastian Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber lieber Herr Kollege, wenn Sie Frau Kollegin Högl zitieren und fragen, ob das ihre Meinung ist, kann ich Ihnen relativ einfach sagen: Wenn Sie zitieren, was Frau Högl gesagt hat, dann ist das ihre Meinung. ({0}) Ich habe darauf hingewiesen: Sie wollen hier davon ablenken, dass es nicht um eine Frage der Zuständigkeiten geht, sondern um eine Frage der Leistungsfähigkeit des Staates. Sie verkennen auch, dass wir in der vergangenen Legislaturperiode über das Datenaustauschverbesserungsgesetz einen föderalen Zusammenhang geschaffen haben, indem die Daten von den Kommunen, von den Ländern und vom Bund ausgetauscht und abgeglichen werden. ({1}) Aber selbst das wird nicht dazu führen, dass Sie das zugrundeliegende Problem lösen können. Weil Sie es aufgrund Ihrer Ideologie und Verkennung der Problematik aus Sicht der FDP nicht lösen können. ({2}) Sie müssen dafür sorgen, dass der Staat handlungsfähig ist. Sie müssen die Leute vernünftig bezahlen. ({3}) Sie müssen für eine vernünftige Besteuerung sorgen, damit dieser Staat über Einnahmen verfügt. Sie sollten in Ihrer Marktgläubigkeit nicht in eine Steuersenkungsdebatte verfallen. In einem Nachtwächterstaat müssten Sie vor allen Dingen eine Sache verantworten: dass sich nur die Reichen einen armen Staat leisten können. ({4}) Die SPD hat demgegenüber klar erkannt: Sicherheit ist ein soziales Recht, und Freiheit ist nur durch einen starken, handlungsfähigen Staat möglich. ({5}) Meine Damen und Herren von der FDP, es hat Sie niemand dazu verurteilt oder gezwungen, diese Debatte aufzumachen. Aber wenn Sie eine Debatte über föderale Zuständigkeiten führen wollen, dann müssen Sie sich auch harte Kritik gefallen lassen. Es waren Ihre Kürzungen in der Zeit von Schwarz-Gelb. Sie haben Stellen bei der Polizei eingespart. Sie sorgen konkret dafür, dass in Nordrhein-Westfalen die Steuerfahndung zurückgestellt wird. ({6}) Sie sind dafür verantwortlich. Übernehmen Sie dafür die Verantwortung, und lenken Sie nicht ab! ({7}) Sie machen noch etwas anderes: Sie wecken Erwartungen, die Sie nachher nicht erfüllen können. Das ist das Gefährliche an der Debatte über die innere Sicherheit. Sie könnten sich ein Beispiel an den Kollegen der Union hier im Plenum nehmen, die sich etwas zurückgehalten haben, weil sie wissen, dass sie seit 2005 auf Bundesebene den Innenminister stellen. Das ist das Problem. Jedes Mal, wenn etwas passiert ist – und absolute Sicherheit gibt es nicht –, ruft die Union nach noch härteren, noch schärferen Gesetzen. Dann muss man sich aber auch die Frage gefallen lassen: Was haben Sie denn vorher selbst gemacht, liebe Kolleginnen und Kollegen? Insofern muss man selbstbewusst zu der Verantwortung stehen, die man übernommen hat. Wir müssen zu dem stehen, was wir auf den Weg gebracht haben, und zum Beispiel loben, dass wir gestern den Pakt für den Rechtsstaat beschlossen haben, dass wir beschlossen haben, dass es endlich mehr Richter und Staatsanwälte gibt, dass 2 000 Personen eingestellt werden. ({8}) Dass wir 7 500 Polizistinnen und Polizisten einstellen, ist unsere Verantwortung. Darum haben wir uns gekümmert, und wir lenken nicht durch eine Debatte über Zuständigkeiten ab. Wir haben erkannt, dass innere Sicherheit und öffentliche Sicherheit untrennbar verbunden sind. Das ist Gesellschaftspolitik. Wir reagieren darauf, indem wir dafür sorgen wollen, dass sich die sozialen Verhältnisse in allen Stadtvierteln dieses Landes verbessern, in allen Teilen dieses Landes. Der große Sprengstoff in unserer Zeit sind die zunehmende Ungleichheit und das Gefühl, dass es nicht gerecht zugeht. Auch deswegen ist es im Übrigen wichtig – jetzt komme ich auf den Punkt Terrorismus zu sprechen –, dass man dem Terrorismus die Grundlage entzieht. Auch der Finanzstrom muss stillgelegt werden. Insofern müssen wir auch die Finanzierung von Terrorismus in den Mittelpunkt rücken. Aber passt das damit zusammen, dass Sie die Mittel für die Steuerfahndung zurückfahren wollen, dass Sie nicht mehr dafür sorgen wollen, dass der Zoll leistungsfähig ist? ({9}) Insofern geht es nicht ausschließlich um eine Frage der föderalen Zuständigkeit, sondern es geht darum, dass dieser Staat insgesamt leistungsfähig ist. ({10}) Wir verweigern uns nicht einzelnen Vorschlägen. Wir können an der einen oder anderen Stelle über Zuständigkeiten sprechen. Aber Sie werden es innerhalb kürzester Zeit nicht schaffen, diesen Staat nur durch eine Diskussion über Zuständigkeiten leistungsfähiger zu machen. Sie müssen sich darum kümmern, dass viele Menschen bereit sind, Verantwortung im Staatsdienst zu übernehmen. Wir haben die Weichen gestellt. Das werden wir auch in der nächsten Zeit tun. Noch ein letzter Punkt ist herauszustellen. Es geht nicht ausschließlich darum, wie wir über den Föderalismus bestimmte Fragen regeln. Wir müssen anerkennen, dass Länder und Kommunen in einem föderalen Staat auch Verantwortung übernehmen. Im Vergleich zu anderen Staaten sind wir da wesentlich besser aufgestellt, indem wir nämlich geteilte Verantwortung übernehmen. An dieser Stelle ist zu betonen: Wer organisiert denn die Extremismusaussteigerprogramme? Hier ist viel über den islamistischen Terror gesprochen worden. Aber wer kümmert sich denn darum, dass der NSU-Skandal aufgeklärt wird, dass der Rechtsextremismus bekämpft wird, dass auch in diesem Bereich Aussteigerprogramme angeboten werden? ({11}) An dieser Stelle geht ein Dank auch an die Länder, die sich im Rahmen der föderalen Sicherheitsarchitektur darum kümmern, dass eine bessere, dass eine besser organisierte Sicherheit angeboten werden kann als in anderen, stärker zentralisierten Staaten, in denen auch – wie in Frankreich oder Großbritannien – Anschläge stattgefunden haben. Lenken Sie also nicht ab mit Scheindebatten, in denen Sie glauben machen, dass man nur über eine Föderalismusreform etwas tun kann. Wir sorgen für einen starken, handlungsfähigen Staat. In diesem starken, handlungsfähigen Staat wird Freiheit nicht gegen Sicherheit ausgespielt. Freiheit ist nur durch Sicherheit und in einem leistungsfähigen Staat möglich. Weil wir das wissen, sorgen wir dafür, dass die Freiheit so gesichert wird, dass alle Menschen daran teilhaben können und nicht eine Gruppe gegen die andere ausgespielt wird; denn sonst können sich nur die Reichsten der Reichen diese Sicherheit leisten. ({12}) Meine Damen und Herren, wir werden Ihre Vorschläge im Innenausschuss beraten. Ich weiß, dass es Ihnen nicht gepasst hat, dass ich Ihnen die Zitate von Christian Lindner und Wolfgang Kubicki vorgehalten habe. ({13}) Aber es ist Ihre Verantwortung, wenn Sie diese Debatte aufmachen. Sie müssen sich zurechnen lassen, dass Sie die Allerersten waren, die diese Vorschläge zurückgewiesen haben, als Sie nicht mehr im Bundestag waren. Das ist widersprüchlich. Wir handeln, und wir tragen Verantwortung für die öffentliche Sicherheit in diesem Land. Danke. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. André Hahn, Die Linke, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich für meine Fraktion, Die Linke, eines gleich zu Beginn festhalten – damit schließe ich an die Ausführungen des Kollegen Hartmann an –: Es gibt keine absolute Sicherheit vor terroristischen Anschlägen, schon gar nicht bei mehr oder weniger spontanen Taten von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen. Ich füge hinzu: Der Staat darf auch nicht den Anschein erwecken, dass es eine solche absolute Sicherheit vielleicht doch geben könne, schon gar nicht um den Preis eines immer weiter gehenden Abbaus von Grund- und Freiheitsrechten der Bürgerinnen und Bürger. ({0}) Dabei wird Die Linke definitiv nicht mitmachen. Ich finde es schon einigermaßen befremdlich, dass gerade die angeblich so liberale FDP nun offenbar genau in diese Richtung marschieren will. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch zwei Jahre nach dem furchtbaren Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz, bei dem 12 Menschen getötet und mehr als 70 verletzt worden sind, sind viele Fragen unbeantwortet. ({2}) Im Kern geht es darum, warum der Attentäter Amri, der geradezu umstellt war von V-Leuten unterschiedlicher Sicherheitsbehörden, nicht rechtzeitig gestoppt werden konnte. ({3}) Ganz offensichtlich bestehen innerhalb der Sicherheitsbehörden und bei deren Zusammenarbeit untereinander eklatante Abstimmungs- und Vollzugsdefizite. Brauchen wir deshalb aber eine neue Föderalismusreform, wie es die FDP-Fraktion in ihrem Antrag nahelegt? Würden neue, zentralisierte Sicherheitsstrukturen wirklich helfen, dass unsere Polizeibehörden besser arbeiten? Ich habe da erhebliche Zweifel, zumal die beiden letzten Föderalismusreformen alles andere als eine Erfolgsgeschichte waren. ({4}) Entscheidend ist doch wohl eher, dass die Polizei die ihr vorliegenden Informationen richtig bewertet sowie Gefahrensituationen und Verdächtige zutreffend einschätzt. Auf diesem Gebiet lagen doch die zentralen Versäumnisse im Fall von Anis Amri. Deshalb ist es unzweifelhaft notwendig, dass wir uns Gedanken machen, wie wir zu einer verbesserten Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden kommen können. Ich denke, dass wir vor allem eine Reform der inneren Strukturen und der Kommunikationswege in der Polizei und mit ihren Partnern benötigen. Am Anfang einer solchen Reform muss aus Sicht der Linken die Erkenntnis stehen, dass Fehler gemacht wurden, und es muss der ernsthafte Wille vorhanden sein, aus diesen Fehlern zu lernen. ({5}) Und da, meine Damen und Herren, bin ich doch sehr verwundert über die bei den Behörden vorherrschende Wagenburgmentalität, mit der wir immer wieder konfrontiert sind. Es ist ein Unding, dass zahlreiche Sachverhalte auch zwei Jahre nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz immer noch nicht vollständig aufgeklärt sind. Für die Hinterbliebenen der Opfer und die Verletzten des Anschlags ist dies ein unhaltbarer Zustand. Hier muss die Bundesregierung endlich liefern. ({6}) Ich war als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Geheimdienste gestern Nachmittag im Bundesinnenministerium, um die beim Militärischen Abschirmdienst und beim Bundesamt für Verfassungsschutz vorliegenden Akten zu möglicherweise existierenden rechtsextremen gewaltbereiten Netzwerken in der Bundeswehr sowie in anderen Sicherheitsbehörden durchzusehen. Ich selbst hatte dazu mehrfach parlamentarische Anfragen gestellt, auch in der Fragestunde die Bundeskanzlerin damit konfrontiert. Sie erklärte, davon nichts zu wissen, und der Verfassungsschutz behauptete, dazu keine relevanten Erkenntnisse zu haben. Gestern im Innenministerium kam ich in einen Raum mit über 60 Aktenordnern zu diesem Thema, für deren Studium ich Wochen, wenn nicht Monate bräuchte, zumindest dann, wenn uns Oppositionsfraktionen nicht die Möglichkeit eingeräumt wird, dass auch unsere sicherheitsüberprüften Mitarbeiter diese Akten lesen und uns zuarbeiten können. Aber es stellt sich natürlich grundsätzlich die Frage, wie es sein kann, dass die Bundesregierung seit Monaten behauptet, keine Kenntnis von rechtsextremen Netzwerken in der Bundeswehr und in anderen Sicherheitsbehörden zu haben, ({7}) wenn die eigenen Dienste bereits Tausende Seiten dazu zusammengetragen haben. Es ist völlig inakzeptabel, wie man hier mit dem Parlament umgeht. ({8}) Kein Zweifel, die Regierung muss endlich ein deutlich stärkeres Engagement bei der Aufklärung an den Tag legen. Vor allem sollte sie nicht länger diejenigen behindern, die zum Beispiel in Untersuchungsausschüssen herausfinden wollen, was tatsächlich schiefgelaufen ist. Es ist ein dunkles Kapitel deutschen Behördenversagens, das dort ans Licht kommt. Die Bundesregierung blockiert bis heute, auch im Amri-Untersuchungsausschuss, wo sie kann: Akten werden verweigert, Seiten werden geschwärzt, und zu Befragungen kommen Zeugen, die nichts zu sagen haben. Linke, FDP und Grüne müssen vor dem Bundesverfassungsgericht klagen, weil die Bundesregierung sich weigert, die Befragung von V-Mann-Führern zuzulassen. ({9}) Das ist mit Sicherheit die falsche Lehre aus den Fehlern im Zusammenhang mit dem Attentat. ({10}) Die FDP-Fraktion möchte, dass die Zuständigkeiten zwischen den Polizeibehörden des Bundes und der Länder neu geregelt werden. Der Antrag verkennt jedoch, dass diese bereits klar festgelegt sind: Im BKA-Gesetz ist eindeutig beschrieben, in welchen Fällen das Bundeskriminalamt bei der Strafverfolgung oder bei der Gefahrenabwehr tätig wird und in welchen Situationen ein Selbsteintrittsrecht besteht. Unser Problem, meine Damen und Herren, ist nicht ein Mangel an Gesetzen; unser Problem sind Mängel im Vollzug. ({11}) An die Adresse der AfD gerichtet füge ich hinzu: Die von Ihnen geforderte Bundesbehörde für Gefahrenabwehr existiert bereits: Das Bundeskriminalamt gibt es seit 1951. Mit dem zweiten AfD-Antrag, der mehr ein rassistisches Pamphlet ({12}) als eine parlamentarische Initiative ist, will ich mich eigentlich gar nicht auseinandersetzen. ({13}) Nur so viel: Wer schützt eigentlich die Bevölkerung vor den Gefährdern aus Ihren Reihen? ({14}) Sie und Ihre Hilfstruppen sind aktuell eine der größten Gefahren für die öffentliche Sicherheit und den inneren Frieden in diesem Land. ({15}) Ich finde – letzte Bemerkung –, wir müssen insgesamt zu einer sachlichen Kriminalpolitik zurückfinden, ({16}) in der der Rechtsstaat, in der die Grund- und Freiheitsrechte nicht als Hindernis für polizeiliche Arbeit wahrgenommen werden, sondern endlich wieder als das eigentlich zu schützende Gut. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren diskutieren wir hier über unsere föderale Sicherheitsarchitektur, ohne dass es zu den dringend notwendigen Reformen gekommen wäre. ({0}) Einige der zentralen Fragen werden in der FDP-Initiative sehr zutreffend angesprochen. ({1}) Dafür danke ich, und das finde ich gut. Ich will dem Missverständnis vorbeugen, dass die Punkte eigentlich vom Kollegen Schuster sind. ({2}) Frau Mihalic und ich ({3}) bringen das seit vielen Jahren hier; das lassen wir uns nicht raubkopieren, Herr Schuster. Es geht unter anderem um die uneinheitlichen Definitionen, zum Beispiel zu der relevanten Frage, wer eigentlich ein Gefährder ist. Es geht um unklare Vorgaben zum Daten- und Informationsaustausch. Es geht um das offenkundig hochproblematische Fehlen verlässlicher Rechtsgrundlagen in den Gemeinsamen Abwehrzentren. Bis heute haben wir im Bereich der Innenpolitik eine Unverbindlichkeit und auch ein Kompetenzchaos, das unseren Bedrohungslagen nicht gerecht wird ({4}) und unsere Sicherheit gefährdet. Dagegen müssen wir was tun, meine Damen und Herren. Wir haben es bei der Aufklärung des Anschlags auf dem Breitscheidplatz gerade gestern wieder im Untersuchungsausschuss erlebt bezüglich der Abläufe: Wie das im GTAZ läuft, ist organisierte Unverantwortlichkeit, und die besteht bedauerlicherweise bis heute fort. ({5}) Das sind die echten Sicherheitslücken, meine Damen und Herren. Auch im Bereich der Nachrichtendienste und ihrer parlamentarischen Kontrolle ist der Reformbedarf weiter extrem hoch. Entsprechende, sehr konkrete Vorschläge haben meine Fraktion und ich hier eingebracht. Doch statt diese Probleme anzugehen, hat die Große Koalition die letzten Jahre Scheindiskussionen geführt: ({6}) über die Fußfessel, über die Burka, über die Chimäre der sicheren Herkunftsstaaten. ({7}) Die Große Koalition ist offenkundig nicht in der Lage oder nicht willens, diese Probleme zu lösen, und diese Analyse der FDP teilen wir durchaus, meine Damen und Herren. ({8}) Aber etwas mehr inhaltliche Substanz, lieber und geschätzter Herr Kollege Strasser, hätte Ihrem Antrag gutgetan. ({9}) Nehmen Sie die Forderung zum Trennungsgebot: ({10}) Da heißt es schlicht, die Kommission solle Regeln für das Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten erarbeiten, mit denen die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit … gewahrt wird … ({11}) – Aha! Das sind spannende und rechtliche Fragen. Aber Sie bleiben jede Konkretisierung, wie das funktionieren könnte, leider schuldig. ({12}) Dazu kommt, dass die Hälfte Ihres Forderungskataloges – das ist eigentlich der Hammer – Formalitäten bezüglich der Kommissionszusammensetzung, wer da was bezahlen soll und so, enthält. Das ist leider etwas dünn, meine Damen und Herren. ({13}) Auch konnten Sie der Versuchung nicht widerstehen, Horst Seehofer hinterherzuschleichen bezüglich der neuen Zuständigkeit für die Abschiebung von Gefährdern – wenig konkret, wenig liberal. ({14}) Um es kurz zu machen: Sie sprechen drängende Probleme an und finden mit der Begrifflichkeit „Föderalismuskommission III“ auch eine hübsche Überschrift, ({15}) aber es ist eben etwas zu dünn. ({16}) Statt nach 55 Kommissionen des Koalitionsvertrages der GroKo – 55 Kommissionen! – jetzt noch eine 56. hinzuzufügen, ({17}) lassen Sie uns konkret hier im Parlament die Dinge umsetzen. Ganz herzlichen Dank. ({18})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Lindholz, CDU/CSU. ({0})

