Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/31/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Peter Altmaier (Minister:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die deutsche Wirtschaft befindet sich im zehnten Jahr in Folge in einer äußerst robusten, in einer äußerst stabilen und starken Verfassung. Wir haben eine Wirtschaftsleistung, die so hoch ist wie noch nie zuvor in unserer Geschichte, den längsten Aufschwung seit 1966. Wir haben die höchste Zahl an Arbeitsplätzen, und die Arbeitslosigkeit wird im nächsten Jahr zum ersten Mal seit der deutschen Einheit auf unter 5 Prozent sinken. Wir werden einen Anstieg der Nettolöhne im nächsten Jahr um rund 4,8 Prozent erleben. ({0}) – In diesem Jahr. – Dazu tragen auch die Entlastungen bei Steuern und Abgaben bei. – Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist die gute Botschaft. Wahr ist aber auch, dass wir ein schwieriges internationales Umfeld haben und dass sich die Wachstumsdynamik bereits im zweiten Halbjahr 2018 verlangsamt hat. Wir hatten im letzten Jahr ein Wachstum von immerhin noch 1,5 Prozent, und wir werden aufgrund der ungelösten Situation im Hinblick auf den Brexit und im Hinblick auf die internationalen Handelsbeziehungen eine Verlangsamung des weltwirtschaftlichen Wachstums erleben, die auch Auswirkungen auf Deutschland haben wird. Der Brexit betrifft in Deutschland etwa 70 000 Unternehmen. Die Frage, ob es zu Lieferengpässen, Transportproblemen, fehlenden Lagerkapazitäten kommt, treibt viele um. Die Bundesregierung ist auf diese Situation vorbereitet. Dennoch sage ich mit Blick auf alle Beteiligten, auch unsere Freunde in Großbritannien, deren Ringen wir mit Sympathie und Mitgefühl verfolgen: Egal, wie ihr euch entscheidet, egal, welche Lösung am Ende die Mehrheit bekommt – es darf keinen ungeregelten Brexit geben, weil die Menschen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und die Wirtschaft dafür die Zeche zahlen würden. Das können wir uns nicht leisten. ({1}) Das Zweite ist, meine Damen und Herren: Weil wir die Risiken insbesondere im Bereich der internationalen Politik haben und nicht leugnen können, wird das Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr etwas schwächer ausfallen, als ursprünglich prognostiziert: 1 Prozent. Das ist eine Zahl, um die uns viele in der Welt immer noch beneiden und die wir uns vor 15 Jahren nicht hätten ausdenken können – das wäre ein großer Erfolg gewesen. Und dennoch: Wir haben ein Interesse daran, dass es nicht dauerhaft bei 1 Prozent bleibt. Wir erwarten für das nächste Jahr ein Wachstum von 1,6 Prozent, und wir glauben, dass wir auch dazu beitragen können, diese stabile Entwicklung zu befördern und zu verstärken. Dazu gehört aber dann auch, dass wir Rechenschaft über unser Handeln ablegen; das ist etwas, was von uns, von der Politik, erwartet wird. Sie wissen alle, dass ich ein großer Befürworter unserer Regierungskoalition und eines guten und fairen Umgangs miteinander bin. Dennoch sage ich an dieser Stelle, ohne dass ich es auf irgendeinen Kabinettskollegen oder irgendeine Kabinettskollegin direkt beziehe: Ich glaube, dass zum jetzigen Zeitpunkt Debatten über Steuererhöhungen nicht besonders hilfreich sind. ({2}) Sie sind auch nicht im Koalitionsvertrag vorgesehen. ({3}) Wir haben uns im Koalitionsvertrag der Großen Koalition von 2013 zum ersten Mal darauf verpflichtet, vier Jahre lang keine Steuern zu erhöhen, und wir haben dieses Versprechen eingehalten. ({4}) Wir haben das Versprechen im Koalitionsvertrag für diese Legislaturperiode wiederholt. Lieber Kollege Bartol, es geht mir doch nicht um irgendeinen ideologischen Streit, sondern es geht mir darum, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die auch Ihre Partei wählen, die unsere Parteien wählen, ({5}) Gewissheit haben, dass sie von uns Rückenwind bekommen und keine Diskussionen, die viele Selbstständige, Handwerker, Unternehmerinnen und Unternehmer entmutigen. ({6}) Das ist das Signal, das wir zum jetzigen Zeitpunkt brauchen. Ich glaube, wir müssen auch darüber nachdenken, inwieweit wir vielleicht von früheren Gewohnheiten abgehen können. In den 70er- und 80er-Jahren war es immer so, dass im wirtschaftlichen Abschwung der Ruf nach Konjunkturprogrammen laut wurde. Die waren dann meistens sehr teuer und oft auch Strohfeuer. Viele andere, zum Beispiel bei Ihnen, Herr Houben, haben gesagt, der Staat müsse sich generell und immer raushalten. Ich glaube, wir sollten darüber nachdenken, ob es nicht dann, wenn sich eine wirtschaftliche Dynamik aufgrund von Ursachen, die außerhalb des eigenen Landes liegen, abschwächt, Sinn macht, neue Anreize zu setzen und das Wachstum zu verstärken, damit es gar nicht erst zu unerwünschten Entwicklungen kommt. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, was wir tun können. ({7}) Dabei geht es nicht unbedingt und in erster Linie um haushaltswirksame Maßnahmen. Wenn wir uns darauf verständigen könnten, für ausgewählte Infrastrukturprojekte in ganz Deutschland Planungsbeschleunigungen und Planungserleichterungen zuzulassen – das könnte ich mir vorstellen –, damit die Gelder, die in den Bundeshaushalt eingestellt sind, auch abfließen, dann wäre dies ein wichtiges Signal. ({8}) Ich möchte mich ausdrücklich beim Kollegen Scholz und bei der Kollegin Karliczek dafür bedanken, dass wir uns in der Bundesregierung zu dritt darauf verständigt haben, dass wir noch vor der Sommerpause den Gesetzentwurf zur steuerlichen Forschungsförderung in den Deutschen Bundestag einbringen. Das ist insbesondere für mittelständische Unternehmen ein ganz starkes Signal. ({9}) Ich würde mir wünschen, dass wir auch die finanziellen Mittel finden, um die energetische Gebäudesanierung voranzubringen und manches andere mehr. Wir haben in der letzten Woche den Bericht der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ zu den von der Kohleverstromung betroffenen Regionen zur Kenntnis genommen. Ich glaube, dass uns die Umsetzung dessen, was dort beschlossen worden ist, in den nächsten Wochen noch beschäftigen wird, wenn es darum geht, konkrete Maßnahmen zu ergreifen und Verlässlichkeit und Berechenbarkeit herzustellen. Wir werden mit dem Deutschen Bundestag darüber reden. Ich habe die große Hoffnung, dass es möglich ist, bis Ende April die ersten Eckpunkte zu vereinbaren. Ich biete an, dass die Bundesregierung die Fragen, die wir jetzt klären müssen, auch im Gespräch mit den Abgeordneten gemeinsam erörtert. Die Energiewende wird vorankommen, weil wir einige wichtige Weichenstellungen vorgenommen haben. Wir haben mit dem Netzausbaubeschleunigungsgesetz und mit dem Energiesammelgesetz Klarheit in wichtigen Bereichen geschaffen. ({10}) Jetzt ist vor allen Dingen wichtig, dass wir auch im internationalen Wettbewerb klare und deutliche, auch industriepolitisch notwendige Akzente setzen. Die Wettbewerbspolitik der Europäischen Union ist unabhängig, und das ist gut so. Aber ich sage auch im Hinblick auf Fusionsprojekte, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden: Europa und auch Deutschland haben ein Interesse daran, dass es in einem sich immer stärker global organisierenden Weltmarkt, wo die Konkurrenz und der Wettbewerb auch von großen Playern zunehmen, auch in Europa bzw. Deutschland europäische und nationale Champions gibt, die es im internationalen Wettbewerb auch mit Anbietern aus den USA oder China aufnehmen und dort bestehen können. Deshalb müssen wir bereit sein, mittelfristig darüber nachzudenken, welche Anpassungen in unserem Wettbewerbsrecht notwendig sind. ({11}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden in den nächsten Monaten viel Gelegenheit haben, darüber zu reden, wie man nachhaltiges Wachstum unabhängig von Konjunkturzyklen so organisieren kann, dass bei den Arbeitsplätzen Friktionen vermieden werden, dass Menschen ermuntert werden, Leistungen zu erbringen, und dafür nicht bestraft werden. Wir werden in diesem Jahr mit Entlastungen für Familien mit Kindern in der Größenordnung von 10 Milliarden Euro – ganzjährig gerechnet – einen Beitrag dazu leisten, dass die Konjunktur weiter gestützt wird. Das haben diese Familien und ihre Kinder verdient. Wir sollten den eingeschlagenen Weg ruhig und besonnen weitergehen. Wir können mit dem, was wir erreicht haben, sehr zufrieden sein, und wir können darauf sehr stolz sein. Ich bin überzeugt, dass der Aufschwung weitergeht und schon in wenigen Monaten erneut an Fahrt gewinnen wird. Vielen herzlichen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank, Herr Minister. – Als Nächster spricht für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Leif-Erik Holm. ({0})

Leif Erik Holm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004761, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Liebe Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um den realen Zustand Deutschlands zu beschreiben, muss ich eigentlich nur einmal berichten, wie ich am Montag zur Arbeit gekommen bin: Der Zug hatte mal wieder 30 Minuten Verspätung, und ich war durchaus dankbar; denn oftmals sind es 90 Minuten. ({0}) Man könnte die Zeit ja ganz gut nutzen und schon auf dem Bahnsteig die ersten Telefonate führen – wenn nicht die Gespräche immer schon nach zwei Minuten abbrechen würden. Das ist der reale Zustand in Deutschland. ({1}) So geht es Hundertausenden Bürgern in Deutschland! Das ist das Falsche an Ihrer Politik. Das ist peinlich, und verantwortlich dafür sind Sie, Frau Bundeskanzler, Herr Wirtschaftsminister, und auch vorige Regierungen unter Ihrer Ägide. ({2}) Sie haben aus unserem Land eine Lachnummer gemacht. ({3}) Übrigens: Ich grüße an dieser Stelle auch den Herrn Bundespräsidenten. Ich freue mich, dass er es aus Äthiopien pünktlich hierher geschafft hat. ({4}) Sie konnten sich ja wegen der Null-Zins-Sonderkonjunktur lange zurücklehnen, aber die Bremsspuren zeigen sich sehr deutlich – auch in Ihrem Bericht. Sie sind darauf aber nicht im Geringsten vorbereitet. Im Gegenteil: Sie haben mit Ihrer sorglosen Umverteilungspolitik, mit Ihrem Koalitionsvertrag voller neuer Milliardenausgaben erst dafür gesorgt, dass es sehr wenig Spielraum für schlechtere Zeiten gibt. Hier zeigt sich das unverantwortliche Handeln der Merkel/Nahles/Seehofer-Regierung. Wir müssen jetzt, vor dem Abschwung, Impulse der Entlastung setzen. Jetzt wäre es an der Zeit, den Solidaritätszuschlag endlich abzuschaffen. Das haben wir gefordert; Sie haben es abgelehnt. ({5}) Das scheint offensichtlich ein Naturgesetz bei vielen Politikern zu sein: Neue Steuern einführen, das geht immer – Steuern abschaffen, natürlich nie. Ich nenne es das Gesetz der klebrigen Finger. Damit müssen wir in diesem Land endlich Schluss machen! Zeigen Sie, dass Sie es ernst meinen mit der Entlastung der hart arbeitenden Mittelschicht! Also weg mit dem Soli, jetzt ist es an der Zeit! ({6}) Wenn ich das hinzufügen darf: Es gäbe dafür ja bürgerliche Mehrheiten in diesem Haus. Wir sollten es einfach tun; die Bürger erwarten es von uns. ({7}) Meine Damen und Herren, gute Wirtschaftspolitik heißt, Bürgern und Unternehmen möglichst viel Freiheit für ihre eigenen kreativen Ideen zu lassen. Stattdessen steigt der Bürokratieaufwand Jahr für Jahr. Wir erleben eine Wiederauferstehung der Planwirtschaft – ob das die völlig kontraproduktive Mietpreisbremse ist oder das EEG, das die Strompreise explodieren lässt. Ich muss ehrlich hinzufügen: Es ist schon gruselig mit anzusehen, dass die Partei von Ludwig Erhard hier einfach mitmacht. Traurig ist das mit anzusehen! ({8}) Die Autofahrer werden mit einem völlig unsinnigen NO 2 -Grenzwert getriezt. Die für uns wichtige Automobilindustrie droht, in Gefahr zu geraten. Der überhastete Kohleausstieg wird der nächste teure Spaß sein. Er löst natürlich kein Problem, kostet aber gerade in strukturschwachen Regionen viele Arbeitsplätze. Die Bürger erleben tagtäglich, was los ist – gerade im ländlichen Bereich. In meinem Wahlkreis auf der Insel Rügen macht der nächste Traditionsbetrieb zu. Der Rügener Badejunge – Deutschlands erfolgreichste Weichkäsemarke – muss weichen; 60 Arbeitsplätze gehen hier verloren. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Das ist die Realität derzeit in Deutschland. ({9}) Was ist Ihre Lösung? Wir konnten gerade davon lesen: eine große Ost-Offensive. Ein paar Schlagworte vor wichtigen Landtagswahlen – das ist so durchschaubar. Und ganz ehrlich: Der Ossi wird müde mit der Schulter zucken und dann sein Kreuz bei der richtigen Partei machen. Denn er erkennt: Es handelt sich hier mal wieder um reinen Populismus, um Regierungspopulismus. ({10}) Nein, der Jahreswirtschaftsbericht zeigt mir, dass Sie immer noch auf Ihrer konjunkturellen Wolke sieben schweben. Dabei wäre es jetzt allerhöchste Zeit, vorauszuschauen und für schlechtere Zeiten vorzusorgen. Das erwarten die Bürger von Ihnen. Fangen Sie bitte endlich damit an! ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Kollege Sören Bartol. ({0})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Häufig hat ja die Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichts im Deutschen Bundestag dazu geführt, dass die Koalitionsfraktionen die wirtschaftliche Lage in den höchsten Tönen loben und die Opposition die Situation in dramatischen Tönen schlechtredet. Weder Schaumschläger noch Miesmacher haben der Wirtschaftspolitik je gutgetan. Deshalb werbe ich dafür, dass wir heute nicht in dieselbe Falle tappen wie viele unserer Vorgängerinnen und Vorgänger. Ich werde mich hier um Sachlichkeit bemühen. Lassen Sie uns doch gemeinsam über die Fakten reden. Die positive wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands setzt sich fort, wenn auch auf einem niedrigeren Niveau. So erwartet die Bundesregierung für das Jahr 2019 ein Wachstum des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts von 1 Prozent. Als exportorientiertes Land spielen hier auch Unsicherheiten eine Rolle: der Brexit, die Zollstreitigkeiten mit den USA, der Handelskonflikt zwischen den USA und China. Gerade deshalb aber ist es wichtig, die Binnennachfrage als wichtigen Teil unseres Wirtschaftswachstums zu stützen. ({0}) Wir alle müssen sie gemeinsam stärken. Dazu gehört auch, dass die Menschen ihr Geld nicht auf die Seite packen, sondern sich von den steigenden Löhnen etwas kaufen. Das können die meisten auch. Die positive Nachricht des Jahreswirtschaftsberichtes ist, dass Beschäftigung und Löhne weiter ansteigen werden. Das bedeutet, dass all diejenigen, die mit ihrer Arbeit tagtäglich dafür sorgen, dass die Unternehmen in Deutschland gutes Geld verdienen, weiter von der positiven Entwicklung bei Beschäftigung und Löhnen profitieren werden. Mit Sorge sehe ich allerdings, dass viele Unternehmen inzwischen nicht mehr nach Tarif zahlen. Wir müssen darüber reden, wie wir neue Anreize schaffen, damit Unternehmen wieder tarifgebunden sind. Von den Tarifpartnern ausgehandelte Löhne sind keine Wachstumsbremse; sie sorgen für den sozialen Frieden in den Unternehmen und auch in unserer Gesellschaft. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, all diejenigen, die von der wirtschaftlichen Krise reden und Steuersenkungen als Gegenmaßnahmen einfordern, sollten Folgendes bedenken: Die Unternehmen verdienen derzeit immer noch gutes Geld. Der Unternehmer Martin Herrenknecht, erfolgreicher Familienunternehmer im Tunnelbau, der bekanntermaßen kein Mitglied der deutschen Sozialdemokratie ist, ({2}) hat es in dieser Woche im „Handelsblatt“ auf den Punkt gebracht. Er warnt davor, in der jetzigen Situation die Unternehmensteuern zu senken. Vielmehr verweist er darauf, dass es zielführender ist, die unteren Einkommen zu entlasten. Und genau das tun wir, indem wir den Solidaritätszuschlag für Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen abschaffen, Familien finanziell entlasten und dafür sorgen, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Krankenkassenbeiträge wieder jeweils zur Hälfte zahlen. ({3}) Wichtig ist, dass die Unternehmen jetzt in Innovationen investieren. Der Großteil unserer Wirtschaftserfolge basiert auf Ideen aus dem vorletzten Jahrhundert. Dass sich unser Wohlstand auch in Zukunft gut entwickelt, ist kein Automatismus. Es geht nicht nur darum, bestehende Geschäftsmodelle zu digitalisieren. Es geht vor allen Dingen darum, neue digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln. Deutschland ist Exportweltmeister – darauf sind wir doch alle immer zu Recht stolz –; ich wünsche mir, dass wir dazu auch noch Innovationsweltmeister werden. Hierzu brauchen wir steuerliche Anreize. Darum werden wir die steuerliche Forschungsförderung insbesondere für kleinere Unternehmen zügig auf den Weg bringen. Solange die Unternehmen jedoch gute Gewinne machen, müssen wir darüber hinaus die Steuern nicht senken. Vielmehr muss die öffentliche Hand weiter auf hohem Niveau insbesondere in den Ausbau der Verkehrswege und die Versorgung mit schnellem Internet investieren. Das tun wir auf höchstem Niveau. Das schafft Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung vor Ort. Außerdem sollte jeder, der zum Beispiel den Solidaritätszuschlag auch für Menschen mit hohem Einkommen abschaffen will, sagen, wie er das im Bundeshaushalt gegenfinanzieren will ({4}) und was er am Ende dafür streichen will. Ein wichtiger Baustein unserer Wirtschaftspolitik ist eine solide Finanzpolitik, bei der wir Maß und Mitte halten. Manchmal wundere ich mich etwas, dass die Gleichen, die einem sozialdemokratischen Finanzminister vorwerfen, nicht mit Geld umgehen zu können, im selben Atemzug Milliardenentlastungen versprechen und damit doch am Ende nur ungedeckte Schecks verteilen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir lehnen uns nicht zurück. Wir wissen, dass viele Unternehmerinnen und Unternehmer nur noch mit großem Aufwand Fachkräfte finden. Daher ist es doch umso wichtiger, dass wir endlich ein modernes Zuwanderungsgesetz, ein modernes Zuwanderungsrecht schaffen. Das ist in unser aller Interesse. Wir wissen, dass sich viele Beschäftigte Sorgen um die Digitalisierung machen. Darum verstärken wir die Unterstützung für die Fort- und Weiterbildung, um sich auf die digitale Zukunft gut vorbereiten zu können. Und wir wissen um die Unsicherheit der Unternehmen, die sich aus dem Brexit, dem Zollstreit mit den USA und dem aggressiven Auftreten Chinas auf dem Weltmarkt ergeben. Daher setzen wir auf ein starkes Europa, auf stete Verhandlungen und bekennen uns auch klar zu weiteren Handelsabkommen. Abschottung und Protektionismus sind pures Gift für Wachstum und Wohlstand. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Jahreswirtschaftsbericht hat die Bundesregierung die wirtschaftliche Lage in diesem Land realistisch beschrieben. Er dokumentiert aber auch, dass wir die Hände nicht in den Schoß legen dürfen, sondern dafür arbeiten müssen, dass es Deutschland auch in den kommenden Jahren wirtschaftlich gut geht. Und dazu brauchen wir mehr als gute Worte und mediale Ankündigungen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden das anpacken und die notwendigen Impulse setzen. Vielen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Abgeordnete Thomas Kemmerich. ({0})

Thomas L. Kemmerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004775, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht belegt zwei Dinge: zunächst, dass die Wirtschaft erfolgreich ist – trotz der Politik oder trotz der Untätigkeit der Politik. ({0}) Zum Zweiten belegt er in puncto Ostdeutschland, dass hier jedes Jahr mit demselben Textbaustein gearbeitet wird, und er manifestiert, dass der Aufholprozess stockt und dass Ihnen dazu nichts Neues einfällt. Das Versagen der Bundesregierung ist entgegen Ihren Ankündigungen – seien sie von der SPD oder der CDU – deutlich: Es gibt mehr Bürokratie – ich nenne nur die Brückenteilzeit – und den volkswirtschaftlich irrsinnigen Kohlekompromiss. Selbst die Experten streiten, ob der Kohlekompromiss in den nächsten Jahren in Summe 40 oder 80 Milliarden Euro kosten wird. Und noch eine kleine Petitesse: Wegen der Abwandlung des Prüfzyklus für Dieselfahrzeuge erlebt der BER eine Sonderkonjunktur in Form von geparkten Dieselfahrzeugen auf dem Parkplatz. Aber die Konjunktur lahmt. Es herrscht Untätigkeit. Sie können mehrfach betonen, dass Sie das wollen; aber machen Sie es endlich: Legen Sie den Entwurf eines Fachkräftegesetzes vor, und gehen Sie mit dem Handelsstreit zwischen den USA, China und den anderen globalen Mächten aktiv um, und nutzen Sie beim Thema Brexit nicht immer dieselben Worthülsen, sondern werden Sie endlich tätig. ({1}) Deutschland verliert an Attraktivität. Herr Altmaier, wenn Sie es ernst meinen mit „keine Steuererhöhungen“, dann reden Sie bitte mit Finanzminister Scholz, der eine gigantische Steuererhöhung in Form einer veränderten Grundsteuer plant, ({2}) die nicht nur die Mittelschicht, sondern auch den Mittelstand im Mark erschüttern würde. ({3}) Im Einzelnen. Sie kündigen seit Ihrer Regierungserklärung an, den Entwurf eines Bürokratieentlastungsgesetzes vorzulegen. Wo ist er denn? Werden Sie konkret. Wir haben mehrfach gefordert und dem Bundestag Entsprechendes angeboten: Reformieren Sie die Dokumentationspflichten beim Mindestlohn, ({4}) vereinfachen Sie die Regeln zur Abgabe der Sozialversicherungsbeiträge, sorgen Sie für zeitnahe Betriebsprüfungen, nehmen Sie die Überregulierung der Zeitarbeit zurück, sorgen Sie für flexible Arbeitszeiten und Tariföffnungen, und reden Sie dabei nicht im Generellen von prekärer Beschäftigung. Die Freelancer sind wichtige Innovationstreiber in dieser Gesellschaft. Sie werden weltweit eingesetzt, aber in Deutschland erfahren sie eine Ächtung. Wir fordern: Führen Sie hier geeignete Regelungen ein. ({5}) Für alle in Deutschland, für Bürger und Unternehmer, würden Sie durch einen Bürokratieabbau das Leben einfacher machen. 45 Milliarden Euro kostet uns alle die Bürokratie jährlich. Es würde uns keinen Cent kosten, sie zu reduzieren, aber es würde das Leben, wie gesagt, einfacher machen. – Zucken Sie nicht mit den Schultern, sondern legen Sie Ihr Handy weg, und dann können wir zusammen arbeiten. ({6}) Das Nadelöhr ist aber der Fachkräftemangel. Wir sehen einen Fachkräftebedarf von circa 5 Millionen Menschen bis zum Jahr 2030. Das wird die deutsche Volkswirtschaft in Form von fehlendem Umsatz weit über 500 Milliarden Euro kosten. Das entspricht 14 Prozent der heutigen Wirtschaftskraft. Legen Sie endlich ein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild vor. Ändern Sie die Kriterien für die Bluecard: Senken Sie die Einkommensgrenzen, und weiten Sie die Gruppe der Berufe aus, die zuwandern können. Wir brauchen nicht nur Hochschulabsolventen; wir brauchen Fachkräfte, Fachkräfte, Fachkräfte. ({7}) Reformieren Sie die Anreizsysteme beim Zuverdienst von Hartz-IV-Beziehern und Rentnern. Die jetzigen Regelungen sind arbeitsverhindernd. Frau Karliczek, denken Sie beim BAföG bitte nicht nur an die Studenten, sondern weiten Sie das BAföG endlich auf die Ausbildungsberufe aus. Wir brauchen mehr Meister statt Master. Fangen Sie an! ({8}) Herr Altmaier, das Erbe Ludwig Erhards wahren Sie nicht durch nette Dampfplauderei, sondern indem Sie die Rahmenbedingungen für die Akteure der sozialen Marktwirtschaft so setzen, dass die Unternehmen, die Mittelständler, die Handwerker die Möglichkeit haben, die Herausforderungen der nächsten Zeit zu bewältigen. Das sind die Digitalisierung, die Demografie und die veränderten Bedingungen der globalen Welt. Legen Sie einen Gang zu. Kommen Sie raus aus dem Leerlauf. Wir freuen uns auf Ihre Aktivitäten. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion Die Linke der Kollege Klaus Ernst. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit Jahren haben wir in Deutschland stabile Wachstumsraten. Kollege Kemmerich, angesichts dessen von einer lahmenden Wirtschaft zu sprechen, ist ein wenig mutig. ({0}) Ich habe eher den Eindruck: Seit 14 Jahren höre ich in diesem Zusammenhang dieselben lahmen Argumente der FDP. Vielleicht sollten Sie ein bisschen genauer hinschauen. So schlecht ist die Lage nicht. ({1}) Worauf ist das zurückzuführen? Das ist doch die spannende Frage. Herr Kemmerich und liebe Kolleginnen und Kollegen, die steigenden Löhne und die Inlandsnachfrage sind inzwischen zum Motor der Wirtschaft geworden. ({2}) Das ist Tatsache. Das hat unser Wirtschaftswachstum verursacht. Meine Damen und Herren, ich erinnere mich gerne an die Argumente, die immer gegen Lohnerhöhungen vorgebracht wurden. Es wurde gesagt, Lohnerhöhungen führten zu einer Lohn-Preis-Spirale, zu steigenden Preisen. Haben Sie sich mal überlegt, wie die Preise zurzeit sind? Die Preissteigerung liegt unter dem Niveau, das die EU als Inflationsrate vorsieht. Wir haben da also überhaupt kein Problem. Das nächste Argument war, durch Lohnerhöhungen würden die Exporte gefährdet, dann hätte man Probleme mit der Wettbewerbsfähigkeit. Haben Sie sich mal angeguckt, wie die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen aussieht, die im Ausland mit anderen Unternehmen in Konkurrenz stehen? Sie ist ausgezeichnet. Ich kann nur sagen, meine Damen und Herren: Da haben wir kein Problem. Wir haben allerdings ein anderes Problem, nämlich dass diese Lohnentwicklung nicht für alle sichtbar ist. Gerade bei den unteren Löhnen haben wir einen Riesennachholbedarf. Deshalb kann ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, nur auffordern: Hören Sie auf Ihren Finanzminister! Machen Sie endlich einen Mindestlohn von 12 Euro! ({3}) Das stabilisiert die Konjunktur in diesem Land und führt vielleicht auch dazu, dass wir über das 1 Prozent Wachstum, das im Jahreswirtschaftsbericht prognostiziert ist, wieder hinauskommen. Im Übrigen, Herr Altmaier, gibt es ja auch ein Wirtschaftsforschungsinstitut, das sagt: Dieses 1 Prozent ist ein wenig nach unten gerechnet. – Vielleicht deshalb, weil Sie dann hinterher sagen können: Wir waren besser als prognostiziert. – Das ist vielleicht auch eine Methode, wenn auch keine schöne. Meine Damen und Herren, wir haben tatsächlich das Problem, dass die unteren Löhne nach wie zu niedrig sind. Deshalb liegt hier auch ein Schlüssel für weiteres Wachstum. ({4}) Zweite Bemerkung. So leicht kann ich Sie da nicht rauslassen. Ihre Fraktion hat jetzt über weitere Steuersenkungen im Unternehmensbereich nachgedacht. Sie wollen tatsächlich für die Unternehmen die Steuern senken. Ja warum denn? Vorsorglich? Denen geht es doch blendend; sagen Sie ja selber. Aber haben Sie sich eigentlich die Zahlen der letzten Jahre angesehen, meine Damen und Herren? Die Investitionsquote, also das, was die Unternehmen von ihrem Gewinn für Investitionen verwenden, lag im Jahre 1991 bei knapp 50 Prozent; 50 Prozent von dem, was die Unternehmen hatten, haben sie investiert. Im Jahre 2017 lag die Investitionsquote nur noch bei 9 Prozent. Das kann nicht daran liegen, dass die Unternehmen zu wenig Geld haben. Durch Steuersenkungen hätten sie noch mehr, investieren deshalb aber nicht mehr. Deshalb kann ich nur sagen: Da fehlt es wirklich nicht am Geld. Herr Herrenknecht ist heute schon genannt worden. Herr Herrenknecht ist ein sehr erfolgreicher Baden-Württemberger Unternehmer, der die großen Maschinen für die Löcher in den Tunnels baut. Man kann sich das auch ansehen. ({5}) Ich habe einmal die Ehre gehabt, sechs Stunden neben ihm im Flieger zu sitzen. Vielleicht hat das auch ein bisschen gewirkt. Denn das Zitat gefällt mir sehr gut. Er hat gesagt – Herr Altmaier, ich möchte Ihnen das ganze Zitat zum Besten geben, weil es, glaube ich, sehr spannend ist; ich zitiere wörtlich –: Wir müssen dringend die unteren Lohngruppen entlasten  … Stattdessen diskutiert die CDU über niedrigere Unternehmensteuern – in einer Phase, wo es der Wirtschaft so gut geht. Das ist die falsche Reihenfolge. Zuerst muss unten entlastet werden. Die unten denken, dass die oben spinnen. ({6}) Herr Altmaier, hat Herr Herrenknecht recht? Spinnen die da oben? ({7}) Dann sollten Sie einmal mit Ihrer Fraktion reden. ({8}) Herr Herrenknecht fordert übrigens weiter: Viel wichtiger wäre es, das Geld in die Schulen zu investieren. Schon wenn man die Gebäude anschaut, wird man verrückt … Wir brauchen Laptops für die Schüler und Lehrer in allen Schulen … ({9}) Recht hat er. Er ist übrigens Mitglied der CDU, Herr Altmaier. Allerdings hat er jetzt, glaube ich, seine Mitgliedschaft ruhend gestellt. Vielleicht überlegen Sie einmal, warum. ({10}) Es fehlt bei Bildung, bei öffentlicher Verwaltung, es fehlt bei Pflege, es fehlt im öffentlichen Wohnungsbau, bei öffentlicher Infrastruktur. 57 Milliarden Euro, schätzt die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG, fehlen allein bei der Bahn. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau sagt, 159 Milliarden Euro fehlen den Kommunen; der Investitionsrückstand hat diese Höhe. Wir brauchen keine Steuergeschenke für Unternehmen, wir brauchen Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, meine Damen und Herren, ({11}) und zwar dringend und mehr, als Sie da vorhaben. Dritte Bemerkung. Wo wollen wir eigentlich industriepolitisch hin? Nach wie vor, Herr Minister, bleiben Sie die angekündigte Strategie schuldig. Noch einmal Herr Herrenknecht – er ist einfach gigantisch –, er sagt: Die Chinesen legen mit ihrer Seidenstraße eine wirtschaftliche Vision vor – und wir haben nicht mal eine Antwort darauf, geschweige denn ein eigenes Konzept. Dringender Nachholbedarf, da muss was geschehen. Meine Damen und Herren, eine letzte Bemerkung: Im Jahreswirtschaftsbericht 2019 schreiben Sie – Zitat –: Der Leistungsbilanzsaldo ist für die Bundesregierung keine wirtschaftspolitische Zielgröße. Die weltweite Kritik, dass Deutschland seit Jahren bei weitem mehr exportiert als importiert, ist Ihnen also schnuppe. Haben Sie das eigentlich einmal mit Herrn Trump diskutiert? Sind die großen Überschüsse, die wir im Außenhandel erzielen, nicht gerade die Ursache dafür, dass Herr Trump jetzt Strafzölle erlässt? Ist es nicht der Hintergrund dessen, dass weltweite Probleme entstehen, wenn das ein oder andere Land – auch China – bei weitem mehr verkauft als importiert und damit andere in Schwierigkeiten bringt? Wenn Sie sagen, das ist Ihnen schnuppe, dann frage ich: Ist Ihnen übrigens auch die Gesetzgebung des Bundestages schnuppe? Wir haben nämlich ein Gesetz, das ausgeglichene Handelsbilanzen als Ziel staatlicher Wirtschaftspolitik vorschreibt. Sie ignorieren das einfach. Ich muss sagen, Herr Altmaier, das finde ich schade. Mit einer solchen Politik und dem, was daraus folgt, gefährden Sie Wachstum und Wohlstand in Deutschland und in Europa. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Kerstin Andreae. ({0})

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Für uns ist es ja immer noch eine Freude: Endlich haben wir eine Einigung für den Kohleausstieg. Eine grüne Forderung wird Realität. ({0}) Unser Dank geht an all diejenigen, die jahrelang dafür gekämpft haben, dass wir aus der Kohle aussteigen, unermüdlich für Klima- und Umweltschutz gekämpft haben. Dank an all diejenigen, die dies ermöglicht haben! ({1}) Das ist aber nur der erste Schritt. Jetzt gilt es, den Ausbau der Erneuerbaren voranzubringen. Wir fordern Sie auf, Herr Altmaier: Machen Sie Deutschland endlich wieder zum Spitzenreiter bei den Erneuerbaren! Die anderen Länder holen auf. Wir waren 2010 das letzte Mal an der Spitze bei den erneuerbaren Energien. Bei uns gehen die Investitionen zurück. Das kann man doch nicht sehenden Auges zulassen. ({2}) Ich sage Ihnen das nicht nur, weil es für die Umwelt und unsere Lebensgrundlagen wichtig ist, sondern auch, weil es ökonomisch sinnvoll ist. Das Weltmarktvolumen von Klimatechnologien wird bis 2030 auf 1 bis 2 Billionen Euro ansteigen. Das ist der Markt der Zukunft. Klimaschutz und Ökologie sind der Jobmotor der Zukunft. Wir fordern von Ihnen, dass Sie endlich eine Haltung und ein Selbstbewusstsein entwickeln: Nachhaltigkeit durch Innovationen ist ein Standortvorteil für die Bundesrepublik Deutschland. ({3}) Jetzt beklagen Sie die geringen privaten Investitionen. Die sind aber logisch, weil die Unternehmen abwarten. Es gibt nämlich keine Planungssicherheit. Wir durften letzte Woche lesen, dass Thyssen in neue Stahlproduktion investiert, 10 Milliarden Euro. Das machen sie unter anderem deswegen, weil sie davon ausgehen, dass ein CO 2 -Preis kommt. Wir wollen den Stahlstandort Deutschland erhalten. Der Weg führt aber über die emissionsärmste Technologie, und Ihre Ablehnung eines CO 2 -Preises ({4}) ist ein Bremsklotz für zukunftsfähige Entwicklung, Herr Minister Altmaier. ({5}) Wir wissen, dass wir in Deutschland den Klimawandel nicht allein aufhalten können – das ist doch logisch –, selbst wenn wir sämtliche CO 2 -Emissionen auf null reduzieren. Es geht doch um etwas völlig anderes. Es geht erstens darum: Jedes Land ist verpflichtet, seinen Beitrag zu leisten; nur dann erreichen wir global etwas. Es geht zweitens darum, zu zeigen, dass man Wohlstand erhalten kann mit CO 2 -armem Wirtschaften. Und es geht drittens darum, mit den besten Technologien Unternehmen Märkte zu erschließen. Da liegt die Zukunft. Das haben wir mit dem EEG bewiesen, und das können wir auch mit anderen Technologien beweisen. Das wäre mal eine Strategie. ({6}) Aber genau das fehlt ja: eine industriepolitische Strategie. Der Wirtschaftsminister redet von KI und von Batteriezellen. Das ist alles auch in Ordnung. Aber was ist eigentlich mit dem Wandel der alten Industrien? Welche Initiativen kommen da? Wo bleibt denn eigentlich der strategische Dialog mit der Automobilindustrie? ({7}) Da bräuchten wir doch heute schon eine Strukturkommission und nicht erst in zehn Jahren, wenn die Hütte brennt. ({8}) Stattdessen gipfelt sich dieser großartige Verkehrsminister Scheuer ergebnislos durch die Lande und knallt seinen Experten dann auch noch einen vor den Latz. Ich sage Ihnen eines: Die Tage ohne Tempolimit sind gezählt. ({9}) Selbst wenn der Regierung die Klimaziele und die Maßnahmen egal sind: Es gibt keinen Grund, die vielen Verkehrstoten in Kauf zu nehmen, nur damit irgendwelche Geschwindigkeitsfanatiker endlich einmal Gas geben können. ({10}) Und es geht uns keineswegs nur um große Unternehmen. Was wir brauchen, sind innovative Gründer. Wo setzen Sie eigentlich den Gründergeist frei? Wo sind Ihre Maßnahmen, um jungen Menschen bei der Gründung ­eines Unternehmens zu helfen? Wir haben mit dem Gründerkapital ein einfaches und unbürokratisches In­strument vorgeschlagen. Aber was ist denn Ihr Vorschlag, Kreativität und Tatendrang ohne große bürokratische Hürden freizusetzen? Da erwarte ich eine Initiative vom Wirtschaftsminister. Es gibt so viele junge Menschen mit guten Ideen; tun Sie etwas für die! ({11}) Sie reden von Wachstum – wir reden von Wohlstand. Deshalb haben wir zum dritten Mal einen Jahreswohlstandsbericht vorgelegt. Der Orientierung am Bruttoinlandsprodukt – sind es jetzt 2,3 oder 1,8 Prozent; jetzt sind es doch nur 1 Prozent; 3 Prozent waren einmal drin; wie auch immer – setzen wir etwas entgegen. Denn die Gleichung „Wachstum gleich Wohlstand“ geht nicht mehr ohne Weiteres auf. Wir haben einen illusionären Wohlstand. ({12}) Ich fasse einmal die verheerenden Ergebnisse dieses Jahreswohlstandsberichts in einem Satz zusammen: Für Ihre Art der Politik reicht unsere Zukunft nicht aus, so viel Zeit haben wir nicht mehr. ({13}) Wir leben nicht nur zulasten kommender Generationen, ({14}) sondern auch zulasten ausländischer Biokapazitäten. ({15}) Die Einkommensschere geht zu weit auseinander, trotz der Hochkonjunktur in den letzten Jahren. Das Artensterben ist ein Armutszeugnis, und die Green Economy, einst ein Verkaufsschlager der Bundesrepublik Deutschland, ({16}) ist längst nicht mehr bei uns angesiedelt. ({17}) Wann wachen Sie endlich auf? ({18}) Der Finanzminister sagt: Die fetten Jahre sind vorbei. – Wissen Sie, wenn der Alarm angeht, dann nützt es nichts, die Rauchmelder auszuschalten. Dann müssen Sie das Feuer löschen. Mehr Zukunft können wir uns nicht backen. Eine andere Wirtschaftspolitik wäre dringend notwendig. Vielen Dank. ({19})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Joachim Pfeiffer. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Der Jahreswirtschaftsbericht ist immer eine gute Gelegenheit, zu Beginn eines Jahres innezuhalten und festzustellen, wo wir stehen, was die Herausforderungen sind und was wir tun wollen. Unzweifelhaft ist es so, dass wir dieses Jahr ins zehnte Jahr des Aufschwungs gehen. Wachstum bleibt Wachstum. Wenn das Wachstum 1 Prozent beträgt, dann würden wir uns vielleicht mehr wünschen, aber es bleibt trotzdem Wachstum, und die Richtung stimmt. ({0}) Was ist der Anker dieser positiven Entwicklung und dieses Wachstums? Das ist nach wie vor der Arbeitsmarkt. ({1}) Der Bundesminister hat es angesprochen: Über 45 Millionen Menschen sind in Lohn und Brot. Nach den Progno­sen werden in diesem Jahr fast 400 000 hinzukommen. Dies sind gegenüber dem Tiefstand von 2005 fast 8 Millionen Menschen mehr in Lohn und Brot. ({2}) Das ist der Grund, weshalb es uns heute so gut geht und weshalb wir auch weiterhin Wachstum haben. Vor 15 Jahren war es so, dass wir mehr Arbeitslose hatten. Mehr Arbeitslose bedeuten: weniger Steuereinnahmen, mehr Ausgaben in der Sozialversicherung, eine negative Spirale. Seit 2005 sind wir in einer positiven Spirale. Mehr Arbeitnehmer, mehr Menschen in Lohn und Brot zahlen mehr Steuern, zahlen mehr in die Sozialversicherung, und wir können die Abgaben senken, wir können auch bei den Steuern entlasten. Damit schaffen wir Luft, dass Wachstum entsteht. Das ist die erfolgreiche Glücksspirale, die wir in den letzten 15 Jahren in Gang gesetzt haben. ({3}) Der Aufschwung kommt auch bei den Menschen an. Ich muss sagen: Ich bin heute beglückt. Klaus Ernst erkennt zum ersten Mal an, dass unsere Politik in die richtige Richtung geht und dass die Menschen mehr in der Tasche haben. ({4}) Noch vor einem Jahr hat er hier an selber Stelle gesagt: Es ist alles schlecht, die Menschen bekommen nicht mehr ab. – In der Tat ist es anders: Die Reallöhne steigen wie schon lange nicht mehr, und zwar in allen Bereichen. ({5}) Und wenn die Reallöhne steigen, dann steigen auch die Renten. Dann haben auch die Menschen, die früher gearbeitet haben, mehr in der Tasche. Unsere Politik ist, dass die Menschen durch produktivitätsorientiertes Wachstum mehr in der Tasche haben und nicht durch staatliche Willkür. ({6}) Deshalb sage ich an der Stelle auch ganz klar: Wir sind die Hüter der Tarifautonomie. Wir wollen produktivitätsorientierte Lohnerhöhungen, die die Tarifpartner aushandeln, nicht staatliche Willkür. Deshalb müssen wir bei staatlichen Eingriffen vorsichtig sein. Einen staatlich festgesetzten Mindestlohn von 12 Euro werden wir nicht mitmachen. Wir haben den Mindestlohn eingeführt und haben eine Kommission, die diesen entsprechend festsetzt. ({7}) – Herr Ernst will meine Redezeit verlängern. Ich bin gerne bereit.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Ernst, Sie erhalten Gelegenheit für eine Zwischenbemerkung oder Zwischenfrage. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dann ist es nicht so langweilig. – Herr Pfeiffer, ja, ich habe durchaus anerkannt, wie die wirtschaftliche Entwicklung ist. ({0}) Aber jetzt sind wir auch auf Probleme aufmerksam geworden. Zu denen haben Sie nichts gesagt. Die Kollegen aus den Reihen Ihres Koalitionspartners weisen darauf hin, dass wir ein Problem mit der Tarifbindung haben. Sie sagen: Die Tarifbindung ist wichtig. – Wir erleben aber Unternehmen, die die Tarifbindung aufgeben. Wir erleben Unternehmerverbände, die akzeptieren, dass es Verträge ohne Tarifbindung gibt, also eine Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband ohne Tarifbindung. Damit entsteht ein Problem, insbesondere bei den Beziehern von geringen Einkommen. Jetzt kann man sich natürlich loben und sich auf die Schulter klopfen nach dem Motto „Dem Unterbewusstsein ist egal, wer es macht“. Aber ich möchte gerne wissen: Wo sind jetzt eigentlich Ihre Vorschläge, mit denen wir genau dieses Problem bewältigen, damit möglichst alle Menschen in unserem Land, auch die Bezieher unterer Einkommen, auch die 20 Prozent mit niedrigem Einkommen, an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben können? Und wäre es nicht auch ein Element eines zusätzlichen Wachstumsschubs, wenn es uns gelingen würde, auch die Bezieher der unteren Einkommen tatsächlich am Wirtschaftswachstum, an der positiven Entwicklung zu beteiligen? ({1})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ernst, das ist in der Tat völlig richtig. Aber das erreicht man nicht durch staatliche Lohnfestsetzung, sondern das erreichen wir, indem wir die Rahmenbedingungen so setzen, dass die Beteiligung entsprechend verbessert wird. ({0}) Wir haben es in den letzten 15 Jahren durch verbesserte Rahmenbedingungen für Familien geschafft, dass die Frauenerwerbstätigkeit deutlich zugenommen hat. Wir müssen – auch das hat der Minister angesprochen – die Erwerbsbeteiligung der Älteren weiter erhöhen. 2005 war es in der Tat so, dass über 60-Jährige kaum im Arbeitsmarkt waren. Ich glaube, es waren unter 30  Prozent. Heute sind 80 Prozent der 55- bis 65-Jährigen im Arbeitsmarkt. Das heißt: Wir dürfen die Menschen nicht mit falschen Anreizen aus dem Arbeitsmarkt drängen, sondern wir müssen die Fachkräfte im Arbeitsmarkt halten. Dann wird Wirtschaftswachstum möglich, und dann haben wir produktivitätsorientiert auch die Möglichkeit, über Tarifverhandlungen weitere Arbeitskräfte in Lohn und Brot zu bringen. Das ist der richtige Ansatz. Das ist die richtige Wirkungskette. Davon losgelöst mit staatlicher Willkür staatliche Mindestpreise oder Mindestlöhne vorzugeben, ist falsch. Das gilt auch im Ausbildungsbereich, wo wir gerade hart darum ringen, dass hier die Mindestlöhne nicht so hoch sein dürfen. Ich bin nicht der Meinung, dass der Staat der bessere Unternehmer und der bessere Tarifgeber ist. Vielmehr machen das bei uns nach wie vor die Tarifpartner, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, in dem dafür vorgesehenen Rahmen. ({1}) Lassen Sie mich vielleicht noch kurz analysieren, wo wir stehen. Das hat noch keiner, glaube ich, heute angesprochen. Seit 2002 liegt unsere Verschuldung über den Maastricht-Kriterien. In diesem Jahr werden wir zum ersten Mal seit 2002 unter 60 Prozent kommen. Das schafft Spielraum für staatliches Handeln in der Zukunft, und es schafft Spielraum, wenn es vielleicht mal nicht mehr so gut läuft. Seit 2014, jetzt also das fünfte Jahr in Folge, bauen wir Schulden ab und nehmen keine neuen Schulden auf. Jahrzehntelang haben wir beklagt, dass wir über unsere Verhältnisse leben. Seit die Union hier das Zepter übernommen hat, sind wir – ich gehe davon aus, dass auch unser Koalitionspartner mitgeht – auf dem richtigen Weg: Schulden abbauen statt Schulden aufbauen. ({2}) Aber bei aller Freude ist das Wetterleuchten in der Tat ja nicht zu verkennen. Der Außenbeitrag war lange Zeit der Motor unseres Wachstums. In diesem Jahr erwarten wir, dass der Außenbeitrag mit minus 0,3 Prozent negative Impulse setzt. Den stärksten Impuls für das Wachstum von 1 Prozent, das wir dieses Jahr haben, setzen wir selber mit unserer Politik. Das ist auf der einen Seite gut. 10 Milliarden Euro für Familien, mehr für Infrastruktur, mehr für Innovation, mehr für Digitalisierung: Die Investitionen im Bundeshaushalt sind seit 2013 um über 50 Prozent, in diesem Jahr um, ich glaube, knapp 55 Prozent auf 40 Milliarden Euro gestiegen. Das ist gut. Aber das allein kann uns nicht glücklich machen, wir müssen auch dafür sorgen, dass wir den Welthandel wieder in Balance bringen, dass wir die Hüter des Freihandels sind, dass wir die internationalen Institutionen wie die Welthandelsorganisation lebensfähig erhalten, dass wir die Partner in der Welt, die mit uns Freihandel treiben wollen, zusammenbringen, eine Koalition der Willigen von Japan über Neuseeland, Australien und Europa bis nach Südamerika. Das ist der Weg, den wir gehen wollen, um das Wachstum auf eine weitere Säule zu stellen. ({3}) Wir müssen die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt erhalten und dürfen sie nicht weiter beschränken. Wir müssen die Fachkräftezuwanderung verbessern. Wir müssen auf dem Kapital- und Finanzmarkt für die richtigen Rahmenbedingungen sorgen. Herr Kollege Bartol, wir sollten uns sehr genau anschauen, was andere in der Welt machen, wie dort die Unternehmensteuern gestaltet sind. Wir brauchen ein wettbewerbsfähiges Steuersystem und wettbewerbsfähige Steuersätze in Deutschland. Sonst wird die Glücksspirale, die ich zuvor beschrieben habe, gefährdet. Auch hier müssen wir die richtigen Ansätze verfolgen. Wir müssen Bürokratie abbauen. Das Wettbewerbsrecht wurde bereits angesprochen. Wir müssen darüber nachdenken, ob wir nicht auch auf europäischer Ebene eine Ministererlaubnis brauchen, sodass wir zum Beispiel im Verkehrsbereich – ein Zukunftsthema – einen europäischen Champion, der auf globaler Ebene mitmischen kann, ermöglichen können. Der Breitbandausbau wurde schon angesprochen.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Kollege Pfeiffer, Sie müssen zum Ende kommen.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich nehme es zur Kenntnis. ({0}) Es gibt viel zu tun. Wachstum fällt nicht vom Himmel. Lassen Sie uns in diesem Jahr die Weichen richtig stellen, sodass wir bei der Diskussion über den Jahreswirtschaftsbericht im nächsten Jahr sagen können: Im Jahr 2020 gehen wir mit neuem Wachstum in das elfte Jahr des Aufschwungs. Vielen Dank. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Enrico Komning. ({0})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegen! Lieber Herr Kollege Pfeiffer, „Wir müssen, wir müssen, wir müssen“, ich frage mich, was Sie in den letzten Legislaturperioden gemacht haben. Fangen Sie doch endlich an mit dem, was Sie nun müssen. ({0}) Wir erleben gerade das Ende eines Jahrzehnts stetigen Wirtschaftswachstums. Sie, Herr Minister, machen laut Ihrem Vorwort in Ihrem Bericht das außenwirtschaftliche Umfeld für den Konjunktureinbruch verantwortlich. Herr Minister, nicht an allem sind der bevorstehende Brexit und Donald Trump schuld. Das Wachstum in Deutschland ist unter dem europäischen Durchschnitt. Sie selbst gehen für 2019 nur noch von 1 Prozent aus. Die Steuer- und Abgabenlast ist beispiellos hoch. Mit Ihrer Politik fahren Sie die deutsche Schlüsselindustrie, die Autobranche, gerade systematisch gegen die Wand. ({1}) Das betrifft nicht nur VW, BMW und Daimler. Daran hängt auch die gesamte Zulieferindustrie. Das sind zumeist keine internationalen Großkonzerne, sondern solide deutsche mittelständische Betriebe. Sie sägen an dem Ast, auf dem wir alle sitzen, unserem deutschen Mittelstand. ({2}) Wir haben den Jahreswirtschaftsbericht gelesen. Da steht viel von regionaler Strukturpolitik, KMU-Förderung, Investitionen in Länder und Kommunen. Absichtserklärungen! Fakt ist doch: Die strukturschwachen Gebiete vor allem im Osten unseres Landes hängen unverändert hinterher. Die Russland-Sanktionen, für die Putin nicht mehr als ein müdes Lächeln übrig hat, haben gerade kleine, mittelständische Betriebe im Osten in den Ruin getrieben. Beenden Sie endlich diese Sanktionen! Das wäre ein einfaches und vor allem kostengünstiges Konjunkturprogramm. ({3}) Sie wollen den globalen Handel verteidigen und Protektionismus entgegentreten, so Ihr Bericht. Kein Protektionismus bedeutet aber für Sie, sämtliche deutschen Interessen zu negieren, und das schwächt unseren deutschen Mittelstand. Auch wir sind für weltweiten freien Warenverkehr, aber unter Wahrung der Interessen unserer mittelständischen Unternehmen. Das ist kein Protektionismus. Das ist pure Selbstverständlichkeit. ({4}) Nicht Donald Trump oder der Brexit sind dafür verantwortlich, dass Menschen und Unternehmen in Deutschland die höchsten Energiekosten zu stemmen haben. Mit Ihrer Energiewende, die klimatisch nichts bringt, dafür aber astronomische Summen verschlingt, haben Sie diesem Land einen Rucksack aufgeladen, an dessen Gewicht die künftigen Generationen, die heute hier oben auf den Zuschauertribünen sitzen, zerbrechen werden. ({5}) Der Brexit und Donald Trump können auch nichts dafür, dass wir bei der Digitalisierung schon fast Lichtjahre hinter den meisten europäischen Partnern – ich spreche noch nicht einmal von China, Japan und den USA – hinterherhängen. Wir schreiben das Jahr 2019, und nach wie vor befinden sich weite Teile Deutschlands, speziell die ländlichen Räume, im digitalen Tal der Ahnungslosen. Daran ändern auch Ihre ganzen schönen Strategiepapiere nichts. ({6}) Nein, meine Damen und Herren von der Regierung, Sie liegen seit einem Jahrzehnt gemütlich im Liegestuhl, lassen sich die gute Weltkonjunktur auf den Pelz brutzeln und geben jetzt anderen die Schuld, wenn Sie mit Konjunkturbrand aufwachen. ({7}) Das funktioniert so nicht, und das lassen wir Ihnen auch so nicht durchgehen. Fangen Sie an, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hier in Deutschland, für das Sie Verantwortung tragen, zukunftsfähig zu machen. Fangen Sie endlich an, deutsche Interessen gegenüber den Partnerländern zu vertreten. Die Vereinigten Staaten hatten 2018 ein Wirtschaftswachstum von nahezu 3 Prozent. Auch 2019 wird eine Zwei vor dem Komma stehen. Dafür, Herr Minister, ist Donald Trump verantwortlich. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Kollege Bernd Westphal. ({0})