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe FDP, lieber Herr Kollege Strasser, es ist gut und richtig, dass wir uns in diesem Haus über die Sicherheitsarchitektur in Deutschland unterhalten. Ihr Antrag trägt dazu bei, dass wir dies – auch heute Morgen – tun. Ob allerdings dann am Ende die Einrichtung einer Kommission stehen muss, daran habe auch ich meine Zweifel. Warum? Grundsätzlich ist es richtig, dass wir in Deutschland einen föderalen Rechtsstaat haben, der bei der inneren Sicherheit die Verantwortung vorrangig bei den Ländern ansiedelt. Um die äußere Sicherheit hat sich nach unserer Verfassung der Bund zu kümmern. Im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität, Extremismus und Terrorismus macht diese klassische Trennung nicht immer Sinn, und sie wird zunehmend schwieriger; kleine Bundesländer sind überfordert. Insofern ist es richtig, dass wir uns hier immer wieder die Frage stellen: Wie können wir uns besser vernetzen, und wo kann der Bund auch mehr Verantwortung übernehmen? Auch Europa bringt viele neue Herausforderungen und erfordert, dass wir über Landesgrenzen hinausdenken. Diese Diskussionen werden daher zu Recht seit vielen Jahren geführt, und es hat sich auch vieles verändert. Ob es allerdings sinnvoll ist, eine weitere Kommission einzusetzen, so wie Sie es in Ihrem Antrag fordern? Das ist, glaube ich, der verkehrte Weg. Wir hatten die Werthebach-Kommission, aus der der eine oder andere Vorschlag übernommen worden ist, aber eben nicht alles. Wir hatten eine Regierungskommission zur Überprüfung der Sicherheitsgesetzgebung in Deutschland, gemeinsam von Union und FDP 2013 eingesetzt. Auch hier ist man nicht zufrieden damit, dass grundsätzliche Dinge nicht umgesetzt wurden. Und warum ist das so? Weil man immer wieder auf die Zuständigkeiten des Bundes bzw. der Länder stößt, aber auch von Behörden untereinander. Lieber Herr Kollege Strasser, Sie sitzen ja im Untersuchungsausschuss zum Anschlag am Breitscheidplatz. Thomas de Mazière hatte danach weitreichende Reformvorschläge vorgelegt; wir haben das heute Morgen schon gehört. Allein wenn man nur die Überlegung anstellt: „Wie ist das eigentlich mit unseren Verfassungsschutzämtern, übernimmt der Bund hier mehr Verantwortung, bis hin zur vollständigen Auflösung einzelner Landesämter für Verfassungsschutz?“, erlebt man sofort einen großen Aufschrei: Das geht von „extrem“, Auflösung der Landesämter, bis hin zu „weniger extrem“, mehr Verantwortung des Bundes. Das heißt: Was soll eine Kommission erreichen? Ich könnte Ihnen noch zahlreiche weitere Beispiele nennen, wo es eine reflexartige Ablehnung gibt, wenn Bund und Länder ihre Zuständigkeiten verändern. ({0}) Also brauchen wir doch zunächst mal – das ist wichtig – einen Konsens bei den Behörden, bis hin zu Mitarbeitern bei den Ländern und dem Bund und auch in der breiten Politik, welche Maßnahmen hier überhaupt gewünscht sind. ({1}) – Ich will gar nichts schieben. – Ich meine, es ist unsere Aufgabe – Konstantin von Notz hat es vorhin auch gesagt –, zum Beispiel auch beim Trennungsgebot Entscheidungen zu treffen: Wollen wir das auflösen? Wollen wir das verändern? In welcher Art und Weise? ({2}) Genau darum geht es auch bei der Frage, ob man zum Beispiel beim Verfassungsschutz etwas ändern will. Wir können einseitig eine Kommission beschließen und sagen: Die Länder sollen sich daran beteiligen. – Wenn aber überhaupt keine Bereitschaft da ist, ({3}) dann muss ich mir die Frage stellen: Was soll so eine Kommission uns dann eigentlich bringen? ({4}) Das heißt, ein Gremium macht nur dann Sinn, wenn es aus den Ländern heraus – von den Ministerpräsidenten, von den Innenministerkonferenzen – Anstöße gibt und wenn die Politik im Bundestag – und zwar breit, nicht nur so, wie ich es heute Morgen erlebe: ein ständiges Aufeinandereinschlagen – der Auffassung ist, dass ein breiter Konsens über die notwendigen Veränderungen herrscht. ({5}) Wenn ich mir als Bürger das heute hier anschaute, dann würde ich mir tatsächlich die Frage stellen: Was ist denn mit unserer Sicherheitsarchitektur? Ist die gut? Ist die schlecht? Sind wir überhaupt sicher? – Und Herr Hess hat sogar die Frage der Sicherheitsarchitektur heute Morgen einzig auf die Themen „Gefährder“ und „Grenze“ verengt; dabei wissen Sie, Herr Hess, doch genau, dass das Thema viel, viel umfangreicher ist. Da würde ich mir auch von Ihnen wünschen, dass Sie Ihren Blickwinkel mal etwas über die Frage der Grenzöffnung hinaus ausweiten. Wir haben im Gutachten von Professor Wolff, das Sie, Herr Kollege Strasser, sicherlich auch kennen, weil Sie im Ausschuss sitzen, dargelegt bekommen, wie viele Gesetzesänderungen es vom Jahr 2011 an bis 2017 gegeben hat. Er hat die Reformen wunderbar aufgelistet: beim BKA-Gesetz, beim Verfassungsschutzgesetz, beim BND-Gesetz. Und die Reform „Polizei 2020“ – das steht nicht im Gutachten; das sage ich jetzt – wurde in Gang gesetzt. ({6}) Es ist so unglaublich viel passiert. Da ist es die Aufgabe, sich zuvorderst zu fragen: „Was haben wir in den letzten zehn Jahren alles getan? Was hat sich positiv weiterentwickelt?“ – das alles kann man prima aus diesem Gutachten herauslesen –, dann eine Bestandsaufnahme zu machen und zu sagen, wo es tatsächlich noch Dinge gibt, die wir verändern wollen, und zwar mit einem breiten gesellschaftlichen Konsens. Dazu gehört es am Ende im Übrigen auch, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Behörden, die davon betroffen sein würden, mitzunehmen. Wir haben den Etat des Innenministeriums in den letzten fünf Jahren in einem unglaublichen Ausmaße erhöht. Wir haben neue Stellen geschaffen bzw. bewilligt. Das alles muss man erst mal bewerten; erst dann kann man sagen, was hier zum Schluss tatsächlich noch geändert werden muss. Wir haben ja eine Lücke, und das ist die Schnittstelle, die Verknüpfung zwischen Bund und Ländern; wir brauchen da eine bessere Vernetzung. Hier haben wir einen echten Bedarf. Das sehen wir auch an den vielen gemeinsamen Zentren, die eingerichtet worden sind, wie zum Beispiel dem GTAZ. Hier müssen wir noch besser werden. Ich glaube, darauf müssen wir uns konzentrieren. Insofern, Herr Strasser, freue ich mich auf die Debatte. Aber ich wünsche mir tatsächlich von allen bei der Sicherheitsarchitektur einen breiteren Konsens, als ich ihn heute Morgen hier erlebe. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Konstantin Kuhle, FDP: ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben des Staates, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Aber leider zeigen uns schreckliche Ereignisse wie der terroristische Anschlag am Berliner Breitscheidplatz, dass es dem deutschen Staat nicht immer gelingt, die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten. Das muss uns zum Nachdenken bringen, vor allen Dingen angesichts der Tatsache, dass alle islamistischen Attentäter der letzten Jahre in Deutschland und Europa den Sicherheitsbehörden längst bekannt gewesen sind. ({0}) Deswegen wird die FDP nicht müde werden, in diesem Haus darauf hinzuweisen: Wir brauchen keine neuen Überwachungsmaßnahmen, keine neuen Einschnitte in die Privatsphäre und in die informationelle Selbstbestimmung, sondern eine strukturelle Reform bei den Aufgaben der Sicherheitsbehörden und der Datenweitergabe. Da muss was passieren, und da machen wir Ihnen heute ein Angebot. ({1}) Wir machen Ihnen heute ein Angebot für eine Föderalismuskommission III. Ich hätte mich ja schon gefreut, lieber Kollege Hartmann, wenn auch die SPD da mitmachte. Ich könnte jetzt auf Ihre Rede erwidern, ({2}) indem ich darüber spreche, was für ein Segen für die innere Sicherheit in Nordrhein-Westfalen es ist, dass Ralf Jäger nicht mehr Innenminister ist. ({3}) Ich lasse das aber, ({4}) weil ich glaube, dass unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten und auch die Menschen in unserem Land es erwarten, ({5}) dass wir vor der nächsten Gefährdungslage, vor dem nächsten Anschlag mal darüber sprechen, wie die Sicherheitsarchitektur verbessert werden kann, und nicht immer nur im Nachhinein. Armin Schuster macht ja gute Vorschläge; ({6}) so hat er zum Beispiel im Nachgang zu dem, was in Straßburg passiert ist, vorgeschlagen, eine europäische Antiterrordatei zu schaffen. Aber wie wollen wir denn eine europäische Antiterrordatei schaffen, in der Daten weitergegeben werden, wenn Deutschland nicht mal seine eigenen Hausaufgaben macht, wenn nicht mal in Deutschland klar geregelt ist, dass es ein Trennungsgebot gibt und wann es Ausnahmen davon gibt und wann welche Daten weitergegeben werden können? Deutschland muss auf europäischer Ebene auch klar sagen, was es will bei einer europäischen Antiterrordatei. Und deswegen ist die vorgeschlagene Föderalismuskommission III auch eine Vorbereitung für eine bessere Antiterrorarbeit auf europäischer Ebene, meine Damen und Herren. ({7}) Lieber Kollege von Notz, lieber Kollege Schuster, ich würde gerne hier im Parlament darüber sprechen, wie wir das ohne eine solche Kommission machen können. Jedoch frage ich mich schon, warum kein einziger Vertreter des Bundesrates oder der Länder hier anwesend ist, wo wir doch über die Frage des Föderalismus und der föderalen Sicherheitsarchitektur sprechen. ({8}) Das kann doch wohl nicht wahr sein. Da brauchen wir doch neue Dialogformate; man kann das nicht einfach so abtun. Und wenn Sie es mir und der FDP nicht glauben, dann glauben Sie es vielleicht Lorenz Caffier, dem Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, ({9}) der in einem anderen wichtigen Bereich, nämlich der Bekämpfung des Rechtsextremismus, über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern angesichts der Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz ({10}) Folgendes am 18. Januar 2019 gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagt – ich zitiere –: Die Länder sind nicht die Sklaven des BfV – des Bundesamtes für Verfassungsschutz –, die Material zusammensuchen und anschließend in die Röhre schauen. Wir sind ein Verbund und keine Einbahnstraße. Außerdem beschwert er sich darüber, von der Beobachtung nur aus der Presse erfahren zu haben. Wenn es noch irgendeines Beweises bedurft hätte, dass bei der Zusammenarbeit von Bund und Ländern im Sicherheitsbereich der Wurm drin ist: Dieses Zitat hätte den Beweis erbracht. Stimmen Sie unserem Antrag zu! Und lassen Sie uns eine Föderalismusreform III auf den Weg bringen! Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Helge Lindh für die SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Werte Kollegen, bitte verzeihen Sie mir das, was ich jetzt sage – es ist auch sehr wertschätzend gemeint –, aber bei einigen Vorträgen von Kollegen aus unterschiedlichen Fraktionen bekam ich den Eindruck, dass es doch Argumente dafür gibt, dass die Politik weiblicher werden muss. ({0}) Denn viele haben hier eben das erklärt, was sie schon immer gewusst haben bzw. dass sie eigentlich die Idee hatten, es immer schon besser wussten und es gut gewesen wäre, wenn man bloß auf sie gehört hätte. Ich glaube, es geht doch um die Frage der Sicherheit dieses Landes und nicht darum, wer wann welche Idee hat und wie furchtbar die anderen waren. ({1}) Es geht, denke ich, auch nicht darum, die Ausführungen von Herrn Hess betrachtend, zu sagen, dass wir kurz vor der Apokalypse stehen. Ich glaube nicht an die Methode, Ängste damit zu bekämpfen, dass man dieses Land möglichst unsicher zeichnet. Aber das ist ja auch gar nicht die Strategie. Die Strategie ist, Ängste zu schüren, aber das Land kein bisschen sicherer zu machen. Ich halte das für eine perfide Methode. ({2}) Herr Strasser, Sie meinten ja am Anfang Ihrer Rede, die föderale Struktur stamme aus einem Land vor unserer Zeit. Ich habe eine andere These. Ich würde behaupten, das ist das Land unserer Zeit. Denn diese föderale Struktur ist aus den Folgen des Nationalsozialismus erwachsen. Es gibt gute Gründe, auch rechtspolitische und innenpolitische, für eine hoheitliche Teilung der Gewalten auf horizontaler Ebene zwischen Ländern und Bund, auch in Erinnerung dessen, dass wir in diesem Land einmal eine Zentralisierung und eine Geheime Staatspolizei hatten, mit all den dramatischen Folgen, die wir kennen. ({3}) Es gilt also, durchaus in wertschätzender und akzeptierender Weise über den Föderalismus zu sprechen und ihn nicht als etwas Anachronistisches abzutun. ({4}) Ich teile durchaus einige Ihrer kritischen Beobachtungen. Aber in der Form, in der Sie diese vortragen, ist das überall nur ein bisschen: ein bisschen wahr, ein bisschen falsch. Und „immer ein bisschen“ ist eben ein bisschen zu wenig. ({5}) – Sie können ja mit einer Kurzintervention Ihre Redezeit erweitern. ({6}) Das Ganze soll dann auch noch in Form einer Kommission erfolgen. Die Kommission erledigt nicht die Aufgabe, konkrete Fragen zu adressieren. Es wäre doch vielleicht gut, wenn wir einmal angucken, welche Dynamik und Fülle von Gesetzgebung es in den letzten Jahren gab: Es geht immer weiter. Es ist eine Form des Alarmismus, gleichzeitig verbunden mit Verzögerungstaktik, wenn wir weitere Kommissionen gründen, anstatt mal etwas ganz Simples, fast schon Naives zu tun: nämlich die bestehenden Gesetze umzusetzen und uns anzugucken, wie sie funktionieren. Wie wäre dieser Ansatz? ({7}) Sie selber haben doch aufgezählt, welche verschiedenen Einrichtungen wir haben: GTAZ, GETZ, GASIM usw. Das ist doch schon komplex genug. Warum wollen wir noch eine Meta-Struktur und eine Meta-meta-Struktur machen, ({8}) um uns anzugucken, wie die Strukturen funktionieren? Ich bin davon nicht überzeugt. ({9}) Weiterhin scheint es mir auch nicht zwingend sinnvoll, dass wir wiederum eine Kommission einsetzen und die gesamte Struktur in einer Situation entwickeln, in der tatsächlich Gefährdungen der Sicherheit bestehen, wir jedoch andererseits dabei sind, die Personalsituation zu konsolidieren, Personalaufwuchs zu betreiben. In so einer Situation, in der es darauf ankommt – Kollege Hartmann hat es erwähnt –, Personal zu stärken, unser BKA zu stärken, den Verfassungsschutz personell zu stärken, die Bundespolizei zu stärken, halten wir dies letztlich auf, indem wir wieder eine Strukturdebatte führen und nicht konkret die Fragen angehen. ({10}) Ich verwies gerade auf historisches Denken. In den 70er-Jahren, danach auch noch im Nachwirken großer und damals noch liberal wirkender Liberaler, ({11}) gab es extreme Herausforderungen durch linksextreme Gewalt. Genau in dieser Zeit führte man aber auch Debatten zu einer Liberalisierung der Kriminalpolitik, ({12}) fragte man sich zum Beispiel: Was machen wir mit Menschen, die inhaftiert waren und wieder freikommen? Wie resozialisieren wir sie? Gerade das ist auch eine Frage im Zusammenhang mit Extremismus. Es kommt nämlich völlig zu kurz in Ihrem Ansatz: Was ist mit Prävention? Was sind die Ursachen des Extremismus? Es reicht doch nicht, dass wir eine Kommission einrichten und uns gut dabei fühlen, zu kritisieren, wie furchtbar alle Sicherheitsbehörden arbeiten. Es wäre, glaube ich, viel sinnvoller, im Sinne eines ganz altmodischen, aber genauso radikal modernen Vorschlags dafür zu sorgen, dass überall, in allen Gemeinden, wieder der Polizist, die Polizistin vor Ort ist und auch wieder im traditionellen Sinne eine Gemeindeschwester oder ein Gemeindebruder, also jemand, der sich um das Soziale kümmert, sich austauscht und im Gespräch mit Beratungsstellen ist. Die Sicherheit vor Ort ist entscheidend und nicht abstrakte Debatten, die wir hier führen. ({13}) Der Aspekt der Prävention kommt aber viel zu kurz. Öffentliche Sicherheit ist eben nur dann gegeben, wenn wir nicht Privatisierung, zum Beispiel an Flughäfen, Tür und Tor öffnen. Sicherheit im Privaten können sich nur Reiche leisten. Aber einen starken Rechtsstaat brauchen gerade diejenigen, die sich das nicht leisten können. Wir wollen eben nicht das Recht des Stärkeren in diesem Staat, sondern einen funktionierenden Rechtsstaat. Insofern dürfen wir mit solchen Strukturreformdebatten Innenpolitik nicht isoliert betrachten, sondern wir müssen uns um die konkreten Verbesserungen vor Ort und die Stärkung der Beamtinnen und Beamten kümmern. Abschließend erlaube ich mir, noch etwas zu den ja hier heute auch zu debattierenden Anträgen der AfD-Fraktion zu sagen. Um die Details ging es schon in der ersten Beratung; das brauche ich nicht zu wiederholen. Vieles ist dabei nicht verfassungsgemäß. Die Verhältnismäßigkeit wird nicht eingehalten, das Übermaßgebot vielfach gebrochen. Aber eine entscheidende Frage haben Sie überhaupt nicht beantwortet: Sie richten den Fokus immer auf Gefährder, Sie richten ihn aber nicht auf zweifelhafte und verfassungsferne Kräfte in den eigenen Reihen, und Sie geben keine Antworten auf die Gefährdung von Deutschen durch Deutsche und auf die Gefährdung von ausländischen Bürgern durch Deutsche, zum Beispiel in Sachen NSU. Das war ein ganz extremer Rassismus, Extremismus und Terrorismus in diesem Land, der längst nicht aufgearbeitet ist. Deshalb würde ich mir wünschen, dass Sie auch zu diesen Themen einmal entsprechend substanziellere Anträge schreiben würden. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Irene Mihalic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lindh, wenn Sie sich einen funktionierenden Rechtsstaat wünschen, dann kommen wir an den für Sie langweiligen Strukturdebatten nun mal nicht vorbei. ({0}) Denn die Placebogesetze, die Sie hier reihenweise mit der Union auf den Weg bringen, lösen die realen Probleme unserer Sicherheitsarchitektur nicht. Insofern sind wir uns, was das Ziel Ihres Antrags betrifft, Herr Strasser, Herr Kuhle, im Kern auch einig, nämlich dass wir dringend eine Reform der Sicherheitsarchitektur brauchen. Allein in der letzten Wahlperiode hatten wir hier im Bundestag drei Parlamentarische Untersuchungsausschüsse, die sich mit den Aufgaben bzw. mit der Funktionsweise der Sicherheitsbehörden befassen mussten. Das allein zeigt doch schon, wo im Kern die Probleme liegen und dass wir sie dringend angehen müssen. Aufgaben und Kompetenzen von Sicherheitsbehörden müssen dringend neu aufeinander bezogen und natürlich voneinander abgegrenzt sowie auch in unserem föderalen System neu geordnet werden. Aber, liebe FDP, Vorschläge dazu liegen bereits seit Jahren auf dem Tisch, ({1}) und die hätten wir auch schon komplett umsetzen können. Sie haben die Probleme beim GTAZ, dem Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum, angesprochen, auch die bei den anderen gemeinsamen Zentren. Da brauchen wir selbstverständlich eine gesetzliche Grundlage, aber dafür brauchen wir keine Kommission. Das können wir hier sofort machen. ({2}) Es gibt drei Bereiche, um die wir uns kümmern müssen, wenn es uns um eine funktionierende Sicherheitsarchitektur geht. Der erste Bereich betrifft den Analysefaktor. Da brauchen wir dringend mehr Wissenschaftlichkeit. Meine Fraktion hat einen Gesetzentwurf zur Einführung eines periodischen Sicherheitsberichts auf den Weg gebracht. Demnächst findet dazu im Ausschuss eine Anhörung statt. Damit schaffen wir schon einmal die Grundlagen. Der zweite Bereich, um den wir uns kümmern müssen, ist der Bereich des Gefahrenvorfelds. Da sind natürlich in erster Linie die Nachrichtendienste gefragt, aber auch der gesamte Bereich der Radikalisierungsprävention. ({3}) Das fehlt leider völlig in Ihrem Antrag. Dabei beklagen wir da seit Jahren einen wirklich dysfunktionalen Flickenteppich, der dringend überwunden werden muss. ({4}) Der dritte Bereich – hier wird ja immer über die Umsetzung von Gesetzen gesprochen – ist der Bereich der konkreten Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung. Natürlich mangelt es da auch an einem guten Vollzug der Gesetze. Sie haben ja auch die mangelnde Kommunikation zwischen den Sicherheitsbehörden und den verschiedenen Ebenen angesprochen. Ich stimme Ihnen überall zu. Woran es aber fehlt in Ihrem Antrag und was wir dringend brauchen, sind gemeinsame Standards zwischen Bund und Ländern, was zum Beispiel den Personalbereich, die Ausbildung, aber auch die Ausstattung angeht. Das kann man auch ganz konkret miteinander vereinbaren. Da gibt es Verwaltungsvereinbarungen, die man zum Beispiel aufschreiben kann und durch die man ganz konkret zu Verbesserungen kommen kann. Das wäre aus unserer Sicht auch zwingend notwendig. ({5}) Bevor wir Ihrem Vorschlag folgen und eine Kommission einsetzen, müssen wir uns doch hier erst mal auf Bundesebene darauf verständigen, was wir eigentlich wollen und worüber wir uns mit den Ländern ganz konkret ins Benehmen setzen wollen. ({6}) Wie gesagt: Die Vorschläge, was man an unserer Sicherheitsarchitektur konkret verändern muss, liegen seit Jahren auf dem Tisch, auch dazu, was wir hier im Haus konkret miteinander beschließen könnten. Diese Schritte gilt es jetzt auf den Weg zu bringen. Wir brauchen eine Sicherheitsarchitektur, die hält, was sie verspricht, und die vor allen Dingen so aufgebaut ist, dass man sie auch reformieren kann, ohne dass die Gefahr besteht, dass das Kartenhaus jederzeit einstürzt. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Marian Wendt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der FDP enthält viele sinnvolle Ansätze. Wir haben uns in dieser Debatte bereits eingehend dazu ausgetauscht. ({0}) Ich finde es gut, dass unsere föderal aufgebaute Sicherheitsarchitektur verbessert werden soll. Ehrlich gesagt, ich hätte mich gefreut, wenn wir auf dieser Basis eine Koalition eingegangen wären. ({1}) Leider haben Sie sich ja gegen eine Regierungsbeteiligung entschieden. ({2}) – Ja, daran müssen wir ab und zu mal erinnern; denn ich finde es immer besser, zu regieren, als nur zu nörgeln. ({3}) Ich sage Ihnen auch ehrlich: Im Bereich der inneren Sicherheit haben Sie aus meiner Sicht als Partei eine positive Entwicklung vollzogen. Sie sind weg vom Misstrauen gegenüber den Sicherheitsbehörden, das Sie in den 1990er- und 2000er-Jahren wirklich mantrahaft vorgetragen haben. Nun liegen wir sachlich beieinander. Aber, wie bereits erwähnt, wollen Sie lieber Serviceopposition sein, ({4}) statt Verantwortung für unser Land zu tragen. Aber nun konkret zum Thema. Wie wir heute wissen, auch aufgrund des Untersuchungsausschusses der letzten Wahlperiode, konnte der Attentäter vom Breitscheidplatz, Anis Amri, mit seinen 15 Identitäten ({5}) nur unerkannt agieren, weil mehrere Behörden von Bund, Ländern und Kommunen nach- und nebeneinander zuständig waren. ({6}) Dieses Zuständigkeitswirrwarr muss endlich aufhören. Wir arbeiten daran, und ich denke, wir sind uns alle einig, dass das beendet werden muss. Am Ende war es bei Amri doch so, dass jede Verfassungsschutzbehörde und jede einzelne Polizeibehörde im jeweiligen Bundesland froh war, wenn er mal wieder umgezogen war. ({7}) Jeder fragte doch zunächst: Bin ich überhaupt noch zuständig? Das ist die allererste Frage eines Verwaltungsbeamten, bevor er eine Akte überhaupt anfasst. Die Bekämpfung des modernen Terrorismus kann aus meiner Sicht und aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion nur bei klaren Zuständigkeiten in den entsprechenden Behörden und mit einem abgestimmten Datenaustauschverfahren gelingen. Den Austausch von Daten sehe ich bisher ungenügend gelöst. Wir haben mit dem Datenaustauschverbesserungsgesetz eine Voraussetzung geschaffen, um insbesondere bei Asylbewerbern und damit teilweise auch bei Gefährdern zu klaren Identitätsstrukturen zu kommen. Aber wir müssen dort noch besser werden. Ich erinnere hier – es gibt natürlich auch deutsche Terroristen – an eine einheitliche Datenbank alleine für deutsche Einwohner. Das mag banal klingen; aber wenn ich als Staat nicht einmal bundesweit weiß, wo meine Einwohner wohnen und wie ich auf sie Zugriff habe, und ich das über Länderzuständigkeiten regeln muss, dann habe ich ernste Probleme. Ich denke, zum Zweiten müssen wir uns klar über das Thema Trennungsgebot unterhalten. Ich halte dieses historisch begründete Trennungsgebot, das sich aufgrund unserer Geschichte so entwickelt hat – das ist nicht in unserer Verfassung festgeschrieben, sondern aufgrund unserer Geschichte nur einfachgesetzlich geregelt –, für nicht mehr zeitgemäß. Informationen, die der Verfassungsschutz hat, soll er mit den Polizeibehörden teilen können und umgekehrt. Es ist für keinen Bürger verständlich, dass Daten, Informationen, die staatliche Behörden vorhalten, nicht miteinander geteilt werden dürfen. ({8}) Diese Informationen müssen allen zur Verfügung stehen. Das stärkt die innere Sicherheit in unserem Land. Wie gesagt, es braucht eine enge Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden. Wir müssen aufhören mit den alten Erbhöfen und mit Abgrenzungen, wenn es darum geht, wer für was zuständig ist. Denn ich glaube und bin der festen Überzeugung, dass es dem Bürger vollkommen egal ist, welche Behörde zuständig ist. Der Bürger fragt am Ende des Tages uns Abgeordnete: Löst du den Fall? Organisierst du, dass es weniger Straftäter gibt, dass die Gefährdungslage sinkt, ja oder nein? Wie das geschieht – ob mit Europa, der Kommune, dem Land oder dem Bund – und wie die Behörde heißt, ist dem Bürger vollkommen egal. Das verstehe ich auch. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Probleme gelöst werden, dass die Menschen sich in Deutschland gut und sicher fühlen und dass es vor allen Dingen zu keinen Anschlägen mehr kommt. ({9}) Wir als Unionsfraktion stehen dafür bereit, uns konstruktiv und zügig in diesen Dialog einzubringen. Die entsprechenden Vorschläge liegen alle auf dem Tisch. Da brauchen wir auch keine umfangreichen Kommissionen mehr. Es braucht nun Taten und Entscheidungen. Wir sind dafür bereit. ({10}) Ich hoffe, Sie auch. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ebenfalls für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Philipp Amthor das Wort. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss doch sagen: Ich bin ein bisschen erstaunt, weil ich jetzt das zweite Mal in dieser Sitzungswoche hier stehe und sage: Die FDP hat einen ganz guten Antrag vorgelegt. ({0}) Da findet jetzt anscheinend wirklich eine Umorientierung von der Serviceopposition zum Nachdenken über Regierungsverantwortung statt. Ich bin wirklich begeistert. Aber man sollte immer dazusagen: Der Ausgangspunkt ist sicherlich richtig. Wir sehen natürlich – das haben auch die Redner aller Fraktionen betont –, dass die größten Herausforderungen für unseren Rechtsstaat – der Terrorismus, die Gefahren aus dem Cyberraum – keine Rücksicht nehmen auf die Grenzen von Ländern und erst recht nicht auf die Grenzen von Bundesländern. Deswegen ist es auch notwendig, dass wir uns für ein Update unserer Sicherheitsbehörden und unserer Sicherheitsstrukturen entscheiden. ({1}) – Klatschen Sie nicht zu früh, Herr Strasser. Es geht aber nicht nur um Zuständigkeiten; es geht auch um Befugnisse. Und da muss ich mich dann doch ein bisschen darüber wundern, dass jetzt so etwas Schlaues und Sachdienliches von der FDP kommt. Denn beim Thema Befugnisse sind unsere Sicherheitsbehörden wirklich mit ihren Fähigkeiten auf der Höhe der Zeit. Bezüglich dieses Punktes muss ich feststellen, dass die FDP in Ländern wie Bayern, wo die CSU mit dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz die richtigen Akzente gesetzt hat, ({2}) Hand in Hand mit der Antifa linke Fake News verbreitet. ({3}) Das, muss man sagen, ist sicherlich nicht die beste Einstellung zur Sicherheitsarchitektur. Sie hetzen gegen die Vorratsdatenspeicherung, und Sie verunglimpfen die Onlinedurchsuchung als Staatstrojaner. ({4}) Das ist alles kein Beitrag zur Sicherheitsarchitektur. ({5}) Bei Befugnissen ist mit der FDP im Moment noch nicht viel zu retten; aber vielleicht gibt es da auch Besserung. Aber beim Thema Zuständigkeiten – das muss man sagen – sprechen Sie gute Punkte an. Wenn wir über das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum, das GTAZ, reden, dann ist es ja durchaus diskutabel, zu fragen: Braucht man eine gesetzliche Grundlage? ({6}) Aber ich sage: Wenn man über gesetzliche Grundlagen redet, muss man sich auch bewusst sein – Stichwort: Gesetzesvorbehalt –, dass man nur dann ein Gesetz braucht, wenn damit auch Eingriffsbefugnisse korrespondieren. Diese hat das GTAZ im Moment nicht. Wenn Sie uns jetzt vorschlagen wollen, dass wir dort mehr Führung bekommen sollen, dann ist es etwas, worüber wir diskutieren können. ({7}) Das, was Armin Schuster immer wieder gesagt hat – Führungsrolle des Generalbundesanwalts, zum Beispiel im GTAZ –, sind Punkte, über die wir diskutieren können. ({8}) Ich will deutlich sagen: Wenn man über Zuständigkeiten redet, muss es auch um die Frage gehen, ob man wirklich für die Sicherheit in unserem Land ist. Da werden wir – jenseits von irgendwelchen Kommissionen – vielleicht in dieser Legislaturperiode schon vor der Frage stehen, wer hier Lippenbekenntnisse abgibt und wer sich wirklich zu Zuständigkeitsanpassungen bekennt. ({9}) Denn im Bereich der Cyberabwehr ist es notwendig, dass wir unsere Behörden auf einen Stand bringen, damit sie gleichwertige Befugnisse sowohl in der digitalen als auch in der analogen Welt haben. ({10}) Wir reden darüber, dass wir bei hinreichender Gefahr schon heute in der analogen Welt in Wohnungen eindringen können, um Gefahren abzuwenden, und dass wir Dinge beschlagnahmen und nötigenfalls zerstören können. Ich glaube, diese Befugnisse brauchen wir auch im digitalen Raum, im Cyberraum. ({11}) Dafür werden wir uns die Verfassung genau anschauen müssen. Dafür werden wir auch über eine Verfassungsänderung nachdenken müssen. Dann kann sich jeder, der sich hier mit Lippenbekenntnissen hervortut, auch tatsächlich dazu bekennen. ({12}) Denn dann geht es darum, wie wir wirklich wehrfähig und wehrhaft werden. Das wäre das Beste. Ich kann sagen: Über die Fragen, die Sie anstoßen, werden wir reden. Dafür brauchen wir keine Kommission all-inclusive im Innenausschuss. Dafür braucht man nicht unbedingt eine Serviceopposition; das kann auch eine Serviceregierungsfraktion. Das sind wir – für die Sicherheit in unserem Land. Herzlichen Dank. ({13})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über das Arbeitsprogramm der EU-Kommission 2019; aber wir bewerten auch politisch die Arbeit der Kommission seit 2014. Das ist aus folgenden Gründen so wichtig: Diese Kommission mit dem Kommissionspräsidenten Juncker ist nur ins Amt gekommen, weil sich im Europäischen Parlament – dort wurde sie nach einer Investitur gewählt – sowohl Christdemokraten, Christsoziale, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne als auch die meisten Linken nach der Wahl an das gehalten haben, was sie vor der Wahl den Wählerinnen und Wählern versprochen haben, nämlich: Der Kommissionspräsident wird aus der Mitte des Europäischen Parlaments von den Abgeordneten gewählt. Er wird also nicht von den Staats- und Regierungschefs oktroyiert. Das ist ein wichtiger demokratischer Fortschritt. Wir im Bundestag sollten stolz darauf sein, dass wir das parlamentarisch und in unseren Parteifamilien an entscheidender Stelle mit vorangebracht, befördert und auch umgesetzt haben. ({0}) Deshalb ist die heutige Diskussion so wichtig. Auf der einen Seite muss der Deutsche Bundestag in der Europapolitik natürlich seine eigene Regierung kontrollieren, unterstützen, manchmal korrigieren, befördern; auf der anderen Seite handeln wir aber auch in solidarischer Zusammenarbeit mit unseren Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament. Das ist gut, da wir beim Miteinanderarbeiten auch voneinander lernen. Das, was wir hier machen, könnte man bei bestimmten Regierungsdiskussionen natürlich auch auf die nationale Ebene übertragen. Könnte! Man sollte aber auf alle Fälle vom Europäischen Parlament und aus der Debatte mit der Kommission lernen, dass auch unsere Ausschüsse hier im Bundestag öffentlich tagen sollten; das ist in Europa der Fall. Man könnte zum Beispiel auch die parlamentarische Informationspflicht – man könnte sagen: Rechenschaftspflicht – einführen, wie sie der Präsident der Europäischen Zentralbank gegenüber dem Europäischen Parlament hat. Das wäre für uns im Bundestag so etwas wie eine Revolution, wenn Herr Weidmann alle Vierteljahre kommen müsste und sich unserer Diskussion hier stellen müsste. ({1}) Ich rege an, dass wir nicht nur über bestimmte Dinge in der Europäischen Union reden, sondern miteinander schauen, wie wir hier demokratisch mit unseren eigenen europapolitischen Strukturen besser vorankommen. ({2}) Das Arbeitsprogramm der Kommission hatte ja eine außergewöhnliche Bandbreite. Wir wissen, dass die Umsetzung nicht nur von dem Willen und den Möglichkeiten des Parlamentes abhängt, sondern auch mit den nationalen Regierungen zu tun hat. Da sehen wir zum Beispiel bei einem der Themen, nämlich beim Thema Migration, dass die Schwierigkeiten an den nationalen Regierungen und auch an einer Reihe von Parteikonstellationen gelegen haben. Wir wissen auch, dass die zehn Punkte, die Jean-Claude Juncker avisiert hat, am Ende dieser Legislaturperiode eben nicht in Gänze umgesetzt worden sind, dass es bei diesen Punkten angesichts ihrer Bandbreite – von Innovationen, Arbeitsplätzen, Gerechtigkeit, Digitalisierung bis hin zur Rolle Europas in der Welt – noch sehr viele Lücken gibt. Aber wir müssen auch deutlich machen, was uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten besonders fehlt, und das ist die soziale Säule. Da ist entschieden zu wenig gemacht worden. Das gilt auch für das Thema Nachhaltigkeit. Vor allen Dingen fehlt es aber an Mut, beim Thema Steuergerechtigkeit voranzugehen. Für das gemeinsame Europa, aber auch für das Empfinden der Bürgerinnen und Bürger ist es so wichtig, dass es hier vorangeht. Da ist Europa ein wichtiger Handlungsrahmen. Deshalb sollten wir hier im Bundestag und sollte auch die Koalition genau da am Ball bleiben. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über die Kommission und unsere Positionierung als Parlament reden, müssen wir natürlich auch über unsere eigenen Grundlagen sprechen. Ich will deshalb an dieser Stelle daran erinnern, dass man im Koalitionsvertrag von SPD, CDU und CSU das Thema Europa auf Platz eins gesetzt hat. Das zeigt, dass wir sowohl erkannt haben, wie wichtig diese Handlungsebene ist, als auch, dass wir uns selbst verpflichtet haben, dort initiativ zu werden, was ja auch heißt, besser zu werden. Das betrifft die großen Kapitel, nämlich Demokratie und Solidarität, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit, Chancen und Gerechtigkeit und natürlich auch die Stärkung des Zusammenhaltes der EU und ihrer Rolle in dieser Welt. Ich halte es deshalb für wichtig, dass wir auch in unserer nationalen Gesetzgebung immer den Blick auf das richten, was europäisch möglich wie notwendig ist. Wir müssen das mit Überzeugung immer wieder tun und auch hier kundtun, dass unser wichtigstes Interesse als Deutsche die europäische Einigung ist und dass es uns nur dann gut gehen kann, wenn es unseren Nachbarn nicht schlecht geht. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe über die letzte Europawahl geredet. Lasst uns jetzt über die nächste Europawahl reden, aber über den 27. Mai, nicht über den 26. Mai. Ich gucke gerade auf den Kollegen Link von der FDP. Es gab – unabhängig voneinander – schon vor über zehn Jahren eine Initiative der beiden Fraktionen der SPD und der FDP, die gesagt haben: Wir wollen nach der Europawahl den Kandidaten oder die Kandidatin für das Amt eines Kommissars, der oder die aus Deutschland dem Europäischen Parlament präsentiert wird, vorher hier im Parlament hören, anhören, mit ihm oder ihr diskutieren. Man muss Richtung CDU/CSU sagen: Ja, der Kollege Oettinger wurde – insbesondere von der SPD – überzeugt, das zu machen. Er hat sich als einer der wenigen Kommissare in der EU dem nationalen Parlament gestellt. Er hat das fünf Jahre später wieder gemacht, sogar in einer öffentlichen Debatte. Ich möchte für meine Fraktion erklären: Genau das werden wir nach dem 27. Mai auch machen. Der Kandidat oder die Kandidatin für das Amt eines Kommissars muss auch hier bei uns Rede und Antwort stehen in vollem Respekt davor, dass die Investitur und auch die Wahl die Aufgabe des Europäischen Parlaments ist. ({5}) So wollen wir es mit der Zusammenarbeit halten. So wollen wir sie auch verbessern. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird aber auch ganz klar darauf ankommen, dass wir in Zusammenarbeit mit der Kommission mit Blick auf die Gestaltungsmöglichkeit des Deutschen Bundestages sagen: Wenn wir auf dieser Seite des Parlaments um Europa streiten – wir um ein möglichst soziales Europa, manche auch eher um ein konservatives, liberales, grüneres oder auch linkeres Europa –, dann streiten wir aber ganz klar für dieses Europa und positionieren uns gegen diejenigen, die dieses Europäische Parlament abschaffen wollen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Harald Weyel für die AfD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Gäste, Zuschauer und Abgeordnete! Wir diskutieren heute ein Arbeitsprogramm. Arbeitsprogramm, das klingt nach Fleiß, das klingt nach Entbehrung, das klingt nach Fortschritt. ({0}) Das klingt aber vor allem auch nach einem konkreten Plan. Und genau das ist das Arbeitsprogramm der EU-Kommission nicht. Es löst keine Probleme, nicht das italienische, nicht die Wirkungslosigkeit des EU-Türkei-Deals ({1}) und nicht die praktische Nichtigkeit des Schengen- und Dublin-Abkommens. Das ist kein Arbeitsprogramm, sondern lobbyinduzierte Versprechungspolitik von Leuten, die sich vielfach der Geschäftsführung ohne Auftrag befleißigen, ({2}) einer Kommission, die neben irreführendem Aktionismus vor allem Eigenwerbungsbroschüren produziert. Da lesen Sie dann – Zitat –: Der digitale Binnenmarkt hat den Europäern bereits einige Vorteile gebracht: die Roaming-Gebühren wurden abgeschafft, die Bürgerinnen und Bürger haben nun Zugang zu Film-, Sport-, Musik-, Videospiel- und E-Book- Abonnements … Und einen anderen Höhepunkt Brüsseler Bürgernähe haben wir letztes Jahr als Sonder-Bonus erfahren: die Inaussichtstellung des etwaigen Endes der Sommerzeit­umstellung, die dann doch jedem Land wieder selbst überlassen bleiben muss. Dies ist übrigens eine höchst unfreiwillige Reminiszenz daran, wie viel Anachronismen, also Fortschritte von Vorgestern, hier mitgeschleppt werden; denn die Zeitumstellung wurde erstmals von Deutschland und Österreich-Ungarn im Frühjahr 1916 eingeführt – und dann auch von den Kriegsgegnern übernommen. ({3}) Nächstes Beispiel. Die Investitionsoffensive – schon wieder militärischer Jargon – für Europa, der sogenannte Juncker-Plan, hat bereits zusätzliche Investitionen in Höhe von 344 Milliarden Euro generiert. Es heißt: Sie hat damit ihr ursprüngliches Ziel übertroffen und wird voraussichtlich 1,4 Millionen Arbeitsplätze schaffen  – Wie tickt jemand, der als Kommissionspräsident einem Investitionsvehikel, das von manchen als „Renditegarantie für Finanzhaie“ bezeichnet wurde, seinen eigenen Namen aufdrückt? Das zeugt von Allmachtfantasien einer freischwebenden Politikerkaste nach dem Motto: Wenn es ernst wird, muss man lügen. ({4}) Das ist in der Geschichte immer schiefgegangen. Dann ist alles naturgemäß noch nicht einmal vernünftig validierbar – Zitat –: Die Angaben zu den tatsächlich angestoßenen Investitionen seien womöglich überhöht, teilt der EU-Rechnungshof am letzten Dienstag mit. Laut Schätzungen sind die zusätzlich mobilisierten Investitionen und der gigantische Hebel darum fraglich. Mit Herrn Juncker unterstützen Sie zudem einen Mann, der 500 Millionen Europäern als Vorbild dienen soll bzw. diese repräsentiert und Frauen auf Staatsempfängen unkontrolliert durch die Haare wuschelt. Zudem wurden die meisten aus dem sogenannten Juncker-Plan finanzierten Investitionen in Griechenland, Estland, Portugal, Spanien, Litauen, Lettland etc. angestoßen. Es ist ein altes Muster, dass Vertreter von Zwergstaaten – zurzeit der Hobbycoiffeur aus Luxemburg bzw. Brüssel – in eine verantwortungsvolle Position gehievt werden und dann von dort aus munter das Steuergeld anderer Leute verteilen. In Deutschland müssen aber viele Anrainer etwa die Straßensanierung selbst bezahlen, trotz aller Rekordsteuereinnahmen des EU-Landes Deutschland! Sehr vieles in der EU ist eben Blendwerk oder Einbahnstraße, eine von klammen Staaten ersonnene Trickserei, um die Geldbörsen anderer Leute anzuzapfen, ({5}) und das mit zunehmender und vielschichtiger Negativdynamik. Dazu sage ich Ihnen eines ganz klar: Wir als AfD wollen Schluss machen mit unbewährtem Tischleindeckdich und all den Anachronismen, die immer wieder neu erfunden werden. Dann bilden endlich wieder die Interessen des eigenen Landes und des eigenen Volkes die Grundlage aller Entscheidungsprozesse. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Gunther Krichbaum für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Professor Weyel, das, was Sie gerade hier vom Stapel gelassen haben, ist die typische demagogische Hetze, die mit dem Einzug Ihrer Partei leider auch Einzug in den Deutschen Bundestag gehalten hat. ({0}) Ich will nicht meine ganze Redezeit damit verschwenden, dem entgegenzutreten. Aber wir müssen uns nur die Terminologie anschauen: Zwergstaaten. Es gibt nur kleine Staaten in Europa und solche, die noch nicht begriffen haben, dass sie klein sind. Dieses Zitat stammt im Übrigen von Jean-Claude Juncker. ({1}) Sie können versuchen, mit Ihrer Hetze Wirkung zu erzielen. Aber allein das geht fehl. Als Beispiel nenne ich die Bilanz der Kommission, zu der gerade Kollege Axel Schäfer ausgeführt hat. Ja, es gab Megathemen wie beispielsweise Migration und Außengrenzenschutz. Aber dass es nicht funktionierte, lag doch nicht an Europa. Wir haben doch nicht Krisen, weil wir ein Zuviel an Europa gehabt hätten. Wir hatten Krisensituationen, weil wir ein Zuwenig an Europa hatten. Genau das muss korrigiert werden. Das liegt nicht an der Europäischen Kommission, sondern daran, dass die nationalen Mitgliedstaaten nicht bereit sind, auf ihre Kompetenzen zu verzichten. So wird ein Schuh daraus. ({2}) Das sieht man besonders gut beim Außengrenzenschutz. Ja, mit Schengen haben wir unsere Außengrenze gewissermaßen an die Außengrenze der Europäischen Union verlegt. Aber es wäre nun auch erforderlich, dass wir die Außengrenzen der Europäischen Union vergemeinschaften, das heißt, unter gemeinsame Verantwortung stellen, damit wir einen effektiven Schutz gewährleisten können. Das ist aber bislang noch nicht der Fall, weil genau die Staaten, die über eine Außengrenze in der Europäischen Union verfügen, dafür Kompetenzen abgeben müssten. Da sind wir dran Wir diskutieren heute über das Arbeitsprogramm, das die Europäische Kommission schon im Oktober 2018 vorgelegt hat. Nur ein Hinweis: Das Europäische Parlament hat noch am selben Tag über dieses Arbeitsprogramm debattiert. Wir tun das nun drei Monate später. Der Bundesrat wird nach uns erst in 14 Tagen darüber diskutieren. Es wäre gut, wenn wir uns als Deutscher Bundestag frühzeitiger diesen Dingen widmeten und damit auseinandersetzten. ({3}) Dieses Arbeitsprogramm weist die Besonderheit auf, dass wir uns mehr oder weniger mit dieser Kommission und dem Europäischen Parlament quasi im Landeanflug befinden; denn Mitte Mai wird das Europäische Parlament gewählt, und die Kommission wird ihre Arbeit einstellen müssen, weil sie danach neu zusammengesetzt wird. Die Bilanz dieser Kommission ist beachtlich. Jean-Claude Juncker hatte mit dem Projekt Erfolg, diese Kommission a) politischer werden zu lassen und b) ihr zum ersten Mal eine echte Struktur zu geben. Zuvor gab es 28 Kommissare mit 28 verschiedenen Dossiers. Kam ein neues Mitgliedsland hinzu, wussten wir eigentlich gar nicht, welches Dossier wir dem Kommissar geben sollten, den das betreffende Land berechtigterweise stellte. Die Struktur aus einem ersten Vizepräsidenten, weiteren Vizepräsidenten und den Kommissaren hat sich bewährt und sollte auch in der nächsten Legislaturperiode Platz greifen. Auch rein inhaltlich hat diese Kommission sehr viel bewirken können. Ich darf darauf hinweisen, dass am heutigen Tag, am 1. Februar, das JEFTA-Abkommen in Kraft tritt, ein Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Japan, quasi Prȇt-à-porter. 650 Millionen Verbraucher bilden nun gewissermaßen einen einheitlichen Markt und stellen damit eine glaubwürdige Antwort auf den Protektionismus dar, mit dem man in anderen Ecken der Welt versucht zu antworten. Nein, freier Handel hat Europa immer gutgetan, hat für uns Arbeitsplätze und Wohlstand geschaffen. Genau an diesem Punkt müssen wir weitermachen. Mit Blick nach vorne glaube ich, dass große Herausforderungen auf die Kommission warten. Zuallererst geht es um die Abwicklung des Brexit. Dieses Thema wurde viel zu sehr zu einer Nabelschau und hat über lange Zeit viele Ressourcen bei uns gebunden. Das soll noch als Fußnote in der verbleibenden Redezeit gesagt werden, um Schieflagen in der Diskussion zu beseitigen: Das Austrittsabkommen, das nun auf dem Tisch liegt, wird nicht erneut aufgeschnürt. Nachverhandlungen sind ausgeschlossen; denn dieses Austrittsabkommen stellt bereits einen Kompromiss dar. Auch von unserer Seite wurden enorme Zugeständnisse gemacht; Frau Kollegin Brantner weiß, wovon ich rede. Das heißt, wir müssen selbstbewusst auftreten und sagen: Hier gibt es keinen neuen Deal. Großbritannien muss schauen, welchen Vorschlag es präsentiert, damit die Wirkungen eines harten Brexit vermieden werden. Das liegt im Interesse der Bürger nicht nur in Deutschland und in Großbritannien, sondern in ganz Europa. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun Michael Link das Wort. ({0})

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da die Kommission kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit steht, ist klar, dass vieles – Stichwort: Arbeitsprogramm der Kommission – nur deklaratorisch ist. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Blick eher auf das Grundsätzliche lenken. Es ist eine gute Gelegenheit vor der Wahl einer neuen Kommission und vor allem der Wahl eines neuen Europäischen Parlaments, einige grundsätzlichere Überlegungen zum Beispiel zur Struktur der Kommission und zur Struktur des Haushalts, aber auch zur Kompetenzverteilung anzustellen. Struktur der Kommission. Gunther Krichbaum hat gerade erklärt, die Struktur habe sich bewährt. Hier muss ich in aller Kollegialität klar widersprechen. Der EU-Vertrag sieht – dafür haben die damals Beteiligten hart gekämpft – eine Verkleinerung der Kommission vor. Ist das nicht mehr unsere Meinung? Das steht aber im Vertrag. Seit dem 1. November 2014 hätte das auch so sein müssen, wenn nicht einige wenige Staaten dem widersprochen hätten. Wir als Freie Demokraten erwarten, dass man hier noch einmal rangeht. Eine Kommission mit 28 Kommissaren – wie auch immer strukturiert – ist zu groß, zu kompliziert und zu schwerfällig. ({0}) Deshalb wäre es richtig und hilfreich, an die betreffende Passage des Vertrages zu erinnern, die wir aus guten Gründen aufgenommen haben. Wir brauchen eine effizientere Kommission. Es stimmt, dass der amtierende Kommissionspräsident dafür einiges getan hat. Aber es reicht uns noch nicht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Link, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Krichbaum?

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Kollege Link, ich weiß natürlich nicht nur um den Vorschlag der FDP, die Kommission zu verkleinern, sondern auch, dass es so tatsächlich im Vertrag von Lissabon steht. Aber: Hat man sich in der FDP einmal damit auseinandergesetzt, dass wir Irland bei dem damaligen Referendum in die Hand versprochen hatten, dass dieses Land seinen Kommissar wird behalten können? Es klingt zwar vordergründig gut, die Kommission zu verkleinern, und häufig wird mit Einsparungen argumentiert. Aber wir müssen auch wissen, dass der Kommissar gerade für vermeintlich kleinere Mitgliedstaaten eine enorme Bindungskraft zwischen Brüssel und den jeweiligen Hauptstädten – um nicht zu sagen: dem jeweiligen Land – hat. Das wird von unserer Seite oft unterschätzt, zumal wir in Deutschland aufgrund unserer geografischen Lage verwöhnt sind. Wir befinden uns mitten in Europa und relativ nah an Brüssel, aber es gibt Länder, die geografisch ganz woanders liegen, für die Brüssel weit weg ist. Da fungiert ein Kommissar gewissermaßen auch als Botschafter eines Landes. Ich glaube, genau diese Dinge darf man nicht unterschätzen, auch wenn ich weiß, dass ein solcher Vorschlag zur Verkleinerung der Kommission innerhalb der Bundesregierung auf große Gegenliebe stößt. ({0})

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Krichbaum, natürlich würden sich sehr viele Mitgliedstaaten wünschen, einen nationalen Kommissar zu entsenden. Nur: Es ist zum Glück nicht so, dass der Kommissar das Eigentum eines Staates ist oder dass er der offizielle Vertreter ist. Es ist gut, dass das nicht so ist. Wir wollen eigentlich dahin kommen, dass die Kommission nicht mehr aus rein nationalen Vertretern, die sich nur ihrer nationalen Herkunft verpflichtet fühlen, zusammengesetzt ist, sondern dass die Kommissare das gesamte Europa vertreten. ({0}) Das ist für uns ein entscheidender Punkt. Wir treten auch weiterhin für die Verkleinerung der Kommission ein – nicht, weil wir sparen wollen, sondern weil wir es für wesentlich effizienter halten – danke für die Frage –, in diesem Zusammenhang über bessere Rechtsetzung zu reden. Mehr Kommissare heißt auch: mehr Kommissare, die im eigenen Bereich Richtlinien erlassen wollen. Das führt, offen gesagt, zu mancher Richtlinie, die vielleicht besser dort geblieben wäre, wo sie herkommt, nämlich im Ideenpool eines Kommissars. Je mehr Portfolios Sie haben, desto mehr wird der Wunsch wachsen, auch im eigenen Bereich Recht zu setzen. Und das führt uns wieder zu den vielen Problemen, bei denen wir dann – Stichwort „Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit“ – Überregulierung haben. Also: Weniger ist mehr. Das ist für uns ein ganz wichtiges Prinzip. Deshalb bleiben wir bei unserer Forderung, dass diese Passage des Lissabonner Vertrags umgesetzt wird. ({1}) Die Kommission wäre gut beraten, dieses Thema anzugehen. Es wäre schön, wenn die Bundesregierung nach der Wahl die Initiative ergreifen könnte, noch mal darüber zu reden. Ich weiß, das ist schwierig, aber Sie kriegen so etwas, wenn überhaupt jemals, nur nach einer Wahl und in der Phase einer neuen Kommissionsbildung durch, ansonsten ist die Chance für fünf Jahre wieder vorbei. Es ist schwierig; das wissen wir, völlig klar. Aber es wäre jetzt eine wichtige Gelegenheit. Es wäre auch eine Gelegenheit, das Thema „gemeinsames Verständnis von Rechtsetzung“ anzugehen. Der sehr spannende Bericht der Taskforce für Subsidiarität, die Kommissar Timmermans und Kommissionpräsident Juncker eingesetzt hatten, ist leider viel zu wenig gelesen worden. Er beinhaltet spannende Ausführungen über die Frage, wie das, was auch im Vertrag drinsteht – nämlich Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit –, eigentlich gelebt werden soll. Uns fehlt – auch darauf ist hingewiesen worden – ein gemeinsames Verständnis von Subsidiarität. Wenn Sie so wollen: Es fehlt uns auch ein gemeinsames Prüfraster für die juristischen Feinheiten und die Anwendung. Das ist ein Punkt, den wir angehen müssen, auch als Bundestag. Es wäre wichtig, wenn wir die Anregungen, die aus Politik und Wissenschaft kommen, aufgreifen und den Versuch unternehmen würden, uns als Bundestag zum Beispiel zu einem Prüfraster für Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zu positionieren. Das erleichtert uns, ein gemeinsames Verständnis für diesen wichtigen Punkt zu finden. Denn wir wollen ja gerade nicht, glaube ich, dass wir in den Bereichen, in denen die Kompetenzen auf der Ebene der Mitgliedstaaten besser aufgehoben sind, eine Überregulierung haben. Gleichzeitig wollen wir aber eine bessere Regulierung. Es geht bei Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit nicht um Kompetenzen, es geht vielmehr um bessere Rechtsetzung. Lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen: Das große inhaltliche Thema dieses Jahres wird trotz der Wahlen – Sie werden das wahrscheinlich rund um den Gipfel von Hermannstadt noch mal sehr deutlich sehen – die Debatte über den EU-Haushalt sein. Ich glaube, dass die Bundesregierung vorsichtig sein sollte, hier zu früh zu viel Geld zu versprechen. Niemand ist dagegen, dass wir die EU besser und stärker finanzieren. Niemand ist dagegen, insbesondere weil wir in vielen Bereichen neue Aufgaben für die EU haben, gerade im Bereich des Schutzes der Außengrenzen, der Außen- und Sicherheitspolitik, im Bereich der Forschung, der künstlichen Intelligenz, HORIZON usw. usf. Wir wollen dafür mehr tun, aber dann müssen wir vorher eine vernünftige Ausgabenkritik durchführen. Es lohnt sich, mal genau in den letzten Bericht des Europäischen Rechnungshofes reinzuschauen. Dort werden detailliert die Fehlausgaben und extremen Probleme im Bereich der Strukturfonds, im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik aufgeführt. Gleichzeitig wird die Tatsache sichtbar, dass wir zu wenig Geld haben für die anderen Bereiche, die ich erwähnt habe, wie zum Beispiel internationales Handeln. Hier müssen wir ran. Wir können das Thema nicht angehen, indem wir einfach sofort neues Geld bereitstellen, sondern wir brauchen eine solide Ausgabenkritik. Dann können wir im EU-Haushalt für diese neuen Aufgaben Spielräume schaffen. Vielen herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Thomas Nord für die Fraktion Die Linke. ({0})

Thomas Nord (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004122, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für 2019. Sie unterrichtet uns darüber, welche Prioritäten sie noch vor der Europawahl umsetzen will. Dies gilt für den Beschluss des mehrjährigen Finanzrahmens bis 2027, für den Ausbau des ESM zur Krisenbewältigung und das Europäische Semester. Das Wachstum in der Europäischen Union erreicht demnach den höchsten Wert seit zehn Jahren, und die Beschäftigungszahlen sind wieder auf Vorkrisenniveau. „Alles ist oder wird gut“ ist der Subtext. Gar nicht gut liest sich aber der Absatz zur Migrationspolitik. Angesichts der Todesdramen auf dem Mittelmeer ist die Aussage – Zitat – „Auf der zentralen Mittelmeerroute war ein erheblicher Rückgang“ der Migration „zu verzeichnen“ ein blanker Zynismus. ({0}) Auch an anderen Stellen kollidiert der Text der Kommission mit der sozialen und politischen Realität in den Mitgliedstaaten. Diese Realität ist jedoch entscheidend für den Zusammenhalt der Europäischen Union. Es stimmt: Die allgemeine Arbeitslosigkeit in der EU liegt im Durchschnitt bei unter 7 Prozent. Allerdings liegt die Jugendarbeitslosigkeit in der EU bei 15 Prozent, in Griechenland bei 40 Prozent, in Spanien und Italien bei 30 Prozent, in Frankreich bei über 20 Prozent, in Deutschland bei nur 6 Prozent. 2008 lag sie in Griechenland, Italien und Spanien bei knapp über 20 Prozent. Das heißt: Sie ist in diesen Ländern massiv gestiegen. Nur in Deutschland, Polen und Ungarn ist sie aus sehr unterschiedlichen Gründen signifikant gesunken. Diese Zahlen zeigen entgegengesetzte Entwicklungen zwischen den Mitgliedstaaten. Das ist auch ein Grund für massive Stimmungsunterschiede in diesen Staaten. Die Folgen der Finanzkrise mögen auf dem technischen Level bearbeitet sein, die Währungsunion durch die Niedrigzinspolitik der EZB stabilisiert, die Haushalte der Euro-Mitgliedstaaten entlastet. Auch die Bankenunion ist weit vorangetrieben. Aber: In dem Text fehlt unter anderem jede Thematisierung der Vertragsverletzungen wegen makroökonomischer Ungleichgewichte, zum Beispiel durch uns, durch Deutschland. Auch diese sind ein wesentlicher Grund für das politische Auseinanderdriften innerhalb der Union, für unterschiedliche Stimmungen in den Mitgliedstaaten. Bei den Vorschlägen zur Steuerpolitik fehlt die Bekämpfung der wachsenden Verteilungsungleichheit in Europa und in den Mitgliedstaaten. In vielen Ländern der Union sind Bürgerinnen und Bürger Verlierer dieser Entwicklung. Daraus resultiert der Unmut, dass die EU viel unternommen hat, um Währung und Banken zu retten, aber wenig für sozialen Frieden und Zusammenhalt getan hat. ({1}) Die jüngsten Proteste in Frankreich sind nur ein Beispiel dafür, die aktuellen Wahlergebnisse für Konservative und Sozialdemokraten in vielen Mitgliedstaaten ein anderes. Das gilt auch für Deutschland. Bedauerlicherweise flüchten sich viele Wählerinnen und Wähler in die Illusion, dass ein abgeschotteter Nationalstaat eine Lösung dieser Probleme brächte. Die Zahl nationalistischer Abgeordneter kann sich nach Prognosen in der Europawahl 2019 verdoppeln. Die politischen Kräfteverhältnisse im Parlament werden sich stark verändern und in die Neubildung der europäischen Institutionen einfließen. Die jetzige Kommission hat vor fünf Jahren ihre Arbeit aufgenommen. Ihre Mitglieder wurden von den damaligen Regierungen vorgeschlagen. Seitdem haben alle Mitgliedstaaten neu gewählt. Wo Regierungen bestätigt wurden, haben sie oft starke Veränderungen ihrer Programmatik vorgenommen; in vielen Ländern haben Regierungen vollständig gewechselt oder sich in ihrer Zusammensetzung stark verändert. Die Veränderungen bedeuten in der Konsequenz: Die jetzigen Kommissare haben am Ende ihrer Amtszeit nur noch geringe Unterstützung in ihren Herkunftsländern, im Rat und im zukünftigen EU-Parlament. Auch das zeigt, warum das Arbeitsprogramm 2019 aus meiner Sicht ein zweckoptimistischer Text ist, der wiederholt auf den EU-Gipfel in Sibiu zwei Wochen vor der Wahl im Mai verweist. Das aber ist kein Treffen der Kommission unter der Leitung von Jean-Claude Juncker, sondern eines der Staats- und Regierungschefs. Ratspräsident Tusk trifft auf Sebastian Kurz, der mit der rechtsextremen FPÖ koaliert. Er trifft auf Giuseppe Conte, der ein Platzhalter für die rassistische Politik von Matteo Salvini ist. Er trifft Mateusz Morawiecki, ({2}) Mitglied der rechtspopulistischen PiS, und auf Herrn Orban, den „kleinen Diktator“ – wie Herr Juncker sagt – und Freund der CSU, die künftig den Kommissionspräsidenten stellen will. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Regierungen haben das Recht, die Kommissare vorzuschlagen, die vom neuen EU-Parlament bestätigt werden müssen. Zusammen macht das wenig Hoffnung, dass wirklich alles gut wird. Und damit das klar ist: Darüber kann man nicht erfreut sein. Ein Europa der Vaterländer und eine Rückkehr ins 19. und 20. Jahrhundert ist eben keine Lösung der Probleme, auch wenn das hier einige glauben. ({4}) Die EU braucht heute eine sozial gerechte, ökologische, friedliche, nachhaltige Politik, sowohl in den Mitgliedstaaten als auch in Gänze. Nur dann wird sie eine Zukunft haben. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Franziska Brantner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es sind noch 114 Tage bis zur Europawahl, also nicht mehr viel Zeit, um laufende Verhandlungen auf EU-Ebene abzuschließen. Deshalb ist es auch richtig, dass die EU-Kommission evaluiert hat, was sie prioritär noch fertig machen möchte und was sie noch neu auf den Weg bringen will. Es ist zum Beispiel grundsätzlich gut, dass die Kommission die Debatte um Mehrheitsentscheidungen in der Steuerfrage vorangebracht hat. Wenn wir es nicht schaffen, die kreative Steuergestaltung endlich zu unterbinden, bei der sich einige aus dem Gemeinwohl verabschieden und Steuern in Höhe von Milliardenbeträgen uns allen hier de facto rauben, dann haben wir in Europa ein großes Problem für die Zukunft, dann fehlt die Finanzierung der Daseinsvorsorge vor Ort, der Schulen, der Hallenbäder. Darauf kommt es jetzt an: dass wir gemeinsam die Steuerfrage angehen. ({0}) Aber die Kommission hat dafür leider den falschen Weg gewählt. Sie hat vorgeschlagen, dass einstimmig beschlossen werden muss, dass in Zukunft mit Mehrheit beschlossen wird. Das ist absurd, das wird nicht funktionieren. Es gibt eine andere Rechtsgrundlage, die sie hätte nutzen können, nämlich Artikel 116; er führt zum gleichen Ergebnis, aber ohne Einstimmigkeit. Liebe Kommission: Das war Augenwischerei, da fehlte eindeutig der Mut. ({1}) In ihrem Arbeitsprogramm hat die Kommission die prioritären Vorhaben aufgelistet, bei denen es momentan hapert. Wenn man sich die Punkte anschaut, dann weiß man, dass es etwas mit dieser Bundesregierung zu tun hat, warum es hier hapert. Herr Schäfer, Sie haben vorhin die Steuerfrage angesprochen – das ist absolut richtig –, aber wenn man sich die Digitalsteuer, Mehrwertsteuer, Körperschaftsteuer anschaut, dann fragt man sich: Wer bremst denn da? Das ist doch die Bundesregierung, das ist doch Herr Scholz, der die Digitalsteuer kleingehäckselt hat, sodass am Ende davon nichts mehr übrig war. Das ist tragisch, es ist wirklich schade, dass Deutschland hier auf der Bremse stand. ({2}) Das Gleiche gilt für den Umweltbereich, Klimabereich, die CO 2 -Grenzwerte, für Lkw, Green Finance, alles, was es da gibt. Wir wissen, da ist Deutschland weder Motor noch Antreiber und steht nicht hinter der Kommission, sondern auf der Bremse. Das gilt es jetzt endlich aufzuheben. Sie müssen da in Bewegung kommen und die Kommission unterstützen. ({3}) Immer die gleiche Masche: sonntags schön über Europa reden und montags weiter blockieren. Das muss jetzt endlich ein Ende haben, sonst geht dieses Projekt Europa wirklich vor die Hunde. Bei der anstehenden Europawahl – das wurde erwähnt – geht es um viel; nach der Wahl werden die Kommissare bestimmt. Ich freue mich schon darauf, wenn die FDP mit in der Regierung ist und Deutschland dann auf den Kommissar verzichtet. Das, Herr Link, ist die Konsequenz Ihrer Forderung nach weniger Kommissaren. Das werden wir dann sehen. Ich kann sagen: Es geht hier um sehr viel, und wir werden mit dafür kämpfen, dass es keinen Kommissionspräsidenten von Orbans Gnaden gibt. Das ist eine der Entscheidungen, die bei der Europawahl anstehen. Wir sind ganz klar für ein liberales, proeuropäisches Europa und für einen Kommissionschef, der auch dafür steht, und das garantiert. Ich danke Ihnen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion spricht nun Christian Petry. ({0})