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Vorredner haben darauf hingewiesen: Ja, wir haben eine sehr gute konjunkturelle, wirtschaftliche Lage. Deutschland ist ein innovativer Wirtschaftsstandort, wo viele Investitionen getätigt werden und es viele engagierte Unternehmerinnen und Unternehmer gibt. Aber den Wohlstand haben wir vor allem den fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu verdanken, die im Schichtdienst – Nacht- und Mittagschicht – sind, die in Pflegeheimen arbeiten, in Verwaltungen oder Unternehmen tätig sind. Sie haben die erfolgreichen Kennzahlen erzeugt. Vielen Dank dafür! ({0}) Nun wurden unsere Politik und die verschiedenen Maßnahmen, die wir auf den Weg bringen, viel kritisiert. Das ist das gute Recht der Opposition. Da hier die komplizierte Bürokratie im Zusammenhang mit dem Mindestlohn kritisiert wurde – der Kollege Komning hat gesagt, dass wir gerade eine große Administration für den Mindestlohn aufbauen –, will ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Dieser Wirtschaftsstandort ist nicht trotz, sondern wegen des Mitbestimmungsrechts, der sozialen Standards und des Umweltschutzes so erfolgreich. Aber genau das kritisieren Sie. ({1}) Wenn ich Unternehmen besuche und frage, warum Wachstum nicht realisiert werden kann, dann höre ich als ersten Grund: weil die Fachkräfte fehlen. Das ist ein wachstumsbegrenzender Faktor, an dessen Beseitigung wir dringend arbeiten müssen. Dafür gibt es gute Vorschläge. Arbeitsminister Hubertus Heil ist bei der Zuwanderung entsprechend tätig geworden. Wir tätigen Investitionen in Bildung und dort, wo Kommunen und Länder Verantwortung tragen. Ich wünsche mir, dass wir im Vermittlungsausschuss, gerade wenn es um Digitalisierung im Bildungs- und Schulbereich geht, vorankommen. Das heißt, wir müssen jeden mobilisieren und dem Anspruch gerecht werden, dass keiner bei Bildung und Qualifizierung zurückbleibt. Wir müssen gerade jungen Familien die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen und auch ein Einwanderungsgesetz schaffen, das Fachkräften erleichtert, an den Standort Deutschland zu kommen. ({2}) Wenn es um Innovationen geht, haben wir für die Wirtschaft zu identifizieren, wo sich die Kernbereiche der Zukunft befinden, in welchen Bereichen wir wachsen wollen. Wir haben eine sehr innovative Start-up-Szene. In diesem Zusammenhang müssen die Möglichkeiten, Risikokapital zu erhalten, erweitert werden. Wir haben hier erste Schritte beispielsweise bei der KfW gemacht. Das müssen wir weiter fördern. Wir brauchen aber auch, wenn es um die Grundlagenforschung geht, eine bessere Übertragung der Ergebnisse in die Unternehmen. Die Bildungs- und Forschungsministerin muss dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen zu wettbewerbsfähigen Produkten führen. Wir brauchen eine steuerliche Forschungsförderung gerade für mittlere und kleine Unternehmen, die zwar Ambitionen haben, aber wegen fehlender Anreize ihre Projekte nicht verwirklichen können. Die langjährige Forderung der SPD nach einer entsprechenden steuerlichen Förderung setzen wir nun um. Damit sichern wir Steuereinnahmen für die Zukunft. ({3}) Die Basis für unseren wirtschaftlichen Erfolg ist eine industrielle Produktion. Wir brauchen Langzeitstrategien und entsprechende Schwerpunktsetzungen. Der in der letzten Woche erzielte Kompromiss bei der Energiewende zeigt, dass wir Akteure haben, die willens sind, politisch handlungsfähig zu sein. So haben sie sich zu diesem Kompromiss durchgerungen. Das ist eine gute Basis, auf der wir aufbauen können. Wir brauchen jetzt aber auch die Entwicklung neuer Antriebe im Mobilitätssektor. Wir brauchen nicht nur die Batteriezellenproduktion; der Wirtschaftsminister versucht ja sehr erfolgreich, auf europäischer Ebene ein entsprechendes Batteriezellen-Konsortium zu organisieren. Daneben brauchen wir aber auch die Wasserstofftechnologie. Hier können wir weltweit Vorreiter sein. Hier gibt es Wachstums- und Innovationspotenziale, die wir wirtschaftlich nutzen können. Gleiches gilt für den Maschinenbau, für Elektrolyseanlagen, für neue Technologien, für Werkstoffe, die aus der Chemieindustrie kommen, und natürlich auch für den Bereich der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz. Genau das werden unsere Zukunftsoptionen sein. ({4}) Auf dem Jahreswirtschaftsbericht ist das Wir unterstrichen. Herr Bundeswirtschaftsminister, ich finde das gut, weil es natürlich zeigt und bekräftigt, dass wir mit diesem wirtschaftlichen Erfolg auch gesellschaftlichen Zusammenhalt organisieren wollen. Hier gibt es noch einige Defizite zwischen Ost und West, an denen wir arbeiten müssen. Man muss sich auch einmal das Stadt-Land-Gefälle anschauen. Wir wollen dem ländlichen Raum durch den Ausbau neuer Technologien, den Ausbau von 5G und Breitband eine wirtschaftliche Perspektive geben. An diesem Kurs werden wir festhalten und weiterhin erfolgreich arbeiten. Herzlichen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Abgeordnete Reinhard Houben. ({0})

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Holm, eines vorneweg: Eine Sache lasse ich Ihnen nicht durchgehen. Sie haben hier davon gesprochen, dass es eine bürgerliche Mehrheit für die Abschaffung des Solidaritätszuschlags gäbe. Das würde voraussetzen, dass Sie einer bürgerlichen Partei angehören. Diese Fähigkeit spreche ich Ihnen ab. ({0}) Ich möchte das auch begründen: Was wir hier – vor allen Dingen, wenn Frauen sprechen – an Zwischenrufen und Bemerkungen von Ihnen hören müssen, ist nicht gentlemanlike. Das ist kein bürgerliches Verhalten. ({1}) – Das wäre das Beste. Herr Bartol, Sie hatten von Fakten gesprochen. Das finde ich gut. ({2}) – Nun regen Sie sich doch nicht so auf! Sie sind immer dann besonders empfindlich. Sie sind stark im Austeilen und schwach im Einstecken. ({3}) – Da ich von dem Kollegen keine Frage erwarte, sondern nur irgendwelche Bemerkungen, lehne ich die Frage ab. Vielen Dank. ({4}) Herr Bartol, zu den Fakten: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es bestimmte Unternehmen gibt, die extrem Arbeitsplätze abbauen. Ich komme aus Köln. Ich sage: Ford-Werke. Ich sage: Bayer. Ich sage: Kaufhof. Ich sage: RWE und im weiteren Umfeld natürlich auch Gerry Weber. Deswegen sollten wir schon die Augen aufmachen. Herr Altmaier, wir begrüßen deswegen auch im Grunde, dass Ihre Prognose etwas vorsichtiger ist. Sie haben fairerweise im Ausschuss gesagt: Wenn der harte Brexit kommt, dann kommen wir schon etwas ins Schwimmen. – Zu Ihrer Aussage, wir wären vorbereitet, möchte ich sagen: Ja, wir sind vielleicht vorbereitet. Aber wenn der harte Brexit kommt, wird es für uns natürlich ganz eng. Da müssen wir eine ganze Menge machen. Was mich irritiert hat, Herr Minister, war Ihre Argumentation zum Thema Steuern. Die war sehr defensiv. ({5}) Ihre Formulierung lautete ungefähr so: Eine Steuererhöhung steht ja nicht im Koalitionsvertrag. – Ich sage da nur: Nachtigall, ich hör dir trapsen. ({6}) Das ist für mich im politischen Geschäft eigentlich die Eröffnung, doch noch einmal über die eine oder andere mehr oder minder große Belastung für die Unternehmen zu sprechen. Also, bitte: Wir sind da auf der Hut. ({7}) Zum Abschluss. Sie haben es angeführt; ich möchte es ergänzen. Man kann wirklich sofort anfangen, Herr Minister, und zwar mit ganz konkreten Maßnahmen. Man könnte über den Körperschaftsteuersatz nachdenken. Man könnte über die Begrenzung von Abschreibungsmöglichkeiten und ihre Verkürzung nachdenken. Man könnte über die Erhöhung des Abschreibungsbetrags geringwertiger Wirtschaftsgüter nachdenken und diesen zum Beispiel von 800 auf 1 000 Euro erhöhen. ({8}) Man könnte über Sonderwirtschaftszonen nachdenken, vielleicht auch in der Braunkohleregion. Man könnte über stärkere Offensiven für den Freihandel nachdenken. Es gibt Möglichkeiten der Privatisierung, Herr Minister. Es gibt Möglichkeiten der zeitlichen und örtlichen Flexibilisierung im Arbeitsrecht. Man könnte offensiver sein bei der Verkürzung der Dauer von Genehmigungsverfahren in der Verkehrsinfrastruktur. Es gibt also genügend Möglichkeiten. Sie haben es in der Hand. Ich würde mich freuen, wenn Sie damit anfangen würden und nicht nur darüber reden. Vielen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Der Abgeordnete Brandner von der AfD erhält Gelegenheit für eine Kurzintervention. ({0})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Was gibt es denn da zu blöken auf der linken Seite, meine Damen und Herren? Es ist doch ein geschäftsordnungsmäßig verbrieftes Recht, wenn ein offenbar feiger Redner da vorne eine Zwischenfrage nicht zulässt, durch eine Kurzintervention antworten zu dürfen. ({0}) Herr Houben – Sie sitzen ja gleich neben mir; eigentlich bräuchten wir das Mikrofon jetzt gar nicht –, ({1}) Sie haben in Abrede gestellt, dass die AfD eine bürgerliche Partei ist. Dass Sie das in Abrede stellen, gestehe ich Ihnen zu; dafür werden Sie ja im Endeffekt vom Steuerzahler und auch von Ihren Beitragszahlern bezahlt. Aber Sie wissen natürlich genau, dass die AfD nicht nur eine bürgerliche Partei, sondern sogar die einzige bürgerliche Partei in diesem Bundestag ist. ({2}) Alles andere, was hier sitzt, Herr Houben – und dazu zählen auch Sie –, ist Sozialismus und Gleichmacherei im weitesten Sinne, und zwar im schlechtesten Sinne. ({3}) Die einzige bürgerliche Partei sitzt hier ganz rechts, und zwar hinter mir als Fraktion. Herr Houben, Anlass für meine Frage war, dass Sie da vorne wieder so Allgemeinplätze vom Stapel gelassen haben wie, dagegen, dass wir eine bürgerliche Partei oder Fraktion wären, sprächen ja immer die Zwischenrufe, die vor allem dann kämen, wenn bei Ihnen Frauen reden. Nun ist festzustellen, dass bei Ihnen relativ selten Frauen reden; aber das müssen Sie mit sich ausmachen. Mich würde aber einmal interessieren – und jetzt kommt meine Frage –: Was konkret, Herr Houben, meinen Sie mit diesen Zwischenrufen, die angeblich unsere bürgerliche Überzeugung in Abrede stellen? Kommen Sie jetzt nicht wieder mit allgemeinen Floskeln, sondern machen Sie ganz konkrete Aussagen! Ich bin darauf gespannt; Sie werden nämlich keine machen können. Vielen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Houben, wollen Sie entgegnen?

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es bleibt mir leider nichts anderes übrig.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Bitte.

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Erstens, Herr Brandner: Ich arbeite seit meinem 17. Lebensjahr, habe zum Teil mein Studium selbst finanziert, bin mit 23 Jahren in das Familienunternehmen eingetreten und habe bis zum letzten Jahr gearbeitet ({0}) und ganz brav Steuern gezahlt. Deswegen ist der Anwurf, ich werde bezahlt und Sie nicht, an der Stelle, glaube ich, etwas irre. ({1}) Wir alle werden vom Steuerzahler getragen, die AfD genauso wie alle anderen Kolleginnen und Kollegen hier im Hause. Deswegen ist der Anwurf irrig. ({2}) Sie wollen unbedingt eine konkrete Aussage haben: Die Kollegin meiner Fraktion ist leider nicht da, aber sie ist Düsseldorferin und hat deswegen genauso viel Humor wie ich als Kölner. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Lassen Sie den Kollegen ausreden.

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist der typische Effekt: Der Herr Braun bekommt immer einen besonderen Hormonschub bei solchen Fragen; das merkt man leider immer. ({0}) Ich will es konkretisieren: Die Kollegin Strack-­Zimmermann aus Düsseldorf hatte in einer der letzten Sitzungen eine Lederjacke an. Was Ihre Kollegen dort von sich gegeben haben, war einfach unterirdisch. – Die Gelegenheit wollte ich wahrnehmen, weil Sie ein konkretes Beispiel wollten. – Es ist dann eben über Lederkleidung und Frauen entsprechend philosophiert worden. Meine Herren, das ist nicht gentlemanlike, und deswegen sind Sie keine bürgerliche Partei. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nachdem das geklärt ist, machen wir jetzt weiter in der Rednerliste. Als Nächster hat das Wort der Abgeordnete Dr. Andreas Lenz für die CDU/CSU.

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gehört: Die Zahlen des diesjährigen Wirtschaftsberichts sind gut, auch wenn sie nicht mehr so gut sind wie in den letzten Jahren. Eines muss man betonen: Man kann einen Abschwung auch herbeireden, man kann die Lage auch schlechter reden, als sie ist, und das ist unverantwortlich, meine Damen und Herren. Wir befinden uns in der längsten Aufschwungphase der Nachkriegszeit. Es wurden bereits viele Zahlen genannt. Ich will noch kurz auf die Beschäftigungszahlen eingehen; denn das eigentliche Wunder dieser Aufschwungphase ist doch die Entwicklung auf dem Beschäftigungsmarkt. Es wird manchmal so leicht dahingesagt, dass auch in diesem Jahr die Zahl der Erwerbstätigen wieder um 562 000 Menschen steigen wird. Aber was das für den einzelnen Betroffenen bedeutet, nämlich dass eine Teilhabe an der Gesellschaft möglich ist und Chancen entstehen, das wird zu gering betont. Die Arbeit ist und bleibt die Grundlage des Wohlstands; das betonte schon Ludwig Erhard. Wenn man sich die letzten zehn Jahre anschaut, gilt es zu betonen, dass ein Viertel der Arbeitsplätze, die in Deutschland geschaffen wurden, in Bayern entstanden sind, und das Gros der geschaffenen Arbeitsplätze waren sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, war gute Arbeit. Um diese Dynamik fortzusetzen, brauchen wir auch weiterhin einen flexiblen, einen aufnahmefähigen Arbeitsmarkt. Dabei muss der Grundsatz des „Forderns und Förderns“ gelten: Was der Einzelne zumutbar leisten kann, das muss er eben auch leisten. Deshalb dürfen und werden wir die Agenda 2010 nicht rückabwickeln, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({0}) Man muss an dieser Stelle auch betonen, dass die Arbeitsplätze von Unternehmern und Unternehmerinnen, vom Mittelstand und vom Handwerk geschaffen werden. Deshalb schadet es nicht, sich hier einmal bei den tüchtigen Unternehmern zu bedanken, die die Arbeitsplätze in Deutschland schaffen. Für uns sind Unternehmer immer noch Vorbild und nicht, wie für Sie, Feindbilder. ({1}) Der konjunkturelle Himmel trübt sich im Moment etwas ein. Wir haben gerade von den Unsicherheiten auf geopolitischer Ebene gehört. Auch deshalb muss uns klar sein, dass Protektionismus, Nationalismus und Isolationismus nicht die Probleme der Zukunft lösen werden. Wir bekennen uns ganz klar zu einem regelbasierten Multilateralismus auch beim internationalen Handel. Freier und fairer Handel sind Wohlstandstreiber. Daraus entsteht nachhaltiges, inklusives Wachstum, welches auch global die Armut vermindert. Die Agenda 2010 umzusetzen, hilft. Auch die globalen Entwicklungsziele umzusetzen, hilft, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({2}) Eine Anmerkung noch zu Herrn Komning von der AfD: Wenn Sie hier in diesem Hohen Hause Trump verteidigen, dann ist das in höchstem Maße unpatriotisch. Das muss auch einmal festgestellt werden. ({3}) Auch der Brexit wird eine Lose-lose-Konstellation bewirken. Der britische Finanzminister meinte offen, dass die Wirtschaft Großbritanniens ohne EU-Austritt besser dran sei. So liegt schon jetzt das Wirtschaftswachstum im Vereinigten Königreich unterhalb des EU-Durchschnitts. Wir müssen natürlich auch diesbezüglich alles tun, damit es nicht zu einem ungeordneten Brexit kommt. Das alles hat natürlich Auswirkungen auf den deutschen Export. Um eines vorwegzunehmen: Häufig wurde in den letzten Jahren der deutsche Außenhandelsüberschuss kritisiert. Ich bin froh, dass wir einen Überschuss haben. Ich hätte wesentlich mehr Angst, wenn wir keine Überschüsse mehr erzielen würden. Natürlich muss auch im Inland investiert werden; ({4}) das machen wir auch auf Rekordniveau. Aber insgesamt ist der Außenhandelsüberschuss ein Zeichen der globalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Wir sollten darauf stolz sein und ihn nicht verteufeln. ({5}) Deutschland konkurriert zwischenzeitlich doch mehr mit den USA, China und Südostasien als mit unseren europäischen Nachbarländern. Auch das gilt es zu betonen, wenn es um die Bildung europäischer Spieler auf den Weltmärkten geht. Es wurde schon angesprochen, dass es auch bei der angestrebten Fusion von Siemens und Alstom notwendig ist, global zu denken, und das europäische Recht entsprechend anzupassen. Wenn man sich die europäische Entwicklung anschaut, auch die der europäischen Nachbarländer, sieht man ebenfalls eine Erfolgsgeschichte. Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit innerhalb der Europäischen Union seit den 2 000er-Jahren. Auch die Schuldenstandsquoten in den europäischen Nachbarländern nehmen ab. Angesichts des demografischen Wandels, der globalen Unsicherheiten und der Digitalisierung muss der Name des Berichts einmal mehr Programm sein, nämlich „Soziale Marktwirtschaft stärken, Wachstumspotenziale heben, Wettbewerbsfähigkeit erhöhen“. Dann wird auch die Zukunft weiter positiv gestaltbar bleiben. In diesem Sinne herzlichen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Sabine Poschmann für die Fraktion der SPD. ({0})

Sabine Poschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004377, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der vergangenen Woche war ich bei einem mittelständischen Unternehmen in Dortmunds Nachbarstadt Schwerte. Es könnte stellvertretend für viele mittelständische Unternehmen in Deutschland stehen. Es ist gut ausgelastet und auch innovativ. Was erwartet solch ein Unternehmen von uns? Es erwartet eine realistische Einschätzung der Wirtschaftslage, keine Panikmache; denn dahinter steckt viel Psychologie. Es erwartet zu Recht Entlastung, aber – da werden Sie sich wundern – nicht beim Solidaritätszuschlag. Es geht um Zeit und Schnelligkeit, Faktoren, die gerade bei innovativen Projekten wichtig und entscheidend sind. Es geht um den Wunsch nach weniger Bürokratie und einer schnelleren Bearbeitung für das so wichtige Exportgeschäft. ({0}) Nicht, dass wir uns hier falsch verstehen: Dabei sollen keine Richtlinien abgebaut werden, die uns beispielsweise vor Spionage schützen. Es geht darum, Prozesse zu beschleunigen. Es muss verhindert werden, dass Kunden wegen zu langer Wartezeiten abspringen oder erst gar nicht bei deutschen Unternehmen bestellen. Herr Altmaier, ich erwarte, dass Sie kurzfristig einen ersten Vorschlag für das Bürokratieentlastungsgesetz III vorlegen, der dann spür- und messbar Entlastung für den deutschen Mittelstand bringt. ({1}) Auch die Personalaufstockung für die Prüfung von Ausfuhrgenehmigungen sollte sehr bald positive Effekte bringen. Ein weiterer Dauerbrenner – wir hatten es heute schon – ist das Thema Fachkräfte. An dieser Stelle begrüße ich ausdrücklich das Qualifizierungschancengesetz unseres Arbeitsministers Heil. ({2}) Im Zuge der Digitalisierung benötigt der Mittelstand mehr denn je motivierte und gut ausgebildete Arbeitnehmer. Nur so können wir die Innovationskraft mittelständischer Unternehmen für unsere Volkswirtschaft erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen. Wenn wir den Betrieben an dieser Stelle unter die Arme greifen, ist das genau der richtige Ansatz. ({3}) Zur Mindestausbildungsvergütung möchte ich anmerken: Bei dem Vorschlag, den Frau Karliczek gemacht hat, können wir das Vorhaben meiner Ansicht nach auch gleich sein lassen. 504 Euro im ersten Ausbildungsjahr sind zu wenig. ({4}) Wer Azubis schlechte Arbeitsbedingungen und miserable Vergütung bietet, schwächt auf Dauer unser duales Ausbildungssystem und muss sich hinterher nicht wundern, wenn ihm die Fachkräfte morgen fehlen. Lassen Sie uns daran noch einmal gemeinsam feilen, wie man im Handwerk sagt. Herzlichen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen mir zu diesem Tagesordnungspunkt nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/7440 und 19/5800 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste im Deutschen Bundestag! Man muss in die 30er-Jahre zurückschauen, als der Völkerbund erstmalig Sanktionen gegen Italien verhängte, um dessen Abessinien-Politik zu torpedieren und zu verurteilen. Schon damals gingen die Sanktionen gegen Italien in die Hose. Bis heute hat sich nichts daran geändert. Ich erinnere mich auch gut an den erfolgreichen Slogan der Sozialdemokratie – die AfD gab es damals noch nicht –, ({0}) als wir es in den 70er-Jahren dank Willy Brandt und Egon Bahr so formuliert haben, wie es richtig ist – Wandel durch Sanktionen hat nie einer von euch gesagt; das ist auch richtig so –: Wandel durch Annäherung – das kann man nur unterstreichen – ist der richtige politische Weg. Sanktionen sind da nicht nur wenig förderlich, sie behindern die Annäherung. ({1}) Allein die Bundesrepublik Deutschland hat durch die Sanktionspolitik in den vergangenen Jahren zwischen 50 und 120 Milliarden Euro an Umsätzen verloren. Da sind Kollateralschäden bzw. Nebeneffekte noch gar nicht mit eingerechnet. Und Nebeneffekte gibt es: Die Unternehmen wollen kein Risiko mehr eingehen, also lassen sie das Geschäft mit Russland. Das mangelnde Vertrauen greift auf beiden Seiten um sich. Die Planbarkeit von Geschäften ist gefährdet. Und durch die Dual-Use-Problematik geraten immer mehr Geschäfte ins Risiko bzw. werden nicht durchgeführt. Noch einmal: 90 Milliarden Euro hat die deutsche Wirtschaft – und übrigens auch die Landwirtschaft – im Schnitt verloren. Die USA – nebenbei bemerkt, meine Damen und Herren – haben ein Plus gemacht. Der Handel mit Russland ist sehr groß. Washington hat so viele Ausnahmegenehmigungen für amerikanische Firmen zugelassen, dass der US-Handel mit Russland gestiegen ist. Was nicht wir an Geschäften mit Russland machen, füllen andere aus; so ist das im normalen Leben und auch im Geschäftsleben. Es heißt: Von Indien über Israel bis China, die Schweiz und die Türkei, sie alle treten in die Geschäfte ein, die wir mit Russland nicht mehr machen. Dann ist es auch völlig normal, dass es einen Gewöhnungseffekt gibt: Sobald erste Produkte in China gekauft worden sind, wird man beim Nachfolgegeschäft auch wieder auf den chinesischen Geschäftspartner zurückgreifen. Und wenn es keine Sanktionen mehr geben sollte, dann bleibt man eben bei dem Zulieferer aus China, und die deutsche Wirtschaft ist außen vor. Das ist die Auswirkung auf die deutsche Wirtschaft. Die Sanktionspolitik behindert unser Fortkommen, behindert den Ausgleich und unser Verständnis mit Russland. Beenden wir die Sanktionspolitik subito! Das ist der beste Weg, um mit Russland wieder ins Gespräch und vor allen Dingen ins Geschäft zu kommen. ({2}) Besonders problematisch ist, dass von der Sanktionspolitik auch andere wichtige Bereiche betroffen sind; denn wenn wir nicht mehr miteinander kommunizieren, wenn es nur noch oberflächliche Gespräche mit Herrn Lawrow und Herrn Putin gibt, dann haben wir auch in anderen wichtigen Bereichen der Politik kein Einverständnis mehr. Nehmen Sie den Nahen Osten, wo wir keine Rolle mehr spielen. Nehmen Sie Russlands Afrika-Politik, die wir nicht in irgendeiner Weise begleiten können oder bei der wir nicht beratend tätig sein können. Und nehmen Sie insbesondere, ganz aktuell, Venezuela, ein Thema, zu dem wir als AfD gestern aus Unionskreisen ja gescholten wurden. Es ist doch absurd, meine Damen und Herren: Die Player in Venezuela sind neben den Vereinigten Staaten Russland und China. Dann muss man eben auch mit diesen Ländern reden, ob Sie wollen oder nicht. In diesem Falle wäre es auch sehr wichtig gewesen, zum Beispiel mit Russland zu sprechen und eine gemeinsame Linie in der Venezuela-Politik zu entwickeln; denn – was vielleicht einige von Ihnen immer noch nicht wissen – ein deutscher Journalist sitzt seit über zehn Wochen im Geheimgefängnis in Caracas, und keine deutsche Politik kümmert sich um den Mann und versucht, ihn da rauszuholen. Das wäre vielleicht mithilfe der Russen gelungen. Der Mann heißt Billy Six; merken Sie ihn sich. Er schreibt für die „Junge Freiheit“ – ich weiß, Kopfschütteln bei Ihnen. Da müssen wir genauso handeln, wie wir im Zusammenhang mit den Journalisten in der Türkei gehandelt haben. ({3}) Meine Damen und Herren, wir bleiben dabei: Realpolitik im deutschen Interesse ist das entscheidende Credo unserer Zeit. Wir fordern die Bundesregierung auf: Beenden Sie umgehend die Sanktionspolitik gegen Russland! Sie bringt uns nur Nachteile, sie spaltet Europa. Nur gemeinsam mit Russland werden wir ein friedliches Europa gestalten können. ({4}) Dafür stehen wir, und dafür sollte dieser Deutsche Bundestag gemeinschaftlich stehen. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Abgeordnete Dr. Johann David Wadephul. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der Fraktion der AfD entspricht nicht unserem Blick auf unser Verhältnis zu Russland. Aber er ist ein guter Anlass – das begrüßen wir –, über unser Verhältnis, das deutsche und das europäische, zu Russland miteinander zu diskutieren. Ich will auf die Überschrift zu sprechen kommen. Sie benutzen die beiden Worte „Konfrontation“ und „Kooperation“. Es ist deutsche und europäische Politik, es ist die Politik der Bundeskanzlerin, es ist die Politik des Bundesaußenministers Heiko Maas, auf Kooperation zu setzen. Es werden regelmäßig intensive Gespräche geführt. Ich glaube, kaum ein Staatsführer spricht mehr mit Wladimir Putin als Angela Merkel, kaum ein Außenminister spricht mehr mit Sergej Lawrow als Heiko Maas. Diese Bundesregierung verfolgt eine Politik der Kooperation mit Russland. ({0}) Diese unterstützen wir, und diese sollten wir fortführen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Aber wir müssen natürlich auch auf die Dinge blicken, die schlecht laufen. Wir waren 2012 schon sehr viel weiter. Moskau hat aus Angst vor einer Demokratiebewegung innerhalb des eigenen Landes vieles zurückgedreht. Russische NGOs können dort nicht mehr frei arbeiten. Ich möchte von einer Kollegin aus dem Petersburger Dialog berichten; ich bin dort selber im Vorstand. Die Kollegin Stefanie Schiffer, die in Russland eine NGO leitet, ist mit einem Einreiseverbot nach Russland belegt worden, kann dort nicht mehr arbeiten. Der Kollege Wiese kümmert sich intensiv darum. ({2}) Wir müssen Russland an dieser Stelle klar sagen – ich komme gleich auf das außenpolitische Verhalten –: Wir schauen auf Russland, wie es im Innern mit NGOs, mit dem Recht auf Meinungsfreiheit umgeht. Wir erwarten, dass sich unsere NGOs ebenso wie russische NGOs und die Zivilgesellschaft dort wieder frei verhalten können und NGOs nicht verboten, nicht mit Prozessen überzogen werden. Daran wird Russland gemessen werden. Dafür setzen wir uns gegenüber der russischen Regierung mit Klarheit und Deutlichkeit ein, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Wir dürfen auch nicht verkennen – das ist in Ihrer Rede überhaupt nicht vorgekommen –, dass Russland seit 2014 fortgesetzt internationale Standards und Vereinbarungen verletzt, und zwar auf eklatante Art und Weise. Das hat begonnen mit militärischen Aktionen in Transnistrien und der Republik Moldau, ({4}) hat sich fortgesetzt in Georgien, hat sich fortgesetzt mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, setzt sich jeden Tag fort in der Ostukraine, hat sich fortgesetzt in dem Abschuss des Passagierflugzeuges MH17, setzt sich fort in der rechtswidrigen Blockade der Straße von Kertsch und der Verhaftung von 24 ukrainischen Seeleuten, hat sich fortgesetzt in dem Giftgasangriff auf Herrn Skripal und seine Tochter, ({5}) setzt sich jeden Tag auch gegenüber Deutschland in Cyberattacken fort – gegen deutsche Institutionen, gegen das Auswärtige Amt, gegen den Deutschen Bundestag –, hat sich fortgesetzt in militärischen Aktionen in Syrien, die mit dem Kriegsvölkerrecht nicht mehr vereinbar waren – Bombardierung von Krankenhäusern, von ziviler Bevölkerung –, und setzt sich offensichtlich fort in dem Bruch des INF-Abrüstungsvertrags. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht eine Frage der fehlenden Empathie für die russische Seele bzw. für russische Interessen, wie Sie geschrieben haben; darüber müssen wir selbstverständlich nachdenken. Aber man darf hier nicht den Bock zum Gärtner machen. Russland verletzt fortgesetzt internationale Regeln und internationale Standards. Wir dürfen dies aus grundsätzlichen, prinzipiellen Erwägungen nicht einfach hinnehmen, sondern müssen es adressieren und geschlossen als Westen beantworten, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({6}) Natürlich wissen wir, dass das eine – aus unserer Sicht falsche – Reaktion Russlands darauf ist – Präsident Putin hat das vor der Münchener Sicherheitskonferenz, wie ich finde, sehr bemerkenswert herausgekehrt –, dass die ­Sowjetunion zusammengebrochen ist, aus seiner Sicht die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Aus deutscher Sicht gab es eine größere Katastrophe, auch wenn Sie diese Auffassung möglicherweise nicht teilen. Natürlich wissen wir, dass in Moskau die Erweiterung der Europäischen Union und der NATO in Richtung Osten als Gefahr verstanden wurde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen auf der einen Seite Verständnis für diese Sichtweise Moskaus haben, aber wir müssen auf der anderen Seite klar sagen: Wenn die baltischen Staaten sich der Europäischen Union und der NATO angeschlossen haben, dann ist das schlicht und ergreifend zunächst einmal die Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts. Das haben wir zu wahren, und das haben wir zu verteidigen. Das ist kein feindlicher Akt gegenüber Moskau bzw. Russland, sondern das Selbstbestimmungsrecht dieser Völker. Deutschland muss dafür eintreten, dass dieses Recht wahrgenommen werden kann. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Wadephul, gestatten Sie eine Zwischenfrage von der AfD?

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde gerne fortfahren. – Ich glaube, das verhöhnt auch die Opfer, auf deren Seiten wir stehen müssen, die sich für Demokratie und Freiheit in den östlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der NATO eingesetzt haben. Deswegen müssen wir diese europäische Nachkriegsordnung miteinander verteidigen. Wir wollen aber eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland. Wir wollen, dass Russland sich auch wirtschaftlich besser entwickelt. Herr Kollege Trittin hat kürzlich in einem Interview die Befürchtung geäußert, dass der eine oder andere im Westen die Vorstellung haben könnte, man könne Russland totrüsten – ich zitiere Sie jetzt einmal frei –, und hat daraufhin gesagt: Wir, Deutschland, der Westen kann kein Interesse daran haben, dass dort sozusagen ein Failed State entsteht. – Das kann man in der Tat nur unterstreichen. Wir haben ein Interesse daran, dass Russland wirtschaftlich und politisch stabiler und keinesfalls instabiler wird. Aber dazu gehört, dass Russland sich öffnet, dass es bereit ist, politische Reformen durchzuführen; denn nur mit politischen Reformen werden dieses politische System, der Staat stabiler werden. Dazu muss Russland bereit sein, um wirtschaftlich eine andere Kooperation mit uns einzugehen. Wir sind bereit, der russischen Wirtschaft zu helfen. Sie braucht dringend technologische und wirtschaftliche Beiträge aus dem Westen; dazu ist Deutschland bereit. Aber dazu braucht es die Reformen in Russland selber. Wer in Moskau meint, durch die Kreierung immer neuer Konflikte in Nachbarstaaten das russische System zu stabilisieren, hat sich getäuscht. Wir erwarten ein Umdenken in Moskau. Wir sind bereit, zusammenzuarbeiten; wir sind bereit zur Kooperation. Wir sind bereit zu einer Lösung der Konflikte, nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Syrien und in anderen Teilen; aber Russland muss an dieser Stelle umdenken. Russland muss in die Völkergemeinschaft zurückkehren und das Völkerrecht und die internationale Ordnung einhalten. Wenn dazu die Bereitschaft besteht, gibt es jede Chance für eine optimale Kooperation. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner für die FDP-Fraktion: der Kollege Alexander Graf Lambsdorff. ({0})

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Heute Morgen haben wir hier im Deutschen Bundestag in einer außerordentlich würdigen Gedenkstunde der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Anlass ist der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945. Exakt ein Jahr früher, exakt vor 75 Jahren, am 27. Januar 1944, endete nach einer unerträglich langen Zeit mit mehr als 1 Million Toten die Blockade von Leningrad. Wir sind dem russischen Volk im Gedenken an diese Tragödie, an dieses Kriegsverbrechen verbunden. Wir sind mit dem russischen Volk auf vielfältige Art und Weise auf das Engste verflochten und verbunden. Wir reden miteinander, wir führen einen Dialog miteinander; wir gedenken auch miteinander dessen, was in der Vergangenheit zwischen unseren Völkern an Schrecklichem passiert ist. Ich finde es deswegen nicht richtig, wenn hier der Eindruck erweckt wird, als ob es von der Bundesrepublik Deutschland aus diesen Dialog, diese Gespräche, dieses gemeinsame Erinnern nicht gäbe. Das gibt es sehr wohl. Die AfD schlägt in ihrem Antrag eine völlig neue Russland-Politik vor. Der Antrag unterbreitet einige Elemente, bei denen man mitgehen könnte. Visumserleichterungen für junge Russinnen und Russen ist etwas, was meine Fraktion mittragen würde. Aber da stehen auch Sachen drin, bei denen man wirklich den Kopf schüttelt. Es wird beispielsweise ein Vertrag über die Sicherheit in Europa vorgeschlagen, da geht es um Prinzipien wie Souveränität, Selbstbestimmungsrecht, Unabhängigkeit und Gewaltverzicht unter den Staaten Europas, und es wird mit keinem Wort erwähnt, dass die Krim das erste Territorium in Europa seit 1945 ist, das unter dem Bruch des Gewaltverzichts einem anderen souveränen Staat entrissen wurde. ({0}) Mit keinem Wort wird erwähnt, dass die Situation in der Ukraine nicht etwa nur eine Destabilisierung darstellt. Vielmehr sind im Osten der Ukraine mehr als 10 000 junge Menschen ums Leben gekommen. Jeden Tag wird an der Kontaktlinie geschossen. Der Westen hatte damals drei Optionen, auf diese Situation zu reagieren. Die erste Option war, einfach nichts zu tun. Die zweite Option – das haben einige Kollegen aus dem amerikanischen Kongress damals vorgeschlagen; ich erinnere mich, da ich in München auf der Sicherheitskonferenz dabei war – war: eine Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte, eine militärische Eskalation. Die dritte Option, der Mittelweg, waren gezielte, maßvolle Sanktionen, um klarzumachen, dass ein solcher Bruch elementarer Prinzipien des Völkerrechts vom Westen nicht hingenommen werden kann. Die Freien Demokraten stehen zu den Sanktionen. Russland muss sich an dieser Stelle bewegen. ({1}) Es ist nicht richtig, die Sanktionen ohne jede Gegenleistung einfach zurückzunehmen. Ich kann Ihnen nur raten: Fahren Sie einmal nach Moskau; reden Sie mit deutschen Unternehmen. Ich habe das gemacht; ich war bei der Auslandshandelskammer. Die Sanktionen haben eine Wirkung, ja, diese ist schwer zu messen. ({2}) Aber die Unternehmen sind darauf eingestellt, weil die Sanktionen eben maßvoll ausgestaltet sind. Viel schwieriger für die Unternehmen sind plötzliche und sprunghafte Sanktionen aus den USA, die es vielen Unternehmen wirklich schwer machen, geschäftlich in Russland aktiv zu sein. Meine Damen und Herren, wenn man diesen Antrag der AfD, „Für eine neue Russlandpolitik“, liest, fühlt man sich unweigerlich an die Stalin-Noten von 1952 erinnert; ({3}) es sind Schalmeienklänge, sehr wohlklingend. Die Wiedervereinigung wurde damals angeboten gegen die Neutralität Deutschlands. Herr Gauland, Sie haben einmal gesagt, Deutschland brauche Äquidistanz zwischen den USA und Russland. Nein, meine Damen und Herren, wir sind mit Russland auf vielfältige Art und Weise historisch, kulturell und menschlich verflochten; aber wir sind politisch fest im Westen verankert. ({4}) Diese Verankerung war die Basis unserer Ostpolitik. Genauso wie Hans-Dietrich Genscher, Willy Brandt und andere es damals gemacht haben, wollen wir es weiterführen: Dialog mit Russland, in Freundschaft zu den Menschen; Dialog mit offenem Herzen, aber auch klarem Blick; Dialog mit ausgestreckter Hand, aber mit geradem Rücken. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Rolf Mützenich. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die uns bekannte internationale Ordnung steht seit Jahren unter Druck, nicht alleine wegen der Entscheidungen und des Verhaltens der russischen Regierung. Gleichwohl ist die gewaltsame Aneignung der Krim und die einseitige Parteinahme im syrischen Bürgerkrieg ein tiefer Einschnitt, und darüber werden wir nicht hinwegsehen können. Das Verhalten Russlands im Hinblick auf diese beiden Ereignisse der letzten zwei Jahre wird weiterhin zu Belastungen zwischen Deutschland und Russland führen. Die Frage muss lauten: Was folgt daraus? Entweder absolute Konfrontation oder zumindest der Versuch, die Belastungen abzubauen und die Spannungen so gut wie möglich einzuhegen. Wir Sozialdemokraten entscheiden uns für Letzteres. Das ist keine Prinzipienlosigkeit, sondern es ist kluge Politik: ({0}) Einsicht in das Machbare und insbesondere die Einsicht, dass Druck allein keine Verhaltensänderungen bewirken kann. Es ist die Einsicht in die Erfahrungen aus der deutsch-russischen Geschichte, und es ist für uns insbesondere die Einsicht in die Notwendigkeit der Entspannungspolitik, die geholfen hat, auf der einen Seite die deutsche Teilung zu überwinden und auf der anderen Seite Europa ein Gesicht als Friedensmacht zu geben. ({1}) Und schließlich, angesichts der Europawahl: Wenn wir über Europa nachdenken, müssen wir, finde ich, Russland mitdenken. Deswegen sind die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen der festen Überzeugung: Wir müssen immer wieder, tagtäglich versuchen, Spannungen abzubauen und Bereitschaft zur Kooperation zeigen. Das haben insbesondere die Reisen des deutschen Außenministers im Zusammenhang mit der Krise um den INF-Vertrag deutlich gemacht. ({2}) Einen weiteren Aspekt, den ich nennen möchte, richte ich insbesondere an die Antragsteller. Es ist ein sozialdemokratisches Prinzip, dass Wandel durch Annäherung immer eine zweifache Aufgabe war und ist. Darin unterscheiden wir uns fundamental. Wer nämlich zu Unfrieden und Hass im Innern anstiftet, kann keinen Frieden nach außen gründen. ({3}) Das ist doch die Essenz, die gerade Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung 1969 gezogen hat: Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden im Inneren und nach außen. Deswegen ist das Prinzip der Sozialdemokratischen Partei und Kern einer sozialdemokratischen Entspannungspolitik, durch soziale Gerechtigkeit, die Anerkennung der Menschenrechte sowie die Achtung des Einzelnen Respekt einzufordern; denn nur so können wir Friedenspolitik nach außen, insbesondere auch gegenüber Russland, realistisch formulieren und umsetzen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dennoch machen wir uns keine Illusionen über die russische Politik. Repressionen und Intoleranz im Innern auf der einen Seite und auf der anderen Seite das Handeln nach dem Prinzip „Verunsicherung“ außerhalb der russischen Grenzen, weil sie glauben, den russischen Staat dadurch sicherer zu machen – das wird auf lange Sicht nicht funktionieren. Ich glaube, das muss man den russischen Gesprächspartnern letztlich auch sagen, wenn sie denn zum Gespräch bereit sind. Wir verkennen auch nicht: Die Zustimmungsraten für Präsident Putin sind hoch. Dennoch müssen wir feststellen: Es gibt Proteste und insbesondere eine Skepsis – ich denke zum Beispiel an die Rentenpolitik und vieles andere – gegenüber russischer Politik. Das eröffnet uns, glaube ich, Wege, hier in Richtung der Zivilgesellschaft das ein oder andere zu versuchen, was zu einer Modernisierung beiträgt. Deswegen, meine Damen und Herren: Die Vorschläge der SPD-Bundestagsfraktion liegen auf dem Tisch, und wir wollen sie innerhalb unserer Regierungsbeteiligung auch verwirklichen. Auf der einen Seite glaube ich schon, dass es notwendig ist, erneut zu versuchen, gemeinsame Sicherheit wie während des kalten Krieges durch eine gesamteuropäische Konferenz herzustellen. Ob es gelingt, weiß ich nicht. Aber zumindest die Idee in die Diskussion einzubringen, ist schon lohnenswert. Auf der anderen Seite ist es notwendig, vielleicht auch regionale Kooperationen stärker zu denken; denn wir sind innerhalb der Europäischen Union stark verankert, die Nachfolgestaaten der Sowjetunion aber sind in eine andere regionale Kooperation eingebunden. Es lohnt sich, auch das zu diskutieren. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage vom Kollegen Hampel zulassen?

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Bleiben Sie entspannt, Herr Mützenich. – Ich folge Ihnen aufmerksam und frage deshalb: Haben Sie gerade – vielleicht auch vor dem Hintergrund, dass Europa und Russland ein INF-Abkommen, eine mittelstreckenwaffenfreie Zone in Europa anstreben sollten – einen Vorschlag zu einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz gemacht?

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir sind durchaus der festen Überzeugung, dass wir zurzeit – selbst wenn die USA am Wochenende den INF-Vertrag endgültig kündigen – alles dafür tun müssen, den INF-Vertrag zu retten; denn es bleiben noch sechs Monate Zeit, den INF-Vertrag zu retten. Ansonsten, glaube ich, ist es klug, auch vonseiten Deutschlands – wir sind zurzeit für zwei Jahre im Sicherheitsrat – über ein weltweites Verbot nachzudenken. Ja, wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen ein von Atomwaffen freies Europa verwirklichen. ({0}) Genau das ist die Politik, die wir auch in die Bundesregierung eingebracht haben. ({1}) – Ich bin noch nicht fertig. – Deswegen bin ich auch der festen Überzeugung, dass Rüstungskontrolle der dritte Ansatz gerade auch in einer europäisch-russischen Politik ist. Wir Sozialdemokraten wollen eben keine Nachrüstung in Europa – weder atomar noch konventionell. ({2}) Insbesondere über defensive Rüstungspolitik nachzudenken, finde ich, ist lohnenswert. Sie wissen ja genauso wie ich, dass gerade die Frage der Raketenabwehr das Sicherheitsinteresse Russlands tief und vielleicht sogar viel mehr als der Beitritt osteuropäischer Staaten zur NATO verletzt hat. Wenn Sie mit russischen Gesprächspartnern darüber sprechen, stellen Sie fest, dass gerade die Raketenabwehr eine elementare Herausforderung für die Zweitschlagskapazität ist. Genau deswegen treten wir Sozialdemokraten dafür ein, die Raketenabwehr wieder für Rüstungskontrolle zu öffnen. Die Kündigung des ABM-Vertrages durch Präsident Bush ist damals eine falsche Entscheidung gewesen, die wir nicht mittragen. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

So, das ist jetzt ausreichend beantwortet.

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, der Kollege kann sich in der Tat wieder setzen. Das hat mir aber durchaus die Möglichkeit gegeben, noch einmal das eine oder andere in dieser kurzen Redezeit anzumerken. ({0}) Ich würde gerne noch auf einen anderen Aspekt aufmerksam machen. Ich bin der deutschen Delegation im Europarat doch sehr dankbar; denn die deutsche Delegation versucht zurzeit, Russland wieder an den Europarat heranzuführen, weil es dort um Menschenrechte, um Demokratie und um Akzeptanz von Standards innerhalb des Europarats geht. Das muss gleichzeitig aber auch mit konkreten Forderungen an Russland verbunden sein, nämlich ebendiese Prinzipien im Innern zu achten. Ich glaube, es ist ein guter Weg der deutschen Delegation, zusammen mit der finnischen Präsidentschaft oder in Zukunft mit Frankreich genau über diese Fragen zu reden. ({1}) Zum anderen lohnt es sich, das Prinzip der Modernisierungspartnerschaft, das Frank-Walter Steinmeier, der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident, in die Debatte eingeführt hat, zu stärken. Das ist kein Ansatz, den wir sozusagen allein aus wirtschaftlichen Gründen gewählt haben. Das wäre eine Verkennung der Erfahrungen der Entspannungspolitik. Vielmehr bedeutet Modernisierungspartnerschaft, dass wir die Anbindung gerade auch in der wirtschaftlichen Verflechtung am Ende für politische Kooperationsformen suchen. Deswegen ist die Modernisierungspartnerschaft letztlich ein Friedensangebot an die russische Gesellschaft und insbesondere an die russische Zivilgesellschaft. ({2}) Meine Damen und Herren, zum Schluss sage ich: Ich glaube, wir in Deutschland täten gut daran, wieder viel stärker zu versuchen, Russlandexpertinnen und -experten so zu fördern, dass sie die Politik, aber auch die Zivilgesellschaft beraten können. Ich vermisse das. Früher, in den 1960er- und 1970er-Jahren, gab es eine große Zahl dieser Expertinnen und Experten aus Universitäten und Nichtregierungsorganisationen, die genau das versucht haben. Das, glaube ich, sollte die Bundesregierung mit Forschungsmitteln, aber auch mit Mitteln aus dem Auswärtigen Amt unterstützen. ({3}) Meine Damen und Herren, diese Politik bleibt mühevoll und ist eine ständige Aufgabe. Sie kann die Kluft vielleicht nicht überwinden; aber es lohnt sich, jeden Tag dafür zu arbeiten. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Dr. Dietmar Bartsch. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dem Kollegen Lambsdorff dankbar, dass er zu Beginn seiner Rede auf die historische Dimension aufmerksam gemacht hat; denn jede Auseinandersetzung um Russland-Politik muss genau diesen Punkt an den Anfang stellen. Wir haben hier im Reichstag die Inschriften der sowjetischen Soldaten. Wir gehen alle daran vorbei, und sie sollten uns im Bewusstsein sein. Wir haben heute Morgen die beeindruckende Rede von Saul Friedländer gehört und der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Der Anlass ist dieser 27. Januar, die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee. Auch das sollte in unseren Gedanken bleiben. ({0}) Heute Nachmittag debattieren wir einen Antrag für einen Gedenkort für die Opfer des Nationalsozialismus in Osteuropa. Ich hoffe, dass alle Fraktionen in dieser Debatte auch daran denken und aufgrund deutscher Verantwortung vielleicht genau dieses Thema aufnehmen. In diesen Tagen jährt sich die Blockade Leningrads zum 75. Mal. 1 Million Menschen wurden ausgehungert und haben dort ihr Leben verloren. Auch das ist Verantwortung. Wir haben übermorgen den 76. Jahrestag der Schlacht an der Wolga. Auch das sollte in unseren Gedanken sein. Deshalb sage ich: Wenn wir über Russland sprechen, gehört es dazu, zu wissen, was nationalsozialistische Herrschaft bedeutet hat, nämlich die Zerschlagung der Demokratie, ein mörderischer und verbrecherischer Raubkrieg, ein Vernichtungskrieg, der insbesondere im Osten Europas geführt wurde, und die Shoah, der systematische Völkermord an Jüdinnen und Juden. Auf dem Gebiet der Sowjetunion ist der Großteil dieses Krieges geführt worden. Ich würde mir wünschen, dass jeder Abgeordnete des Deutschen Bundestages, jeder Politiker nicht nur einmal Yad Vashem besucht, nicht nur – das wäre sehr wichtig – einmal Auschwitz besucht, sondern sich auch einmal auf den Mamajew-Hügel stellt, sich berichten lässt, was dort stattgefunden hat, und die blutgetränkte Erde sieht. Dann wissen wir, was dieser Krieg bedeutet hat. Dann wissen wir, wer die Hauptlast dieses Krieges getragen hat. Und dann sind all diejenigen, die über die zwölfjährige Zeit des Nationalsozialismus als „Vogelschiss“ der Geschichte sprechen, in keiner Weise berechtigt, über eine mögliche Veränderung in der Russland-Politik zu reden. Das ist meine Position: Das geht überhaupt nicht. ({1}) Meine Damen und Herren, wir brauchen hier eine Haltung mit Verantwortung, bei der jede Arroganz, jede herablassende Geste einfach unangebracht ist. Es steht uns nicht zu. Deutschland hat eine besondere Verantwortung. Deshalb darf das in Reden von deutschen Politikerinnen und Politikern nicht vorkommen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Roth, SPD-Fraktion?