Christian Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004605, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 25 Jahre Binnenmarkt, und die Bilanz der Europäischen Union fällt durchweg positiv aus. Axel Schäfer ist einer derjenigen, der von 1994 bis 1999 quasi den Startschuss des Binnenmarktes im Europäischen Parlament begleiten konnte. Er kann viel besser berichten, dass das alles nicht ganz einfach und selbstverständlich war, was wir heute als einfach und selbstverständlich empfinden. Dass Europa zusammengewachsen ist, hat Deutschland sehr nach vorne gebracht. Wir sind volkswirtschaftlich gesehen die Nettogewinner der Europäischen Union. ({0}) – Nicht auf Kosten von anderen, Andrej Hunko. – Insgesamt hat die Europäische Union in den 25 Jahren einen deutlichen Freiheits-, Wohlstands- und Sicherheitsbonus für die Menschen in diesem Europa gebracht. Darauf können und müssen wir stolz sein. ({1}) Franziska Brantner hat eine Öko-FDP-Rede gehalten; das fand ich ganz interessant, das scheint eine Neuorientierung zu sein, oder vielleicht ist es nur so rübergekommen. Ich glaube, man muss erwähnen, dass Olaf Scholz in seiner Amtszeit im Bankensektor in Europa mehr in Bewegung gebracht hat als Herr Schäuble, sein Vorgänger, in fünf Jahren. ({2}) Auch das ist ein Erfolg, der hier einmal genannt werden muss. Ich freue mich, dass wir in den Zielen der Kommission klargelegt haben, wie die Position Europas ist: dass wir auf dem Weg ins digitale Zeitalter eine starke Europäische Union brauchen, auch im Bereich Umweltschutz und CO 2 -Reduzierung. Das geht nicht mehr allein auf nationaler Ebene. Ich freue mich, dass die soziale Säule stärker in den Mittelpunkt rücken soll. Dazu hat Frans Timmermans deutliche Aussagen gemacht. Er sagt, er will dies bei der Europawahl in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung stellen. Ich glaube, das ist genau richtig; denn da besteht in der Tat deutlicher Nachholbedarf. Die Freiheiten, die wir in Europa haben – mindestens drei davon – konzentrieren sich zunächst einmal auf den wirtschaftlichen Bereich. Die Stärkung der sozialen Säule – das hat Frans Timmermans angekündigt – ist ein Ziel, dem wir uns gerne anschließen. Der Kommissionsbericht gibt es auch her, sie zu stärken, und dafür lohnt es sich zu kämpfen. ({3}) Axel Schäfer hat darauf hingewiesen: Dafür ist viel Geld notwendig. Wir haben schon oft darüber diskutiert, welches Anforderungsprofil – Gunther Krichbaum hat es genannt – die Europäische Union erfüllen muss. Deswegen müssen wir uns über eine ausreichende Finanzierung der Europäischen Union unterhalten. Wir müssen selbstverständlich auch schauen, was schiefgelaufen ist und wo man Veränderungen im System vornehmen kann. Ich glaube, wir werden am Ende nicht umhinkommen, tatsächlich zu sagen – wie wir es im Koalitionsvertrag vereinbart haben –, dass wir zu einem höheren Beitrag bereit sind. ({4}) Die Frage ist nur: An welcher Stelle und wie? Da kommen wir sehr schnell zur Debatte über die Eigenmittel; das wurde genannt. Wenn man aus den nationalen Haushalten die Beiträge nicht unendlich erhöhen kann, müssen wir uns fragen, ob die Eigenmittelausstattung der Europäischen Union angemessen ist oder ob es da Spielräume gibt. Da sind wir sehr schnell bei der Steuerdebatte und zum Beispiel der Frage: Kann ein nationales Steuerrecht internationale Konzerne bändigen, oder ist auch hier ein internationaler Ansatz vonnöten und damit auch die Kompetenz der Europäischen Union gefragt? Auch diese Frage möchte ich in den Raum stellen. Die technischen Dinge sind alle schon in der Diskussion: die Plastiksteuer, die Digitalsteuer oder die Vereinheitlichung der Basis bei der Körperschaftsteuer. All diese Dinge sind europäisch besser lösbar. Das ist einer der politischen Ansätze für die Zukunft, über den wir uns in den nationalen Parlamenten, hier im Deutschen Bundestag, gerne im Diskurs miteinander auseinandersetzen werden, um einen tragbaren Vorschlag für die Ausfinanzierung der wirklich notwendigen zusätzlichen Aufgaben der Europäischen Union zu erreichen. ({5}) Die Arbeitsstandards werden im Kommissionsbericht genannt. Der Verbraucherschutz – ein ganz wichtiger Aspekt – wird genannt. Er ist europäisch durchsetzbar. Auch die Verbandsklage wird als Ziel genannt. Bei der Vertiefung der Währungsunion ist ein weiterer Schritt beim letzten Treffen des Ecofin gemacht worden. Dennoch muss hier noch weitergearbeitet werden. Ziel ist auch eine faire Handelspolitik. Gunther Krichbaum hat ein Abkommen genannt. Die Europäische Union schließt Handelsabkommen und legt Wert auf faire Handelsabkommen. Auch zum Dialog mit Afrika und dem Aufbau in Afrika liegt ein ganz still und leise beschlossener Kommissionsbeschluss vor, der besagt, dass die Volkswirtschaften Afrikas bis 2063 aufgebaut werden sollen. Auch das ist eine Superaufgabe der Europäischen Union, die wir unterstützen müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Das Rechtsstaatsprinzip soll gestärkt werden. Auch in der Migrationspolitik – das ist genannt worden – muss weitergearbeitet werden. Ich möchte zum Ausdruck bringen, dass wir hier auf einem wirklich guten Weg sind und die Bilanz besser ist, als sie bisweilen öffentlich diskutiert wird. Wir müssen das positiv begleiten. Ich glaube, wir brauchen keine Parteien und Menschen, die im Europawahlkampf den Blick zurück, ins letzte Jahrtausend, werfen und in alte Zeiten wollen, die wesentlich schlechter waren, die Krieg und Leid gebracht haben. Wir brauchen aufrechte Europäerinnen und Europäer, die nach vorne schauen und Europa auf einen wirklich guten Weg in das digitale Zeitalter bringen werden, in dem mehr Wohlstand, Sicherheit und die Stärkung der sozialen Rechte für unsere Bevölkerung im Mittelpunkt stehen werden. In diesem Sinne freuen wir uns auf eine spannende Zeit im Europawahlkampf. Dafür sind wir bereit. Glück auf! ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Martin Hebner für die AfD-Fraktion. ({0})

Martin Hebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004740, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Mitteilung des Arbeitsprogramms der EU-Kommission für 2019 besteht aus 14 Seiten Prosa. Das ist ein – man könnte fast sagen – Besinnungsaufsatz mit wenig Zahlen, aber mit dem Titel „Versprechen einlösen und unsere Zukunft gestalten“. ({0}) Meine Damen und Herren, wenn man den Titel „Versprechen einlösen“ hört, dann sollte man sich und insbesondere die Regierungskoalition fragen: Was haben die EU-Kommissare für die letzten Jahre versprochen? Wenn man wie ich aus der Wirtschaft kommt, dann fragt man natürlich grundsätzlich nach einem Soll-Ist-Vergleich. Was ist in diesem Falle bisher versprochen worden, und was wurde umgesetzt? Herr Schäfer hat gesagt – ich zitiere wörtlich –: Es hat noch sehr viele Lücken. Machen wir einfach einen Vergleich und sehen uns an, was von der EU-Kommission im letzten Jahr von den zehn politischen Prioritäten der Juncker-Kommission umgesetzt worden ist. Darunter findet sich unter anderem der Punkt „mehr Wachstum“. Das Wachstum im Euro-Raum fiel jedoch von 2,8 Prozent Mitte 2017 auf 1,8 Prozent Ende 2018. Die Arbeitslosigkeit wurde hier schon thematisiert. Gerade in den Mittelmeerländern stehen wir vor einem Fiasko. Dort ist die Jugendarbeitslosigkeit hoch. Die junge Generation wird bereits als verlorene Generation bezeichnet. Eine Vertiefung des Binnenmarkts wurde in diesem Fall als Ziel ausgegeben. Doch der Brexit hat eine genau konträre Wirkung; mit dem Brexit verlässt das Land, das die gleiche Wirtschaftskraft hat wie die zwölf zuletzt aufgenommenen Länder, die EU. Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag zeigt, dass wir einem Zerfall der EU in eine EU der verschiedenen Geschwindigkeiten gegenüberstehen. Das ist ganz klar ein Signal insbesondere an die osteuropäischen Länder, dass die EU sukzessive aus Mitgliedern erster und zweiter Klasse bestehen wird. Das hat also eine komplett konträre Wirkung. Auf die technischen Herausforderungen der Digitalisierung hat die EU keinerlei Antworten. Bei dem Thema „künstliche Intelligenz“, bei dem die Cluster international angesiedelt sind, ist die EU komplett außen vor. Dafür bekommen wir aber von der EU ein tolles Machwerk, das sich Datenschutz-Grundverordnung nennt und ein Bürokratiemonster ist. Auch die aktuelle Diskussion über Upload-Filter, die von der EU-Kommission mit initiiert worden sind, zeigt, dass diese schlicht und ergreifend eine Einschränkung der Freiheit, sich im Netz zu informieren, für die Bürger zur Folge haben. ({1}) Kommen wir zum Thema PISA. Insbesondere in der Mathematik zeigt sich im EU-weiten Vergleich, dass der Leistungsstand erschreckend niedrig ist. Hier fehlt es ganz klar an Anreizen. Schauen wir uns auch einmal an, wer in die EU eintreten will. Starke Länder wie die Schweiz oder Norwegen werden darauf verzichten; aber Länder wie Montenegro, Mazedonien oder Albanien stehen vor der Tür. Das zeigt doch ganz klar, was hier die Anziehungskraft ist: eine Querfinanzierung. ({2}) Auch die neuen Pläne für eine große Arbeitsbehörde in der EU bedeuten nichts anderes, als dass auch hier wieder eine Transferleistung von Deutschland an andere EU-Länder erfolgen wird. ({3}) Meine Damen und Herren, wir müssen uns doch fragen: Wenn immer mehr Aufgaben und Kompetenzen in die EU verlagert werden, dann – das ist in der Wirtschaft auch so – baut man diese an anderer Stelle ab. Wenn die EU-Kommissare weitere Kompetenzen bekommen, frage ich mich: Wozu wird Ihre Anwesenheit dann überhaupt noch benötigt? Schauen Sie doch mal in den Spiegel! Wozu braucht man Sie denn noch, wenn die Kompetenz an die EU geht? ({4}) Wozu braucht man diese große Zahl an Abgeordneten noch? Überlegen Sie sich doch einmal, wohin die Entwicklung in den nächsten Jahren gehen wird! ({5}) Wir werden im Endeffekt hier immer mehr Abgeordnete haben, die eigentlich keine Aufgaben haben und nur darauf verweisen, dass die EU alles regelt. Meine Damen und Herren, das ist keine sinnvolle Entwicklung und mit der AfD nicht machbar. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Florian Hahn das Wort. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für das Jahr 2019 fällt ja, betrachtet man den Umfang, ein bisschen dürftig aus. Das ist keine Kritik an der Kommission; denn das ist dem Umstand geschuldet, dass mit Blick auf die Europawahl am 26. Mai dieses Jahres nach Ostern die Räder in Brüssel erst einmal mehr oder weniger stillstehen. Das wichtigste Vorhaben in 2019 kommt aber meiner Meinung nach trotzdem zu kurz, das ist nämlich die Vorbereitung auf den Brexit. Manchmal kann man es schon nicht mehr hören. Über den Brexit wird in den Medien rauf und runter diskutiert. Im Deutschlandfunk war diese Woche zu hören, dass sich bereits zahlreiche Hörer beschwert hätten, weil sie die andauernden Diskussionen über den Brexit nicht mehr hören wollen. Ich verstehe das. Der Brexit ist aber zurzeit das beherrschende Thema. Er bindet nicht nur enorm viel Aufmerksamkeit, sondern auch ungeheure Arbeitskraft auf allen politischen Ebenen. Es hilft aber alles nichts. Wenn wir keinen geordneten Austritt schaffen, dann wird es für die Bürgerinnen und Bürger und für die Wirtschaft schwierig und teuer. Tom Enders, der CEO von Airbus, hat in der letzten Woche mit Blick auf die Folgen vor allem für das Vereinigte Königreich gesagt, der Brexit drohe ein Jahrhundert der Entwicklung auf der Grundlage von Bildung, Forschung und Humankapital zu zerstören. Deswegen kann ich an unsere Freunde auf der Insel, an die Briten, nur appellieren, endlich einen vernünftigen Lösungsvorschlag zu liefern. Die Zeit ist sehr knapp, aber die EU der 27 wird sich davon nicht unter Druck setzen lassen. Das sei auch gesagt. Für uns ist klar, dass wir weder unseren EU-Binnenmarkt schwächen noch die irische Insel im Stich lassen werden. ({1}) Das Karfreitagsabkommen darf nicht gefährdet werden. Das aktuelle Arbeitsprogramm ist das fünfte Programm der Juncker-Kommission. Es enthält nur 15 Initiativen. Unter den zu prüfenden Richtlinien findet sich auch die Wasserrahmenrichtlinie. Da kommen bei einigen vielleicht ein paar Erinnerungen an Diskussionen hoch. Ich habe das noch gut im Ohr, wie wir hier im Bundestag darüber diskutiert haben. Ich erinnere mich an die Verhetzungen, als man vor Jahren bei der Beratung dieser Richtlinie eine Privatisierung der Wasserversorgung in Deutschland unterstellt und horrende Preise und furchtbare Folgen prognostiziert hat. An dieser Stelle kann man nur sagen: Alles nicht eingetreten. Auch bei TTIP und CETA gab es ähnliche Kampagnen. Auch hier – das muss ich leider sagen – haben die Grünen und die Linken mit der Angst der Menschen gespielt, um diese Handelsabkommen zu verhindern. Das ist bei TTIP dann leider gelungen, beim Abkommen mit Kanada, CETA, Gott sei Dank nicht. Und siehe da, nach einem Jahr CETA hört man keinerlei Beschwerden. Deswegen ist es auch gut, dass es heute im Übrigen einen Startschuss für ein Freihandelsabkommen mit Japan geben wird. Zurück zu dem Arbeitsprogramm. Getreu dem ausgerufenen Motto der Juncker-Kommission „Weniger ist mehr“, wurde die Anzahl der Gesetzesvorhaben und -initiativen deutlich reduziert. Ich bin zuversichtlich, dass die neue Kommission diesen Kurs fortsetzen wird. Als Redner der CSU bin ich natürlich auch sehr stolz, dass wir mit Manfred Weber einen ausgezeichneten und aussichtsreichen Kandidaten für das Amt des neuen Kommissionspräsidenten ins Rennen geschickt haben. ({2}) Er hat bereits angekündigt, dass er sich noch stärker auf die großen und wichtigen Themen konzentrieren möchte und Regulierungen nur dort vornehmen wird, wo es wirklich notwendig ist. Das ist wichtig für die Bürgerinnen und Bürger; denn sie dürfen nicht den Eindruck haben, dass Europa nur lästig und regulierungswütig ist. Wir müssen das Gute, das Europa uns gebracht hat und bringt, noch viel mehr in den Vordergrund rücken und kommunizieren. Bis auf die AfD, die Europa bekanntlich den Rücken kehren will, sind wir hier alle gefordert. Lassen Sie uns deshalb im Wahlkampf den Kampfanzug für Europa anziehen gegen die Populisten, gegen die, die immer nur sagen, was alles vermeintlich nicht funktioniert, gegen die, die Spaß an der Zerstörung Europas haben und nicht an der Gestaltung Europas, so wie wir. ({3}) Denn neben den größten Errungenschaften wie Frieden und Wohlstand, die leider viel zu oft als selbstverständlich hingenommen werden, sind es die ganz konkreten Dinge wie die europäische Freizügigkeit oder die Einführung einer einheitlichen Währung, die wir uns ins Gedächtnis rufen müssen. Wenn man einer Umfrage folgt, dann sind allein 75 Prozent der Bürger der Euro-Zone von dieser Währung positiv überzeugt. Meine Damen und Herren, diesen Trend müssen wir mit guter Europa-Politik verstärken. In diesem Sinne, herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Gerald Ullrich für die FDP-Fraktion. ({0})

Gerald Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004923, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Im Eurobarometer vom November 2018 haben die EU-Bürger angegeben, was sie derzeit für die wichtigsten Probleme der EU halten. An diesen Problemen müssen sich sowohl die jetzige Kommission wie auch die zukünftige Kommission messen lassen. Auf Platz eins – wen wundert es? –: 40 Prozent der EU-Bürger halten die Migration für das größte Problem, dem die EU gegenübersteht. Die EU-Kommission hat deshalb vorgeschlagen, die für Frontex-Einsätze abgeordneten nationalen Grenzschützer bis 2020 auf 10 000 zu erhöhen. Und was macht unser Minister Seehofer? Er erklärt, die Erhöhung sei nur bis 2025 zu schaffen. Gleichzeitig baut er aber eine 1 000 Mann starke bayerische Grenzpolizei auf, die leider sehr wenig zum Schutz der Außengrenzen beiträgt und auch nur sehr geringe Wirkungen im Inland hat. ({0}) Ein Punkt für die EU-Kommission, leider kein Punkt für die Bundesregierung. Auf Platz zwei: Terrorismus. 20 Prozent der EU-Bürger halten dies für ein sehr wichtiges Problem. Wir Freien Demokraten fordern deshalb schon lange, Europol zu einem europäischen Kriminalamt mit eigenen Ermittlungsbefugnissen weiterzuentwickeln. Ich denke, der Fall von Anis Amri im Jahr 2016 hat die Notwendigkeit gezeigt. Die Einzelheiten dazu sind wahrscheinlich jedem von Ihnen bekannt. Außerdem brauchen wir so schnell wie möglich eine EU-weite Gefährderdatei. Die CDU fordert zwar beides, wir warten aber seit 2016 darauf. ({1}) Halber Punkt für die Bundesregierung, kein Punkt für die EU-Kommission, auf deren Vorschläge wir noch immer warten. Auf Platz drei: 19 Prozent der EU-Bürger zählen die öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten zu den wichtigsten Problemen in der EU. Der faule Kompromiss zwischen der italienischen Regierung und der EU-Kommission vom 19. Dezember zum italienischen Haushalt 2019 verletzt laut allen Expertenmeinungen die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspakts deutlich. Die Bundesregierung hat zu meiner schriftlichen Anfrage mitgeteilt, sie sei juristisch nicht zuständig, um zu prüfen, ob Italien gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt verstößt. Das mag sein. Das impliziert aber auf der anderen Seite, dass sich die Bundesregierung politisch nicht für zuständig erklärt, wenn es darum geht, die nächste Staatsschuldenkrise im Euro-Raum zu verhindern. ({2}) Wir Freien Demokraten fordern deshalb, dass die Einhaltung der europäischen Verschuldungsregeln von einer politisch unabhängigen Institution geprüft wird und dass bei einem Bruch dieser Regeln automatisch Sanktionen erfolgen. Kein Punkt für die Bundesregierung und auch nicht für die EU-Kommission. ({3}) Zusammenfassend gesagt erringen bei diesen drei wichtigen Problemen die Bundesregierung 0,5 von 3 Punkten und die EU-Kommission 1 von 3 Punkten. Die FDP ist eine Partei, ({4}) die Europa liebt. Und wenn man eine Sache liebt, dann muss man versuchen, sie zu erhalten und vor allen Dingen sie zu verbessern. Wir werden dies tun. ({5}) Zu dem Problem der vielen Kommissare. Vielleicht – geschätzter Kollege Krichbaum, nur ein Vorschlag – könnten sich Deutschland und Frankreich vorstellen, sich gemeinsam einen Kommissar zu teilen. Es würde den Druck auf alle anderen deutlich erhöhen, sich ebenfalls zusammenzuschließen. ({6}) Dann haben wir vielleicht in Zukunft nur noch die üblichen 16 Kommissare. Ich danke Ihnen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Manuel Sarrazin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Amthor hat den Begriff der Serviceopposition aufgegriffen. Ich möchte dem auch gerecht werden. Ich möchte nämlich den Blick auf Südosteuropa werfen. Die Europäische Kommission wird noch in ihrer Amtszeit, höchstwahrscheinlich im Rahmen der Erweiterungsstrategie, wieder vorschlagen, die Erweiterungsverhandlungen mit Mazedonien und Albanien zu eröffnen. Deswegen möchte ich, dass wir auf diese Region blicken und uns vor Augen halten, dass vor genau einer Woche zwei Regierungschefs Geschichte geschrieben haben. Sie haben gezeigt, dass in Zeiten von Populismus, von Spaltungsrhetorik mit Mut, Weitsicht und politischer Verantwortung gehandelt werden kann. Ja, Alexis Tsipras und Zoran Zaev haben das Prespa-Agreement durchgesetzt, den Namensstreit beendet. Nordmazedonien und Griechenland können jetzt künftig gemeinsame Freunde auf dem Weg Richtung NATO und EU werden. Ich finde, das sollten wir hier auch würdigen. ({0}) Das ist eine historische Leistung. Aber sie zeigt auch, dass sich die historische Leistung erst dann wirklich auszahlt, wenn wir in der Lage sind, auf die historische Leistung einzugehen. Im letzten Juni hat die Bundesregierung, haben alle Staaten der Europäischen Union im Rat für Allgemeine Angelegenheiten versprochen, für Albanien und Mazedonien im nächsten Jahr die Verhandlungen zu eröffnen. Bis heute ist unklar, ob das wirklich stattfinden wird. Ich finde, vor dem Hintergrund des Mutes von Zoran Zaev und Alexis Tsipras, vor dem Hintergrund des Erfolgs in der Lösung des Namensstreits sind wir jetzt in der Pflicht, diese Verhandlungen zu eröffnen. ({1}) Wir müssen verhindern, dass 2019 ein weiteres verlorenes Jahr für den Westbalkan wird. Ich sage das ganz ernsthaft: Viele verlorene Jahre werden wir uns in dieser Region nicht mehr leisten können. Es ist eine Situation, in der beispielsweise die politische Lage in Albanien auf der Kippe steht. Wir müssen den Menschen zeigen, dass man mit Reformen, mit Aussöhnung und auch in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft bei uns auch erfolgreich sein kann und dass wir, die Europäische Union, zu unseren Versprechen stehen, die wir gemacht haben. ({2}) Auch in Albanien ist der Reformprozess bemerkenswert angelaufen. Die laufende Korruptionsüberprüfung von Richtern und Richterinnen und Staatsanwältinnen und Staatsanwälten ist in der gesamten Region beispiellos. Es wäre meiner Ansicht nach ein schwerer Rückschlag für diese positive Entwicklung Albaniens, wenn wir jetzt nicht bereit sind, den nächsten Schritt zu gehen. Ganz klar: Die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen ist in keiner Weise ein Automatismus für einen EU-Beitritt. Wenn es danach mit Reformen nicht weitergeht, wird es auf diesem Weg auch nicht weiter vorangehen. Wir haben genügend Gelegenheiten, in diesem Prozess weiterhin zu verlangen, dass genügend passiert. ({3}) Geben wir deswegen diesen Ländern die Chance, ihren Transformations- und Reformwillen mit unserer Unterstützung noch besser unter Beweis zu stellen. Lassen wir Tsipras und Zaev nicht am ausgestreckten Arm verhungern, weil wir nicht bereit sind, unsere europäische Verantwortung zu übernehmen. Frieden und Demokratie in unserer nächsten Nachbarregion des westlichen Bal­kans werden auch Voraussetzung dafür sein, dass die Europäische Union an sich erfolgreich sein kann. Danke sehr. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Philipp Amthor für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass die Europäische Kommission sich in ihrem Arbeitsprogramm an einem Grundsatz orientiert, den sich viele Menschen in Europa wünschen, sich nämlich nicht auf die Kleinigkeiten, auf das Klein-Klein zu konzentrieren, sondern auf die großen Herausforderungen, auf die Herausforderungen, die mit echtem Nachdruck vorangetrieben werden müssen, auf die Herausforderungen, die Europa einen Mehrwert bringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Herausforderungen sind wirklich zahlreich. Wenn man sich fragt, was eigentlich die größten Aufgaben sind, vor die die Europäische Union jetzt gestellt ist, dann ist es gut, darauf zu schauen, warum die Europäische Union gegründet wurde. Man hat die Europäische Union nämlich nicht gegründet, um zuallererst Sozialtransfers durchzuführen, sondern man hat die Europäische Union gegründet, um einen funktionierenden Binnenmarkt zu errichten, um Wirtschaft zu fördern und um einen Beitrag zur Sicherheit unseres Kontinents zu leisten. ({0}) Deswegen ist es mir als Innenpolitiker wichtig, im Rahmen dieser Debatte den Blick ein wenig auf die Sicherheitsthemen zu richten, vor denen die Europäische Union in den nächsten Monaten steht. Das ist zweierlei: Es ist zum einen die Weiterentwicklung der europäischen Sicherheitsunion, es ist aber natürlich zum anderen auch der weitere Umgang mit der Frage der Steuerung und Begrenzung der Migration. Was die Sicherheitsunion angeht, so will ich anknüpfend an den Kollegen Florian Hahn sagen: Die größte Bewährungsprobe für unsere Sicherheitsunion ist der Brexit, durch den wir einen schweren Verlust hinnehmen müssen. Deswegen ist es wichtig, dass wir als Deutscher Bundestag das Zeichen senden: Trotz Brexit wünschen wir uns eine enge Sicherheitskooperation mit Großbritannien. ({1}) Wir werden auch selbst einiges tun müssen. Die Europäische Kommission hat sich dazu bekannt, die Europäische Staatsanwaltschaft weiterzuentwickeln, ihr Mandat auf die Terrorismusbekämpfung zu erweitern. Sie hat sich dazu bekannt, die Interoperabilität, den Austausch von Daten zwischen den Sicherheitsbehörden innerhalb der Europäischen Union zu verbessern. Das ist notwendig, und das werden wir auch unterstützen. Anknüpfend an die innenpolitische Debatte des Vormittags will ich aber auch noch einmal sagen: Genauso wie in unserem Land geht es auch in Europa nicht nur um die Frage, wie wir Informationen zwischen den Sicherheitsbehörden austauschen können, sondern es geht auch um die Frage, wie wir Informationen erheben können. Deswegen wird für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Vorratsdatenspeicherung und anderes auch in Zukunft ein wichtiges Thema sein, und es wird wichtig sein, wehrhafte Befugnisse der Europäischen Union gerade im Cyberraum auf der Agenda zu haben. Das muss auch die Europäische Kommission umsetzen. ({2}) Wir wollen Sicherheit auf der Höhe der Zeit. Aber wir wissen auch: Die größte Herausforderung und die größte Erschütterung in Bezug auf das Vertrauen in die Sicherheit in der Europäischen Union verbinden sich mit dem Thema Migration. Das ist nicht wegzuwischen. Richtig ist – auch das muss man sagen –: Die Zahl der illegal nach Europa gekommenen Migranten hat sich drastisch reduziert; das ist auch gut so. Wir sagen trotzdem: Es sind noch zu viele. Wir müssen besser werden bei der Steuerung und Begrenzung der Migration. Dafür brauchen wir die Vollendung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Aber dafür brauchen wir nicht nur neue Regelungen, sondern wir brauchen zum Teil einfach besseren Vollzug und bessere Umsetzung. In diesem Zusammenhang hat Jean-Claude Juncker in seiner Rede zum State of the Union vorgeschlagen, dass wir 10 000 neue Stellen für Frontex schaffen. Das ist ambitioniert, und das ist ein Thema, das uns künftig begleiten wird. Aber ich will in aller Deutlichkeit auch sagen: Grenzschützer für Frontex kann man nicht im Expressversand bestellen, sondern Grenzschützer müssen aus den nationalen Mitgliedstaaten kommen. Da ist für uns das Wichtige – das sage ich auch aus der Perspektive des Innenpolitikers –: Wir stehen zu Frontex, aber wir können nicht hinnehmen, dass wir unsere Bundespolizisten in Einsätze schicken, bei denen sie nicht bessere Kompetenzen haben als in unserem Land. Deswegen müssen wir nicht nur dafür arbeiten, dass neue Stellen geschaffen werden, sondern wir müssen auch das Thema Befugnisse bei Frontex voranbringen. Nur dann kann der Grenzschutz in der Europäischen Union auch wirklich funktionieren. ({3}) Ich will deutlich sagen: Wir müssen es schaffen, für das Thema Migration Lösungen zu finden, um den Blick wieder frei zu machen für proeuropäische Themen, für das, was die Europäische Union zusammenhält. Das Wichtige ist das Motto des Arbeitsprogramms der Kommission, über das wir heute reden, und das ist das Motto: Versprochenes liefern und Vorbereitungen auf die Zukunft treffen. – Ich kann sagen: Versprechen gehalten, das wollen wir nach der Europawahl sagen, und dafür werden wir arbeiten. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Pressemitteilung der Europäischen Kommission bezüglich des Arbeitsprogramms 2019 lässt so manche Wahrheit zwischen den Zeilen ans Licht kommen. REFIT, das Programm zur Gewährleistung der Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung der Europäischen Kommission, soll sicherstellen, dass die EU-Rechtsvorschriften ihre Ziele für die Bürger wirksam, effizient und kostengünstig erreichen. REFIT soll die EU-Rechtsvorschriften einfach halten, unnötigen Verwaltungsaufwand abbauen und bestehende Rechtsvorschriften ohne Beeinträchtigung ihrer Ziele entsprechend anpassen. So behauptet Juncker, die Bürger interessierten sich für Vorschriften, die ihnen Rechte verleihen. Aber diese Rechte scheinen schon lange nicht mehr für alle gleichermaßen zu gelten, schaut man auf den zig-fachen Bruch der Verträge von Lissabon und Maastricht ohne irgendwelche Konsequenzen für die Verantwortlichen. Ganz im Gegenteil: Juncker will den Rahmen für die Rechtsstaatlichkeit des Euros weiter stärken. Mit anderen Worten: Was vorher illegalerweise einfach wieder und wieder gemacht wurde, wird jetzt einfach für legal erklärt. Ja, wahrscheinlich könnte Juncker recht haben, solche Möglichkeiten finden bestimmt auch die Bürger toll – allein, für diese wird es so etwas niemals geben. Manche sind eben gleicher als andere. Die Europäische Kommission verfolgt aktuell zwei Ziele, wie immer vor einer Wahl: Handlungswillen zu suggerieren und vor den zu erwartenden Mehrheitsveränderungen schnell noch Entscheidungen durchzudrücken, die dann ohne größere Debatten wohl nicht mehr möglich wären. Im Hinblick auf die Europawahlen finden wir von der blauen Partei, dass es in der Tat ein guter Zeitpunkt für eine offene Diskussion über grundlegende Reformen des Europäischen Parlaments und der Kommission sei. Für klare Entscheidungsverantwortlichkeiten könnten wir einmal darüber nachdenken, künftig gewählte Vertreter nationaler Parlamente zu entsenden. Dieses neu gestaltete Europäische Parlament erhält das Gesetzesinitiativrecht der Kommission übertragen, die ihrerseits zu einer Dienstleistungsbehörde verkleinert wird. Das spart zusätzliche Wahlen, Unmengen an Geld und verbessert die Parität gemäß der Mitgliedsgröße der Staaten. ({0}) Für die Zukunft unseres so wichtigen europäischen Wirtschaftsverbunds hätten wir auch gleich eine Aufgabe: Für einen einfacheren Freihandel könnte man evaluieren, ob sich nicht europäische und deutsche DIN-Normen mit amerikanischen UL- und kanadischen CSA-Zulassungen harmonisieren lassen. Unserem Mittelstand würde dies endlich einmal eine vernünftige Entlastung bieten. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Christoph Ploß das Wort. ({0})

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, zwingen uns alle zur Zusammenarbeit. Sie können nicht im Sinne des alten nationalstaatlichen Denkens von den einzelnen Ländern allein bewältigt werden. Diese Sätze sagte der damalige Bundeskanzler und Ehrenbürger Europas, Helmut Kohl, im Jahre 1996. Auch heute, mehr als 20 Jahre danach, sind diese Sätze aktueller denn je; denn wenn wir über das Programm der Europäischen Kommission diskutieren und uns anschauen, vor welchen Herausforderungen wir heute stehen, ist vollkommen klar, dass wir diese als Bundesrepublik Deutschland nicht alleine bewältigen können. Wir brauchen dafür starke europäische Partner und ein starkes Europa. Das zeigt schon ein Blick auf die bloßen Einwohnerzahlen: Die Chinesen sind mehr als 1 Milliarde Bürger auf der Welt. Auch Indien hat deutlich mehr als 1 Milliarde Einwohner. Die USA haben immerhin noch 330 Millionen Einwohner. Staaten in Afrika und Asien wachsen rasant. Allein der afrikanische Staat Nigeria wird nach UNO-Schätzungen im Jahr 2050 vermutlich 450 Millionen Einwohner haben. Das entspricht der Zahl der Bürger der gesamten Europäischen Union. Deutschland hat heute circa 80 Millionen Einwohner und ist damit das größte Land der Europäischen Union. Aber – darauf haben auch meine Vorredner richtigerweise hingewiesen – wir sind im Weltmaßstab und im Vergleich zu den anderen Staaten klein. Deswegen werden wir in der Weltpolitik nur als vereintes Europa eine Rolle spielen und unserer Stimme dort Gehör verschaffen können. Daher sind auch die Angriffe, die wir hier immer wieder vom linken und rechten Rand dieses Hauses hören, so gefährlich – wenn Sahra Wagenknecht die Europäische Union als Projekt der Ausbeuter bezeichnet oder wir bei der AfD sogar Stimmen hören, die mit dem Dexit liebäugeln und einen Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union vorantreiben wollen. ({0}) Das ist der absolut falsche Weg. Meine Damen und Herren, deswegen ist es so wichtig, dass wir die vernünftigen Kräfte im Deutschen Bundestag stärken und uns Europa nicht durch Angriffe von links und rechts kaputtmachen lassen. ({1}) Denn Europa ist letztlich wie ein Haus, in dem wir leben und das wir auch zum Leben brauchen, das Generationen vor uns erbaut haben, das wir aber in Zukunft weiterbauen und auch immer wieder renovieren müssen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Ploß, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Weyel?

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne doch. ({0})

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke für die Zulassung der Frage, lieber Dr. Ploß. – Es ist ja generationsübergreifend so, dass immer die gleiche Rhetorik die europäische Angelegenheit begleitet, ({0}) von wegen: Jedes Land ist einzeln zu klein, selbst das relativ große Deutschland usw. usf. – Auf der anderen Seite sehen wir aber, dass Norwegen oder die Schweiz durchaus direkt mit China und sogar mit den USA Verträge schließen. ({1}) „Small is beautiful“, hat mal Hermann Lübbe, ein Philosoph, der sich von der Schweiz aus des Ganzen angenommen hat, gesagt. ({2}) Zunächst eine Korrektur: Wir wollen eine Substanzreform; der Dexit ist kein Selbstzweck, kein L’art pour l’art. Um das zu bewirken, muss man eventuell einen anderen Ansatz verfolgen, nachdem es jetzt über 60 Jahre nichts mit einer Substanzreform geworden ist. Wir müssen auch feststellen, dass der Binnenmarkt eigentlich nicht realisiert wurde. Der Cecchini-Report hat Ende der 80er-Jahre festgestellt, dass in den damals vier Jahrzehnten noch nicht mal der Binnenmarkt verwirklicht wurde. ({3}) Die wohlwollendste Kritik – der können Sie sich vielleicht anschließen – ist doch, dass wir es bei der EU mit einer Versicherung zu tun haben, mit einer Überversicherungsgesellschaft. ({4}) Die Kommission agiert als Vorstand einer solchen Versicherung. Es wird mit einem grellen Prospekt gearbeitet. ({5}) Es gibt Leistungsversprechen, die im Fall des Falles nicht eingehalten werden. ({6}) Würden Sie die Leistungsversprechen von Schengen und Dublin, die uns ja dahin geführt haben, zu sagen, dass wir den großen Rahmen, die gemeinsame Außengrenze haben wollen, als erfüllt ansehen? Wenn nein, was ist Ihr Ansatz, um zu erzwingen, dass das, was im Kleingedruckten steht, auch geliefert wird? Danke schön.