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Selbstverständlich.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Lieber Herr Kollege, auch Ihnen bin ich dankbar dafür, dass Sie eben in Ihrer Rede noch einmal an die unendlich vielen Opfer des Vernichtungsfeldzugs von Nazideutschland gegen die Sowjetunion erinnert haben. Würden Sie mir aber zustimmen, dass zu den vielen Millionen Opfern, Soldaten und Zivilisten, eben nicht nur Russinnen und Russen, sondern ebenso auch Belarussinnen und Belarussen und Ukrainerinnen und Ukrainer und viele weitere Bürgerinnen und Bürger aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion gehören? Was heißt das für unser Gedenken und unser Verhältnis zu heute souveränen Staaten wie der Ukraine oder auch Belarus?

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich teile Ihre Sicht. Wenn Sie aufmerksam zugehört haben, haben Sie gemerkt: Ich habe von der Sowjetarmee gesprochen, habe von den Völkern der Sowjetunion gesprochen. Selbstverständlich gilt das für alle: auch für Georgier und Georgierinnen, ({0}) auch für Lettinnen und Letten. Es gilt für alle. Im Übrigen beziehe ich bei den Opfern natürlich auch alle anderen mit ein. Wenn Sie – ich wiederhole das noch einmal – auf dem Mamajew-Hügel stehen, dann wird nicht von Russen gesprochen, sondern von allen Opfern. Im Übrigen sprechen die Russen und die anderen Völker auch von den deutschen Opfern. Das ist, finde ich, Größe. ({1}) Das sollten wir mit einiger Demut zur Kenntnis nehmen. Ich stimme Ihnen zu. Das muss selbstverständlich unser Verhältnis zu den anderen Ländern genauso prägen, nur, heute ist das Thema Russland. Aber Sie haben sehr aufmerksam zugehört und verstanden, dass ich von der ­Sowjetarmee und von den Völkern der Sowjetunion geredet habe. ({2}) Deswegen danke ich dafür, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, das noch einmal zu unterstützen. ({3}) Lassen Sie mich aber auch einen zweiten Punkt erwähnen, der dazugehört. Viel zu häufig wird Russlands Politik auch hier im Hause auf der Folie innerdeutscher Auseinandersetzung behandelt. Wir Linke haben die besondere Ehre, immer als fünfte Kolonne oder als was auch immer bezeichnet zu werden. Ich finde, wenn man Russland instrumentalisiert, wird das dem in keiner Weise gerecht. ({4}) Wir brauchen – da stimme ich Herrn Wadephul ausdrücklich zu – gleiche Maßstäbe für alle. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir, als die USA den Irak-Krieg begonnen haben, mit Sanktionen gedroht haben. Das war nicht der Fall. Deswegen: Entweder – oder. ({5}) Ich bin sehr für gleiche Maßstäbe für alle. Es werden zwei Beurteilungsebenen durcheinandergebracht. Natürlich gibt es für uns Kriterien: Menschenrecht, Völkerrecht – völlig unstrittig. Nur, was auf der Krim passiert, ist ohne jeden Zweifel völkerrechtswidrig. ({6}) Zur Einschränkung der Rechte von Homosexuellen in Russland. Wir haben in der letzten Legislaturperiode einen Antrag gestellt, dass wir die Verfolgung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen usw. verurteilen. Das ist völlig richtig, das muss auch klar sein. Aber trotzdem bleibt es dabei: Weder Herablassung noch westliche Arroganz. Ich glaube, ich weiß wovon ich rede. Das steht uns Deutschen nicht zu. Dafür bin ich immer. ({7}) Zur wirtschaftlichen Ebene. Meine Damen und Herren, es ist doch unbestritten, dass die wirtschaftliche Kooperation zwischen Russland und Deutschland nicht zulasten Dritter immer gutgetan hat. Natürlich sind die Sanktionen gescheitert – Punkt, aus, Ende. Jeder weiß das. Nehmen Sie doch nur die Ministerpräsidenten der ostdeutschen Länder von CDU bis Linke. Sie sprechen sich dagegen aus. Es gibt Gründe dafür. Die Sanktionen haben nichts gebracht. Wir brauchen wirtschaftliche Zusammenarbeit. Das ist ein Schlüssel dafür, wegen meiner auch für andere Veränderungen zu sorgen. ({8}) Schauen Sie, wer sich zum Beispiel alles bei Nord Stream hineinhängt und sich wichtig tut und meint, er verhindert etwas. Es sind Verträge. Kein MdB dieses Bundestages wird das verhindern. Lassen Sie doch Nord Stream das machen und das nicht auf der Folie innerdeutscher Auseinandersetzungen behandeln. Wir haben eine kulturelle Ebene – ganz wichtig – in ganz besonderer Weise natürlich in Ostdeutschland, weil dort die Tatsache, dass etwas mehr Leute die Sprache beherrschen, durchaus ein Vorteil ist. Es ist gut, wenn der deutsch-russische Jugendaustausch weiterentwickelt wird. Ja, auch die Visafrage sollten wir nicht nur neu überdenken, sondern anders machen. Es gibt wunderbare Städtepartnerschaften. Ich habe über Wolgograd geredet. Köln und Chemnitz: wunderbar. In dieser Woche findet in meinem Wahlkreis in Rostock die Eröffnung einer Ausstellung statt. All das ist wunderbar. Wir müssen aber auch wissen: Politische Probleme können vielfach nur mit Russland gelöst werden. Abrüstung geht nur mit Russland. ({9}) Große Probleme der Welt sind nur mit Russland zu lösen. Lieber Rolf Mützenich, ich stimme Ihnen zu, die SPD hat eine stolze Tradition der Entspannungspolitik. Willy Brandt hat mit Leonid Breschnew geredet. Das war auch nicht so ein lupenreiner Demokrat – um es vorsichtig zu sagen –, ({10}) und trotzdem hat er das geschafft. Warum kann man das nicht fortsetzen? Es gibt die Tradition von Egon Bahr, von Steinmeier, Platzeck usw. Das wird jetzt alles abgebrochen? Ich höre das, ich lese das. Das kommt doch aus Ihrer Fraktion, wo einige finden, das muss man alles ändern. Hier an dieser Stelle hat Wladimir Putin geredet unter dem Beifall aller Fraktionen. Wenn sich danach so viel verändert hat, haben wir vielleicht auch ein paar Fehler gemacht. Das ist doch zumindest theoretisch möglich. ({11}) Deswegen: Miteinander die historische Verantwortung wahrnehmen, Dialog mit ausgestreckter Hand, gesamteuropäische Konferenz – hier sind wir sehr dabei –, aber bitte das alles nicht auf der Folie der Besserwisserei. Wir brauchen gute Beziehungen zu Russland: für Europa, für die Völker der ehemaligen Sowjetunion. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Manuel Sarrazin, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, der wichtigste Punkt in dem Antrag der AfD und – ohne dass ich das gleichsetzen möchte – auch ein bisschen in dem Beitrag von Herrn Bartsch ist die Frage nach der angeblich mangelnden Empathie, was durchaus eine russische Perspektive ist, die uns allen gespiegelt wird, die wir, ganz egal, ob wir es teilen oder nicht, so hinnehmen müssen. Ich glaube aber, dass man eine Unterscheidung machen muss. Empathie zum Land Russland ist doch bitte zu differenzieren zu Empathie zu dem System Putin. Das, was die AfD macht, ist ein billiges Heranschleimen an eine lupenreine Autokratie, nicht nur mit Verletzungen der Menschenrechte im eigenen Land, ({0}) sondern mit einer großen Gefährdungsausstrahlung in den zentraleuropäischen Raum. ({1}) Empathie mit dem System Putin hat nichts zu tun mit fehlender Empathie ({2}) oder Empathie mit dem Land Russland, ganz im Gegenteil. ({3}) Deswegen ist es auch richtig, dass es natürlich hilft, wenn man eine Sprache spricht. Ich habe in der Schule zwei Jahre Russisch gelernt. ({4}) – Zwölf Jahre Russisch. Ich glaube auch, dass Sie besser Russisch können als ich. ({5}) Meine Russischlehrerin sagte damals zu mir: Vielleicht wird man diese Sprache irgendwann einmal brauchen im deutsch-russischen Verhältnis. Ich habe nicht gut genug Russisch gelernt, um es fließend zu können, aber 1999 war die Vorstellung über die Zukunft der deutsch-russischen Beziehung vielleicht noch eine andere. Deswegen ist es umso wichtiger, dass man in der Auseinandersetzung, in der Zusammenarbeit mit Russland Maßstäbe hat. Der erste Maßstab ist immer der Maßstab der Aussöhnung. Ich als Hamburger bin sehr enttäuscht, dass die AfD offensichtlich nicht einmal die Geschichte der Aussöhnung mit Sankt Petersburg, mit Leningrad, kennt. Sie behaupten in Ihrem Antrag, die erste Städtepartnerschaft sei die mit Suhl gewesen. Da waren Hamburg und Leningrad schon lange in einer Partnerschaft verbunden ({6}) und sind es bis heute. Sie sind nicht diejenigen, die das am besten wissen. ({7}) Zur Freundschaft zwischen Russland und Deutschland gehört nämlich zuallererst die Freundschaft der Zivilgesellschaften, die Menschen aus Hamburg, die 1991 Pakete nach Sankt Petersburg geschickt haben. Fahren Sie einmal als Hamburger nach Sankt Petersburg. Dort gibt es großen Respekt wegen der Freundschaft der Menschen, nicht wegen der Freundschaft der Regierungen oder wegen des Ankuschelns an Putin. ({8}) Respekt und gemeinsame Werte sind die Grundlage von grüner Russland-Politik. Dazu gehören die Menschenrechte, deren Allgemeingültigkeit von Russland wie von der Sowjetunion kodifiziert wurde und jetzt in Abrede gestellt wird. Dazu gehört der Frieden in Europa, für den Russland an vielen Stellen eine Gefahr ist, obwohl wir Russland so gut brauchen könnten, um Frieden und Stabilität zu schaffen. Das ist doch die Realität. Dann liest man Ihren Antrag und einem fällt auf, was fehlt: Die Ukraine wird nicht genannt. Die territoriale Integrität, wie Herr Lambsdorff gesagt hat, der Ukraine wird nicht genannt. Menschenrechte, die aktuelle Serie an Ermordungen von LGBTI in Tschetschenien, die Krim. Es wird aber komischerweise in keiner Weise im Petitum gefordert, die Handelssanktionen aufzuheben. ({9}) Da frage ich mich jetzt: Wieso fordern Sie das nicht im Petitum? ({10}) Macht die AfD jetzt einen Rückzieher und sagt plötzlich: „Die europäischen Sanktionen gegenüber Russland sind okay“? Was übrigens auch fehlt – weil Sie immer so tun, als gehe es um wirtschaftlichen Profit –: Wenn Sie nächstes Mal im Kreml sitzen oder Herr Frohnmaier auf die Krim fährt, um dort zu behaupten, das sei ewig alles russisches Territorium, dann sagen Sie im Kreml auch einmal, dass meine Bauern im Alten Land unter einseitigen russischen Handelssanktionen leiden und nicht unter europäischen. ({11}) Setzen Sie sich doch einmal für diese Leute ein. Es ist nämlich die Tatsache, dass Ihre Vorstellungen sowohl von einem gemeinsamen Wirtschaftsraum als auch einer gemeinsamen Sicherheit nicht am grundsätzlichen Willen in Deutschland, in der Europäischen Union scheitern, sondern an der Realität der Politik im Kreml. Das müssen Sie sich doch einmal vor Augen führen. ({12}) Es gibt noch einen Punkt: der Jugendaustausch, die Visa. Ich muss Ihnen leider sagen: Wir Grüne wollen die Visapflicht nicht nur für den Jugendaustausch erleichtern. Wir wollen, dass jeder Russe und jede Russin leichter nach Deutschland und in die Europäische Union reisen kann, weil wir nämlich für Offenheit sind und nicht für Mauern und Grenzen, für die Sie stehen. Es gibt, ganz ehrlich, auch noch einen effektiven Grund dafür. Ich kenne viele Menschen in Russland, die ohne diese Visaerfordernisse viel schneller zu uns reisen können, wenn sie in Russland bedroht werden oder von russischen Geheimdiensten ermordet werden sollen. Auch deswegen müssen wir Erleichterungen bei den Visa schaffen, die Russinnen und Russen zu uns bringen. Das müssen Sie sich vielleicht auch einmal vor Augen halten. ({13}) Es gibt beim Jugendaustausch eine Frage, die ich daran anschließen möchte: Wes Geistes Kind ist eigentlich die AfD? Sie haben einen Abgeordneten in Ihrer Fraktion, der bis vor kurzem einen Mitarbeiter beschäftigt hat, dem jetzt vorgeworfen wird, mit einem Anschlag auf ein ungarisches Gemeindezentrum in der Ukraine in Verbindung zu stehen. Dieser Mitarbeiter des Abgeordneten war Chefredakteur eines Onlinemagazins, das von einem russischen Oligarchen finanziert wird, der in direkter Nähe nicht nur zu Alexander Dugin, sondern auch in direkter Nähe zu einem Finanzier steht, der mit Aktivitäten im Donbass in Verbindung gebracht wird. Diese Person hat gemeinsam mit einem polnischen Nationalisten, mit einem polnischen Nazi, der in Polen wegen Spionage im Knast sitzt, ein Zentrum gegründet, in dem sogenannte Wahlbeobachtungsmissionen unternommen worden sind, die letztlich unzureichende Wahlen legitimieren sollten. Ich frage mich, ob die AfD als Alternative für Deutschland eigentlich eine Außenpolitik betreibt, die im deutschen Interesse ist, oder ob sie letztlich eine Außenpolitik betreibt, die im Interesse des Kreml und nicht im deutschen Interesse ist. Das ist doch die Wahrheit. ({14}) Deswegen: Echte Freundschaft mit Russland heißt doch, dass wir uns für Menschenrechte, für die Zivilgesellschaft einsetzen, statt nur mit Autokraten zu kuscheln, wie die AfD es macht. Diese Freundschaft mit der russischen Zivilgesellschaft ist uns besonders wichtig, und die fehlt in Ihrem Antrag komplett. Vielen Dank. ({15})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Norbert Röttgen.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine Unterscheidung aufgreifen, die der Kollege Sarrazin gerade in die Debatte eingeführt hat. Diese Unterscheidung ist umso mehr geboten – darauf ist schon mehrfach hingewiesen worden –, als die Koinzidenz der Themen des heutigen Tages, des Gedenkens heute Morgen an die Opfer des Nationalsozialismus und der jetzigen Debatte über die Russlandpolitik, die historische Dimension des deutsch-russischen Verhältnisses deutlich macht. Es ist die Unterscheidung zwischen Russland und der gegenwärtigen russischen Politik. Das ist eine eminent politische Unterscheidung, und es ist auch politisch, wenn diese Unterscheidung oftmals gerade nicht gemacht wird. Auch das dient politischen Zwecken. ({0}) Ich möchte mich zunächst mit der gegenwärtigen russischen Politik beschäftigen und kurz charakterisieren, worin die prinzipielle strategische Veränderung in der russischen Außenpolitik, vor allen Dingen seit jetzt ziemlich genau fünf Jahren, liegt. Was wir festzustellen haben, ist die Verabschiedung Russlands aus der europäischen Friedensordnung. Ich hätte es für völlig undenkbar gehalten, dass es dazu kommt. Wir sehen, dass sich Russland, die russische Politik inzwischen bewusst als geradezu ein Gegenmodell zur liberalen europäischen Friedensordnung entwickelt, ein Modell, das keine internationalen Regeln, auch nicht den absoluten Kernbestand, zu beachten gewillt ist, nicht die Regeln, auf die man sich im Kalten Krieg verständigen konnte, die Schlussakte von Helsinki, nicht die Regeln, auf die man sich mit der Sowjetunion nach dem Ende des Kalten Krieges verständigt hat, die Charta von Paris. Es ist ein Gegenmodell, das nicht bereit ist, das Selbstbestimmungsrecht seiner unmittelbaren Nachbarn, vor allen Dingen der Ukraine, aber auch Georgiens oder eines Landes wie Moldawien, der Republik Moldau, uneingeschränkt zu achten. Dazu ist Russland nicht bereit. Die Politik Russlands besteht darin, dass eine historische Errungenschaft der Abrüstung, nämlich die Beseitigung einer Kategorie, „nukleare Mittelstreckenraketen in Europa“ – das ist der INF-Vertrag –, durch Russland seit Jahren verletzt wird. Wir haben heute wieder nukleare Mittelstreckenraketen, und zwar durch Russland und nicht auf westlicher Seite. Das ist eine Realität russischer Politik heute. Wir haben permanent Versuche der manipulativen Einwirkung auf demokratische Prozesse in europäischen und anderen Ländern. Das ist die gegenwärtige Realität russischer Politik. Diese Realität wird umso herausfordernder, weil sie vielleicht viele Gründe, aber einen Kerngrund hat, nämlich: Diese Politik ist im Kern Substitut für den Mangel an einer Modernisierungsperspektive, die dieses politische System den Menschen nicht geben kann. Damit ruht diese scheinbare Politik der Stärke nach außen in Schwäche im Innern. ({1}) Auf diesen Widerspruch, mit dieser russischen Schwäche umzugehen, haben weder Wladimir Putin noch der Westen bislang eine Antwort. – Das ist die Lage der westlich-russischen Beziehungen. Was folgt daraus? Diese Frage hat der Kollege Mützenich gestellt. Es ist erst einmal ein Dilemma, ein Paradox, eine wahnsinnig schwierige Situation und Lage, was man auch aussprechen muss, damit man weiß, worüber man überhaupt redet. Ich finde, es gibt zwei Schlussfolgerungen daraus, und über die eine herrscht in der Gesellschaft, aber auch im Hohen Haus wirklich Streit. Meine erste Schlussfolgerung ist, dass wir – Deutsche, Europäer, der Westen, die internationale Gemeinschaft – Widerpart gegenüber dem, was ich eben an russischer Politik der Völkerrechtswidrigkeit und gewaltsamen Aggressionen geschildert habe, gegenüber dieser aggressiven rechtswidrigen Politik sein müssen, meine Damen und Herren. ({2}) Wir müssen es aussprechen. Wir dürfen es nicht beschönigen, wir dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, sondern wir müssen eine klare Sprache finden. Ich will es nicht überhöhen, aber auch insofern leicht an den heutigen Morgen erinnern. Die klare Sprache über Verbrechen ist ein moralisches und politisches Gebot, dem wir unbedingt folgen sollen, meine Damen und Herren. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Röttgen, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion der Linken?

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Röttgen, die Linke hält das Völkerrecht immer sehr hoch. Wenn Sie davon reden, dass der Westen das Völkerrecht verteidigt, dann bekomme ich immer etwas Bauchschmerzen; denn viele Völkerrechtsbrüche, sogar die meisten, seit den 90er-Jahren sind vom Westen ausgegangen. Wenn man also selber sozusagen Präzedenzfälle schafft, dann wundert es mich umso mehr, wenn man oberlehrermäßig versucht, Russland zu verurteilen. Wir Linke sagen ja: Das, was mit der Krim geschehen ist, ist ein Völkerrechtsbruch. – Aber Sie haben nicht die Kraft zu sagen: Das, was im Kosovo passiert ist, ist ein Völkerrechtsbruch, der Angriff der USA auf den Irak ist ein Völkerrechtsbruch, die Einmischung in Venezuela ist ein Völkerrechtsbruch. – All das sind Sie nicht in der Lage zu verurteilen. Dieser Doppelstandard ist sehr ärgerlich, und die Menschen merken es, dass hier mit gezinkten Karten gespielt wird. Warum haben Sie nicht die Kraft, mit einheitlichen Maßstäben zu arbeiten? ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich muss diesen Vorwurf zu meinem wirklichen Bedauern geradewegs an die Linksfraktion zurückgegeben. Sie haben das Stichwort „Venezuela“ gerade genannt. Wenn es in diesem Haus eine Fraktion gibt, die sich an die Seite des Diktators Maduro stellt, seine Verbrechen beschönigt – die Zitate könnte ich alle bringen –, dann ist es die Linksfraktion. ({0}) Sie haben doch in diesen Tagen die Gelegenheit, sich für Menschenrechte einzusetzen. Sie setzen sich selektiv für Menschenrechte ein. Wenn etwas aus der kommunistischen Ideologie in dieser Welt, wo sie denn überhaupt noch besteht, kommt, dann empfinden Sie Sympathien. ({1}) Sie können sich bei diesen Sympathien und was die Verteidigung solcher Systeme angeht, noch nicht einmal in Deutschland beherrschen. Warum ist es „oberlehrerhaft“? Das ist eine typische und allgemeine Diffamierung derjenigen, die etwas über Menschenrechtsverletzungen in Russland, über Aggressionen, über Kriegsführung sagen. Derjenige, der diese Wirklichkeit ausspricht, wird immer sofort als Oberlehrer, als belehrend, als aggressiv und konfliktschürend beschrieben. Nein, es ist das Reden über die Realität, und das sollten wir machen. ({2}) Im Übrigen haben wir hier überhaupt keine Belehrung, schon gar nicht von Ihnen, nötig, was den Einsatz für völkerrechtliche Fragen anbelangt. Ich bezeichne schon seit langem und immer wieder die Intervention der Amerikaner im Irak als den größten Fehler amerikanischer Außenpolitik seit dem Vietnamkrieg. Ich habe damit überhaupt keine Probleme. Sie hören auch aus dieser Fraktion Kritik an der gegenwärtigen amerikanischen Außenpolitik. Wir sehen, dass man in der Außenpolitik immer wieder mit Dilemmasituationen zu tun hat und nicht jeder Fall nach einem bestimmten Muster behandelt werden kann. Aber unsere Fraktion, die vier Fraktionen im Zentrum dieses Hauses – ich glaube, ich kann das für sie so in Anspruch nehmen, also für 80 Prozent in diesem Haus – setzen sich hier ehrlich für Menschenrechte und Völkerrecht ein. Das sollten wir alle gemeinsam betonen. ({3}) Ich komme zurück zu meinem Ausgangspunkt. Ich glaube, Widerpart zu sein, gehört dazu. Aber Widerpart zu sein, ist nicht unser Ziel. Wir wollen nicht Widerpart sein, sondern unser Ziel in unserem Verhältnis gegenüber Russland sind Kooperation und Partnerschaft. Das ist das, was wir wollen. Aber das zu erreichen, ist schwierig. Über diese Schwierigkeiten möchte ich abschließend reden. Wie können wir das verbessern? Ich glaube, dass wir insgesamt Einheit bewahren müssen. Wenn wir wirksam gegenüber Russland sein wollen, dann wird das nicht über einen deutsch-russischen Sonderweg gehen – auch wegen der historischen Belastung; darum sind diese Plädoyers immer falsch –, sondern nur über eine westliche, eine europäische Politik gegenüber Russland. Einer der Erfolge deutscher Russland-Politik ist es – dafür haben wir gearbeitet –, dass wir eine europäische Einheit und Einheitlichkeit gegenüber Russland erreicht und aufrechterhalten haben. Das wichtigste psychologische Element der Sanktionen ist nebenbei die Demonstration der Einheit des Westens, der Europäer in der Nichtduldung der rechtswidrigen Praktiken Russlands. Diese Demonstration ist das Entscheidende. Es darf nicht nur leere Worte geben, es muss auch Konsequenzen haben, meine Damen und Herren. ({4}) In Europa verweigert sich Russland der Kooperation. Das ist die Realität. Die Ausweitung des Konfliktes im Asowschen Meer ist das jüngste Beispiel dafür, dass Russland leider nicht zur Kooperation bereit ist. Unsere Hand gegenüber Russland bleibt trotzdem ausgestreckt. An anderer Stelle kommen nur die USA als Partner infrage. In Syrien zum Beispiel, glaube ich, wäre Russland interessiert, die militärischen Erfolge – ich habe eben geschildert, wie sie erreicht worden sind – in politische Gewinne umzumünzen. Doch dafür bräuchten sie einen Partner. Die EU ist nicht partnerfähig. Die USA machen stattdessen eine Rückzugspolitik. Das ist ein großes Problem im Verhältnis zu Russland. Beim INF-Vertrag sind der Vertragspartner Russlands die USA. Russland verletzt diesen Vertrag, die USA möchten ihn kündigen. Die Europäer sind nicht im Spiel. Aber wir können ins Spiel kommen; das ist meine letzte Anmerkung. Auch hier ist unsere Aufgabe für eine wirksame Politik gegenüber Russland, dass wir uns weiter dafür einsetzen, dass es eine europäische Russland-Politik gibt. Die Europäer müssen im Verhältnis zu Russland wie im Verhältnis zu den USA und China endlich zu einem außenpolitisch handlungsfähigen Akteur werden, ansonsten werden die Europäer keine relevante Rolle mehr einnehmen. Das ist mein ultimativer Appell, wenn es um unser Verhältnis zu Russland geht: Wir müssen alles dafür tun, dass es weiterhin eine einheitliche europäische Haltung und Politik gegenüber Russland gibt. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Dr. Anton Friesen. ({0})

Dr. Anton Friesen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004720, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Zuhörer! Zunächst einmal zu Herrn Manuel Sarrazin: Das war Stand-up-Comedy zur besten Sendezeit. Vielen Dank dafür! ({0}) Kommen wir zurück zum Thema. Man kann sich – das sollte man auch – auf bürgergesellschaftlicher Ebene, auf wirtschaftlicher Ebene engagieren, ohne etwas anzuerkennen. Engagement ohne Anerkennung funktioniert, um auf die ganzen Vorwürfe von vorhin zu antworten. Die beste Kooperation, die beste Zusammenarbeit findet zwischen Menschen und Völkern statt. Deshalb sprechen wir uns dafür aus, den Jugendaustausch mit Russland zu stärken und die deutsch-russischen Städtepartnerschaften weiter auszubauen. Beim Jugendaustausch weiß ich selbst, da ich ein Gymnasium in Thüringen dabei unterstütze, dass einem sehr viele Steine in den Weg gelegt werden, vor allem durch die Verordnung (EG) Nr. 810/2009, wonach jeder Antragsteller persönlich bei der Einreichung seines Antrags bei der zuständigen Visastelle zugegen sein muss. Das heißt, es wird russischen Schülern aus entlegenen Gebieten unmöglich gemacht, an einem Austausch teilzunehmen. Deshalb sagen wir: Wir wollen die bestehende Visapflicht schrittweise lockern, um den Jugendaustausch zu erleichtern. ({1}) Die Jugend ist unsere Zukunft. Deshalb haben Adenauer und de Gaulle alles richtig gemacht, als sie 1963 das Deutsch-Französische Jugendwerk gegründet haben. Warum sollte das nicht mit Russland möglich sein? ({2}) Auch die Städtepartnerschaften tragen sehr viel dazu bei, dass sich unsere Völker auf Augenhöhe begegnen können. Gerade ging das Deutsch-Russische Jahr der kommunalen und regionalen Partnerschaften 2017/2018 zu Ende. Eine solche Partnerschaft existiert übrigens bereits seit über 50 Jahren zwischen der kreisfreien Stadt Suhl in meinem Südthüringer Wahlkreis und Kaluga. Das ist nichts anderes als gelebte Völkerverständigung. Deshalb sollten wir uns alle einig sein, dass wir das mit allen möglichen Mitteln und mit Nachdruck unterstützen. ({3}) Bürgergesellschaft und Wirtschaft sind tragende Säulen einer deutsch-russischen Verantwortungsgemeinschaft, von der zum Beispiel Egon Bahr zu Recht sprach. Gerade die ostdeutschen Bundesländer leiden massiv unter den Russland-Sanktionen, die nichts gebracht, aber viel gekostet haben. Wir sagen: Die Sanktionen müssen weg! Für uns ist das eine Selbstverständlichkeit. ({4}) Das alleine reicht aber noch lange nicht. Der Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft – hat kürzlich eine „Neue Agenda“ für die Zusammenarbeit mit Russland vorgestellt, die wir mit diesem Antrag in die Tat umsetzen wollen. Wir wollen Handelshemmnisse abbauen, den deutschen Mittelstand unterstützen und langfristig eine Freihandelszone zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Wirtschaftsunion schaffen Der Weg in die Zukunft führt über mehr Kooperation zu mehr Wohlstand für alle. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dirk Wiese. ({0})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer wie Alexander Gauland die Zeit von 1933 bis 1945 als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichnet und damit auch das Gedenken und die Erinnerung an die 27 Millionen Toten der einstigen Sowjetunion mit Füßen tritt, der ist sicherlich vieles, aber kein Freund der Bürger Russlands, von Belarus oder der Ukraine. ({0}) Die Politik des Nationalismus und ihr Abgesang auf Europa führen deutlich zurück zu den einstigen Schützengräben der Vergangenheit. Teile oder – besser gesagt – Flügel der AfD feiern am 9. Mai nicht den Tag des Sieges mit Russland; vielmehr stellen Teile oder – besser gesagt – Flügel Ihrer Partei die Reinkarnation der Besiegten von einst dar. Der Philosoph George Santayana hat recht, wenn er sagt: Wer die Vergangenheit vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. – Sie sind dazu auf dem besten Wege. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich auf einige Punkte in Ihrem Antrag eingehe, möchte ich an die Leningrader Blockade vor 75 Jahren erinnern. Es ist wichtig, dass wir Erinnerung bewahren, dass wir nicht vergessen. Und es ist richtig, dass die Bundesregierung 12 Millionen Euro an Unterstützung für die noch Lebenden zugesagt hat und auch den Bau eines Krankenhauses unterstützt. Das sind die richtigen Signale, die wir im deutsch-russischen Verhältnis brauchen. ({2}) Da Sie Ihrem Antrag eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa skizzieren, muss ich Ihnen sagen: Es gibt die KSZE-Schlussakte von 1975, die Ostpolitik von Brandt/Bahr. Es gibt die Charta von Paris von 1990. Diese ist ein klares Bekenntnis zu einer europäischen Friedensordnung, wonach übrigens auch vermeintlich kleinere Staaten Schutz und Stabilität genießen, und sie anerkennt – das ist ganz wichtig – die territoriale Integrität von Staaten. Das ist unsere europäische Sicherheitsarchitektur. Sie ist wichtig und immer noch aktuell. ({3}) Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen. Wir brauchen heute eine europäische Ost- und Russland-Politik. Ihr Antrag hat einen ganz gefährlichen Duktus. Sie suggerieren, dass wieder Entscheidungen zwischen Berlin und Moskau getroffen werden, über die Köpfe der Länder Osteuropas, der Länder der östlichen Partnerschaft hinweg. Das ist in der heutigen Zeit hochgefährlich, gerade wenn wir uns an den Hitler-Stalin-Pakt und anderes erinnern. ({4}) Wir dürfen bei den Mitgliedsländern nicht das Gefühl aufkommen lassen, dass wir Politik über ihre Köpfe hinweg machen. Darum brauchen wir heute eine europäische Ostpolitik. ({5}) Wir brauchen auch – da sind wir dabei – Russland im Europarat. Davon ist in Ihrem Antrag keine Rede. Sie sagen in Ihrem Antrag – das möchte ich einmal zitieren –, „Fragen über Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sollten“ in künftigen Verträgen „außen vor gelassen werden“. Meine sehr geehrten Damen, das ist ein Rückfall hinter die KSZE-Schlussakte von Helsinki. Das widerspricht allem, was SPD-Ostpolitik ausmacht. Für so einen Satz sollten Sie sich schämen. ({6}) Sie fordern in Ihrem Antrag des Weiteren die Wiederaufnahme von Gesprächsformaten. Die Bundesregierung ist dabei, so im Normandie-Format. Es gibt eine Vielzahl von Treffen zwischen den Außenministern sowie zwischen der Bundeskanzlerin und Staatspräsident Putin. Und dann fordern Sie in Ihrem Antrag, dass der NATO-­Russland-Rat wieder tagen sollte. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, er hat letzte Woche Freitag und auch davor schon regelmäßig getagt. Informieren Sie sich doch erst einmal, bevor Sie Anträge schreiben! ({8}) Zweiter Punkt ist die Zivilgesellschaft. Die Bundesregierung hat die Mittel für die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in Russland und den Ländern der Östlichen Partnerschaft von 14 auf 18 Millionen Euro aufgestockt. Es besteht ein hohes Interesse daran, gerade auch an Projekten, bei denen Jugendliche unterschiedlicher Staaten miteinbezogen werden. Wir haben die Themenjahre wie das Jahr der kommunalen und regionalen Partnerschaften, in dessen Rahmen es im letzten Jahr im Auswärtigen Amt eine Veranstaltung mit über 1 000 Teilnehmern gab. Wir haben jetzt das Deutsch-Russische Jahr der Hochschulkooperation und Wissenschaft, und es gibt schon jetzt über 1 000  Kooperationen zwischen deutschen und russischen Hochschulen, Fachhochschulen und Universitäten. Das sind Schritte, die in die richtige Richtung gehen. Übrigens, das Programm zur Stärkung der Zivilgesellschaft wollen Sie – das suggerieren Sie in Ihren Kleinen Anfragen – abschaffen. Sie wollen gar keine Stärkung der Zivilgesellschaft. Sie wollen gar nicht, dass Bürgerinnen und Bürger sich austauschen. ({9}) Das sind genau die falschen Signale, die Sie setzen. Das geht in die falsche Richtung. Gleichzeitig fordern Sie, dass die Bundesregierung im Bereich Wissenschafts- und Hochschulkooperation mehr tun sollte. Am 10. Dezember wurde ein neuer zehnjähriger Vertrag zwischen dem russischen Wissenschaftsministerium und dem BMBF geschlossen, in dem genau das artikuliert worden ist und sich wiederfindet. Auch hier rate ich Ihnen, erst einmal zu lesen, bevor man Anträge schreibt. ({10}) Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die Visafrage. Ich bin absolut dafür, dass es zu Visaerleichterungen kommt, dass wir in einem ersten Schritt für junge Leute bis zum Alter von 25 Jahren eine Visabefreiung einrichten. Das wäre ein Schritt, um jungen Generationen die Möglichkeit zu geben, Vorurteile abzubauen, die Länder gegenseitig zu bereisen, sich auszutauschen. Aber die jungen Russinnen und Russen möchten dann auch ganz Europa besuchen. Sie möchten nicht wieder innerdeutsche Grenzen haben. Sie möchten nicht Mauern aufgebaut haben. Das sind aber genau die Signale, die Sie aussenden. Das widerspricht einer Visaliberalisierung im Schengen-Raum, die eigentlich möglich ist. Auch hier widersprechen Sie sich in Ihrem Antrag. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Bijan Djir-Sarai. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An diesem Wochenende nähern wir uns mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Scheitern des INF-Vertrages, weil Russland seit Jahren den Vertrag bricht. An diesem Wochenende blicken wir zurück auf fast fünf Jahre Krieg in der Ostukraine, weil die russische Regierung beschlossen hat, mit prorussischen Milizen einen echten Krieg auf europäischem Boden zu führen. An diesem Wochenende blicken wir zudem auf drei Jahre russischen Militäreinsatz in Syrien, an der Seite des Assad-Regimes und der iranischen Milizen, zurück. Wir haben in den vergangenen Jahren Einsätze russischer Agenten in EU-Staaten erlebt. Wir sind Opfer von massiven russischen Cyberangriffen geworden, weil sie Teil der russischen Außenpolitik sind. Kurzum: Russland tritt seinen Nachbarn gegenüber äußerst aggressiv auf. Es wäre falsch, diese Realitäten zu ignorieren. ({0}) Ansonsten hat sich in der Welt auch einiges verändert. Wer heute die Probleme im Nahen und Mittleren Osten lösen will, der ruft nicht mehr in erster Linie in Washington an, sondern ist gezwungen, in Moskau anzurufen. Das ist politische Realität. Das hat auch etwas damit zu tun, dass die jetzige Administration der USA sich immer mehr aus der Diplomatie zurückzieht. In diesen Zeiten kommt es besonders darauf an, dass Europa einig und mit einer Stimme auftritt. Russland hat eigene Sicherheitsinteressen, und Europa muss noch lernen, seine eigenen Interessen zu vertreten, meine Damen und Herren. ({1}) Was passiert, wenn die Bundesregierung und Europa ihre Interessen nicht vertreten, verdeutlicht das mögliche Scheitern des INF-Vertrages. Es ist nicht so, dass uns die aktuelle Administration erst jetzt darauf aufmerksam gemacht hat, dass dieser Vertrag von Russland einseitig verletzt wird. Seit Jahren weist die US-Administration darauf hin – übrigens hat die letzte Administration schon darauf hingewiesen –, dass hier etwas passiert. Leider Gottes ist seitens der Bundesregierung nichts passiert. Das ist systematisch ignoriert worden. Jetzt, fünf vor zwölf, wacht die Bundesregierung auf und ist voller Aktivismus. Hier hätte man früher handeln können und handeln müssen, meine Damen und Herren. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hampel?

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Selbstverständlich.

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Kollege Djir-Sarai, Sie haben ja recht: Es ist zu wenig getan worden. Wir haben aber in den vergangenen Wochen und Monaten in diesem Hause immer wieder aus allen Fraktionen gehört, dass es, was den INF-Vertrag anbelangt, um einen größeren Rahmen als nur Europa geht und dass man China, Iran und andere Länder mit in den Fokus nehmen muss. Es klang heute bei den Sozialdemokraten und ebenfalls – wenn ich ihn richtig verstanden habe – bei Herrn Röttgen an, dass es im europäischen Interesse und insbesondere im deutschen Interesse sein muss, dass es in Europa keine nuklearen Mittelstreckenwaffen mehr gibt. Ginge Ihre Fraktion auch so weit, zu sagen – wir haben gestern den Außenminister gefragt, der übrigens anderer Meinung war als Sie von der SPD-Fraktion –, dass wir uns, auch wenn die Amerikaner sich dort nicht bewegen, bemühen müssen, mit den Russen und den westeuropäischen Ländern einen Vertrag hinzubekommen, der Europa weiterhin von nuklearen Mittelstreckenwaffen frei hält?

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Hampel, ich bin Ihnen für diese Frage außerordentlich dankbar. – Selbstverständlich – das wissen Sie; diese Debatte hatten wir um Auswärtigen Ausschuss – handelt sich um einen bilateralen Vertrag, und selbstverständlich hat sich die Welt inzwischen verändert. Ich habe unseren Außenminister sowohl im Auswärtigen Ausschuss als auch in seinem „Spiegel“-Interview so verstanden, dass Deutschland gerade den nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat dafür nutzen wird, um einen umfassenden Vertrag, möglicherweise auch einen globalen Vertrag, wie Sie es gesagt haben, zustande zu bekommen. Selbstverständlich hat sich die Welt verändert. Wir haben inzwischen auch andere politische Akteure. Wir reden inzwischen nicht nur von Russland, sondern müssen auch darüber reden: Was ist eigentlich die chinesische Rolle, was ist mit dem Iran oder anderen Staaten? Das heißt, wir werden am Ende des Tages einen Vertrag brauchen, bei dem diese Akteure auch dabei sind. Der INF-Vertrag war ein Garant für die Sicherheitsarchitektur in Europa. Ich glaube, wir wären von seinem Scheitern besonders betroffen, weil wir weiterhin eine funktionierende Sicherheitsarchitektur in Europa brauchen. Deswegen – das habe ich auch vorhin gesagt – ist es außerordentlich wichtig, dass Deutschland sich hier stark engagiert und vor allem Europa hier vorangeht. Wir hätten hier früher handeln müssen. Der Vorwurf war bekannt; schon die Obama-Administration hat darauf hingewiesen, dass es fünf vor zwölf ist, dass wir da etwas tun müssen. Das ist leider Gottes in den letzten Jahren ignoriert worden, und das fällt uns leider jetzt auf die Füße. Ich hoffe, es ist nicht zu spät; ich hoffe, dass wir diesen Vertrag noch retten können. Es ist besser, einen solchen Vertrag zu haben, als gar keinen Vertrag zu haben. ({0}) Ich komme zurück zum Ausgangspunkt. Es geht darum, ein Scheitern des Vertrages zu verhindern. Ich habe es bei der Beantwortung der Frage schon gesagt: Wir werden die europäische Sicherheitsarchitektur, Herr Kollege Hampel, neu denken müssen, mit allen Konsequenzen. Das zeigt: Der kritische Dialog mit Russland ist sehr wichtig. Ziel muss dabei vor allem die Rückkehr des Landes zum Völkerrecht sein. Regelbasierte Politik und gegenseitiges Vertrauen müssen wieder auf der Tagesordnung stehen. ({1}) Für uns Freie Demokraten steht aber gleichzeitig außer Frage: Sollte Russland nicht für einen konstruktiven Dialog zur Verfügung stehen, darf es auch kein Entgegenkommen bei den Sanktionen geben. Im Gegenteil: Freiheit und Menschenrechte müssen vehement verteidigt werden. Meine Damen und Herren, die EU und Russland sind nicht nur geografische Nachbarn; sie sind auch historisch, wirtschaftlich und kulturell eng verbunden. Der zivilgesellschaftliche Austausch mit Russland muss trotz aller Differenzen weiter gestärkt werden. Außerdem dürfen wir am Ende einer solchen Debatte einen Fakt – bei jeglicher Kritik an Russland – nicht ignorieren: Sicherheit in Europa gibt es nur mit Russland; ohne Russland ist eine nachhaltige Sicherheitsarchitektur in Europa undenkbar. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Frauke Petry. ({0})