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Niedermachen und Schlechtmachen der Europäischen Union und Europas teile ich in keiner Weise, und ich habe ja am Anfang meiner Rede hier auch energisch widersprochen. ({0}) Denn wenn man sich die Geschichte der letzten Jahrzehnte anschaut, dann erkennt man, dass unsere Vorfahren das Friedensprojekt Europa begründet haben. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass wir hier auf dem europäischen Kontinent in Frieden leben. ({1}) In allen Jahrhunderten gab es in Europa Krieg. Es mag für die jüngeren Generationen eine Selbstverständlichkeit sein, dass kein Krieg herrscht; das war es aber jahrhundertelang nicht. Deswegen ist Ihr Zündeln auch so gefährlich; denn es kann am Ende den Frieden in Europa gefährden. ({2}) Sie haben wirtschaftliche Punkte angesprochen. Darauf möchte ich kurz eingehen. Man muss doch sagen: Europa ist einer der attraktivsten Wirtschaftsräume der Welt. Wir sind doch nicht umsonst in der ganzen Welt so angesehen. Das ist doch ein Grund dafür, dass viele Menschen nach Europa wollen. ({3}) Viele Menschen auf anderen Kontinenten sagen: Wir wollen Demokratie, Menschenrechte, Meinungsvielfalt und Toleranz wie in Europa haben. ({4}) Ich möchte, dass wir diese europäischen Werte bewahren und stärken. Deswegen ist das, was Sie hier machen, so gefährlich. Ich kann Ihnen nur sagen, auch im Namen meiner Fraktion und aller Demokraten hier im Hause: Wir werden das in den nächsten Wochen deutlich machen, damit bei der Europawahl die Menschen Europa stärken und am Ende das friedens-, wirtschafts- und sicherheitspolitische Projekt Europa neue Kraft bekommt. ({5}) Meine Damen und Herren, damit es so bleibt, müssen wir jetzt handeln. Denn die Aufgabe unserer Generation ist es – das hat der Kollege Philipp Amthor eben vollkommen zu Recht dargelegt –, Europa zu einem außen- und sicherheitspolitischen Akteur zu formen, einem Akteur, der auch in der Weltpolitik handlungsfähig ist, zum Beispiel beim Syrien-Konflikt, bei handelspolitischen Konflikten oder natürlich auch bei den großen Migrationsfragen. Das beste Beispiel, das wir in der jüngeren Vergangenheit erlebt haben, war doch der Handelsstreit zwischen den USA und der Europäischen Union, bei dem wir als Europäische Union die Verhandlungen mit Donald Trump am Ende erfolgreich abgeschlossen haben, weil wir mit einer Stärke von 500 Millionen Europäern im Rücken auftreten konnten. Das dürfen wir uns nicht kaputtmachen lassen. Wir werden aber nur dann eine Rolle als starker außenpolitischer Akteur in der Weltpolitik spielen, wenn wir das Einstimmigkeitsprinzip aufgeben und die europäischen Nationalstaaten den Mut haben, Kompetenzen auf die europäische Ebene zu verlagern. ({6}) Da unterstützen wir als Unionsfraktion die Ansätze der Kommission, ({7}) weil es anders nicht gehen wird, wie es auch der Kollege Gunther Krichbaum in seiner Rede hier dargelegt hat. Da möchte ich ihn mit Nachdruck unterstützen. Wenn wir über die Übertragung von Kompetenzen auf die Europäische Union sprechen, dann möchte ich aber auch hervorheben, dass es natürlich nicht sinnvoll ist, automatisch alle Kompetenzen auf Europa zu übertragen. Die Entscheidungskompetenz über den Bau von örtlichen Straßen, von Radwegen, von Marktplätzen ({8}) soll natürlich weiterhin bei den Nationalstaaten oder bei den Kommunen verbleiben. Das soll nicht auf die europäische Ebene verlagert werden. Das entspricht dem häufig zitierten Subsidiaritätsprinzip, für das wir uns als CDU/CSU-Fraktion mit besonderer Leidenschaft einsetzen. ({9}) Das Subsidiaritätsprinzip gilt auch bei den Steuersätzen. Wenn wir es ernst nehmen, dann brauchen wir natürlich nicht von Lissabon bis Tallinn einheitliche Steuersätze. Im Gegenteil: Da muss es Unterschiede geben. Das befeuert auch den Wettbewerb der Staaten untereinander. Deswegen sehen wir die Ansätze, die auf einheitliche Steuersätze zielen, kritisch. Am Ende brauchen wir eine schlanke, effiziente Europäische Union, die sich um die großen Fragen kümmert. Nur so kann Europa in Zukunft erfolgreich und das europäische Haus sturmfest sein. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Sommer des letzten Jahres strandete zwischen Thailand und Malaysia ein Wal, erbrach fünf Tüten und verendete dann an diesem Strand. Ein Wissenschaftler konstatierte nach der Obduktion lapidar: „Mit 80 Plastiktüten im Magen stirbt ein Wal.“ Der NABU spricht davon, dass pro Jahr mindestens 1 Million Meeresvögel an Plastik verenden. In 90 Prozent der Nester von Basstölpeln auf Helgoland sind Plastikstricke oder andere Sachen verarbeitet, die dazu führen, dass sich Jungvögel strangulieren. Mikroplastik findet sich auf dem gesamten Planeten – in der Antarktis, in allen deutschen Flüssen, in Bergtälern, in Salz, Honig, Wasser, in unserer Atemluft, auch in diesem Raum hier. Die Folgen für die menschliche Gesundheit sind bisher nicht erforscht. Ich halte es für ein gravierendes Defizit, dass wir nicht wissen, was Mikroplastik im menschlichen Organismus verursacht. Wir wissen aber, dass der menschliche Körper permanent Mikroplastik aufnimmt. Die meisten von Ihnen dürften relevante Mengen davon im Körper tragen. Wir wissen, dass sich Schadstoffe an Mikroplastik anlagern, und wir wissen, dass Mikropartikel, Nanopartikel Zellmembranen und die Blut-Hirn-Schranke durchdringen können. – So weit die Problemlage, kurz und knapp geschildert. Verursacher ist die weltweite Plastikproduktion, die inzwischen bei knapp 400 Millionen Tonnen pro Jahr liegt. Der größte Teil davon wird weder entsorgt noch recycelt, sondern reichert sich in der Umwelt an, und das seit zig Jahren. Europa ist nach China der zweitgrößte Plastikproduzent weltweit. Und Deutschland ist innerhalb Europas einer der Hauptverursacher – wenn nicht gar der Hauptverursacher – des Plastikproblems, und zwar in Produktion, in Verbrauch und als Exporteur. Deshalb hat Deutschland eine besondere Verantwortung, dieses weltweite Problem endlich in den Griff zu kriegen, ({0}) insbesondere wenn man bedenkt – das kommt zur Problemlage hinzu –, dass Deutschland bis 2018 einen Großteil seiner Plastikabfälle nach China exportiert hat. Das war schön, das war billig; das wurde auf die Recyclingquote angerechnet. Man konnte mit dem Finger auf den Plastikstrudel im Pazifik zeigen und sagen: Guckt mal, die Asiaten! Das hat mit uns ja nichts zu tun; das betrifft ja die asiatischen Flüsse! Seitdem China aus Umweltschutzgründen ein Importverbot für Plastikabfälle verhängt hat, geht jetzt ein Großteil der Abfälle nach Malaysia, nach Bulgarien, nach Rumänien und nach Polen. Sie finden sich dort in wilden Deponien wieder, werden abgefackelt und gelangen in die Umwelt. Deshalb hat Deutschland eine besondere Verantwortung, sich des Plastikproblems endlich anzunehmen. ({1}) Damit meine ich nicht den lächerlichen Fünf-Punkte-Plan, den Umweltministerin Schulze im letzten Herbst vorgelegt hat. Damit meine ich definitiv nicht jahrelange Verhandlungen über freiwillige Selbstverpflichtungen der Hersteller, Kosmetika und Waschmitteln wenigstens keine absolut überflüssigen Plastikprodukte beizumischen. Das meine ich dezidiert nicht; denn das wird das Problem nicht lösen. ({2}) Man kann nur sagen: Gott sei Dank haben wir Europa! Gott sei Dank haben wir die Europäische Kommission, die Europäische Union und das Europäische Parlament! Denn diese haben im letzten Herbst eine Antiplastikstrategie vorgelegt, die relevante Punkte zur Plastikreduktion enthält, und zwar ein Verbot von besonders umweltschädlichen Produkten, die besonders leicht in die Umwelt gelangen, und eine Produkthaftung der Hersteller, die diejenigen, die die Produkte produzieren, in die finanzielle Verantwortung nimmt. Mit den Anträgen, die meine Kollegin Hoffmann und ich Ihnen heute namens der Grünenfraktion vorlegen, gehen wir darüber hinaus. Wir fordern die Bundesregierung auf: Gehen Sie voran! Setzen Sie – so wie andere europäische Staaten, wie Frankreich, wie Schweden, wie sogar Österreich – in nationales Recht um, was heute bereits geht! Warten Sie nicht bis 2021, sondern tun Sie jetzt etwas! ({3}) Und vor allem: Erlassen Sie ein Moratorium für den Export in diejenigen Staaten, bei denen die Müllentsorgung und das Recycling einen niedrigeren Standard haben als in Deutschland! Sorgen Sie dafür, dass diese unsäglichen Exporte deutschen Plastikmülls weltweit gestoppt werden! Danke. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Marie-Luise Dött für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es heute noch einmal klar und deutlich zu sagen: Deutschland ist auf dem Gebiet der Kreislaufwirtschaft weltweit führend. ({0}) Abfallsammel- und Verwertungslösungen „Made in Germany“ sind weltweit ein Exportschlager. Die Bürger sammeln und trennen Abfälle, weil sie wissen, dass das für die Umwelt und den Ressourcenschutz gut ist. Unsere Unternehmen und die Beschäftigten im Bereich der Abfallwirtschaft sind hochmotiviert, engagiert, verantwortungsbewusst und vor allem innovativ. Und wir haben in unserem Land einen politischen Rahmen gesetzt, der die Kreislaufwirtschaft weiter voranbringen wird. ({1}) Aber, meine Damen und Herren, nichts ist so gut, dass es nicht noch besser werden kann. Deshalb haben wir in der vergangenen Legislaturperiode wichtige Regelungen beschlossen. Dazu gehören das Elektro- und Elektronikgerätegesetz, die Klärschlammverordnung und die Gewerbeabfallverordnung. Und auch das Thema Plastikabfälle haben wir mit der Weiterentwicklung der Verpackungsverordnung zu einem Verpackungsgesetz einen wichtigen Schritt vorangebracht. Denn es ist richtig, dass ein großer Teil von Abfällen aus Verpackungen resultiert. Genau deshalb haben wir höhere Sammel- und Verwertungsquoten für alle Arten von Verpackungsabfällen festgeschrieben. Und wir haben mit der Zentralen Stelle Verpackungsregister die Kontrolle im wettbewerblich organisierten System verbessert. Das Verursacherprinzip findet jetzt deutlich konsequenter Anwendung; das liegt uns besonders am Herzen. Genau das reduziert nämlich Verpackungen und sorgt für besseres Recycling. Meine Damen und Herren, wichtig ist es, mehr Abfälle stofflich zu verwerten. Hier müssen wir gerade bei Plastikabfällen besser werden. Dafür gibt es zwei wesentliche Voraussetzungen: Erstens. Recyclate, die aus den Abfallverwertungsanlagen kommen, müssen stofflich möglichst homogen sein. Mischabfälle oder Recyclate mit hohem Verschmutzungsgrad gehen häufig in die Verbrennung. Dazu sind sie zu schade. Deshalb haben wir mit dem Verpackungsgesetz dafür gesorgt, dass für Verpackungen, die aus unterschiedlichen Kunststoffen bestehen, die Lizenzgebühren höher sind. Eine weitere Voraussetzung für eine hohe Sortenreinheit der Recyclate sind moderne Sortieranlagen. Hier sehen wir durch erhebliche Investitionen der Entsorgungswirtschaft gute Fortschritte. Eine hohe Qualität der Recyclate ist aber nur die eine Seite. Wir brauchen zweitens Anreize für Hersteller, Recyclate für neue Produkte zu nutzen. Deshalb haben wir die Lizenzgebühren für Verpackungen auch davon abhängig gemacht, ob Recyclat verwendet wird. Auch Europa hat das erkannt. Mit der Richtlinie über die Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststoffe auf die Umwelt wird vorgegeben, dass PET-Flaschen bis 2025  25 Prozent und bis 2030  30 Prozent recyceltes Plastik enthalten müssen. Und auch die Wirtschaft handelt. Eine Reihe von Herstellern und Handelsketten hat bereits konkrete Maßnahmen, zum Beispiel die Auslistung von Einwegprodukten oder den Verzicht auf Plastiktüten, umgesetzt oder angekündigt. Die Reduzierung von Plastiktüten und Einwegverpackungen oder die Selbstverpflichtung zur Reduzierung des Einsatzes von Mikroplastik bei Kosmetika und Reinigungsmitteln sind Beispiele. Wir als Politik sollten hier kooperative Lösungen unterstützen – gerade auch bei der Abfallvermeidung. Meine Damen und Herren, Abfälle, gerade Plastikabfälle, sind ein globales Problem. Deshalb ist es wichtig, das Thema stärker in der Entwicklungszusammenarbeit zu berücksichtigen. Wir haben im Haushalt 2019  250 Millionen Euro speziell dafür bereitgestellt. Wir sollten bei den Projekten Partner aus der Wirtschaft suchen, die die Projekte mitfinanzieren und auch mit umsetzen. Ich weiß, dass viele Unternehmen, gerade auch aus der Entsorgungsbranche, dazu bereit sind. Die Projektebene ist das eine. Wir brauchen aber auch einen möglichst verbindlichen internationalen Rechtsrahmen zur Müllvermeidung und zum Schutz der Meere. Es war deshalb wichtig, dass Deutschland die Reduzierung der Meeresvermüllung im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit zum Beispiel bei den G-7- und G-20-Treffen auf die Tagesordnung gesetzt hat. Die Entwicklung eines internationalen Rechtsrahmens braucht einen langen Atem – wir werden hier nicht nachlassen. Meine Damen und Herren von den Grünen, Ihr Antrag zur Verminderung der Meeresvermüllung enthält durchaus sinnvolle Ansätze. ({2}) Leider hinkt aber eine Reihe von Forderungen der Wirklichkeit hinterher. Zur Reduzierung von Plastikeinwegprodukten werden wir die europäischen Regelungen jetzt umsetzen. Auch mit Blick auf internationale Aktivitäten tun Sie so, als würden wir bei null anfangen. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode haben wir die Netzverluste in der Fischerei adressiert, wenn Sie sich erinnern. ({3}) Meine Damen und Herren von den Grünen, Ihr erster Antrag beinhaltet ein Sammelsurium an undifferenzierten Forderungen zu Produktverboten und natürlich auch die Forderung nach einer Rekommunalisierung der Abfallentsorgung. Ihre Forderungen im zweiten Antrag zur Reduzierung der Meeresvermüllung sind vielfach in der Umsetzung. Deshalb werden wir beide Anträge ablehnen. ({4}) Aber auch das will ich sagen: Der Antrag zur Vermüllung der Meere enthält auch eine Reihe sinnvoller Vorschläge im internationalen Bereich, ({5}) über die wir gerne diskutieren können. Eine erste Gelegenheit dazu haben wir beim Fachgespräch zum Thema „Ocean Governance“ im Umweltausschuss am 13. Februar 2019. Dann können wir zusammen weiter agieren. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Marie-Luise Dött. – Einen schönen Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! – Der nächste Redner von der und für die AfD-Fraktion: Andreas Bleck. ({0})

Andreas Bleck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004674, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Schönen guten Tag, Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Plastik ist weder gut noch böse. Stattdessen ist der Umgang mit Plastik entscheidend. Plastikabfälle, die eingesammelt und verwertet werden, stellen kaum oder keine Probleme für die Meere dar. Dass sich die Plastikvermüllung der Meere überhaupt zu einem großen Problem entwickelt hat, liegt vornehmlich an afrikanischen und asiatischen Staaten, die weltweit zu den größten Verursachern gehören. ({0}) Verantwortlich ist unter anderem die fehlende Sensibilisierung der dortigen Bevölkerungen für die Umwelt. Plastikabfälle werden einfach in die Flüsse entsorgt, ({1}) die wiederum entwässern direkt in den Meeren. Durch die Meeresströmungen werden die Plastikabfälle weltweit verteilt ({2}) und bleiben nicht das alleinige Problem der Verursacher. ({3}) Daher ist es ja durchaus sinnvoll, eine internationale Konvention zur Beendigung des Eintrags von Plastik­abfällen einzusetzen. Ob man aber mit Sanktionen bei Zuwiderhandlung ausgerechnet die weltweit größten Verursacher beteiligen kann, darf bezweifelt werden. Vielmehr muss die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Schwellen- und Entwicklungsländern stärker an umweltpolitische Bedingungen geknüpft werden. Nur mit dem dortigen Einsammeln und Verwerten von Plastikabfällen lässt sich die Plastikvermüllung der Meere im weltweiten Maßstab reduzieren. Dabei ist die Verbrennung von Plastikabfällen aus Kostengründen erfolgversprechender und daher dem Recycling vorzuziehen. Im Vergleich zu den afrikanischen und asiatischen Staaten ist die Plastikvermüllung der Meere durch die Staaten der Europäischen Union gering. Der Eintrag von Makroplastik beispielsweise in die deutschen Nordsee- und Ostseegewässer findet in der Regel illegal statt. Wegwerfartikel aus Plastik wegen mancher illegaler Entsorgung grundsätzlich zu verbieten, würde einem grundsätzlichen Verbot des Autofahrens wegen Fahrens mancher Bürger ohne Führerschein gleichkommen. Ein Verbot trifft rechtstreue und straffällige Bürger gleichermaßen. Das ist aus unserer Sicht unverhältnismäßig. ({4}) Bezüglich Mikro- und Nanoplastik muss wissenschaftlich belegt werden, ob und, wenn ja, welche gesundheitlichen Auswirkungen sie auf lebende Organismen haben. Die Forschung dazu steckt in den Kinderschuhen. Alles in allem sind viele Forderungen der Grünen nicht gerechtfertigt. Stattdessen werden die Grünen wieder einmal ihrem Ruf als Verbots- und Sanktionspartei gerecht. Eine Abgabe auf Wegwerfartikel aus Plastik folgt dem bewährten Motto „Dramatisieren, Drangsalieren, Abkassieren“. ({5}) Der Einfallsreichtum der Grünen kennt dabei keine Grenzen. Ob teure Energiewende nebst Ausstieg aus der Kohle- und Kernenergie oder die geplanten CO 2 - und Plastiksteuern, letztendlich wird der Bürger zur Kasse gebeten. Darüber hinaus wird ein Tempolimit auf Autobahnen gefordert, um den Eintrag von Mikroplastik zu reduzieren. „Freie Fahrt für freie Bürger“ soll, wenn es nach den Grünen geht, abgeschafft werden. Inwieweit der Eintrag von Mikroplastik dadurch reduziert werden kann, ist wissenschaftlich ebenfalls nicht belegt; aber Hauptsache mal ein Tempolimit gefordert. Tatsächlich wird der höchste Eintrag von Mikroplastik nach Studien des Fraunhofer-Instituts vom Reifenabrieb verursacht. Daher setzen wir auf die Innovationsfähigkeit der Reifenhersteller zur Erforschung anderweitiger Materialien, die den Abrieb verringern und damit die Haltbarkeit verlängern. ({6}) Auch die Erhöhung der Recyclingquote von Plastik­abfällen in Deutschland unterstützen wir als richtigen und wichtigen Schritt. Allerdings ist den Meeren, die von der Plastikvermüllung bereits stark betroffen sind, mit dieser Prävention nur bedingt geholfen. Aus diesem Grund müssen wir trotz Rückschritten, wie beim Projekt „Ocean Cleanup“, innovative Projekte zur Säuberung der Meere fördern. Zu guter Letzt möchte ich noch auf Folgendes hinweisen:

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Aber kurz.

Andreas Bleck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004674, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Mit dem Ökologismus verhält es sich wie mit allen anderen Tugenden: Man verpflichtet andere nicht dazu, sondern handelt selbst danach. Führung durch Vorbild, nur das ist glaubwürdig. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner für die Bundesregierung: der Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold. ({0})

Florian Pronold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003612

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich bin ja froh, dass die AfD zumindest beim Meeresschutz erkennt, dass internationale Zusammenarbeit wichtig ist. Es wäre gut, wenn man auch bei anderen Themen auf den Gedanken käme, dass man Probleme, die die ganze Welt betreffen, nur lösen kann, wenn man sich nicht hinter nationale Grenzen zurückzieht, sondern die Dinge international angeht. ({0}) Das war die erste Bemerkung. – Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, dann melden Sie sich halt. ({1}) Die zweite Bemerkung. In Ihrer Rede war ein gewisser Widerspruch vorhanden. Zuerst haben Sie gesagt, die Verbrennung von Plastik sei günstiger und deswegen vorzuziehen, und nachher sind Sie trotzdem für höhere Recyclingquoten eingetreten. Das habe ich nicht verstanden. Ich finde es richtig, dass man sagt – diesen Weg geht jetzt auch die Europäische Union –: Unsinniges Plastik, dessen Einsatz ökologisch unverantwortlich ist, muss verboten werden. – Das haben wir unterstützt, das werden wir weiter unterstützen. Das ist der richtige Weg. ({2}) Wenn Plastik zum Einsatz kommt – es gibt viele Bereiche, wo Plastik notwendig und auch ökologisch vorteilhafter ist –, gehört es anschließend recycelt und nicht verbrannt. Vor allem gehört es nicht in die Umwelt. ({3}) Wir haben mit dem Verpackungsgesetz jetzt zum ersten Mal die Recyclingquoten spürbar angehoben. Ich finde das richtig, weil es ein Unding ist, dass viele Menschen den Müll trennen und sich ökologisch verhalten, doch zwei Drittel des gesammelten Plastiks, wie es so schön heißt, der thermischen Verwertung zugeführt werden dürfen, was nichts anderes heißt, als dass es verbrannt wird. Wir drehen künftig das Verhältnis um. Das setzt aber voraus, dass das Plastik, das gesammelt wird, recycelbar ist. Deswegen haben wir mit dem Verpackungsgesetz eine entscheidende Wende vorgenommen: Wir bevorteilen ökologisch sinnvolle, leicht zu recycelnde Verpackungen und pönalisieren die anderen aus irgendwelchen Gemischen, die man nicht recyceln kann. Das ist der richtige Ansatz, um zu effektiven und guten Veränderungen zu kommen. ({4}) Genauso wie Sie habe auch ich die Berichte über die Probleme, die mit dem Müllexport einhergehen, gesehen. Ich finde, wir können nicht einfach so tun, als gebe es das nicht. Da muss gehandelt werden. Aber, liebe Grüne, ich weise Sie auf Folgendes hin: Die Gesetzeslage haben wir in den letzten Jahren entsprechend verändert und verschärft. Das, was dort geschildert wird, sind illegale Praktiken. Ich finde, wir sollten gemeinsam darauf schauen – denn das liegt in der Verantwortung der Länder –, dass auch kontrolliert wird. Ich habe den Eindruck, dass es da große Defizite gibt. Ein gutes Gesetz hilft nichts, wenn seine Einhaltung nicht kontrolliert wird. Ich finde, es wäre fair, in dieser Debatte darüber zu reden – da sollten wir ansetzen –, wie wir tatsächliche Verbesserungen erreichen können. Es geht nicht nur um die richtigen Gesetze, sondern auch um den Vollzug. Eine letzte Bemerkung, die sich auf die internationale Meeresvermüllung bezieht: Ich bin der früheren Umweltministerin Barbara Hendricks sehr dankbar für ihre Initiative, die dazu geführt hat, dass wir auf internationaler Ebene, bei G 7 und G 20, das Thema Meeresvermüllung an die erste Stelle gesetzt haben. ({5}) Ohne die Initiative Deutschlands wäre auf diesem Gebiet weltweit so gut wie nichts passiert. Nun gibt es eine Vielzahl von Initiativen und Vereinbarungen. ({6}) Auch wir haben in unseren Haushaltsberatungen beschlossen, dass wir im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit zukünftig 50 Millionen Euro aufwenden werden, um die Haupteintragsquellen für die Meeresvermüllung anzugehen. Eine allerletzte Bemerkung. Ich kann mich noch gut an die Debatte über das Wertstoffgesetz erinnern, liebe Grüne. Ich hätte mich gefreut, wenn die Grünen damals nicht blockiert hätten. Wenn Sie nicht blockiert hätten, hätten wir nicht nur Verpackungen, sondern auch andere Wertstoffe aus Plastik in dieses Gesetz einbeziehen können. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Florian Pronold. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Frank Sitta. ({0})

Frank Sitta (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verschmutzung der Weltmeere durch Plastik ist ohne Zweifel eines der größten Umweltprobleme unserer Zeit und stellt uns vor eine globale Herausforderung. Hierzu hat meine Fraktion bereits im letzten Jahr einen Antrag vorgelegt. Nun also haben auch die Grünen das Thema entdeckt ({0}) und nutzen die Gelegenheit direkt, um auch uns das böse Plastik auszutreiben. ({1}) Um das Problem des Plastiks in den Weltmeeren zu lösen, müssen wir gezielt den Blick auf die tatsächlichen Ursachen und Regionen richten, aus denen derzeit Plastik in die Weltmeere gelangt. Während die Kunststoffkreisläufe in Deutschland mit über 97 Prozent fast vollständig geschlossen sind, ({2}) werden in Entwicklungs- und Schwellenländern Abfälle, die keinen oder nur einen niedrigen Ressourcenwert haben, in Flüssen entsorgt oder einfach ins Meer gekippt. So ist es nicht verwunderlich, dass 90 Prozent des Plastikeintrags in die Weltmeere über Flüsse in Asien und Afrika erfolgt. In Deutschland verstehen wir Müllentsorgung als Teil der Daseinsvorsorge und somit als staatliche Aufgabe. Zudem besitzen die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ein hohes Umweltbewusstsein. Ungeachtet dessen wird ihnen jetzt vorgespielt, dass mit dem Verzicht auf Plastiktüten, Trinkhalme oder Ohrenstäbchen die Welt gerettet werden kann. ({3}) Ich will ganz ehrlich sein: Ich warte eigentlich noch darauf, dass jemand von Ihnen, von den Grünen, hier die Plastikwende ausruft; das fehlt eigentlich noch. Es tobt bereits der Kulturkampf ums Auto. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, nutzen das Thema und fordern hier wieder einen Ihrer Greatest Hits: ein Tempolimit auf deutschen Straßen. Ich muss Sie leider enttäuschen: Nicht mit uns! ({4}) Wir Freien Demokraten verfolgen einen anderen Ansatz. Statt die Bürgerinnen und Bürger mit immer neuen Verboten, Quoten und staatlichen Abfallzielvereinbarungen zu konfrontieren, bekämpfen wir die tatsächlichen Ursachen. ({5}) Dabei setzen wir konsequent auf zwei Dinge: Erstens setzen wir auf internationale Abkommen, aber auch auf Know-how-Transfer, um Entwicklungs- und Schwellenländer in die Lage zu versetzen, Abfall fach- und sachgerecht zu entsorgen. Zweitens setzen wir auf Forschung und Erprobung innovativer Technologien: abriebfestere Reifen statt ideologisch motivierte Tempolimits, innovative Kläranlagenfilter statt Mikroplastikverbote oder innovative Kunststoffrecyclingsysteme in Schwellenländern statt pauschale Exportverbote. ({6}) So und nur so werden wir unserer Verantwortung und unserem Anspruch als Forschungs- und Industrienation gerecht. Meine Damen und Herren, das ist nachhaltig, das ist zukunftsorientiert; immer neue Verbote, Strafzahlungen und willkürlich ausgewählte Produkte, staatlich festgelegte Abfallmengen oder Quoten sind es jedenfalls nicht. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Sitta. – Nächster Redner für die Fraktion Die Linke: Ralph Lenkert. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder von an Plastiktüten krepierten Schildkröten gehen uns nicht aus dem Kopf, und jeder von uns erschrickt, wenn er die riesigen Müllstrudel in den Ozeanen sieht. Doch was folgt daraus? Wie die Strudel drehen sich Gesellschaft und Politik in Deutschland im Kreis, wenn es um Müllvermeidung geht. Wir sind sehr gut bei Recyclingquoten, aber bei der Abfallmenge eben auch. Deutschland ist leider Europameister beim Verpackungsmüll: 220 Kilogramm pro Einwohner und Jahr. 70 Prozent werden zwar recycelt; trotzdem bleiben 66 Kilogramm Abfall, und ein Teil geht über die Flüsse ins Meer. ({0}) 600 000 Kubikmeter Müll liegen auf dem Grund der Nordsee; ein großer Teil stammt aus Deutschland. ({1}) Statt auf Plastikvermeidung und Verpackungsreduzierung setzt die deutsche Industrie auf Wettbewerbsfreiheit und weniger Vorschriften. Und die Regierung? Die spart beim Vollzug, verwässert Gesetze und Grenzwerte. Und dann – scheinheilig – appelliert die Bundesregierung an die Verbraucherinnen und Verbraucher, sie mögen doch ein höheres Umweltbewusstsein entwickeln. Viele von uns trennen fleißig den Müll, bestellen aber gedankenlos online Produkte, die sie nicht selten wieder zurücksenden. ({2}) Wenn Handelskonzerne aus Logistikgründen einen USB-Stick in ein 15 mal 20 Zentimeter großes Plastikteil einschweißen, wenn ein neu gekauftes Hemd in einer Kiste kommt, in die ein Staubsauger passen würde, wenn die neue Waschmittelverpackung nur zur Hälfte befüllt ist, dann ist das Verpackungsmittelverschwendung, und diese Verschwendung kann man durch Vorschriften ändern. Selbst ein umweltbewusster Bürger hat in diesem Land keine Chance, Verpackungsmüll komplett zu vermeiden. ({3}) Verpackungen sind einfach zu billig. Auch die Appelle an die Bürgerinnen und Bürger helfen nicht, wenn einige achtlos Kippen, Abfälle und Tüten fallen lassen. Kenia, Ruanda, etliche afrikanische Länder haben Plastiktüten verboten. In Singapur warten horrende Strafen, wenn man Müll achtlos entsorgt. ({4}) Deutschland ist schon lange kein Vorbild mehr. Deswegen begrüßt Die Linke die Anträge der Grünen „Strategie gegen Plastikmüll jetzt umsetzen“ und „Verschmutzung der Meere – Plastikflut unverzüglich stoppen“ als längst überfällig. ({5}) Wir freuen uns, dass viele Forderungen der Grünen deckungsgleich mit Forderungen der Linken sind. ({6}) Wir stimmen beispielsweise überein, dass die Pfandpflicht auf alle Einwegflaschen ausgedehnt werden muss. ({7}) Wir sind der Meinung, sie muss auf alle Getränke ausgedehnt werden. Wir fordern, dass die Wertstofftonne kommunal wird. Diese Wertstofftonne erfasst dann mehr Abfälle, die Gewinne kommen den Kommunen zugute und senken die Abfallgebühren; das ist ein richtiger Schritt. ({8}) Die Zielstellung, dass wir 2030 pro Kopf und Jahr unter 10 Kilogramm Verpackungsmüll erzeugen sollen, ist vernünftig. Dafür brauchen wir auch Regelungen für mehr Mehrweg statt Einweg. All diese Forderungen unterstützt Die Linke. Zusätzlich brauchen wir stärkere Umweltbehörden: Wir brauchen Personal, das gegen illegale Müllentsorgung vorgeht. Wir brauchen Personal in Zollbehörden, die illegale Müllexporte verhindern. ({9}) Und wir brauchen auch Personal, welches das achtlose Wegwerfen ein bisschen unterbindet; denn leider ist das Bewusstsein nicht bei allen da. Und wir brauchen natürlich auch längere Nutzungszeiten für technische Geräte; das ist Ressourceneinsparung. ({10}) Als Techniker kann ich es nicht verstehen, dass man eine IKEA-Leselampe nach zwei Jahren wegwerfen muss, weil es unmöglich ist, den kaputtgegangenen Leuchtkörper zu ersetzen. So etwas muss verboten werden, ({11}) technische Geräte müssen reparierbar und upgradebar sein. Wir fordern weiter regionale Kreisläufe; das spart Transporte, das spart Reifenabrieb. Und wenn hier jemand sagt, er will die Reifen härter machen, dann soll er einmal einen Autoexperten in seiner Fraktion fragen, was der dazu sagt. Dann verlängert sich nämlich der Bremsweg. Wenn bei härteren Reifen der Bremsweg gleich lang bleiben soll, dann müssten Sie über ein Tempolimit auf den Autobahnen nachdenken. Das wollen Sie nicht. Also lassen Sie uns zumindest die Transportmengen reduzieren; dann haben wir auch etwas gegen den Reifenabrieb getan. ({12}) Ich kann auch nicht verstehen, warum man in der Bundesrepublik kein Verbot von Tüten durchsetzen kann wie in Ruanda oder Kenia. Sind wir denn so viel unfähiger, Ersatz dafür zu finden, als diese afrikanischen Länder? Das sollte uns doch möglich sein. Wir sind schließlich ein Hochtechnologieland. ({13}) Natürlich sind wir der Meinung, dass wir keinen Müll mehr ins Ausland exportieren dürfen. Müll, der hier anfällt, muss hier beseitigt und entsorgt werden. ({14}) Statt Müll zu exportieren, sollten wir Recyclinganlagen und Entsorgungssysteme in Entwicklungsländer und andere Länder liefern. Das schont die Umwelt und schützt unsere Meere. ({15}) Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Umweltschäden treffen immer zuerst die, die am wenigsten dafür können. Die Meeresverschmutzung trifft Wasserlebewesen wie Fische und Meeressäuger, anschließend Fischer. Die Menschen in den ärmsten Ländern können sich dann Fisch nicht mehr leisten. In Folge steigen die Preise, es gibt Hunger und Flucht. Wir alle kennen die negativen Folgen der Politik, die die Plastikflut nicht eindämmt. Wir alle – fast alle – finden, es ist an der Zeit, zu handeln. Diese Zeit ist gekommen. Deswegen bitte ich Sie, die Anträge der Grünen zu unterstützen. Und ich bitte die Union – und Sie, Frau Dött –: Verlassen Sie den Kreisel der Selbstzufriedenheit mit dem Erreichten und das Verstecken hinter international notwendigen Vereinbarungen! Handeln Sie hier in unserem Lande; es ist bitter nötig. Vielen Dank. ({16})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ralph Lenkert. – Nächster Redner: Björn Simon für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Björn Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Etwas Positives hat das Thema ja: Anscheinend sind wir hier im Haus einer Meinung darüber, dass Plastikmüll in unseren Meeren nichts zu suchen hat. Trotzdem debattieren wir hier über eines der größten globalen Probleme unserer Zeit. Wir alle kennen die Videos und Fotos von Stränden auf der ganzen Welt, die im Plastikmüll versinken. Ein über 1 Million Quadratkilometer großer Müllteppich treibt in unseren Ozeanen; das entspricht der Fläche von Ägypten. Selbst in den entlegensten Regionen – das wurde schon gesagt –, selbst in der Arktis wird man fündig. Daran sehen wir doch, dass unser Wissen über das gesamte Ausmaß der globalen Umweltverschmutzung durch Plastikmüll begrenzt ist. Uns fehlen gesicherte Kenntnisse über die Herkunft von Kunststoffen in den Meeren, deren Verhalten in Meeren, in Binnengewässern, aber auch im Boden sowie über die Auswirkungen auf Menschen, Tiere und die Pflanzenwelt. In der Folge beauftragen wir die Forschung nicht nur – das wurde auch schon richtig gesagt –, um mehr über die Dimensionen der Vermüllung an sich zu erfahren, sondern auch, um konkret Gegenmaßnahmen zu entwickeln, um Plastikeinträge in die Umwelt substanziell zu verringern. Eines der größten Forschungsprojekte weltweit in diesem Bereich trägt den Titel „Plastik in der Umwelt – Quellen, Senken, Lösungsansätze“ und wird bereits seit Oktober 2017 durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit rund 35 Millionen Euro gefördert. ({0}) Damit trägt Deutschland dazu bei, die biologische Abbaubarkeit bestimmter Kunststoffe signifikant zu verbessern, sodass ein vollständiger Abbau ohne Gefährdung für Umwelt und Gesundheit erfolgen kann. Aber: Die Vermüllung der Weltmeere ist globalen Ursprungs. Meeresströmungen, Gezeiten, Winde tragen naturgemäß dazu bei, dass sich Plastikabfall weltweit verteilt. Einzelne Staaten alleine haben beim Kampf gegen die Vermüllung keine Chance. Die europäische Plastikstrategie ist an dieser Stelle ein sehr wichtiger Schritt. Natürlich gibt es umweltschonendere Alternativen zu Einweggeschirr, Plastikbesteck oder beschichteten Pappbechern. Es bringt uns jedoch nicht weiter, einen europäischen Wettlauf um Produktverbote zu starten, um einzelne Produkte zu verbieten. Unsere Aufgabe ist es, Anreize zu schaffen. Was wir brauchen, sind ökologisch bessere und für den Verbraucher auch bezahlbare Alternativen, damit er oder sie sich beim nächsten Einkauf auch entscheiden kann. ({1}) Liebe Grüne, wir brauchen uns übrigens beim Umweltschutz nicht zu verstecken. Deutschland nimmt in vielen Bereichen eine Vorreiterrolle ein; wir sind ganz vorne mit dabei. ({2}) Das hören Sie zwar nicht gerne; aber auf diese Vorreiterrolle dürfen wir ruhig auch einmal stolz sein.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung von Herrn Krischer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Björn Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Krischer, bitte. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, Sie haben gerade gesagt, Deutschland hätte eine Vorreiterrolle. Eben gab es auch schon Bemerkungen, zum Beispiel von Herrn Sitta, 97 Prozent des verwendeten Plastiks befänden sich im Recyclingkreislauf. Ich habe eine aktuelle Studie des Wuppertal Institutes gelesen, zu der es keinen Widerspruch aus dem Umweltministerium gab. Darin kommt man zu dem Ergebnis, dass 94 Prozent des bei uns eingesetzten Plastiks entweder verbrannt oder exportiert wird – im Moment im Wesentlichen nach Malaysia; wo es dann landet, kann man sich ja vorstellen – ({0}) und nur 6 Prozent tatsächlich recycelt werden. Meine Frage an Sie: Wie können Sie angesichts dieser Tatsache, dieser eindrucksvollen Zahlen hier behaupten, dass Deutschland ein Vorbild beim Thema „Umgang mit Plastik“ ist? Das würde ich einfach mal gerne hören. ({1})

Björn Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege, ich kann das unterstreichen, was der Kollege Sitta schon gesagt hat. Gerade bei PET-Flaschen besitzen wir eine Vorreiterrolle, und das international gesehen. Die Ziele, die die Europäische Union jetzt für die nächsten Jahre fordert, übertreffen wir schon heute über die Maßen. ({0}) Wir sind bei einer Recyclingquote von 98 Prozent. ({1}) – Doch. Natürlich widersprechen sich verschiedene Studien; wir können uns gerne zusammensetzen und die verschiedenen Studien übereinanderlegen. Aber jetzt hier eine Studie zu nennen, die das Gegenteil beweisen soll, ist nicht fair, nein. ({2}) Also noch einmal: Unser Pfandsystem für Mehrwegflaschen ist weltweit einmalig. Unsere Verpackungsverordnung ist Grundlage für ein sehr effizientes System der flächendeckenden Sammlung, des Verwertens und des Recyclings. Wir arbeiten stetig daran, die Kreislaufwirtschaft weiterzuentwickeln und den Kreislauf weiter zu schließen, um durch recyclingfähiges Design, effizienten Materialeinsatz, verstärkten Recyclingeinsatz und umfassende Sortiersysteme auf Plastik zu verzichten. Am Ende muss gelten: Vermeiden ist besser als Wiederverwenden, Wiederverwenden ist besser als Recycling, und Recycling ist besser als Verbrennen. Genau dieses Bewusstsein im Umgang mit Kunststoffmüll fehlt den meisten Schwellen- und Entwicklungsländern; sie verfügen schlicht über kein Entsorgungssystem, teilweise weil sie es nicht besser wissen, teilweise weil sie andere Prioritäten setzen. Als Deponien dienen oftmals Flüsse. ({3}) Dem Kollegen von den Linken, der gerade gesagt hat, dass in Deutschland viel Abfall und viel Plastik in den Flüssen landet, kann ich nur sagen: Das ist in den großen Industrienationen, gerade in Asien, aber auch in afrikanischen Staaten, der Fall. Der Abfall wird ins Meer gespült, wo sich dieser durch die Meeresströmung weiter verteilt. Hier müssen wir ansetzen. Liebe Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, mit den vorliegenden Anträgen machen Sie es sich in unseren Augen viel zu einfach, nicht nur, dass die beiden Anträge in ihrer Grundforderung quasi deckungsgleich sind. ({4}) Mit dem umfangreichen Maßnahmenkatalog werden Sie Ihrem Ruf als Verbots- und Regulierungspartei leider wieder einmal gerecht. Dabei übersehen Sie die vielen positiven Entwicklungen und Anstrengungen in unserem Land in Gänze. Bestehenden und gerade anlaufenden Maßnahmen geben Sie erst gar nicht die Chance, ihre Wirkung zu entfalten. ({5}) Was mich dann doch sehr irritiert und sogar verärgert hat bei der Lektüre Ihrer beiden Anträge, vor allem bei der Lektüre des Antrags „Strategie gegen Plastikmüll jetzt umsetzen“, ist: Hier fordern Sie eben mal so unter Punkt 17, „ein deutschlandweites Tempolimit auf Bundesautobahnen einzuführen“, ({6}) was der Debatte widerspricht. Unter dem Deckmantel der Plastikvermüllung der Weltmeere wird hier wieder einmal versucht, das Autofahren in Deutschland unattraktiver zu machen und den Menschen in ihrem Land vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten haben.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Björn Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist nicht die Art und Weise meiner Fraktion, mit den Menschen in unserem Lande umzugehen. Wir bauen auf eine funktionierende Kreislaufwirtschaft, eine ausgedehnte Forschung und eine zielgesteuerte Entwicklungshilfe. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Simon. – Nächster Redner in der Debatte: Andreas Mrosek für die AfD-Fraktion. ({0})

Andreas Mrosek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004827, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Hohes Haus! Die Verschmutzung der Meere mit Plastik ist eine globale Katastrophe. Es wäre schön, wenn Politiker weltweit dieses Problem anpacken würden. Die AfD unterstützt alle Initiativen zum Schutz der Umwelt, wenn diese auch wirklich sinnvoll sind. ({0}) Der Plastikmüll im Meer ist aber kein neues Problem. Als Seemann habe ich schon in den 80er-Jahren feststellen müssen, dass die Weltmeere wie eine gebührenfreie Müllkippe behandelt werden. ({1}) Ich war erschüttert, als ich mit eigenen Augen sehen musste, wie verschmutzt die Flüsse und Seegebiete in anderen Regionen der Welt sind. Das liegt bereits einige Zeit zurück; aber in vielen Regionen ist es noch schlimmer geworden. Seit 40 Jahren berichten die Medien über die Verschmutzung der Ozeane. Im Jahr 1988 haben deutsche Meeresbiologen auf den Plastikmüll in der Nordsee aufmerksam gemacht. Der große Pazifik-Müllfleck ist ein gigantischer Strudel aus treibendem Plastik; er wurde bereits 1997 entdeckt. Die Meere leiden – das können Sie mir glauben – an unterlassener Hilfeleistung, und zwar weltweit. ({2}) Was haben Sie hier im Haus in den letzten 20 Jahren gegen diese Verschmutzung der Meere unternommen? Der Antrag der Grünen bezieht sich auf Deutschland und die EU. Die Europäer sind aber nur für circa 2 Prozent des Plastikmülls in den Weltmeeren verantwortlich. Circa 80 Prozent des weltweiten Plastikmülls werden aus zehn Flüssen in die Weltmeere geschwemmt; acht dieser Flüsse sind in Asien, vier davon in China. In vielen Ländern Asiens sind für große Teile der Bevölkerung nur Produkte aus Plastik bezahlbar. Man kennt das aus Thailand: Schuhe aus Plastik, Möbel aus Plastik, Jacken, Geschirr aus Plastik – alles aus Plastik. Gleichzeitig gibt es dort keine geregelte Müllentsorgung, wie wir sie in Europa kennen. Der Müll landet dann in den Flüssen oder auf dem Festland. Und genau diese Zustände können wir von Berlin aus nicht ändern. ({3}) Ein positives Beispiel für internationale Zusammenarbeit ist die Handelsschifffahrt. Alle Schiffe führen mittlerweile Tagebuch über Müllabgaben entsprechend den Vorschriften der International Maritime Organization, kurz IMO. Jedes Einleiten von Müll mit umweltschädlichen Stoffen ist verboten und wird strengstens bestraft. Mehr kann man in der Seeschifffahrt momentan auch nicht tun. Ein noch ungelöstes Problem sind jedoch Zehntausende von Fischerbooten in allen Küstenländern der Erde. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des Plastikmülls stammt aus der Fischerei. Meine Damen und Herren, eine Welt ohne Kunststoffe ist nicht vorstellbar. Es gibt aber Lösungsansätze. Wir brauchen neue Kunststoffe, die sich im Wasser oder durch UV-Strahlung zersetzen. Solche Kunststoffe gibt es bereits, aber sie sind im Vergleich mit Erdölprodukten noch zu teuer. Wir brauchen hierzu eine gezielte Forschung, damit die langlebigen Kunststoffe aus Erdöl schnellstens ersetzt werden können. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Andreas Mrosek. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Michael Thews. ({0})

Michael Thews (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004424, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Plastikmüll im Meer, das ist eine globale Herausforderung, das ist eine Gefahr für unsere Ökosysteme, für Tiere, für Menschen, für unseren Planeten. Deswegen macht es mich auch wütend – das wurde vorhin schon angesprochen –, dass wir Hausmüll auf einer Deponie in Malaysia wiederfinden. Ich will das an dieser Stelle einmal ganz klar sagen: Das darf nicht sein. Solche Dinge müssen wir beenden. ({0}) Nun gibt es aber auch ganz klare Gesetze. Es wurde gerade schon angesprochen: Wir haben das Basler Übereinkommen, wir haben die Abfallverbringungsverordnung, und die klären, was überhaupt in andere Länder transportiert werden darf. Darin steht, dass man Kunststoffabfälle transportieren darf. Diese müssen aber sauber sein; es müssen saubere Fraktionen sein. Man muss sich aber auch mit der Frage auseinandersetzen, ob diese Länder in der Lage sind, diese Abfälle zu entsorgen. Diese Regelungen haben wir heute schon. Der Vollzug ist durch die Länder zu regeln. Wenn die Grünen hier jetzt ein Moratorium fordern, dann sage ich: Lassen Sie uns doch eine Initiative starten, damit in den Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen, diese Kontrollen durchgeführt werden. Firmen müssten dann Verträge vorlegen, wenn sie Abfälle ins Ausland bringen. Sie müssten klarstellen, dass diese Abfälle gereinigt sind und dass sie dort entsorgt werden. Lassen Sie uns doch eine solche Initiative starten! Dann brauchen wir das Moratorium nicht. ({1}) Wir haben in der letzten Legislaturperiode das Verpackungsgesetz verabschiedet, das jetzt in Kraft getreten ist. Sie haben leider dagegen gestimmt. Ich fand das damals sehr schade; denn Sie haben damit gegen stärkere Recyclingquoten gestimmt. Das Verpackungsgesetz sieht eine klare Kennzeichnung von Mehrweg und Einweg im Regal vor. Der Verbraucher kann also entscheiden, ob er Mehrweg oder Einweg will. Auch dagegen haben Sie gestimmt. Die Rechte der Kommunen wurden gestärkt; denn sie können die Einführung der Wertstofftonne jetzt gegen die dualen Systeme durchsetzen. Das steht in Ihrem Antrag, ist aber auch Bestandteil des Verpackungsgesetzes. Wir haben die Zentrale Stelle Verpackungsregister ins Leben gerufen, die Kontrollen durchführt. Inzwischen liegen bei der Zentralen Stelle Verpackungsregister schon mehr als 120 000 Anmeldungen von Inverkehrbringern von Verpackungsabfällen vor. Das gab es vorher nicht. Vorher waren nur halb so viele bekannt. Wir wissen jetzt überhaupt erst einmal, wer Verpackungen in Umlauf bringt. Diese Firmen zahlen eine Lizenzabgabe, und die wird jetzt ökologisch. Das heißt: Derjenige, der Materialen in Umlauf bringt, die nicht recycelbar sind, zahlt mehr als derjenige, der Materialien in Umlauf bringt, die gut recycelbar sind. ({2}) Das hat Auswirkungen. Herr Lenkert hat gesagt, wir sollten uns nicht ausruhen. Nein, wir müssen beobachten, was jetzt passiert. Die Industrie investiert wieder in bessere Sortier- und Recyclinganlagen. Das ist lange Zeit in Deutschland nicht geschehen. Auf der Grünen Woche habe ich gesehen, dass die Handelskonzerne jetzt anfangen. Jeder merkt das ja in seinem Laden vor Ort: Es gibt jetzt Netze, in die ich mein Gemüse packen kann. Es gibt Produkte, die per Laser gekennzeichnet werden, damit sie nicht mehr in Plastikfolie eingeschweißt werden müssen. Das sind gute Entwicklungen, die auch durch das Verpackungsgesetz in Gang gebracht wurden. ({3}) Das Ganze geht noch weiter. Wir werden dieses Jahr die größte Kunststoffmesse in Deutschland haben. Auch die Hersteller von Extrudern, die Kunststoffprodukte herstellen, stellen sich auf recyceltes Material ein. Das heißt, dass das, was wir wollen, nämlich dass diese Materialien im Umlauf bleiben, dass sie recycelt werden, viel stärker stattfindet. Wir werden im Auge behalten, ob das, was wir jetzt in Gang gesetzt haben, wirkt. Wir werden das kontrollieren und gegebenenfalls auch nachschärfen. ({4}) In der EU – wir haben es gerade gehört – kommt jetzt die Einwegplastikrichtlinie. Es ist gut, dass die EU das macht. Ich finde das genau richtig; denn es gibt genügend Alternativen zu diesen Produkten, und die sollten wir dann auch nutzen. Lange wurde Deutschland zum Beispiel für die Pfandpflicht belächelt. Mittlerweile wird anerkannt, dass wir dort den richtigen Weg gehen. Aber natürlich wird das nicht reichen. Wir brauchen auch internationale Initiativen – Barbara Hendricks wird gleich noch einiges dazu sagen –, weil wir wissen, dass gerade im asiatischen Raum viele Länder große Mengen an Plastik in die Weltmeere emittieren. Ich bin sehr froh, dass wir im Haushalt 50 Millionen Euro bereitgestellt haben, um die Bekämpfung des Plastikmülls in den Weltmeeren voranzutreiben. Ich glaube, es geht in die richtige Richtung, wenn wir auf internationalen Konferenzen weiter daran arbeiten. Viele Kollegen haben ja damals an der Ocean Conference in New York teilgenommen. Es war sehr gut, dass viele Länder dort freiwillige Vereinbarungen getroffen haben. Mehr als 1 300 Selbstverpflichtungen wurden auf dieser Konferenz eingegangen. Ein guter Weg! Deutschland muss dort Vorbild sein; das sehe ich genauso. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten. Genau das werden wir auch in Zukunft tun. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Thews. – Nächste Rednerin für die FDP-Fraktion: Judith Skudelny. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über zwei Anträge der Grünen. Der erste Antrag behandelt das Problem auf nationaler bzw. europäischer Ebene. Der zweite Antrag behandelt die Verschmutzung der Weltmeere. Der erste Antrag enthält viele Punkte, die ich als Humbug bezeichnen würde. Ich möchte heute meine Redezeit darauf verwenden, mich dem wichtigen Thema der Verschmutzung der Weltmeere mit Plastik zu widmen. Sie haben mit Ihrer Darstellung den Istzustand wirklich gut getroffen: Die Weltmeere werden als globale Müllhalde missbraucht. Sie haben das wunderschön dargestellt. Das hat Konsequenzen für die Natur, und es hat natürlich auch Konsequenzen für den Menschen. Was ich nicht nachvollziehen und auch nicht verstehen kann, ist: Warum stellt eine Partei den Istzustand so gut dar und versagt vollkommen bei der Analyse der Probleme? ({0}) Tatsächlich ist es so, dass Europa nach den von Ihnen zitierten Studien gerade mal für 1 Prozent der jährlichen Emissionen von Plastik in den Weltmeeren verantwortlich ist. ({1}) Die Regionen China, Südostasien und Afrika sind für rund 90 Prozent verantwortlich. Das wird im ganzen Antrag nicht ein einziges Mal erwähnt. ({2}) Wer sich nicht traut, die Probleme zu benennen, wird es nicht schaffen, diese Probleme zu lösen. Dabei sind die Probleme klar. Übrigens ist auch in der Fachwelt völlig klar, wo das Problem liegt. Auch der WWF hat in seiner neuesten Studie das Problem ganz deutlich benannt. Der wichtigste Faktor dafür, dass Plastik in die Weltmeere kommt, ist, dass in den Schwellen- und Entwicklungsländern entweder nur mangelhafte oder gar keine Abfall­entsorgungssysteme sind ({3}) und die Menschen deswegen ihren Müll in die Flüsse und die Meere verbringen. ({4}) Wenn man dieses Problem ernsthaft lösen will, dann muss man bei einer nachhaltigen Finanzierung der Abfallentsorgungssysteme in diesen Ländern ansetzen. Da gibt es neue, innovative Ansätze. Nehmen wir das Unternehmen „The Plastic Bank“ auf Haiti. Da werden Plastik­artikel im Blockchainverfahren gekennzeichnet und mit einem Wert belegt, sodass es sich lohnt, das Plastik zu sammeln, anstatt es wegzuwerfen. ({5}) Damit kann eine nachhaltige Finanzierung der Abfallentsorgungssysteme in den Schwellen- und Entwicklungsländern erreicht werden. ({6}) Das ist ein innovativer technischer Ansatz, der zehnmal mehr bringt als alles, was Sie in Ihrem Antrag vorgeschlagen haben. ({7}) Ich möchte es noch mal sagen: Wer nicht den Mut hat, die Probleme zu benennen, hat nicht die Kraft, Lösungen zu schaffen. Dass unsere Ideen zum Schutz der Meere origineller, mutiger und global wirksamer sind, sollte gerade Ihrer Partei zu denken geben. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Frau Skudelny. Ich war jetzt ein bisschen überrascht, weil Sie früher aufgehört haben, aber das macht nichts. Nächste Rednerin in der Debatte: Dr. Bettina Hoffmann für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Bettina Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben jetzt eine Menge darüber gehört, was in Deutschland gegen Plastikvermüllung gemacht wird. Das Problem wächst auch hier, und wenn wir diese Art von Konsum nicht endlich drastisch einschränken, wird es für uns unlösbar. Wenn wir weitermachen wie bisher, wird sich der Müllberg bis 2050 vervierfachen, und zwar von 6 Millionen Tonnen auf 25 Millionen Tonnen. Es ist schon jetzt so, dass pro Minute ein Lkw Richtung Meer fährt und diesen Dreck darin ablädt. Diese Zahlen stimmen. ({0}) – Insgesamt betrachtet. ({1}) Sie müssen zugeben, dass Deutschland bei der Vermeidung von Verpackungsmüll das Schlusslicht in Europa ist. Sie müssen auch langsam zugeben, dass Ihre Recyclingquoten schöngerechnet sind; das ist Ihnen x-mal nachgewiesen worden. ({2}) Was aber viel wichtiger ist: Sie missachten das Grundprinzip der Abfallgesetzgebung. ({3}) Das erste Ziel ist nämlich immer die Vermeidung. Die Regierung lässt den ernsten Willen vermissen, dieses Thema anzugehen. Liebe FDP, Sie haben keine Vorschläge vorgelegt. Sie haben Ihren Antrag noch nicht in aller Ernsthaftigkeit eingebracht. ({4}) – Der liegt noch bei Ihnen. Der ist so schlecht, dass Sie ihn noch gar nicht eingebracht haben. ({5}) – Wenn Sie das originell und gut finden: wunderbar. ({6}) Wir machen auf jeden Fall konkrete Vorschläge: Erstens. Setzen Sie endlich ehrgeizigere Ziele! Halbieren Sie den Verpackungsmüll bis 2030 auf 110 Kilo pro Kopf! Das ist machbar. Zweitens. Kümmern Sie sich dringend um das viele Einwegplastik, das nicht vom EU-Verbot betroffen ist! Das Beispiel Einwegkaffeebecher zeigt: Hier ist noch viel zu tun. ({7}) Die Bundesregierung will nur Styroporbecher verbieten. Doch schon heute ist klar, dass die meisten Coffee-to-go-Becher aus Papier bestehen, das mit Plastik beschichtet ist. Wenn wir etwas bewirken wollen, dann brauchen wir eine Einwegabgabe. Drittens. Machen Sie etwas für den Verbraucherschutz und gegen die Müllberge! Verbieten Sie Schummelverpackungen. Es ist unsäglich, dass noch immer erlaubt ist, mehr Luft als Produkt in die Verpackung zu tun.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie bitte an die Redezeit?