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Für das Verhältnis zu Russland gilt etwas, was für unser Verhältnis zu vielen Ländern dieser Erde gilt: Es gibt ganz berechtigte Kritik an Putin und seiner Regierung, und es gibt große kulturelle Gemeinsamkeiten mit den Russen, ihrer Kulturnation. Und natürlich – das gehört in Fragen von Sicherheit und Zusammenarbeit dazu – gibt es handfeste wirtschaftliche und militärische Interessen beider Seiten. Deshalb ist vermutlich der Vorschlag eines deutsch-russischen Jugendwerkes eine der besseren Ideen dieses Antrags. Daneben bleibt vieles leider unausgegoren und ohne Kontext. Was Deutschland und Frankreich genutzt hat, kann Deutschland und Russland nicht schaden. Die Zukunft gehört der Jugend. Das sollten wir nicht nur immer wieder sagen; wir sollten auch etwas dafür tun. Nur eine neue Generation, die den Nachbarn versteht, seine Mentalität begreift und kulturelle Unterschiede nicht nur akzeptiert, sondern auch richtig einordnet, kann einen wirklichen Neuanfang in den Beziehungen zwischen Völkern wagen. Dabei sollte es nicht bleiben. Sicherheitspolitisch hat die Verständigung mit Russland schicksalhafte Bedeutung für Europa. Unser Kontinent ist letztlich nicht viel mehr als eine große Halbinsel, die der größte Staat auf diesem Planeten abschließt. Sicherheit – das bedeutet nicht nur Verteidigungspolitik, sondern auch Stabilität. Über Jahre hinweg haben die wirtschaftlichen Kooperationen diese Stabilität garantiert. Russland und Europa ergänzen sich aufgrund ihrer verschiedenen Stärken: auf der einen Seite die westliche Innovation, auf der anderen Seite der russische Ressourcenreichtum. Es muss deshalb unser gemeinsames Ziel in Europa sein, Russland wirtschaftlich und handelspolitisch so an die Europäische Union anzubinden, dass die Russen die Kooperation der aktuellen Konfrontation vorziehen. Wenn der europäische Binnenmarkt als einer der größten historischen Erfolge unseres Kontinents gefeiert wird, stellt sich die Frage, warum wir ihn nur von Lissabon bis an die polnische Grenze und nach Tallinn haben und nicht bis nach Wladiwostok ausweiten. Gemeinsam mit dem Freihandelsabkommen mit Japan entstünde das Fundament für einen Wirtschaftsraum mit über 780 Millionen Einwohnern. Wir sprechen von einer Freihandelszone ohne Parallele in der Menschheitsgeschichte. Die asiatischen Märkte – allen voran Japan, Südkorea und China – rückten ein deutliches Stück näher an uns heran. Die weiten Steppen Asiens würden Europa nicht mehr vom fernen Osten trennen, sondern beide verbinden. Das sind weder Träume noch unrealistische Strategien. Theoretiker wie Emmanuel Todd, der französische Autor, und auch Putin haben dafür geworben. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung prognostiziert, dass die EU ihre Exporte um 60 Prozent erhöhen könnte, wenn wir Freihandelsabkommen mit allen Staaten der Eurasischen Wirtschaftsunion schließen würden. Am meisten würden von so einem Abkommen die baltischen Staaten profitieren, die sich heute am meisten von Russland bedroht sehen. Vertiefte Zusammenarbeit förderte nicht nur den Wohlstand; er würde auch die zentralasiatischen Regionen der ehemaligen Sowjetunion stabilisieren, deren Zukunft heute noch ungewiss ist. Es bleiben Zukunftsaussichten, meine Damen und Herren, aber sie sind positiver, konstruktiver und weitblickender als das Klein-Klein von ideologischen Eitelkeiten, Sanktionen und Ideologien. Danke schön. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Christian Schmidt, CDU/CDU-Fraktion. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es zusammenfassend festzuhalten – und ich meine das nach der sehr inspirierenden Debatte tun zu können –: Erstens. Es gibt keinen, der nicht gerne mit Russland zusammenarbeiten würde. Zweitens. Wir wissen um die Bedeutung der Rolle Russlands für die europäische Friedensordnung. Drittens. Eine solche Zusammenarbeit erfordert aber ein gemeinsames Verständnis der Partner von ihrer Rolle in der Welt und von ihrer Verpflichtung, eine multilaterale und regelbasierte Weltordnung mitzutragen und einzuhalten. Viertens. Leider ist ein solches Verständnis gegenwärtig nicht gegeben. Die Putin-Russland-Position läuft dem zuwider. Der AfD-Antrag versucht zwar, den einen oder anderen interessanten Punkt aufzuzeigen. Aber er ist unbehelflich und unbeholfen, weil er an den eigentlichen Fragestellungen vorbei geht. Putins Russland hat bisher nicht gezeigt, dass es bereit ist, zu einem gemeinsamen Verständnis der multilateralen Ordnung zurückzukehren, in der die Herrschaft des Rechts gilt. Russland hat anscheinend das Ziel, eine Welt zu schaffen, in der verschiedene Mächte die Vorherrschaft ausüben. Gerade deswegen müssen wir auch sehr, sehr vorsichtig sein. Das Verständnis deutsch-russischer Zusammenarbeit, die notwendig und wichtig ist, ist angesprochen worden. Ich war bei denen, die im Jahre 1992 im Oktober-Hotel in Moskau die Grundlagen für das heutige Deutsch-Russische Forum, für diese Zusammenarbeit gelegt haben, um die Zivilgesellschaft nach vorne zu bringen. Leider mussten wir zwischendrin feststellen, dass es weniger für die Zivilgesellschaften gegeben hat und mehr Streamlining von russischer Seite eingebracht worden ist. Wir haben immer auf die Länder dazwischen zu achten gehabt – das tun wir auch weiterhin –, die sich in diesem Jahr zum 80. Mal – das ist ein zweifelhaftes Jubiläum – daran erinnern werden, dass es 1939 zwischen Ribbentrop und Molotow und Hitler und Stalin einen Pakt gegeben hat, der das Ende ihrer Freiheit, das Ende ihrer Selbstständigkeit und noch vieles mehr bedeutet hatte. Gerade deswegen dürfen wir die Vorstellung, die da und dort anscheinend durch die Gegend geistert, nicht unterstützen. Um es mit einem historischen Wort zu umschreiben: In den 90er-Jahren ist durchaus skeptisch die Frage an uns gerichtet worden, ob da „Rapallo“ eine Rolle spielt. Nein, Rapallo spielt bei unserer Politik überhaupt keine Rolle. Das sind der Versuch und der Ansatz, eine europäische Friedensordnung, basierend auf der Selbstbestimmung der einzelnen Völker und Staaten, zu erreichen. Das heißt, die baltischen Staaten haben einen besonderen Anspruch darauf, dass wir dies in die Diskussion mit einbringen. ({0}) Die Missachtung und Verletzung der Charta von Paris durch die Usurpation der Krim ist angesprochen worden – fortgesetzt durch einen Brückenschlag über die Meerenge von Kertsch, wodurch die Ukraine in eine schwierige und völkerrechtlich überhaupt nicht zu begründende Situation gebracht wird. All diese Dinge, die ich wiederholen will, sind genannt worden. Wenn man Zusammenarbeit will – das wollen wir –, dann bedarf es auch einer Unterstützung und Zeichen der anderen Seite. Wenn beispielsweise ein Mann der Rationalität wie mein Freund, der langjährige Europaabgeordnete der CSU, Bernd Posselt, nicht einreisen darf, weil er auf der Liste der Geächteten steht, dann zeigt das, dass die Dialogbereitschaft nicht in einem ausreichenden Maß vorhanden ist. Das ist nicht akzeptabel. Das ist auch der Grund, warum wir Wirtschaftssanktionen implementiert und die russische Seite gedrängt haben, etwas zu tun. Das bleibt der Fall. Kollege Sarrazin hat das angesprochen. Was das Thema Sanktionen betrifft: Die komplette Liste der Agrarsanktionen, das sind russische Sanktionen gegenüber der EU und nicht umgekehrt. Das muss man auch so benennen dürfen. Hier gab und gibt es Versuche, die Dinge in eine vernünftige Richtung zu bringen. Dazu bedarf es aber einer grundsätzlichen Bereitschaft auch der russischen Seite. Deswegen: Wir haben keinen kulturellen oder emotionalen Konflikt, sondern einen eminent politischen. Und der geht dann doch wieder auf die Geschichte zurück. Hier wurden ja verschiedene Philosophen genannt. Hegel hat in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie den berühmten Satz gesagt, dass die Völker aus der Geschichte nur lernen, dass sie aus der Geschichte nichts lernen. Heute haben wir übrigens in dem beeindruckenden Vortrag von Saul Friedländer einen Augenblick lang spüren dürfen, dass Hegel vielleicht nicht recht hat. ({1}) Wir sind ein anderes Deutschland. Aber es muss auch ein anderes Russland sein als das, das sagt: Das Schlimmste ist, dass die Sowjetunion nicht mehr da ist. – Stalin war auch nichts anderes als ein Massenmörder. Mir fehlen die Distanzierungen von diesen hegemonialen Vorstellungen. Wenn das der Fall ist, dann lässt sich über vieles reden. Die OSZE wird in dem Antrag ja angesprochen: Wenn wir uns die KSZE, die Helsinki-Schlussakte noch einmal vor Augen führen – auch den Korb III –, dann stellen wir fest, dass da von russischer Seite noch einiges hineingetan werden kann. Wir sind bereit dazu. Ich denke, jede Form des Dialogs, die zielführend ist im Sinne des Verständnisses von regelbasierter, verbindlicher, verlässlicher und honoriger Politik, wird dann auch im zweiten Schritt genau zu dem führen, was in diesen etwas verquasten Zusammenstellungen und in der heutigen Diskussion von der AfD in die Debatte geworfen ist. Das ist unser Anliegen; aber wir müssen vorher die politische Ordnung in die richtige Reihe bringen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Das war der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7427 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der ländliche Raum ist wahrhaftig ein „weites Feld“. Weil Fontane in diesem Jahr 200 Jahre alt geworden wäre, bleibe ich einen Augenblick bei ihm. Er hat nicht nur in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ den Blick auf den ländlichen Raum gerichtet, sondern er hat auch ein Hohelied auf die Stadt gesungen. Er hat ja auch die meiste Zeit seines Lebens in Berlin gelebt. Einen Auszug aus diesem Hohelied trage ich jetzt vor: Oft hör’ ich: „Unsre gute Stadt  Augenscheinlich eine Verheißung hat,  Der Himmel, der uns so hegt und pflegt,  Hat uns alles wie vor die Türe gelegt … Ja, wer in der Stadt wohnt, dem ist alles vor die Türe gelegt: das Krankenhaus, die Schule, der Supermarkt, die Bushaltestelle, der Arzt, die Apotheke, natürlich auch Kino, Theater, Museum. Alles ist erreichbar, das Angebot ist groß. Aber: Mehr als 50 Prozent der Einwohner Deutschlands leben eben nicht in einer Stadt, sondern auf dem Land. Über 40 Millionen Menschen leben in ländlichen Räumen. – Bei mir ist das so eine Sache: Ich lebe zwar viel in ländlichen Räumen, aber eben auch in der Stadt. – Viele dieser Menschen wollen oder können nicht in eine Stadt umziehen. Die Kultur- und Kreativwirtschaftsszene beispielsweise erlebt gerade auf dem Lande einen Boom; das kann uns nur freuen. Viele Idealisten und Ehrenamtliche stemmen das Kulturleben in ländlichen Räumen. ({0}) Dadurch gibt es eine enorme örtliche Bindungskraft. Traditionen schaffen Zusammenhalt und fördern Gemeinschaft. Die kulturelle Vielfalt in unserem Land beruht eben nicht nur auf staatlicher Kulturförderung, sondern vor allem auch auf ehrenamtlichem Engagement. Viele von uns kennen aus ihrem Wahlkreis etliche Beispiele, wie die Kultur durch Menschen lebendig gehalten wird: in Vereinen, in Chören, in Laientheatern, in Leseklubs. Deutschland ist ein Kulturland, von A wie Ahrenshoop auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst mit seinem Kunstmuseum bis Z wie Zwiefalten, einer Gemeinde in Baden-Württemberg mit dem berühmten Münster Unserer Lieben Frau. ({1}) Mit diesem Antrag, der Ihnen jetzt vorliegt, wollen wir – das finde ich toll und wichtig – in diese ländlichen Räume mehr als bisher investieren. Wir wollen Kultur unterstützen, Kultur ausweiten – immer unter Berücksichtigung der Kulturhoheit der Länder; das ist klar. Natürlich hat die Hauptstadt Berlin mit ihren Leuchtturmprojekten einen wichtigen Auftrag; aber das Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben steht jedem zu, egal ob er in einer Millionenstadt lebt oder in einem Dorf mit tausend Einwohnern. ({2}) Es gibt superschöne Ideen, zum Beispiel Kino in der Dorfkirche, mobile Museumsbusse, Fahrbibliotheken oder „Musik an unerhörten Orten“ in Mecklenburg-Vorpommern. Diese Kulturorte müssen wir erschließen, erhalten, weiterentwickeln. Das Kino ist so ein Ort. 14 Millionen Menschen besuchen jedes Jahr im ländlichen Raum das Kino. Leider aber sind in den letzten zehn Jahren 20 Prozent der Kinostätten im ländlichen Raum weggefallen, das heißt eingegangen. Diesem Kinosterben dürfen wir nicht länger zusehen, liebe Kolleginnen und Kollegen; deshalb unser Antrag. ({3}) Mit dem „Zukunftsprogramm Kino“ wollen wir dieses Kinosterben beenden. Kulturorte schaffen wir auch mit dem Denkmalschutz-Sonderprogramm einschließlich des Orgelsanierungsprogramms. Über 1 Million Denkmäler gibt es in unserem Land. 40 Millionen Euro stellen wir allein dieses Jahr wieder bereit. 500 Millionen Euro geben Bund, Länder und Gemeinden für den Denkmalschutz, für die Denkmalpflege aus. Damit sichern wir Bausubstanz; aber wir sichern damit vor allen Dingen auch unser gemeinsames kulturelles Erbe. In den ländlichen Räumen eignen sich besonders Scheunen, Ratskeller oder auch Kirchen für die kulturelle Nutzung. Es reicht aber nicht, Orte zu schaffen, sondern wir müssen diese Orte auch mit Leben erfüllen. Auch dafür gibt es zahlreiche Programme, zum Beispiel das Programm zur Transformation. Seit 2016 werden darüber sechs Modellregionen im ländlichen Raum unterstützt. Das läuft erfolgreich. Wir geben 23 Millionen Euro in dieses Programm. Jetzt werden weitere Regionen durch dieses Programm erschlossen. Diese Räume, die wir schaffen, beleben wir übrigens auch mit dem Fonds Soziokultur, mit dem Fonds Darstellende Künste und mit dem Musikfonds. All diese Fonds sind aktiv in ländlichen Räumen. Das wissen viele meiner lieben Kollegen gar nicht. Die wissen gar nicht, wie sich eine Region freut, wenn sie denn mal an diesen Programmen partizipieren kann. Sie kennen immer nur das Denkmalschutz-Sonderprogramm – das ist ein Superprogramm –; aber gucken Sie mal in den Antrag. Da sehen Sie, was alles sonst noch geht. Wir wollen mehr tun. Diese ländlichen Räume, die ich über alles liebe, obwohl ich Bremerin bin, wollen wir beleben, unterstützen. Das macht Spaß. Da können wir alle mitmachen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort für die AfD-Fraktion hat der Kollege Dr. Götz Frömming. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Motschmann, ich muss immer noch ein bisschen schmunzeln: Die CDU hat das Kinosterben entdeckt – so wie damals die Grünen das Waldsterben. Hoffen wir, dass es genauso gut ausgeht. ({0}) „Deutschland ist eine Kulturnation“, so lautet der erste Satz im vorliegenden Antrag – eigentlich ein ganz harmloser, ja selbstverständlicher Satz, der sich übrigens wortwörtlich so auch im Grundsatzprogramm der AfD wiederfindet, aber angesichts der Unverschämtheiten, die wir uns dazu von der früheren Integrationsbeauftragten anhören mussten, doch ein recht erfreuliches Bekenntnis. „Deutschland“, „Nation“ und „Kultur“ in einem Satz, und die SPD trägt das mit. Dazu, meine Damen und Herren, muss man Sie ja schon fast beglückwünschen. ({1}) Liest man den Antrag weiter, dann verflüchtigt sich dieser erste positive Eindruck sehr schnell: nichts Konkretes, oberflächliche Banalitäten, vage Absichtserklärungen und Allgemeinplätze. Aber dann kommt ein Satz, der aufhorchen lässt. Ich zitiere: Die ländlichen Räume … bieten vielfältige Chancen und Möglichkeiten … für die Kultur- und Kreativwirtschaft. ({2}) Dieser Satz, meine Damen und Herren, verrät einiges über Ihr Kulturverständnis, das offenbar ein sehr ökonomisches ist. Die Angestellten in dieser vom Steuerzahler übrigens hochsubventionierten Kultur- und Kreativwirtschaft sind die sogenannten Kulturschaffenden. „Kulturschaffende“, meine Damen und Herren, was für ein dämliches Wort! ({3}) Kultur, meine Damen und Herren, muss man nicht schaffen, und schon gar nicht muss der Staat die Kultur schaffen, Kultur schafft sich selbst. ({4}) Und echte Kultur hat ihren Zweck auch in sich selbst – genauso wie ein Kunstwerk auch seinen Zweck immer in sich selbst hat. Lesen Sie das nach, zum Beispiel bei dem berühmten Ästhetiker Karl Philipp Moritz – falls Ihnen das was sagt –; da können Sie noch etwas lernen. ({5}) Dieses Wort „Kulturschaffende“ hat übrigens eine interessante Geschichte: Es tauchte in den 20er-Jahren auf und erlebte eine Renaissance dann in der NS-Diktatur und auch in der DDR. Seine Verwendung war in diesen totalitären Systemen immer verbunden mit der Festlegung bestimmter politisch-gesellschaftlicher Aufgaben der Kulturschaffenden. Meine Damen und Herren, seien Sie doch wenigstens ehrlich: Es geht Ihnen vorrangig doch gar nicht um die Bewahrung der bestehenden, über Jahrhunderte gewachsenen dörflich-ländlichen Kultur, ({6}) sondern um die Befriedigung der Interessen einer ganz bestimmten Klientel, die Kultur aus den urbanen Räumen nun aufs Land quasi exportieren soll. ({7}) Dazu nur ein Beispiel – weitere ließen sich leicht finden –: Unter Punkt 17 fordern Sie – ich zitiere –, die Herausforderung der Nachhaltigkeit für den Kulturbereich herauszustellen sowie die Bedingungen für Integration und Inklusion in der Kultur voranzubringen. ({8}) Diese Signalwörter, die müssen dann die Kulturschaffenden in ihre Anträge schreiben, wenn sie gefördert werden wollen: „Nachhaltigkeit“, „Integration“, „Inklusion“. ({9}) „Teilhabe“ gehört natürlich auch noch dazu – auch so ein neumodisches Signalwort. Meine Damen und Herren, wir als AfD-Fraktion lehnen es ab, unter dem Vorwand der Kulturförderung die Menschen in den ländlichen Räumen umerziehen zu wollen. ({10}) Aber nun genug der Kritik; es gibt auch einige positive Punkte in Ihrem Antrag. Dass Sie den Denkmalschutz stärken wollen, alte Orgeln in Dorfkirchen sichern wollen, das finden wir sehr gut. ({11}) Eine Förderung der Hochkultur – Musik- und Literaturabende, Ausstellungen, Theater auf dem Land –, auch das unterstützen wir gerne, nicht aber, weil das Land etwa defizitär wäre, sondern weil Hochkultur und ländlicher Raum überhaupt keine Gegensätze sind, sondern schon seit dem Mittelalter sehr gut zusammenpassen und zusammengehören. ({12}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch ein Wort des Dichters Heinrich Böll zitieren. Er sagte mal: Je älter ich werde, desto bewußter werde ich regionalistisch oder fast provinziell. Ich glaube, daß die Welt überall die ganze Welt ist, nicht im Sinne von heil, sondern im Sinne von komplett, daß Sie also in jedem brandenburgischen … in jedem rheinischen Dorf die ganze Welt finden. Ich danke Ihnen. ({13})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Martin Rabanus, SPD-Fraktion. ({0})

Martin Rabanus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Besuchertribünen! Für uns als SPD ist dieser Antrag ein Meilenstein auf dem Weg zur Umsetzung des Koalitionsvertrages, auf den wir uns vor ziemlich genau einem Jahr verständigt haben; denn er markiert ein neues Verständnis in der Bundeskulturpolitik, ein neues Verständnis, das die Förderung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land im Kulturbereich insgesamt in den Blick nimmt, im Gegensatz zu früher. Bundeskulturpolitik – das ist auch vollkommen unstreitig – ist natürlich nach wie vor Hauptstadtkulturpolitik. Wir stehen dazu als Koalition – überhaupt gar keine Frage. Aber ich glaube auch, dass wir in der Hauptstadt viele kulturpolitische Großeinrichtungen haben. Deswegen ist es sinnvoll und richtig, den Blick jetzt insgesamt zu weiten auf die gesamte Gesellschaft – die gesamte Gesellschaft –, die wir kulturpolitisch erreichen wollen. In diesem Sinne verstehen wir Kulturpolitik auch als Gesellschaftspolitik – ja, natürlich. Herr Frömming sagte, es seien Signalworte. Ja, natürlich geht es bei der Kultur um Werte und Grundhaltungen, natürlich geht es weit darüber hinaus, dass wir Kreativen, Kulturschaffenden sozusagen als Selbstzweck eine Bühne finanzieren wollen oder ein Betätigungsfeld welcher Art auch immer. Es geht darum, dass Kunst und Kultur Ausdruck von menschlichem Dasein sind, dass sie bereichern durch Vielfalt, natürlich, dass sie Austausch bedeuten, natürlich auch Integration, Verständigung, Anlass zum Nachdenken: Zielbestimmungen zu finden und gesellschaftlich zu konstituieren. Kultur ist aus Sicht der SPD tatsächlich auch ein öffentliches Gut, zu dem alle, unabhängig vom Geldbeutel, auch Zugang haben müssen – das alte Motto von Hilmar Hoffmann „Kultur für alle“, was wir ja auch erweitern zu „Kultur von allen“. Es gilt also, diese Teilhabe auch sicherzustellen. Wir setzen uns für eine lebendige Kulturlandschaft ein. In den ländlichen Räumen fördern Kultur und das reiche materielle und immaterielle Kulturerbe den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Identität, die Lebensqualität. Das ist unser Verständnis einer Kulturpolitik. Damit unterscheiden wir uns sehr von Populisten, die wir hier im Haus ja auch haben; denn Populisten haben eher Angst vor einer offenen Kultur, haben eher Angst vor einladender Kulturpolitik: weil sie Toleranz vermittelt, weil sie Weltoffenheit fördert, weil sie Zuversicht und Optimismus gibt, weil sie Orientierung gibt, weil sie Teilhabe und Demokratie stärkt. Das ist Aufgabe von Kulturpolitik, ({0}) und das wollen Populisten nicht – das wissen wir –, Populisten wollen verunsicherte und verängstigte Menschen, sie lehnen deswegen eine offene Kultur ab, sie diffamieren sie als „ideologisch“ oder „versifft“ oder wie auch immer. Ich will hier für die SPD, aber, ich denke, auch für die Koalition insgesamt sagen: Das hat mit unserem Kulturverständnis nichts zu tun. ({1}) Wir wollen natürlich mit diesem Antrag – Frau Kollegin Motschmann hat darauf hingewiesen – die Reichhaltigkeit dessen aufzeigen, was es gibt, aber auch die Reichhaltigkeit dessen, was noch zu tun ist. Es ist ja nicht so, dass wir ein, zwei Pünktchen aufgeschrieben haben, sondern in insgesamt 34 Punkten – und die wären wahrscheinlich auch noch zu ergänzen – gehen wir auf die unterschiedlichen Facetten von dem ein, was wir unter kultureller Grundversorgung verstehen: einen Teil der Daseinsvorsorge. Wir wollen, dass Bund, Länder und Gemeinden stärker vernetzt und kooperativ arbeiten, einen kooperativen Kulturföderalismus entwickeln, auch in stärkerer Kommunikation jetzt mit der jüngst gegründeten Kulturministerkonferenz der Länder. Wir wollen das „Zukunftsprogramm Kino“ auf den Weg bringen. Wir wollen Künstlerinnen und Künstler direkt stärker fördern. Wir wollen die kulturelle Bildung voranbringen. – Um nur einige Stichworte noch mal zu nennen. Zum Schluss. Wir wollen die kulturellen Schätze der Regionen weiter fördern und stärken. Wir wollen dadurch die Lebensqualität auch außerhalb der Metropolen verbessern. Wir danken den vielen Kreativen, die längst in der Region daran arbeiten, diese Vielfalt und bürgerschaftliches Engagement in der Laienkultur auch voranzubringen. Das wollen wir stärken, das werden wir stärken; das ist zugleich Arbeitsauftrag für die Koalition in den nächsten beiden Jahren. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat als Nächster der Kollege Hartmut ­Ebbing, FDP-Fraktion. ({0})

Hartmut Ebbing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004706, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeskulturförderung legte in den vergangenen 20 Jahren besonderen Fokus auf die prestigeträchtigen urbanen Projekte. Der ländliche Raum kam hier oft zu kurz. Insofern begrüßen wir es, dass die Koalition das Thema „Kultur im ländlichen Raum“ als eigenständige Thematik identifiziert hat. Gerade im ländlichen Raum ist die kulturelle Bindung der Bürger zu ihren Gemeinden besonders eng und fördert nicht nur regionale Identitäten, sondern ist auch essenziell für den sozialen Zusammenhalt. Daher begrüßen wir die Grundthematik des Antrags der Koalition, die Kultur im ländlichen Raum gezielter zu fördern – und zu wollen vor allen Dingen. ({0}) Liest man sich aber den siebenseitigen und – Herr Rabanus hat es erwähnt – mit 34 Einzelforderungen versehenen Antrag durch, wird man erinnert an eine kunterbunte Patchworkdecke. Die FDP ist ja bekannt für die Tolerierung bunter Lebensbeziehungen, aber ein strukturelles Problem lösen wir nicht mit einem Flickenteppich. ({1}) Die Koalition hat sich bei ihrem Antrag – vielleicht noch nicht – die Mühe gemacht, nach den Ursachen der Probleme im ländlichen Raum zu suchen, und sie geht an mögliche Lösungen meines Erachtens nur halbherzig heran. Wie immer greift die Koalition auf das altbewährte Mittel zurück, den Status quo mithilfe von viel Geld zu bewahren und die eigentlichen Probleme zu vertagen. ({2}) Einige Beispiele hierzu: In Forderung 3 verlangt die Koalition, „ein Konzept für ein Zukunftsprogramm Kino vorzulegen“. Der Fokus liegt hier allerdings einzig und allein auf der Bestandssicherung und den Investitionen in Ausstattung und Technik. Keine Gedanken hat man sich gemacht, weshalb die Kinos im ländlichen Raum weniger Menschen anziehen als zum Beispiel in Städten ({3}) und wie man die Kinosäle gegenüber Netflix, Amazon und Co vielleicht wieder attraktiver machen könnte. Ist das Kino von heute nicht der CD-Player von gestern? ({4}) Das könnte man ja mal überlegen. ({5}) In Forderung 13 verlangt die Koalition die stärkere Förderung von ländlichen Bibliotheken aufgrund ihrer zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung. Schrammt dies nicht ein wenig an der Realität vorbei? ({6}) Gerade im ländlichen Raum wäre es viel wichtiger, ergänzend zum analogen Angebot innovative und vor allen Dingen digitale Konzepte zu entwickeln, ({7}) mit deren Hilfe die Landbevölkerung online auf ein breiteres Angebot von Büchern und Zeitschriften zugreifen kann. ({8}) Mehr Gigabits in die Breitbandkabel, das ist, glaube ich, das, was wir vornehmlich im ländlichen Raum machen müssen. In Forderung 14 verlangt die Koalition die Stärkung der sogenannten dritten Orte zur Förderung von Soziokultur, Industriekultur und Kulturtourismus, ohne jedoch irgendwelche konkreten Vorschläge zu unterbreiten. Wie wäre es denn, an dieser Stelle den Blick nach Großbritannien zu wagen? Der National Trust könnte als Vorbild für eine optimale Verschmelzung eines breiten kulturellen Angebots im ländlichen Raum mit der Bewahrung unseres kulturellen Erbes und starken wirtschaftlichen Engagements dienen. ({9}) Um das zu erreichen, ist die Forderung 4 Ihres Antrages nach einer Entbürokratisierung und Modernisierung der Antragsverfahren meines Erachtens essenziell. Doch frage ich mich hier auch, warum die Erkenntnis erst dieses Jahr kommt. Die Entbürokratisierung und Digitalisierung betrifft eben nicht nur die Bezirksämter in Großstädten, sondern genauso die zahllosen und vor allem heillos unübersichtlichen Antragsverfahren auf kulturelle Förderung im ländlichen Raum. ({10}) Es gibt heute zahlreiche Kulturschaffende – Herr Präsident, ich bin gleich fertig –, die Fördermittel teilweise gar nicht mehr in Anspruch nehmen und beantragen, weil der Aufwand hierfür schlicht und einfach zu groß ist. Die Verwaltung sollte für den Bürger da sein und nicht umgekehrt. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächste Rednerin: die Kollegin Brigitte Freihold, Fraktion Die Linke. ({0})

Brigitte Freihold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004717, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Euphorisch imaginiert die Koalition blühende Kulturlandschaften. Gleich 17-mal begrüßt sie in ihrem Antrag ihre eigenen Ideen. ({0}) Das monotone Eigenlob bleibt im Reich der frommen Wünsche. Wo es verbindlich werden muss, wollen Sie lediglich prüfen. Sie haben doch die parlamentarische Mehrheit, ({1}) um die Hindernisse beim Zugang zur kulturellen Bildung abzuschaffen. Tun Sie es endlich! ({2}) Völlig unglaubwürdig werden Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und SPD, wenn Sie die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse als „Leitprinzipien Deutschlands“ bezeichnen. Die von Ihnen gebildete Regierungskoalition sieht das ganz anders. Ich zitiere aus der Antwort auf meine diesbezügliche Kleine Anfrage: Es sollen also nicht überall identische Bedingungen hergestellt werden, Leitbild ist vielmehr … Wettbewerb der Länder untereinander … ({3}) Die Große Koalition entdeckt offenbar die ländlichen Räume auf ihrer Landkarte nur vor Landtagswahlen. Eine solche Kulturkonjunktur ist allerdings nicht nachhaltig. ({4}) Die Menschen in den ländlichen Räumen haben immer Anspruch auf kulturelle Teilhabe und Anerkennung ihrer Leistungen. Es gibt kulturelle Akteure, die sich dort engagieren, wo keine etablierten Infrastrukturen oder Einrichtungen vorhanden sind. Das Spektrum reicht von Künstlerinnen und Künstlern über mobile Theatergruppen bis zu Menschen, die barrierefrei kulturelle Bildungsangebote organisieren. Es sind Akteure der Zivilgesellschaft, die kreative Ideen entwickeln, die mit kulturellen Mitteln ihre Region und die lokale Gemeinschaft gestalten. ({5}) Solche kulturellen Akteure sind institutionell oft nicht eingebunden, bleiben von Förderung oft ausgeschlossen. Umso wichtiger ist es, diese Menschen und die von ihnen geschaffenen Strukturen zu stärken, auszubauen und langfristig finanziell abzusichern. ({6}) Wir brauchen deshalb einen Bürgerkulturfonds für die engagierten Akteure, einen Bürgerkulturfonds zur Stärkung der kulturellen Teilhabe in ländlichen Räumen. Für diese engagierten Künstlerinnen und Künstler sowie Bürgerinnen und Bürger muss es mehr geben als ein paar Häppchen aus dem Projektfördertopf. Sie brauchen eine dauerhafte Förderung ihrer kulturellen Leistungen und gesellschaftlichen Bedeutung. ({7}) Der Beitrag der Kulturakteure für gesellschaftlichen Dialog und neue Perspektiven sozialen Zusammenhalts verdient jede Form von Anerkennung. Wir müssen dieses kulturelle Engagement sichern, indem wir soziale Sicherheit schaffen. Das wäre ein Beitrag zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in dieser Republik. Und: Wir würden die ländlichen Räume nicht den Rechtspopulisten überlassen. Deshalb muss das Staatsziel Kultur im Grundgesetz verankert werden. In Zeiten von Sparhaushalten, wo die Kultur als freiwillige Aufgabe oft hintenansteht, muss im Grundgesetz die Möglichkeit eines Zusammenwirkens von Bund, Ländern und Kommunen zum Schutz und zur Förderung der Kultur festgeschrieben werden. Das Kooperationsverbot gehört abgeschafft. Danke schön. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Erhard Grundl. ({0})

Erhard Grundl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004733, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Man muss nicht gleich Jean-Jacques Rousseau bemühen oder im Jubiläumsjahr des Woodstock-Festivals Canned Heat und ihr „Going up the country“, um festzustellen, dass es sich auf dem Land gut leben lässt. ({0}) Wie die größere Hälfte der Bevölkerung, der Menschen in Deutschland lebe auch ich dort, und das tue ich sehr gern; denn es gehört für mich zur Lebensqualität, den Horizont zu sehen. Trotzdem: Es wird leerer auf dem Land, wie eine Bertelsmann-Studie vom April letzten Jahres zeigt. Der Trend in die Stadt hat zur Folge, dass vielerorts die Infrastruktur wegbricht. Vielerorts schlägt auch eine verfehlte Ortsentwicklungspolitik den letzten Sargnagel ein. Sparkassen, Bäckereien, die heute schon oft zitierten Schwimmbäder, Bibliotheken und die Kinos in den ländlichen Regionen haben einen schweren Stand. Darauf reagieren die Fraktionen von CDU/CSU und SPD mit dem vorliegenden Antrag. Sie betonen, dass „der Erhalt des kulturellen Lebens in der Fläche von nationaler Bedeutung“ sei, zumal für eine Kulturnation. ({1}) Kunst und Kultur bieten eine geistige Heimat, vermitteln – ich zitiere weiter – „Vertrautheit“ und „Zusammengehörigkeit“. ({2}) Sie weisen auf die guten Seiten ländlicher Räume hin, den günstigen Wohnraum, niedrige Lebenshaltungskosten, Bräuche, Traditionen und viel Natur. So weit, so gut. ({3}) Es gibt einige Start-ups, die davon profitieren und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zudem den Freizeitwert ländlicher Räume genießen oder Künstler wie etwa Fritz Koenig, Schöpfer der Skulptur „The Sphere“, die die Anschläge auf die Twin Towers, Nine-Eleven wie durch ein Wunder überstanden hat. Sein Hof auf dem Ganslberg bei Landshut war ein künstlerischer Kosmos aus Weltkunst und Landleben, aus dem er seine kreative Kraft geschöpft hat. Dem vorliegenden Antrag fehlt aber etwas Entscheidendes. Es fehlt ihm die glasklare Ursachenbenennung für das, was wir jetzt als Programm auflegen sollten. ({4}) Der Antrag begnügt sich damit, die Existenz vorhandener Bundesinitiativen für ländliche Räume zu loben, und macht sich nicht die Mühe, die unterschiedlichen Bedarfslagen und Chancen zu analysieren und Lösungsansätze zu formulieren. ({5}) Dabei sind ländliche Räume genauso unterschiedlich wie Stadträume. ({6}) Darauf haben Ihre vorhandenen Programme ganz augenscheinlich keine Antworten geliefert. Eine Kernaussage in Ihrem Antrag lautet: Kultur fördert Tourismus. Eine nachhaltige Strategie ist das freilich nicht, zumal die ökologischen Folgen des Tourismus nicht in Ihre Gesamtüberlegungen einbezogen worden sind. ({7}) Das Beispiel zeigt vor allem eines: Union und SPD begreifen Kulturförderung in weiten Teilen lediglich als verkappte Wirtschaftsförderung. Und das ist uns zu wenig. ({8}) Wir Grüne wollen Kulturförderung ganz bestimmt nicht nur, um das zu fördern, was Touristen anzieht. ({9}) Frau Staatsministerin Grütters hat das neulich in Dresden eigentlich ganz richtig gesagt, nämlich dass Kunst nicht gefallen muss und nicht dienen soll. Über diese Formulierung habe ich mich sehr gefreut. Ich kenne sie auch. Sie stammt aus der Brüsseler Erklärung für die Freiheit der Kunst. Aber das Bekenntnis zur Freiheit der Kunst ist nicht wohlfeil. Es nimmt uns auch in die Pflicht, nämlich in die Pflicht, der Versuchung zu widerstehen, Kunst und Kultur zum Vehikel für alles und jedes zu machen. ({10}) Auffällig ist auch der Verweis auf das bürgerschaftliche und ehrenamtliche Engagement. Ja, es ist wunderbar, sich zu engagieren. Ich kann viele Beispiele aus meiner Region nennen: das Alte Spital in Viechtach, das Café Holler in Deggendorf. Solche Initiativen gibt es zu Tausenden in ganz Deutschland. Sie bereichern ganze Regionen und jeden Einzelnen, der ihnen begegnet. Dieses Engagement hat sicherlich etwas mit Berufung zu tun. ({11}) Aber es basiert auch in viel zu großem Maße auf Selbstausbeutung. Kulturförderung darf sich nicht ausruhen und sich selbst auf die Schultern klopfen, so wie es im vorliegenden Antrag der Fall ist. ({12}) Jetzt zu fordern, dass die bürokratischen Hürden niedriger werden sollen, ist wirklich dürftig. Das hätte doch schon längst passieren können. Diese Koalition ist eigentlich schon lange genug in der Regierung. ({13}) Gut, immerhin werden Sie nach all dem entlarvenden Eigenlob ein bisschen konkreter. Sie fordern ein kofinanziertes Spielstättenförderprogramm, ein Zukunftsprogramm Kino. Sie wollen den Zugang zur Kultur durch mobile Angebote für den ländlichen Raum erweitern und dritte Räume wie Bibliotheken, soziokulturelle Zentren, Galerien, Kunstinitiativen sowie Sportstätten als Orte der Kultur schaffen bzw. stärken. ({14}) Das hört sich gut an, sogar sehr gut. Stutzig macht dann allerdings die Formulierung, mit der die Forderungen an die Bundesregierung eingeleitet werden. Dies alles soll die Bundesregierung nämlich „innerhalb des bestehenden Finanzrahmens“ tun. ({15}) Mit anderen Worten: Die Bundesregierung soll Neues schaffen, Vorhandenes erweitern, stärken, erhalten und forschen. Nur mehr kosten darf es nicht. ({16}) Ich glaube nicht, dass das funktionieren wird. ({17}) Bei Licht betrachtet müssen wir sagen: Dieser Antrag führt uns ungewollt einmal mehr die Versäumnisse dieser Koalition vor Augen. ({18}) Stärkung der Kultur im ländlichen Raum geht nicht ohne eine deutliche Stärkung der Infrastruktur im ländlichen Raum. Denn was bringt das schönste Theater in der nächsten Stadt, wenn ich von meinem Dorf aus keinen Bus nehmen kann, der mich dorthin bringt? ({19}) Infrastruktur ist die Voraussetzung dafür, dass sich kreative Start-ups auch im ländlichen Raum ein Arbeitsumfeld aufbauen können. Das gilt auch für Künstlerinnen und Künstler; denn Kultur braucht den Austausch mit einem schöpferisch tätigen Umfeld. Zudem muss klar sein: Auch ein überzeugendes Programm wie etwa TRAFO produziert nicht einfach über Nacht kulturaffine Museumsbesucherinnen und ‑besucher. Wege in die Kultur müssen früh gelegt werden durch mehr niedrigschwellige Kulturangebote, Proberäume und Ateliers, durch die Stärkung soziokultureller Zentren und letztlich vielleicht ganz einfach auch dadurch, dass es nachts auch einen Bus gibt, der mich ins Kino oder in den Klub bringt und danach wieder nach Hause. Ich danke Ihnen. ({20})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin Melanie Bernstein. ({0})

Melanie Bernstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004670, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland lebt mehr als die Hälfte der Menschen in Kleinstädten oder auf dem Land. Da dies ja nach unserem Wahlsystem auch für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gilt, bin ich ganz zuversichtlich, was die Aufmerksamkeit für unseren vorliegenden Antrag angeht. Heute geht es nämlich durchaus um mehr als um die Umsetzung eines Vorhabens aus dem Koalitionsvertrag. Heute geht es um sehr zentrale Fragen: Was ist uns die Lebensqualität von rund 45 Millionen Menschen wert? Was bedeutet uns unsere kulturelle Identität? Wie bewahren wir Tradition, Brauchtum und Geschichte für kommende Generationen? Meine Damen und Herren, der Strukturwandel in unserem Land ist eine Tatsache, die wir weder grundsätzlich verhindern noch ignorieren können. Fakt ist: Großstädte und ihr Umland wachsen; dünnbesiedelte Regionen abseits der Ballungsräume verlieren an Bevölkerung. Das hat natürlich weitreichende Konsequenzen für das Leben der Menschen. Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen. Wenn ich mich an den Orten meiner Kindheit so umschaue, stelle ich fest: Hier hat ein kleines Kino geschlossen, dort ist ein Dorfgasthof schlicht nicht mehr da, und Schützenverein und Feuerwehr gibt es nur, weil sich – noch – genügend Enthusiasten finden, die sich ehrenamtlich engagieren. Es ist erheblich schwieriger geworden, ohne Auto von A nach B zu kommen. Über Letzteres sollten auch einmal die Befürworter von Dieselfahrverboten genauer nachdenken. Aber das ist heute nicht unser Thema. ({0}) Solch ein Fehlen elementarer Infrastruktur, ja von Lebensqualität verstärkt einen Prozess, den wir nicht wollen können: Noch mehr junge Leute ziehen weg, mit dramatischen Folgen nicht nur für die lokale Wirtschaft. Der Erhalt von Kulturdenkmälern, der Tourismus und der Naturschutz stehen vor dramatischen Herausforderungen, seit langem schon. Wie Sie sehen, geht es hier also um viel mehr als nur um Geld für eine Dorfbibliothek oder den lokalen Heimatverein. Es geht darum, wie wir in Zukunft leben wollen. ({1}) Unser Antrag verfolgt daher im Wesentlichen drei zentrale Anliegen: Erstens. Wie können wir gewährleisten, dass mehr Menschen auf dem Land an kulturellen Angeboten teilhaben können? Das ist nicht nur eine Frage der Regionalförderung, sondern vor allem eine Frage gleichwertiger Lebensverhältnisse. Ich möchte, dass auch meine Kinder, die Menschen in meinem Wahlkreis – und überall in Deutschland – die Chance haben, kulturelle Angebote zu genießen, ohne dass sie dafür nach Hamburg, Berlin oder München fahren müssen. ({2}) Zweitens. Kultur ist mehr als Theater oder Kunstausstellung. Dazu gehören ebenso Sportvereine, kleine Kinos, Bibliotheken und lokale Gastronomie. Viele Angebote, eigentlich die meisten, würde es ohne ehrenamtlich engagierte Menschen gar nicht mehr geben. Wir reden also über die Stärkung des Ehrenamtes. Das heißt aber nicht, dass der Staat den Leuten vorschreiben soll, wie und wo sie sich zu engagieren haben. Wie in jedem Feld der Politik ist es doch unsere Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, Rahmenbedingungen, die Menschen zu dieser freiwilligen Arbeit motivieren, ein Umfeld zu schaffen, das zu nachhaltigem Erfolg beiträgt. ({3}) Zu Hause engagiere ich mich seit vielen Jahren für das Kleine Theater in Wahlstedt, gemeinsam mit über 20 anderen Ehrenamtlichen. Es gelingt uns regelmäßig, mit hochwertigen Inszenierungen 400 Plätze zu füllen. Darauf sind wir natürlich sehr stolz. Trotzdem fehlt uns ebenso regelmäßig Geld für dringend notwendige Renovierungen und Instandhaltungen. Die damit verbundenen bürokratischen Hürden zu überwinden, ist an sich ein Vollzeitjob. Das führt mich zu meinem dritten Punkt: Bürokratieabbau. Sprechen Sie doch einmal mit ehrenamtlich Engagierten in Ihren Wahlkreisen über die gestiegenen Anforderungen an Technik, an Brandschutz, durch Baurecht, an Lärmschutz oder die Hürden bei der Beantragung von Fördermitteln. So gut bereits existierende Initiativen wie TRAFO oder LandKULTUR sind, so besteht erheblicher Bedarf an Vereinfachung und Entwirrung bürokratischer Hindernisse. Hier ist noch jede Menge zu tun, und es ist unsere Aufgabe, uns darum zu kümmern. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Antrag löst natürlich nicht alle Probleme, die ich eben angesprochen habe. Aber er ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wir sind uns bewusst, dass kulturelle Teilhabe nicht nur zur Lebensgerechtigkeit beiträgt – sie fördert regionale Identität, stärkt die Bindung der Menschen an ihre Region, hilft der lokalen Wirtschaft und auch dem Tourismus. Und sie trägt dazu bei, dass die Menschen in den Großstädten ihren Kindern auch künftig zeigen können, dass das Leben auf dem Land schön und auch kulturell attraktiv sein kann. Kurz gesagt: Wir sorgen dafür, dass unsere Heimat liebens- und lebenswert bleibt. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Martin Renner. ({0})

Martin Erwin Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004862, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt war ich aber doch sehr erstaunt, als ich diesen Antrag gelesen habe. Da steht doch tatsächlich wörtlich drin: Deutschland ist eine Kulturnation. Das steht da drin. Unser kultureller Reichtum ist einzigartig … Das steht da auch drin. Brauchtum und Traditionen, unser reiches immaterielles und materielles Kulturerbe sind wesentliche Teile unserer kulturellen Identität. ({0}) Gut, gerade wir von der Opposition finden das natürlich auch. Aber Jesses Maria und Josef! ({1}) Ich bin ja so schockiert! Es ist doch einfach so ausgrenzend, solche Begriffe zu verwenden, genauso ausgrenzend wie der Begriff „christliches Abendland“, den der Kardinal Marx nicht mehr als Begrifflichkeit verwendet wissen will. Seit über einem Jahr höre ich hier im Haus unentwegt solche Begriffe wie „Cultural Mainstreaming“, solche Begriffe wie „kulturelle Diversität“, die wir in Deutschland und in der EU zu fördern und zu betreiben hätten. Nun, ich bin als Vertreter der Opposition jetzt versöhnlich gestimmt, hoffe allerdings, dass ich wegen des Zitierens nicht irgendwann wegen des Nennens von Begriffen wie „Kulturerbe, Identität und Heimat“ in irgendeinem Prüfbericht namentlich genannt werde. ({2}) – Fühlt sich hier irgendjemand angesprochen? Sei es drum: Wir begrüßen grundsätzlich eine sinnvolle Förderung von Kultur. Wir sehen auch den Bedarf, Kunst und Kultur im ländlichen Raum zu erhalten und auch zu fördern, wo dies sinnvoll erscheint. Allerdings: Kunst und Kultur müssen sich immer frei und ohne ideologische Fesselung entfalten können. ({3}) Ja, Kunst und Kultur darf, soll und muss geradezu die Antithese zu Mainstream und zum politischen Establish­ment sein. ({4}) Wir teilen die Sorge der Kultusministerkonferenz, dass die schleichende Aushöhlung der föderalen Verfassungsordnung, die die Kulturhoheit der Länder garantiert, hier vorangetrieben werden soll: durch ein anmaßendes Hineinregieren-Wollen des Bundes in bislang noch weitgehend autonome Politikbereiche. Wir sehen die Gefahr, dass durch gezielte ideologiebasierte Bundeszuwendungen Abhängigkeiten entstehen, die wir im Bereich der Kunst und der Kultur nicht haben wollen. ({5}) Über die Jahre wird so ein angepasstes, politisch korrektes kulturelles Justemilieu entstehen, dessen nachhaltiges wirtschaftliches Überleben von den richtigen politisch-administrativen Kontakten und den dargebrachten Fördertöpfen des Bundes abhängig ist. Das aber braucht niemand, weder in der Stadt noch auf dem Land ({6}) und am wenigsten eine freiheitlich verfasste Demokratie. Selbstverständlich gibt es auch im ländlichen Raum förderungswürdige Buchhändler, Bibliotheken, Kinobetreiber, Künstler usw. Es fällt mir aber schwer, hier das vorrangige nationale Interesse des Bundes zu erkennen. Ein bisschen sieht der ganze Antrag aus, als wenn die Mitarbeiter vom Bundes-Horsti im Heimatministerium, vom sehr geehrten Herrn Seehofer, hier einen Arbeitsnachweis hätten erbringen wollen. Wir wehren uns gegen diese Versuche, die Kulturszene zuerst der bundesweiten Koordination, dann der flächendeckenden Lenkung und am Schluss der Vereinheitlichung zu unterwerfen. ({7}) Sie sind doch sonst auch so für Vielfalt. Hier ist es einmal ausnahmsweise so, dass Vielfalt nicht Einfalt ist. Danke schön. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Katrin Budde. ({0})

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland kommt aus der Kleinstaaterei. Noch vor 200 Jahren galt: jedem Fürsten sein Schloss, sein Theater, sein Museum, jeder Fürstin ihren Sommerwohnsitz, einen Park, einen Garten. Und mit der Industrialisierung und der Entwicklung der Landwirtschaft kamen dann Gutshäuser, Parks, Stiftungen, Industriebauten, die heute Denkmale sind, dazu. Nicht zu vergessen: die reichhaltige Landschaft an Kirchen und Klöstern aus allen Epochen. Dieser Reichtum an authentischen Orten, an Kultur findet sich heute überall, nicht nur in den heutigen Ballungszentren, sondern eben auch gerade in den kleinen und mittleren Städten, die ja früher Metropolen waren – aber eben früher –, und auch in vergessenen Winkeln des Landes, in den sogenannten ländlichen Räumen, wie wir heute dazu sagen. Dazu kommt eine Vielfalt an Tradition, an Brauchtum, kommen bedeutende Persönlichkeiten aus Musik, Literatur, Kunst, der Malerei, der Architektur, der Natur- und Geisteswissenschaften, des Theaters, der Vergangenheit und der Gegenwart. Deutschland kann, Deutschland könnte aus dem Vollen schöpfen. Aber tun wir das? Ich würde sagen: mitnichten. Gerade in den ländlichen Räumen liegt dieser kulturelle Reichtum oft brach, wird nur zu Bruchteilen genutzt und verfällt. Dabei ist es so wichtig, diese Orte sichtbar zu machen: für die Menschen in der Region selbst, für Interessierte aus Deutschland, aber auch der ganzen Welt. Dabei ist es so wichtig, Kultur und Tradition zu haben, sich seiner Herkunft bewusst zu sein, um auf diesem Fundament auch neue Ideen für die Zukunft zu entwickeln. Gerade heute sage ich – auch in Anbetracht der Gedenkstunde und der Ausstellung, die wir eröffnet haben –: Auch Erinnerungskultur gehört in die ländlichen Räume – viel stärker noch. Denn der Nationalsozialismus hat überall gewirkt. Es wurde überall weggesehen. Es wurde überall geduldet, und überall fanden die Gräuel statt. Auch das gehört in die ländlichen Räume. ({0}) Was ist also zu tun? Wir brauchen erstens eine finanzielle Unterstützung der Kommunen bei der Erhaltung der kulturellen Infrastruktur. Das ist aber nicht zuvorderst Aufgabe des Bundes, sondern nur auch Aufgabe des Bundes. Wir brauchen die Begleitung der Entwicklung und die Um- und Neunutzung von Kulturorten, sogenannte dritte Orte. Wir brauchen die Entwicklung neuer Mobilitätskonzepte. Ja, Herr Grundl, das stimmt: Diese brauchen wir ganz, ganz dringend. Denn was nutzen uns diese Perlen von alter und neuer Kultur, wenn wir sie nicht erreichen können? Natürlich brauchen wir das, und vielleicht sehen wir manchmal über die Möglichkeiten hinweg, die es gibt. Ehemalige Eisenbahnen, die früher die Menschen zur Arbeit gebracht haben, verbinden heute ganz oft touristische Orte. Nutzen wir sie neu! Bauen wir sie auch in die Regionalisierungsmittel ein! Seien wir auch als Bund ein wenig mehr verantwortungsvoll! Bauen wir so etwas in eine neue nationale Tourismusstrategie ein und geben damit gerade den Regionen im Strukturwandel, wo es um die Umnutzung solcher Dinge geht, eine Chance, dass sie neu entwickelt werden können! Ich glaube, dass das Thema Kulturtourismus, verbunden mit einer nationalen Tourismusstrategie, eine neue Chance und eine Säule des Strukturwandels in den Regionen, wo die Industrien weggebrochen sind oder gerade wegbrechen, sein kann. Nur eine wohlgemerkt, nicht alleine, aber eben auch dort. Wir brauchen die Anerkennung der Leistung der kulturellen Initiativen, die Sichtbarmachung ihrer Erfolge. Wir brauchen auch hier eine Kultur der Anerkennung. Wir brauchen die Förderung der Wissensweitergabe; auch das ist Kultur. In meiner Region, in Mansfeld-Südharz, wurde mehr als 800 Jahre Bergbau betrieben. Das hat die Menschen geprägt. Das ist sozusagen in ihren Genen verankert. Das ist ihre Tradition, ihre Kultur. Die heute Geborenen werden das nicht mehr kennenlernen. Sie wissen gar nicht, warum und wie diese Kultur entstanden ist. Sie leben es nicht mehr. Diese Weitergabe von Alt zu Jung – auch das ist ein Teil einer Kulturstrategie, die wir unterstützen müssen. Natürlich braucht das Ehrenamt Hauptamt. Gerade in den ländlichen Regionen, die vom demografischen Wandel betroffen sind, ist das sehr wichtig. Fazit: Was damals Glanz und Reichtum war, kostet heute Geld und Nerven und belastet die Haushalte. Das müssen wir ändern – gemeinsam. Auch der und die Letzte muss sich von dem Gedanken trennen, dass Kulturpolitik nur Stadtpolitik ist; die ländlichen Räume sollen einmal die Traditionspflege machen. Nein, das gehört zusammen. Kultur ist Daseinsvorsorge. Sie muss überall präsent, sichtbar, anfassbar und erreichbar sein. Sie darf nicht von der Wirtschaftskraft der Region abhängen. Und: Wir müssen Kulturförderung so ausgestalten, dass Tariflöhne nicht nur möglich, sondern unabdingbar sind. Denn dann bieten auch sie eine Chance im Strukturwandel. ({1}) Also: Kultur nicht mehr als freiwillige Aufgabe, sondern als Pflichtaufgabe aller Ebenen, und zwar nicht nur des Bundes, das wäre für heute richtig. Herr Grundl, auch in Sachsen-Anhalt, wo die Grünen regieren, ist es so, dass da alles im Rahmen des finanziell Möglichen gemacht wird, auch die Kulturpolitik. Das ist so, wenn man regiert. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Passend zum Thema „Kultur und Brauchtum“ begrüße ich herzlich die Karnevalisten, die auf der Tribüne Platz genommen haben. ({0}) Der nächste Redner für die FDP-Fraktion ist der Kollege Thomas Hacker. ({1})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Kinder, macht Neues!“ – so schrieb ein Komponist des 19. Jahrhunderts an seinen nur wenige Jahre älteren Schwiegervater. Neues, nicht nur in der Musik, hatte er schon vorher gemacht. Er fuhr in die Provinz, er baute in einer Stadt mit knapp 20 000 Einwohnern auf einem grünen Hügel nahe am Waldrand ein Opernhaus und begründete ein Festival, das auch heute noch Jahr für Jahr Tausende Menschen in meine Heimatstadt lockt. Kultur im ländlichen Raum ist vor Ort. Sie ist da, wo die Menschen leben – greifbar, erlebbar, nutzbar. Kultur im ländlichen Raum ist vielfältig, und das macht unser Land doch so reich. Es sind die zahllosen ehrenamtlichen Initiativen, die vielleicht nicht immer die ganz große Strahlkraft haben, die aber die Regionen bunt machen und die Menschen anlocken und begeistern und das Interesse für Literatur, für Theater und Musik erst wecken. ({0}) Kultur aus der Gesellschaft für die Gesellschaft – das wollen wir Freien Demokraten unterstützen. Kultur im ländlichen Raum ist Jung und Alt: Junge Menschen und auch ältere schaffen die breiten Angebote für jede Generation – vom Poetry Slam bis zum Heimatfilm, vom Volkstanz und Karneval bis zur Street-Art. Sie verbindet die Generationen, gibt Erfahrungen weiter und schafft Zusammenhalt. Es ist doch dieser Zusammenhalt, den wir in allen Teilen unseres Landes so dringend brauchen. ({1}) Kultur im ländlichen Raum braucht auch Freiheit. Nur dann können die Projekte wachsen und sich weiterentwickeln. Diese Freiheit hat auch etwas mit Unterstützung zu tun. Liebe Große Koalition, in 17 Punkten listen Sie auf, welche zahlreichen Unterstützungsmöglichkeiten es bereits gibt, welche Programme Sie schon aufgelegt haben, jeweils mit separat zuständigen Stellen und Ministerien – 17 Behörden multipliziert mit allen politischen Ebenen. In 17 weiteren Punkten erfahren wir, welche Projekte für die Zukunft geplant sind – mit weiteren Ansprechpartnern, mit weiteren Behörden. Meine Damen und Herren, konzentrieren wir uns doch auf das, was für die Kulturschaffenden im ländlichen Raum ganz besonders wichtig ist: den Ausbau der Infrastruktur, damit die Vorteile der Digitalisierung auch vor Ort anwendbar werden, ein einfaches, anwendbares Urheberrecht, das den ländlichen Raum unterstützt und die Interessen der Rechteinhaber schützt, einheitliche Ansprechpartner, damit die Informationen über Kulturförderung leicht zugänglich sind, und vor allem Planbarkeit und Nachhaltigkeit in der Förderung. Mittel müssen leicht und unbürokratisch zu beantragen sein, damit sie auch schnell wirken. ({2}) Damit stärken wir die Kulturinitiative im ländlichen Raum. Das schafft die Freiräume, damit Neues geschaffen werden kann – immer wieder, von Wagner bis Wacken und darüber hinaus. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hacker. – Der Kollege Friedrich hat mich gebeten, etwas nachzuholen, was er versäumt hat: Zum Thema „Kultur im ländlichen Raum“ begrüße ich jetzt das Dreigestirn aus Köln. ({0}) Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Simone Barrientos, Fraktion Die Linke, zu uns. ({1})