Dr. Bettina Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Letzter Satz. – Viertens. Stellen Sie das Verpackungsgesetz scharf! Entwickeln Sie Lizenzentgelte zur Ressourcenabgabe! Die Hersteller brauchen den Anreiz, bei unnötiger Verpackung einzusparen. Alles ist machbar. Sie haben den Rückhalt der Bevölkerung. Schauen Sie sich einmal an, wie viele Initiativen es in Deutschland gegen die Vermüllung mit Plastik gibt. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Bettina Hoffmann. – Nächster Redner: Matern von Marschall für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, verehrte Frau Präsidentin. – Es ist viel gesagt worden über die nationalen Verpflichtungen, die sich aus diesem großen Thema ergeben. Ich möchte als Entwicklungspolitiker und auch als Mitglied des Nachhaltigkeitsbeirats ein wenig auf die internationalen Pflichten, die Deutschland in diesem Bereich hat, eingehen; Kollege Thews, wir waren ja gemeinsam auf der Ocean Conference. Das Thema, Kollegin Hendricks, ist im Wesentlichen unter Ihrer Arbeit in den globalen Fokus geraten, zum einen durch den G-7-Gipfel auf Schloss Elmau, zum anderen durch Aufnahme in die globalen Nachhaltigkeitsziele unter Punkt 14 und schließlich auch durch die G-20-Präsidentschaft Deutschlands. Die internationale Gemeinschaft ist also auf einem guten Weg, diese wesentliche Aufgabe gemeinsam zu lösen. Auch unser Entwicklungsministerium ist im Augenblick dabei, eine die unterschiedlichen Akteure einbeziehende Aktion insbesondere in den Schwellen- und Entwicklungsländern auf den Weg zu bringen, die – das ist hier bereits gesagt worden – für etwa 80 Prozent der Einträge in die Meere verantwortlich sind. Ich denke, Deutschland hat viele gute Chancen, dort einen Beitrag zu leisten. Wir haben, was die Administration angeht, hervorragende Erfahrungen. Wenn wir von einem Multiakteur­ansatz ausgehen, müssen wir einerseits die Verwaltung, insbesondere die kommunale Verwaltung, einbeziehen, andererseits aber auch die Wirtschaft. Wir haben in Deutschland einige der weltweit führenden Recyclingunternehmen, von denen ich aus Gesprächen weiß, dass sie sehr wohl bereit wären, ihre unternehmerische Expertise in die Schwellen- und Entwicklungsländer zu tragen. Das sollten sie, wie ich glaube, auch in Zukunft machen. Dazu braucht es aber vielleicht Zuschüsse, um einen Anreiz für diese Investitionen zu setzen, die vielleicht auch aus dem Haushalt des BMZ zu bestreiten sind. Was aber wichtiger ist: Es muss auch eine Risikoabsicherung geben. Ich meine, solche Investitionen müssen durch Hermesbürgschaften abgesichert werden. ({0}) Dann, glaube ich, können wir mittelfristig eine diese zehn größten Flussläufe betreffende deutliche Minderung der Einträge erzielen. Ich glaube, das ist der wesentliche Weg. Deutschland kann durch das, was man allgemein „Good Governance“ und „Capacity building“ nennt, also durch die administrative Stärkung, einen Beitrag leisten. Da ist natürlich die GIZ der wesentliche Arm, der da helfen kann. Es kann vor allen Dingen aber mit seiner hervorragenden Wirtschaft einen Beitrag leisten, die in diesem Bereich Weltmarktklasse und auch Weltmarkführerschaft hat. Eines will ich zum Abschluss sagen: Wir haben auch im Bereich der erneuerbaren Energien Weltmarktführerschaft durch eigene Investitionen erreicht und können diese Technologie nun zu Marktpreisen in die Weltmärkte exportieren. Ich finde, das ist etwas, was wir durchaus auch im eigenen Interesse sehen dürfen, wenn es gleichzeitig dem gemeinsamen, dem globalen Ansatz nützt. Denn dadurch können wir dieses gewaltige Problem, welches gegenwärtig eben die Verschmutzung der Meere ist, gemeinsam lösen. Dafür möchte ich werben. Ich hoffe, dass wir das fraktionsübergreifend auf den Weg bringen können. Herzlichen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Matern von Marschall. – Nächster Redner: Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Reduzierung von Plastik begrüße ich ebenso sehr wie das sinnvolle Ersetzen von Einwegprodukten durch Mehrwegprodukte. Als jemand, der selber sehr viele Tiere hält, macht es mich jedes Mal sehr, sehr betroffen, wenn ich die Bilder sehe, auf denen sich die Tiere nicht nur verfangen, sondern sogar deformiert haben. Mit dem vorliegenden Antrag gehen die Grünen wieder einmal global aufs Ganze. Und ja, es ist völlig richtig, dass sich Deutschland in der Staatengemeinschaft führend für einen verantwortungsvollen Ressourceneinsatz und für sinnvolles Recycling einsetzt. Aber bleiben wir vor der Haustür und vergleichen einmal Worte und Taten: Nicht weit von Berlin gibt es einen Tragetaschenhersteller, der kompostierbare Tragetaschen anbot. Diese waren nach entsprechender DIN zertifiziert und erfüllten alle benötigten EU-Kriterien zur Kompostierung. Dennoch startete ein außerparlamentarischer Arm unserer grünen Fraktionskollegen, nämlich die DUH, eine Kampagne gegen diese Tüte, sodass die beiden größten Kunden des Herstellers, Aldi und Rewe, absprangen und die Tüte aus dem Programm nahmen. Der Hersteller verklagte daraufhin die Umwelthilfe aufgrund seiner Umsatz- und Imageverluste – und verlor. In letzter Instanz im letzten Frühjahr lieferte das Gericht die abenteuerliche Begründung, DUH-Chef Resch könne nicht am Maßstab journalistischer Sorgfalt gemessen werden, weil die DUH eben kein Presseunternehmen sei und Resch kein Journalist. Das heißt im Klartext: Der Wahrheitsgehalt der Kampagne spielt überhaupt keine Rolle mehr, ebenso wenig, dass völlig unstrittig war, dass diese Tüte alle Kriterien erfüllte und entsprechend zertifiziert war. Nein, Resch führte aus, man habe Kompostierungsanlagenbetreiber gefragt, wie sie diese Tüte später behandeln, und da hätten 98 Prozent geantwortet, dass es keine separate Kompostierung dafür gäbe – so weit wären sie noch nicht – und sie diese wie alle anderen Taschen der Verbrennung zuführen. Das muss man erst einmal sacken lassen. Das ist ein tolles Beispiel dafür, wie umweltbewusstes Engagement von selbsternannten ökologischen Marktüberwachern regelrecht verhindert wird. Denn mit der Kompostierung sind wir heute, knapp ein Jahr später, nicht wirklich weiter. Aber jetzt gibt es plötzlich über 20 solcher Anbieter auf dem Markt in Europa, und gestern Abend haben wir hier erleben dürfen, wie die Grünen allen Ernstes beantragten, dass man solchen Organisationen nicht eingehend auf den Zahn fühlen sollte. Das wirft dann zwangsläufig die Frage auf, ob es Ihnen wirklich um ambitionierte globale Ziele geht oder doch nicht einfach nur schlicht um Lobbyismus. Vielen Dank.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächste Rednerin: Dr. Barbara Hendricks für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will kurz auf die internationalen Aspekte unseres Themas eingehen; auch Sie haben dies schon getan, Herr Kollege von Matern. Die Meeresvermüllung ist sicherlich als eines der großen weltweiten Probleme im allgemeinen Bewusstsein angekommen. Umso erstaunlicher ist es, dass sich die internationale Staatengemeinschaft tatsächlich erst seit etwa dreieinhalb Jahren, nämlich seit dem Jahr 2015, auf unsere Initiative hin zum ersten Mal überhaupt mit dem Thema befasst. Wir haben das in der G 7 als eines der wesentlichen Themen auf die Tagesordnung gesetzt. Infolgedessen hat es zwei Jahre später die erste UNO-Konferenz zu diesem Thema gegeben, die UN Ocean Conference in New York 2017, die der Kollege schon angesprochen hat. Ja, die damaligen Staats- und Regierungschefs haben sich 2015 verpflichtet, dem Problem ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Klar war aber, dass damit noch längst nicht alles erledigt ist. Infolgedessen haben wir das in unserer G-20-Präsidentschaft zwei Jahre später, im Jahr 2017, wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Das ist insbesondere deswegen wichtig – es wurde eben darauf hingewiesen –, weil gerade aus Entwicklungs- und Schwellenländern ein großer Eintrag dieses Mülls in die Meere erfolgt. Eigentlich ist es für uns alle erfreulich, dass in den Schwellenländern langsam, aber sicher Wohlstand und damit natürlich auch der Konsum wächst. Die Müllentsorgungs- oder Recyclingsysteme sind aber nicht in gleicher Weise mitgewachsen. Das ist der entscheidende Grund dafür, dass wir jetzt im Kreis der G 20 langsam, aber sicher vorankommen. Da sind alle Schwellenländer vertreten, und es ist entscheidend, dass dort anerkannt wird, wie wichtig dieses Thema ist. Die Staats- und Regierungschefs haben im Jahr 2017 einen G-20-Aktionsplan zum Meeresmüll verabschiedet und ihren Willen zum Schutz der Meeresumwelt bekräftigt. Der Aktionsplan behandelt den landseitigen wie auch den seeseitigen Eintrag von Müll in die Meere, konzentriert sich auf Maßnahmen zur Abfallvermeidung, zum Abfallmanagement und zur Ressourceneffizienz und bezieht dabei auch sozioökonomische Aspekte wie Bewusstseinsbildung und Forschung mit ein. Das heißt, an dieser Stelle haben die wichtigsten Akteure das seit dem Jahr 2017 als ihre Aufgabe anerkannt. Jetzt sind wir noch einen Schritt weiter. In diesem Jahr, vom 11. bis 15. März, findet in Nairobi die UN-Umweltkonferenz statt, die sich unter anderem auch mit diesem Thema auseinandersetzen wird. Es ist natürlich nicht das einzige Thema, aber sie wird sich auch dem Thema Meeresmüll nähern. Dieser UN-Umweltkonferenz liegt ein Resolutionsentwurf von Norwegen und Sri Lanka vor, in dem sie fordern, dass die Staatengemeinschaft prüfen möge, ob es machbar und effizient ist, eine rechtlich bindende internationale Vereinbarung zu Meeresmüll und Mikroplastik auf den Weg zu bringen. Damit ist eine solche Entscheidung noch nicht gefallen. Aber es ist sinnvoll, dass die internationale Staatengemeinschaft prüft, ob wir ein rechtlich bindendes Übereinkommen in die Wege leiten sollen. Ich denke, die Bundesregierung wird sich sicherlich aktiv an dieser Prüfung beteiligen. Ich bin jedenfalls sicher, dass die Koalitionsfraktionen an ihrer Seite stehen. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Barbara Hendricks. – Letzte Rednerin in dieser Debatte: Astrid Damerow für die CDU/CSU-Fraktion. Frau Kollegin, Sie haben das Wort. ({0})

Astrid Damerow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004699, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nun bin ich die letzte Rednerin nach einer Stunde, und wir haben eine Vielzahl an Programmen und Initiativen von der Regierung bzw. den Regierungsfraktionen vorgetragen bekommen. Das zeigt ganz deutlich, dass es mitnichten so ist, dass nichts getan wird. Die beiden Anträge der Grünen-Fraktion erwecken nämlich genau diesen Eindruck. Sie tun ja gerade so, als hätte diese Bundesregierung in den letzten zehn Jahren die Hände in den Schoß gelegt und sich um das Thema „Plastik in unseren Meeren“ schlicht nicht gekümmert. ({0}) Das Gegenteil ist doch der Fall, sowohl international als auch auf europäischer, nationaler und auch regionaler Ebene. Allein durch die dramatische Schilderung des Zustandes kommen Sie einer Lösung kein Stück näher. Es ist Ihr gutes Recht als Opposition, Probleme möglichst deutlich und auch möglichst krass darzustellen. Das ist ein probates politisches Mittel. Aber es ist auch unser Recht, darauf hinzuweisen, wie viel wir hier bereits getan haben und auf wie vielen Ebenen diese Bundesregierung in den letzten Jahren bereits tätig war. ({1}) Es ist vollkommen unbestritten, dass wir noch nicht da sind, wo wir hinkommen müssen. Aber wir alle – auch Sie von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – wissen: Es erfordert Geduld, bis wir Maßnahmen im Umweltbereich, die wir heute ergreifen, ({2}) anhand von Ergebnissen messen können. Das gilt auch für die Maßnahmen, die schon etwas älter sind. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist: Wir können nicht immer die Institutionen, Verbände und Unternehmen mit Verboten überziehen, die wir auf der anderen Seite brauchen, um ein Problem zu lösen. Es ist wesentlich sinnhafter, wenn wir uns darauf konzentrieren, bei all diesen Akteuren einen Bewusstseinswandel herbeizuführen. Dass dies durchaus bereits der Fall ist, zeigt die Initiative von 30 Konzernen, unter denen übrigens auch deutsche Unternehmen sind. Sie haben eine Globale Allianz gegen Kunststoffabfall gebildet und investieren1,3 Milliarden Euro, um Themen wie Recycling, Wiederverwertung, Reinigungsaktionen und Bürgerinformation in Entwicklungs- und Schwellenländern anzugehen. ({3}) Insofern möchte ich schon darauf hinweisen, dass es zu einfach ist, hier ständig nur Schwarz und Weiß oder Gut und Böse zu postulieren. Wir müssen vielmehr partnerschaftlich mit allen zusammenarbeiten. Das gilt auch für den Tourismussektor. Auch dort bewegt sich eine ganze Menge. Die 50 Millionen Euro, die die Bundesregierung im kommenden Jahr investieren wird, sind bereits mehrfach erwähnt worden. Ich möchte aber die Gelegenheit nutzen, mich an dieser Stelle auch einmal bei allen privaten Initiativen zu bedanken, die wir hier in Deutschland haben, was ja auch etwas über den Bewusstseinswandel aussagt. Gerade in meinem Wahlkreis, einem Anrainerwahlkreis der Nordsee, erlebe ich das tagtäglich. Sie alle leisten in den Umweltverbänden, aber auch rein privat einen nicht zu unterschätzenden Beitrag, nicht um Plastik in unseren Meeren zu verhindern, aber um aufzuräumen. Damit sind wir bei einem anderen Thema, zu dem wir noch deutlich mehr forschen müssen. Wir müssen nämlich auch gute Ideen entwickeln, wie wir mit dem Müll umgehen, der bereits in unseren Meeren liegt und – wir wissen es alle – Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte braucht, bis er sich abbaut. Auch das ist eine Aufgabe, die diese Bundesregierung angeht. ({4}) Ich halte also fest: Diese Bundesregierung handelt sowohl national als auch international. Das Bewusstsein unserer Bürger und unserer Wirtschaft für die Problematik müssen wir auch in Zukunft weiter schärfen; das geht nur partnerschaftlich. Erfolge brauchen Geduld. Verbote allein reichen nicht. Ich denke, damit sind wir mit dieser Bundesregierung auf einem guten Weg. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Damerow. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/6129 und 19/5230 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Da ich nichts Gegenteiliges höre, gehe ich davon aus, dass Sie damit einverstanden sind. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! 40, 60 oder 950 Mikrogramm, was ist denn nun der gesundheitlich relevante Grenzwert? Wann ist meine Gesundheit denn nun wirklich gefährdet? An einer Kreuzung bin ich angeblich schon bei 40 Mikrogramm gefährdet, auch wenn ich mich dort nur wenige Minuten am Tag aufhalte. Wenn ich dann zu Hause bin und die Wohnungstür hinter mir zumache, bin ich aber erst bei 60 Mikrogramm gefährdet, und das, obwohl sich die Menschen den größten Teil der Zeit innen aufhalten. In Kindergärten, Krankenhäusern und Altenheimen, also genau dort, wo sich die Risikogruppen Kinder, ältere Menschen und Asthmatiker besonders lange aufhalten, gilt ein 50 Prozent höherer Grenzwert als an der Straßenkreuzung. Das versteht kein Mensch. ({0}) Wenn ich dann genauso wie 45 Millionen andere Menschen in unserem Land jeden Tag zur Arbeit gehe, bin ich angeblich sogar erst ab 950 Mikrogramm, also dem 24-Fachen, gefährdet, und das, obwohl ich dort acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche, 45 Jahre, ein ganzes Arbeitsleben lang bin. Das versteht dann wirklich kein Mensch mehr. ({1}) Wenn ich dann nach der Arbeit schön bei Kerzenschein zum Abendessen im Restaurant meine auf dem Gasherd gekochten Spaghetti Carbonara genieße und dabei Tausenden Mikrogramm Stickstoffdioxid ausgesetzt bin, dann ist das alles kein Problem. Kein Problem? Ganz offensichtlich ist es immer nur dann problematisch, wenn man den Grenzwert dazu missbrauchen kann, den Menschen ihr Auto und damit ihre Freiheit wegzunehmen. ({2}) Jeder, der noch ein bisschen gesunden Menschenverstand besitzt, kann selbst nachvollziehen, wie absurd die Argumente der Umwelthysteriker sind. Über 100 führende Lungenfachärzte und klinische Forscher protestieren gegen diesen Unsinn. Warum tun sie das? Weil es keine wissenschaftlich ernstzunehmende Begründung für den Grenzwert von 40 Mikrogramm gibt. Alle klinischen Studien der WHO, den Grenzwert zu bestätigen, sind krachend gescheitert, ich betone: krachend gescheitert. ({3}) Wir fordern daher in unserem Antrag endlich die sofortige, erstmalige wissenschaftliche Überprüfung des Grenzwerts. Die Menschen draußen haben ein Recht darauf, vor diesem ideologischen Wahnsinn geschützt zu werden. ({4}) Selbst in Kalifornien mit den strengsten Umweltvorschriften der Welt gelten 100 Mikrogramm, also das Zweieinhalbfache des Grenzwerts in Deutschland. Die US-amerikanische Umweltbehörde hat diesen Grenzwert 2018 noch einmal ausdrücklich bestätigt, da dieser – so wörtlich – einen angemessenen Schutz der öffentlichen Gesundheit gewährleistet und insbesondere eine ausreichende Sicherheitsmarge gerade für ältere Personen, Kinder und Menschen mit Asthma berücksichtigt. So langsam scheint sich der Protest der Menschen gegen diesen Grenzwertwahnsinn auch auf die ersten Politiker anderer Parteien auszuwirken. Der grüne Oberbürgermeister Palmer hält sogar ein Verbot von Coca-Cola für sinnvoller als Dieselfahrverbote. ({5}) Selbst Verkehrsminister Scheuer fordert nun endlich eine Überprüfung des Grenzwerts. Recht haben sie; denn Frau Merkel hat 1998 den völlig aus der Luft gegriffenen Grenzwert mit beschlossen und 20 Jahre nichts unternommen, diesen wissenschaftlich überprüfen zu lassen. Seit einem Jahr sind die Menschen konkret von Fahrverboten bedroht. Seit einem Jahr reden wir hier im Bundestag in unzähligen Debatten ohne jegliches Ergebnis dazu. Die AfD hat im Bundestag mehrfach beantragt, den Grenzwert erstmals wissenschaftlich überprüfen zu lassen. Unsere Anträge wurden durch alle anderen Fraktionen hier in diesem Haus abgelehnt. Hätten Sie unserem Antrag vor einem Jahr zugestimmt, hätten wir heute schon die Ergebnisse der wissenschaftlichen Überprüfung, und in Stuttgart und anderswo könnten Fahrverbote vermieden werden. ({6}) Allein in Stuttgart sind 72 000 Menschen mit ihren Familien von einem Fahrverbot betroffen. Hören Sie endlich auf, die Menschen auf Grundlage eines völlig willkürlichen Grenzwertes zu gängeln, den Sie zu nichts anderem nutzen, als Millionen Dieselbesitzer kalt zu enteignen, indem Sie ihnen das Auto und damit ihre Freiheit wegnehmen. ({7}) Wir fordern, dass der Grenzwert endlich erstmalig wissenschaftlich überprüft wird und dass es bis zum Vorliegen entsprechender Ergebnisse zu keinen Fahrverboten kommen darf. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Karsten Möring. ({0})

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns in der letzten Sitzungswoche im Rahmen der ersten Lesung des Gesetzentwurfs zur Änderung des BImSchG über die sachlichen Zusammenhänge zwischen Emissionsgrenzwerten und den Maßnahmen, die wir ergreifen, intensiv ausgetauscht. Ich stelle aber fest, dass die Kolleginnen und Kollegen aus der AfD-Fraktion offensichtlich überhaupt keine Erinnerung daran haben; denn alles, was Herr Bernhard eben vorgetragen hat, war bereits Thema. Er glaubt, dass das kein Mensch versteht. Die Gleichsetzung aller Menschen mit den AfD-Kollegen kann ich auch nicht nachvollziehen. Es gibt eine Reihe anderer Menschen, die anderer Auffassung sind, und zwar gut begründet. ({0}) Ich will nicht alles wiederholen, worüber wir in der letzten Sitzungswoche diskutiert haben. So viel Zeit haben wir nicht. Ich möchte aber die Gelegenheit nutzen, einen genauen Blick auf den Antrag der AfD zu werfen. In den ersten drei Punkten geht es darum – das war auch das Hauptthema von Herrn Bernhard –, dass die Grenzwerte nicht stimmen und dass die Schlussfolgerungen deswegen auch nicht richtig sind. Dann fordert Herr Bernhard – das ist der erste Punkt – eine erstmalige Untersuchung durch unabhängige Wissenschaftler. Was für ein Witz! Weil: Zum Schluss seiner Rede sagt Herr Bernhard, er sei sich sicher, dass es keine Fahrverbote geben wird, weil bei einer solchen Untersuchung nur herauskommen könne, dass die Grenzwerte Quatsch sind. ({1}) – Das ist die Schlussfolgerung, die er gezogen hat. – Ich frage mich, was Sie für eine Vorstellung von unabhängigen Wissenschaftlern haben. Alle Studien, die sich bislang mit dieser Frage befasst haben – es gibt einige Hundert, die teilweise kleinere oder größere Aspekte untersuchen –, wurden von Wissenschaftlern verschiedenster Institutionen durchgeführt, denen man die Unabhängigkeit nicht absprechen kann. Sie müssen im Einzelfall belegen, wenn Sie der Meinung sind, dass Wissenschaftler nicht unabhängig sind. ({2}) Von „erstmalig“ kann überhaupt keine Rede sein; denn es gibt seit Jahren – in den USA seit den 30er-Jahren – Untersuchungen in größerem Umfang. Die Grenzwerte, auf denen der Beschluss der EU beruht, sind zahlreich und wurden spätestens 2008 auf ihre Wirkung überprüft, weil man damals 40 Mikrogramm als Durchschnittswert festgelegt hat. Nun haben Sie als Beispiel die Stickoxidbelastung durch Kerzen genannt. Sie verstehen noch immer nicht, dass es einen Unterschied zwischen einer Spitzenbelastung kurzzeitiger Art und einer Dauerbelastung gibt, die niedriger ist. Für Letzteres gilt ein Durchschnittswert. Es ist ein Vorsorgewert, der auch empfindlichere Bevölkerungsgruppen schützen soll und der nicht für jemanden gilt, der in einer Küche an einem Gasherd kocht. Auf der Straße sind Emissionsspitzenwerte von 200 Mikrogramm zulässig. Aber mit den 40 Mikrogramm wird die Dauerbelastung festgelegt. ({3}) Wir haben überhaupt nichts dagegen, dass diese Diskussion noch einmal kritisch geführt wird. Wir glauben zwar nicht, dass dabei etwas anderes herauskommt. Aber Maßnahmen, die wir mit viel Geld unterlegen, brauchen eine Begründung, die valide und belastbar ist.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Möring, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Herrn Bernhard?

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön. ({0})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke schön, Herr Möring. – Ich habe folgende Frage: Sie reden von 40 Mikrogramm als Dauerbelastung. Wie erklären Sie dann den Unterschied zwischen 40 Mikrogramm draußen und 60 Mikrogramm in Wohnungen? Die Menschen sind den größten Teil ihres Lebens in Innenräumen. Da gilt ein Grenzwert von 60 Mikrogramm, wie zum Beispiel in Kindergärten und Krankenhäusern. Dort sind die Menschen doch einer Dauerbelastung ausgesetzt, während sie sich an einer Kreuzung, wo 40 Mikrogramm gelten, nur wenige Minuten am Tag aufhalten. Können Sie das einmal erklären? Sie reden von Spitzen- und Dauerbelastungen. Die Dauerbelastung findet doch in Innenräumen genauso statt, wo die Menschen wohnen, leben und arbeiten.

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ein Grenzwert für den Wohnbereich ist mir gar nicht bekannt. Wenn Sie öffentliche Räume und Arbeitsplätze meinen, dann dürfen Sie nicht vergessen, dass es dort um andere Gruppen geht, während wir im öffentlichen Raum die Gesamtbevölkerung, von den Kleinkindern bis zu den alten Menschen, von den Asthmatikern bis zu den Gesunden, im Blick haben müssen. Es handelt sich dabei um eine Vorsorgemaßnahme. Zurück zu dem zentralen Punkt. In den Punkten 2 und 3 Ihres Antrages gehen Sie auf die öffentliche Kritik von hundert Lungenärzten ein. Jetzt will ich natürlich niemandem seine Meinungsfreiheit beschneiden, auch nicht hundert Lungenärzten, aber ein Beitrag zur Diskussion über die Validität verlangt eine inhaltliche Auseinandersetzung und keine Meinungsäußerung. Da hakt es an dieser Stelle. Noch einmal: Nichts dagegen, dass wir diese Grenzwerte kritisch untersuchen, aber wenn Sie sagen: „Erstmals und überhaupt“, kann ich nur erwidern: Im Jahre 2019 wird die EU diese Grenzwerte diskutieren und noch mal im Lichte der aktuell vorliegenden Studien untersuchen. Die Bundesregierung hat die Leopoldina beauftragt, das für Deutschland ebenfalls zu machen. Wir sind uns aber im Klaren darüber, dass das eine Frage der Europäischen Union ist – schlicht und einfach. Dann kommt es ganz hart in Ihrem Antrag. Sie verstehen sich doch als Partei, die gerne Recht und Gesetz durchsetzen möchte. Was Sie aber in den Punkten ab Punkt 4 schreiben, ist Rechtsbruch, Rechtsbruch, Rechtsbruch und noch mal Rechtsbruch. ({0}) Sie können doch nicht hingehen und sagen: Weil ich anderer Meinung bin, halte ich das gesetzlich festgesetzte Maß nicht ein. ({1}) Das geht doch nicht. Sie können dann nur dafür sorgen, dass sich das ändert – das können Sie politisch machen –, aber diese Werte gelten. ({2}) Wir im Deutschen Bundestag befassen uns mit der Frage, mit welchen Maßnahmen wir diese Grenzwerte erreichen. Solange sie gelten, gelten sie – schlicht und einfach. ({3}) Dann kommt es für uns allerdings darauf an, dass wir die Maßnahmen, die wir dafür ergreifen, in ein Verhältnis zu der Gefährdung und zu der Belastung des Einzelnen im gesundheitlichen Bereich setzen. ({4}) Genau das tun wir mit unserem Gesetzentwurf zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, das wir demnächst in zweiter und dritter Lesung behandeln werden. Das Ziel ist, dass wir hier die Verhältnismäßigkeit genau abwägen. Darüber kann man dann streiten – wir sind da politisch sicher nicht einer Meinung –, aber das ist der Weg, den wir gehen. Wenn Sie jetzt sagen: „Diese Maßnahmen machen wir alle“, dann kann ich nur antworten: Das ist ein fahrender Zug, auf den Sie aufspringen. Und wenn Sie auf einen fahrenden Zug aufspringen wollen, dann müssen Sie aufpassen, dass Sie sich nicht verstolpern. Das, was Sie zu diesem Thema vorgelegt haben, ist eine totale Bruchlandung. ({5}) Heute wurden in Düsseldorf und in Köln neue Luftreinhaltepläne vorgelegt. Diese Luftreinhaltepläne verzichten auf Fahrverbote. Sie können das nur, weil sie darlegen, dass mit den ergriffenen Maßnahmen und den Möglichkeiten, die wir haben, die Grenzwerte in absehbarer Zeit erreicht werden können. Das habe ich in der letzten Sitzungswoche schon einmal gesagt, und das sage ich auch jetzt wieder: Das wird uns gelingen. Damit werden wir die Möglichkeit haben, die Belastung durch Fahrverbote weitestgehend zu vermeiden und mit anderen Maßnahmen unser Ziel zu erreichen. Das ist unsere Aufgabe, und das werden wir machen. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag selbstverständlich ab. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Karsten Möring. – Nächste Rednerin: Judith Skudelny für die FDP-Fraktion. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Damen und Herren! So wie man Stickoxid und Feinstaub auseinanderhalten muss, muss man Richtwerte und Grenzwerte auseinanderhalten. Ein Richtwert ist ein wissenschaftlich festgesetzter Wert, bei dem sich Experten über das Risiko eines einzelnen Stoffes Gedanken gemacht haben. Sie haben sich nicht Gedanken darüber gemacht: Kann man den Richtwert einhalten? Sie haben sich nicht Gedanken darüber gemacht: Was passiert, wenn wir Regelungen einsetzen, um ihn einzuhalten? – Der damals beteiligte Professor Wichmann hat gesagt: Die sozioökonomischen Rahmenbedingungen der Einhaltung dieses Richtwerts wurden schlicht nicht berücksichtigt. – Deswegen hängen an Richtwerten auch keine rechtlichen Konsequenzen. Es ist Aufgabe der Politik, aus Richtwerten Grenzwerte zu machen. Und es ist Aufgabe der Politiker, abzuwägen, unter welchen Bedingungen und wie diese Richtwerte – die Wunschvorstellung der Wissenschaft – in das wirkliche, in das echte Leben der Menschen, der Städte und Kommunen eingegliedert werden können. Da finden Abwägungsentscheidungen statt. Am Ende dieser Abwägungsentscheidungen entsteht ein Grenzwert, an den wiederum rechtliche Konsequenzen gebunden sind. Insofern ist es natürlich immer ein Stück Willkür und Entscheidungsfreiheit, wie hoch diese Grenzwerte sind. Jetzt haben wir schon seit mehreren Jahren einen Grenzwert, und wir sehen, welche Auswirkungen er hat. Wir sehen, dass die Menschen kalt enteignet werden, ihr Fahrzeug nicht mehr nutzen können. Selbst wenn Sie heute ein Neufahrzeug zulassen, kann sogar nach der von der Bundesregierung angestrebten Gesetzesänderung, die jetzt auf dem Weg ist, keine Mobilitätsgarantie für Euro-6-Fahrzeuge gegeben werden. Das ist ein Zustand, der für einen Automobilstandort wie Deutschland nicht haltbar ist. ({0}) Es werden durch Fahrverbote auch keine Stickoxide, keine Emissionen in irgendeiner Form eingespart. Wir sehen doch, dass der Verkehr nur verdrängt wird, ({1}) und zwar von den Hauptstraßen in die Nebenstraßen, von den Autobahnen in die Ortschaften. Es wird auch kein CO 2 gespart. Die Menschen müssen länger fahren, weitere Strecken hinter sich bringen. Wir lassen mehr Benziner zu. Tatsächlich erhöhen wir unterm Strich die schädlichen Umwelteinwirkungen, und das hilft weder der Umwelt noch den Menschen und deren Gesundheit. Und das Ganze für was eigentlich? Unter den Top-Ten-Risiken der kardiovaskulären Erkrankungen, der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die im Wesentlichen am Ende zum Tode führen, sind Rauchen, falsche Ernährung und zu wenig Sport. Tatsächlich kommt das NO x erst auf Rang 9, weit abgeschlagen hintendran. ({2}) Ich möchte mit den Worten des grünen Oberbürgermeisters Palmer sagen: Anstatt Fahrverbote zu machen, sollten wir, wenn man wirklich etwas tun wollte, einfach Cola verbieten. – Aber das trauen Sie sich ja nicht. ({3}) Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: Die Luft ist so sauber wie noch nie! Die Menschen verstehen daher nicht, warum sie durch fragliche Grenzwerte aufgrund von falschen Messungen kalt enteignet werden. ({4}) Um die Menschen zu schützen, die darauf vertraut haben, ihr zu Recht zugelassenes, ehrlich erworbenes Fahrzeug weiter benutzen zu dürfen, ({5}) müssen wir die Grenzwerte auf den Prüfstand stellen und schauen, dass wir zu vernünftigen, sozial angepassten und vor allem nachhaltigen Werten kommen, die die Menschen auf dem Weg des Umweltschutzes mitnehmen. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Frau Skudelny. – Nächster Redner: für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold. ({0})

Florian Pronold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003612

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Debatte scheint unabhängig von den Grenzwerten zu Schnappatmungen zu führen. Es wäre, glaube ich, ganz gut, wenn wir von der Propaganda, wie wir sie gerade gehört haben, wegkommen und mal zu den Fakten kommen. ({0}) Liebe Frau Skudelny, ich finde das schon ein starkes Stück. Im Ausschuss bezweifeln Sie die Wissenschaftlichkeit von den Untersuchungen zur Schädlichkeit von NO x und der Feinstaubbelastungen für die Gesundheit. Sie stellen eine einfache These auf, nämlich: Die ärmeren Leute wohnen an den stark belasteten Straßen. Sie rauchen mehr und sind deswegen kränker. Deshalb kann man nicht davon ausgehen, dass die NO x -Belastung durch die Fahrzeuge die Leute wirklich krankmacht. – Das spottet im Übrigen jeglicher Beschreibung. ({1}) Jetzt behaupten Sie: Es sind die falschen Messungen gemacht worden. – Wir haben in Nordrhein-Westfalen alle Messstellen untersucht, ob sie den Vorgaben entsprechen. Und sie entsprechen alle den Vorgaben. Eine ist wegen einer Baustelle einmal kurzfristig versetzt worden; die entspricht nicht den Vorgaben. Jetzt werden wir alle Messstellen überprüfen; das habe ich hier in einer der letzten Sitzungen angekündigt. Das wird unabhängig vom TÜV gemacht. Dann haben wir darüber Klarheit. Aber Sie interessiert gar nicht, ob die Messstellen richtig aufgestellt sind oder nicht, weil jetzt die nächste Debatte darüber geführt wird, dass die Wissenschaftlichkeit bei der Festsetzung der Grenzwerte nicht gegeben ist. Da werden Trauben mit Rüben verglichen. ({2}) Da wird übrigens die Anhörung, die wir im Umweltausschuss sehr qualifiziert durchgeführt haben, völlig ignoriert. ({3}) Wissenschaftlichkeit heißt erst einmal, dass man mit Fakten gegeneinander argumentiert und dass man Dinge mit Studien belegt. Keine der Tausenden von Studien kommt zu dem Ergebnis, dass NO x oder Feinstaub keine Erhöhung des Gesundheitsrisikos bedeuten. ({4}) Es gibt nirgends einen Hinweis darauf, dass es hier keinen Wirkungszusammenhang gibt. Selbstverständlich kann man über Grenzwerte diskutieren, weil sie zum Schluss eine Entscheidung der Politik sind. ({5}) Auf Basis von wissenschaftlichen Voruntersuchungen kann es aus unterschiedlichen Überlegungen heraus zu unterschiedlichen Grenzwerten kommen. In den USA zum Beispiel ist zwar der Grenzwert für NO x höher, aber die Feinstaubgrenzwerte sind viel niedriger als bei uns. Wollen Sie die auch übernehmen und sagen: „Da wäre es schön, wenn wir uns an den USA orientieren“? ({6}) Man kann sich nicht immer nur das heraussuchen, was einem passt, sondern man muss schon bei den Fakten bleiben. Mein Eindruck ist auch, dass es einige gibt, die versuchen, die tatsächlichen Verursacher hintanstehen zu lassen. Das, was wir brauchen, ist, dass die Automobilindustrie endlich dafür bezahlt, dass nachgerüstet wird. Das ist der wirksamste Schutz für die Menschen, die von diesen Sachen betroffen sind. ({7}) Zum Abschluss eine kleine Bemerkung in Richtung des Bundesverkehrsministeriums: Bei der Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes geht es nicht um die Veränderung des Grenzwertes. Der Grenzwert beträgt natürlich 40 Mikrogramm pro Kubikmeter. „Wir verändern keinen Grenzwert“, ({8}) das ist nicht meine Aussage, das ist nicht die Aussage der Umweltministerin, das ist die Aussage der Bundeskanzlerin vom 18. Dezember 2018 hier an dieser Stelle. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Florian Pronold. – Nächster Redner in der lebendigen Debatte: Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Bei Fahrverboten hört für viele der Spaß auf. Jetzt vergessen Sie einmal die Aussagen von der rechten Seite dieses Hauses, und gehen Sie auf Ihr eigenes Gefühl ein. ({0}) Die meisten Autofahrer vergessen, wie sie sich fühlen, wenn vor ihnen ein alter Diesel im Stau steht und sie schlecht atmen können und auf Umluft schalten. ({1}) Tatsache ist – das ist klar –: Es ist ein Durchschnittswert – erinnern Sie sich an den Spruch: der Teich war im Durchschnitt einen Meter tief, trotzdem ist die Kuh ersoffen –, ({2}) und es ist ein Mischwert. Verschiedene Schadstoffe, Feinstaub und Stickoxide, wirken zusammen wesentlich stärker als einer alleine. Statt sich darum zu kümmern, nur NO x zu untersuchen, müssten Sie die Mischung untersuchen. Das habe ich Ihnen schon mehrfach gesagt; Sie lernen es nicht, und Sie werden es nicht lernen. ({3}) Wir alle wissen, dass Rauchen Kinder schädigt. In Anbetracht von Fahrverboten gibt es diese schrägen Vergleiche, und es wird gesagt: Zigaretten schaden nicht mehr als Dieselabgase oder umgekehrt. Ich frage Sie: Was soll denn das? Nur weil das eine vielleicht weniger schädlich ist als das andere, sollen wir unsere Kinder krankmachen? ({4}) Ich bin Asthmatiker, und ich kann Ihnen sagen: Wenn der Adventskranz bei mir zu Hause eine halbe Stunde brennt, blase ich die Kerzen aus und mache das Fenster auf. ({5}) – Da können Sie lachen; seien Sie froh, dass Sie diese Krankheit nicht haben. ({6}) Raucherzimmer kann ich umgehen, ich kann die Kerzen ausblasen, aber ich kann nicht die Luft anhalten, wenn ich an der Kreuzung stehe; das ist mir schlicht unmöglich. ({7}) Sorry, aber alle, denen es ähnlich geht, Ältere, Kinder und Kranke, haben ein Recht auf saubere Luft. Jetzt komme ich zum eigentlichen Verursacher der Probleme. Seit drei Jahren ist der skandalöse Betrug von VW, Audi, BMW und Daimler bekannt – seit drei Jahren! In den USA ist es diesen Konzernen möglich, Pkws anzubieten, die die Emissionsgrenzwerte einhalten. ({8}) Ich meine die Grenzwerte am Auspuff. Bei der Euro-6-Norm gilt am Auspuff ein Grenzwert von 80 Gramm NO x pro Kilometer. In den USA gilt ein Grenzwert von 43 Gramm NO x pro Kilometer im Flottendurchschnitt. Das ist deutlich weniger. Überraschung: Die deutschen Autokonzerne können, nachdem sie 14 Milliarden Euro Strafe zahlen mussten, nach dem Zwang zur Rücknahme oder der Drohung, ohne Nachrüstung keine Autos mehr verkaufen zu dürfen, plötzlich ihre Flotten so ausstatten, dass sie diese Grenzwerte einhalten. Sie schaffen es. Würden wir in Deutschland die Fahrzeuge nach amerikanischen Zuständen zulassen, dann gäbe es hier keine Fahrverbote; sie wären schlicht überflüssig. ({9}) Ich frage mich, wieso in Deutschland die Autofahrerinnen und Autofahrer und die Steuerzahler für die Übernahme der Kosten für die Nachrüstung herangezogen werden und nicht die Konzerne, die in den letzten zwei Jahren 55 Milliarden Euro Gewinn gemacht haben. Da können sie die 10 Milliarden Euro für die Nachrüstung doch locker bezahlen. ({10}) Ich komme zu diesen 112 Ärzten. „Frontal 21“ hat untersucht ({11}) – dann sind es eben 118; es sind trotzdem nur 3 Prozent der 4 000 Lungenärzte –, dass sich fast keiner von ihnen mit NO x -Studien befasst hat. Sie fordern hier Wissenschaftlichkeit für Studien ein. Der in Ihrem Antrag zitierte Professor Köhler hat nicht eine wissenschaftlich überprüfte Studie zu NO x -Werten veröffentlicht – nicht eine! ({12}) Das ist keine wissenschaftliche Praxis; das ist einfach Betrug. Wer einen solchen Kronzeugen heranruft, um auf Wissenschaftlichkeit zu pochen, dem kann ich nur eines sagen: Er ist wissenschaftsfrei. ({13}) Wir Linke fordern die Nachrüstung der Pkws zulasten der Autokonzerne. Dann werden Fahrverbote vermieden, dann wird unsere Gesundheit geschützt. Das ist auf jeden Fall ein besserer Weg, als sich zum Büttel der Konzernprofite zu machen, so wie es die rechte Seite dieses Saales tut. Vielen Dank. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ralph Lenkert. – Nächste Rednerin: Dr. Bettina Hoffmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Bettina Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist jetzt das fünfte Mal hintereinander, dass wir hier über den Stickoxidgrenzwert diskutieren. Wir erleben hier nur Angriffe auf das Vorsorgeprinzip und auf den Gesundheitsschutz. Sie halten NO x für ungefährlich? Dann untermauern Sie das doch bitte einmal mit wissenschaftlichen Studien ({0}) – darum geht es ja gar nicht; es geht um den Wirkstoff –, doch genau das können Sie nicht. Die Studienlage ist eindeutig: NO 2 ist gesundheitsschädigend, sogar in Spuren. Auswirkungen von Stickoxiden auf die Gesundheit sind schon unter dem jetzigen Grenzwert nachweisbar. ({1}) – Die gibt es reichlich. Besonders kritisch ist der Cocktail aus Feinstaub, Stickoxiden und anderen Luftschadstoffen. Um es einmal klar zu sagen: Dieser Grenzwert war vor 20 Jahren angemessen, als er von der damaligen CDU-Umweltministerin Frau Merkel mit ausgehandelt wurde. Der Grenzwert war vor zehn Jahren immer noch angemessen, als er mit breiter Zustimmung des EU-Parlaments erneut bestätigt wurde, auch mit den Stimmen der FDP, und der Grenzwert ist auch heute ganz sicher nicht zu niedrig. Er wird kontinuierlich überprüft, derzeit gerade von der WHO, und – darauf können Sie sich einstellen –: Möglicherweise ist er noch zu hoch. Es ist absurd, dass wir über die Aussetzung des NO 2 -Grenzwertes diskutieren, nur weil hundert Lungen­ärzte diesen Grenzwert plötzlich nicht mehr nachvollziehen können. Kein einziger Wissenschaftler, der zu dieser Frage geforscht hat, gehört dazu. Selbst unter den Ärzten ist diese Gruppe eine absolute Minderheit. Die überwältigende Mehrheit fordert saubere Luft in unseren Städten. Gerade in dieser Woche haben Kinderlungenärzte noch einmal explizit auf die Gefahren von Luftschadstoffen für besonders gefährdete Personen hingewiesen: Kinder, Schwangere, Asthmatiker. Für diese empfindlichen Menschen machen wir diese Grenzwerte. Es geht darum, ein Recht auf saubere Luft zu haben, überall und zu jeder Zeit, und es geht um körperliche Unversehrtheit. ({2}) Der eigentliche Skandal – das macht mir wirklich etwas aus – ist aus meiner Sicht das Rechtsverständnis, das Herr Scheuer zusammen mit FDP und AfD hier an den Tag legt. ({3}) Sie machen Stimmung gegen Gerichtsurteile. Sie verunglimpfen diejenigen, die die Einhaltung von Recht einklagen, und Sie tun so, als würden Sie Fahrverbote per Gesetz überhaupt verhindern können. Damit führen Sie die Dieselfahrer in die Irre. Der EuGH und das Bundesverwaltungsgericht sagen klipp und klar: Ende 2019 müssen diese Grenzwerte eingehalten sein. ({4}) Mit diesem ganzen Grenzwerttheater, das Sie hier veranstalten, soll doch einfach nur davon abgelenkt werden, dass die Stickoxidgrenzwerte seit fast zehn Jahren überschritten werden. Kein Verkehrsminister aus dieser Zeit – übrigens alle von der CSU – hat das in den Griff bekommen. Die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen, das ist die Aufgabe der Regierung. ({5}) Es ist nicht Ihre Aufgabe, die Schutzwerte für unsere Gesundheit zu schleifen. Ihre Aufgabe ist es, die Luft für alle sauber zu machen. Setzen Sie Ihre Kraft doch dafür ein. ({6}) Wir brauchen jetzt verpflichtende Hardwarenachrüstungen – wir haben es von Herrn Pronold eben gehört –, und zwar auf Kosten der Hersteller, wir brauchen die blaue Plakette – das sorgt für saubere Luft und verhindert Fahrverbote. Diese Scheindebatten über Grenzwerte helfen jedenfalls kein Stück weiter. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Bettina Hoffmann. – Nächster Redner: Dr. Christoph Ploß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein Verbot von Coca-Cola würde vieltausendfach mehr Leben retten als Fahrverbote für Dieselfahrzeuge. ({0}) – Liebe Kollegin von den Grünen, dieser Satz ist keine Erfindung von mir. Er kommt auch nicht aus irgendeiner Quelle. ({1}) Es ist ein Zitat vom grünen Spitzenpolitiker Boris Palmer aus einem Gastbeitrag in der „Welt“ in dieser Woche. ({2}) Das zeigt, dass sich die ganze Debatte rund um das Thema „Diesel, Stickoxidwerte und Fahrverbote“ von Ideologie in Richtung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und objektiven Kriterien bewegt. ({3}) Deswegen bin ich Herrn Palmer und Spitzenpolitikern der Grünen auch dankbar, dass sie diese Debatte mit anstoßen; denn die durch die Stickoxidgrenzwerte drohenden oder teilweise sogar schon bestehenden Fahrverbote haben doch bisher eines gezeigt: Sie sind eine Schikane für die Bürger. Sie schränken die Mobilität von Handwerkern, von Pendlern, von vielen Autofahrern ein. ({4}) Aber sie haben letztlich auf die Umwelt überhaupt keinen positiven Einfluss gehabt. ({5}) In meiner Heimatstadt Hamburg, in der vom rot-grünen Senat schon Fahrverbote erlassen worden sind, haben sich die Stickoxidwerte sogar erhöht und nicht verbessert. Deswegen ist das der falsche Ansatz. ({6}) Meine Damen und Herren, man muss hier noch mal etwas klarstellen. Man bekommt in dieser Debatte den Eindruck, als würde sich die Luftqualität in Deutschland immer weiter verschlechtern. Auch hier ist das Gegenteil der Fall; denn die Luftqualität wird seit Jahren immer besser. Seit dem Jahr 1990 haben sich die Werte um mehr als 60 Prozent verbessert. Auch das Umweltbundesamt, das ja in dieser Woche neue Zahlen präsentiert hat, hat mitgeteilt: Die Luftqualität in Deutschland hat sich im Vergleich zum vergangenen Jahr wieder verbessert. – Das sind Fakten, die auch Sie von den Grünen hier mal zur Kenntnis nehmen sollten. ({7}) Meine Damen und Herren, mittlerweile gibt es – das hat mein Kollege Möring von der CDU/CSU eben schon angesprochen – einige Ärzte und Wissenschaftler, die sagen, man müsse über die Grenzwerte diskutieren. Wir wissen: Es gibt auch andere Meinungen. Uns ist aber wichtig, dass es hin zu wissenschaftlicher Untersuchung und weg von Ideologie geht und die Wissenschaftler am Ende das Wort haben. ({8}) Deswegen begrüße ich auch, dass der Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer genau darum bittet und einen Brief an die Kommission geschrieben hat. Das ist der Weg, den ein Großteil der Bürger in unserem Land beschreiten möchte. ({9}) Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund ist es natürlich auch notwendig, das Bundes-Immissionsschutzgesetz zu ändern; denn dann könnten viele Fahrverbote, die, wie eben dargestellt, keinen Einfluss auf das Klima und auf die Luftqualität haben, wieder abgeschafft werden. Das würde die Mobilität in unserem Land deutlich erhöhen. Deswegen kann ich nur unterstreichen, was Boris Palmer – ich muss ihn noch einmal zitieren – in dieser Woche ebenfalls gesagt hat. ({10}) Er hat nämlich gesagt: Die Grenzwerte für einige Jahre etwas anzuheben, um Fahrverbote auf absolute Ausnahmen zu beschränken, wäre vertretbar. Dazu kann ich nur sagen: Ich hoffe, dass sich der Einfluss der baden-württembergischen Grünen und von Boris ­Palmer auf die Grünen in Deutschland ausbreitet. ({11}) Für uns ist klar: Wir verbessern die Luftqualität nicht durch Verbote und staatliche Gängelung und staatliche Bevormundung. Vielmehr müssen wir in Innovation, in Hightech und in die Forschung investieren, ({12}) wie wir das auch schon in den vergangenen Jahren gemacht haben. Das wird der Weg sein. Aber bitte keine grüne Ideologie! Meine Damen und Herren, am Ende brauchen wir einen Dreiklang. Wir brauchen – erstens – Investitionen in Elektromobilität. Da muss ich ({13}) das von Ihnen gescholtene Bundesverkehrsministerium in Schutz nehmen. Es investiert in den vergangenen Jahren massiv. Die Zahl der Ladepunkte wird erhöht. Wir wollen am Ende der Legislaturperiode 100 000 Ladepunkte in Deutschland haben. ({14}) Wir wollen die Zahl der Wasserstofftankstellen verdoppeln. Wir wollen im Übrigen auch die Entwicklung von synthetischen Kraftstoffen politisch unterstützen; ({15}) denn auch diese brauchen wir für den Klimaschutz und eine bessere Mobilität. ({16}) Zweitens brauchen wir Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr. Darüber haben Sie in dieser Debatte kein Wort verloren. Auch das hat mit Luftqualität zu tun. Deswegen wollen wir als CDU/CSU zusammen mit der SPD in der Koalition in dieser Legislaturperiode die Mittel für den öffentlichen Nahverkehr von 333 Millionen auf 1 Milliarde Euro verdreifachen. Davon werden viele Projekte in Großstädten profitieren, zum Beispiel die nordmainische S-Bahn von Frankfurt bis Hanau, die zweite S-Bahn-Stammstrecke in München oder die neue S-Bahn-Linie S 4 oder die U-Bahn-Linie 5 in Hamburg. Das sind doch die richtigen Ansätze. Aber bitte keine Fahrverbote und keine grüne Ideologie! ({17}) Wir brauchen – drittens – eine stärkere Digitalisierung des Verkehrs; denn auch damit kann man die Luftqualität in Deutschland verbessern. Intelligente Verkehrsleitsysteme haben oft einen viel größeren Effekt auf die Umwelt und die Sicherheit als zum Beispiel ein Tempolimit, das Sie fordern. Deshalb werbe ich am Schluss noch mal für diesen Dreiklang: Investitionen in neue Antriebstechnologien, Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr und auch in den Radverkehr und Investitionen in die Digitalisierung des Verkehrs. So werden wir es schaffen, die Luftqualität in Deutschland noch weiter zu verbessern. Herzlichen Dank. ({18})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Christoph Ploß. – Nächster Redner: Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wie immer bei diesem Thema ist auch heute reichlich Stimmung im Haus: viel Geschrei statt Sachlichkeit. Der AvD hat sich diese Woche noch einmal damit beschäftigt, wie die WHO überhaupt zu diesen Ergebnissen gekommen ist. Dabei kam heraus, dass die EU besonders darauf gedrängt hat, dass die WHO sich dazu äußert. Die WHO wollte das eigentlich gar nicht. Sie sagte damals: Wir haben gar keine valide Datenbasis, auf der wir eine solche Aussage gesichert treffen können. – Nach fortwährender Intervention seitens der Europäischen Union hat sich die WHO dann letzten Endes hinreißen lassen, diese Metastudie zu erstellen, auf der der geschätzte Wert, um den es fast täglich geht, basiert. Der Mediziner und Umweltbiologe Alexander Kekulé hat sich mit dieser Metastudie befasst und kam zu dem gleichen Ergebnis, das ich unlängst schon einmal vorgetragen habe: Man legte Äpfel neben Birnen, um die Frage zu beantworten, ob eine Banane gelb ist. Wir können gerne das Feinstaubthema aufgreifen. In Berlin kommen mittlerweile nur noch 4 Prozent des vorhandenen Feinstaubs aus dem Auspuff. Selbst Stuttgart hat mittlerweile überhaupt kein Feinstaubproblem mehr. Dazu können Sie die Wissenschaftler des Karlsruher KIT befragen, die das zurzeit sehr flächendeckend monitoren. Kommen wir zum Thema Nachrüstung: Vor zwei Wochen habe ich schon kurz auf den Beitrag von „Frontal 21“ hingewiesen und habe ihn als manipulativ bezeichnet. Wer das nicht verstanden hat, dem empfehle ich bei Google einfach mal „Mieruch“ und „BMW“ einzugeben. Sie finden dort ein neunminütiges Video. Sehen Sie es sich an! Danach sind Sie schlauer. Das ZDF hat mittlerweile auf Nachfrage schriftlich eingeräumt, dass die im Beitrag gezeigten Fahrzeuge aus den USA und aus Deutschland technisch nicht identisch sind. Man wollte nur zeigen, dass der Bauraum vorhanden ist. Man hat ebenfalls eingeräumt, dass man in diesem Beitrag eine ganze Reihe von weiteren Dingen, die zum Umbau erforderlich sind, einfach weggelassen hat. Vielen Dank.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Die letzte Rednerin in der Debatte ist Ulli Nissen für die SPD-Fraktion. ({0})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der AfD-Antrag fordert „Vorfahrt für wissenschaftliche Erkenntnisse“. Wissenschaftliche Erkenntnisse bei der AfD? ({0}) „Spiegel Online“ hat zur Auswahl des AfD-Experten für die Anhörung zur Gefährlichkeit von Autoabgasen getitelt „AfD lädt Affentest-Professor in den Bundestag“. Letztes Jahr wurde bekannt, dass Herr Greim an den aus meiner Sicht höchst verwerflichen Dieselabgastests an Affen beteiligt war. Einen ähnlich unseriösen Eindruck hatte ich von ihm am Mittwoch bei der Anhörung. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er aus stark belasteten Städten Luftkurorte hätte machen wollen. ({1}) International renommierte Forscher machen dagegen deutlich, dass Luftschadstoffe die Risiken, Krebs, Herz­erkrankungen und Demenz zu bekommen, deutlich verschärfen. Sie nennen Luftverschmutzung „stille Epidemie“. Gute Luftqualität wird auch in den SDGs gefordert, auf die wir uns gemäß UN-Resolution 2015 verpflichtet haben. In 3 von 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung ist Luftqualität ein Thema. Zwei führe ich aus. Ziel 3 will: Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern. ({2}) Unterziel 3.9 fordert: Bis 2030 die Zahl der Todesfälle und Erkrankungen aufgrund gefährlicher Chemikalien und der Verschmutzung und Verunreinigung von Luft, Wasser und Boden erheblich verringern. ({3}) Ziel 11: Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten. Unterziel 11.6 präzisiert: Bis 2030 die von den Städten ausgehende Umweltbelastung pro Kopf senken, unter anderem mit besonderer Aufmerksamkeit auf der Luftqualität und der kommunalen und sonstigen Abfallbehandlung. Für die SPD ist die Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele ein sehr wichtiges Thema. Deshalb wollen wir die Luftqualität deutlich verbessern, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Dazu gehört natürlich auch die technische Nachrüstung der Fahrzeuge. Leider habe ich das sehr böse Gefühl, dass dies der CSU-Verkehrsminister Scheuer nicht will. Erst wurde im Anschreiben des Kraftfahrt-Bundesamtes an die betroffenen Bürger nur auf Umtauschprämien mit Kontaktdaten von BMW, Daimler und VW hingewiesen und eben nicht auf die Möglichkeit der technischen Nachrüstung. Was mich zutiefst empört: Jetzt sind die Bedingungen für die technischen Nachrüstungen bekannt. Die sind schärfer als für Neufahrzeuge. Herr Minister Scheuer, leider hat sich dadurch mein Verdacht verschärft, dass Sie nur an einem Neuverkaufsförderprogramm für die Autohersteller interessiert sind. ({5}) Wir von der SPD wollen eine gute Lösung für die technische Nachrüstung, die natürlich von den Herstellern bezahlt wird. Wir sind auf der Seite der Bürgerinnen und Bürger, die sich kein neues Fahrzeug kaufen wollen oder auch – das sind viele – nicht kaufen können. ({6}) Ich persönlich bin für Tempo 130 auf den Autobahnen. Das bedeutet eine Reduzierung der Schadstoffe und einen geringeren Spritverbrauch und natürlich auch ein viel entspannteres Fahren. ({7}) Ich selber versuche, viel zur Reduzierung von Schadstoffen, auch von Lärm, beizutragen. Seit fast zehn Jahren bin ich in meinem Frankfurter Wahlkreis elektromobil unterwegs. In Berlin erledige ich fast alles mit dem Fahrrad. ({8}) Gestern Abend durfte ich Lukas Schlapp aus Frankfurt kennenlernen. Er war einer von zwei Jugenddelegierten zur UN-Generalversammlung. Er hat mir eines für die heutige Debatte mitgegeben. Er sagt: Während Hunderte junge Menschen in ganz Deutschland für effektiven Klimaschutz auf den Straßen demonstrieren, ({9}) zweifelt die AfD den gesundheitlichen Schaden von Stickoxiden an. Ein Sinnbild, was passiert, wenn man nur alten, weißen und enttäuschten Männern die Politik überlässt. ({10}) Ja, lieber Lukas, das sehe ich genauso. Natürlich werden wir den Autolobbyistenantrag der AfD ablehnen. Ich bedanke mich bei meinem Frankfurter Schülerpraktikanten. Er sitzt gerade auf der Tribüne. ({11}) Lieber Henri Hamacher, du hast mich bei der Recherche zum Antrag super unterstützt. Ich danke dir und Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ulli Nissen. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7471 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind einverstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Wenn man auf dem Konto ins Minus rutscht, dann drohen horrende ­Dispozinsen der Banken. Die Linke findet: Auf diese ­Dispoabzocke muss der Deckel drauf. ({0}) Fast 10 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland sind überschuldet. Das ist schlecht für die Leute, aber ein Geschäft für die Banken. „Money for nothing“ – Geld für nichts – sangen die Dire Straits. Deutsche Banken leihen sich derzeit bei der Europäischen Zentralbank Geld zu null Prozent, im Prinzip kostenlos; billiger geht nicht. Vor der Finanzkrise betrug der Unterschied zwischen dem Leitzins der EZB und dem Dispozins einer Bank im Durchschnitt 8 Prozentpunkte. Aktuell sind es 10 Prozentpunkte, bei der Volksbank Raiffeisenbank Oberbayern Südost sogar 14 Prozentpunkte. Seither ist es also schlimmer geworden. Für die Banken ist das ein lukratives Geschäft. Jeder Prozentpunkt Dispozins bereichert Kreditinstitute um 340 Millionen Euro. Das sind Zinsgewinne von 3 Milliarden Euro im Jahr. Fast jeder zweite Bankkunde in Deutschland nutzt den Dispo, 17 Prozent der Bankkunden sogar dauerhaft. Aber wer nutzt den Dispo? Sicher nicht Sie oder ich mit einem doch relativ komfortablen Auskommen hier im Bundestag, sondern Arbeitslose, Alleinerziehende, Rentner, Familien mit Kindern, Geringverdiener und kleine Selbstständige. Sie alle werden ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Das Argument der Bankenlobby, der Dispo sei ein unbesicherter Kredit ohne Rückzahlungspflicht, trägt nicht. Die Ausfallquote dieser Kredite liegt unter 1 Prozent. Verbraucherinnen und Verbraucher rutschen so in die Verschuldungsspirale und häufig vom ­Dispo in den geduldeten Überziehungskredit. Dann kommen noch einmal 5 Prozentpunkte obendrauf. Eine Schranke für Dispozinsen findet sich nur in § 138 des BGB: Sittenwidrigkeit und Wucher. Der Bundesgerichtshof nimmt Sittenwidrigkeit aber erst bei einer Zinsrate von 12 Prozentpunkten über dem Marktzins an. Auch das Zahlungskontengesetz und strengere Beratungspflichten der Banken verhindern keine Wucherzinsen. Stiftung Warentest beklagt zum Beispiel, dass Angaben der Banken oft irreführend sind oder trotz gesetzlicher Vorschriften gänzlich fehlen. Die Bundesregierung beklagt in einer Mitteilung vom 14. Januar mit dem Titel „Konto-Minus vermeiden“, die Dispozinsen seien – ich zitiere – „viel zu hoch“. Die Regierung wäre aber nicht die Regierung, wenn sie nicht gleich einen praktischen Vorschlag für die Bevölkerung hätte. Erstens. Vor dem Kauf von Weihnachtsgeschenken sollte die Bevölkerung eine eiserne Reserve aufbauen. Zweitens. Kunden sollten einfach die Bank wechseln. Mit Verlaub: Das ist weltfremd. Wie soll das laufen? Guten Tag, ich bin Herr oder Frau Dispo und möchte gerne ein Konto bei Ihnen. – Das ist wie bei der Französischen Revolution: Wenn die Armen kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen. Die Linke fordert von daher einen gesetzlichen Deckel für den Dispo und auch für Überziehungskredite von 5 Prozentpunkten über dem aktuellen Leitzins der EZB. ({1}) Auch die Schuldnerberatung der Länder und Kommunen ist zu stärken. Mit unserem Antrag würden den Verbraucherinnen und Verbrauchern von den 3 Milliarden Euro Zinsgewinn 1,5 Milliarden Euro wieder zurückgegeben. Die Banken laufen daher gegen den Dispodeckel Sturm. Das zeigt: Wir machen etwas richtig. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Fabio De Masi. – Nächster Redner: Sebastian Steineke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sebastian Steineke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004417, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir reden heute über einen Antrag der Linksfraktion zu einem Thema, über das wir in den letzten Jahren bereits häufiger im Plenum diskutiert haben. Auch von den Grünen gab es Anträge, die in eine ähnliche Richtung zielten. Sie wiederholen, wie in den Vorjahren, die Forderung nach dem Dispodeckel – das haben wir gerade gehört: 5 Prozentpunkte über dem Leitzinssatz der EZB – und danach, dass die Banken an anderer Stelle Entgelte und Gebühren nicht unangemessen erhöhen dürfen. Das klingt auf den ersten Blick nach Wohlfühlpolitik – das ist, glaube ich, auch besonders populär –, aber so einfach ist es am Ende des Tages nicht. ({0}) – Eben nicht. Zunächst einmal – das haben wir mehrfach betont, auch die Bundesregierung – können wir festhalten, dass wir das Verhalten der Kreditinstitute schon sehr genau beobachten und feststellen müssen, dass es Kreditinstitute gibt – Kollege Ullrich wird dazu noch einige besondere Zahlen nennen; die habe ich gar nicht erfunden –, die besonders hohe Dispo- und Überziehungszinsen nehmen. Das ist unbestritten. Ich glaube, wir sind uns auch alle einig, dass wir das nicht wollen und dass wir dann, wenn es notwendig ist, gesetzgeberisch vorgehen müssen. Genau das haben wir vor einigen Jahren bereits getan. Das ist hier heute unterschlagen worden. Wir haben mit der Umsetzung der EU-Wohnimmobilienkreditrichtlinie geregelt, dass die Banken den Kunden eine Beratung anzubieten haben, wenn er seine eingeräumte Überziehungsmöglichkeit ununterbrochen über einen Zeitraum von sechs Monaten und durchschnittlich in Höhe eines Betrages in Anspruch genommen hat, der 75 Prozent des vereinbarten Höchstbetrages übersteigt. Wir haben in der Vorschrift diese Beratungsleistung auch bei einer geduldeten Überziehung von 50 Prozent über drei Monate vorgesehen. Das Beratungsangebot ist sogar in Textform zu dokumentieren und vom Kunden entgegenzunehmen. Die Verbraucher müssen frühzeitig gewarnt werden, um eine dauerhafte Inanspruchnahme zu vermeiden. Die Banken sind inzwischen auch gesetzlich verpflichtet worden, die Verbraucherinnen und Verbraucher über preisgünstigere Alternativen zum Dispokredit zu informieren. Das haben wir alles bereits vor einiger Zeit festgelegt. Die Evaluierung der Vorschriften zur Wohnimmobilienkreditrichtlinie steht noch in diesem Jahr an. Ich glaube, wir sind gut beraten, das Ganze abzuwarten und zu schauen, ob sich daraus weitere Handlungsmöglichkeiten ergeben. Meine Damen und Herren, es gibt aber auch Institute, die einen sehr geringen Zinssatz anbieten. Man darf mitnichten alle Kreditinstitute über einen Kamm scheren. In Brandenburg liegt die Spanne bei den Kreditinstituten zum Teil deutlich über 6 Prozentpunkten. Wir haben Institute mit Zinsen deutlich unter 7 Prozent, und wir haben auch welche mit Zinsen deutlich über 12 Prozent. Das ist übrigens ein Beweis dafür, dass der Markt durchaus funktioniert und dass einige gesetzgeberische Maßnahmen hier schon gefruchtet haben. Ich kann zum Beispiel für die Sparkasse aus meinem Wahlkreis besondere Zahlen in Anspruch nehmen: Sie hat im Jahr 2018 einen durchschnittlichen Zins von 6,95 Prozent; das nimmt sie auch weiterhin. Das ist im Übrigen ungefähr der Wert, den Sie sich vorstellen. Etwas darüber liegt er noch. Wir haben bereits in den Debatten in den Vorjahren darauf hingewiesen, was passiert, wenn man gesetzgeberisch einen solchen Deckel einführt. Dann wird nämlich genau das passieren, was wir alle nicht wollen, dass nämlich die Banken, die besonders günstige Dispozinsen anbieten, diese bis zur Höhe des vorhandenen Deckels anheben werden, wenn der Leitzins wieder anzieht, und sie werden dann sagen: Wir haben doch den Deckel. Dann können wir doch bis zu dieser Höhe gehen. – Ich glaube, das hilft keinem einzigen Verbraucher und kann auch nicht Sinn und Zweck unserer Politik sein. ({1}) Das grundsätzliche Problem sehen wir. Wir verfolgen dabei aber einen anderen Ansatz. Banken müssen noch mehr verpflichtet und sensibilisiert werden, die Kunden angemessen zu beraten. Wir brauchen klare Prüfpflichten für die Angemessenheit der Zinshöhe. Und wir brauchen noch mehr Transparenz. Vor allen Dingen – darauf müssen wir schon hinweisen – brauchen wir effektive Kontrollen, ob denn das, was wir gesetzgeberisch festgelegt haben, auch umgesetzt wird. Da kann man gerne mal auf die Homepages der einzelnen Banken gehen. Die Hinweispflichten sind da vielleicht nicht immer durchgehend erfüllt worden. Darüber sollten wir reden. Das ist auch der Weg, den wir gemeinsam beschreiten sollten. Deswegen lehnen wir diesen Antrag in der Form auch ab. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sebastian Steineke. – Nächster Redner ist Stefan Keuter für die AfD-Fraktion. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebes Publikum! Liebe Zuschauer zu Hause an den Fernsehgeräten! Liebes – leider immer noch unvollständiges – Präsidium! Ich darf daran erinnern: Die AfD hat immer noch keine Bundestagsvizepräsidentin oder keinen -vizepräsidenten. ({0}) Die Linkspartei möchte wieder einmal in die Freiheitsrechte der Marktteilnehmer unserer sozialen Marktwirtschaft eingreifen. ({1}) Diesmal soll das eh schon darbende Bankgewerbe getroffen werden. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, lieber Fabio De Masi, das war ein ziemlich dünner verbaler Erguss, der da eben kam. Für einen Volkswirt müsste da ein bisschen mehr Substanz am Knochen sein. Ich gehe jetzt auf drei Themen ein, einmal auf die Sicht der Banken, dann auf die Sicht der Verbraucher, und als Drittes rechnen wir zusammen gleich mal ein bisschen. Meine Damen und Herren, die Linke will den Banken vorschreiben, dass der Dispozins für Kunden maximal 5 Prozentpunkte über dem – wie sie es nennt – Leitzins der EZB liegen soll. Das ist linke Gleichmacherei. Das ist Sozialismus pur, und das ist mit uns nicht zu machen. ({2}) So, ich kündigte es Ihnen an: Punkt eins: Wir schauen uns die Bankenseite an. ({3}) – Dass man mit so wenigen Abgeordneten hier so einen Krach macht, das kann nur die Linkspartei. Wir schauen uns die Bankenseite an. Haben Sie als Antragsteller eigentlich schon mal eine Bank von innen gesehen? ({4}) – Ja, Dispozins beantragt; ich weiß. – Als gelernter Bankkaufmann und studierter Betriebswirt, Schwerpunkt Bankbetriebswirtschaftslehre, will ich Ihnen da mal ein bisschen was erklären. Der Hauptrefinanzierungssatz der EZB dient der Beleihung von erstklassigen Wertpapieren, die die Bank zuvor erworben hat, also gute Bonitäten. Mit der Refinanzierung von Dispositionskrediten hat dieser Satz nichts, aber auch gar nichts zu tun. Vielmehr kommt hier ein Mix aus Einlagen, ausstehenden Inhaberschuldverschreibungen und diversen Eigenkapitalprodukten zur Anwendung. Dazu kommen noch die Kreditmarge zur Abdeckung des Kreditausfallrisikos sowie die operativen Kosten, die die Bank hat, und ja, auch das gebundene Eigenkapital will verzinst werden. Überlassen Sie den Banken bitte ihre Produkt- und Kundenkalkulation selber. Sie müssen sich im Wettbewerb behaupten. Da muss eine Linke überhaupt nicht eingreifen. ({5}) Wir leben nicht in einer sozialistischen Planwirtschaft, und das ist auch gut so. ({6}) So, wir kommen zu Punkt zwei: ({7}) Wir schauen uns die Kundenseite an. Dispokredite dienen dem Abpuffern von unregelmäßigen Zahlungen und sollten idealerweise im Jahresverlauf zurückgeführt werden. Dass zahlreiche Bankkunden auch über einen Dispositionskredit hinaus vorgezogenen Konsum finanzieren, mag bedauerlich erscheinen, ist jedoch nicht im Einflussbereich eines Staates, der auf die Freiheit des Einzelnen setzt, und politisch nicht zu verhindern. Dass Ihnen als Sozialisten das nicht passt, glaube ich gerne. Aber Sie wollen doch jetzt nicht ernsthaft einen Angriff auf unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung starten, oder? ({8}) In der Praxis machen die Banken ihren Kunden Angebote für Ratenkredite, ja, die Banken sind sogar verpflichtet, zu beraten und im Zweifel auf Kredite umzuschulden, die mit dem Einkommen zu bezahlen sind. Dazu sind sie verpflichtet, und das wissen sie auch. Deshalb ist dieser Antrag zusätzlich wieder einmal unnütz. Und hier kommt es darauf an, dass der Kunde die Raten mit seinem Einkommen bezahlen kann. Das passiert dann auch. Von daher wird bereits vor der Bemessung des Kreditrahmens auf die Bonität abgestellt. Und ja, Banken lassen bisweilen auch Überziehungen zu. Das ist auch gut so. Sollen bei knapper Überschreitung des Kreditrahmens der Dauerauftrag für die Mietzahlung oder die Lastschrift für den Strom nicht ausgeführt werden? Eher nicht. Aber wenn ein Kunde sein Konto nicht im vorgesehenen Dispositionsrahmen führt, stellt er halt eine schlechtere Bonität dar. So, ich sagte: Punkt drei: Wir rechnen mal zusammen. Das „Handelsblatt“ hat eine Umfrage gemacht. Nur 11,8 Prozent der Dispositionskredite liegen über 1 500 Euro, das heißt über 88 Prozent unter 1 500 Euro. Wir rechnen mal: Bei einem durchschnittlichen Dispositionszinssatz von 9,72 Prozent beträgt die Zinslast 138 Euro pro Kreditnehmer und Jahr. Was Sie mit der Deckelung erreichen wollen, wäre eine Ersparnis von 63 Euro. Das heißt, die Zinslast würde bei 75 Euro liegen. Meinen Sie wirklich, dass Sie mit diesem marginalen Betrag die Verbraucher entschulden können, dass dies ein echter Beitrag dazu ist? Ich glaube das nicht. ({9}) Nein, es geht Ihnen um etwas ganz anderes. Ihnen sind privatwirtschaftlich geführte Banken ein Graus, und Sie wollen diese zerstören. Das ist im Kern ein Angriff auf unsere freiheitliche Grundordnung. Meine Damen und Herren, deshalb lehnt die AfD Ihren Antrag ganz vehement und konsequent ab. Vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Herr Keuter. – Nächste Rednerin: Sarah Ryglewski für die SPD-Fraktion. ({0})

Sarah Ryglewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An dem Beitrag des Herrn von der AfD wird deutlich, dass eines der Probleme dieses Antrags der Linken leider ein Stück weit der irreführende Titel ist. Ich teile eigentlich Ihre Einschätzung und auch Ihre Meinung zum Dispodeckel, genauso wie die gesamte SPD. Auch wir haben schon mehrfach den Dispodeckel gefordert. Wir konnten unseren Koalitionspartner bisher leider noch nicht überzeugen. Aber vielleicht ändert sich das ja im Laufe der Debatte. Wir haben auch noch ein paar Jahre in dieser Regierung vor uns. ({0}) Da haben wir auch noch Möglichkeiten, zu überzeugen. ({1}) Das Problem ist allerdings, dass man auseinandersortieren muss, um was es denn bei der Frage „Dispositionskredit und Dispodeckel“ geht. Das eine ist die Situation, dass es viele Menschen gibt – das ist so –, die durch die wiederholte Inanspruchnahme des Dispo in die Überschuldung geraten. Das Ausfallrisiko bei diesen Krediten ist ja auch deshalb so gering, weil der Dispo im Grunde genommen eine Art Lohnpfändung ist; denn jemand, der am Ende des Monats tief in den Miesen ist, steht, wenn das Gehalt kommt, mit Glück wieder bei null. Wenn er Pech hat, kommt er gar nicht aus den Miesen raus. Dadurch wird die Verschuldung immer höher. Es wurde gesagt: Na ja, da gibt es Leute, die nur eine Kreditsumme von 1 000 Euro haben. – Ich finde, das ist sehr dahingesagt. Auch das ist eine sehr hohe Summe. Auf diese Summe 8 Prozent Zinsen zu zahlen, klar – das haben Sie ja geschildert –, das sind jetzt keine Millionenbeträge. Aber man fragt sich schon, warum man ausgerechnet bei einer Gruppe, die finanziell so verletzlich ist, so dick zuschlagen muss. ({2}) Das ist doch die eigentliche politische Diskussion, der wir uns hier stellen müssen. Natürlich ist der Dispokredit nicht der einzige Grund, warum Leute in die Überschuldung geraten. Mir fallen beim Thema Kreditvergabe übrigens noch eine ganze Reihe anderer Dinge ein. Ich sage mal so: Wenn man bei Saturn bei dem Versuch, eine Waschmaschine zu kaufen, nebenbei mit einem Kreditvertrag mit 0 Prozent Zinsen gelockt wird, kaufen die Leute am Ende in einem größeren Maße ein, als sie es sich eigentlich leisten können. Dann muss umgeschuldet werden. Der neue Kredit ist dann plötzlich teurer. Auch so geraten Leute in die Überschuldungsfalle. Wir müssen das Thema insgesamt betrachten. Die Frage ist tatsächlich, warum die darbenden oder spendablen Banken – ich konnte akustisch nicht verstehen, ob Sie „darbend“ oder „spendabel“ gesagt haben, aber beide Begriffe wären meiner Meinung nach falsch – ({3}) denn unbedingt ihre Gewinne mit dieser sensiblen Kundengruppe machen müssen. ({4}) Ich weiß auch, dass das momentane Niedrigzinsumfeld für die Banken ein Problem ist. Ja, das wissen wir, das diskutieren wir auch immer wieder. Man kann sich aber auch mal angucken, wie die Zinsentwicklung bei anderen Krediten ist. Da gibt es nämlich einen Unterbietungswettbewerb. Wer heute halbwegs solvent ist, eine halbwegs vernünftige Bonität aufweist, der kann sich gar nicht vor Banken retten, die einem Kredite anbieten. Ich bin sicher, Sie kriegen auch regelmäßig Angebote: 0-Prozent-Finanzierung, 1-Prozent-Finanzierung. Beim Dispo werden aber hohe Zinsen genommen. Da muss man sich doch mal fragen: Ist das etwas, was wir politisch wollen? ({5}) Und ich sage ganz klar: Ich möchte das nicht, die SPD-Fraktion möchte das nicht. Wir arbeiten an unserem Koalitionspartner. Noch mal zu den Punkten, die wir schon angegangen sind, um hier ein Stück weit voranzukommen. Das eine Thema sind die Beratungspflichten. Ja, das anzugehen, war ein richtiger Schritt. Ich glaube, um die Überschuldungsproblematik zu lösen, ist es wichtig, dass die Leute eine vernünftige Beratung bekommen. Allerdings zeigen die ersten Erfahrungen leider, dass wir hier nicht so richtig vorangekommen sind. Das funktioniert nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben. Das hat ein Stück weit auch damit zu tun, dass der Bankberater oft nicht die dahinterliegende Problematik lösen kann. Insofern geht es darum, die unabhängigen Schuldnerberatungsstellen zu stärken. ({6}) Wir hatten im Zuge der Diskussion um die Wohnimmobilienkreditrichtlinie auch mal überlegt, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, die Kreditwirtschaft an deren Finanzierung zu beteiligen. Darüber kann man noch mal nachdenken; denn es geht in der Tat darum, das Thema Verschuldung grundsätzlich anzugehen. Die Problemlage ist aber auch ein wenig davon geprägt, dass viele der Leute, die im Dispo sind, gar keine günstigeren Konditionen angeboten bekommen, weil sie sich in einer Situation befinden, in der ihre Bonität so schlecht ist, dass ihnen ein entsprechendes Angebot nicht gemacht wird. Das ist der Grund, warum viele den Dispo überhaupt in Anspruch nehmen und nicht – wie wir es möglicherweise machen würden – zur Bank gehen und sagen: Was können Sie mir anbieten? Ich habe absehbar einen finanziellen Engpass. Das andere Thema ist die Transparenz. Darauf setze ich ganz stark, damit wir im Bereich der Zahlungskonten endlich mal einen echten Wettbewerb haben. Den haben wir derzeit nicht. Versuchen Sie mal – ich kann das nur empfehlen –, herauszufinden, wie hoch aktuell der Dispozins Ihrer Hausbank ist. Ich sage Ihnen: Da haben Sie einen Nachmittag lang gut was zu tun; das ist gar nicht so einfach. Ich finde es richtig, dass man da rangeht. Eine solche Information würde aber bei der Gruppe, über die wir hier reden, nicht viel bringen. Von daher würde da mehr Transparenz nicht helfen. Wer schon mit seinem Konto im Minus ist, der hat auch gar nicht die Möglichkeit, einfach so zu wechseln, weil er erst mal den Dispo ablösen muss. ({7}) Die Problemlage ist dabei: Bei manchen Leuten reicht das laufende Einkommen nicht, um die entsprechenden Zahlungen zu bestreiten. Ich mache einen Strich drunter. Ich glaube, wir sollten an diesem Thema dranbleiben. Ich hoffe tatsächlich, dass wir die Evaluierung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie dafür nutzen, an das Thema Dispozinsen ranzugehen und über Maßnahmen nachzudenken. Vielleicht hat das eine oder andere Argument in dieser Debatte ja auch die Damen und Herren von unserem Koalitionspartner überzeugt. Ich würde mich auf jeden Fall freuen, darüber noch mal ins Gespräch zu kommen. Wir stehen weiter dahinter. Wir werden daran arbeiten und Überzeugungsarbeit leisten. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Katharina Willkomm, FDP-Fraktion. ({0})