Simone Barrientos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004660, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die Gedenkstunde ist vorbei, und wir gehen zur Tagesordnung über – nicht alle, Gott sei Dank, dafür bin ich wirklich dankbar. Ich selbst schaffe es nämlich nicht. Mir sitzt die Gedenkstunde noch in den Knochen. Da es so ist, kann ich nicht anders, als zu sagen, dass wir ohne Kultur, und zwar ohne Kultur in ihrer Vielfalt, in ihrer Buntheit an allen Orten, in Schulen und Theatern, auf den Straßen und in den Klubs, in der Stadt und im ländlichen Raum, Gefahr laufen, unsere Kultur zu verlieren, ({0}) weil Kultur nur unsere Kultur ist, wenn sie Humanismus und Offenheit beinhaltet. Kultur rettet man nicht, indem man sie in einen nationalen Käfig sperrt. Damit zerstört man Kultur. Ich sagte schon, mir steckt die Gedenkstunde noch in den Knochen. Ich erlaube mir, ein Gedicht von Leander Sukov „Zur Befreiung Auschwitz’ durch die Rote Armee“ zu lesen: Und Tana Berghausen ward erschlagen vor den Augen auch ihrer Eltern im Viehwaggon in Auschwitz-Birkenau. Da war sie ein Jahr alt. Ruben Baer aber erstickte, als sich die Blausäure des Zyklon-B in sein Blut legte. Da war er fünf Jahre alt. Und Alma Rosé strich über die Saiten ihrer Violine im Mädchenorchester von Auschwitz, wie eine streicht voll Angst über das Antlitz ihrer Peiniger. Ruth Rewald aber mag gesprochen haben zu Janko, dem Jungen aus Mexico, als das Gift aus der Dessauer Zuckerfabrik ihr den Atem nahm. Und Sidonie Adlersburg mag geschrien haben nach ihren beiden Müttern und dem Vater, als sie ins Gas ging in Auschwitz. Da war sie zehn Jahre alt. Und die vierzig Kinder aus der Sankt Josephpflege missbraucht schon im Heim aus allen Heimen in die Wolken gestiegen in Auschwitz bis auf vier. Sie hinterließen ein Foto und Rauch. Und Anne Frank hinterließ ein Tagebuch, und sie starb nur Tage, bevor befreit wurde das Lager Bergen-Belsen Hanna Brady aber ließ einen Koffer zurück bei den Lebenden, als die Mörder sie ins Gas stießen. Da war sie dreizehn. Und mit ihnen sechs Millionen und mit sechs Millionen fünfzig Millionen vom Hafen des Lebens in das Meer des Todes. Ach, Esther Bejarano sing uns die Lieder. Ach, Hugo Höllenreiner schreib auf  das Grauen.  Ach, Soldaten der 322. Infanteriedivision der I. Ukrainischen Front Euch danken Siebentausendzweihundert und wir, denen Zahl mehr ist als Nummer. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Barrientos, herzlichen Dank. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Michael Frieser, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Frau Kollegin Barrientos, vielen Dank für die Rezitation. Die Rezitation hätte in die Gedenkstunde gepasst! Die Gedenkstunde ist sicherlich dem Tag geschuldet, etwas weniger der Diskussion über die Kultur in ländlichen Räumen. Manchmal hülfe es, wenn man das vorliegende Schriftstück, bei dessen Erstellen sich Menschen Mühe gegeben haben, etwas lesen könnte. Die heutige Diskussion handelte von der Pathologie der Kulturkritik. Wir durften lernen, dass Die Linke auch etwas vom Thema ländliche Räume und von Konjunktur versteht. Das war für mich ein neuer Aspekt. Dann bricht ein Satz hinein: „Kultur schafft sich selbst“, zu dem ich Sie, Herr Frömming, ehrlich fragen muss: Haben Sie den heute Morgen im Glückskeks gefunden? ({0}) Nein, Kultur schafft sich nicht selbst. ({1}) Kultur ist etwas, das Menschen schaffen, wozu man Räume braucht, die hergestellt werden müssen, wozu es Paradigmen braucht, an denen man sich entlanghangelt. Nein, Kultur kann sich nicht selbst schaffen. Kultur kann man bewahren, Kultur kann man befördern, und Kultur muss vor allem im ländlichen Raum so befördert werden, dass sie der Forderung nach gleichwertigen Lebensverhältnissen auch genügen kann. Das ist der Inhalt dieses Antrags, nicht mehr und nicht weniger. ({2}) Wenn Sie schon Anträge ablehnen wollen, kann ich damit leben, kann die Koalition damit leben. Aber dann machen Sie es nicht auf der dünnen Eisschicht einer Form von Kulturkritik, die meines Erachtens überhaupt keinen Untergrund hat. Wir sollten uns einmal über die Frage unterhalten, warum wir uns mit der Frage der Kulturpolitik in den ländlichen Räumen tatsächlich etwas schwertun. In der Tat ist es so: Die kreative Kraft von urbanen Räumen, von Metropolen ist in der Lage, Dinge auf den Weg zu bringen, unabhängig vom Staat, unabhängig von der öffentlichen Hand. Da muss die öffentliche Hand Anstöße geben. Da gilt es, die Leuchttürme zu erhalten. Ich fand den Begriff der Soziokultur – was bedeutet, mit der Gießkanne drüberzugehen – immer schwierig. Nein, da muss es professionelle Netzwerkknoten geben. Das einfach auf das Land zu übersetzen, ist allerdings schwierig. Die Themen Kulturpolitik, Tourismus – kommt heute noch –, Infrastruktur haben wir angesprochen. Ja, das muss man aber auch wollen; man muss Infrastruktur in ländlichen Räumen erhalten wollen, um die Voraussetzung für kulturelle Räume zu schaffen oder zu erhalten. Das ist der Auftrag. Damit beschäftigt sich auch dieser Antrag. Ich darf aus demografiepolitischer Sicht noch darauf hinweisen: Es gehört auch dazu, dass wir versuchen, junge Leute auf dem Land zu halten oder wieder dorthin zu bringen. Dabei geht es um die Frage der Arbeitszeitmodelle. Was haben die mit Kulturpolitik im ländlichen Raum zu tun? Man muss als Kulturschaffender – ja, den Begriff gibt es tatsächlich – die Möglichkeit dazu haben. Das geht aber nur, wenn die Infrastruktur rein praktisch funktioniert und auch der digitale Wandel draußen auf dem Lande ankommt. Deshalb ist es entscheidend, hier die Rahmenbedingungen zu setzen. Dieser Antrag zeigt doch, dass das keine Erfindung von gestern ist, sondern dass wir schon seit langer Zeit mit einem wirklich weitreichenden Programm sowohl die Grenzen des Föderalismus wahren als auch ländliche Räume und ihre Kulturpolitik stärken können. Dass das ein ständig wandelnder Prozess ist, sehen wir an der Fragestellung, ob man kleine Kinos, Bibliotheken, Sportstätten erhält. Dies sind die Zentren, dies sind die Orte, wo auf dem Land Kulturpolitik entstehen kann. Dazu gilt es, Ja zu sagen, nicht zu irgendwelcher Kulturkritik. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächster erhält das Wort der Kollege Bernhard Daldrup, SPD-Fraktion. ({0})

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag erleichtert es, über ein relativ komplexes Thema wie Kulturpolitik zu sprechen, weil er meines Erachtens erstens eine sehr gute Einordnung ist, um die Bedeutung von Kulturpolitik im ländlichen Raum zu erfassen – Sie selber haben eine Reihe von Beispielen in unterschiedlichen Sparten genannt. Er zeigt zweitens, dass die Große Koalition den Auftrag des Koalitionsvertrages zur Stärkung von Kulturarbeit ernst nimmt und tatsächlich umsetzt. Er zeigt drittens, dass Kulturpolitik als Fachpolitik etwas ist, was auch den Bund im Verhältnis zu den Kommunen betrifft und als ernsthafte Aufgabe wahrgenommen werden muss. Daher ist es völlig falsch – Kollegin Budde hat darauf hingewiesen –, dass sich ausgerechnet die Kultur im ländlichen Raum im Verhältnis zu der doch sehr viel teureren Kultur in den urbanen Räumen besonders rechtfertigen muss. Ich glaube, Kulturarbeit und Kulturpolitik in ländlichen Räumen sind heute lebendig, bunt, weltoffen und weit entfernt vom Dünkel irgendeiner Heimattümelei oder ähnlichen Dingen mehr. Der Anspruch von Kulturarbeit, gleich ob im ländlichen Raum oder im städtischen Raum, lautet bei uns eigentlich immer: „Kultur für alle“; das ist das große Motto von Hilmar Hoffmann gewesen. Ergänzt um die Soziokultur heißt es dann: Kultur von allen. – Das ist auch die Melodie dieses Antrages. Nur so trägt Kultur dazu bei, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Das ist einer der ersten Sätze des Koalitionsvertrages, meine Damen und Herren. Kulturpolitik im ländlichen Raum – das heißt nicht etwa nur ländliche Kulturpolitik, sondern das heißt auch, unter den Bedingungen des ländlichen Raumes die Möglichkeit zu schaffen, sich künstlerisch-kulturell mit gesellschaftlichen Entwicklungen, die es tatsächlich gibt, und zwar nicht nur in urbanen Räumen, auseinanderzusetzen: demografischer Wandel, Digitalisierung, Klimawandel und ähnliche Dinge. Das bedeutet ganz konkret, die Antwort auf die Fragen zu geben: Wie geht es eigentlich? Wie geht es finanziell? Wie kann man es organisatorisch regeln? Was sind die inhaltlichen Schwerpunkte? In welchen Strukturen? Mit welchen Konzepten? Darum muss sich Kulturarbeit konzeptionell kümmern. Das macht dieser Antrag an einer Vielzahl von Beispielen deutlich. Übrigens: Es ist nicht schlimm, wenn Kultur auch als ein wirtschaftsstruktureller Faktor gesehen wird. Sie ist nicht das allein, aber sie ist ein wichtiger Teil von Strukturpolitik. Sie ist nicht nur ein Kostenfaktor. Vorletzter Punkt. Wenn Konsens darüber besteht, dass Kultur im ländlichen Raum Teil der Daseinsvorsorge ist, dann darf sie eben nicht als freiwillige Leistung oder als stille Reserve ({0}) in den kommunalen Haushalten abgebucht werden, sondern sie muss verbrieft werden. Da ist die Frage: Wie kann der Bund unter der Wahrung der Freiheit kommunaler Selbstverwaltung vernünftig helfen? Zuletzt: Gerade die ländlichen Räume stehen vor großen Herausforderungen bei der Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes. Kulturarbeit muss auch gefördert werden, um die politische Kultur unseres Landes zu bewahren, deren Fundamente lauten: Menschenwürde, Toleranz, Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie. Wo diese Form von Kulturarbeit fehlt, wo sie auf dem Rückzug ist, geht leicht die Saat von Unkultur auf; die gibt es nämlich auch. ({1}) Es ist gut, dass dieser Antrag zum jetzigen Zeitpunkt debattiert wird, weil wir in der Kommission „Gleichwertige Lebensbedingungen“ genau über diese Fragestellung diskutieren. Im Antrag finden sich viele Vorschläge, von denen ich glaube, dass sie Berücksichtigung finden und von dieser Großen Koalition noch konkret umgesetzt werden. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Dr. Frauke Petry. ({0})

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Deutschland ist eine Kulturnation; das stellt der Antrag richtig fest. Kultur entwickelt sich aber aus Sicht der Bundesregierung nicht, sondern sie muss angeblich mit einem großen Plan ins Leben gerufen werden. Wir erinnern uns: Bevor Beethoven seine erste Note aufs Papier setzte oder bevor Loriot seine Sketche aufnahm, haben beide bestimmt eine Kommission oder eine Kultusministerkonferenz eingesetzt, oder nicht? In Berlin wollen Sie beschließen, was für die Provinz am besten ist. Sie verwechseln wieder einmal Rahmenbedingungen mit Raumplanung. Dass die Erweiterung von Gewerbegebieten wegen überbordender Vorschriften stagniert, dass überzogene Vogelschutzbestimmungen die privat getragene Entwicklung von Naherholungsgebieten verhindern, dass Bundesgesetze Kommunen immer mehr teure Pflichtaufgaben aufbürden und deswegen das Geld für Strukturentwicklung vor Ort fehlt, dafür sind Sie offenbar blind. Stattdessen schüttet die Regierung seit vielen Jahren Fördergelder für die Wiederansiedlung von Wölfen aus, die Hirten und Landwirten das Leben zur Hölle machen. Auf die zerstörten Zäune, gerissenen Weidetiere und Lebensangst der Betroffenen antworten Sie mit Wolfsmanagement, das den guten Willen der Bürger zum Naturschutz missbraucht. Sollte sich für die Bürger demnächst herausstellen, dass es nie wirklich um Wölfe ging, sondern in unseren Wäldern streunende Hunde mit Wolfsanteil ihr Unwesen treiben, hätten Sie nicht nur Millionen Euro an Steuergeld veruntreut, sondern sich an Wolf und Natur auf Jahrzehnte hinaus sträflich vergriffen. Vielleicht wird ja Ihr neues Projekt, der Kohleausstieg, endlich auf dem Land gewürdigt, indem Sie die aus Ihrer Sicht rückständige Provinz der Arbeitsplätze berauben und handfeste Kohlekumpel in digitale Start-ups oder Bürojobs vermitteln. Dass Sie damit meiner Heimat, der Lausitz, ihr letztes industrielles Standbein rauben, ist Ihnen egal, solange die ideologische Mission stimmt. Ihre Energiewende hat schon an so vielen Orten in Deutschland nicht nur Quadratkilometer schönster Landschaft in weiße Windmühlenwüsten verwandelt, sondern jetzt wollen Sie auch noch riesige Stromtrassen quer durch unsere Weiden, Wälder und Äcker treiben. Vielleicht beenden wir diesen grünen, sozialistischen Unsinn und investieren stattdessen einen Teil der geplanten Milliarden in neue Generationen von emissionsfreien Kernkraftwerken – so, wie es Industrienationen auf der ganzen Welt tun, im Übrigen auch Angela Merkels Lieblingskollege Emmanuel Macron in Frankreich. ({0}) Gleichzeitig wollen Sie die Bibliotheken ins digitale Zeitalter führen, während außerhalb der Bücherei die digitale Infrastruktur auf dem Niveau von Burkina Faso dümpelt. Das Funkloch reicht heute bis an die Stadtgrenzen der Hauptstadt und Potsdam. Seien Sie versichert: Ich habe überhaupt gar nichts dagegen, wenn die Bundesregierung sich auf die Fahne schreibt, sich für das kulturelle Erbe der Musik und für den Erhalt von identitätsstiftenden Dorfkirchen einzusetzen. Aber ich habe etwas dagegen, dass diese Bundesregierung ein Papier verabschiedet, das sich angeblich für den ländlichen Raum einsetzt, aber offen zeigt, dass Sie keine Ahnung von den Sorgen und Nöten der Landbevölkerung haben. Unsere Kräfte und Kapazitäten werden woanders dringender gebraucht. Weniger Regularien, weniger Ideologie und mehr Subsidiarität wären ein Anfang. Mal sehen, ob Sie das schaffen. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Petry. – Als letzter Redner hat das Wort der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Tribünen! Sehr geehrte Karnevalsfreunde – seien Sie aus dem Rheinland oder aus Franken! Ich darf auch Ihren Beitrag zur Kultur im ländlichen Raum ausdrücklich würdigen, nicht nur bei Ihnen in Köln, sondern auch bei mir im Wahlkreis. ({0}) Zur Stärkung der Kultur im ländlichen Raum gehört auch eine intensivere touristische Vermarktung und Vernetzung von Kultur und Tourismus. Ich habe hauptsächlich zu dem Thema „Tourismus und Kultur“ ein paar Sätze zu ergänzen. Unser reiches kulturelles Erbe, zeitgenössische Kunst- und Kulturangebote sowie die Kultur- und Kreativwirtschaft bieten insbesondere für ländliche Regionen ein herausragendes Potenzial, das noch lange nicht ausgeschöpft ist. Dabei ist die Tourismuswirtschaft in vielen ländlichen Regionen schon heute ein Motor der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und bringt erhebliche zusätzliche Kaufkraft in Dörfer und Gemeinden. Die Verbindung von Burgen, Schlössern, Kirchen, Klöstern und Museen mit kulturellen Veranstaltungen wie Kunst-, Kultur- und Musikfestivals und Volksfesten sowie mit dem Erleben von Kulturlandschaften macht ländlich geprägte Regionen für Gäste aus dem In- und Ausland, insbesondere aus städtischen Gebieten, sehr attraktiv. Bei mir in der Region denke ich an die Frankenfestspiele in Röttingen, wo im historischen Burghof Theater gespielt wird. Ich denke an die Florian-­Geyer-Spiele in Giebelstadt, wo vor der historischen Kulisse der ehemaligen Geyer-Ruine Stücke zu den Bauernkriegen aufgeführt werden. Pferde galoppieren über die Bühne, die Ruine wird mit Pyrotechnik angestrahlt, und es wird gezeigt, wie Bauern ein paar hundert Jahre zuvor just an dieser Stelle die Ruine angegriffen haben, wohl wissend, dass es keine 3, 4 Kilometer entfernt zu Tausenden totgeschlagenen Bauern kam. Authentizität, Originalität, historische Schauplätze – all dies können die ländlichen Räume zur Kultur beitragen. Ich glaube, es ist ganz wichtig, das hervorzuheben. ({1}) Ich denke an die Scherenburgfestspiele in Gemünden, Herr Kollege Rützel – jetzt hört er wieder nicht zu –, ich denke an die Passionsspiele in Sömmersdorf. Das sind sehr viele historische regionale Events, die bei uns stattfinden. Ich denke aber auch daran, dass sehr viele Kulturschaffende aus den Regionen in Städte gehen und diese bereichern. Ich darf darauf hinweisen: Vom 30. Mai bis 2. Juni findet in Osnabrück – jetzt kommt der Werbe­block für Niedersachsen – das Deutsche Musikfest statt, wo Tausende von Musikern aus ganz Deutschland dazu beitragen, Kultur aus dem flachen Land in den städtischen Bereich zu transportieren. Auch dafür ein herzliches Wort des Dankes. ({2}) Dank an die traditionellen Musikfeste, an die Blasorchester, an die Spielmannszüge, aber natürlich auch, lieber Kollege Frieser, an die vielen Chöre, die bei uns landauf, landab zur Kulturschaffung auf dem flachen Land beitragen. ({3}) Im Gegensatz zu anderen austauschbaren Reisezielen im Ausland tragen unverwechselbare Traditionen zu einem einzigartigen Urlaubserlebnis bei. Was uns aber manchmal noch fehlt, ist eine wirklich gute Vernetzung und Zusammenarbeit der Akteure aus Kultur und Tourismuswirtschaft. Unsere Regionen haben hier große Chancen, die im Vergleich zu den großen Städten noch nicht voll genutzt werden. Kultur darf kein Selbstzweck sein und darf sich nicht nur auf Besucher aus den jeweiligen Orten oder der näheren Umgebung verlassen. Es gibt bereits viele gute Beispiele in Deutschland für eine gelungene Verbindung von Kultur und Tourismus. Als letzter Redner in dieser Debatte darf ich vielleicht noch den Aspekt der Genusskultur und der Esskultur einfügen. ({4}) Es gibt nicht nur die Currywurst. Allein im Fränkischen gibt es die Bratwurst, die „Drei im Weggla“, es gibt die „Sechs auf Kraut“, die Fränkische Bratwurst, die Thüringische Bratwurst. ({5}) – „Fischbrötchen“ wirft die Kollegin Kassner von den Linken ein; daran habe ich jetzt eigentlich nicht gedacht. Ich habe mehr ans Fränkische Schäufele, an die Bayerische Schweinshaxe gedacht. Ich habe an die Wirtshauskultur, an die Biergartenkultur, an die Gaststättenkultur auf den Dörfern gedacht. Ich glaube, auch das gehört dazu. Menschen machen da Urlaub, Menschen genießen da etwas Schönes, wo es tatsächlich schön ist und wo man auch gut essen kann. Ich denke bei mir in Franken an terroir f, die wunderbaren Aussichtspunkte in den Fränkischen Weinbergen. All dies gehört auch zu unserer fränkischen Kultur.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich kann verstehen, dass Ihnen das Wasser im Mund zusammenläuft. ({0}) Aber ich bin schon fertig. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und bitte, diesen Aspekt der Kultur nicht ganz zu vergessen. Danke schön. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, vielen Dank für Ihr Werben für die Genusskultur. Dem kann ich mich nur anschießen. Ich finde, wir danken einfach allen, die etwas dazu beitragen, dass unser Leben fröhlicher wird. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7426 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir hatten heute Morgen eine bewegende Gedenkstunde. Klar ist allerdings auch, dass Aufarbeitung, Gedenken an die Opfer und übrigens auch Entschädigungsfragen und die Benennung der Täter stets erkämpft und erstritten werden mussten in der Geschichte der Bundesrepublik. Ich gehe zurück in die 50er-Jahre: Damals galt der Widerstand vom 20. Juli 1944 als Hochverrat. Graf von Stauffenberg war ein Hochverräter in der öffentlichen Wahrnehmung. Und erst Fritz Bauer – der große Fritz Bauer! – hat im sogenannten Remer-Prozess den Nachweis erbracht, dass das keine Hochverräter waren; denn Unrecht kennt keinen Verrat. Diese Einsicht musste bitter erkämpft werden. ({0}) Das Gedenken an die Shoa, wie wir es heute begehen in all seiner Vielfältigkeit, musste erkämpft werden. Das stand in der frühen Bundesrepublik überhaupt nicht zur Debatte. Martin Niemöller, Eugen Koger waren Einzelkämpfer. Das bahnbrechende Werk von Raul Hilberg über die Vernichtung der europäischen Juden, nicht zuletzt der Frankfurter Auschwitz-Prozess initiiert vom damaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und nicht zu vergessen Beate und Serge Klarsfeld und schließlich die 68er-Bewegung – all das hat etwas in Bewegung gesetzt. Erst 2002 wurden in diesem Hause – man kann es sich heute kaum vorstellen – die Wehrmachtsdeserteure rehabilitiert und erst 2009 die sogenannten Kriegsverräter, also die kleinen einfachen Wehrmachtssoldaten, die Juden geholfen oder sich kritisch zum Kriegsverlauf geäußert hatten. Das zeigt also: Es musste stets darum gestritten werden. Und heute – das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, aber auch darum muss gestritten werden, weil wir es sonst offenbar nicht hinbekommen – geht es um eine vergessene, unfassbar große Opfergruppe, nämlich die Millionen ermordeter Opfer der sogenannten Lebensraumideologie der Nazis in Osteuropa, genauer gesagt, die Opfer der rassistischen Mordpolitik der Nazis. Diese Opfer kamen und kommen fast überhaupt nicht vor. Es geht uns um die Anerkennung, um das würdige Gedenken und um eine Wissensvermittlung. Es begann 1939 mit dem Überfall auf Polen, das 6 Millionen Tote zu beklagen hatte. Das Ziel war – das wurde vorher auch so gesagt – die Ermordung der polnischen Intelligenz und ihrer Führungsschicht und dann – nach einer weiteren Eskalation – der Angriffs- und Vernichtungskrieg Nazideutschlands gegen die Sowjetunion, der nicht nur alle Rechts-, sondern auch alle bis dato bekannten Zivilisationsregeln aufgehoben hat. Jan Philipp Reemtsma hat damals bei der Eröffnung der ersten so wichtigen Wehrmachtsausstellung Folgendes gesagt – ich zitiere ihn –: Der Krieg der deutschen Wehrmacht im Osten ist kein Krieg einer Armee gegen eine andere Armee gewesen, sondern er sollte der Krieg gegen eine Bevölkerung sein, von der ein Teil – die Juden – ausgerottet, der andere dezimiert und versklavt werden sollte. Kriegsverbrechen waren in diesem Krieg nicht Grenzüberschreitungen, die erklärungsbedürftig sind, sondern das Gesicht des Krieges selber. Der Terminus Kriegsverbrechen ist aus einer Ordnung entliehen, die von Deutschland außer Kraft gesetzt worden ist. Das ist eine korrekte Beschreibung dessen, was da ablief. Wir wissen – wir haben es heute schon gehört –: Die Sowjetunion hat den größten Blutzoll in diesem Krieg gezahlt: 27 Millionen Tote, davon allein 14 Millionen Zivilisten. Ich will auf eine weitere Opfergruppe, die dazu gehört, eingehen; auch diese Opfer sind schändlich vernachlässigt worden in der Geschichte der Bundesrepublik. Es geht um das Gedenken und die vernünftige Entschädigung der sowjetischen Kriegsgefangenen. ({1}) Von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten sind, kamen nach den neuesten Forschungen 3,3 Millionen um. Um es mal statistisch zu übersetzen: Die Sterblichkeitsrate bei sowjetischen Kriegsgefangenen – in den Lagern der Wehrmacht übrigens – lag bei 60 Prozent. Demgegenüber lag die Sterblichkeitsrate bei Kriegsgefangenen der westlichen Alliierten bei lediglich 3,5 Prozent. Das heißt, der Mord wurde systematisch organisiert und umgesetzt. Wenn man diese Zahlen und die Forschungsergebnisse kennt, fragt man sich heute: Warum müssen wir das hier eigentlich diskutieren? Warum gibt es vonseiten der Bundesregierung keinen Gesetzentwurf, der einen Gedenkort und ein Mahnmal auf den Weg bringt? Das hat natürlich geschichtspolitische Gründe. ({2}) Das hat etwas mit der Zeit des Kalten Krieges zu tun. Das hat mit einem in der Geschichte der Bundesregierung verankerten fast staatsreligiösen Antikommunismus der 50er- und 60er-Jahre zu tun. Daran muss man erinnern. Man muss sich einmal zurückerinnern und sehen, wie viele Landser-Hefte und solch ein Dreck überall gelesen wurden. Damals galt der Krieg gegen die Sowjetunion als de facto legitim, als eine irgendwie ehrenvolle Sache. Das war damals die Situation. Und es hatte etwas zu tun mit der massenhaften Rückkehr der alten Nazieliten in Politik, Wirtschaft und Militär. Damit hatte es etwas zu tun. Deswegen war damals gar nicht daran zu denken, dieser großen Opfergruppe zu gedenken. Auch deswegen will ich mich heute bei der Initiative „Gedenkort für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik“ bedanken. Ihr Gründer, Peter Jahn, ist heute bei uns zu Gast. Ich freue mich sehr, dass Sie da sind. ({3}) Er versucht seit vielen Jahren mit Wissenschaftlern, mit Politikern und Initiativen, dieses Gedenken endlich auf den Weg zu bringen. Ich will eines sagen: Wir sind natürlich bereit, die Parteipolitik bei dieser Frage vielleicht außen vor zu lassen, ({4}) um hier über alle Fraktionsgrenzen hinweg insgesamt zu einer Lösung zu kommen, damit dieser vergessenen Opfergruppe endlich ein würdiges Gedenken organisiert wird. Und ich habe eine Bitte: Bei all diesen Debatten darüber, die wir in der Außenpolitik oder sonst wo führen, sollten wir die Frage von Erinnerungspolitik, von Erinnerungskultur nicht mit aktuellen außenpolitischen Auseinandersetzungen verquicken.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss bitte.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das ist ganz zentral. Darum würde ich bitten. Wir sind bereit, an der Sachfrage konstruktiv mitzuarbeiten. Wir haben heute einen durchdachten und auch mit vielen Wissenschaftlern abgestimmten Vorschlag gemacht.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bitte.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir bitten um Zustimmung und eine ernsthafte Beratung, damit auch die Große Koalition, die im Koalitionsvertrag angekündigt hat, der vergessenen Opfer zu gedenken, endlich aus dem Quark kommt –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, auch für Sie gilt die Geschäftsordnung.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– und damit wir gemeinsam etwas auf den Weg bringen können. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin erhält die Kollegin Elisabeth Moschmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir hatten heute Morgen eine Gedenkstunde, die mich tief bewegt hat, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen galt diese Gedenkstunde allen Opfern des Naziregimes – allen Opfern! –, und diese Gedenkstunde hat hier stattgefunden. Einen besseren Ort zur Erinnerung kann ich mir nicht vorstellen. Sie fordern jetzt einen Gedenkort für die Opfer des Vernichtungskrieges in Osteuropa. Das ist eine hart betroffene Gruppe – überhaupt keine Frage. Aber ich frage mich, ob es richtig ist, ein Denkmal zu schaffen, einen Ort zu schaffen, oder ob es nicht wichtiger ist, Geschichte zu erzählen. Sollte es nicht – anders als bei Ihrem Ansatz – um eine lebendige Vermittlung, eine Investition in die Köpfe, gehen? Wir beobachten das schlimme Phänomen, dass 40 Prozent der Deutschen nichts über den Holocaust wissen. 40 Prozent der Deutschen sind unwissend. Das ist eine ganz, ganz schlimme Entwicklung. Diese Zahl ist erschütternd. Daran müssen wir etwas ändern. Es gibt leider immer weniger Zeitzeugen. Wir hatten aber heute Morgen einen Zeitzeugen zu Gast. Bei seiner Rede konnte man sehen, wie erzählte Geschichte die Herzen der Menschen berührt hat. Wir stehen einem zunehmenden Antisemitismus in Deutschland gegenüber. Das muss uns Sorge machen; dagegen müssen wir natürlich etwas unternehmen. Wenn auf Deutschlands Straßen wieder der Hitlergruß gezeigt wird, wenn sich in Cottbus ein Neonazi-Netzwerk ausbreitet, wenn Politiker von der NS-Zeit als „Vogelschiss“ der Geschichte oder vom „Mahnmal der Schande“ sprechen oder wenn eine Fraktion den Plenarsaal des Bayerischen Landtags verlässt, weil eine Rede über den Holocaust nicht erträglich ist, ({0}) dann müssen wir uns schon sehr ernsthaft darüber Gedanken machen, wie wir dieser Geschichtsvergessenheit entgegenwirken. ({1}) Wir sind nicht darüber uneins, ob wir das tun, sondern darüber, wie wir das tun. Ich denke an all die vielen verschiedenen Opfergruppen. Ehrlich gesagt sind die Zahlen, Herr Korte, nicht das Problem. Jedes einzelne Opfer des Naziregimes muss uns doch gleich wichtig sein. ({2}) Deshalb sage ich: Wir müssen das Leid erkennen. Wir müssen das Leid benennen. Wir müssen das Leid aufarbeiten. Wir müssen die Erinnerung an das Leid lebendig halten, davon erzählen und Geschichte weitertragen. Dabei geht es um das Leid aller Opfergruppen und nicht um das Leid einzelner Opfergruppen. ({3}) Der Gefahr, dass wir dabei jemanden vergessen, dass wir hierarchisieren – was Sie tun –, dass wir eine Rivalität der verschiedenen Opfergruppen organisieren, möchten wir entgehen. Und wenn Sie in Ihrem ersten Satz gleich eine Entschädigung, also Geld, ansprechen, dann berührt mich das ehrlich gesagt negativ; denn wir können dieses Leid nicht mit Geld aufwiegen. ({4}) Wir sollten lieber darüber reden, dass wir die Erinnerung an das, was wir diesen Menschen zugefügt haben, in die Köpfe, in die Herzen der jungen Menschen in den Schulen und Universitäten senken. Wir sollten nicht sofort über Geld sprechen; denn dann stellt sich die Frage: Wem wollen Sie Geld geben, und wem wollen Sie kein Geld geben? Das ist eine schwierige Debatte, die wir nicht führen wollen und nicht führen können. ({5}) Deshalb bleibe ich am Ende dabei: Nie wieder darf sich diese Geschichte wiederholen! Nie wieder wollen wir Vernichtungskriege! Nie wieder wollen wir Auschwitz! Nie wieder wollen wir unsere Demokratie verlieren! Deshalb müssen wir auf das Förderprogramm „Jugend erinnert“ und auf sehr viele Programme setzen, die diese Geschichte lebendig vermitteln, statt in erster Linie auf Steine. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Motschmann. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Dr. Marc Jongen, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Sozialismus in all seinen Spielarten hat unendliches Leid über die Menschheit gebracht. Zählt man die Toten zusammen, die im 20. Jahrhundert auf das Konto der Nationalsozialisten in Deutschland und der internationalen Sozialisten im sowjetischen Machtbereich gehen, so kommt man auf unvorstellbare Zahlen. Die Schätzungen schwanken zwischen 50 und 80 Millionen, die auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs gestorben sind, die als unschuldige Zivilisten deportiert und massakriert wurden, die in den Konzentrationslagern der Nazis, in den Gulags der Sowjets jeglicher Menschenwürde beraubt wurden und systematisch vernichtet worden sind. Natürlich besteht ein signifikanter Unterschied zwischen dem Rassenwahn der Nazis und dem Hass der Bolschewiki auf den Klassenfeind. Und, ja, es gibt auch gute Gründe, in der Judenvernichtung durch die Nazis eine Abgründigkeit zu erkennen, die dieses Verbrechen heraushebt aus anderen Massenvernichtungsprogrammen des 20. Jahrhunderts und auf bestimmte Weise tatsächlich einzigartig macht. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, meine Damen und Herren, dass beide, der Nationalsozialismus Hitlers und der Kommunismus Stalins, sich völlig einig waren in ihrem unbedingten Vernichtungswillen gegenüber allen, die sie als Feinde – hier des rassistisch definierten Volkes, dort der klassenlosen Gesellschaft – identifiziert hatten. ({0}) Beide totalitären und paranoiden Ideologien behandelten Menschen als Material, das zur Verwirklichung ihrer monströsen Machtfantasien benutzt und vernutzt werden konnte – ohne Rücksicht auf Verluste. Dass es sich bei diesen beiden Abarten des totalitären Sozialismus gewissermaßen um zwei Paralleldrachen handelte, die bei allem tödlichen Hass aufeinander auch zahlreiche Strukturmerkmale gemeinsam hatten, vor allem ihre zynische Menschenverachtung und ihre völlig enthemmte Gewalttätigkeit, das haben Historiker in den letzten Jahren eindrücklich herausgearbeitet: allen voran Timothy Snyder, der in seinem Buch „Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin“ die ganze Wahrheit über das mörderische Geschehen im Osten Europas der 1930er- und 1940er-Jahre schreibt, die die Linke in ihrem Antrag zum Gedenkort für die Opfer des Vernichtungskriegs der Nazis in Osteuropa auf die eine Hälfte reduziert sehen will. Wie aber der Berliner Historiker Jörg Baberowski schrieb: … ohne den Exzess der stalinistischen Diktatur wird überhaupt nicht verständlich, worauf der Nationalsozialismus auch eine Antwort war. ({1}) Nichts, was Sie in Ihrem Antrag schreiben, werte Abgeordnete von der Linken, über die fürchterlichen Verbrechen, die im deutschen Namen von den Nazis begangen worden sind, ist im wörtlichen Sinne falsch. Diese Verbrechen sind geschehen, und sie waren über alle Maßen schrecklich. Der deutsche Staat muss sich verantwortungsvoll dazu verhalten. ({2}) Falsch, ja heuchlerisch wird Ihr Antrag durch die selektive Wahrnehmung, durch das gezielte Weglassen der nicht minder fürchterlichen Verbrechen, die von der sowjetischen Seite an den deutschen Kriegsgefangenen, beim Vorrücken der Roten Armee dann auch an der deutschen Zivilbevölkerung begangen worden sind. Warum erwähnen Sie diese deutschen Opfer mit keinem Wort? Warum wollen Sie ausschließlich den Opfern des NS-Vernichtungskrieges in Berlin einen zentralen Gedenkort errichten? – Übrigens zusätzlich zu den drei großen Ehrenmalen in Berlin für die gefallenen Rotarmisten und zu den zahlreichen ähnlichen Gedenkstätten in ganz Deutschland, zu deren Pflege sich der deutsche Staat in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zu Recht verpflichtet hat. Mit etwas Bosheit könnte man auf die Idee kommen: Das hängt mit Ihrer Parteigeschichte zusammen. ({3}) Als Nachfolgepartei der SED in ideeller und übrigens auch in materieller Hinsicht würden Sie ohne die Sowjetunion und damit ohne Stalin gewissermaßen nicht existieren, ({4}) jedenfalls nicht so üppig leben. Da kann man dann schon einmal ein Auge zudrücken ({5}) und auf dem linken Auge gänzlich blind werden für linksradikale Exzesse aller Art. ({6}) Aber so böse will ich gar nicht sein; ({7}) denn leider steht ja im Koalitionsvertrag der Regierungsfraktionen auch nicht viel anderes. Sie wollen zwar das „Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten im Dialog mit den osteuropäischen Nachbarn“ stärken, wie es dort heißt, ({8}) die deutschen und osteuropäischen Opfer des ­Stalin’schen Vernichtungskrieges werden aber ebenfalls ausgeblendet. Aus einer solch einseitigen Geschichtserzählung kann keine gute und heilsame Gedächtnispolitik erwachsen, meine Damen und Herren. ({9}) Und ich will ja konzedieren, dass es bei einigen Kollegen aus der CDU/CSU und der FDP durchaus gut gemeint ist, da Sie einfach nicht zur Genüge durchschauen, welches politisches Spiel hier getrieben wird ({10}) und wie Sie linken Ideologen leider auf den Leim gehen. Frau Motschmann hat es wieder gezeigt. ({11}) Der linken Seite dieses Hauses sage ich aber: Wir trauen Ihrer moralischen Empörung und Ihren zur Schau gestellten humanistischen Motiven nicht über den Weg. Wir erkennen Ihre politische Absicht und sind mehr als verstimmt. ({12}) Ihnen geht es gar nicht um ein würdiges Gedenken an die Opfer dieser Verbrechen. Ihnen geht es in Wahrheit darum, ein tiefes Schuldbewusstsein in Deutschland für alle Zeiten zu verankern. Vor allem den nachwachsenden Generationen wollen Sie einen moralisch zermürbenden Gedanken einpflanzen: ({13}) Die Deutschen sind böse, Deutschland ist eine Verbrechernation, es wäre eigentlich besser, wenn Deutschland verschwände. ({14}) Das ist doch auch Ihr erklärtes Ziel. Deutschland soll als Nation, als Land, als Volk verschwinden, es soll ein mehr oder weniger offenes Siedlungsgebiet für Migranten aus aller Welt werden ({15}) und soll dann auch aufgehen in einem europäischen Superstaat, der ja schon jetzt bezeichnenderweise von Kommissaren verwaltet wird, einer EUdSSR – ganz nach Ihrem Geschmack. ({16}) – Ja. – Wer auf der Straße zusammen mit der Antifa „Nie wieder Deutschland!“ und „Deutschland, Du mieses Stück Scheiße“ skandiert, wie Sie das tun, ({17}) der hat nicht die moralische Legitimation, hier einen solchen Antrag zu stellen. ({18}) Ihr hochtrabender moralischer Duktus ist offenkundig vom Hass auf das Eigene diktiert, und damit ist er vergiftet und verdorben. ({19}) Im Grunde missbrauchen Sie die Opfer der Nazis für Ihre politischen Ziele. Das ist die Wahrheit. ({20}) Wes Geistes Kind Sie sind und wie viel Respekt Sie vor historischen Wahrheiten haben, zeigt sich auch daran, dass Sie jeden als Nazi diffamieren, der sich mit friedlichen demokratischen Mitteln für den Erhalt seiner eigenen Heimat einsetzt. Das ist nicht nur eine Ungeheuerlichkeit den Beschuldigten gegenüber, das ist auch ein Hohn gegenüber den historischen Opfern der Nazis, werte Kollegen. ({21}) Weil es hier immer wieder behauptet wird: Die AfD will ganz gewiss keinen Schlussstrich unter die Verbrechen des NS-Regimes ziehen. ({22}) – Nein, wir wollen eine Erinnerungskultur, an deren Horizont Heilung und vielleicht auch Versöhnung stehen, ({23}) aber kein bewusstes Offenhalten der Wunden und keine künstlich herbeigeführte Neutraumatisierung jeder neuen Generation in Deutschland. ({24}) Das gemeinsame Erinnern an den Vernichtungskrieg Hitlers und Stalins in Osteuropa kann ein Ansatzpunkt der Versöhnung zwischen Deutschland und Russland werden. Die AfD hat daran bereits aktiv mitgewirkt: bei einer Kranzniederlegung im Treptower Park anlässlich eines Besuchs einer hochrangigen Delegation russischer Parlamentarier in Berlin.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Alle waren geladen. Nur die AfD ist gekommen, meine Damen und Herren. Wo waren Sie? ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Sie haben noch einen Satz.

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zum Schluss und zitiere den italienischen Autor und antifaschistischen Widerstandskämpfer ­Ignazio Silone. Er sagte: Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: „Ich bin der Faschismus.“ Nein, er wird sagen: „Ich bin der Antifaschismus.“ ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bitte jetzt.

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wenn das endlich begriffen würde, hätten wir viele Probleme weniger in Deutschland. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin erhält die Kollegin Marianne Schieder, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Marianne Schieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003838, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Ich bin sehr froh über den Koalitionsvertrag – insgesamt, insbesondere aber auch über die Passagen, um die es im vorliegenden Antrag geht. Ich möchte ihn zitieren: Bisher weniger beachtete Opfergruppen des Nationalsozialismus wollen wir anerkennen und ihre Geschichte aufarbeiten. Wir stärken in der Hauptstadt das Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten im Dialog mit den osteuropäischen Nachbarn. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist es höchste Zeit, dass wir uns auch den bislang weniger beachteten Opfergruppen des Nationalsozialismus zuwenden und versuchen, ihnen gerecht zu werden. ({0}) Es geht hier zum Beispiel um die Gruppe der sogenannten Berufsverbrecher und Asozialen, Zwangsprostituierten, Jenischen und Zeugen Jehovas. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten könnten uns sehr gut vorstellen, dazu die Erarbeitung einer Wanderausstellung auf den Weg zu bringen. ({1}) Man könnte mit einer solchen Ausstellung einerseits das Wissen über die Geschichte und das Leid der unterschiedlichen Opfergruppen darstellen, andererseits aber auch herausarbeiten, wie schnell in der perfiden Denkweise der Nationalsozialisten Menschen und ganze Bevölkerungsgruppen abgestempelt und gebrandmarkt wurden, um sie einem grausamen Schicksal auszuliefern. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie zitieren zwar in Ihrem Antrag diesen Teil des Koalitionsvertrages, Sie machen aber keinen Vorschlag in Richtung Umsetzung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, es gibt doch überhaupt keinen Zweifel daran, dass die Ausmaße der Verbrechen der Nationalsozialisten im Osten und Südosten Europas leider viel zu wenig im kollektiven Bewusstsein der Deutschen verankert sind und wir damit bislang den Millionen Opfern in keiner Weise gerecht wurden. ({2}) Vor einigen Monaten war ich als Mitglied einer Delegation des Deutschen Bundestages in Kiew und Minsk. Wenn man sich dort vor Ort vergegenwärtigt, dass jeder vierte Bewohner Weißrusslands ein Opfer des NS-Vernichtungskrieges geworden ist, dann wird man zuerst einmal sehr nachdenklich und demütig, schämt sich, kehrt dann aber mit dem festen Willen zurück, dieses Kapitel der deutschen Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. ({3}) Auch was die Menschen in der Ukraine erleiden mussten, ist kaum in Worte zu fassen. Ich war sehr beeindruckt von den Initiativen, dem Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk „Johannes Rau“ in Minsk oder den Aktivitäten der Aktion Sühnezeichen in Kiew. Es gibt sicher noch sehr viele mehr. Die Tatsache, dass Millionen von Menschen von Polen bis Russland, in Weißrussland und der Ukraine, vom Baltikum bis nach Griechenland und an vielen anderen Orten im Osten und Südosten Europas systematisch getötet und ermordet wurden, muss uns immer in Erinnerung bleiben. ({4}) Es ist an uns allen, nicht nur hier in diesem Hause, diese Erinnerung an die NS-Terrorherrschaft weiterzutragen. Es ist unsere Aufgabe, Verantwortung dafür zu übernehmen, dass diese Erinnerung mit neuem Leben erfüllt werden kann und wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle wissen: Am 1. September erinnern wir an den Überfall Nazideutschlands auf Polen vor 80 Jahren. Dieser Jahrestag sollte unserer Meinung nach nicht nur dazu genutzt werden, ein eindeutiges und unmissverständliches Bekenntnis abzulegen, sondern er sollte auch genutzt werden, entsprechende Initiativen auf den Weg zu bringen, um das Wissen zu diesem Teil der deutschen Geschichte zu verbreitern, um das Geschehene aufzuarbeiten und um daraus die richtigen Lehren für unsere Zukunft zu ziehen. Dabei ist mir persönlich besonders wichtig, dass die einzelnen Opfergruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden. ({5}) Es darf weder der Holocaust in irgendeiner Weise relativiert werden, noch dürfen wir, bezogen auf einzelne Völker und Nationen, das Leid der einen über das Leid der anderen stellen. ({6}) Auch, so meine ich, darf man nicht den Fehler begehen, zu glauben, es reiche ein Denkmal aus, und dann würden die Leute schon verstehen, was damit gemeint ist. Ich weise hier gern auf die Erfahrungen der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas hin. Dort ist man sich einig, dass gerade der Ort der Information, also die Ausstellungsräume unter dem Mahnmal, das Denkmal bereichert und im Wesentlichen zur eigentlichen Aufgabe beiträgt, nämlich die Erinnerung an den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden Europas wachzuhalten. Ohne diese zusätzlichen Informationen zu den Schicksalen der Opfer, die Einordnung in den geschichtlichen Kontext und die Einladung zur Diskussion wäre der Gedenkort bei weitem nicht so wirkungsmächtig, wie er es heute ist. ({7}) Außerdem – auch das dürfte doch unbestritten sein – ist die wissenschaftliche Aufarbeitung, was den NS-Vernichtungskrieg in Osteuropa betrifft, noch lange nicht abgeschlossen. Gerade dort gibt es viele Ereignisse und Orte, die in Vergessenheit zu geraten drohen. Es freut mich, dass sich aus der Zivilgesellschaft heraus mehrere Initiativen starkmachen für ein würdiges Gedenken an die Opfer. Neben der Forderung nach einem Denkmal für die polnischen Opfer, in dessen Richtung – ich sage: leider – der Antrag sehr eindeutig geht, liegt ja noch einiges andere auf dem Tisch. Es gibt Vorschläge, das bestehende Denkmal in Friedrichshain neu zu gestalten oder – ein natürlich langfristig angelegter Vorschlag – ein Museum auf den Weg zu bringen, um darin eine Annäherung an das Thema zusammen mit unseren osteuropäischen Nachbarn zu gestalten. Zahlreiche weitere Vorschläge gibt es. Das reicht von Forschungsprojekten bis zur Stärkung des kulturellen Austausches. Da ist natürlich das Programm „Jugend erinnert“, das wir hoffentlich bald auf den Weg bringen werden, auch eine gute Sache. Ich meine, der vorliegende Antrag bietet wirklich Gelegenheit, sich im Ausschuss noch einmal intensiv mit den verschiedenen Vorschlägen zu befassen, wenngleich Sie sich ja schon auf einen bestimmten Weg festgelegt haben, von dem ich nicht besonders überzeugt bin. Ich freue mich jedenfalls auf eine weitere Diskussion und danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ich möchte enden mit einem Appell an Sie, Herr Dr. Jongen: Schämen Sie sich für Ihre Rede, ({8}) mit der Sie versucht haben, dieses richtige und wichtige Anliegen in dieser schäbigen Art und Weise zu diffamieren. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Thomas Hacker, FDP-Fraktion. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grausamkeiten der NS-Zeit sind für uns niemals wirklich fassbar. Historiker, Juristen, Soziologen, Psychologen und andere Wissenschaftler beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit der wissenschaftlichen Durchleuchtung dieses dunkelsten Kapitels unserer Geschichte. Die Zahl der Opfer übersteigt jede menschliche Vorstellungskraft. Die Zahlen allein, die Millionen von Opfern zeigen das Unfassbare. Aber hinter diesen Zahlen stehen Namen, stehen die Schicksale der Menschen, eines jeden einzelnen Menschen mit seiner eigenen Geschichte, mit seinen Ängsten, seinen Hoffnungen, seinen Schmerzen und seinem Leiden. Eindrucksvoll konnten wir heute Morgen erleben, wie das Herauslösen des einzelnen Schicksals uns berührt. An einem solchen Tag dann eine Auseinandersetzung zwischen ganz links und ganz rechts zu erleben, wie wir das heute mussten, beschämt tatsächlich. ({0}) Weil wir um diesen grausamen Teil unserer Geschichte wissen, wissen wir auch um unsere Verantwortung, dieses Leid in der Welt niemals vergessen zu lassen. Erinnern, gedenken, mahnen – dazu braucht es Anlässe. Dazu braucht es auch Orte. Nach langen Diskussionen wurden in den letzten Jahren ja auch neue Gedenkorte geschaffen: die Topographie des Terrors, das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma, die beiden küssenden Männer im Mahnmal für die ermordeten Homosexuellen oder das Holocaust-Mahnmal. Die Neue Wache in Berlin ist den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft gewidmet. Mahnmale in Stein und Beton erinnern an die Vergangenheit. Wichtig ist darüber hinaus das Bewusstmachen, die Möglichkeit für alle Generationen, sich dem Unfassbaren zumindest anzunähern. Gesten wie der Kniefall Willy Brandts im Warschauer Ghetto erreichten mehr für die Aussöhnung zwischen Polen und Deutschland, als es ein Bauwerk jemals könnte. ({1}) Liebe Kollegen, Sie wissen, dass es mehrere Initiativen für neue Denkmale und Gedenkorte gibt. Wir müssen die Debatte über weitere Gedenkorte sensibel und behutsam führen und darauf achten, dass gut gemeinte Initiativen nicht andere Initiativen ausgrenzen. Die Entscheidung für oder gegen einen neuen Gedenkort darf nicht als Missachtung oder Vergessen anderer Opfer empfunden werden. Unsere Debatte sollte nicht bei der Frage, ob und welche neuen Denkmale geschaffen werden, stehen bleiben. In unserer Gesellschaft, in der Populisten zunehmend mehr Gehör finden, in der Ausgrenzung und Intoleranz zu Markenzeichen politischer Betätigung hochstilisiert werden, brauchen wir Projekte und Programme, um gerade für die junge Generation unsere Geschichte erfahrbar zu machen. Lassen Sie uns die neuen Medien nutzen, lassen Sie uns neue Wege der Wissensvermittlung gehen. Die Dokumentation von Gesprächen mit Zeitzeugen, Frau Motschmann, das Gegenüberstellen von Erfahrungen wie Flucht und Vertreibung mit dem Erleben junger Flüchtlinge unserer Zeit sind Beispiele für solche Programme. ({2}) Unsere Freundschaft zu Frankreich konnte 70 Jahre wachsen. Der Eiserne Vorhang verhinderte das mit unseren Nachbarn im Osten. Lassen Sie uns die Debatte, die jetzt vor uns liegt, mit den richtigen Intonationen führen. Ja, wir wissen um die Verbrechen der Vergangenheit, und wir wollen die Erinnerung an die Opfer wachhalten. Ja, unser Ziel ist es, an einer gemeinsamen Zukunft auch mit den östlichen Nachbarn zu arbeiten, im gegenseitigen Respekt auf der Grundlage von Menschenwürde, Freundschaft, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auf diese Debatte, meine Damen und Herren, die aus der Vergangenheit in die Zukunft weist, freue ich mich. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hacker. – Als Nächster hat das Wort der Kollege Erhard Grundl, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Erhard Grundl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004733, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Es ist ein schier unlesbares Buch, das der deutsche Autor Andrej Angrick über die „Aktion 1005“ geschrieben hat. Das gerade erschienene zweibändige Werk dokumentiert die von Himmler befohlene Spurenbeseitigung der NS-Verbrechen in Osteuropa von 1942 bis 1945. Der Autor beschreibt die Aushebung von Massengräbern, die Verbrennung von Leichenbergen und schließlich die Ermordung der an der Aktion beteiligten Häftlinge. Er benennt Orte und Verantwortliche, erklärt die Finanzierung der Aktion und rekonstruiert bis zur Beschaffung von Brennholz den Verlauf einzelner Verbrechen. Das Buch ist schwer auszuhalten, weil es uns die unfassbare Dimension des rassistisch motivierten Vernichtungs- und Eroberungskriegs in ganz Osteuropa noch einmal vor Augen führt. Dieser Krieg brach mit allen völkerrechtlichen Normen. Er war brutaler als alles, was man bis dahin kannte. Unbarmherzig richtete er sich gegen die Zivilbevölkerung. In Belarus starb jeder Vierte. Fast 3 Millionen Zwangsarbeiter, die meisten aus der Ukraine, wurden ins Deutsche Reich verschleppt. Dem Ostfeldzug ging der Nichtangriffspakt von Hitler und Stalin voraus. Er sah die Aufteilung Mittel- und Osteuropas zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion vor. 1939 erfolgte dann der deutsche Einmarsch im Westen Polens, anschließend die sowjetische Besatzung im Osten. Das Land war zerrissen zwischen zwei totalitären Regimen. Es begann durch die Deutschen ein Krieg gegen die polnischen Eliten, gegen die Jugend, gegen die Zukunft des Landes. Zehntausende wurden durch Polizei und SS gezielt ermordet. Polnische Städte und Dörfer wurden durch die deutsche Wehrmacht zerstört. Es folgten Massenerschießungen von Kriegsgefangenen und Zivilbevölkerung. Millionen Polen wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Osteuropas war dabei fester Bestandteil der nationalsozialistischen Kriegsplanung. Millionen Juden wurden in deutschen Vernichtungslagern auf polnischem Boden ermordet, davon 3 Millionen polnische Staatsbürger. Weitere 3 Millionen nicht jüdische Polen wurden Opfer der von Deutschen begangenen Verbrechen. 1941 erfolgte dann der deutsche Überfall auf die Sow­jetunion. Mehr als 27 Millionen Menschen wurden Opfer dieses brutalen Vernichtungsfeldzugs. Den rund 5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen wurde der Schutzstatus nach der Genfer Konvention versagt. Über die Hälfte der sowjetischen Kriegsgefangenen starb in Gefangenschaft infolge unmenschlicher Lagerhaft und Zwangsarbeit. Dabei war der Überfall auf die Sowjetunion 1941 ein Überfall auf einen Vielvölkerstaat. Die Kriegsopfer stammten aus allen Teilen des Staates – von der Steppe Zentralasiens bis in den Fernen Osten, wie meine Kollegin Marieluise Beck anlässlich des 75. Jahrestags des Überfalls auf die Sowjetunion betonte. Es ist sehr wichtig, sich diese historischen Tatbestände zu vergegenwärtigen, wenn man über einen Gedenkort für die Opfer des NS-Vernichtungskriegs in Osteuropa diskutiert. Zweifellos hat die Erinnerung an die von Deutschen begangenen Verbrechen in Osteuropa noch bei weitem nicht den Platz im öffentlichen Bewusstsein, den sie haben sollte. Und hätten wir noch eines Beweises bedurft, dann hat ihn heute Herr Jongen von der AfD – in Anführungsanzeichen – „eindrucksvoll“ geliefert. ({0}) Die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen in Osteuropa in einem Denkmal zu vereinen, schafft symbolisch eine Gemeinschaft der Opfer, die es so nicht gab und nicht gibt und die vor allem dem Selbstverständnis der Opfergruppen nicht entspricht. Gemeinsamkeit zu postulieren, wo sie nicht existiert, fördert die Aufarbeitung nicht. ({1}) Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, dass Gedenkorte gegen das Vergessen wichtig sind, vor allem, wenn wir hier im Deutschen Bundestag eine Fraktion der Relativierer des Holocausts sitzen haben. ({2}) Das sind Orte zum Innehalten, Orte, an denen wir uns das Geschehene aktiv ins Bewusstsein rufen. Sie sind Anlass, nachzudenken, zu trauern und Scham zu empfinden. Gerade aber weil das so wichtig ist, kann ich diesem Antrag so nicht zustimmen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kollege Grundl, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Korte?