Katharina Kloke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004783, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kreditvergabe ist ein wichtiger Motor der deutschen Wirtschaft. Mit großen Ratenkrediten werden Häuser gebaut und Träume verwirklicht. Im Kleinen eröffnen Dispokredite den Menschen Spielräume, um sich Wünsche frühzeitig zu erfüllen oder Angebote zu nutzen, auch wenn auf dem Konto gerade Ebbe herrscht. Durch ihre einfache Verfügbarkeit fördern Dispokredite den Handel und helfen den Menschen, Geldengpässe zu überbrücken. Damit werden auch Folgeprobleme verhindert, zum Beispiel, wenn die Waschmaschine kaputtgeht und schnell eine neue hermuss. Wie bei einem jeden Kredit geben die Banken – gleich, ob Privatbank, Genossenschaftsbank oder Sparkasse – den Dispokredit natürlich nicht aus Nächstenliebe; sie verdienen an den Zinsen. Beim Dispo sind sie höher, weil die Banken keine echten Sicherheiten erhalten. Die Linke behauptet, mit 31 Milliarden Euro Dispovolumen würden sich die Banken auf Kosten ihrer Kunden sanieren. Dass seit Jahren eine Bank nach der anderen dichtmacht, ist Ihnen aber offenbar entgangen. ({0}) Aber große Zahlen machen noch keine großen Argumente. Setzen wir also die 31 Milliarden Euro Dispovolumen in die richtige Perspektive: Deutsche Banken stellen konstant rund 2 708 Milliarden Euro durch Kredite zur Verfügung. Dispokredite machen davon gerade mal gut 1 Prozent aus – schwerlich ein Riesengeschäft für die Banken. Die Verbrauchersicht kann eine andere sein. Natürlich ist es ein Problem, wenn das Schicksal zuschlägt. Wenn man die Arbeit verliert, einen Unfall hat oder die schmale Rente hinten und vorne nicht reicht, dann rutscht man schnell in den Dispo. Wenn kein frisches Geld nachkommt, beginnt die Überschuldungsspirale. Der Ausweg sind aber nicht staatlich festgesetzte Zinsen, sondern Schuldenberatungen. ({1}) Diese zu fördern, ist ein Punkt, den wir unterstützen können. Laut dem SchuldnerAtlas Deutschland ist der Schuldner meistens unter 40, also eher jung, und nutzt den ­Dispo freiwillig und nur gelegentlich. So machen das laut Ihrem Antrag 83 Prozent der Bankkunden. Ein solcher Schuldner möchte ein neues Smartphone kaufen, Preis 500 Euro, aber das nächste Gehalt kommt erst in zwei Wochen – also rein in den Dispo. „Finanztest“ erhebt regelmäßig die Zinssätze. Beim aktuell höchsten Zinssatz von 13,75 Prozent kostet die Ungeduld unseren Durchschnittsschuldner 2,70 Euro – keine weltbewegende Summe. Die Höhe des Dispozinses ist nicht das Problem. Seit der letzten Zinssatzerhebung vor fünf Jahren ist er im Schnitt sogar gefallen, um 1,59 Prozent punkte. Der Leitzins blieb derweil annähernd stabil. Zu dieser Zinssenkung haben auch verschärfte Transparenzpflichten beigetragen. Die Verbraucher können besser vergleichen. Sie gehen zu Banken mit besseren Konditionen; die eingeführte Kontowechselhilfe macht es ihnen leicht. Die zunehmende Digitalisierung wird den Wechseltrend weiter stärken und damit die Zinsen weiter drücken. Der schlaueste Ansatz aber, damit Geldprobleme gar nicht erst entstehen, ist Bildung. ({2}) Wir müssen mit besserer Bildung dafür sorgen, dass bereits Kinder wirtschaftliche Zusammenhänge verstehen und lernen, vernünftig mit Geld umzugehen. ({3}) Dementsprechend hat NRW auf Initiative von FDP-Bildungsministerin Gebauer ab diesem Jahr das Schulfach Wirtschaft eingeführt. ({4}) Bundesweit engagiert sich etwa die Deutsche Stiftung Verbraucherschutz mit dem Projekt Verbraucherschule dafür, Schüler bei den Themen Medien, Ernährung und auch Finanzen kompetent zu machen. Damit erhalten sie das Rüstzeug für ein selbstbestimmtes und schuldenfreies Leben. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Willkomm. – Als Nächste spricht zu uns die Kollegin Tabea Rößner, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Abzocke mit Dispozinsen“ titelte Stiftung Warentest 2013, „Dreister Dispozins“ 2016, und kürzlich schrieb sie: „Die Dispozinsen … sind teilweise … absurd hoch.“ Alle Jahre wieder! Und obwohl wir das Thema immer wieder auf die Tagesordnung gesetzt haben: Geschehen ist herzlich wenig. Dabei geht es nicht nur um die schwarzen Schafe unter den Banken, die Verbraucher mit Dispozinsen in Höhe von sagenhaften 13,7 Prozent abzocken. Auch der durchschnittliche Dispozins ist viel zu hoch: aktuell über 9,7 Prozent. Besonders beschämend finde ich, dass es zu 2014 kaum einen Unterschied gibt, obwohl die Große Koalition versprochen hatte, das Problem endlich anzugehen. Gewundert hat mich das allerdings nicht. Denn was hat der damalige Verbraucherminister Maas unternommen? Statt, wie im Wahlkampf immer wieder angekündigt, den geforderten Dispodeckel einzuführen, gab es: Warnhinweise. Was wir wirklich brauchen – ich glaube, das hat die Debatte hier deutlich gezeigt; da kommen wir zu einer anderen Einschätzung als FDP und Union –, ist eine gesetzliche Regelung, durch die die Dispo- und Überziehungszinsen endlich gedeckelt werden. ({0}) Ich habe aber noch eine traurige Nachricht: Dispozinsen sind nicht das einzige ungelöste Problem. Es gibt zahlreiche Beispiele, wo Banken den Verbraucherinnen und Verbrauchern das Geld regelrecht aus der Tasche ziehen. Thema Kontoführungsgebühren. Klar, dass Banken für die Führung eines Kontos Gebühren verlangen dürfen. Aber die Kreativität, diese als neue Einnahmequelle umzumodellieren, hat zu einem Wildwuchs an verschiedensten Kontomodellen, Gebühren für Einzelleistungen und absurden Entgelten geführt. Und da werden so selbstverständliche Leistungen wie das Abheben von Bargeld oder Onlinebanking gar nicht mal mit abgedeckt. Konten, die mit niedrigen Gebühren für die Kontoführung attraktiv erscheinen, werden plötzlich zu Kostenfallen. Die Antwort der Bundesregierung darauf: eine Vergleichsplattform. Die sollte es eigentlich – nach dem Zahlungskontengesetz – schon seit Oktober geben. Davon aber bisher auch keine Spur! Und die wird auch nicht viel ändern. Stattdessen brauchen wir faire Bedingungen, damit Kunden einen echten Überblick über die Gebühren haben. ({1}) Weiteres Beispiel: Restschuldversicherung – eine echte Schuldenfalle für viele Verbraucherinnen und Verbraucher. Da schieben Banken den Kunden völlig überteuerte und überflüssige Produkte mit hohen Provisionen unter, ohne dass das den Verbrauchern klar ist. Ein Zins etwa, der mit 8 Prozent als angemessen erscheint, entpuppt sich mit über 20 Prozent als Wucherzins – die Restschuldversicherung wird nämlich nicht mitberechnet, und die Verbraucherinnen und Verbraucher werden so getäuscht. ({2}) Die BaFin fand übrigens heraus, dass Banken in über der Hälfte der Fälle mehr als 50 Prozent der Versicherungsprämie als Provision erhalten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Das Problem ist mittlerweile so groß, dass sich jetzt ein „Bündnis gegen Wucher“ gegründet hat, und das fordert – wie auch wir seit Jahren – endlich wirksame Maßnahmen. ({3}) Auch hier hat die Bundesregierung nur eine weitere Informationspflicht über das Widerrufsrecht nach Vertragsschluss eingeführt. Aber auch das schafft nicht mehr Klarheit. Die Branche zeigt sich erneut kreativ: Das Informationsschreiben sieht wie ein Begrüßungsschreiben aus; so ist das sehr gut getarnt, und die Information kommt bei den Kunden gar nicht an. Wir fordern seit Jahren ein „zweites Preisschild“, das den Effektivzinssatz jeweils mit und ohne Restschuldversicherung ausweist. Auch der Wucherparagraf gehört auf den Prüfstand. Kopplungs- und Bündelungsgeschäfte, die dem Kunden schon objektiv nicht nutzen, müssen verboten werden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bei all den Baustellen im finanziellen Verbraucherschutz frage ich mich: Wo ist denn die Verbraucherministerin? Schon in Brüssel? Fakt ist jedenfalls: Die Große Koalition kuscht vor den Banken.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin!

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dabei ist es dringend an der Zeit, Verbraucherinnen und Verbraucher endlich vor absurden Gebühren und Wucherpreisen zu schützen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Rößner. – Als Nächster erhält das Wort der Kollege Dr. Heribert Hirte, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Schriftführer! Ich sehe hier drei Leute im Präsidium – ein vollständiges Präsidium –, anders als mein Vorredner von der AfD eben. Insofern: Wunderbar! Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Zuhörer, wir haben über einen Antrag der Linken zu beraten. Dieser Antrag ist – das wurde schon gesagt – ein zum wiederholten Male vorgelegter Antrag, ein Wiedergänger. ({0}) Und Ihre Rede, lieber Kollege, haben Sie auch in der letzten Legislaturperiode schon in ähnlicher Form gehalten. ({1}) – Nicht Sie persönlich, sondern Sie von der Linken. Deshalb fragt man sich natürlich erst einmal, ob das Anliegen berechtigt ist. Ja, das Anliegen ist berechtigt. Natürlich ist es ein wichtiges und zentrales Anliegen, die Überschuldung privater Haushalte zu bekämpfen. Nur, was Sie übersehen haben: An all den Punkten aus Ihrem Antrag haben wir unter anderem in der letzten Legislaturperiode intensiv gearbeitet. Ich fange einmal an: Wir haben das Zahlungskontengesetz in Kraft gesetzt – es ist seit dem 31. Oktober in Kraft. Das sieht Vergleichswebsites vor. ({2}) In der Tat sind sie noch nicht in dem Maße vorhanden – da bin ich völlig bei der Kollegin Rößner, die das angesprochen hat –, wie wir es uns wünschen. Diese Websites sind kompliziert, und deshalb gibt es ein Akkreditierungsverfahren. Wenn sie akkreditiert sind, bekommen sie ein wunderschönes Symbol. Aber das dauert natürlich. Aber Sie können nicht sagen, dass der Markt nicht funktioniert, nur weil Sie das nicht abwarten wollen. Wir haben vielmehr marktmäßige Mechanismen geschaffen, die genau das von Ihnen genannte Problem adressieren. Ich sage ganz deutlich: Das sind marktmäßige Mechanismen. Das, was Sie fordern und was zu meiner Enttäuschung auch die SPD fordert, sind sozialistische Preisregeln, und das machen wir nicht mit. ({3}) Ich möchte aus diesem Gesetzesprogramm zitieren: Die Entgeltinformation, die Transparenz wird verbessert. Der Kontenwechsel wird erleichtert. Bei einem Kontenwechsel können Sie Überweisungsdaten und Einziehungsaufträge mitnehmen. Das ist die marktmäßige Antwort auf das Problem, das Sie schildern. Der Kollege Steineke hat die Wohnimmobilienkreditrichtlinie angesprochen – sie wurde in der letzten Legislaturperiode in deutsches Recht umgesetzt. Ich möchte das hier fürs Protokoll sagen: § 504a BGB regelt das Problem, das Sie auch mit Ihrem Antrag regeln wollen, nämlich die Informationspflicht, die Beratungspflicht der Banken bei Inanspruchnahme von weiteren Überziehungsmöglichkeiten. Das, was Sie wollen, haben wir als Koalition in der letzten Legislaturperiode schon gemacht. Ich bin bei Ihnen: Wir werden uns in der Zukunft natürlich ansehen, ob das wirklich wirkt. ({4}) – Nein, wir machen keine Preisregulierung, sondern wir stellen Transparenz her. ({5}) Transparenz der Preise ist wichtig, damit die Kunden, die Menschen entscheiden können, zu welcher Bank sie gehen. Das darf nicht von oben, wie Sie sich das vorstellen, vorgeschrieben werden. ({6}) Und wenn Sie jetzt sagen, dass wir Regelungen brauchen, die dazu führen, dass die Preise nicht indirekt zum Ausgleich erhöht werden, dann bin ich bei Ihnen. Aber das AGB-Recht sorgt doch dafür! Wir haben Verbraucherverbände, die dann klagen. Genau das wird auch durchgesetzt. Ihr Antrag ist auch da aus dem letzten Jahrhundert, könnte man fast sagen. ({7}) Völlig übersehen haben Sie, dass die Hauptlösungsmöglichkeit für private Überschuldung die Restschuldbefreiung, die Privatinsolvenz ist. ({8}) Die haben wir eingeführt. Auch die gerade in der Verabschiedung begriffene Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen auf der europäischen Ebene adressiert ebenfalls genau dieses Problem. Sie sorgt für weitere Erleichterungen bei der Restschuldbefreiung, auch mit der entsprechenden Möglichkeit für Verbraucher, dies Instrument zu nutzen. Wir haben die Bundesregierung ermutigt, dieses Verfahren zu betreiben, und das wird auch kommen. Deshalb ist Ihr Antrag überflüssig wie ein Kropf, und deshalb lehnen wir ihn ab. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Hirte, herzlichen Dank, auch für Ihren Hinweis darauf, was Sie sehen. Das Sitzungspräsidium ist vollständig; wenn es nicht vollständig wäre, könnten wir gar nicht tagen. ({0}) – Herr Kollege Dr. Hirte, wir wollen nicht diskutieren. Ich war im Saal und habe es auch gehört und mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. Als nächster und letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({1})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Ende der Debatte noch einmal die Problematik der Dispozinsen sachlich einordnen. Die Spanne der Dispozinsen in Deutschland ist weit: Sie liegt zwischen 6 Prozent bei Direktbanken und 13 Prozent bei einigen Genossenschafts- und Raiffeisenbanken. Ja, wir haben festzuhalten, dass die Dispozinsen in Deutschland noch vor wenigen Jahren wesentlich höher waren. Das war übrigens das Ergebnis von Marktversagen. Aufgrund fehlender Aufklärung, mangelnder Wechselmöglichkeit und fehlender Umschuldungsmöglichkeit sind oftmals Bankkunden in der Dispofalle gefangen gewesen. Es darf heute nicht verschwiegen werden, dass bereits die Große Koalition der letzten Wahlperiode gehandelt hat, und zwar nicht nur, indem sie den Banken die Verpflichtung auferlegt hat, transparent auf die Höhe des Zinses aufmerksam zu machen, sondern auch, indem sie eine Verpflichtung ins Gesetz geschrieben hat, die Umschuldung vorzunehmen, damit Menschen spätestens nach drei Monaten zwingend aus dem Dispo herauskommen können. Ich glaube, das dürfen Sie bei der Debatte nicht verschweigen. Ja, es gibt Fälle, in denen die Zinsen heute zu hoch sind. Auch ich finde, dass zweistellige Dispozinsen ein Ärgernis darstellen. ({0}) Ein Grund ist beispielsweise, dass wir eine Bankenlandschaft haben, in der gerade kleine Institute aufgrund ihrer eigenen Refinanzierungskosten höhere Dispozinsen nehmen müssen. Deswegen wäre die Frage, ob eine Umstrukturierung innerhalb der Bankenlandschaft hier vielleicht eine Erleichterung bringen könnte. Wir müssen auch über die Frage sprechen, inwieweit Bankgebühren zu den Dispozinsen hinzutreten. Es wäre nichts gewonnen, wenn wir einen gesetzlichen Deckel bei den Dispozinsen einführen und die Banken gleichzeitig das, was sie nicht mehr an Dispozinsen nehmen, bei den Bankgebühren draufschlagen. Ich glaube, hier ist eine ganzheitliche Sichtweise angemessen. Wenn Sie die Frage stellen: „Wie können wir den Menschen helfen, die in finanziellen Schwierigkeiten sind?“, dann sage ich ganz ehrlich: Bei den Menschen, die am Ende des Monats schwer über die Runden kommen, kommt es nicht allein darauf an, wie hoch die Dispo­zinsen sind. Vielmehr kommt es darauf an, dass die Menschen eine ordentliche Erwerbsarbeit haben, dass sich die Einnahmesituation der Menschen verbessert. ({1}) In diesem Zusammenhang möchte ich etwas ansprechen, was heute noch niemand gesagt hat: Wir haben im Augenblick eine Rekordbeschäftigung in Deutschland. Diese Koalition hat einen Mindestlohn eingeführt. Wir erhöhen die Erwerbsminderungsrente. Wir kümmern uns also, damit die Menschen ganz konkrete Verbesserungen bei ihrer Erwerbsarbeit erfahren. Das haben Sie, meine Kollegen von der Linken, tunlichst verschwiegen. ({2}) Ja, wir müssen das Augenmerk auch auf die Menschen legen, die in einer Schuldenfalle gefangen sind. ({3}) Das geht durch eine Verbesserung der Schuldnerberatung. ({4}) Unsere Botschaft ist ganz klar: Wer in einem Schuldenkreislauf ist, darf deswegen nicht stigmatisiert werden. Vielmehr müssen wir diesem Menschen Hilfe anbieten, Hilfe in Bezug auf das Finden einer neuen Beschäftigungsmöglichkeit, aber auch Hilfe, seine Schulden Stück für Stück loszuwerden. Ich glaube, das ist ganz konkrete, notwendige Hilfe zur Selbsthilfe. Wir haben, meine Damen und Herren, einen ganzheitlichen Ansatz. Wir sagen nicht einfach: Wir deckeln die Dispozinsen, und alles ist gut. ({5}) Das Thema muss vielmehr grundsätzlich und umfassend angegangen werden. ({6}) Aber ich sage Ihnen auch, die Banken sind genauso in der Pflicht, im Rahmen ihres Geschäftsgebarens dafür Sorge zu tragen, dass es fair und gerecht zugeht. Herzlichen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/6525 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig: Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Finanzausschuss. Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke, Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Dann stelle ich fest, dass gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke ({0}) mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses der Überweisungsvorschlag abgelehnt worden ist. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Auch keine. Dann ist dieser Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In seiner Abschiedsrede am 17. Januar 1961 hat US-Präsident Eisenhower eindringlich vor dem militärisch-industriellen Komplex gewarnt. Heute, am 1. Februar 2019, scheint es endgültig so zu sein, dass dieses Netzwerk aus Politik und Rüstungsindustrie die Agenda des US-Präsidenten bestimmt. Die heutige Kündigung des Abkommens über die Vernichtung landgestützter atomar bestückbarer Mittelstreckenraketen, den INF-Vertrag, der der Kern der Sicherheitsarchitektur in Europa ist, ist eine katastrophale Entscheidung von US-Präsident Trump. ({0}) Die Linke sieht in dieser Entscheidung eine Gefährdung der internationalen Sicherheit und von Frieden und Sicherheit in Europa. Wir als Linke verurteilen diesen verantwortungslosen Akt von US-Präsident Trump aufs Schärfste, meine Damen und Herren. ({1}) Aufs Schärfste, denn ohne diesen Vertrag geht es zurück in die 80er-Jahre, in die Zeit der Pershing II und der SS-20, in die Zeit des atomaren Wahnsinns und Wettrüstens. Das dürfen wir nicht akzeptieren, ({2}) und das darf man auch nicht einfach nonchalant hinnehmen, wie es die Bundesregierung tut. Zur Erinnerung: Der Abschluss dieses INF-Vertrags zwischen der Sowjetunion und den USA im Dezember 1987 demonstrierte der Welt die Möglichkeiten der friedlichen Koexistenz. Was damals, im Kalten Krieg, möglich war, das sollte doch auch jetzt möglich sein. Es muss doch möglich sein, diesen Vertrag aufrechtzuerhalten. ({3}) Die Kündigung dieses so wichtigen Vertrags jetzt durch Trump ohne den wirklichen Versuch einer ansatzweisen Verständigung über diese Meinungsverschiedenheiten ist unbegreiflich. ({4}) Dabei stehen die damals bei Vertragsabschluss vereinbarten Verifikationsinstrumente heute noch zur Verfügung, um die Einhaltung dieses Vertrages zu kontrollieren. Hiermit komme ich zu dem eklatanten Versagen der deutschen Außenpolitik. Es ist wirklich ein Trauerspiel, dass Herr Außenminister Maas mit anderen Ländern in Europa keine ernsthafte Vermittlungsinitiative ergriffen hat, ({5}) um die Möglichkeiten eines gemeinsamen diplomatischen Handelns überhaupt zu eruieren, um eine aktive Vermittlungspolitik zu betreiben, die beide Seiten, USA und Russland, dazu bewegen soll, die Konflikte über die Verifikation des Vertrages in Gesprächen ohne Vorbedingungen zu lösen. Stattdessen hat Herr Maas verbal seine Vermittlungsbereitschaft betont, sich aber sofort hinter US-Präsident Trump und seine Vorwürfe gegen Russland gestellt, ({6}) und das auch noch, wie die Bundesregierung auf meine parlamentarische Anfrage antwortete, ohne eigene Erkenntnisse zu haben. Ich finde, wer so auftritt wie Herr Maas, muss sich nicht wundern, dass er überhaupt nicht mehr ernst genommen wird. ({7}) Mit Tony Blair gab es bereits einen Sozialdemokraten in Europa, der aufgrund seiner extremen Hörigkeit gegenüber einem rechtskonservativen US-Präsidenten als „Bushs Pudel“ geschmäht wurde. Wenn ich mir die Performance von Ihnen, Herr Maas, anschaue, ({8}) muss ich fragen, ob Sie Tony Blair hier nacheifern wollen. Ich rate es Ihnen jedenfalls nicht. ({9}) Ich will auch daran erinnern, dass dies nicht der erste wichtige internationale Vertrag ist, der von Trump aufgekündigt wird. Jüngst wurde das Atomabkommen mit dem Iran aufgekündigt. Und jetzt soll auch die Verlängerung des New-START-Abkommens über die Obergrenze strategischer Nuklearwaffen 2021 scheitern, weil dies nach den Worten des US-Präsidenten – ich zitiere – nicht im Interesse Amerikas sei. Ich frage mich natürlich: Was muss dieser rechte US-Präsident eigentlich noch tun, damit Herr Maas und Frau Merkel ihre blinde Gefolgschaft beim Amoklauf von Trump einfach mal beenden und stoppen? ({10}) Wenn man nur etwas Rückgrat hätte und die Sicherheit der Bevölkerung in Deutschland und in Europa im Blick hätte, müsste man Folgendes tun: Erstens müsste man die USA öffentlich dazu auffordern und Druck machen, dass sie in diesem Vertrag verbleiben. Zweitens müsste man gegenüber den USA klarmachen, dass die Bundesrepublik Deutschland einer weiteren Stationierung neuer US-Atomwaffen auf deutschem Boden nicht zustimmen wird. Meine Damen und Herren, damit verträte man das Interesse der Bevölkerung in Deutschland und nicht Trumps Interesse. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Und – dritter Punkt – der Abzug der US-Atomwaffen von deutschem Boden ist endlich einzuleiten, damit auch die anderen europäischen Länder nachziehen können. Abrüstung ist das Gebot der Stunde. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Roderich Kiesewetter, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema „Mittelstreckenraketen und INF-Vertrag“ verdient eine besonnene und sehr nüchterne Betrachtung. Warum unterhalten wir uns heute darüber? Bereits vor zehn Jahren hat Russland, hat Putin deutlich gemacht, dass der INF-Vertrag ein Relikt des Kalten Krieges ist. Seit 2014 haben die USA mit über 30 Gesprächsangeboten versucht – noch unter der Obama-Administration –, ({0}) mit Russland ins Gespräch zu kommen. Alles ohne Erfolg. Für uns als CDU/CSU sind vier Punkte sehr wichtig: Erstens der Schutz unserer Bevölkerung, unserer Bürgerinnen und Bürger vor dieser neuen nuklearen Gefahr der russischen Raketen. Zweitens ist es für uns ganz wichtig, dass wir uns in der NATO nicht erpressen lassen, dass wir uns nicht spalten lassen, dass von dieser Debatte, die gerade in schrillen Tönen anklang, kein Gefühl der Angst und Bedrohung ausgeht. Es geht uns darum, dass wir sehr nüchtern die Lage analysieren ({1}) und auf gar keinen Fall Sonderwege beschreiten. Das führt mich zum dritten Punkt. Was Die Linke fordert, ist ein deutscher Alleingang, ein deutscher Sonderweg. ({2}) Sie verlangt nämlich die Aufgabe der nuklearen Teilhabe. Man muss sich das einmal vorstellen: Russland füllt die Arsenale mit neuen Nuklearraketen, verweigert den Einblick, ob diese den INF-Vertrag verletzen oder nicht, und Die Linke möchte, dass der Westen, dass die NATO die Regale räumt. Was ist das für eine Abrüstungsdebatte, wenn die einen aufrüsten und die anderen abrüsten sollen? ({3}) Einseitige Abrüstung hat noch nie zu Frieden geführt, Aufrüstung aber auch nicht. Es geht um sinnvolle, gemeinsame Abrüstung; das ist die Position der CDU/CSU. ({4}) Diese einseitigen Schritte führen mich zum vierten Punkt. Für uns ist es von ganz besonderer Bedeutung, dass wir die Ausbreitung von Nuklearwaffen in Europa verhindern. Wenn die Bundesrepublik Deutschland auf die nukleare Teilhabe verzichtet, führt das automatisch dazu, dass Länder östlich von uns ihrem Bedrohungsgefühl freien Lauf lassen und mit den USA Sonderabkommen erzielen wollen, um selbst Nuklearwaffen auf ihrem Boden stationiert zu bekommen, ({5}) weil in diesen Ländern aus der Geschichte heraus ein anderes Bedrohungsgefühl vorherrscht als bei uns. Ich warne davor, dass mit diesem Vorschlag der Zusammenhalt der NATO gespalten wird. Es kann weder im Interesse der Linken sein, dass plötzlich in anderen NATO-Staaten der Ruf nach nuklearer Aufrüstung laut wird, noch kann es im Interesse anderer Parteien dieses Hauses sein. ({6}) Worauf läuft es hinaus? Wir Europäer sollten einmal die Lage analysieren, sollten analysieren, was Russland und die USA bewegt. Warum hat Russland aufgerüstet? Und warum sind die USA aus dem durch Russland gebrochenen Vertrag heute ausgestiegen? – Wir haben jetzt noch sechs Monate Zeit. – Weil sich in den letzten 30 Jahren die Welt erheblich verändert hat: Länder wie China, Nordkorea, Indien, aber auch Pakistan und der Iran sind im Besitz von Mittelstreckenraketen, ({7}) einige dieser Staaten auch von Nuklearwaffen. Wir sollten einmal nachvollziehen, dass das Sicherheitsgefühl von Südkorea und Japan angesichts dieser nuklearen Aufrüstung ein etwas anderes ist und dass die Amerikaner eben nicht den Vertrag brechen wollen, indem sie dort solche Mittelstreckenraketen stationieren, und umgekehrt Russland sicherlich auch nicht erfreut ist, dass China solche Raketen stationiert. Deshalb sieht die Lösung etwas anders aus, als von Frau Dağdelen vorgeschlagen. Unser Außenminister Maas hat ja ein paar Punkte angesprochen. Ich möchte das aus Sicht der Union bewerten und auch hier vier Punkte ansprechen: Erstens. Wir sollten im Rahmen einer Verhandlungsinitiative alles tun, dass der INF-Vertrag erhalten bleibt oder ein neues, überprüfbares System bekommt, in dem die Russen auch bestimmte Verifikationsleistungen erbringen. Zweitens. Ich finde es gut, dass das Auswärtige Amt im März eine entsprechende Konferenz einberuft, auf der diese Waffensysteme, aber auch Cyberwaffen und autonome Waffensysteme erst mal analysiert werden. Wir müssen uns doch als Bundesrepublik Deutschland eine eigene Meinung und Haltung erarbeiten. ({8}) Ein weiterer Punkt ist, dass wir ein Verifikationssystem aufbauen, das überprüfbar ist, um dann in einem vierten Schritt eine Globalisierung zu ermöglichen. Deutschland mit Sitz im Weltsicherheitsrat hat sich vorgenommen, gemeinsam mit Frankreich die Agenda im März und im April zu bestimmen. Ich hielte es für gut – aus Unionssicht würden wir es begrüßen –, wenn wir eine Initiative starten würden zur Erweiterung der internationalen Abrüstung auf die Frage der Behandlung von Mittelstreckenraketen auch im Format mit China, Indien, Pakistan und Iran. Das ist ein Langfristthema.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kurzfristig müssen wir zusammenstehen, den Schutz unserer Bevölkerung garantieren und den Zusammenhalt in der NATO bewahren. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Robby Schlund, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Werte Gäste auf den Rängen! Vor ungefähr zehn Minuten haben wir erfahren – aus einer Pressekonferenz von Herrn Pompeo –, dass die USA den INF-Vertrag definitiv verlassen werden. ({0}) Das ist traurig. Dabei hat der russische Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew, vor wenigen Tagen den INF-Vertrag – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten – als einen „Eckpfeiler des europäischen Sicherheitssystems und einen der wichtigsten Abrüstungsverträge der Welt“ bezeichnet. ({1}) Die AfD-Bundestagsfraktion und ich ganz persönlich danken dem Botschafter für diese klare Position, da wir diese Meinung teilen. ({2}) – Ja. Wir glauben Botschafter Netschajew auch, wenn er betont, dass Russland keine Konfrontation mit anderen Staaten sucht. Warum sollte Russland auch diese Art von Konfrontation suchen? Wenn Sie sich die Zeit nehmen und einfach mal eine Weltkarte anschauen, dann werden Sie merken, dass die atomaren Mittelstreckenraketen – mit einer Reichweite von 500 bis 5 500 Kilometern – lediglich Teile von Alaska erreichen können; dort wohnen kaum Menschen. Umgekehrt wären die Nutznießer eines Austritts aus dem INF-Vertrag eher die USA; denn sie könnten nicht nur von Westeuropa, sondern auch von fast 800 weltweit verteilten Militärbasen russisches Territorium erreichen, meine Damen und Herren. ({3}) Man muss kein guter Militärstratege sein – nicht so wie Sie –, um zu erkennen, dass die neue Militärdoktrin der USA den Austritt aus dem INF-Vertrag geradezu nötig macht. Er ist nun vollzogen worden. Das ist einfache militärtaktische Logik, meine Damen und Herren. ({4}) Hier noch mal zum Verständnis für die, die immer so reinquatschen müssen: Zur neuen Militärstrategie der USA gehören Elemente wie Prompt Global Strike mit 32 000 Marschflugkörpern, Cyberwaffen und Drohnentaktik mit zigtausend unbemannten Flugkörpern. ({5}) Außerdem – falls Sie das noch nicht wissen – haben die USA in ihrer Militärdoktrin ausdrücklich das Führen eines atomaren Erstschlags gegen einen beliebigen Gegner nicht ausgeschlossen. Dennoch war die russische Seite am 15. Januar in Genf bereit, offen und kompromissbereit auf die USA zuzugehen. Aber sie wurden behandelt wie zu Zeiten des Kalten Krieges, meine Damen und Herren. Das geht so nicht. ({6}) Das Militärbudget der USA beträgt das Zehnfache dessen von Russland. Da erscheint es geradezu aberwitzig, eine von Russland ausgehende Bedrohungslage zu konstruieren. Die US-Administration sollte, statt Porzellan zu zerschlagen, auf andere Länder zugehen, zum Beispiel auf China. China unterliegt nämlich nicht den Regeln des INF-Vertrages – wie auch weitere acht Länder. Leider fällt unserem Außenminister nichts Besseres ein, als unbewiesene Behauptungen über russische Vertragsverstöße zu repetieren – wobei ihm tatsächlich zugutezuhalten ist, dass er im Gespräch im Auswärtigen Ausschuss diese Woche zugesichert hat – besonders im Fernsehen –, dass Deutschland keine Mittelstreckenraketen der USA stationieren würde. Nehmen wir ihn beim Wort! Wie wäre es denn mit einem bilateralen Abkommen mit Russland? Oder, besser noch: Folgen Sie dem positiven Beispiel von Österreich und treten Sie dem Atomwaffenverbotsvertrag bei – das wäre ein Zeichen für unser Volk hier in Deutschland. ({7}) Die AfD fordert die Bundesregierung und vor allem den Außenminister auf, sich nicht zum unkritischen Erfüllungsgehilfen amerikanischer Machtumsetzung zu machen. Machen Sie endlich eigenständige Politik im deutschen und europäischen Sicherheitsinteresse! Zwingen Sie die Verhandlungspartner wieder an den Tisch! Und vergessen Sie bitte China nicht. Eine nun schier unmöglich gewordene Erhaltung, Erweiterung und Modifizierung des INF-Vertrages im Dialog mit den USA, Russland und China zu erreichen, ({8}) wäre in der Tat ein diplomatischer Erfolg und ein guter Schachzug für unsere Sicherheit in Europa – gewesen; leider. Eines sollten die Amerikaner wissen: Wir in Deutschland wollen den Kalten Krieg nicht zurück. Zum Wohle unseres Volkes darf Deutschland nie wieder zwischen die Fronten der Interessen der USA bzw. Russlands geraten. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächster spricht zu uns für die SPD-Fraktion der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrtes Präsidium! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Selten ist eine Aktuelle Stunde so aktuell wie diese: Etwa vor einer Stunde hat Mike Pompeo in Washington die Erklärung abgegeben, dass die USA aus dem INF-Vertrag – ich sage bewusst – aussteigen wollen. Er hat die Kündigung ausgesprochen, einen Tag vor Ablauf der Frist und eine halbe Stunde, nachdem die Kanzlerin die Begründung in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ bereits geliefert hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir könnten an dieser Stelle von historischen Augenblicken sprechen. Wir könnten darüber sprechen, wie wichtig allein der INF-Vertrag ist. Wir könnten auch darüber sprechen – wie es die Linke und die AfD gern möchten –, dass das Ende des INF-Vertrags womöglich der Anfang einer neuen Aufrüstungsspirale ist, ({0}) der Beginn von weniger Stabilität, der Beginn von mehr Unsicherheit. Ich möchte aber auch darüber sprechen, dass die Möglichkeit besteht, dass dieser Vertrag nach der 60-Tage-Frist in kein neues Regelwerk einfließt, dass dies auch eine Nichtverlängerung des New-START-Abkommens im Jahr 2021 zur Folge haben könnte oder dass dies als das von dem einen oder anderen in der Diskussion noch nicht gehörte, aber bereits leise klingelnde Totenglöckchen für den NVV, den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, anzusehen ist. Warum sage ich das, meine sehr verehrten Damen und Herren? Weil ich die Bemühungen unseres Außenministers und des Auswärtigen Amts in den vergangenen Wochen gesehen und gemerkt habe. ({1}) Ich habe aber auch ganz deutlich gesehen, dass wir mit einer deutschen Lösung, einer solitären Lösung der Bundesrepublik Deutschland, keinen Erfolg haben werden. Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz deutlich: Unsere Antwort muss Europa sein! ({2}) Warum haben die Vereinigten Staaten von Amerika und die Russische Föderation als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion, zumindest in diesem Falle, kein Interesse mehr an diesem Vertragswerk? Das wurde bereits vom Kollegen Kiesewetter ausgeführt: weil China, Nordkorea, Pakistan, Indien und auch andere Länder des Nahen und Mittleren Ostens an Atomwaffen arbeiten. Es hat aber auch damit zu tun, dass die beiden Protagonisten kein Interesse an den multilateralen Verträgen dieser Welt haben, sondern nur bilateral Entscheidungen und Vereinbarungen treffen sowie Verträge schließen wollen. Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist für uns in Europa nicht weiter zu ertragen. Wir in Europa waren in den vergangenen Wochen und Monaten dieses Vorspiels bis zum heutigen Tage viel zu stumm, wir haben diese Eskalation zugelassen und nur zugeschaut, weil in Europa der Spaltpilz und die Zentrifugalkräfte dieses Kontinents stärker sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, dass wir einige wichtige Punkte berücksichtigen müssen. Wir müssen erstens die sechs Monate, die uns Zeit bleiben – also diesen Zeitgewinn –, dazu nutzen, Europa wieder ins Spiel zu bringen, ein gemeinsames Europa, ein starkes Europa, ein Europa, das mit einer Stimme spricht und als Player auf dem Spielfeld zurückbleibt. Was müssen wir dazu tun? Wir müssen zweitens die Zweifel unserer östlichen Partner und Nachbarn ausräumen, dass die Bundesrepublik Deutschland als die wirtschaftlich stärkste und militärisch zweitstärkste Kraft in Europa ({3}) das Schutzbedürfnis nicht sichert, und klarmachen, dass sie den Artikel 5 des NATO-Vertrags nicht nur unterzeichnet hat, sondern auch als Versprechen der Sicherheit unserer Nachbarn ernst nimmt, nicht nur aus Gründen historischen Zweifels, sondern auch aus der Notwendigkeit unserer eigenen Sicherheit. Wir müssen drittens die Wiederbelebung der sogenannten Verification Commission auf den Weg bringen, ({4}) um auch dort den nuklearen Bereich miteinzubeziehen und die Möglichkeit zu bieten, über die Verifikation einen Schritt weiterzukommen. Denn unser Ziel, meine sehr verehrten Damen und Herren, muss sein, wieder eine verlässliche europäische Sicherheitsstruktur zu erhalten, eine Sicherheitsstruktur, bei der wir wissen müssen, dass, wenn es tatsächlich zu einer Nachrüstung käme, Europa im Zentrum stehen würde. Die Chance für Europa liegt aber nur darin, den Frieden dieses Kontinents zu sichern und unsere eigene Sicherheit zu gewährleisten. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brunner. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Alexander Graf Lambsdorff, FDP-Fraktion. ({0})