Erhard Grundl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004733, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bitte, Herr Kollege Korte.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Kollege Kubicki.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das heißt „Herr Präsident“, Herr Kollege Korte. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, noch 15 Minuten. – Sehr geehrter Herr Kollege, danke, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ihr Beitrag ist einer, mit dem man sich ernsthaft auseinandersetzen kann. Ich habe nur eine Frage, weil ich etwas schlicht nicht verstehe. Was meinen Sie mit „Gemeinschaft der Opfer“? Warum ist sie nicht möglich? Der Ansatz in unserem Antrag ist: Wir wollen keine Ethnisierung von Opfergruppen in Osteuropa vornehmen: hier die Polen, dort die Ukrainer etc. Genau das wollen wir ja nicht, sondern wir sagen – das ist auch der Stand der Forschung –, dass es 1939 mit dem Überfall auf Polen begonnen hat – darüber haben Sie gerade gesprochen – und dass alle Opfer natürlich Opfer der sogenannten NS-Lebensraumideologie gewesen sind, nach der sowohl Polen als auch die Völker der Sowjetunion als – übersetzt gesagt – „slawische Untermenschen“ galten. Deswegen verstehe ich den Widerspruch, den Sie da aufmachen, nicht. Vielleicht können Sie ihn einmal erklären; denn genau das ist ja die ideologische Grundlage für diese massenmörderischen Exzesse gewesen, und die verbindet die Opfer.

Erhard Grundl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004733, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Korte, vielen Dank für die Frage. – Aus meiner Sicht ist es bei dieser Frage ganz zentral, dass wir nicht den Duktus, das Wording der Täter übernehmen, was wir nach meiner Überzeugung durch Ihren Antrag und die darin enthaltenen Formulierungen machen würden, sondern uns auf die Seite der Opfer stellen und von deren Perspektive aus sehen, wie sie gesehen werden wollen. Dieser Diversität, dieser Unterschiedlichkeit muss meiner Ansicht nach Rechnung getragen werden. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Korte, Zwiegespräche sind nicht erwünscht.

Erhard Grundl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004733, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Entweder wir klären es nachher, oder wir klären es im Ausschuss. – Ich denke, die Aufgabe, die vor uns liegt, ist eine andere. Es geht darum, die nationalsozialistischen Verbrechen an der Zivilbevölkerung in Osteuropa ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Es geht um die Ermordung der jüdischen Bevölkerung Osteuropas, es geht darum, das schwere Unrecht an den sowjetischen Kriegsgefangenen als Parlament anzuerkennen, aber nach meiner Überzeugung eben nicht durch ein gemeinsames Denkmal, sondern vielmehr durch eine Dokumentations- und Forschungsstätte für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik. Sie kann für uns ein wichtiger Ort der Begegnung, der Auseinandersetzung, der Trauer und Ehr­erbietung sein. Es geht dabei nicht darum, das Kapitel zu schließen und als erledigt zu betrachten, sondern darum, auch hier eine Haltung gegen das Vergessen zu finden. ({0}) Es geht darum, der Opfer zu gedenken, in Ihrer Individualität als Menschen verschiedener Religionen und verschiedener Nationalitäten, als das, was sie für ihr Land, ihre Familie und ihre Freunde waren und was für immer verloren ist – die geliebten Wesen, die Menschen mit Hoffnung und Zukunft, die man ihnen genommen hat. Ich danke Ihnen. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Grundl. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Johannes Selle, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Johannes Selle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Mein Vater hat mir oft erzählt, wie es in seiner Jugend war. Als 20-Jähriger wurde er zum Krieg in den Osten eingezogen. Aus einer tief in der Sozialdemokratie verankerten Bergarbeiterfamilie stammend folgte er mit einer gewissen Einsicht. Im Krieg musste er Funker werden. Er hatte die Befehle von Berlin an die Front weiterzuleiten. Sofort trat bei den verbrecherischen Inhalten Ernüchterung ein. Er war fassungslos bei der Erkenntnis der Wahrheit über das Regime. Im Schützengraben, berichtete er, wurden in kleiner Gruppe Gespräche darüber geführt, wie man in Deutschland neu beginnen und wie man verhindern könnte, dass derartiges Gedankengut in der menschlichen Gesellschaft wieder Fuß fasst. Seine Überzeugung war: Die Botschaft der Liebe, der Versöhnung und der Verantwortung vor Gott und den Menschen ist zu schwach geworden. Als er aus der Kriegsgefangenschaft heimkam, hat er allen anderen Zukunftsplänen abgesagt und sein Leben der Stärkung dieser Botschaft gewidmet. Das hat er so unaufgeregt – und damit umso überzeugender – gemacht, dass ich mich als Heranwachsender über die angebliche Erbfeindschaft, die „Untermenschen im Osten“ und die „Weltverschwörung der Juden als Verursacher alles Bösen“ nur wundern konnte. Am Ende seines Lebens – er ist im letzten Jahr gestorben – hat er gesagt: Ich hätte nie gedacht, dass es in Deutschland wieder möglich sein würde, Hass und Verachtung für andere Menschen öffentlich zu bekennen und die Vernichtung der Juden zu leugnen. ({0}) Ja, Deutschland hat sich durch seine intensive Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen grundlegend verändert; das hat Professor Friedländer in unserer Gedenkstunde heute bestätigt. Dies war für ihn ein Grund, zu kommen. Unsere bisweilen mit schmerzhaften Erkenntnissen verbundene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird auch vielfach im Ausland positiv erwähnt, wie ich es selbst bei Reisen erlebe. Aber wie wir an unserer gegenwärtigen Situation erkennen können: Relativierung und Leugnung, Aufbau von Feindbildern in schwierigen Situationen werden versucht. Bundestagspräsident Dr. Schäuble hat uns heute ermahnt, keine einmalige Verirrung anzunehmen, sondern mit den Abgründen der menschlichen Natur, die nicht aufgedeckt werden sollten, zu rechnen. Erinnern und Wissen um das, was war, gehören zusammen. Sie sind Pfeiler unserer demokratischen Gesellschaft. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat in seiner Rede zum 40. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation gesagt: Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit. Der Menge der Verbrechen, dem Erfindungsreichtum an Repressalien, dem Foltern und Töten, der widerlich-willkürlichen Definition von Opfergruppen stehen wir fassungslos gegenüber; das kann man in diesem Umfang nicht auf einmal erfassen. ({1}) Sich auf ein Thema zu fokussieren und zu konzentrieren, kann an einem Gedenkort mit Dokumentation besser gelingen. Ein Gedenkort ist eine besondere Würdigung und Anerkennung für Betroffene. ({2}) Wir haben auch deshalb mit besonderem Blick auf die Opfer im Osten eine Passage in den Koalitionsvertrag aufgenommen, auf die der Antrag Bezug nimmt. Wir stehen zu dieser Passage, und ich kann Ihnen versichern, dass wir uns von niemandem übertreffen lassen wollen, was Würdigung, Anerkennung und Wahrheitsfindung betrifft. So einfach, wie es in diesem Antrag, der das Anliegen der Koalitionsfraktionen geschickt aufnimmt, scheint, ist es für uns nicht. Dazu gehören Sensibilität, Pietät und fundierte Aufarbeitung. Wir glauben nicht, dass einfach mit einem einzigen Gedenkort unserer empfundenen Pflicht zur Auseinandersetzung mit dem verursachten Leid sowie den begangenen Verbrechen an den noch nicht berücksichtigten Gruppen im Osten Genüge getan werden kann. Deshalb steht auch im Text des Koalitionsvertrages: „im Dialog mit den osteuropäischen Nachbarn.“ Wir glauben, dass es die gemeinsame Wegstrecke, die wir inzwischen mit den Nationen in Europa gegangen sind, geradezu erfordert, dass im Dialog über angemessenes Gedenken Einigkeit herrschen sollte. Denn Kritik an der Form und dem Umfang eines Gedenk­ortes für alle Betroffenen würde nicht Harmonie und Aussöhnung fördern, sondern Befindlichkeiten verfestigen. Zu diesem Dialog wird aber nichts gesagt. Parallel haben wir in dieser Woche mit Kollegen – darunter auch Initiatoren dieses Antrages – zusammengesessen und diskutiert, wie wir mit dem Wunsch nach einem Denkmal für Polen weiterkommen könnten. Da gibt es eine Erwartungshaltung, die sich mit dem Programm der Zusammenarbeit anlässlich des 20. Jahrestags der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages zwischen Deutschland und Polen im Jahr 2011 verbindet. Allein daran wird deutlich, dass zu der Frage, was noch zu unserer notwendigen Aufarbeitung und unserem Erinnern gehört, eine Erörterung notwendig ist, unter Einbeziehung der Partner, deren Akzeptanz wir für erforderlich halten. Im Antrag selbst wird mit dem Satz „Durch den Zerfall der Sowjetunion … und der … staatlichen Neuordnung hat sich der Rahmen für die heutige NS-Erinnerungs- und Entschädigungspolitik verändert“ darauf aufmerksam gemacht, dass geografisch sorgfältig zu arbeiten ist und möglicherweise mit dem Begriff „Gedenkort für die Opfer des NS-Vernichtungskrieges in Osteuropa“ nicht das umfassende Gedenken und die besondere Würdigung erreicht werden, die der Antrag in Aussicht stellt. Gerade die wieder entstandenen Nationen haben empfindliche Antennen in Bezug auf ihre Wahrnehmung. Ich halte einen Gedenkort für polnische, weißrussische, ukrainische, georgische und baltische Opfer für schwierig, und diese Aufzählung muss nicht abschließend sein. Und wenn beiläufig das Wort der ungenügenden Entschädigung fällt, dann ist besondere Aufmerksamkeit geboten. Dem Gedenken an die schrecklichen Verbrechen kommt in der deutschen Erinnerungskultur eine hohe Bedeutung zu, umso mehr, da die Generation der Zeitzeugen, die noch über ihre schrecklichen Erfahrungen berichten können – so wie heute Professor Friedländer –, schwindet. Ihre Empfehlungen sind besonders wichtig. Unser bisheriges Gedenkstättenkonzept hat sich bewährt. In Deutschland gibt es insgesamt 293 Gedenkorte für die Opfer der NS-Verbrechen. Bund und Länder kümmern sich gemeinsam um den Erhalt dieser authentischen Orte. Das Erforschen noch fehlender Mosaiksteine des Gedenkens ist uns wichtig. Aber inzwischen ist es genauso wichtig geworden, dieses Gedenken zu einem unvermeidbaren Bestandteil des Lehrplanes zu machen und in der Zeit der Digitalisierung moderne Wege aufzuzeigen, auf denen junge Menschen mit diesem Thema in Kontakt kommen. Es muss uns gelingen, ihnen deutlich zu machen, dass ihre Zukunft auch auf dem Wissen um die Vergangenheit beruht und dass eine Gesellschaft ins Wanken geraten kann, wenn sie das missachtet. Meine Damen und Herren, das Konzept, das wir erarbeiten sollen, muss im Dialog mit den betroffenen Gruppen entstehen. Ich schlage vor, dass wir zunächst im Ausschuss den richtigen Weg bei diesem Konzept erörtern. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Selle. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So wenig der NS ein Betriebsunfall der deutschen Geschichte war, so wenig sind Herr Höcke und sein Satz vom „Denkmal der Schande“ ein Betriebsunfall in der Geschichte der AfD. Herr Jongen, das haben Sie heute leider eindrucksvoll bewiesen. ({0}) Ich halte ein Bild hoch. Vielleicht erkennen Sie dieses Bild. Wer ist das? ({1}) – Ich würde Sie bitten, sich in der Stunde der Erinnerung angemessen zu verhalten. Das wäre ein wichtiger Hinweis. – Ich habe eben ein Bild einer jungen Frau gezeigt, 14 Jahre alt, katholische Polin, die die NS-Vernichtungspolitik zu einem Nichts, einem Niemand erklären wollte. Sie hatte aber einen konkreten Namen. Ihr Name war Czeslawa Kwoka. Einige kennen vielleicht dieses Bild; es ist eines der bekanntesten Bilder von NS-Opfern. Diese junge Frau – eigentlich ein Mädchen, 14 Jahre alt – wurde im Rahmen der sogenannten Aktion Zamosc aufgegriffen. Die Federführung bei der Aktion Zamosc hatte der SSPF Odilo Globocnik, der auch die berüchtigte Aktion Reinhardt koordinierte. Es war Teil einer Aktion zur Umsiedlung und Germanisierung. Sie, Czeslawa Kwoka, wurde in Kategorie IV eingeteilt: „asozial“, „kriminell“, damit zur Vernichtung freigegeben. Mit ihrer Mutter wurde sie nach Auschwitz deportiert. In den Dokumenten ist festgehalten: im März 1943 Tod durch Kachexie infolge eines Darmkatarrhs, also durch Verhungern. Die Forschung konnte inzwischen nachweisen, dass sie durch eine Phenolinjektion ins Herz ermordet wurde. Diese junge Frau wurde vom Auschwitz-Fotografen Wilhelm Brasse, der selber inhaftiert war, fotografiert. Er erinnert sich zeit seines Lebens genau an diesen Moment, weil sie, da sie kein Deutsch verstand, nicht auf den Nummernaufruf reagieren konnte und daraufhin von der Aufseherin geschlagen wurde. Ihre Lippe platzte auf, und der Fotograf schilderte eindrucksvoll, wie sie dann versuchte, sich in Verzweiflung, Stolz, Mut die Tränen und das Blut wegzuwischen. Dieses Bild wurde im letzten Jahr – dadurch hat es besondere Bekanntheit erreicht – durch die Koloristin und Künstlerin Marina Amaral aus Brasilien koloriert. Erst da sieht man genau diesen Ausdruck von Mut und Verzweiflung und die aufgeplatzten Lippen. Warum erzähle ich Ihnen von dieser Frau? Ich erzähle Ihnen von dieser Frau, weil wir ja heute nicht darüber sprechen, dass wir Gedenkorte um des Gedenkens willen oder Gedenkorte unseres Gedenkens schaffen wollen, sondern Gedenkorte, die einen konkreten Adressaten haben. Es geht um leibhaftige Menschen, die unendlich im deutschen Namen und unter Deutschen gelitten haben. Parallel zu ihr waren das zum Beispiel die Menschen in Leningrad. Vor wenigen Tagen jährte sich zum 75. Mal das Ende der Blockade Leningrads, heute Sankt Petersburg. Damals war es so, dass 800 000 bis 1 Million Menschen verhungerten, erfroren oder auf sonstigem gewalttätigen Wege aufgrund der deutschen Vernichtungspolitik verstarben. Ein normaler, arbeitstätiger Leningrader hatte 250 Gramm Brot pro Tag, Senioren hatten 125 Gramm, Kinder 200 Gramm. Als Erstes starben die Senioren, als Nächstes die Säuglinge, weil die Mütter sie nicht stillen konnten. Parallel dazu verfassten deutsche Soldaten, Landser, Briefe in die Heimat – man kann sie nachlesen – und schreiben da unter anderem, sie hätten „jeden Tag 50 Gramm Butter, 120 Gramm Wurst, 120 Gramm Fleisch“, Alkohol, zu rauchen und vieles andere. – Auch das passierte parallel zu den Ereignissen in Polen. Diese beiden Gruppen – die Frau aus der Woiwodschaft Lublin, ermordet in Auschwitz, und die Menschen in Leningrad – sind nur ein Ausschnitt dessen, was deutsche Vernichtungspolitik anrichtete. Und es ist – ohne dass ich den Antrag jetzt im Detail kritisieren möchte; denn ich hielte das an diesem Tag für unangemessen – eben nicht einfach so, dass es, wie es im Antrag heißt, „neben dem systematischen Völkermord“ an Jüdinnen und Juden und Sinti und Roma die NS-Vernichtungspolitik war, die „das Zerstörungspotenzial des NS-Regimes zeigte.“ Beides war tatsächlich ineinander verwoben. Es reicht nicht, zu sagen: Nie wieder Krieg! – Gleichzeitig waren aber nur durch den Krieg die Bedingungen gegeben, Menschen, auch Jüdinnen und Juden, massenhaft zu ermorden. Es ist nicht der Augenblick, jetzt im Detail verschiedene Konzepte des Erinnerns – sie wurden schon angesprochen – miteinander zu verrechnen oder zu vergleichen. Es gibt Fragen der Ethnisierung und Nationalisierung, die wir bedenken müssen, aber auch andere Fragen, damit wir nicht einfach das Lebensraumdenken der Täter übernehmen. Ich will darüber nicht vorschnell entscheiden, aber wir müssen uns diese Fragen stellen, bevor wir womöglich in nächster Zukunft eine Entscheidung über einen Gedenkort für den NS-Vernichtungskrieg treffen. Aber auch das reicht nicht. Ich denke, wir müssen mentale Gedenkorte im Hier und Jetzt schaffen. Das heißt auch: Nie wieder Antisemitismus, nie wieder Faschismus – und zwar nicht nur als Pathosformeln, sondern gelebt. ({2}) Egal, welche politischen Beziehungen gegenwärtig zum Beispiel zu Russland oder zu Polen bestehen – das darf nicht präjudizieren, wie wir gedenken. Erst recht in diesen Situationen müssen wir angemessen gedenken. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Lindh, kommen Sie bitte zum Schluss.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Letzte, was ich erwähne, ist Folgendes: Wir sind auch aufgefordert – das ist mein Appell –, denjenigen, die den Orten der Ermordung, der Shoah by bullets nachspüren, zum Beispiel Yahad-In Unum, bessere Möglichkeiten zu geben.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, ich werde Ihnen das Wort entziehen, wenn Sie nicht zum Schluss kommen!

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Geben wir den Opfern und den Orten, an denen sie ermordet wurden, einen Namen! Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich möchte nur darauf hinweisen: Wenn alle Redner ihre Redezeit um 45 Sekunden oder eine Minute überziehen, werden wir heute Nacht um 2 Uhr fertig sein, was niemand wollen kann. Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Grundl.

Erhard Grundl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004733, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr verehrter Herr Kollege Lindh, ich wollte Ihre Rede zu diesem wichtigen Thema nicht unterbrechen, aber mir ist aufgefallen, dass sowohl Sie als auch die Kollegin Schieder die bisher nicht anerkannten Opfergruppen der Asozialen und Berufsverbrecher dezidiert angesprochen haben. Ihnen ist ja bekannt, dass es seit einem Jahr den Versuch gibt, einen interfraktionellen Antrag im Kulturausschuss durchzubringen, der die Anerkennung dieser Opfergruppen zum Ziel hat. Leider scheitert dieser interfraktionelle Antrag am Widerstand der Koalition. Ich würde gerne Ihre Erklärung dafür hören; denn wie die Kollegin Schieder haben Sie in Ihrer Rede zu Recht diese bisher nicht anerkannten Opfergruppen expliziert erwähnt. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Kollege Grundl, in dem Anliegen, dass dieser Gruppen längst nicht hinreichend gedacht wurde, sind Frau Schieder, meine Wenigkeit und Sie uns sicher einig. Sie haben mir sicherlich genau zugehört und wissen, dass ich ausgeführt habe, dass es eben nicht immer so einfach ist, die Gruppen zu trennen. Die Betroffene, von der ich berichtet habe, wurde zum Beispiel in vielerlei Hinsicht verfolgt: als Slawin, als Polin, als angebliche Widerstandskämpferin, als sogenannte Kriminelle und Asoziale. Das heißt, sie war in mehrfacher Hinsicht ein Opfer der Vernichtungspolitik. Aufgabe wird es jetzt sein – und darüber entscheiden wir nicht –, Wege des Erinnerns zu finden. Ich finde es aber nicht richtig – das ist mein Appell an Sie –, dass wir hier jetzt parteipolitische Spiele spielen und Sie uns vorwerfen, dass die Koalition das oder das verhindere. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten – jenseits von Fraktionen und jenseits von Vorwürfen –, uns dieser Gruppen angemessen zu erinnern. Eine solche Einigkeit zu finden, jenseits parteitaktischer und parteipolitscher Erwägungen, ist, glaube ich, würdevoller und richtiger. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächster Redner erhält der Kollege Alexander Müller, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Alexander Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004828, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine ehrenwerte Initiative der Fraktion Die Linke, für die Opfer des NS-Vernichtungskrieges in Osteuropa ein Denkmal zu errichten. Es waren Millionen Menschen, die vor 80 Jahren unter der Naziherrschaft in diesem Teil Europas unermessliches Leid erlitten oder gar ihr Leben verloren haben. Diese Opfer finden in unserer Erinnerungskultur auch heute noch relativ wenig Beachtung. Das sollte sich in der Tat ändern. ({0}) Für unseren direkten östlichen Nachbarn, Polen, stellt sich aber die Situation komplexer dar. Polen war nicht nur das erste Angriffsziel Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, Polen wurde nur 16 Tage später auch von der Sowjetunion angegriffen. Hitler und Stalin paktierten mit dem Ziel, Polen unter sich aufzuteilen. Vor diesem Hintergrund wäre es äußerst unangebracht und ein Zeichen mangelnder Empathie, die besondere Situation Polens außer Acht zu lassen und seiner Opfer in einem gemeinsamen Denkmal mit den sowjetischen Opfern des NS-Vernichtungskrieges zu gedenken. Mit Blick auf diese schwierige Ausgangslage begrüße ich die zivilgesellschaftliche Initiative, ein Denkmal für die polnischen Opfer der deutschen Besatzung zu errichten, welche von zahlreichen namhaften Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Kultur und Kirchen unterstützt wird. ({1}) Die Initiatoren haben recht mit der Annahme, dass ein Gedenken der Opfer der NS-Lebensraumpolitik lediglich die Täterdiktion fortsetze und eine Opfergemeinschaft konstruiere, die es so gar nicht gab. Wir werden den Polen, den Russen oder den Ukrainern nicht gerecht, wenn wir sie alle in eine slawische Opfergemeinschaft zusammenfassen. Das würde insbesondere in Polen auf Unverständnis oder gar Ablehnung stoßen. Und mit Polen meine ich nicht die aktuelle polnische Regierung, die wahrhaftig alles andere als vorbildlich die Geschichte selbstkritisch aufarbeitet. Regierungen kommen und gehen. Mit Polen meine ich die polnische Gesellschaft insgesamt. Denn es gibt kaum eine polnische Familie, deren Geschichte nicht von Leiden und Schrecken des Naziterrors geprägt ist. Dem letzten Forschungsstand zufolge kamen während des Zweiten Weltkriegs circa 5 650 000 polnische Bürgerinnen und Bürger ums Leben. Etwa 3 Millionen von ihnen waren polnische Juden, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Die Singularität des Holocausts wird mit der Initiative nicht infrage gestellt. Es geht nicht um ein Aufwiegen oder Gleichstellen der Opfergruppen und deren Erfahrungen. Es geht vielmehr darum, endlich die Verantwortung auch für den Tod zahlreicher nicht jüdischer polnischer Staatsbürger zu übernehmen und ihrer zu gedenken. Es geht darum, an deutsche Kriegsverbrechen, an Massenerschießungen und Zerstörungen in Polen und an die Zwangsarbeit zu erinnern. Es geht darum, eine Lücke in der deutschen Erinnerungs- und Gedenkkultur zu schließen. Und es geht darum, im Sinne unserer Freundschaft zu sagen: Wir erinnern und werden weiter erinnern. ({2}) Auf Polnisch: Pamiętamy i będziemy pamiętali. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Als letzter Redner hat der Kollege Michael Frieser, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem Verständnis dafür, dass man sich so selten sieht: Ich würde darum bitten, auch dem letzten Redner noch Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und das allgemeine Gemurmel und Sich-Unterhalten etwas zu dämpfen. Herr Kollege Frieser, bitte.

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Wir freuen uns für den Kultur- und Medienausschuss über das Interesse der Kollegen. Ich fasse in einem Satz zusammen, worum es geht: Es geht um die Frage, ob man für die Opfer des Vernichtungskrieges der Nationalsozialisten einen zentralen Gedenkort in Berlin schaffen könnte. Ein interessantes Thema! Ich war fast versucht, mich bei der Linken für die Initiative zu bedanken; denn anhand eines solchen Antrags muss man auch immer wieder überprüfen, wie man es denn eigentlich selbst mit der Gedenkkultur hält – besonders am heutigen Tag, der uns zu einem Gedenken zusammenruft und dafür auch geeignet ist. Allerdings, muss ich sagen, hört dieser Dank dann doch irgendwo auf; denn wir haben leider Gottes nichts über den Inhalt dieses Antrags gehört, sondern es wurde postwendend zur Frage der Entschädigungskultur – nicht der Gedenkkultur – abgebogen. Genau dann, wenn man das Thema „Gedenken und Gedenkorte“ mit der Frage von Entschädigungen zusammenbringt, tut man, finde ich, den Opfern eben keinen Gefallen. Beides ist wichtig und entscheidend für unsere kulturpolitische Debatte, aber es darf nicht in demselben Atemzug gleichwertig nebeneinander gestellt werden. ({0}) Deshalb, liebe Kollegen, will ich einmal zusammenfassen, worum es bei einer Debatte über das Thema Gedenkort geht. Die Pauschalisierung „die Opfer des Vernichtungskrieges, der Lebensraumideologie in Osteuropa“ ist so undefiniert, so ungenau, dass sie nahezu keinem Anliegen gerecht werden kann. Sie wäre natürlich – nicht, dass man es nicht gewusst hätte – deshalb auch ein Paradigmenwechsel in der bislang von uns geübten Gedenkkultur. Gedenken muss immer an definierten Orten zu spezifisch determinierten Opferrollen stattfinden. Es kommt also darauf an, an welcher Stelle und aus welchen Gründen wir Opfern tatsächlich gedenken. Nur dann macht Gedenken in Zukunft einen Sinn, weil wir dann dieser zugeschriebenen Opferrolle auch wirklich gerecht werden können. Selbstverständlich haben in diesem Kontext Holocaustopfer immer eine unvergleichliche und deshalb auch besondere Bedeutung. Es ist ja nicht so, dass man nicht wissenschaftlich genau versuchen würde, dieser Rolle im Rahmen der Gedenkstättenkonzeption des Bundes gerecht zu werden. Auch der Gedanke, der diesem Antrag zugrunde liegt, ist nicht neu. Ich sage es noch einmal: Die Frage nach einem gemeinsamen Gedenkort in Berlin ist schwierig, die Aufarbeitung der historischen Wahrheit ist allerdings absolut notwendig, und das passiert auch. Das gilt auch für das Einbeziehen unserer Nachbarn. Ich darf an die Überlegungen zu einem Gedenkort für die gefallenen, für die ermordeten Polen erinnern. Die Frage, an welcher Stelle diesem Gedenken Rechnung getragen werden kann, ist – gerade in diesem Kontext und gerade im Zusammenwirken mit den polnischen Nachbarn – schwierig. Wir müssen erkennen, dass die Begriffe „Osteuropa“ und „Vernichtungskrieg“ so generalisiert sind, dass sie zu einer räumlichen Gedenkpraxis führen würden und damit den Fragen der spezifischen Verfolgung nicht Rechnung getragen und das individuelle Leid überhaupt nicht gewürdigt werden könnte. Ich glaube, es ist entscheidend, dass man in diesem Kontext auch die historischen Konnotationen bedenkt, dass man genau unterscheidet, und zwar unabhängig davon, ob es um Relativierung geht oder die Berücksichtigung bestimmter Nationalismen. Klar ist, dass rassistische und verfolgungsrelevante Typisierungen entscheidend sind. Wir wissen ganz genau, warum wir auch diese verfolgungsrelevanten Typisierungen einem Gedenken zuführen müssen. Das spiegelt sich in dem Ausdruck „Wehret den Anfängen!“. Es ist wichtig, zu sagen, dass es nicht nur eine Gedenkstätte für verfolgte Juden gibt. Es gibt eine Gedenkstätte für verfolgte und ermordete Homosexuelle, es gibt eine Gedenkstätte für die verfolgten anders politisch Denkenden, es gibt eine Gedenkstätte für die Verfolgten, die anderen Glaubens waren. Wir stellen zum Beispiel fest, dass wir das Gedenken an diejenigen, die wegen ihres Einsatzes für den christlichen Widerstand ermordet wurden, im öffentlichen Bewusstsein durchaus präsenter gestalten können. Ich komme zum Ende. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben in der Gedenkfeier heute Morgen noch einmal eindrücklich erlebt: Leiden ist etwas Unteilbares. Deshalb kann das Gedenken an dieses Leiden – das ist entscheidend – dem Anspruch, ein innerer Antrieb für uns zu sein, nur dann gerecht werden, wenn wir auch und gerade dieser typischen Opferrolle gedenken. Je einheitlicher, je deutlicher wir das abgrenzen können, desto eindeutiger wird in Zukunft unsere innere Bereitschaft sein, uns mit diesem Leiden zu identifizieren, damit es gerade kein rituelles Gedenken, sondern ein persönliches Gedenken ist. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Frieser. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/4917 an den Ausschuss für Kultur und Medien vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe und höre, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Denjenigen Kollegen, die uns hier erreicht haben, weil sie an der Wahl teilnehmen wollen, bereite ich jetzt eine wunderbare Überraschung: Wir haben eine Vielzahl von Abstimmungen zu Tagesordnungspunkten ohne Aussprache vor uns. Deshalb bitte ich alle Kolleginnen und Kollegen, in ihren Fraktionsreihen Platz zu nehmen. Ansonsten wird es für das Präsidium sehr schwierig, festzustellen, wie die jeweiligen Mehrheitsverhältnisse sind. Nehmen Sie freundlicherweise in den Reihen Ihrer Fraktion Platz. – Ich werde die Abstimmungen nicht einleiten, bevor ich nicht sicher sagen kann, wer zu welcher Fraktion gehört. – Oder Sie gehen raus; das geht natürlich auch. Von hier oben ist das wirklich unübersichtlich. Ich rufe erst einmal die unstreitigen Punkte auf. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 e sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf. Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die sogenannte Kohlekommission hat ihre Stellungnahme veröffentlicht und der Bundesregierung übergeben. Am heutigen Abend soll es dazu auch eine Sitzung im Bundeskanzleramt geben. Die Fraktion der FDP hat diese Aktuelle Stunde beantragt, damit über diese weitreichende Frage auch im Parlament debattiert werden kann; denn das hier ist der Ort für die Entscheidungen, die danach demokratisch legitimiert getroffen werden müssen. ({0}) Das kann man nicht delegieren. Es ist Ausweis einer bestimmten Regierungspraxis, Entscheidungen in Kommissionen zu verlagern und deren Ergebnisse dann als gesetzt hinzunehmen. Gerade in diesem Fall darf das nicht passieren. Wir haben Respekt vor all denjenigen, die in der Kommission gearbeitet haben und viel Zeit investieren mussten. Aber es war eine Regierungskommission. Das heißt, die Regierung selbst hat die Expertinnen und Experten sowie die Betroffenen ausgewählt, die dann vorgelegt haben, was das Ergebnis sein soll. Wir hier im Parlament wollen darüber in der Öffentlichkeit debattieren. Wir wollen dann andere Fragen zusätzlich erörtert wissen, und zwar zusammen mit Experten in öffentlicher Sitzung. Wie ist es um die Versorgungssicherheit bestellt? Wie ist es um die Kosten für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bestellt? Wie ist es um die Entwicklung der Strompreise bestellt? In dieser Regierungskommission waren viele präsent. Aber diejenigen, die das alles bezahlen müssen, hatten in der Kommission keine Lobby. ({1}) Wir möchten wissen, welche Alternativen es gegeben hätte. Es wird nun gesagt, der Ausstieg aus der Kohleverstromung sei nun beschlossen worden. Das ist eine Falsch­meldung. Der Ausstieg aus der Kohle war schon viele Jahre zuvor beschlossen worden, nämlich mit der Einführung des europäischen CO 2 -Zertifikatehandels. Im vergangenen Jahr ist der Entwicklungspfad noch einmal beschleunigt worden durch die Veränderung des Emissionshandels in Europa. ({2}) Was hier beschlossen werden soll, wenn es nach der Kommission geht, ist etwas ganz anderes. Beschlossen werden soll ein anderer Weg hin zum schon zuvor bekannten Ziel. Ein neuer Weg soll beschritten werden. Es geht nämlich nicht mehr um die indirekte Steuerung durch Markt und Preis, sondern um einen direkten Eingriff in die wirtschaftliche Freiheit, um Planwirtschaft und Bürokratismus. Das ist der andere Weg, der beschlossen werden soll. ({3}) Wenn Sie es nicht glauben, dann schauen Sie sich doch an, was Expertinnen und Experten dazu sagen. ({4}) – Warten Sie mal ab! – Ich nehme wahr, dass sich die deutsche Energiewirtschaft öffentlich nicht beschwert. Fällt Ihnen das auch auf? Die deutsche Energiewirtschaft beschwert sich nicht! Am Montag hatte ich Ottmar Edenhofer vom Potsdam-Institut in meinem Büro zu Gast. Er warnt vor den Ergebnissen der Kohlekommission, weil die Vorschläge nicht klimaschonend sind. Und was sagt das aus, dass sich die Energiewirtschaft nicht beschwert, aber die Klimaforscher aus Potsdam sich beschweren. Das zeigt mir nur eines: Die Lösung, die gefunden wurde, ist teuer, aber für das Klima unwirksam. Das kann doch nur die Konsequenz sein. ({5}) – Sprechen Sie doch mit dem Potsdam-Institut, meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie es nicht glauben. Ich weiß schon, was jetzt kommt. Wir werden jetzt auf einer planwirtschaftlichen Basis schneller aus der Kohle aussteigen. In den 20er-Jahren werden überall, vielleicht sogar öffentlich gefördert, Gaskraftwerke entstehen. Im Jahr 2030 führen wir das ganze Spiel noch einmal auf. Dann geht es über die vom Steuerzahler subventionierte Beendigung der Gasverstromung in Deutschland. ({6}) Besser wäre es, wir wären einen anderen Weg gegangen, den übrigens Herr Edenhofer und andere auch empfehlen, nämlich CO 2 einen Preis zu geben, und zwar über alle Sektoren hinweg, die wir koppeln, um den Innovationsmotor Markwirtschaft anzuschmeißen und an der Stelle jeweils CO 2 einzusparen, wo es am günstigsten ist. ({7}) Das wäre ein Weg gewesen. Aber das wollen Sie nicht. Bündnis 90/Die Grünen sind diejenigen in diesem Haus, die das überhaupt gar nicht wollen; denn Ihnen geht es nicht nur um die CO 2 -Einsparung. Ihnen geht es in Wahrheit darum, Ihre Vorstellungen von Leben, Arbeiten und Wirtschaften durchzusetzen, und dabei ist der Klimaschutz oft nur ein Instrument und nicht das Ziel. ({8}) Wir wollen einen CO 2 -Preis, wollen ein marktwirtschaftliches, europäisches Instrument; denn Versorgungssicherheit, Klimaschutz und Bezahlbarkeit von Energie sind drei gleichberechtigte Ziele. Leider wird die Große Koalition wohl einen Weg beschreiten, einseitig nur ein Ziel in den Blick zu nehmen. Das ist für den Standort Deutschland von Nachteil. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Für die Bundesregierung ergreift jetzt das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Oliver Wittke. ({0})