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Wir haben uns heute hier zu einer Aktuellen Stunde versammelt, weil wir mit einer außerordentlich bedauerlichen Situation konfrontiert sind. Es ist jetzt für jedermann sichtbar, dass ein weiterer Baustein der Abrüstungsarchitektur, der Rüstungskontrollarchitektur kurz vor dem Ende steht. Nach der Aufkündigung des Vertrages über antiballistische Raketen steht jetzt die Kündigung des Vertrages über Mittelstreckenraketen aus, und – eben ist es erwähnt worden – 2021 läuft New START aus, also ein Vertrag zur Reduzierung strategischer Nuklearwaffen. Mit anderen Worten: Große Elemente dessen, was unsere Sicherheit ausgemacht hat, stehen infrage. Unsere Gesellschaft ist auf eine solche Debatte kaum vorbereitet. Vielen kommt das wie ein fernes Echo der 80er-Jahre vor. Aber warum ist die Gesellschaft nicht darauf vorbereitet? Weil sie systematisch verbal eingelullt wird durch Äußerungen des Bundesaußenministers im „Spiegel“. ({0}) Das ist verantwortungslos. Wir leben in einer Welt, in der ein Satz von Heiko Maas wie – ich zitiere – „Letztlich wollen doch alle eine Welt ohne Nuklearwaffen“ zwar passend ist für den Juso-Ortsverein in Saarlouis, aber mit der Realität der Welt nichts, aber auch wirklich gar nichts zu tun hat. ({1}) Wir wissen seit 2014, dass Russland diesen Vertrag massiv verletzt. Wo war denn das Auswärtige Amt, wo waren denn die sozialdemokratischen Außenminister vorher? Warum hat es keine Debatte gegeben? Warum fängt, lieber Roderich Kiesewetter, das Auswärtige Amt fünf Minuten vor zwölf, nämlich erst im März diesen Jahres, an, eine „Analyse“ vorzunehmen, während wir heute Herrn Pompeo in Washington hören, wie er den Vertrag bereits aufkündigt? ({2}) Das ist alles zu spät. Die Gesellschaft muss darauf vorbereitet werden, dass wir eine Debatte führen müssen. ({3}) Denn die Realität, so unbequem sie auch ist, hört sich wie folgt an: Punkt eins. Auch mit dem Ende des Kalten Krieges ist das nukleare Zeitalter nicht zu Ende gegangen. Es gibt große Nuklearmächte auf der Welt, die, anders als Heiko Maas das vermutet, von diesen Waffen nicht lassen wollen. Punkt zwei. Deswegen muss das westliche Verteidigungsbündnis, die NATO, auch ein nukleares Bündnis sein. Wir können nicht so tun, als gebe es um uns herum keine nukleare Bedrohung. Die NATO ist der Natur der Sache nach ein nukleares Bündnis. Jetzt stellt sich – Punkt drei – die Frage: Wie verhalten wir uns als Deutsche? Wollen wir uns aus allen Diskussionen abmelden, aus den ethischen Debatten über die Nukleardoktrin, ja oder nein? Wenn wir das nicht wollen, dann müssen wir in der nuklearen Teilhabe unseres Bündnisses bleiben. Dann geht es nicht, wenn Herr Mützenich schon wieder den Pumuckl der Sozialdemokratie spielt und erklärt, wir könnten die nukleare Teilhabe durch eine Beschaffungsentscheidung für den F-18 nicht fortsetzen; das ginge alles nicht, wir müssten da raus. ({4}) Meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, Sie haben eine große sicherheitspolitische Tradition. Sie sollten diese nur nicht aufgrund des durchsichtigen Manövers der Linkspartei aufs Spiel setzen. ({5}) Ich glaube, dass die Debatte, ob wir in Deutschland jetzt nachrüsten müssen, ob wir hier stationieren müssen, eine Debatte ist, die wir führen müssen. Aber ich glaube, sie wird sich weniger dramatisch abspielen als diejenigen glauben, die diese Aktuelle Stunde beantragt haben. Zum einen handelt es sich um landgestützte Systeme, die durch den INF-Vertrag verboten sind. Die Rolle seegestützter Systeme, die nicht verboten sind, ist in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Ob es also überhaupt zu einer Stationierungsdebatte kommt, müssen wir mal abwarten. Wenn es aber zu ihr kommt, dann werden wir sie im Rahmen der NATO zu führen haben. Dazu: Ich habe es außerordentlich begrüßt, dass der Bundesaußenminister im Auswärtigen Ausschuss erklärt hat, er wolle eine einheitliche Position der NATO in dieser Frage herbeiführen; das fand ich gut. Aber wie kann er denn dann im „Spiegel“ schon exakt sagen, was er alles nicht mitzumachen bereit ist? Das geht doch nicht. Wir müssen das Ganze mit den Verbündeten in der NATO doch erst mal diskutieren. ({6}) Eines will ich auch noch sagen: Ein Placebo geistert durch die Debatte, und das ist die Multilateralisierung des Vertrages. Mit anderen Worten: Der Vertrag wird nicht nur nicht gekündigt, nein, im Gegenteil, er wird erhalten, und gleichzeitig tritt China, tritt Frankreich, tritt Großbritannien bei. Dummerweise ist das alles schon mal versucht worden. Auch die Franzosen und die Briten wehren sich gegen eine Multilateralisierung. Lieber Herr Brunner, mit Blick auf Europa lautet die Antwort leider: Nein! Wir müssen mit der Realität umgehen, dass wir Mittelstreckenraketen in Europa behalten. Deswegen ist unser zentrales Interesse als Deutsche, das strategische Gleichgewicht zu erhalten und dadurch den Frieden zu sichern. Und das bedeutet: Wir sollten alles daransetzen, den Vertrag zu erhalten. Wir müssen Moskau darum bitten, zur Vertragstreue zurückzukehren, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– und Washington darum bitten, zum Vertrag zurückzukehren. Das Verifikationsregime, das Sie angesprochen haben, Herr Brunner, ist eines, das wir unterstützen. Wenn wir den Vertrag erhalten wollen, sind die nächsten sechs Monate der Zeitraum dafür, den wir ausnutzen müssen. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als Nächster erhält das Wort der Kollege Omid Nouripour, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zitiere: Mit einer einzigen Bombe wurde meine geliebte Stadt ausgelöscht. Jede Sekunde an jedem Tag bedrohen Atomwaffen jeden, den wir lieben, und alles, was wir wertschätzen. Wir dürfen diesen Irrsinn nicht länger tolerieren. Dieser Satz stammt von Setsuko Thurlow, einer Überlebenden der Katastrophe von Hiroshima, ausgesprochen letztes Jahr bei der berechtigten Verleihung des Friedensnobelpreises an ihre Internationale Kampagne für die Abschaffung von Atomwaffen, ICAN. ({0}) Knapp ein Jahr später reden wir darüber, dass das sowieso nicht besonders üppige Regelwerk für den Umgang mit Atomwaffen, unter anderem der INF-Vertrag, massiv bedroht ist und jetzt auch von einer Seite aufgekündigt wurde. Der Vertrag ist historisch; das kann man gar nicht oft genug wiederholen. Es war der erste Vertrag, der nicht nur Abrüstung und Rüstungskontrolle beinhaltete, sondern auch die Abschaffung einer ganzen Waffengattung. Es ist eine unglaubliche Leistung gewesen, dass die Mittelstreckenarsenale der damaligen Sowjetunion und der USA tatsächlich zerstört worden sind. Aber dieser Vertrag ist nicht nur ein Symbol, sondern dieser Vertrag betrifft auch uns und unsere Sicherheitsinteressen in Mitteleuropa sehr direkt. Meine Damen und Herren, wir haben es heute mit sehr vielen jungen Menschen zu tun. Es ist ein Glück, zu sehen, dass sie sich daher an diesen permanenten Schrecken der gegenseitigen nuklearen Auslöschung nicht erinnern können. Es ist eine Kernaufgabe der Politik, alles dafür zu tun, damit das so bleibt. ({1}) Deshalb können wir kein Interesse an einem Wettrüsten haben. Ich kann für meine Partei sehr klar sagen, dass wir die Stationierung von nuklear bestückbaren Mittelstreckenraketen in Deutschland ablehnen. ({2}) Die Debatte ist ja nicht neu. Bei dem Versuch, darüber zu reden, sagt der eine das, der andere das. Dabei werden aber ein paar Indizien ausgeblendet. Die Amerikaner haben beispielsweise 2014 den Russen sehr klar vorgeworfen, dass sie neue Raketen gebaut hätten. Die Russen haben das drei Jahre lang dementiert, 2017 aber zugegeben. Jetzt wird diskutiert, ob diese Raketen 480, 490 oder über 500 Kilometer Reichweite haben. Viel wichtiger ist aber, dass da Vertrauen kaputtgegangen ist, dass da Glaubwürdigkeitsprobleme bestehen. Ebenso ist der permanente Bruch des Budapester Memorandums durch den Eingriff Russlands in der Ukraine ein massives Problem ({3}) für das Regelwerk im Umgang mit Atomwaffen. Das kann man hier einfach nicht verschweigen, wenn man darüber redet, dass Vertrauen kaputtgegangen ist. ({4}) Das gilt aber auch für das Atomabkommen mit dem Iran; das darf man auch nicht vergessen. Wir reden über eine sehr komplizierte Konstruktion des Vertrauens. Diese wird derzeit sehr beschädigt. Da reicht es nicht, wenn Russland auf den letzten Metern plötzlich eine Transparenzinitiative bringt. Da muss mehr kommen. ({5}) Trotzdem ist es grottenfalsch, jetzt den INF-Vertrag aufzukündigen. Erstens. Auch aus amerikanischer Sicht: Jetzt könnten die Russen entwickeln, bauen und stationieren, wie und wo sie wollen. Zweitens. New START, quasi die andere Hälfte des Regelwerks, ist massiv unter Druck. Es gibt bereits jetzt Ankündigungen, auch aus Moskau, die Verlängerung infrage zu stellen. Drittens. Eine neue globale Rüstungsspirale droht, weil, wie gesagt, das Vertrauen zerstört wird. Viertens und letztens ist das Ende des INF-Vertrages auch ein potenzieller Riesenspaltpilz innerhalb der Europäischen Union. Das richtige Interesse an einer Reduktion von Spannungen und neuen Initiativen für Abrüstung kann leicht gegen die ebenso legitime Bedrohungswahrnehmung unserer östlichen Nachbarn ausgespielt werden. Das können wir nicht wollen. ({6}) Abrüstung braucht immer Vertrauen. Vertrauen kann man, auch wenn es gerade ein rares Gut ist, nicht erreichen, wenn man nichts tut. Wir müssen jetzt weit mehr Aktivitäten an den Tag legen. Ich wünschte mir, dass die Bundesregierung sich für gegenseitige Inspektionen einsetzen würde. Es geht nicht nur um Russland. Wenn wir wollen, dass die Russen Transparenz herstellen und Inspektionen zulassen, dann muss auch der Westen etwas bieten können. Deshalb geht es um ein gegenseitiges Verifikationssystem, das nun erhalten werden muss. ({7}) Es ist gut, dass Außenminister Maas nach Bukarest reist, aber ich habe noch nicht ganz verstanden, wie die dringend notwendige europäische Einigung dort erreicht werden soll. Über Abrüstung zu sprechen und zu sagen, das sei wichtig, reicht alleine nicht. Es ist ganz dringend notwendig, auch Geld dafür in die Hand zu nehmen. Wir werden sehr genau hinschauen, wie der nächste Haushaltsentwurf der Großen Koalition in diesem Bereich aussieht. Glaubhafte Abrüstung funktioniert nur, wenn die Zielsetzung nicht ist, die Zahl von Atomwaffen zu reduzieren, sondern die, deren Existenz zu beenden. Das ist die Aufgabe, die wir heute haben, und zwar nicht nur für uns, sondern auch für viele Generationen nach uns. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Nouripour. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Nikolas Löbel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Nikolas Löbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004805, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Dieser INF-Vertrag aus dem Jahr 1987 ist eine historische Errungenschaft. Ich bin Jahrgang 1986. Ich kann mich an die Debatten über den NATO-Doppelbeschluss und an die ganzen Aufrüstungsdebatten gar nicht erinnern. Ich kenne sie nur aus dem Geschichtsbuch. Aber ich bin froh, dass dieser INF-Vertrag 1987 der Meilenstein für den Einstieg in den Ausstieg aus der Aufrüstung war. Heute folgt wahrscheinlich ein nächster Meilenstein, weil die Amerikaner angekündigt haben, aus dem INF-Vertrag aussteigen zu wollen. Liebe Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben vorhin gesagt: Was damals möglich war, müsste doch auch heute wieder möglich sein. – Damals war das möglich, weil der Wille auf beiden Seiten da war, gemeinsam abzurüsten. Dieser Wille ist nicht einseitig aufgebraucht. Vielmehr müssen wir beide Seiten daran erinnern, dass sie den Willen aufbringen müssen, sich an diesen INF-Vertrag zu halten. Damit sind wir beim nächsten Punkt, Ihrem Vorwurf, wir würden bzw. die Bundesregierung würde den Amerikanern blind Gefolgschaft leisten. Ich fordere Sie auf, erst einmal Ihre blinde Gefolgschaft gegenüber Wladimir Putin und Russland zu überdenken. ({0}) Denn es war nachweislich Russland, das gegen den INF-Vertrag verstoßen hat. Das ist die Ursache für die heutige Ankündigung der USA, aus dem Vertrag auszusteigen, und nichts anderes. ({1}) – Man wird ihr meine Grüße bestimmt ausrichten. Es geht aber nicht nur darum. Herr Kollege Nouripour, Sie haben gerade richtigerweise gesagt, Vertrauen sei verloren gegangen. Dieser Vertrag war aufgebaut auf gegenseitigem Vertrauen. Dieses Vertrauen ist verletzt worden. Nicht erst Donald Trump in einer gewissen intellektuellen Kürze, sondern schon sein Vorgänger Barack Obama hat seit 2014 darauf hingewiesen, dass Russland gegen den INF-Vertrag verstößt. Erst 2018 haben die Russen stückchenweise zugestanden, dass es eine neue Mittelstreckenrakete gibt. Sie haben sich dann auf Detailfragen eingelassen, zum Beispiel, dass die Rakete weniger als 500 Kilometer Reichweite hat und damit keinen Verstoß gegen den Vertrag bedeutet. Was die Russen aber nicht getan haben, ist, sich auf die notwendige Schaffung von Transparenz einzulassen. Wo ist denn die Transparenz? Wo war sie denn in den letzten 60 Tagen, als Angela Merkel nochmals eine Verhandlungsverlängerung herausgeholt hat? Wo war denn die notwendige und versprochene Transparenz, dass man sich dieses neue Waffensystem SSC-8 einmal anschauen konnte? Es wurde keine Transparenz geschaffen. Ohne Transparenz gibt es aber kein Vertrauen, und das ist der eigentliche Grund für die Aufkündigung dieses Vertrages. Was wir jetzt brauchen, ist Folgendes: Wir müssen diese Sechs-Monats-Frist, die noch bleibt, nutzen; denn es geht um viel. Es geht um den Kernbestandteil der internationalen Sicherheitsstruktur. Es geht um die Abrüstungskontrolle, die wir auf neue Füße stellen müssen. Wir müssen diesen Vertrag erhalten. Ich glaube schon, dass einer der Gründe, warum Russland diesen Vertrag infrage stellt und wieder aufrüsten will, ist, dass andere Länder nicht an diesen Vertrag gebunden sind: China, Pakistan, der Iran. Wir müssen für eine Erweiterung des INF-Vertrages sorgen. Man würde wahrscheinlich sagen: einen INF-Vertrag 4.0. Aber ein einseitiger, ein bilateraler Vertrag zwischen Russland und Amerika ist nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen diesen Vertrag erhalten, aber wir müssen ihn auch erweitern. Einerseits geht es in den nächsten sechs Monaten darum, dafür die Basis zu schaffen. Andererseits ist aber auch klar, dass wir uns Gedanken machen müssen über die Frage: Was tun wir eigentlich, wenn die sechs Monate erfolglos verstrichen sind? Es ist richtig, sich an die Historie zu erinnern. Dieser INF-Vertrag kam nur durch gegenseitige Stärke und Verhandlungen auf Augenhöhe zustande. Deswegen dürfen wir von Beginn an keine Optionen vom Tisch wischen, sondern wir müssen dafür Sorge tragen, dass wir als NATO geschlossen agieren. Wir dürfen uns nicht auseinanderdividieren lassen, sondern es braucht ein geschlossenes Handeln, aber auch eine entschlossene Antwort auf ein mögliches Stationieren neuer Mittelstreckenraketen durch Russland und die NATO. Deswegen müssen wir auch den Russen deutlich machen, wo wir die Stationierung solcher Mittelstreckenraketen nicht dulden: Stichwort Kaliningrad und andere. Deswegen ist es wichtig, dass wir diese Frist von sechs Monaten nutzen, um die NATO zu stärken und, möglicherweise auch nach diesen sechs Monaten, geschlossen und entschlossen eine Antwort zu geben; denn die Hoffnung, dass der INF-Vertrag innerhalb dieser sechs Monate bestehen bleibt, ist das eine. Aber dass vielleicht diese sechs Monate verstreichen und wir auch danach weiterarbeiten müssen, sodass es zu einem neuen INF-Vertrag kommt, ist das andere. Dies sollten wir nicht von Beginn an vom Tisch wischen, indem wir mögliche Optionen außen vor lassen. Wir nutzen diese Zeit auch als Mitglied des UN-Sicherheitsrates. Wir haben uns auf die Fahne geschrieben, dass wir die Abrüstung in den Mittelpunkt unseres Ratsvorsitzes stellen wollen – gemeinsam mit Frankreich. Das ist das einzig Richtige, was wir in dieser Situation tun können. Nutzen wir unsere Verantwortung; denn der INF-Vertrag ist der Meilenstein für die Sicherheit in Europa und damit auch für Deutschland. Insoweit sollten wir unserer Verantwortung gerecht werden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Jens Kestner, AfD-Fraktion. ({0})

Jens Kestner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004777, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Vorsitzender! Werte Kolleginnen und Kollegen, die Besucher auf den Tribünen und vor allen Dingen auch die Damen und Herren, die zu Hause vor den Bildschirmen sitzen! Die Ankündigungen der USA waren hart. Ja, sie waren letztendlich sogar ultimativ. Das Ergebnis steht nun fest: Die USA haben den Vertrag einseitig aufgekündigt. Wenn man nun auf der Zeitleiste zurückgeht: Was war passiert? Schon lange werfen die USA den Russen vor, den INF-Vertrag gebrochen zu haben und Raketensysteme durchaus nicht nur zu testen, sondern auch in Betrieb zu haben; Raketensysteme, die eine Reichweite von deutlich über 500 Kilometern besitzen. Damit würden sie den Vertrag verletzen. Die russische Seite wiederum verneint dies und verweist auf eine maximale Reichweite ihrer Systeme von unter 500 Kilometer. Dieses wäre vertraglich erlaubt. Im gleichen Atemzug kritisiert die russische Seite die provokative Einrichtung eines US-amerikanischen Raketenabwehrsystems nahe der russischen Grenze. Was ist nun das Problem? Was ist die Krux, meine Damen und Herren? Die Krux ist, dass beide Parteien sich nicht mehr vertrauen. Doch gerade Vertrauen und Zuversicht haben damals Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher in die Lage versetzt, den Grundstein für den späteren INF-Vertrag zu legen. US-Präsident Reagan und der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow sind diesen Weg zu Ende gegangen und haben mit der Unterzeichnung des INF-Vertrages 1987 ein klares Zeichen in die Welt gesendet. Dieses Zeichen war der Anfang vom Ende des Kalten Krieges. Selbstverständlich – das haben auch meine Vorredner schon gesagt – muss dieser Vertrag erhalten bleiben. Das sollte der oberste Auftrag sein, gerade für uns Deutsche, für uns Europäer. Nach der Aussage der amerikanischen Seite verbleiben jetzt noch sechs Monate, bis der endgültige Schnitt, ja bis das endgültige Ende dieses Vertrages feststeht. Aber ich sehe von unserer Bundesregierung und vor allen Dingen von unserem Minister, der heute hier nicht unter uns weilt, kein Feuer, keine Leidenschaft, ({0}) diesen Vertrag zu verlängern und sich dementsprechend einzubringen. Anstatt in die Rolle eines Maklers zu schlüpfen, sehe ich ihn nur an der Außenlinie stehen, mit dem ausgestreckten Finger in eine Richtung zeigend. Dann muss ich Herrn Maas sagen: Wer sich hinstellt und nur in eine Richtung zeigt, und zwar mit dem Zeigefinger, der kann kein Vertrauen gewinnen, der kann niemanden an einen Tisch holen, und der wird auch keine Ergebnisse erzielen. ({1}) Das Hauptziel der Diplomatie muss es sein, diesen Vertrag zu erhalten; darin sind wir uns alle einig, das sagte ich eben schon. Wenn uns das gelingt, dann müssen wir aber auch dafür sorgen, dass alle neuen Waffen- und Drohnensysteme, die bisher vielleicht den Vertrag unterlaufen, ein Bestandteil dieses Regelwerkes werden. Sollte es doch zum endgültigen einseitigen Bruch kommen – momentan sieht es ja so aus –, dann muss alles darangesetzt werden, die Beteiligten an einen Tisch zu bekommen. Wenn ich „Beteiligte“ sage, dann meine ich nicht nur Russland und die USA, sondern dann meine ich auch China und Indien. Alle zusammen müssen dann – der Kollege vor mir hat es eben INF 4.0 genannt – so etwas wie einen INF-Plus-Vertrag machen, wie ich es nennen würde, einen neuen Vertrag, mit dem alles abgedeckt ist und in dem alle Waffensysteme aufgeführt sind. Gerade China – lassen Sie mich das sagen – spielt dabei eine bedeutende Rolle. Wir leben nicht mehr in den 80er-Jahren. Die Bedrohungslage auf der Welt hat sich geändert. Damals gab es den Kalten Krieg. Da gab es die beiden Blöcke: die USA und die Sowjetunion. Aber nun gibt es mehrere Hauptakteure auf dem Spielfeld. Diese nicht zufriedenstellende Situation müssen wir nutzen, um alle Beteiligten an einen Tisch zu bekommen – zum Wohle aller. Wenn ich sage „zum Wohle aller“ und „an einen Tisch zu bekommen“, dann bin ich wieder bei der Bundesregierung, dann bin ich wieder bei unserem Außenminister. Ich kann ihm nur ergänzend sagen: Machen Sie sich gerade! Bringen Sie sich ein! Springen Sie über Ihren außenpolitischen Schatten, er ist ja klein genug. Reden Sie auch mit den Leuten, mit denen Sie nicht reden wollen. Bringen Sie diesen Menschen Vertrauen entgegen. Sorgen Sie dafür, dass der Vertrag Bestand hat, oder setzen Sie neue Zielmarken für einen neuen Vertrag. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Christoph Matschie, SPD-Fraktion. ({0})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der INF-Vertrag ist heute gekündigt worden. Ich finde, das ist kein Moment für schrille Töne, wie wir sie von der Linken gehört haben, ({0}) aber auch zum Teil von Herrn Schlund von der AfD. ({1}) Das ist eigentlich ein Moment für Nachdenklichkeit. ({2}) Die Debatte über den INF-Vertrag führen wir ja schon seit langem. Seit Jahren gibt es die Debatte um die Verletzung dieses Vertrages. Seit Jahren gibt es Bemühungen darum, wie dieser Vertrag eingehalten werden kann. Ich will gleich zu Beginn mit einer Legende aufräumen. Es war insbesondere die Bundesregierung, von der Bundeskanzlerin bis zum Bundesaußenminister, die dafür gesorgt hat, dass zunächst eine Frist von 60 Tagen vereinbart wurde, um die Einhaltung des Vertrages vielleicht doch noch zu ermöglichen. ({3}) Und: Ich bin sicher, dass sich die Bundesregierung, von der Kanzlerin bis zum Außenminister, auch in den kommenden Monaten vehement dafür einsetzen wird, alle noch verbleibenden Möglichkeiten zu nutzen, in den nächsten sechs Monaten zu diesem Vertrag zurückzukehren. Jeder, der sich mit der politischen Situation auskennt, weiß aber auch, wie schwer dieses Unterfangen ist. Am Ende ist auch klar: Das ist ein Vertrag zwischen zwei Staaten, nämlich den USA und Russland. Wir können aber auf die politische Debatte in diesem Zusammenhang einwirken, und das müssen wir auch tun. Ich glaube, vielleicht ist nicht einmal die Verschiebung so entscheidend, die sich durch eine mögliche Vertragsverletzung durch Russland im militärischen Gleichgewicht ergibt. Viel entscheidender ist, was politisch passiert, weil hier Vertrauen zerstört wird, weil hier etwas aufgegeben wird, was wir schon einmal erreicht hatten, nämlich Abrüstung und Rüstungskontrolle zu vereinbaren, gegenseitige Transparenz möglich zu machen. Das ist der eigentliche schwierige Punkt an dieser Situation. ({4}) Werte Kolleginnen und Kollegen, man kann über die militärischen Implikationen lange streiten, über die Frage, wie das Gleichgewicht hergestellt wird. Wir wissen auch, dass in den letzten Jahren die Frage der landgestützten Mittelstreckenraketen im atomaren Bereich an Bedeutung verloren hat, weil ein Großteil dieser atomaren Mittelstreckenwaffen heute seegestützt und luftgestützt ist. Deshalb, glaube ich, sollten wir jetzt ganz und gar nicht in eine Rüstungslogik eintreten, in eine Nachrüstungsdebatte, sondern wir sollten überlegen: Welche politischen Instrumente haben wir in der Hand, um wieder Vertrauen herzustellen, die Basis herzustellen, auf der der INF-Vertrag vielleicht fortgesetzt werden kann? Oder, wenn das nicht möglich ist: Wie kann mit neuen Vereinbarungen für Transparenz, für gegenseitige Berechenbarkeit und damit für Sicherheit gesorgt werden? Eines ist doch auch in den 80er-Jahren klar geworden: Sicherheit kann es nicht nur gegeneinander geben. Je höher wir die Rüstungsspirale schrauben, desto mehr wächst natürlich das Risiko, dass Fehler passieren, desto höher wird das Eskalationspotenzial. Das war der Grund, weshalb in den 80er-Jahren der Abrüstungsvertrag geschlossen worden ist. Denn es war klar: Diese Aufrüstungslogik führt nicht zu mehr Sicherheit. Sie führt zu mehr Unsicherheit. Sie muss deshalb beendet werden. ({5}) Diese Erkenntnis muss uns auch heute leiten. Deshalb bin ich dagegen, dass wir heute schon darüber nachdenken: Was wäre denn, wenn? Muss man jetzt neue Mittelstreckenwaffen in Erwägung ziehen, die landgestützt sind und die vielleicht in Europa stationiert werden sollen? – Nein, dazu ist nicht die Zeit. Jetzt ist die Zeit politischer Argumente und gegenseitiger Vertrauensbildung. Ich persönlich glaube auch, wir sollten raus aus der Debatte „Wer hat was gemacht?“, sondern rein in die Debatte: Wer kann was tun, um dieses gegenseitige Vertrauen und diese Sicherheit wiederherzustellen? ({6}) Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung; manchmal sind wir ja sehr im Moment gefangen. Es ist erst gut acht Jahre her, dass ein amerikanischer Präsident öffentlich erklärt hat, seine Vision sei eine Welt ohne Atomwaffen. Damals ist der New-START-Vertrag unterzeichnet worden. Damals hat man eine umfangreiche Abrüstung vereinbart. Ich finde, wir müssen alles daransetzen und unser politisches Gewicht einsetzen, um zu dieser Logik zurückzukommen – hin zu einer Dynamik einer Welt ohne Atomwaffen. Das heißt, diese Waffen Schritt für Schritt zu begrenzen, Vertrauen herzustellen, Transparenz zu sichern. Dann sind wir auf dem richtigen Weg. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Alexander S. Neu. ({0}) – Das muss gesagt werden: Fraktion Die Linke.

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Atomkriegsuhr steht seit zwei Jahren auf weniger als zwei Minuten vor Mitternacht. Dieser Zustand wurde erst einmal, nämlich im Jahre 1953, erreicht; es ist also sehr ernst. Der einseitige Ausstieg aus dem INF-Vertrag seitens der USA, der heute verkündet wurde, verschlimmert diese Situation dramatisch. Worum geht es? Es geht darum, dass sich Russland und die USA gegenseitig einen Bruch des INF-Vertrages vorwerfen. Die USA behaupten, Russland breche mit der Entwicklung des Marschflugkörpers SSC-8 den INF-Vertrag. Russland wiederum behauptet, die USA verwendeten in Rumänien und Polen das System MK-41, welches nuklearbestückbare Marschflugkörper abschießen könne. Kommen wir zur Beweislage. Jede Seite verfügt über genau null Beweise; es sind lediglich Behauptungen. Vor Weihnachten erhielten wir aus dem Auswärtigen Amt eine Zuleitung von drei Dokumenten, die angeblich als Beweise dienen sollten. Das Problem: Alle drei Dokumente beinhalten null Beweise. Weder konnte bewiesen werden, dass Russland einen Vertragsbruch macht, noch konnte bewiesen werden, dass sich die USA vertragstreu verhalten. Erstaunlich ist am dritten Dokument, dass die USA darin selber zugeben – ich zitiere –: In Abwesenheit irgendeiner glaubhaften Erklärung von Russland zu der neuen Rakete würde die plausibelste Einschätzung sein, dass Russland den Vertrag verletzt. Also Einschätzung statt Beweis. Kurzum, außer heißer Luft nichts gewesen. ({0}) Ferndiagnosen, ob russische Ferndiagnosen oder amerikanische Ferndiagnosen, ersetzen eben keine Vor-Ort-Inspektionen inklusive Datentransfer und Testflügen. Daher fordert Die Linke eine Erneuerung des Verifikationsregimes. Herr Lambsdorff, hören Sie gut zu! Was hindert die USA daran, was hindert Russland daran, ein Verifikationsregime im Rahmen des INF-Vertrages um die Komponente „Inspektionen bei aktuellen Verdachtsfällen“ zu erneuern? Nichts würde sie daran hindern. ({1}) Russland hat vor wenigen Wochen eine Transparenz­offensive gestartet. Am 15. Januar 2019 bot Russland den USA in Genf die Inspektion genau dieses Waffensystems an. Was taten die USA? Sie lehnten es ab. „Spiegel ­Online“ titelte daraufhin: USA verpassen Chance für Abrüstung. Und weiter: Deutsche und amerikanische Rüstungskontrollexperten werfen der US-Regierung vor, eine Chance verpasst zu haben, den INF-Vertrag zum Verbot landgestützter Atomwaffen zu retten. Ein kurzer Exkurs: Wie ist das Verhalten der USA zu erklären? US-Sicherheitsberater John Bolton hat im Jahre 2011 im „Wall Street Journal“ einen Artikel verfasst. Ich zitiere daraus die zentrale Aussage: Der INF-Vertrag hat sich schon lange überlebt. Er sollte geändert oder gänzlich verworfen werden. So Bolton, der aktuelle Sicherheitsberater von Trump. – Exkurs beendet. Wenige Tage später setzte Moskau seine in der Tat suboptimale Transparenzoffensive fort. Es wurden auch westliche Militärattachés südlich von Moskau eingeladen, inklusive des deutschen. Alle verweigerten die Teilnahme. Warum eigentlich? ({2}) Was ist denn die Rolle der Bundesregierung? Die Bundesregierung hat das getan, was sie immer tut: in sicherheitspolitischen Fragen komplett zu versagen und ohne Nöte auf die US-Linie einzuschwenken. Vasallentreue statt Aufklärungswille. „NATO first“ ist die politische Philosophie der GroKo, und das auf Kosten der europäischen Sicherheit. ({3}) Die Linke fordert daher von der Bundesregierung endlich eine reale Verantwortungsübernahme. Deutschland könnte Russland anbieten, ein deutsches Inspektionsteam aufzubauen. Da aber die Bundesregierung in dieser Frage nicht neutral ist, wäre es sinnvoll, wenn ein zweiter Staat sich dem anschließen könnte. Südafrika wäre genau ein solcher Kandidat. Südafrika wäre geeignet, da Südafrika keinem Militärbündnis angehört und auch keine Interessen in Europa hat. Im Übrigen verfügt Südafrika über das nötige Know-how. Zugleich müsste ein russisch-­südafrikanisches Inspektionsteam gegründet werden zwecks Überprüfung des Systems MK-41 der USA. ({4}) Die Linke fordert von der Bundesregierung auch eine klare Aussage: Keine Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland. – Aber genau diese Aussage fehlte heute seitens der GroKo. Sie hat sie bis heute nicht gemacht. ({5}) Abschließend, sehr geehrte Damen und Herren: Die Linke fordert von der Bundesregierung, sich endlich den wirklichen Gefahren für die Menschheit zu stellen, nämlich Bekämpfung des Klimawandels, Bekämpfung der Plastikflut und Bekämpfung der Armut, statt die Atomkriegsuhr weiter voranzudrehen. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Neu. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der letzten Rede habe ich einen kurzen Moment gedacht, ich sei irgendwie im falschen Film, es sei ja alles irgendwie Fiktion. Lieber Herr Neu, ich kann Sie beruhigen: Es ist trotz Ihrer mühseligen Zusammenführung von widersprüchlichen Thesen nicht so. ({0}) Das Waffensystem 9M729 existiert. Wir durften es nicht sehen; wir dürften nur das Etui sehen. Okay, wenn stimmt, was von Moskauer Seite gesagt wird – sie haben es übernommen –, dann hat es keine Reichweite von 500 Kilometern – damit wäre es im Bereich der Verletzung des INF-Vertrages –, sondern 480 Kilometer. Na, das ist ja eine tolle Argumentation, zu sagen: Es ist doch gar nichts passiert. Es ist doch alles normal. ({1}) Das heißt allerdings auch, dass ich schon überrascht bin, wie auf der linken und auf der rechten Seite des Hauses argumentiert wird. ({2}) Das Highlight lieferte ja Herr Dr. Schlund. ({3}) Er offenbarte eine interessante Zusammenfassung von Ahnungslosigkeiten über Nuklearstrategien. Bei den Linken war das genauso, sodass hier der Eindruck entsteht und entstanden ist – – ({4}) – Herr Präsident, auf der linken Seite höre ich irgendwie nur Gequassel. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Schmidt, erlauben Sie mir eine kurzfristige Bemerkung.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn sich einzelne Zwischenrufe zu einem Geräuschpegel entwickeln, haben wir ein Problem. Erstens. Die meist klugen Zwischenrufe können wir nicht verstehen. Zweitens. Sie können für die Ewigkeit nicht festgehalten werden, ({0}) weil die Protokollführer sie ebenfalls nicht verstehen können. Drittens. Herr Schmidt weist zu Recht darauf hin: Das stört den Redner, der bestimmt auf den einen oder anderen intelligenten Zwischenruf antworten würde. Also, hören Sie Herrn Schmidt zu, selbst wenn es Ihnen schwerfallen sollte. Herr Kollege Schmidt, Sie haben das Wort.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Herr Präsident, für die für uns alle interessanten Hinweise. – Ja, Argumentation und Diskussion im Nuklearbereich erfordern Tiefe, erfordern – es ist gesagt worden – ruhige Diskussion und Überlegung. Ja, es war der INF-Vertrag. Es war der Waldspaziergang von Paul Nitze und Julij Kwizinski, der einen Fortschritt und einen Durchbruch gebracht hat, der Verifikation allerdings nicht in den Vordergrund des Vertrages gerückt hat, weil ja alle Waffen abgeschafft worden sind. Jetzt sind wir in der Tat in einer bestimmten Situation, in der wir sagen: Das Vertrauen, das zwischen Paul Nitze und Julij Kwizinsjki da war, ist nicht mehr vorhanden. Dieses Vertrauen ist durch Raketenentwicklungen im russischen Bereich kräftig gestört worden. Es muss versucht werden, dieses Vertrauen wiederherzustellen. Es gab, ich glaube, an die 30 Versuche in den letzten sechs Jahren von amerikanischer, von internationaler Seite, zu sagen: ({0}) Nun lasst doch mal Verifizierung und Inspektionen zu; dann wissen wir, worüber wir reden, auch im Hinblick auf eure Grundlagen. – Darauf wurde leider nie reagiert, und deswegen ist es logisch, dass sich die USA auf die Erkenntnisse, die durchaus sehr differenziert sind, stützen, die besagen: Ja, hier liegt eine evidente Verletzung des INF-Vertrages vor. Vielleicht hätten wir uns von europäischer Seite in den letzten sechs Jahren in diese Angelegenheit mehr einmischen müssen. Tua res agitur, unsere Sache wird hier verhandelt. Bei Mittelstreckenraketen geht es schließlich um unsere Sicherheit. Wir sollten mit Vorschlägen für eine Fortschreibung und Weiterentwicklung des INF-Vertrags werben. Das bedeutet natürlich Verifikation. Wir müssen auch die anderen Länder, die 1987 noch nicht in nennenswertem Umfang über Mittelstreckenraketen verfügten, einbeziehen. Im Vordergrund muss aber stehen, dass wir gemeinsam eine Vertrauensbasis finden. In dieser Hinsicht halte ich die Äußerungen aus Russland für nicht sehr förderlich. Wir müssen agieren und handeln, weil im Jahr 2021 der letzte Abrüstungsvertrag zur Verlängerung ansteht, nämlich der New-START-Vertrag von 2010, der auf dem Geiste des INF-Vertrags aufbaut. Es ist notwendig, dass wir eine nüchterne Agenda schaffen. Alle Erfahrungen mit solchen komplizierten Situationen zeigen: Wer sich zuvor aller seiner Optionen entäußert, hat wenige Optionen, zu einem gemeinsamen, vertrauenswürdigen Ergebnis zu kommen. ({1}) Deswegen müssen in der Tat alle Optionen in der politischen Diskussion sowohl in Deutschland als auch in Europa auf dem Tisch bleiben, mit dem Ziel, eine ausgewogene Abrüstung und Reduzierung von Atomwaffen in der Welt – Stichwort „Nuclear Balance“ – zu erreichen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir sollten die Diskussion heute beginnen und nicht beenden. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schmidt. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Josip Juratovic, SPD-Fraktion. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt ist es so weit: Die 60-Tage-Frist, die Russland von den Vereinigten Staaten gegeben worden war, um den INF-Vertrag doch noch vor dem Scheitern zu bewahren, ist abgelaufen. Russland hat versäumt, eine glaubwürdige Transparenzoffensive zu starten. Die Amerikaner haben den Abrüstungsvertrag gekündigt. In sechs Monaten, im August 2019, ist er dann Geschichte. Was für ein unfassbarer Rückschritt! Wir reden hier über die wichtigste Vereinbarung zur atomaren Abrüstung für Europa, die nun vor dem Aus steht. Mit dem INF-Vertrag zwischen Russland und den USA wurde damals eine ganze Gattung nuklearer Waffen abgeschafft. Seine Unterzeichnung war eine Sternstunde der Abrüstungsdiplomatie, vor deren Scherben wir jetzt möglicherweise stehen. Warum? Ohne Gleichmacherei betreiben zu wollen, drängt sich der Verdacht auf, dass beide Länder die Fesseln des INF-Abkommens sprengen wollen, um ungehindert aufrüsten zu können. Sie sind schon kräftig dabei. Die USA haben gerade erst ein neues Weltraumabwehrsystem vorgestellt, und Putin prahlt mit seiner neuen Interkontinentalrakete mit 20-facher Schallgeschwindigkeit, Töne, von denen wir gehofft hatten, sie nie mehr vernehmen zu müssen. Doch noch ist nicht alles verloren. Noch sind sechs Monate Zeit, bevor der amerikanische Austritt aus dem INF-Abkommen wirksam wird. Das gibt uns Deutschen und Europäern die Möglichkeit, Diplomatie in unserem Sinne, in Richtung Frieden und Abrüstung zu betreiben. ({0}) Ich danke an dieser Stelle unserem Außenminister Heiko Maas ausdrücklich für seine Pendeldiplomatie zwischen den USA und Russland, den Versuch, die beiden wieder aneinander anzunähern. Ich bedanke mich auch dafür, dass er dabei eine klare Sprache gesprochen hat und nicht müde wurde, die Wichtigkeit des Abrüstungsabkommens hervorzuheben. Wir müssen besonnen die richtige Antwort finden und ein neues gefährliches Säbelrasseln verhindern. Die Devise lautet: Gemeinsam statt gegeneinander! Unser Ziel muss sein, in den kommenden sechs Monaten als NATO-Partner über den INF-Vertrag weiter mitzuverhandeln und ihn zu einem multilateralen Abkommen zu erweitern. Diesem Vertrag müssen auch all die Länder beitreten, die gerade damit beschäftigt sind, ihre Mittelstreckenarsenale auszubauen, sprich: China, Indien, Pakistan, Nordkorea und Iran. So wird aus dem Abkommen ein zeitgemäßer Beitrag zu mehr Sicherheit weltweit. Um Ronald Reagans ehemaligen Außenminister Shultz zu zitieren: Wir sollten den Vertrag in Ordnung bringen, anstatt ihm den Garaus zu machen. – Dieses Ziel müssen wir Hand in Hand mit den europäischen Partnern und als starker Partner der NATO verfolgen. Wir Deutsche und Europäer dürfen nicht in eine Nachrüstungsdebatte gestürzt werden. Deshalb müssen wir handeln. Dafür müssen wir nationale Egoismen hintanstellen. Wir müssen uns auch ehrlich machen, was wir brauchen. Wir brauchen eine gemeinsame europäische Außenpolitik, eine gemeinsame europäische Verteidigung als festen Bestandteil der NATO, und wir brauchen eine gemeinsame Wirtschaftspolitik mit sozialer Sicherheit und ökologischer Verantwortung. Nur so umfassend vereint, erreichen wir die Position, die Geschlossenheit und die Stärke, die wir in einer Welt brauchen, die zunehmend von national-autokratischen Einzelstaaten dominiert und verunsichert wird. Nur als Vereinigte Staaten von Europa können wir auf Augenhöhe mit Russland, China und den USA verhandeln und künftig globale Herausforderungen meistern. Dabei ist die Herausforderung des Friedens die größte. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als letztem Redner in dieser Aktuellen Stunde erteile ich dem Kollegen Frank Steffel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte mir 1987, als ich die historischen Bilder von der Vertragsunterzeichnung gesehen habe und am Brandenburger Tor stand und als der damalige amerikanische Präsident Reagan uns die Hoffnung gab, dass Mister Gorbatschow irgendwann das Tor öffnet, und 1989, als wir die wahrscheinlich glücklichsten Stunden der deutschen und der europäischen Geschichte nur wenige Meter von hier entfernt erleben konnten, und 1994, als am Brandenburger Tor Helmut Kohl und Boris Jelzin zusammen mit vielen Tausend Menschen die russische Rote Armee aus Berlin freundschaftlich verabschiedeten, nicht vorstellen können, dass wir im Jahr 2019 die Debatte führen, die wir heute im Wesentlichen sehr verantwortungsvoll, nachdenklich und überlegt miteinander führen müssen. Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt, dass zwischen Linken und AfD in dieser Debatte inhaltlich kaum ein Blatt passt. ({0}) Bei Ihrer historischen Parteigeschichte, meine Damen und Herren von der Linken, verwundert das nicht. Ich glaube, es ist für Sie gar kein Problem, gegen die NATO zu sein, tiefempfundenen Antiamerikanismus im Herzen zu haben und an den Lippen Moskaus zu hängen, fast egal, wer dort Verantwortung trägt. ({1}) Sie müssen das gar nicht kritisieren. Sie versuchen doch auf diese Weise, Wählerinnen und Wähler zu gewinnen. Sie können sich dazu ruhig offen bekennen. Bei der AfD verwundert das mich noch immer ein Stück weit, allerdings bei Ihnen, Herr Schlund, weniger. Man spürte während Ihrer Rede, dass Sie bis 1989 im Regiment „Ernst Thälmann“ der NVA zu Hause waren. Das war auch der Geist, mit dem Sie versucht haben, die aktuelle Situation zu beurteilen. Der russische Präsident Putin hat vor wenigen Wochen zwischen Weihnachten und Neujahr den Jungfernflug einer neuartigen Hyperschallrakete ganz selbstbewusst verkündet. Diese Rakete könne – so hat Putin gesagt – mit 27-facher Schallgeschwindigkeit fliegen und durch russische Experten gesteuert werden. Das bedeutet – für diejenigen, die das genauso wie ich nicht so schnell umrechnen können – 30 000 Kilometer pro Stunde. Berlin liegt 1 600 Kilometer von Russland, von Moskau entfernt. Das heißt: Diese Rakete braucht etwa drei Minuten, um Berlin zu erreichen. Dass das viele Menschen ängstlich macht, dass das dazu zwingt, sich mit militärischen Fragen zu beschäftigen, das versteht jeder, der sich die Auswirkung einer solchen Rakete in etwa vorstellen kann – sie wird ja ungleich größer sein als die Auswirkungen in Hiroshima und Nagasaki. Davor sollte uns dieses INF-Abkommen schützen. Die wesentliche Aufgabe dieses Abkommens ist, dass wir zumindest mit Blick auf die Vereinigten Staaten von Amerika und Russland sagen: Ein großer Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur ist durch dieses Abkommen gesichert. Russland verstößt seit vielen Jahren gegen das Abkommen. Das ernsthaft zu bestreiten, tut zumindest niemand, den ich in der Debatte ernst nehme. ({2}) Übrigens: Die Russen selbst dementieren das auch gar nicht, wie der Außenminister uns immer wieder sehr glaubwürdig in Gesprächen übermittelt. Jetzt haben wir also sechs Monate Zeit. Wir haben das Gefühl – wahrscheinlich irren wir uns auch nicht –, dass Russland und die USA sehr gut damit leben können, dass es kein neues Abkommen gibt. Das hat unter anderem mit China zu tun – einige Kolleginnen und Kollegen haben darauf hingewiesen –, das hat auch mit anderen Supermächten zu tun, und das hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Bedeutung und die Rolle Europas nicht mehr die ist, die wir zu Zeiten des Kalten Krieges in den 80er-Jahren hatten. Dann haben wir die besondere Situation – das ist mir abschließend besonders wichtig –, dass es in Europa viele Länder gibt, die ein stärker werdendes Angstgefühl im Zusammenhang mit der Aufrüstung Russlands empfinden, und dass wir sehr sicher sein können, dass unsere osteuropäischen Nachbarn, wenn es kein Abkommen mehr gibt, sehr zügig bereit sein werden, amerikanische Mittelstreckenwaffen in den Ländern Osteuropas zu stationieren. ({3}) Dass diese Auswirkungen nicht nur Osteuropa treffen, sondern natürlich auch uns im Herzen Europas und unsere westeuropäischen Nachbarländer, ist völlig klar. Wir müssen wohl auch zur Kenntnis nehmen, dass Sigmar Gabriel, unser ehemaliger Außenminister, in einem sehr bemerkenswerten Artikel mit einem Satz recht hat. Er hat geschrieben: Unsere osteuropäischen Nachbarn glauben eben nicht, dass Deutsche und Franzosen „für ihre Freiheit zu sterben bereit wären“. Wenn wir dieser Logik folgen, dann sind die Kündigung und das Ergebnis nach sechs Monaten umso bedeutender. Ich glaube, dass Berlin, Paris und London jetzt eine besondere Verantwortung haben, alles dafür zu tun, dass es uns vielleicht doch noch gelingt, die nächsten sechs Monate zu nutzen, um eine stabile Sicherheitsarchitektur in Europa hinzubekommen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssten zum Schluss kommen.

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dass das eine außergewöhnlich große Herausforderung ist, spüren wir, glaube ich, heute alle. In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen schönen Feierabend, ein schönes Wochenende und eine gute Heimreise. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Steffel. – Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Bevor ich Sie jetzt als die Übriggebliebene ins Wochenende entlasse, wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende, ein entspanntes Wochenende. Tanken Sie viel Kraft. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 13. Februar 2019, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 16.33 Uhr)