Oliver Wittke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004445

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Lindner, das war eine verdammt dünne Suppe, die Sie hier abgeliefert haben. ({0}) Um es klar und deutlich zu sagen: Heute Abend wird der Abschlussbericht der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ der Bundesregierung, der Bundeskanzlerin, dem Bundeswirtschaftsminister und den Ministerpräsidenten der Länder überreicht. Es bedurfte daher nicht Ihres Antrages auf eine Aktuelle Stunde, um die Thematik hier in diesem Hohen Hause zu debattieren; denn offiziell liegt der Abschlussbericht noch nicht vor. ({1}) Wir werden noch ausreichend Gelegenheit haben, darüber zu debattieren. ({2}) Wir werden beispielsweise beim 150-Millionen-Euro-Sofortprogramm die Möglichkeit haben, hier in diesem Hause darüber zu debattieren. Wir werden beim Sofortprogramm für unternehmerische Investitionen die Möglichkeit haben, hier in diesem Hause zu diskutieren. ({3}) Wir werden über das Maßnahmengesetz diskutieren können. Wir werden, wenn wir der Kommission folgen, über das Kohleausstiegsgesetz, über die Strompreiskompensation, über die Bergbaufolgelasten, über arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und gegebenenfalls auch über ein Sonderfinanzierungsprogramm zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur zu debattieren haben. Das heißt, wir werden noch ausreichend Gelegenheit haben, in diesem Hohen Haus zu diskutieren. Also noch einmal: Es bedurfte gar nicht Ihres Antrages auf diese Aktuelle Stunde. ({4}) Zu einem weiteren Punkt. Sie haben gerade gesagt, die Energiewirtschaft beschwert sich nicht. – Ja, wie soll sie sich auch beschweren? ({5}) Das, was im Konzept stehen soll, ist noch nicht ausformuliert. Das sind erste Vorschläge, die mit Inhalten gefüllt werden müssen. ({6}) Es muss Verhandlungen mit der Energiewirtschaft beispielsweise über die vorzeitige Beendigung von Tagebauen geben. ({7}) – Herr Lindner, können wir weitermachen? ({8}) – Ja, wunderbar. Ich weiß, dass du gleichzeitig hören und reden kannst. Aber vielleicht ist das mit dem Verstehen einfacher, wenn man sich aufs Hören konzentriert. ({9}) Wir werden noch viele Debatten in diesem Hohen Haus zu führen haben. Wir werden Debatten mit der Stromwirtschaft zu führen haben. Wir werden Debatten mit den Ländern zu führen haben. Wir werden Debatten mit den Regionen und mit den Kommunen zu führen haben. Was mich am meisten schockiert, ist: Da findet eine allererste Debatte zu diesem Thema auf Antrag der FDP-Fraktion statt, aber über die Betroffenen verliert der Fraktions- und Parteivorsitzende der FDP hier kein einziges Wort. ({10}) Ich finde, das ist armselig. Denn wenn wir über die Beendigung des Braunkohlebergbaus in Deutschland sprechen, geht es um mehr als um energiepolitische Themen, ({11}) es geht um viel mehr als um Geld, es geht um viel mehr als um irgendwelche Strukturmaßnahmen. Vielmehr geht es zuerst einmal darum, dass man mit den Menschen vor Ort redet, dass man mit den Menschen umgeht und die Menschen in ihren Ängsten, Sorgen und Nöten ernst nimmt. ({12}) Das spielt bei Ihnen überhaupt keine Rolle. ({13}) Ich weiß nicht, ob Sie schon mal in der Lausitz waren. Ich weiß nicht, ob Sie im mitteldeutschen Revier waren. Ich empfehle Ihnen: Fahren Sie dorthin, und sprechen Sie mit den Menschen vor Ort. Dann werden Sie sehen, was diese Menschen erwarten. ({14}) Die Menschen erwarten Planungssicherheit. Die Menschen erwarten, dass sie ernst und wahrgenommen werden. Die Menschen erwarten, dass sie keinen zweiten Strukturbruch erleiden, ({15}) wie sie ihn vor 25 Jahren erlebt haben. Genau dafür wollen wir sorgen. ({16}) Wir werden die Sorgen und Ängste der Menschen ernst nehmen. Darum steht für uns zu Beginn der Debatte nicht die energiepolitische Frage, nicht die CO 2 -Frage im Vordergrund. Vielmehr müssen wir zuallererst darüber reden, wie wir die Strukturen verändern, sodass neue Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden und die Braunkohleregion eine Perspektive der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung erhält. Das ist ganz besonders wichtig. ({17}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, darüber hinaus geht es auch um den Aspekt der Sozialverträglichkeit im Anpassungsprozess. Die Strukturkommission hat vorgeschlagen, dass wir ähnlich wie in der Steinkohle durch verschiedene Maßnahmen sicherstellen wollen, dass kein Bergmann ins Bergfreie fällt. Das ist für uns in der Bundesregierung ein ganz besonders wichtiges Thema. Wir wollen einen sozialverträglichen Anpassungsprozess. Wir wollen, dass nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, sondern insbesondere die der energieintensiven Wirtschaft Berücksichtigung findet. Es geht nämlich neben der Versorgungssicherheit vor allem darum, die Bezahlbarkeit von Strom in Deutschland sicherzustellen. Dazu macht die Kommission unterschiedliche Vorschläge. Auch darüber werden wir zu debattieren haben. Ich kann an dieser Stelle schon sagen, dass neben der Versorgungssicherheit die Bezahlbarkeit des Stroms für uns von ganz besonderer Bedeutung ist. ({18}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir werden noch viele Gespräche mit den Ländern zu führen haben. Da geht es dann um strukturpolitische Maßnahmen. Ich will eines schon ankündigen: Einfach nur Geld zu überweisen, wird am Ende zu wenig sein. Vielmehr wollen wir, dass das Geld zielgerichtet für den Strukturwandel und für neue Arbeitsplätze eingesetzt wird. Wir wollen nicht irgendwo irgendwelche Näpfe aufstellen. Es gibt eine alte Weisheit, die besagt: Dort, wo Näpfe aufgestellt werden, kommen auch die satten Hunde fressen. Es geht darum, gute Ideen zu fördern und Innovationen, technischen Fortschritt und Entwicklung in die Braunkohlereviere zu bringen, damit die Menschen vor Ort eine Perspektive haben und weiterhin Arbeit und ihr Auskommen finden. ({19}) Es geht um noch etwas: Wir wollen, dass es vor Ort möglich ist, industrielle Arbeitsplätze zu schaffen; denn wir wissen, dass wir wegfallende industrielle Arbeitsplätze nicht einfach durch Forschung und Entwicklung ersetzen können. Wir brauchen industrielle Kerne, gerade in den Industrierevieren, im mitteldeutschen Revier, im rheinischen Revier, in der Lausitz und auch im Helmstedter Revier. Darum wollen wir uns bemühen. Auch dazu macht die Kommission eine Reihe von Vorschlägen, beispielsweise die Reaktivierung von Brachflächen von ehemaligen Kraftwerksstandorten, von ehemaligen Nebenanlagen der Braunkohleförderung, Brikettfabriken und anderem mehr. Hier wollen wir uns engagieren. Wir wollen den Menschen eine Perspektive geben. Wenn ich das alles zusammennehme, dann kann ich sagen, dass die Empfehlung der Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung ein starkes Signal ist. ({20}) Sie ist ein starkes Signal für neue Jobs, ein starkes Signal für sichere Energieversorgung, für bezahlbaren Strom und am Ende auch ein starkes Signal für weniger CO 2 . Wir werden die Energiewende ohne Maßnahmen in der Braun- und in der Steinkohle nicht gewuppt bekommen. Darum werden wir in den nächsten Wochen und Monaten eine Vielzahl von Initiativen hier in diesem Parlament starten. Wir werden unterschiedliche Konzepte vorlegen, damit Versorgungssicherheit, damit Bezahlbarkeit und damit die Umweltverträglichkeit der Energieversorgung in einen Gleichklang gebracht werden können. In der Vergangenheit war es so, dass Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Wir haben konkrete Vereinbarungen zur CO 2 -Dezimierung getroffen, aber wir haben keine konkreten Vereinbarungen hinsichtlich der Bezahlbarkeit und der Verfügbarkeit von Strom getroffen. Das wird diesmal anders sein. ({21}) Das ist auch der Grund, warum die Kommission drei Revisionszeitpunkte vorschlägt. Wir werden 2023, 2026 und 2029 all das, was wir in diesem Jahr und in den kommenden Jahren beschließen werden, einer Revision unterziehen. Ich glaube, auch das ist zwingend notwendig, wenn man ein seriöses Konzept vorstellen will. Ich fasse das alles zusammen: Ich danke ganz ausdrücklich der Kommission dafür, dass sie diesen Bericht vorgelegt hat. Wir sind froh darüber, dass es einen breiten gesellschaftspolitischen Konsens gibt, ({22}) dass die unterschiedlichen Gruppierungen alle diesem Konzept zugestimmt haben. Da saßen auch grüne Vertreter mit am Tisch; das wissen Sie, Herr Krischer. Reiner Priggen, Ihr langjähriger Fraktionsvorsitzender im nordrhein-westfälischen Landtag, hat diesem Konzept zugestimmt. Darum ist es eine gute Grundlage und eine gute Basis für die weiteren Beratungen. Auf die freue ich mich und lade Sie dazu auch in diesem Hause ganz herzlich ein. Herzlichen Dank. ({23})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Karsten Hilse. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kohlekumpel! Ich beginne mit Genehmigung mit einem leicht gekürzten Zitat des von mir hochgeschätzten Henryk Broder: Diese Klima-Geschichte hat alle Ingredienzien, alle Kennzeichen einer Glaubensbewegung: Da gibt es die gläubigen Massen, die ihre Kirchentage abhalten wie zuletzt die Klimakonferenz in Kattowitz, da gibt es Helden wie die kleine Greta aus Schweden, da gibt es die Geistlichen wie Herrn Schellnhuber und andere Wissenschaftler oder Mehr-oder-weniger-Wissenschaftler, die die Rolle der Priester übernehmen, und dann gibt es die Ketzer, die Häretiker ... In Ihren Augen bin ich ein Ketzer, weil ich den modernen Ablasshandel in Form des EEG beklage und einfach nicht hinnehmen will, dass der natürliche Klimawandel plötzlich menschengemacht ist, obwohl doch so viele daran glauben, aber letztlich trotz vieler millionenschwerer Bemühungen keinen einzigen Beweis für ihre Hypothese vorbringen können. ({0}) Diesem Glauben folgend will die Bundesregierung mittels der Kohleausstiegskommission nun aus der Kohleverstromung aussteigen, circa 40 Prozent der Stromgrundlast wohlgemerkt. Doch selten hat eine Regierungskommission so viele Luftschlösser aufgepumpt wie diese. Selten hat eine Regierungskommission so exakte Handlungsanleitungen formuliert, wie größtmöglicher Schaden anzurichten ist, während sich gleichzeitig eventuelle Kompensationsmaßnahmen im Erfinden von Luftschlössern erschöpfen. Im Bericht wimmelt es dazu von Konjunktiven wie beispielsweise „könnte“ oder „sollte“. Es werden schön klingende Begriffe wie „Fraunhofer Institut“ oder „Reallabore“ verwendet, die Jobs generieren sollen. Da sollen dezentrale Speicher ausgebaut werden, die es noch nicht einmal im Ansatz gibt, von großtechnisch verfügbar gar nicht erst zu reden – und das alles, um zu verschleiern, dass man keine Ahnung hat, wie die Jobs, die auf dem Altar dieses Klimaglaubens geopfert werden sollen, auch nur ansatzweise ersetzt werden können. ({1}) Das Einzige, was diesen Non-Experts einfiel, war, zig Milliarden Euro Steuergelder dem Steuerzahler wegzunehmen, um damit von Beamten zu planende Luftschlösser in die dann entstandene Jobwüste zu stellen. Jeder von Ihnen auf der Regierungsbank hat geschworen, Schaden vom deutschen Volke abzuwenden. Was Sie tun, ist das exakte Gegenteil. Sie erzeugen nicht nur riesige Schäden an Geld, an Wertschöpfung und damit Wohlstand, Sie zerstören auch die Zukunft Deutschlands, nicht nur der Kohlereviere und Kraftwerke, sondern auch aller anderen. ({2}) Es reicht Ihnen nicht, dass Sie die sichersten Kernkraftwerke der Welt auf dem Altar einer Panikpartei geopfert haben, es reicht Ihnen nicht, dass schon jetzt der Strompreis der höchste in Europa ist und sich allerorten Energiearmut – in Deutschland eigentlich nie gehört – breitmacht. Damit das Volk diese Abschaltungen nicht mitbekommt, werden natürlich keine Haushalte von der Stromversorgung getrennt, sondern beispielsweise Alu­hütten. Schauen Sie mal bei Google nach, da können Sie etwas darüber lesen. Jetzt wollen Sie auch noch die Axt an die heimischen Kohlekraftwerke legen. Sie sind die einzig verbleibenden Kraftwerke, die billigen Strom aus heimischer und teilweise importierter Kohle erzeugen und jederzeit diesen benötigten Strom an jede Stelle im Land und ohne neue Leitungen störungsfrei und billig liefern können. ({3}) Auch die sollen jetzt auf dem Altar der neuen Glaubensbewegung geopfert werden. Jede Versorgungssicherheit, jede Bezahlbarkeit, jede Umweltverträglichkeit werfen wir einfach über Bord – weg damit, der neue Glaube verlangt es so. Alle, die in diesem Land ihr Brot noch redlich verdienen, müssen extrem teuer dafür bezahlen. Die Kohlekommission, in der kein Energiefachmann und kein Netzfachmann sitzt, sondern vorrangig Ideologen und religiös motivierte Umwelt- und Klimaschützer, spricht von 40 Milliarden Euro. Das Institut der deutschen Wirtschaft erwartet 100 Milliarden Euro und Eric ­Schweitzer vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag – schon realistischer – gar 170 Milliarden Euro. Aber es wird viel, viel teurer werden. Vor allem kostet es Hunderttausende hoch wertschöpfende Jobs und ist noch dazu absolut überflüssig; denn niemand in Deutschland, niemand in der EU oder in der Welt kann das Klima schützen, weil man einen statistischen Mittelwert von Wetter über lange Zeiträume – das ist eben Klima – nicht schützen kann. Man kann auch das Mondlicht nicht schützen, man kann Ebbe und Flut nicht verbieten und auch nicht schützen. Jeder, der behauptet und vielleicht auch selbst noch daran glaubt, das Klima ließe sich schützen, muss wissen – und Sie, werte Kollegen hier, wissen es, aber ignorieren es –, dass Deutschlands Beitrag bei Absenkung unserer CO 2 -Emissionen auf null rein theoretisch und maximal eine Verminderung der hypothetischen Welterwärmung von 0,000653 Grad Celsius bringen würde. Dafür und nur dafür wollen Sie die Hunderttausende wertschöpfenden Jobs opfern – fest im Glauben, die Welt zu retten, koste es, was es wolle, und wenn es das eigene Volk ist. Ich schließe mit einem Zitat von Hamed Abdel-­Samad: Ich bin vom Glauben zum Wissen konvertiert. Liebe Zuschauer, von den hier schon länger Herumsitzenden – bis auf wenige Ausnahmen – ist das nicht zu erwarten. Aber bitte konvertieren Sie zum Wissen! Lassen Sie sich von den falschen Weltuntergangspropheten nicht länger hinters Licht führen! Glück auf und vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Für die Fraktion der SPD spricht jetzt der Kollege Dr. Matthias Miersch. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lindner, als Erstes möchte ich mich im Namen der SPD-Bundestagsfraktion bei jedem Einzelnen der Kommissionsmitglieder bedanken. ({0}) Diese Kommissionsmitglieder haben weitaus mehr Verantwortung übernommen als Sie in den letzten anderthalb Jahren. ({1}) Diese Kommissionsmitglieder haben nicht den Christian Lindner gemacht, sondern sie haben Verantwortung übernommen, einschließlich Herrn Professor Schellnhuber vom Potsdam-Institut – da müssen Sie sich ein bisschen besser informieren –, der diesem Kompromiss zugestimmt hat. ({2}) Aber richtig ist: Jeder Einzelne hätte, wenn er alleine entschieden hätte, sicherlich anders votiert. Aber die Frage, die sich die SPD-Bundestagsfraktion gestellt hat, als wir diese Kommission in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben haben, war und ist: Wie können wir eigentlich einen gesellschaftspolitischen Konsens in dieser Demokratie herstellen, der über Jahrzehnte halten kann? Ich glaube, es ist ein gutes Fundament, was diese Kommission in dieser entscheidenden Menschheitsfrage erwirtschaftet hat. ({3}) Dass nun ausgerechnet die FDP den Steuerzahler erkennt! ({4}) Herr Lindner, in den letzten 20 Jahren haben Sie – auch an verantwortungsvoller Position – 4 Jahre regiert. ({5}) Ihre Energiepolitik, was hat die denn gebracht? Sie haben die Laufzeit der Atomkraftwerke verlängert und haben dann wieder die Rolle rückwärts gemacht – mit der Folge, dass die Steuerzahler heute noch Milliardenforderungen zu begleichen haben. Dafür sind Sie verantwortlich. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir brauchen – ich glaube, das ist auch im Sinne einer liberalen Partei –, ({7}) ist doch, dass wir Planungssicherheit bekommen, dass auch Wirtschaft weiß, worauf sie sich in den nächsten 20 Jahren einlässt. ({8}) Deswegen lässt sich dieses Thema meines Erachtens nur dadurch lösen, dass wir tatsächlich drei Komponenten zusammen denken, ({9}) nämlich die ökologische Frage, die soziale Frage und die wirtschaftliche Frage. ({10}) All das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist in diesem Beschluss niedergelegt. ({11}) Im Übrigen: Wir werden auch in diesem Parlament noch an vielen Stellen über die einzelnen Fragen diskutieren. Aber das Erste, was feststellbar ist, ist: Wenn wir diesen Weg der Kommission gehen, dann schaffen wir weitaus mehr Klimaschutz, als Jamaika in den Ursprüngen vorhatte; denn wir machen nicht nur 2022 unser Klimaziel fest, sondern wir haben einen Kohleausstiegspfad, der dann sogar noch ein Ende hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist weitaus mehr als das, was jemals hier in diesem Parlament zur Abstimmung gestanden hat. ({12}) Das Zweite, Herr Kollege Lindner, was entscheidend ist, ist, dass Sie in den USA beobachten können, was neoliberales Denken mit Regionen anrichtet, wo es keine staatliche Unterstützung gibt. Das ist gerade nicht unser Weg, sondern wir sagen: Wir lassen keine Region im Stich. ({13}) Wir wollen, dass der Staat Strukturentwicklung mitgestaltet, und zwar aktiv. ({14}) Drittens. Ich glaube schon, dass man berücksichtigen muss, was mit den Beschäftigten ist. Auch hier hat die Kommission einen sehr klaren Weg vorgezeichnet. Ich bin ausgesprochen dankbar, dass es Gewerkschaften und Umweltverbände gewesen sind, die diesen Kompromiss ermöglicht haben, Kolleginnen und Kollegen. ({15}) Jetzt noch etwas zum Steuerzahler. Was ist das überhaupt für ein Bild: „Der Steuerzahler saß nicht am Verhandlungstisch“ – unabhängig davon, dass all diejenigen, die dort saßen, mit Sicherheit sehr verantwortlich Steuern zahlen. Aber was würde es eigentlich kosten, wenn wir diesen Weg nicht gehen würden? Wer redet über die volkswirtschaftlichen Kosten des Klimawandels? ({16}) Das DIW haben Sie gerade zitiert: 800 Milliarden Euro alleine für die Bundesrepublik Deutschland. Mit diesen volkswirtschaftlichen Folgekosten müssen Sie sich auch mal auseinandersetzen. ({17}) Und was würde es für die deutsche Industrie und die deutsche Wirtschaft bedeuten, wenn wir als Exportnation auf die Industrie, auf die Technologie von gestern setzen würden? Auch das wäre ein Desaster, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({18}) Insofern: großen Strich drunter. Ich glaube, die Rechnung ist aufgegangen. Nur so lassen sich die großen gesellschaftspolitischen Fragen lösen. Ich wünsche mir sehr, dass uns etwas Ähnliches im Bereich der Mobilität gelingt, ({19}) im Bereich der Landwirtschaft, wo wir ähnliche, große gesellschaftspolitische Fragestellungen zu stemmen haben. Ich freue mich über dieses Ergebnis, und ich freue mich über die nächsten Monate, in denen wir das Ergebnis der Kommission umsetzen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({20})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Mir liegt inzwischen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahl eines Mitgliedes für das Kuratorium der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ vor: abgegebene Stimmen 651, alle gültig. Mit Ja haben gestimmt 203 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 405 Abgeordnete, 43 Abgeordnete haben sich enthalten. Das bedeutet: Der Abgeordnete Uwe Witt ist als Mitglied für das Kuratorium nicht gewählt. ({0}) Wir fahren fort in der Debatte. Als Nächste spricht für die Fraktion Die Linke die Kollegin Caren Lay. ({1})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Klimawandel ist schon jetzt in erschreckender Art und Weise spürbar. In immer mehr Ländern steht den Menschen buchstäblich das Wasser bis zum Hals. Dürren und Hitzewellen machen den Klimawandel auch hier bei uns spürbar. Da ist es doch klar: Wir brauchen den Kohleausstieg, wir brauchen die Energiewende – und zwar so schnell wie möglich. ({0}) Ja, ich komme auch aus der Lausitz. Ich kenne die Ängste der Menschen. ({1}) Viele haben Angst, dass sich das wiederholt, was in den 90er-Jahren passiert ist, als die Leute von heute auf morgen auf der Straße standen und sie später durch Hartz IV aufs Abstellgleis gestellt wurden. ({2}) Das war ein Schock, der vielen bis heute in den Knochen sitzt. Eines muss klar sein: Das darf sich nie wiederholen! ({3}) Aber jetzt vorzuschlagen, wie es beispielsweise die FDP macht, man soll den Kohleausstieg dem Markt überlassen, kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein. Da ist es doch tausendmal besser, jetzt Planungssicherheit ({4}) für Klima und für die Region zu schaffen, statt zu warten, bis die LEAG irgendwann von heute auf morgen den Laden dichtmacht. Damit ist doch wirklich niemandem geholfen. ({5}) Zur AfD will ich eines sagen, Herr Hilse. Nicht nur, dass Sie den Klimawandel leugnen, ({6}) Sie kämpfen gar nicht für die Kohlekumpel. Sie spielen mit ihren Ängsten, Sie lügen den Leuten noch in die Tasche, ({7}) und das ist keine verantwortungsvolle Politik. ({8}) Wir als Linke wollen – erstens – einen frühen Kohleausstieg. Zweitens: Wir wollen Beschäftigungsgarantien und Einkommenssicherheit für die Betroffenen in den Revieren. ({9}) Und drittens: Wir wollen Unterstützung für die Regionen. Kohleausstieg und soziale Absicherung – das gehört zusammen, das darf kein Widerspruch sein. ({10}) Ich komme – erstens – zum Kohleausstieg. Tausende Schülerinnen und Schüler ermahnen uns jeden Freitag: ({11}) Es gibt nur diese Erde. Es gibt keinen Planeten B. – ({12}) Da muss man ganz klar sagen: Der Kohleausstieg 2038 ist zu spät! Wir brauchen einen schnelleren Einstieg in den Ausstieg. Alles andere ist unverantwortlich. ({13}) Zweitens. Was ist mit den Beschäftigten? Diese Fragen müssen wir uns in der Tat stellen. ({14}) Wir als Linke haben Beschäftigungsgarantien und Einkommenssicherheit gefordert. Ich finde schon, das sind wir den Menschen schuldig. ({15}) Wenn die Kommission jetzt verbindliche Sicherheitszusagen fordert, dann ist das ein Schritt in diese Richtung. Ich bin nur gespannt, ob und wie diese Regierung das in Gesetze fassen wird. Wir als Linke werden darauf achten. Da können sich die Beschäftigten auf Die Linke als Opposition hier im Bundestag verlassen. ({16}) Drittens. Strukturhilfen für die Region sind gut und richtig, und sie sind längst überfällig. Wenn FDP und AfD hier von „Steuerverschwendung“ sprechen, dann ist das beschämend. Fahren Sie einmal mit dem Zug von Berlin nach Hoyerswerda! Das ist doch die Wiederentdeckung der Langsamkeit. Sprechen Sie mit den Unternehmen in der Region, die um einen Kleinkredit zur Wiedereröffnung eines Landgasthofes zwei Jahre lang betteln müssen. ({17}) Wir brauchen die Unterstützung in der Region. Das will ich an dieser Stelle ganz klar sagen. ({18}) Aber eines brauchen wir nicht: umfangreiche Entschädigungen für die Kohlekonzerne und Ausweitung der Industrierabatte. Das ist nun wirklich ein Stück aus dem Tollhaus. ({19}) Dass ausgerechnet diejenigen, die die Energiewende verweigern, jetzt auch noch Extrarendite in Milliardenhöhe bekommen, kann ich nicht verstehen. Auch wenn es in den Vorstandsetagen von RWE und LEAG nicht gerne gehört wird: Es gibt kein Recht auf Rendite! ({20}) Meine Damen und Herren, 6 Milliarden Euro für Aktionäre und Vorstandsgehälter – da dürften doch wirklich in den Energiekonzernen die Champagnerkorken knallen. Dieses Geld wäre in Beschäftigungsgarantien und Einkommenssicherheiten deutlich besser angelegt. ({21}) Wenn wir hier die ganze Zeit von Sicherheiten sprechen, möchte ich auch einmal sagen, dass diese Sicherheit ferner für diejenigen gelten muss, die diesen Kohleausstieg erkämpft haben. Und das war eben nicht die Kohlekommission, sondern das war die Klimabewegung. Da bleibt der Bericht aber bei vagen Formulierungen. Wir als Linke sagen ganz klar: Der Hambacher Forst muss bleiben. Kein Dorf darf mehr für die Kohle fallen. ({22}) Wir brauchen Garantien, dass Proschim, Pödelwitz und Co nicht abgebaggert werden. Wir als Linke werden deshalb auch in den kommenden Wochen an der Seite der Klimabewegung kämpfen. Wir brauchen eine Lösung für Klima und Beschäftigte, und nicht für Kohle und Konzerne. ({23}) Vielen Dank. ({24})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Abgeordnete Oliver Krischer. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass Deutschland sein Klimaschutzziel 2020 so krachend verfehlt, das liegt vor allem daran, dass wir immer noch einen viel zu hohen Kohleanteil in der Stromversorgung haben. Wenn die Bundesregierung ihr eigenes Klimaschutzziel und erst recht das Ziel des Pariser Abkommens erreichen will, dann führt an einem Kohleausstieg kein Weg vorbei. Dass wir nicht schon lange eine Lösung für einen Kohleausstieg auf dem Tisch liegen haben, ist das Politikversagen einer Regierung, die das über mehrere Jahre in eine Kommission delegieren musste. Ich möchte an dieser Stelle deutlich sagen: Herr Wittke, was ich gerade von Ihnen gehört habe – dass Sie den Kommissionsbericht in den Senkel stellen, dass Sie das alles relativieren, dass Sie sich am Ende gerade noch ein Danke für die Arbeit dieser Kommission abnötigen –, ist ehrlich gesagt nicht das, was wir jetzt brauchen. Diese Regierung muss jetzt liefern. ({0}) Darum, meine Damen und Herren, muss es gehen. ({1}) Mir nötigt es an dieser Stelle – da bin ich völlig bei dem Kollegen Miersch – Respekt ab, dass 28 Vertreter gesellschaftlicher Gruppen, die unterschiedlicher nicht sein können, am Ende über ihren eigenen Schatten springen und eine gemeinsame Linie finden. Das müsste eigentlich die Bundesregierung leisten. ({2}) Jetzt kann es nur darum gehen, dass wir schnellstmöglich den Einstieg schaffen. Dazu gehört vor allen Dingen, dass nicht ausschließlich darüber geredet wird – das haben Sie, Herr Wittke, gemacht –, wie wir die Bonbons an die Industrie verteilen – Herr Lindner, zu Ihnen komme ich gleich noch –; vielmehr geht es darum, dass wir klarmachen, wie abgeschaltet wird, wie wir die alten Blöcke, vor allen Dingen im Rheinland, vom Netz nehmen und wie das Klimaschutzziel, selbstverständlich flankierend durch Maßnahmen, erreicht wird. Es ist Ihr Job, das jetzt umzusetzen und nicht, wie Sie es hier gemacht haben, in den Senkel zu stellen. ({3}) Wenn es um den Strukturwandel geht – auch beim Thema Klimaschutz, wenn es auf der allgemeinen Ebene bleibt –, ist Herr Lindner immer ganz vorne dabei. Aber, Herr Lindner, wenn ich richtig informiert bin, saß in der Kommission ein ehemaliger FDP-Staatssekretär und hat mitverhandelt ({4}) und die größten Subventionen an dieser Stelle gefordert. ({5}) Herr Lindner, wie bigott ist das denn: Immer dann, wenn es konkret wird, gehen Sie laufen. Das ist das Prinzip Lindner, und das haben Sie uns heute hier auch präsentiert. Das funktioniert nicht. ({6}) Sie kommen doch aus Nordrhein-Westfalen, Herr Lindner. Ich frage mich ehrlich: Wie kommt es eigentlich, dass Ihr Minister Andreas Pinkwart – ich glaube, auch er hat ein FDP-Parteibuch – ({7}) gerade durchs rheinische Revier reist und sich für das Ergebnis dieser Kommissionsarbeit lobt? ({8}) Und Sie stellen das hier in den Senkel, Herr Lindner, das ist doch zum Totlachen. Das kauft Ihnen an dieser Stelle kein Mensch ab. ({9}) Ich möchte eines noch einmal klarstellen: Wenn wir hier über einen sozialverträglichen Ausstieg reden, dann geht es selbstverständlich um die Beschäftigten, um sie müssen wir uns kümmern. Aber worum es nicht gehen kann, ist, dass wir Geschenke an die Betreiber, an den BDI machen für Dinge, die überhaupt nicht notwendig sind. Darüber müssen wir in der Tat reden. Aber wir müssen auch darüber reden, dass es in den Revieren nicht nur Betroffene mit Tarifvertrag und einer Mitgliedschaft in der IG BCE gibt. Wir müssen auch darüber reden, dass es Menschen gibt, die ihre Heimat verlieren, die vertrieben werden, die Bergschäden zu ertragen haben und die den ganzen Dreck ertragen müssen. Auch sie haben ein Anrecht darauf, dass das jetzt schnell umgesetzt wird, ({10}) genauso wie der Bauer in Peru, der Bauer in Bangladesch und der Bauer in der Uckermark, die von der Klimakrise bedroht werden, deren Existenz bedroht wird. Das ist die Herausforderung, der wir uns stellen müssen. ({11}) Deshalb erwarte ich von dieser Bundesregierung, dass die Maßnahmen jetzt eingeleitet und auf den Tisch gelegt werden und dass wir begreifen, dass dieses Kommissionsergebnis der Beginn des Kohleausstiegs, der Einstieg in die Beendigung der Kohleverstromung in Deutschland ist und nicht nur das Verteilen von Geschenken im Land. Meine Damen und Herren, eines möchte ich sagen, und ich glaube, das ist ganz, ganz wichtig: Jeden Freitag demonstrieren Tausende von Schülerinnen und Schülern, ({12}) 14-, 15-, 16-jährige junge Menschen. Ich will, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben mitbekommen, dass eine Bundesregierung ernsthaften Klimaschutz macht. Wenn der Kohlekommissionsbericht dafür die Grundlage ist, dann können wir in eine Debatte darüber einsteigen. Aber dann muss das hier auf den Tisch und darf nicht, wie von Ihnen, Herr Wittke, am Ende wieder zerredet werden. Das geht nicht. Ich danke Ihnen. ({13})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Andreas Lämmel für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Kommission ist kein Ersatzparlament, und die Kommission ist auch kein Regierungsinstrument. ({0}) Es war leider bei der Arbeit in der Kommission manchmal notwendig, dass die drei Parlamentarier, die dort ohne Stimmrecht vertreten waren, immer wieder darauf hingewiesen haben, dass man hier keine Verträge zulasten Dritter aushandeln kann. ({1}) Das ganze Problem beginnt ja damit, dass sich die Politik entschlossen hat, in einen funktionierenden Wirtschaftszweig einzugreifen. ({2}) Die Braunkohlewirtschaft funktioniert, sie braucht keine Subventionen, ({3}) sie arbeitet mit Gewinn und hätte es nicht nötig gehabt, dass die Politik in ihre Geschäfte eingreift. Das muss man hier ganz klar und deutlich machen. ({4}) Nun hat sich die Politik aber entschlossen, in dieses System einzugreifen. Es ist doch ganz logisch, dass natürlich darauf bestanden wird, dass entgangene Gewinne, zusätzliche Abschreibungen ({5}) ersetzt werden müssen. Das ist ein Eingriff in das Vermögen von Unternehmen. Es ist doch klar, dass die Kommission auch darüber beraten musste. Wir haben den Entwurf nun zur Diskussion vorliegen; also, er steht im Internet. Auch wenn er uns noch nicht gedruckt vorliegt, so hoffen wir ja, dass morgen der große Lkw beim Deutschen Bundestag vorfährt und dass 5 Tonnen Abschlussberichte ausgeteilt werden. ({6}) Wenn man sich den Entwurf des Berichts anschaut, dann kann man über drei Teile sprechen. Das eine ist der Strukturwandel; ich glaube, das war auch der wichtigste Teil, den die Kommission zu bearbeiten hatte. Denn eines ist ja klar – das ist, glaube ich, bei anderen Rednern nicht so deutlich geworden –: Es geht nicht nur darum, jetzt 30 000 oder 40 000 Beschäftigte in der Braunkohle und in der Energiewirtschaft sicher in die Rente zu bekommen. Das ist überhaupt nicht der Anlass der Diskussion. Vielmehr brauchen wir Zukunftschancen für die gesamte Region; wir brauchen Zukunftschancen für junge Leute; wir brauchen Zukunftschancen für die Schüler, die Sie heute für Ihre Zwecke missbrauchen und freitags auf die Straße schicken. ({7}) Wenn Sie ihnen freitags zusätzlich drei Stunden Physikunterricht und zwei Stunden Mathematikunterricht geben würden, wäre für das Land tausendmal mehr gewonnen, als wenn sie freitags auf Demonstrationen unterwegs sind. ({8}) Der Strukturwandel bietet – darum geht es – eine riesige Chance, die aus den Ergebnissen dieser Kommission entstanden ist. Das ist, glaube ich, auch der Grund, warum die Ministerpräsidenten im Allgemeinen den Ergebnissen weitestgehend erst einmal zustimmen; denn sie haben jetzt die Möglichkeit, den Strukturwandel aktiv zu gestalten. Das heißt, die Bundesregierung muss jetzt schnell die entsprechenden Maßnahmengesetze auf den Tisch legen, und letztendlich wird der Bundestag darüber entscheiden, wie das Gesetz aussehen wird. Schaut man sich den Entwurf des Berichts der Kommission im energiepolitischen Teil an, stellt man fest, dass die Bilanz etwas anders ausfällt. Letzten Mittwoch hatten wir die erste Dunkelflaute in diesem Jahr. Was heißt „Dunkelflaute“? Die Regenerativen speisten weniger als 1 Gigawatt in das Netz ein, bei einer Spitzenlast von 75 Gigawatt. Wo kommt denn das her? Der Reststrom kommt aus der Braunkohle, aus der Steinkohle und aus den Kernkraftwerken. Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie können ja auf diesen Strom verzichten, dann können Sie abends leider nicht mehr fernsehen. ({9}) Sie können auch kein Buch mehr lesen, weil kein Strom mehr da ist. Das zeigt die Absurdität dieser ganzen Geschichte. ({10}) Das Thema Versorgungssicherheit ist für mich überhaupt nicht geklärt, genauso wenig die Frage der Preisentwicklung in den nächsten Jahren. Eines ist mir völlig klar: Zu der Vorstellung der Kommission, dass man die Strompreise mit Steuermitteln subventionieren könnte, sage ich: Dann kann man auch das VEB Energiekombinat wiederherstellen, dann kann der Staat das gleich in die Hand nehmen. ({11}) Das sind für mich Dinge, die völlig inakzeptabel sind. Zur volkswirtschaftlichen Betrachtung: Hier muss man sich wirklich die Frage stellen, ob die Kosten zur CO 2 -Vermeidung, die jetzt durch dieses Paket entstehen, wirklich akzeptabel sind. Das ist die Frage, über die wir im weiteren Fortgehen des Berichts diskutieren werden: ob dieser Kostenblock wirklich gesellschaftlich akzeptiert ist oder ob es nicht viel zu teuer ist, was sich die Kommission an Kompensationsmöglichkeiten ausgedacht hat. ({12}) Also, die Diskussion hat gerade erst begonnen. Ich denke, wir werden noch so oft darüber reden, dass jeder Abgeordnete diesen Bericht irgendwann auswendig kennt. Vielen Dank. ({13})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der AfD ist der Abgeordnete Steffen Kotré. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nur noch mal zum Verständnis: Habe ich Sie, Herr Krischer, richtig verstanden: Sie bezeichnen die Entschädigungszahlungen an die Unternehmen, denen jetzt mit staatlichen Eingriffen die marktwirtschaftliche Betätigung verwehrt wird, als „Geschenke“? Habe ich das richtig verstanden? Das ist, glaube ich, mangelndes rechtsstaatliches Verständnis. ({0}) Und Sie, Frau Lay, haben, glaube ich, ein bisschen die Leitungen der Unternehmen versucht zu kriminalisieren. Habe ich das so richtig verstanden? ({1}) Das ist sehr bedenklich. Das sage ich nur vorab. ({2}) Sehr geehrte Damen und Herren, mit dem Ausstieg aus der Kohle steigen wir in Deutschland auch aus dem gesunden Menschenverstand aus. ({3}) Wir hatten eine soziale, verlässliche und wettbewerbsfähige Stromversorgung. Die ist nun leider perdu. Strom wird vermutlich zum Luxusprodukt. ({4}) Herr Ministerpräsident Woidke aus Brandenburg sagt selbst: Die Kilowattstunde wird 50 Cent kosten. Das bestätigen auch Experten. Aber das ist wahrscheinlich nur die untere Grenze dieser Kosten. ({5}) Und mit dem Vorhaben, die Strompreise bzw. indirekt die Unternehmen zu subventionieren, sind wir nun vollends in der Planwirtschaft gelandet. ({6}) Herzlichen Dank! Die sozialistische DDR lässt hier grüßen. Ich sehe vor meinem geistigen Auge auch schon die Glückwunschtelegramme aus Kuba, Venezuela und Nordkorea. Herzlichen Dank! ({7}) Aber, liebe Freunde, wir von der AfD halten an der Kohle fest. Wir sehen keinen einzigen Grund, aus der Kohle auszusteigen; denn ein Ausstieg aus der Kohle ist ökologisch völlig sinnlos. ({8}) Wir sparen damit keinen CO 2 -Ausstoß ein. Wir haben, wenn wir aus der Kohle aussteigen, weltweit vielleicht einen Effekt von 0,1 Prozent. ({9}) Das ist verschwindend gering. Andere Staaten halten an der Kohle fest. Es gibt weltweit mehr als 1 000 Kohlekraftwerksprojekte, die in Planung oder im Bau sind. Andere Staaten halten an der Kohle fest; so schlecht kann die Kohle ja nicht sein. Der Bericht der Kohlekommission liest sich in der Tat wie ein Fünfjahresplan aus der DDR. Da gibt es Durchhalteparolen. Da werden die Folgen völlig unterschätzt oder sogar negiert. Da werden die Ziele rosarot gemalt. Es gibt jede Menge Phrasen. Ich habe mir das einmal angeschaut: Das Wort „Wertschöpfung“ kommt auch in Kombinationen 143-mal vor. Dabei ist der Ausstieg aus der Kohle ja genau das Gegenteil. ({10}) Es ist eine negative, eine Minuswertschöpfung. ({11}) Das ist eine Zerstörung des Bruttosozialproduktes. Ich wüsste nicht, warum dieses Wort dort verwendet werden sollte. Oder: 149-mal taucht das Wort „Wachstum“ auf. Dabei weiß doch jeder: Mit dem Ausstieg aus der Kohle werden wir ein Negativwachstum hinlegen ({12}) und das Bruttosozialprodukt in den Keller fahren. ({13}) Um das zu verhindern, reichen auch die 40 Milliarden Euro nicht, die dort über den Zeitraum von Jahrzehnten und deutschlandweit vorgesehen sind. Nehmen wir die Wertschöpfung in der Lausitz als Beispiel: Das sind anderthalb Milliarden Euro pro Jahr. Keine Gelder können das kompensieren. Da sagen wir: Das ist mit uns nicht zu machen. ({14}) Der Kohleausstieg ist ökologisch völlig sinnlos. Er schädigt uns; er schädigt unsere Volkswirtschaft. ({15}) Schon für 2021 prognostizieren die vier großen Übertragungsnetzbetreiber ein Loch in der Energieversorgung von 5,5 Gigawatt. ({16}) In den nächsten Jahren wird eine weitere Lücke in unserer Energieversorgung aufreißen. Nehmen wir einfach mal ein Beispiel: Am 24. Januar dieses Jahres hatten wir einen Bedarf von 78 Gigawatt. Diesen Bedarf haben die erneuerbaren Energien nur mit 1,5 Gigawatt decken können. ({17}) Wenn wir diese Konstellation bzw. Situation für ein paar Jahre hochrechnen, dann wird klar, dass wir den Blackout erleben werden. Dann geht gar nichts mehr. Sehr geehrte Damen und Herren, was Blackout bedeutet, kann man überall nachlesen. Er kann Menschenleben kosten. ({18}) Patienten im Krankenhaus können dann nicht mehr versorgt werden. Wir werden vermutlich das Rettungswesen und all die Dinge, die damit verbunden sind, daniederliegen sehen. Das wollen wir nicht. Wir erleben ja jetzt schon teilweise Stromausfälle, zum Beispiel im Millisekundenbereich. Das ist nicht gut für eine so entwickelte Volkswirtschaft wie die unsere. Daran können wir erkennen, dass wir schon längst den Pfad eingeschlagen haben, unsere eigene Stromversorgung zu zerstören. Fragen Sie Unternehmer! Energieintensive Unternehmen beklagen sich, dass ihnen ständig der Strom abgestellt wird. ({19}) Das ist unserer Volkswirtschaft nicht würdig. Dazu sagen wir: Nein, mit uns nicht. Wir halten an der Kohle fest. Vielen Dank. ({20})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner für die Fraktion der SPD ist der Abgeordnete Bernd Westphal. ({0})

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist manchmal schon abenteuerlich, was man sich hier anhören muss. ({0}) Wir haben heute auch den Jahreswirtschaftsbericht diskutiert. Dabei ging es auch um die positive Entwicklung und gute Situation der Wirtschaft. ({1}) Wir haben einen Anteil von 38 Prozent der erneuerbaren Energien im Strombereich. Da frage ich mich: Was erzählen Sie hier für Märchen? ({2}) Das schafft Jobs, das hilft der Wirtschaft, das ist produktiv und innovativ. Diese Kommission mit unterschiedlichen Akteuren ist von der Regierung eingesetzt worden. ({3}) – Hören Sie einfach zu! Ich habe Ihnen auch zugehört. Es wäre schön, Herr Braun, wenn Sie parlamentarische Gepflogenheiten einfach einmal einhalten würden. Sie haben ja jetzt hier ein bisschen was gelernt. ({4}) Wir haben in dieser Kommission unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Zielkonflikten und mit unterschiedlichen Interessen an einem Tisch gehabt. Dass es dennoch gelungen ist, diesen Kompromiss am letzten Wochenende vorzulegen, ist schon ein politischer Wert an sich. Ich bedanke mich auch bei allen, die dazu beigetragen haben. Ich will auch sagen: Für die IG BCE, die genau die Branchen organisiert, die direkt betroffen und natürlich energieintensiv sind, war das schon etwas, was Sie hier politisch werten müssen. Deshalb finde ich es nicht in Ordnung, wenn hier einige, die selbst in der Kommission gesessen haben, Kollege Lämmel, diesen Kommissionsbericht jetzt so schlechtreden. Das gehört sich nicht. ({5}) Das Ergebnis ist ein Zeichen an diese Gesellschaft, dass wir eine handlungsfähige Politik haben, dass wir eine Gesellschaft sind, die zusammenhält, wenn es darauf ankommt. Das ist natürlich schon eine gravierende Weichenstellung für die Energie- und Wirtschaftspolitik. Wenn wir 50 Prozent unserer konventionellen Energieerzeugung in den nächsten 20 Jahren ersetzen wollen, ist das nicht eben einfach so zu organisieren. Das ist natürlich anspruchsvoll. Sich dieser Aufgabe aber zu stellen, ist verantwortliche Politik. Das hat die Große Koalition jetzt vor und wird es auf den Weg bringen. ({6}) Wir sind wesentlich weiter als Jamaika. Herr Lindner, ich muss mich schon wundern: Sie haben über die Abschaltung von Kraftwerken in einer Größenordnung von 5 oder 7 Gigawatt gesprochen. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Lesen Sie die über 300 Seiten einfach am Wochenende. Man lernt viel über Energiepolitik. ({7}) Es geht nicht nur um die Braunkohle. Wir sparen, wenn wir aus der Braunkohle aussteigen, vielleicht 160 oder 170 Millionen Tonnen CO 2 . Wir müssen aber auf 250 Millionen Tonnen CO 2 bis zum Jahr 2050 kommen. Das ist eine erhebliche Kraftanstrengung. Da kann ich nur sagen: Es ist lächerlich, was Sie hier vorgetragen haben. ({8}) Diesen Kompromiss aufzuschnüren, wäre wirklich ein gravierender Fehler. Wir haben jetzt vorgezeichnet, wie wir das Ziel von einem Anteil von 65 Prozent erneuerbarer Energien bei der Stromerzeugung bis zum Jahr 2030 erreichen können. Vor allen Dingen ist dabei aufgezeichnet, welche Jobperspektiven dahinterstehen. ({9}) Es muss unser Ziel sein, dass wir neue Beschäftigung schaffen, die mit Umweltschutz kompatibel ist. Genau das ist das Ziel der SPD: im Zuge der Nachhaltigkeit, der Ökologie soziale Aspekte und die wirtschaftlichen Wachstumspfade aufzuzeigen. Das ist jetzt möglich. ({10}) Wir werden natürlich Versorgungssicherheit und wirksamen Klimaschutz und auch die wirtschaftliche Tragfähigkeit dieser Energieversorgung weiterhin als Grundlage haben. Neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien brauchen wir natürlich auch die Dynamik im Netzausbau. Dazu werden wir heute das Gesetz zur Beschleunigung des Energieleitungsausbaus in erster Lesung beraten. Wir werden natürlich, was die Speicherung von Energie angeht, auch entsprechend Weichen stellen. Die Wasserstofferzeugung bzw. -speicherung oder -verteilung wird an Bedeutung gewinnen. Hier gibt es in unseren Forschungseinrichtungen erhebliche Fortschritte. Es wird international an diesen Dingen geforscht. Hier haben wir übrigens eine Chance, mit dieser Technologie mehr zu machen als Batterieelektrik. Wir haben mit europäischen Konsortien, die wir aufbauen können, eine Chance, Zukunftstechnologie zu entwickeln, die uns auch hier in die Lage versetzt, Arbeitsplatzeffekte und vor allen Dingen globale Marktpotenziale zu erschließen. Daran werden wir erfolgreich weiterarbeiten. ({11}) Willy Brandt hat einmal gesagt: Die Zukunft wird nicht gemeistert von denen, die am Vergangenen kleben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam an einem innovativen Energiesystem der Zukunft arbeiten! Unsere Kinder und Enkelkinder werden es uns danken. Vielen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Abgeordnete Michael Theurer. ({0})

Michael Theurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004914, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie richtig es ist, dass die Freien Demokraten diese Aktuelle Stunde beantragt haben, zeigt der Verlauf der Debatte; denn es hat sich herausgestellt, welche immensen Bewertungsunterschiede es zwischen Union einerseits und SPD andererseits gibt. ({0}) Da kann man nicht feststellen, dass die Große Koalition einig wäre. Im Gegenteil, wir dürfen gespannt sein, was am Ende rauskommt. Herr Kollege Krischer, wenn Sie sich heute hierhinstellen und vom Prinzip Lindner sprechen, sage ich mal, was Ihr Prinzip ist. Ihr Prinzip Krischer ist: Fakten biegen, bis die Balken brechen. ({1}) Hier zu behaupten, dass der Kohlestromanteil verantwortlich dafür sei, dass die Bundesrepublik Deutschland die Klimaziele 2020 nicht erreicht, ({2}) ist, grob gesagt, die Unwahrheit. Das sage nicht ich, sondern das steht im Bericht der Kohlekommission. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten die Seiten 17 und 24. Da heißt es: Die Emissionen der Energiewirtschaft sind seit dem Jahr 2013 stark rückläufig. … ({3}) Trotz höherem Stromverbrauch als Folge robuster Konjunktur und höherem Bevölkerungswachstum … wird die Energiewirtschaft ({4}) die im Klimaschutzaktionsprogramm … veranschlagte Emissionsminderung von ca. 38 % bis zum Jahr 2020 absehbar erreichen. ({5}) Das heißt, die Stromwirtschaft erreicht die Klimaschutzbeiträge. Wer es nicht erreicht, sind die Sektoren Wärme und Verkehr. ({6}) Deshalb ist dieses einseitige Fokussieren auf den Kohleausstieg falsch. Das Argument müsste doch sein, dass Klimaschutz im Vordergrund steht. ({7}) Wer Klimaschutz will, muss auf den Emissionshandel setzen ({8}) und an dieser Stelle auch mal zugeben: Der verfrühte Kohleausstieg schützt das Klima gar nicht; nur die Löschung der Emissionszertifikate führt zu einem wirksamen Klimaschutz. Das heißt, Sie lügen die Leute hier an. ({9}) Wenn Sie Klimaschutz wirklich wollen, müssten Sie das Ergebnis der Kohlekommission ablehnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, so wie wir das tun. ({10}) – Ja, man könnte mit weniger Geld mehr Klimaschutz erreichen, indem man Emissionszertifikate stilllegt. Als Grüne kommen Sie dann und sagen: Ja, man müsste eh irgendwann mal aus der Kohleverstromung aussteigen. Dann ist es besser, damit früher als später zu beginnen. – Sie unterstellen damit, dass es zum Beispiel nicht gelingen könnte, die Kohleverstromung CO 2 -neu­tral zu gestalten. ({11}) Weltweit haben wir 20 bis 30 Forschungsprojekte zur CO 2 -neutralen Gestaltung der Kohleverstromung, also praktisch zur Nutzung des dort freiwerdenden CO 2 , etwa für die Wasserstoffherstellung ({12}) und für die Methanisierung. Anstatt jetzt Steuermilliarden zu vergraben in die Schaffung von Behördenarbeitsplätzen, wäre es zum Beispiel sinnvoll, solche Forschungsprojekte in der Lausitz anzusiedeln, ({13}) damit wir in Deutschland einen Beitrag dazu leisten, wie man Kohleverstromung CO 2 -neutral gestalten kann. ({14}) Meine Damen und Herren, man muss an der Stelle feststellen: Sie sind keine Klimaschützer, sondern Arbeitsplatzvernichter. ({15}) Herr Kollege Miersch, als die SPD noch die Interessen der Stromwirtschaft und der Bergleute vertreten hat, hatte die SPD in Brandenburg die absolute Mehrheit. Sie sind meilenweit davon entfernt. Warum? Weil Sie in die Planwirtschaft eingestiegen sind. ({16}) Weil man nach dem Ausstieg aus der Kernenergie jetzt aus der Kohleindustrie aussteigt. Man muss das subventionieren, weil dann Strom fehlt. Reden Sie doch einmal mit den mittelständischen Unternehmen in Biberach! Die Stromunterbrechung, die der Kollege angesprochen hat, gibt es tatsächlich. ({17}) Da werden jetzt mit Steuerzahlersubvention Gaskraftwerke eingeführt. Warum? Weil mit dieser planwirtschaftlichen Zickzackenergiepolitik der Großen Koalition der zweite Schritt vor dem ersten gemacht wird. ({18}) Anstatt dass der Windstrom von Norddeutschland nach Süddeutschland transportiert werden kann, macht man jetzt den verfrühten Kohleausstieg. Statt auf den Emissionszertifikatehandel zu setzen und die Marktwirtschaft wirken zu lassen, greift man jetzt dirigistisch in einzelne Sektoren ein und würde am liebsten noch den einzelnen Betrieben vorschreiben, wie viel Energie sie nutzen und wie viel CO 2 sie ausstoßen. Mit dieser Planwirtschaft, meine Damen und Herren, erreichen Sie weder Klimaschutz – den kann man im nationalen Alleingang sowieso nicht erreichen –, noch sichert man Arbeitsplätze und Wohlstand. Deshalb setzen wir auf den Emissionshandel, auf die ökologische Marktwirtschaft statt auf die dirigistische Planwirtschaft. Wir jedenfalls lehnen die Vorschläge der Kohlekommission ab. ({19})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege Jens Koeppen von der CDU/CSU. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich spreche für meine Fraktion. Man sieht, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es mit dem gesellschaftlichen Konsens gerade bei dieser Frage sehr schwierig ist. Ich spreche den Mitgliedern der Kohlekommission überhaupt nicht ab, dass sie ihren Einsetzungsauftrag im Fokus hatten, dass die Klimaver­einbarungen übereingebracht werden mit dem Kohleausstieg, mit der Versorgungssicherheit, dass die Maßnahmen für Strukturwandel in den einzelnen Regionen, die Beschäftigung und, wie gesagt, der gesellschaftliche Konsens betrachtet werden. Aber ich muss auch sagen: Gut gemeint ist am Ende nicht immer gut gemacht. Ich will dies an zwei Punkten deutlich machen, ganz ohne Schaum vor dem Mund, will nur sagen, was mir sehr wichtig ist. Das ist einmal der volkswirtschaftliche Aspekt. Die Kohlekommission hat vorgeschlagen, im Jahre 2038 aus der Kohleverstromung auszusteigen, übrigens: aus der Erzeugung; denn Kohlestrom nutzen wir nach wie vor, genauso wie die Kernenergie. ({0}) Wir sind jeweils immer nur aus der Erzeugung ausgestiegen, aber nicht aus der Nutzung. Das muss man wissen. Wir beziehen nach wie vor den Kohlestrom aus Polen, dem Land, in dem die Klimakonferenz stattgefunden hat, und aus Frankreich die Kernenergie. Das ist einfach die Wahrheit. ({1}) Wir steigen im Jahr 2038, so sagt die Kommission, aus der Kohleverstromung aus, aber die Genehmigungen für die Kohlekraftwerke laufen sowieso nur bis zum Jahr 2043. ({2}) Das betrifft also auch den Tagebau. Das heißt, wir erkaufen uns mit 80 bis 100 Milliarden Euro den Ausstieg aus der Kohle fünf Jahre früher – bei einem sehr marginalen oder nicht signifikanten Anteil der CO 2 -Vermeidung. Meine Damen und Herren, man muss einmal volkswirtschaftlich fragen: Wie hoch sind am Ende die CO 2 -Vermeidungskosten? ({3}) Die Menge wurde einmal ausgerechnet, aber wir brauchen die Nettomenge. Wir steigen, wie gesagt, nicht komplett aus, sondern wir beziehen letztendlich Importe aus Polen. Wie groß sind die CO 2 -Vermeidungskosten pro Tonne? ({4}) Ich habe die Anfrage gestellt, allerdings noch keine Antwort bekommen. Volkswirtschaftlich muss man auch fragen: Wer bezahlt am Ende das Ticket? Das sind die Stromkunden, und das sind die Steuerzahler. Das ist, sage ich einmal, ein volkswirtschaftlicher Leichtsinn, wenn man es höflich ausdrückt. ({5}) Zweitens: der energiewirtschaftliche Aspekt. Obwohl die Versorgungssicherheit in vielen Beratungen der Kohlekommission immer wieder betrachtet wurde, riskiert die Kommission sehenden Auges die Unterversorgung in Deutschland, weil sie das Problem einerseits sieht, aber andererseits gegensätzliche Maßnahmen beschließt. Jetzt komme ich zu den Zahlen. Wir schalten bis zum Jahr 2022, also übermorgen, 9,5 GW Kernenergie ab. Jetzt kommt der Vorschlag der Kohlekommission, auch bis zum Jahr 2022  12,5 GW Kohlekraftwerke abzuschalten. Wir reduzieren also unsere gesicherte Leistung von 87 GW zurzeit auf 65 GW im Jahr 2023, bei einer Höchstlast, die dann ungefähr 85 GW betragen würde. Das heißt, wir können dann Deutschland – das sind nur die Fakten – im Winter nur noch zu 75 bis 80 Prozent aus eigener Kraft gesichert versorgen. Meine Damen und Herren, das ist nichts anderes als die Ankündigung eines Blackouts. ({6}) Dann kommen wir zu den erneuerbaren Energien. Erneuerbare Energien wie Wind und Sonne werden uns, zumindest bis übermorgen, bis zum Jahr 2023, nicht helfen. Wenn wir vom Primärenergieeinsatz – davon müssen wir immer ausgehen – bei Wind von 2,8 Prozent und bei Sonne von 1,1 Prozent ausgehen, laufen die Anlagen bei Wind nur 1 700 Stunden – bei den neueren vielleicht ein bisschen mehr: 2 000, 2 500 oder 2 200 – und bei Solarenergie nur 900 Stunden. Das reicht am Ende des Tages nicht, weil, egal ob ich verdopple oder 30 000 Anlagen zusätzlich aufstelle oder repowere, es bei der Betriebsstundenanzahl bleiben wird. Also werden uns die Erneuerbaren nicht helfen, weil keine Speicher zur Verfügung stehen – auch bis dahin nicht. Da werden wir noch eine Weile brauchen. ({7}) Power-to-X steht noch nicht zur Verfügung. Es werden keine Gaskraftwerke zur Verfügung stehen. Wir werden noch Jahrzehnte brauchen, bis alles wirklich funktioniert, auch systemsicher funktioniert. Alles andere ist blanke Illusion. Deswegen mein Fazit: Dieser hochgelobte Kompromiss bedarf durch den Gesetzgeber, der übrigens nur Zaungast war, was zu bedauern ist, einer gründlichen Überarbeitung und Korrektur. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Jetzt hat die Parlamentarische Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter für die Bundesregierung das Wort. ({0})

Rita Schwarzelühr-Sutter (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003847

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will den Erfolg nicht kleinreden, dass man nach acht Monaten ein Ergebnis auf dem Tisch hat – es war schon ein Erfolg, im Koalitionsvertrag zu vereinbaren, eine Kommission einzusetzen –, und das bei tatsächlich nur einer Gegenstimme; das ist ein richtiger Erfolg. ({0}) Die AfD sollte sich lieber kleinmachen. ({1}) Um festzustellen, wie wichtig Ihnen dieses Thema ist, dann muss ich nur in Ihre Reihen gucken: Sie sind ziemlich dürftig besetzt. ({2}) Sie halten zwar blumige, fulminante Reden, aber Ihre Reihen sind doch ziemlich spärlich besetzt. Gelungen ist ein gesellschaftlicher Fortschritt, und das ist gerade in diesen Zeiten, wo gesellschaftliche Interessengruppen mitgewirkt haben und auch ihre eigenen ideologischen Grenzen, Interessengegensätze überwunden haben, ein Erfolg. Man kann sagen: Das verdient Respekt, und es verdient einen großen Dank. ({3}) Der Kommission ist es auch gelungen, Vorschläge, klare Vorgaben für ein Handlungsprogramm auf den Tisch zu legen. Jetzt sind natürlich auch wir als Bundesregierung gefordert, das entsprechend zu prüfen und auch umzusetzen. Es ist ein klares Signal für einen Aufbruch. Was ich heute hier höre, das ist doch richtig kleinmütig. ({4}) Es ist ein Aufbruch in die Zukunft, und da geht es nicht nur um den Kohleausstieg, sondern es geht um die Zukunft von Arbeitsplätzen in Deutschland – im Osten und im Westen, in ganz Deutschland. ({5}) Herr Lindner, Sie sind ja ein junger Mann, ({6}) und ich habe immer gedacht, Sie haben ein gutes Gedächtnis. Mein Kollege Miersch hat schon darauf hingewiesen, was uns die Laufzeitverlängerung heute noch kostet und was nach der Entscheidung für diese Verlängerung noch hinzukam. ({7}) – Moment, ich bin noch nicht fertig, Herr Lindner. ({8}) – Jetzt hören Sie doch einfach mal zu! – Sie haben daraus nichts gelernt. Es kam damals richtig teuer, und der Steuerzahler saß auch nicht mit am Tisch, als Sie uns das präsentiert haben, und die Steuerzahler müssen das Ergebnis heute noch verkraften. Zu Ihrer Kritik an einer Kommission. Ich kann mich irgendwie daran erinnern: 2010/2011 gab es eine Kommission für einen gesellschaftlichen Konsens. Ich finde, man muss nicht immer warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist – wie bei Fukushima –; wir handeln verantwortungsbewusst, und wir handeln rechtzeitig. Wir machen uns jetzt Gedanken, wie wir die Arbeitsplätze in Zukunft sichern. ({9}) Ihr ewiger Verweis auf den Emissionshandel – Sie tragen ihn wie eine Monstranz vor sich her –: ({10}) Ja, der Emissionshandel ist ein wichtiges Instrument in der Energiewirtschaft und in der Industrie; aber er ist doch auch ein Stück weit blind, wenn es um Sozialpolitik geht, um Strukturwandel und darum, wie wir diesen Strukturwandel gestalten. Deswegen zeugt es von Verantwortung – es ist in unserem Interesse, im Interesse von Wirtschaft, von Regionen, von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern –, dass wir hier jetzt Planbarkeit und Verlässlichkeit haben. Sie kommen immer nur damit – wir haben es viele Jahre lang als Ausdruck Ihrer neoliberalen Politik gehört –: Der Emissionshandel wird es schon regeln; der Markt wird es schon regeln. ({11}) – Ach was, ach was. Ich kann mich an die Liberalisierung der Finanzmärkte sehr gut erinnern. Seien Sie vorsichtig; nicht dass es zum Bumerang wird. ({12}) Im Übrigen kann ich Ihnen nur sagen – auch wenn Ihr Kollege Theurer so tut, als gäbe es einen Keil zwischen den Fraktionen der Regierungskoalition –: Hätten Sie sich nicht vom Acker gemacht, wären Sie nicht ein Drückeberger gewesen, hätten Sie alle Möglichkeiten gehabt, zu gestalten. ({13}) Sehr geehrte Damen und Herren, die Empfehlungen der Kommission zeigen einen Weg auf, wie wir die Klimaziele erreichen. Wir haben nicht nur ein Enddatum – das ist ein wichtiges Symbol –, sondern wir zeigen auch auf, wie der Weg funktioniert. Der Weg ist das Ziel. Das gilt jetzt. Wir wollen Investitionen in die Zukunft. ({14}) Die Empfehlungen der Kommission liefern einen zentralen Minderungsbeitrag, und zwar recht bald: mit Blick auf 2022. Wir brauchen diese Minderung; sie ist notwendig. Allein schon durch Nichtstun würde es viel teurer. Damit sage ich nicht irgendwas. Wir haben letztes Jahr eine Dürre gehabt. Wir wissen, dass die Landwirtschaft Unterstützung braucht. Wir hatten schon Fluten. All das blenden Sie aus, Sie sind blind und wollen es überhaupt nicht wahrhaben. ({15}) Die Entwicklung eines Klimaschutzgesetzes bildet dafür den richtigen Rahmen. Auch die anderen Sektoren sind gefordert. Was hier jetzt in der Energiewirtschaft und im Hinblick darauf, wie wir Arbeitsplätze für die Zukunft sichern, tatsächlich stattgefunden hat, ist etwas, was wir auch in den anderen Sektoren brauchen, etwa im Verkehrs- und im Gebäudesektor. ({16}) – Doch, wir sichern garantiert die Demokratie, Herr Kraft, weil wir nämlich den sozialen Zusammenhalt stärken; das liegt uns am Herzen. Denn wir, Osten und Westen, sind ein Deutschland. Ich sage es noch mal. ({17}) Sehr geehrte Damen und Herren, es geht hier um mehr als nur um das Abschalten von Kohlekraftwerken. Es geht hier tatsächlich um gute Jobs. Es geht um die wirtschaftliche Entwicklung. Es geht auch um die notwendige Akzeptanz der direkt Betroffenen. Wir wollen aus den Betroffenen auch Gewinner machen. ({18}) Wir zeigen auch, dass wir eine Modernisierungsstrategie und eine Innovationsstrategie verfolgen. ({19}) – Sie halten doch immer am Alten fest. Sie sind doch wirklich schon von gestern. Jetzt lassen Sie uns doch vorangehen. ({20}) – Es ist einfach hoffnungslos. Ich habe ja schon mal gesagt: Für Sie ist die Erde eine Scheibe. – Von Ihnen werden die Regionen keine Solidarität erhalten. Vielmehr können sie sich nur bei uns auf Solidarität verlassen. ({21}) Die Regionen brauchen aktive Strukturpolitik, sie brauchen Planungssicherheit, sie brauchen Perspektiven und Voraussetzungen für eine neue Wertschöpfung. Dabei steht außer Frage, dass aktiver Klimaschutz unsere Gesellschaft und damit auch den Steuerzahler immer günstiger kommt als Nichthandeln. ({22}) Dass gerade Deutschland, einem der größten Industrieländer der Welt, der Ausstieg aus der Kohle gelingt, und zwar nicht nur von oben herab, sondern in einem Prozess, der die Interessen aller Bürgerinnen und Bürger und der Wirtschaft einbezieht, wird andere Staaten ermutigen, denselben Weg zu gehen. ({23}) – Erbringen Sie ihn mal, den Beweis. ({24}) Wir haben einen Beweis dafür, wie wir die Gesellschaft zusammenhalten. Wir haben die Wissenschaftler. Ich finde es auch kleinmütig, das, was diejenigen, die sich in dieser Kommission jetzt wirklich auf den Weg gemacht haben – sie kommen aus unterschiedlichen Feldern –, als Lösung entwickelt haben, kleinzureden. Wie kleinmütig muss man eigentlich sein, dass man alles diskreditiert, wofür andere sich auf den Weg gemacht haben? ({25}) Damit übernehmen Sie keine Verantwortung, und das spricht nicht für Verantwortungsbewusstsein. ({26}) – Ich kann Ihnen sagen: Sie werden mich von meiner Überzeugung und von meiner ethisch-moralischen Verantwortung nicht abbringen, nur weil Sie meinen, es gehe um 1 Prozent mehr oder weniger. Achten Sie lieber darauf, dass Sie nicht ganz rausfliegen. Dass Sie rausfliegen, das würde ich Ihnen nämlich wünschen. ({27}) Das sage ich Ihnen aus der Tiefe meines Herzens, weil Sie nämlich alle Leute, die sich anstrengen, die in der Kommission sind, die Jugendlichen, diejenigen, die Verantwortung übernehmen und wirklich um gute Ergebnisse kämpfen, diskreditieren. Das ist wirklich keine demokratische Haltung. Deswegen bin ich guter Dinge, dass wir das, was wir in diesen acht Monaten geschaffen haben, jetzt als Bundesregierung umsetzen. Das heißt aber: Wir müssen verlässlich handeln. – Darauf freue ich mich. Dann diskutieren wir weiter und zeigen, dass wir auch für andere Länder wieder ein Vorbild sein können. Wir werden Industrieland bleiben, und wir wollen auch sichere Arbeitsplätze behalten. Herzlichen Dank. ({28})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Andreas Lenz für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich lese ja normalerweise nicht die „Rheinische Post“, aber manchmal lohnt es sich doch. Vorgestern stand in der „Rheinischen Post“ unter der Überschrift „Lindner gegen Pinkwart“ als erster Satz: Kaum hatte NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart – FDP – den Kohlekompromiss gelobt, da verdammte ihn FDP-Chef Christian Lindner. ({0}) Vielleicht wollen Sie einfach nur davon ablenken, dass Sie intern nicht klar wissen, wo Sie eigentlich hinwollen. ({1}) Man sieht auch: Es ist einfach schwieriger, wenn man in Verantwortung steht – wie Sie in Nordrhein-Westfalen oder wie Sie nicht in Berlin. Natürlich sieht man an Ihren Ausführungen auch, dass es Ihnen lieber zu sein scheint, nicht in Verantwortung zu stehen. ({2}) Die Kommission hieß übrigens nicht „Kohlekommission“, sondern Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“. ({3}) Das ist auch genau das, was Inhalt war, nämlich Perspektiven für die betroffenen Menschen vor Ort zu schaffen. Es gilt, alle drei Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung zu berücksichtigen, die ökologische natürlich, aber auch die soziale und die ökonomische. Ziel muss einfach sein, dass eine wirtschaftlich positive Entwicklung vor Ort möglich ist. Kluge Strukturpolitik schafft eben keine Brüche, sondern Chancen in den Regionen. Da brauchen wir auch noch mehr Kreativität von den Landesregierungen. Wir brauchen Konzepte, die für die Reviere maßgeschneidert sind, die auf den Stärken aufbauen und hier Perspektiven schaffen. Wir wollen letztlich aktivieren und nicht langfristig alimentieren. ({4}) Wir müssen die Ergebnisse auch mit denen der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ verzahnen. Es geht natürlich nicht, dass andere Regionen durch die Beschlüsse der Kommission vernachlässigt werden. Wenn man sich den Einsetzungsbeschluss insgesamt anschaut, dann kann man immer die Frage stellen: Was bringen Kommissionen? Das ist auch eine Flucht vor der Verantwortung. Aber die Ziele der Regierung waren ja klar, nämlich einen Beitrag für 2020 zu erreichen, zu gewährleisten, dass das 2030-Ziel auch durch die Reduzierung der Kohleverstromung erreicht wird, und ein Enddatum festzusetzen. Die Antworten darauf wurden in einem verlässlichen Rahmen jetzt gegeben. ({5}) Das bedeutet natürlich auch, dass wir verlässlichen Ersatz brauchen. Dieser kann nur in der Errichtung von neuen Gaskraftwerken liegen. Das Thema Versorgungssicherheit muss noch stärker auf die politische Agenda. Die Kommission sieht hier ein stärkeres Monitoring, einen Netzausbau und natürlich auch die Sicherstellung von Ersatzkapazitäten vor. Natürlich stehen wir auch im Strombereich zum EU-Binnenmarkt. Deutschland muss aber auch selbst gewährleisten können, dass der Strom zu jeder Tages- und Nachtzeit verfügbar ist, und zwar gerade bei Engpässen. Die innovativen Ansätze, die Sie, Herr Theurer, nannten, finden sich auch im Abschaltplan wieder. Insofern wurde das aufgegriffen. Wenn man kurz die Arbeit der Kommission beschreiben will, so ist zu sagen: Es waren insgesamt zehn Sitzungen über ein bis zwei Tage. 80 Experten wurden gehört. Wir waren vor Ort. Die Emotionalität im Hambacher Wald haben wir ebenso gespürt wie die Emotionalität in der Lausitz und auch im Mitteldeutschen und im Rheinischen Revier. Wenn man sich die Zusammensetzung anschaut, dann wird klar, wie schwierig es war, hier zu einem Kompromiss zu kommen, vor allem zwischen Greenpeace und BDI. Es war ja der ehemalige Chef von Herrn Edenhofer, der Herr Schellnhuber, dabei. Auch er hat ja diesem Kompromiss zugestimmt. Genauso war der BDI-Chef Kempf dabei, mit dem Sie doch auch ganz gut können. Insofern muss man bei der Bewertung des Kompromisses sehen, welche Gratwanderung letzten Endes zu vollziehen war. Die Bundestagsabgeordneten, die Mitglieder der Kommission waren, waren nicht stimmberechtigt; das wurde ja angesprochen. Klar ist aber auch, dass der Bundestag der Haushaltsgesetzgeber ist und die Ergebnisse der Kommission für uns de facto nicht bindend sind. Ich warne schon davor, dass wir jetzt übereilt einen Staatsvertrag abschließen und uns sozusagen das Heft aus der Hand nehmen lassen. Der Ball liegt jetzt ganz klar im Parlament. Wir müssen mit den Ergebnissen der Kommission umgehen. Natürlich sind wir in erster Linie dem Steuerzahler verpflichtet. Es geht darum, die notwendigen Mittel bereitzustellen, aber eben auch nicht mehr Mittel als notwendig. Es ist so, dass mehr nicht immer mehr hilft. Das müssen wir bei unserer Umsetzung entsprechend berücksichtigen. Es geht also um einen effizienten Einsatz der Mittel, der langfristig nicht alimentiert, sondern aktiviert. In dem Sinne sollten wir die Beschlüsse als Eckpunkte für die parlamentarischen Beratungen nehmen, auf die ich mich sehr freue. Herzlichen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als nächster Redner erhält das Wort der fraktionslose Abgeordnete Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Eine Kugel Eis im Monat, so sagte Jürgen Trittin mal, würde den Steuerzahler die Umstellung auf erneuerbare Energien kosten. Heute wissen wir, dass er sich wohl nur falsch ausdrückte; er meinte, dass künftig die Kilowattstunde so viel wie eine Kugel Eis kosten wird. Während China das Land mit der größten Kohleförderung der Welt ist, gleichzeitig Weltspitzenreiter beim Kohleimport und Realisten bereits einen Run auf das neue schwarze Gold wegen Verknappung sehen, stehen hierzulande bald alle Räder still. Im Reich der Mitte weiß man eben ganz realistisch, dass erneuerbare Energien den Strom deutlich teurer machen. So setzen die Chinesen für den Strom aus der Dose neben Kohle eben auch auf Gas und auf Kernenergie. Niemand außer uns in der Welt kommt augenscheinlich auf die wirre Idee, zwei gesicherte Grundlastträger abzuschalten, während die Alternativen weder technisch noch infrastrukturell stehen; denn auch der massive Zubau von Erneuerbaren hat so gut wie keine zusätzliche gesicherte Leistung gebracht. Herr Koeppen hat das vorhin sehr schön dargestellt. Es ist eine reine Spekulation, zu hoffen, dass es geeignete Speichermedien geben wird, und in Anbetracht reichlicher Erfahrung mit Planwirtschaft, die bisher immer zuverlässig scheiterte, gegenüber unserem Wirtschaftsstandort und den Bürgern vorsätzlich grob fahrlässig. Nein, es ist sogar noch schlimmer. Man bezeichnet im Bericht den Ausbau der Gaskapazitäten, die das alles abfedern sollen, sogar noch als unwahrscheinlich und als nicht sicher. Welch ein Irrsinn! Energieintensive Unternehmen werden diesen Quatsch sicherlich nicht mitmachen und sich rechtzeitig nach Standorten umschauen, die ihren Bedarf auch langfristig decken können. Mit anderen Worten: Sie vernichten Arbeitsplätze. Ihre ideologischen Zukunftspläne schütten Sie jetzt mit Unmengen Steuergeldern zu, vergessen dabei aber sehr wohl, dass Sie jenen, die das alles bezahlen sollen, gerade eben den Arbeitsplatz weggenommen haben. Stattdessen schwadroniert die neue deutsche Wohlfühl­idylle von großer Nachhaltigkeit, verlagert die künftigen Emissionen gerne ins Ausland und begibt sich ohne jede Not in existenzielle Abhängigkeitsverhältnisse. Kurzum: Man hat aus der Ethikkommission zur Kernenergie 2011 einfach überhaupt nichts gelernt. Das Einzige, was gleich bleibt, sind die Gewinner: eine pseudogrüne Ökoindus­trie, deren Umsätze weiterhin nachhaltig gesichert sind, und auf Nachhaltigkeit kommt es ja an. Ein letztes Wort vielleicht noch zu den Schülern, von denen heute auch schon gerne gesprochen wurde. Von einem Nick habe ich eine E-Mail gekriegt. Der schrieb: Hallo Mario! – Da geht es schon los. Die Kinder werden instrumentalisiert. ({0}) Es fehlt ihnen an Respekt und an Wertschätzung. Und: „Mario“ schreibt man groß. Vielleicht sollten sie Freitag doch wieder den Gang in die Schule antreten. Danke. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der SPD ist der Kollege Johann Saathoff. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kommission hatte viele Namen: Strukturwandelkommission, Kohlekommission, Kohleausstiegskommission. Aber das Eigentliche, was diese Kommission letzten Endes auch in die Gesellschaft gebracht hat, war, dass sie politisch und gesellschaftlich die Strukturen widergespiegelt hat. Und die eigentliche Sensation dieser Kommission ist, dass sie zu einem einvernehmlichen Ergebnis gekommen ist, und das sollten wir hier nicht verwässern, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Es ist ein ausgewogenes Ergebnis, das einen gesellschaftlich breiten Konsens darstellt. Alle, die sagen, dass sie sich an diesen Kompromiss nicht gebunden fühlen, müssen auch wissen, dass sie in diesen breiten gesellschaftlichen Konsens nicht mit eingebunden sind, sozusagen auf der einen oder anderen Seite eine Randmeinung vertreten. ({1}) In Ostfriesland sagt man: Dat tellt neet, waar wi wat angahn, man wall, waar wi henwillen. Mit anderen Worten: Was zählt, ist das große Ziel. – Das große Ziel ist eigentlich, dass wir für unsere Kinder und für unsere Enkelkinder eine verantwortungsvolle Energiepolitik betreiben wollen, und dieses Ziel müsste uns eigentlich alle einen. ({2}) Kaum einer hat angesichts der gesellschaftlichen Breite der Aufstellung dieser Kommission an einen Konsens gedacht. Ich gebe zu: ich selber auch nicht. Ich habe nicht geglaubt, dass es tatsächlich zu einem Konsens kommen könnte. Was steht drin? Vier Punkte: Erstens. Es ist ein Konsens über einen verlässlichen Kohleausstiegspfad. Man kann aber auch sagen – das ist nämlich der eigentliche Grund für den Ausstieg –: Es ist ein Konsens über einen verlässlichen CO 2 -Minderungspfad. Alle Beteiligten wissen jetzt, wie sie dran sind. Ich erspare mir den Einwurf, den ich sonst an dieser Stelle mache, dass die Länder Bayern und Baden-Württemberg noch mal genau hingucken sollen, wie sie künftig mit dem Widerstand gegen Leitungen und Windenergieanlagen umgehen. ({3}) Ist der Kohleausstieg zu schnell gekommen? Nein, ist er nicht. Der Kohleausstieg kommt endgültig nicht morgen, sondern 16 Jahre nach dem Atomausstieg. Aber klar ist auch: Er ist nicht zu langsam; denn 2038 ist endgültig Schluss, und es gibt keine Hintertür. ({4}) Zweitens. Es ist ein Konsens für die betroffenen Regionen und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – das habe ich heute viel zu selten gehört. Für die Regionen sind schon 1,5 Milliarden Euro im Bundeshaushalt eingeplant. Ich glaube, dass es immer schon – das dürfen wir behaupten – eine Forderung der SPD war, den Strukturwandel staatlich zu begleiten. Das haben wir beim Ausstieg aus der Steinkohle gemacht, und das haben wir auch bei dieser Frage verantwortlich vorgezeichnet. Ich könnte mir – dieser Seitenhieb sei mir erlaubt – das auch bei dem Strukturwandel vorstellen, der uns in der Automobilproduktion begegnet. ({5}) Wir sehen darüber hinaus Strukturhilfen in Höhe von 40  Milliarden Euro bis 2040 vor, die mit den Bemühungen korrespondieren sollten, die wir im Moment bei der Förderung ländlicher Räume und der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland an den Tag legen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fallen nicht ins Bodenlose. Sie brauchen sich keine Sorgen um ihre Zukunft zu machen. Sie bekommen nach oft harter, harter Arbeit eine finanzielle Begleitung in den Ruhestand, der ihnen nicht geschenkt wird, sondern den sie sich bitter verdient haben, ({6}) und das ist gut so. Und es gibt eine Perspektive für junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – auch das darf man doch hier in der Debatte nicht einfach so verschweigen. Drittens. Es liegt ein Konsens zur Erschließung der Potenziale der Erneuerbaren vor. Der Kompromiss bildet die Grundlage für den Ausbaupfad zur Erreichung des 65-Prozent-Ziels bis 2030. Damit wird auch noch mal deutlich, welche industriepolitische Dimension diese Energiewende eigentlich hat, wie viele Hunderttausende von Arbeitsplätzen allein in der Batterieproduktion entstehen werden ({7}) und welche Potenziale wir letzten Endes beim Export von Erneuerbare-Energien-Anlagen haben. All das lassen Sie links liegen. ({8}) Viertens. Der Konsens trägt der Versorgungssicherheit Rechnung. Es sind regelmäßige Schritte zur Evaluierung der Versorgungssicherheit vorgesehen. Und es handelt sich um eine verantwortbare Schlussfolgerung, wie viel Kohlekraft in den nächsten Schritten abgeschaltet werden soll. Von daher gibt es einen klaren Pfad, also eine verlässliche Politik für die Bürgerinnen und Bürger, die es den Menschen ermöglicht, sich auf die entsprechenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einzustellen. Vor uns als Gesetzgeber liegt nun eine Aufgabe. Die große Akzeptanz der Energiewende steht außer Frage. Die große Akzeptanz dieses Konsenses, der auf unserem Weg zur Energiewende wichtig ist, steht ebenfalls außer Frage. Und jetzt müssen wir liefern, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen den Ausbaupfad – 65 Prozent erneuerbare Energien bis 2030 – jetzt verbindlich festlegen, nämlich sagen, in welchem Jahr wir eigentlich was machen; denn wir wissen, in welchem Jahr was wegfällt. Wir müssen uns endlich bei der Frage committen, wie wir mit den Netzen umgehen. Es geht nicht nur darum, welche Netze wir ausbauen, sondern vor allen Dingen auch darum, wie wir die Netze eigentlich betreiben. ({9}) Und wir müssen im Blick haben, dass die Strompreise für die Industrie nicht ins Uferlose steigen. Aber auch die Strompreise für die privaten Verbraucher müssen wir dabei im Blick haben. ({10}) Da ist mir gar nicht bange; denn alles andere würde für die Verbraucher nach und nach noch viel teurer werden, wenn CO 2 -Emissionen höher bepreist würden. ({11}) Gemeinsam, liebe Kolleginnen und Kollegen – da bin ich sicher –, bekommen wir das hin. Vielleicht schaffen wir es nicht, alle im Hause dazu zu bringen, einen gemeinschaftlichen Weg zu beschreiten. Aber wir sind es der Kommission verdammt noch mal schuldig, hier eine vernünftige Gesetzgebung an den Tag zu legen. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Abgeordnete Dr. Klaus-Peter Schulze für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir, dass ich Sie auf eine kurze Zeitreise mitnehme. Im Juni 2011 hat dieses Haus – nach meinem Kenntnisstand waren es fast alle – den Atomausstieg beschlossen. Die betroffenen Regionen waren nicht dabei. Wenige Tage später hat ein großer Energieversorger aus meiner Region Gewerbesteuer-Vorauszahlungen zurückgefordert, und es wurde in zweistelliger Millionenhöhe Geld zurückgezahlt. Wir haben uns an den Bund gewandt. Aus Berlin kam keine Hilfe. Es kamen nur Briefe, aus denen ich jetzt nicht zitieren möchte. Dann mussten wir uns an das Land wenden, und es hat gesagt: Ihr bekommt Unterstützung unter der Voraussetzung, dass die Hebesätze für Grundsteuer und Gewerbesteuer sowie die Kitabeiträge erhöht und die Zuschüsse für Vereine gesenkt werden. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin sehr froh, dass es diesmal eine Kommission gab, bei der die betroffenen Regionen im Rheinland, in Mitteldeutschland und in der Lausitz mit am Tisch gesessen haben und die Probleme sowohl im Bereich des Klimas als auch der Strukturentwicklung mitberaten konnten. Es ist ja von vielen Rednern schon darauf hingewiesen worden, dass hier ein breiter Konsens gefunden wurde. Es ist eine gute Entscheidung, und was daraus wird, liegt natürlich in den Händen des Gesetzgebers, des Bundestages. Wenn ich von dem einen oder anderen höre, dass wir hierfür und dafür Milliarden ausgeben werden, dann sage ich: Das werden wir erst in den nächsten Wochen und Monaten diskutieren. ({1}) Wenn der Gesetzgeber die Entscheidungen getroffen hat, kommt es darauf an, dass man sie schnell und zuverlässig umsetzt. Dazu, meine sehr verehrten Damen und Herren, brauchen wir auch die Länder. Ich glaube, dass die Länder, die den Planungsvorlauf bewältigen müssen, ihre Behörden entsprechend vorbereiten müssen, damit er zeitnah umgesetzt werden kann. Denn es nimmt uns keiner ab, wenn wir hier in Berlin Beschlüsse fassen, Geld zur Verfügung stellen und es dann 10 oder 15 Jahre dauert, ehe eine Straße oder eine Autobahn gebaut wird – Kollege Stier erwähnt immer das Beispiel des Reststücks der Autobahn um Halle. So etwas nimmt uns nachher keiner ab. Hier müssen wir wesentlich schneller werden. ({2}) Lieber Kollege Krischer, ich habe im Jahre 2016 das Thema Braunkohle und Gips angesprochen. Da haben Sie mich ausgelacht und gesagt: Sie haben das Thema verfehlt. – Ich habe nicht das Thema verfehlt. Ich bin sehr froh, dass die Kommission genau diesen Punkt – es geht um die 60 Prozent des in Deutschland verarbeiteten Gipses, die aus den REA-Anlagen kommen – angesprochen hat und uns aufgetragen hat, da eine Lösung zu finden. ({3}) Das Nächste. Ich habe in der letzten Debatte vor Weihnachten das Thema Wasserwirtschaft angesprochen. Unseren verehrten Kollegen Arnold Eugen Vaatz, der in den 90er-Jahren sächsischer Umweltminister war, kann man gerne mal fragen, wie sich das Bundesumweltministerium gewehrt hat, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Auch dieser Punkt ist im Bericht enthalten. Allerdings, sehr geehrte Frau Staatssekretärin, kann ich nicht mit dem Antwortschreiben aus dem Bundesumweltministerium einverstanden sein, in dem es heißt, dass das ja wohl eine Sache sei, um die sich die Länder kümmern müssten. An dieser Stelle werden wir die Bundesregierung mit in die Pflicht nehmen, damit dieses Problem abgearbeitet wird; denn nichts wäre schlimmer, als wenn wir zum Schluss im Bereich der Qualität der Gewässer, auch der Oberflächengewässer – ich nenne nur das Stichwort „Eisenverockerung“ –, vor einer kleinen Katastrophe stünden. Als Letztes möchte ich ein Thema ansprechen, das vor allen Dingen die Kollegen Bürgermeister und Landräte aus dem Rheinland, wo wir wahrscheinlich beginnen werden, an uns herangetragen haben: das Thema Planverfahren. Wir müssen jetzt einen neuen Braunkohlenplan machen, einen neuen Abschlussplan. Braunkohlenpläne haben die Eigenschaft, dass es manchmal ein Jahrzehnt und länger dauert, bis sie endgültig beschieden sind. Das darf uns nicht passieren. Wir müssen hier Wege finden, die Planverfahren abzukürzen; denn es ist den Anliegergemeinden und den Menschen, die dort leben, wirklich nicht zuzumuten, dass sie jetzt von dem Anhalten oder dem Herunterfahren eines Tagebaubetriebs betroffen sind und dann vielleicht noch mal 15 Jahre auf die Rekultivierung warten müssen. Hier, denke ich, ist der Gesetzgeber in der Pflicht, sich Gedanken zu machen, wie wir den Betroffenen vor Ort helfen können. Arbeitsplätze, Struktur und auch solche kleinen Punkte müssen Berücksichtigung finden. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen zur Aktuellen Stunde liegen mir nicht vor. Ich schließe damit diesen Tagesordnungspunkt.

Mark Helfrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004298, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu den Klassikern der mittlerweile nicht mehr ganz jungen Energiewende gehört die Notwendigkeit des Netz­ausbaus. Ihn als langsame Schnecke zu bezeichnen, ist sicherlich nicht ganz fair – zumindest nicht der Schnecke gegenüber. ({0}) Die Zahlen der Bundesnetzagentur sprechen eine deutliche Sprache: Von insgesamt 7 700 Kilometern Neubau oder Netzverstärkungen sind aktuell erst 1 800 Kilometer genehmigt und nur 950 Kilometer gebaut. Um es mit den Worten von Peter Altmaier zu sagen: „Wir sind beim Netzausbau katastrophal im Verzug“. Die Gründe dafür sind vielfältig. Jetzt klagt sogar die thüringische Landesregierung mit einer grünen Umweltministerin gegen den Trassenverlauf von SuedLink. ({1}) Thüringen will – wen wundert es – die Leitung am liebsten weit weg ins Nachbarbundesland verschieben. ({2}) Gleichzeitig fordern die Grünen aber auch den Atom- und Kohleausstieg lieber heute als morgen. Da kann ich nur sagen: Willkommen in Absurdistan! ({3}) Jetzt ist es nicht so, verehrte Damen und Herren, dass die Politik in Berlin bei dieser Entwicklung bislang tatenlos zugeschaut hätte. Nein, das haben wir weiß Gott nicht! 2009 hat der Bundestag das Energieleitungsausbaugesetz auf den Weg gebracht, mit dem Planungs- und Genehmigungsverfahren gestrafft wurden. Mit dem Netz­ausbaubeschleunigungsgesetz aus dem Jahr 2011 wurden Planungen für den Stromleitungsausbau beim Bund zusammengeführt. Und last, but not least haben wir mit dem Bundesbedarfsplangesetz 2013 Zuständigkeiten gebündelt und Verfahren noch weiter konzentriert. Fakt ist jedoch, dass die bisherigen Gesetze den Zug noch nicht so wirklich ins Rollen gebracht haben. Das wollen wir jetzt mit dem vorliegenden Gesetz zur Beschleunigung des Energieleitungsausbaus angehen. Was haben wir also vor? Auf vier wesentliche Punkte des Gesetzentwurfes möchte ich näher eingehen: den Verzicht auf Bundesfachplanung, das schnelle Anzeigeverfahren, die vorausschauende Planung und Entschädigungszahlungen für Grundeigentümer. Künftig lassen sich neue Leitungen schneller planen, wenn diese innerhalb einer bestehenden Stromtrasse verlaufen oder wenn eine bestehende Leitung erweitert werden soll. In diesen Fällen verzichten wir auf die langwierige Bundesfachplanung. Gleiches gilt auch für Fälle des Ersatzneubaus von Stromleitungen. Aufwendige Antragskonferenzen und unzählige Verfahrensschritte entfallen so. Auch bei Leitungen parallel zu bestehenden Trassen kann die Bundesfachplanung entfallen. Trotz dieser Beschleunigungen wird die Öffentlichkeit auch künftig frühzeitig und umfassend eingebunden. Von der Netzentwicklungsplanung bis zur Planfeststellung können sich die betroffenen Bürgerinnen und Bürger weiterhin mit ihren Belangen einbringen. Alle privaten und öffentlichen Interessen werden im Verfahren geprüft und abgewogen. Das schnelle Anzeigeverfahren ist ein weiterer wichtiger Punkt. Wir wollen bestehende Stromleitungen noch besser nutzen und schneller erweitern. Deshalb können auf bestehenden Masten künftig Leitungen leichter verändert oder durch neue, leistungsstärkere ersetzt werden. Bleibt die Struktur des Strommastes die alte, ist keine Prüfung der Umweltverträglichkeit im Rahmen eines langen Planfeststellungsverfahrens mehr notwendig. Netzbetreiber können in diesen Fällen künftig auf das schnellere Anzeigeverfahren zurückgreifen. Das spart Zeit und Geld. Bisher gab es in diesem Bereich sowohl bei den Netzbetreibern als auch bei den Behörden große Unsicherheit. Die wollen wir hiermit beseitigen. ({4}) Um den Kritikern gleich zuvorzukommen: Wir werden die inhaltlichen Kriterien für die Genehmigung von Stromleitungen nicht ändern. Das hohe Schutz- und Vorsorgeniveau, etwa im Hinblick auf elektrische oder magnetische Felder, bleibt auch beim Anzeigeverfahren unverändert. Der dritte Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist die Regelung der vorausschauenden Planung. So können beispielsweise Leerrohre – eigentlich muss man wohl eher von Leertunneln sprechen –, die Platz für zukünftige Ausbauvorhaben bieten, direkt in das ursprüngliche Planfeststellungsverfahren einbezogen werden. Wenn wir schon einmal den Boden für Erdkabel aufreißen, sollten wir auch gleich Vorsorge für den weiteren Netzausbau treffen. Das spart Zeit und Kosten für den Bau weiterer Leitungen. Und im Übrigen schont es die Nerven von betroffenen Bürgerinnen und Bürgern und auch Landwirten in der Region. Denn schon jetzt ist eines klar: Die bislang geplanten Leitungen werden nicht ausreichen, wenn der Ausbau der erneuerbaren Energien weiter voranschreitet. Für den künftigen Bedarf des Netzausbaus im Zuge der Energiewende können dann Leitungen in diese Leerrohre gebaut werden. Zudem sparen wir erneut Genehmigungsschritte. Last, but not least schaffen wir einen einheitlichen Rechtsrahmen für die Entschädigung von Grundeigentümern, die von Ausbaumaßnahmen betroffen sind. Die Entschädigungen heben wir deutlich an. Wir setzen hier mit einer Erhöhung um bis zu 25 Prozent ein starkes Zeichen. Zusätzlich erhalten Grundeigentümer für ihre Grundstücke einen Beschleunigungszuschlag in Höhe von bis zu 50 Prozent der eigentlichen Entschädigung. Voraussetzung ist, dass sie innerhalb von acht Wochen tatsächlich unterschreiben und nicht auf Zeit spielen. Zeit ist bekanntlich Geld; das rechtfertigt insofern auch eine solche Sprinterprämie. Eins möchte ich an dieser Stelle auch noch mal klarstellen, weil das in der Diskussion immer wieder durcheinandergeht: Schadensersatz für Ernteausfälle, Mindererträge oder beispielsweise Forstschäden werden natürlich auch weiterhin zusätzlich in voller Höhe gezahlt. Sehr verehrte Damen und Herren, Sie sehen, mit der NABEG-Novelle wollen wir überflüssige Verfahrensschritte streichen, Fristen verkürzen und vereinfachte Verfahren stärken. Das alles dient dem Ziel, den Netzausbau voranzubringen. Denn die Netzinfrastruktur ist der entscheidende Baustein für das Gelingen der Energiewende. Im Übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann ich mir bei diesem Thema durchaus vorstellen, dass wir in Zukunft Baurecht per Gesetz schaffen. Wir als GroKo haben das im Koalitionsvertrag für Straßenbauprojekte bereits angedacht. Ich sehe keinen Grund, warum das bei der Energieinfrastruktur nicht zumindest auch einen Gedanken wert ist. Das würde uns helfen, damit wir das Ziel 2025 tatsächlich sicher erreichen. Es ist höchste Zeit für die Beschleunigung der Beschleunigung. Lasst es uns anpacken! Danke schön. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner für die AfD ist der Kollege Steffen Kotré. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir von der AfD sehen keine Notwendigkeit eines beschleunigten Netzausbaus. Wir sehen natürlich die Notwendigkeit, die Infrastruktur in Deutschland beschleunigt auszubauen. Wir sollten in Straßen investieren, in Schulen, in öffentlichen Nahverkehr und in die Deutsche Bahn, aber die Stromnetze als solche auszubauen, nur um Strom aus erneuerbaren Energien, also instabilen Strom da durchzuschicken, dafür sehen wir keine Notwendigkeit. Warum nicht? Wir haben ein gutes, bewährtes System. Wir haben kurze Leitungen, wir haben einen Versorger, und in der näheren Umgebung – im Umkreis von 100, 200 Kilometern – sind die Kunden und Abnehmer. Das hat sich bewährt; das ist jahrzehntelang so gemacht worden. Das ist auch in anderen Teilen der Welt so. Wir brauchen keine hyperlangen Stromtrassen. Wir sehen auch, dass diese hyperlangen Gleichstromhochspannungsleitungen Pilotanlagen sind. Da fragen wir uns natürlich, warum das so sein muss, warum man da nicht mehr geprüft hat. ({0}) Wir kennen die Gefahren nicht, die davon ausgehen. Und wir haben auch keinen Überblick darüber, zu welchem Stromverlust es dabei kommt. ({1}) Gerade bei kurzen Leitungen ist die Stromübertragung effizient. ({2}) Diese Effizienz haben wir bei langen Strecken eben nicht. Auch Sie reden ja immer von Effizienz in der Energieversorgung. Genau die geht hierbei flöten. ({3}) Um noch einmal zu dem gesundheitlichen Aspekt zu kommen: Einige Strecken bestehen bereits; da stellt sich die Frage, ob man da noch eine zusätzliche Leitung hinlegen kann. Wie gesagt, das sind Gleichstromhochspannungsleitungen, die zum Teil über Häuser hinweggehen. Unsere Forderung ist, dass das so nicht passiert, sondern dass bei Freileitungen 400 Meter Abstand von Häusern gehalten werden muss oder eine Erdverkabelung vorgenommen wird. – So viel zum gesundheitlichen Aspekt. Dann gibt es natürlich noch den Aspekt der Entschädigungszahlungen. Wenn wir uns die entsprechenden Bestimmungen anschauen, stellen wir fest, dass sie sehr restriktiv gegenüber den Grundstückseigentümern sind; da werden Entschädigungszahlungen gedeckelt. Was auch nicht so ganz klar hervorkommt, ist, ob wiederkehrende Entschädigungszahlungen vereinbart werden können. Denn nur wiederkehrende Entschädigungszahlungen tragen zur Generationengerechtigkeit bei. Das wollen wir gewahrt wissen. ({4}) Vorbild sind hier natürlich die Kommunen: Auch die Kommunen erhalten wiederkehrende Zahlungen für von ihnen erteilte Konzessionen, also dafür, dass die Versorger ihre Leitungen legen können. ({5}) All diese Dinge veranlassen uns zu der Vermutung: Vielleicht soll am Ende doch die Enteignung stehen, vielleicht soll sie ein bisschen schneller durchgedrückt werden. Ich weiß es nicht. Mir jedenfalls kommt das spanisch vor. Wie ich schon sagte: Wir brauchen keine Beschleunigung beim Ausbau des Stromnetzes, und deswegen lehnen wir die vorgesehenen Gesetzesänderungen ab. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Johann Saathoff für die Fraktion der SPD. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sagt: „Investieren wir doch lieber in Schulen als in Netze“, dann tut man so, als könnte man das eine nicht machen, wenn man das andere macht. ({0}) Das hat aber nichts miteinander zu tun, Herr Kollege; das muss ich an dieser Stelle einmal deutlich sagen. Schulen werden aus Steuermitteln bezahlt, Netze werden aus Netzentgelten bezahlt, und deswegen hat das eine mit dem anderen nichts zu tun. Ich will an der Stelle auch Folgendes sagen: Wenn Sie sagen: „Wir wollen gar nichts für die Energiewende machen“, dann heißt das nicht, dass wir kein Geld ausgeben. Nicht in die Energiewende zu investieren, bedeutet, dass wir in den nächsten Jahren – nicht Jahrzehnten oder Jahrhunderten, sondern in den nächsten Jahren – zig Milliarden Euro zu zahlen haben, die wir dann nicht mehr für Schulen, für Straßen, für Infrastruktur ausgeben können. Von daher: Denken Sie noch mal darüber nach. ({1}) Gerade haben wir über den Ausstieg aus der Kohleverstromung gesprochen. Da bestehen enorme Herausforderungen – das wurde in der Debatte ja auch deutlich –: Herausforderungen technischer Art, aber auch Herausforderungen gesellschaftspolitischer Art. Hier und heute reden wir über einen Teil der technischen Herausforderungen, vor denen wir im Zusammenhang mit der Energiewende stehen; denn der Umstieg auf erneuerbare Energien erfordert den Umbau des gesamten Energiesystems. Die Energiewende findet übrigens im ländlichen Raum statt. Das ist nicht in irgendwelchen Ballungszentren zu organisieren, sondern der größte Teil der Produktionsanlagen und natürlich alle Leitungen befinden sich im Wesentlichen in ländlichen Räumen. Dieser Gesetzentwurf ist Teil eines Aktionsplans Stromnetz. Das muss man wissen. Man darf ihn nicht gesondert betrachten. Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf Verfahren beschleunigen, ohne die Beteiligung der Menschen einzuschränken. Zum Beispiel gewinnt man künftig dadurch Zeit, dass auf eine Bundesfachplanung verzichtet wird, wenn an der Trasse gar nichts verändert werden muss. Wenn man zum Beispiel einfach andere Seile an die vorhandenen Masten hängt, dann ist eine Bundesfachplanung nicht mehr erforderlich. Wir wollen zum Beispiel auch das Verlegen von Leerrohren möglich machen, weil man den Menschen einfach nicht erklären kann, dass eine Riesenbaustelle durchs Land zieht und drei Jahre später an der gleichen Stelle noch mal eine Baustelle durchs Land zieht. ({2}) Und wir wollen es möglich machen, dass man mit dem Bau unter Umständen vorzeitig beginnen kann, weil man sonst wegen Brut- und Rastzeiten oder Winterzeiten unnötig Zeit verliert, und Zeit kostet nun mal Geld, liebe Kolleginnen und Kollegen. Klar ist: Der Netzausbau ging in der Vergangenheit zu langsam voran. Das hat auch der Bericht zum Energieleitungsgesetz deutlich gemacht. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen bürokratie- und verfahrenstechnisch bedingte Verzögerungen vermieden werden. Er ist also rundum vernünftig. Und wir wollen vorausschauende Planung möglich machen; denn es ist natürlich damit zu rechnen, dass wir in Zukunft noch einige Leitungen zusätzlich bauen werden, auch wenn wir die vorhandenen Leitungen in Zukunft effizienter betreiben wollen. Gleichzeitig sollen die Kosten des Netzengpassmanagements reduziert werden. Ich glaube – das darf man an dieser Stelle auch mal sagen –, das ist eine gute Nachricht für alle Stromkunden. ({3}) Well genuch to minn is, is nix genuch. Über diesen Gesetzentwurf hinaus ist noch viel mehr zu tun. Wir brauchen ein Netzbetriebsoptimierungsgesetz. Die Stromnetze müssen effizienter betrieben werden. Ich nenne nur eine Zahl: Die durchschnittliche Benutzung des deutschen Übertragungsnetzes beträgt im Moment 27 Prozent. Allein mit flächendeckendem Freileitungs-Temperatur-Monitoring und mit Phasenschiebern – was ist das? das ist so was wie eine Weiche zur Steuerung des Stroms – könnte man 60 Prozent des Redispatch-Volumens sparen. Mit anderen Worten: Die Stromkunden sparen 800 Millionen Euro im Jahr. Ich glaube, es wäre eine gute Botschaft, wenn wir das tatsächlich umsetzen könnten. ({4}) Wir werden uns auch damit beschäftigen müssen, wie die Verteilnetze dazu beitragen können, dass die Übertragungsnetze noch besser als heute funktionieren. Heute leiten wir den ersten Schritt zur Bewältigung der technischen Herausforderungen des Kohleausstiegs ein. In den folgenden Beratungen werden wir aber auch sicherstellen, dass die Verfahrensbeschleunigung nicht zulasten der Bürgerinnen und Bürger geht. Wir brauchen die ungebrochene Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger als Fundament der Energiewende. ({5}) Dafür setzen wir uns ein. Herzlichen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Sandra Weeser für die Fraktion der FDP. ({0})

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn möchte ich grundsätzlich festhalten, dass wir Freien Demokraten einen beschleunigten Netzausbau für erforderlich und vor allen Dingen dringend halten. ({0}) Ich hätte Herrn Altmaier, der leider nicht anwesend ist, gerne mitgegeben, dass er im Frühjahr 2018 laut angekündigt hat, er würde den Netzausbau zu einem Kernanliegen seiner Amtszeit machen. Aber dann – das muss ich ganz ehrlich sagen, meine sehr geehrten Damen und Herren – kann ich mir nicht ein Jahr Zeit lassen, um einen Gesetzentwurf vorzulegen. ({1}) Ich muss ganz ehrlich sagen: Dieses eine Jahr ist nicht nur verlorene Zeit, es ist vor allen Dingen auch sehr teure Zeit. Es ist äußerst besorgniserregend, dass Infrastrukturmaßnahmen in Deutschland nicht zügig umzusetzen sind. Es sollte uns alle nachdenklich stimmen, dass es überhaupt eines weiteren Gesetzes bedarf, um den Netzausbau voranzubringen. In diesem Schneckentempo kann und darf es in Zukunft jedenfalls nicht weitergehen. Natürlich muss auch das Thema „Akzeptanz vor Ort“ geklärt werden. Wir müssen die betroffenen Bürger mit ihren berechtigten Sorgen mitnehmen. Alle Entscheidungsträger vor Ort sind bei der Umsetzung gefordert, vernünftige Lösungen zu finden. Im Grunde sind sich doch alle Beteiligten darüber im Klaren, dass der Ausbau der Übertragungsnetze für die Energiewende in Deutschland eine elementare Rolle spielt und dass wir uns Behäbigkeit und Stillstand hier absolut nicht leisten können. Die Zahlen zum Stand des Ausbaus – das muss ich ganz ehrlich sagen – schockieren mich ein bisschen – wir haben sie eben schon von Herrn Helfrich gehört –: Beim EnLAG ist nach zehn Jahren nicht mal die Hälfte realisiert, und beim Bundesbedarfsplangesetz, dem mit dem NABEG jetzt ein bisschen auf die Sprünge geholfen werden soll, sind nach fünf Jahren sage und schreibe 3 Prozent umgesetzt. ({2}) Das heißt, weniger als 1 000 Kilometer von insgesamt notwendigen 7 700 Netzkilometern sind gebaut worden. Erklären Sie mir bitte – nehmen wir nur einmal das EnLAG –, wie das, was in zehn Jahren nicht umgesetzt werden konnte, jetzt innerhalb von drei Jahren, bis 2022, zu 100 Prozent umgesetzt werden soll, auch wenn wir beschleunigte Planungsverfahren bekommen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Mir fehlt dafür die Fantasie. Ich finde das auch ein Stück weit realitätsfern, meine Damen und Herren. ({3}) Ein Vorwurf, den sich hier die Bundesregierung gefallen lassen muss, ist: Sie machen mit Sonderausschreibungen und einem übereilten Kohleausstieg das Problem nur noch schlimmer – und das vor dem Hintergrund, dass wir 2022 zusätzlich auch noch aus der Kernenergie­nutzung aussteigen. Sorgen Sie doch erst einmal dafür, dass Infrastruktur und Erzeugung ins Gleichgewicht gebracht werden. Ihnen dürfte ebenfalls bekannt sein, dass die Vorgaben der EU-Kommission zum Stromhandel die Netze zusätzlich belasten werden. Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass durch diese Faktoren und durch Netzeingriffe die Kosten in den kommenden Jahren deutlich steigen werden. Die Dummen, die das am Ende bezahlen müssen, das sind die Verbraucher in Deutschland, meine Damen und Herren, das ist die Mitte der Gesellschaft. ({4}) Die müssen nämlich die hohen Strompreise bezahlen. 2019 werden – das kann man ungefähr berechnen – bei einer dreiköpfigen Familie schon mal 55 Euro auf die Stromrechnung draufkommen. Hier sind noch nicht mal die mindestens 80 Milliarden Euro – diese Zahl schwirrt ja momentan durch den Raum – eingepreist, die wir für den Kohleausstieg bezahlen müssen. Deshalb will ich mich und die FDP-Fraktion hier klar positionieren und von denjenigen abgrenzen, die in der Debatte das Thema „fehlende Netzinfrastruktur und dadurch verursachte Kosten“ kleinreden. Es ist nämlich ein Hohn für alle Verbraucher hier in Deutschland, wenn so getan wird, als seien hohe Strompreise und teure Netzeingriffe ein notwendiges Übel, meine Damen und Herren. Hier geht es an jeden Geldbeutel, und hier geht es auch um die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland. ({5}) – Einen vernünftigen Wirtschaftsstandort Deutschland, ({6}) der den Wohlstand für unsere Bevölkerung sichert, lieber Herr Gremmels. ({7}) Aber das scheint Ihnen ja egal zu sein, wenn man sich so manche Entscheidung hier anschaut; das muss man auch einmal sagen. Ich kann Ihnen nur den Rat geben: Überschätzen Sie mit Ihrer Energiepolitik nicht die Belastbarkeit der Bürger, und überschätzen Sie auch nicht die Belastbarkeit der Wirtschaft in Deutschland. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident!

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Präsidentin.

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Regierung legt heute das Energieleitungsausbaubeschleunigungsgesetz vor. Es impliziert, Energieleitungen müssen gebaut werden. Das führt in die Irre. Ich nenne es: Übertragungsnetzbetreiberprofitbeschleunigungsgesetz. ({0}) 35 Milliarden Euro wird uns der derzeit geplante Übertragungsnetzausbau kosten, 2,8 Milliarden Euro jährlich für die Stromnetzkundinnen und Stromnetzkunden. 50Hertz, TenneT, Amprion und TransnetBW können sich dank dieses Gesetzes in kurzer Zeit über zusätzliche 1,25 Milliarden Euro Profit freuen – pro Jahr. ({1}) Minister Altmaier von der CDU macht sich wieder einmal zum Lobbyisten, und die FDP steht fest an seiner Seite. Als Grund für den Ausbau nennt er die Energiewende. Das ist falsch. ({2}) Wenn Sie den Zahlen des Bundeswirtschaftsministeriums glauben, dann brauchen wir bis 2030  16,7 Gigawatt Transitkapazität für Strom, sprich: Durchleitung durch die Bundesrepublik. Dasselbe Wirtschaftsministerium stellt fest, dass wir bis 2030 für 8 Gigawatt neue Leitungen brauchen. Rechnen Sie mal selber nach. Diese Leitungen – Ultranet, SuedLink und SuedOstLink – sind definitiv nicht für die Energiewende, sondern für einen grenzenlosen europäischen Stromhandel. Bezahlen sollen das die hiesigen Verbraucherinnen und Verbraucher, und das lehnt Die Linke ab. ({3}) Herr Minister, wie es funktioniert mit der Einbindung erneuerbarer Energien, können Sie in Deutschland sehen: Besuchen Sie mal die Regionalnetzbetreiber Mitnetz in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen oder den Regionalnetzbetreiber enviaM oder die TEN in Thüringen. Die Mitnetz integriert bereits heute 97 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien – mit intelligenten Netzen. Wissen Sie, was die brauchen? Die wollen keine Übertragungsnetze, die wollen Energiespeicher, die wollen, dass die Behinderung der Energiespeicher beendet wird. Das ist etwas, was wir für die Zukunft brauchen. ({4}) Dieses Gesetz ist überflüssig, und es fördert nicht die Akzeptanz, es reduziert sie. Die Bundesfachplanung wird eingeschränkt. Der Leitungsbau kann bereits beginnen, wenn die Bundesfachplanung noch läuft. Im Klartext: Jede Einwendung während der Bundesfachplanung läuft dann ins Leere, wenn die Leitung schon steht. Das Gleiche gilt für den Baubeginn von Stromtrassen: Vor Ende der Planfeststellung dürfen Vorarbeiten geleistet werden und darf gearbeitet werden. Es steht nichts von einer Grenze da, was Vorarbeit ist und was nicht. Und wenn dann die Eigentümer, die Länder und Kommunen Einwendungen haben und vor Gericht gehen, um den vorzeitigen Baubeginn zu bremsen? Pustekuchen, dieses Gesetz verbietet es den Gerichten, einen Baustopp für vorzeitige Bauleistungen auszusprechen. Das ist eine Verringerung der Akzeptanz, das ist eine Aushebelung demokratischer Mitspracherechte. So etwas werden wir nicht mitmachen. ({5}) Liebe Bürgerinnen und Bürger, die Sie sich gegen Ultranet, SuedLink und SuedOstLink wehren: Mit diesem Gesetz soll Ihr Widerstand ausgebremst werden. Das ist der falsche Weg. Wir als Linke sind der Meinung, für die Energiewende brauchen wir kein 35-Milliarden-Euro-Programm zur Steigerung der Profite der Übertragungsnetzbetreiber. Was wir brauchen, sind Gesetze, dass das Biogas ins Gasnetz eingespeist wird – damit wir es eben für die Dunkelflaute zur Verfügung haben. Wir brauchen Speichertechnologien. Die Pumpspeicherwerke dürfen nicht mehr behindert werden. Die Wärmespeicher, die die Stadtwerke Nürnberg gebaut haben, müssen sich wieder rechnen können. Das ist Energiewende: die Verkopplung von Strom-, Wärme- und Gasnetz. ({6}) Und wir brauchen Regeln für dezentrale Zu- und Abschaltregulatorien. Wir brauchen Regeln, dass die Redispatchkosten an den Stellen geleistet und finanziert werden, wo sie anfallen, nämlich in den Verteilnetzen und nicht bei den Übertragungsnetzbetreibern. Das ist der Weg für eine Energiewende: preiswert, sozial und gerecht. Den Weg der Förderung von Übertragungsnetzbetreibern werden wir ablehnen. Auf dem anderen Weg würden wir Sie begleiten. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ralph Lenkert. Schönen Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! Nächste Rednerin: Dr. Ingrid Nestle für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die meisten haben es inzwischen verstanden: Wir brauchen die Stromnetze. Und so kommt der Netzausbau inzwischen auch etwas schneller voran als in der Vergangenheit, allerdings eher trotz der Politik des Ministers als wegen ihr. ({0}) Herr Altmaier hat den Netzausbau zur Chefsache gemacht. Die sichtbarste Folge davon ist bisher eine monatelang schwelende und völlig unnötige Debatte über die richtige Form der Entschädigung von Grundstückseigentümern. Selbst in den Papieren seines eigenen Hauses ist nachzulesen, dass das schon nachweislich zu Verzögerungen beim Netzausbau geführt hat. Und da, wo andererseits Bürger völlig vertretbare, maßvolle Wünsche an die Ausgestaltung des Netzausbaus in ihrer Nähe haben, wie zum Beispiel einen anderen Masttyp, ja, da bekommt die Regierung es nicht hin, dass das auch umgesetzt wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bürgerbeteiligung kann den Netzausbau beschleunigen, ({1}) aber er muss richtig gemacht werden. Bürgerbeteiligung braucht Klarheit, und sie braucht größtmögliche Einflussmöglichkeiten der Bürger. ({2}) Der Netzausbau wird durch diese Novelle nicht entscheidend beschleunigt. Hier stehen kleine Punkte, viele davon richtig, keiner ein großer Wurf. Ein Controlling soll zum Beispiel eingeführt werden. Warum erst jetzt? Was bei kleinen Projekten eine Selbstverständlichkeit ist, scheint bei Großprojekten regelmäßig vergessen zu werden. Und selbst der Netzgipfel, auf dem die heute diskutierten Vorschläge präsentiert wurden, kam erst auf Drängen der grünen Landesminister zustande. Ja, es ist wirklich eher trotz Ihrer teils ungeschickten, teils halbherzigen Anstrengungen zum Netzausbau, dass dieser inzwischen etwas schneller vorankommt. Gerade bei den wichtigen Gleichstromtrassen stelle ich fest, dass Sie – bis auf die politisch gewollte Umstellung auf Erdkabel – weitgehend im Zeitplan sind. Die Bundesfachplanung ist eingeleitet, Antragskonferenzen finden statt, die Planungsschritte werden abgearbeitet. Das ist völlig anders als vor zehn Jahren; damals schien die Planung sich überhaupt nicht zu bewegen – oder eher rückwärts. ({3}) Und was machen Sie? Anstatt sich über diesen Erfolg der beharrlichen Mitarbeiter in den Ämtern und Behörden zu freuen, bremsen Sie – und da meine ich die Kollegen der CDU/CSU, die hier sehr spärlich vertreten sind heute – ({4}) den Ausbau der erneuerbaren Energien. ({5}) Es ist völlig unverständlich, dass Sie Ihre eigenen Ziele bei den erneuerbaren Energien für 2030 mit der Begründung fehlender Stromnetze nicht einmal zu erreichen versuchen. Anscheinend halten Sie Ihre eigene Regierung für unfähig, innerhalb von zehn Jahren den Netzausbau auf den Weg zu bringen. ({6}) Haben Sie den Glauben an die eigene Fähigkeit, zu regieren, schon so weit verloren, dass Sie bis heute nur die Hälfte des selbst beschlossenen Zubaus an erneuerbaren Energien auf den Weg bringen, weil Sie so sicher sind, dass der von Ihnen ebenfalls selbst beschlossene Netzausbau unter Ihrer Regierungsführung scheitern wird? Entschuldigung, aber da hat Deutschland wirklich etwas Besseres verdient. ({7}) Wir brauchen eine Regierung, die bereit ist, Zukunft zu gestalten, die zumindest versucht, ihre eigenen Ziele zu erreichen, anstatt das glatte Gegenteil zu betreiben. ({8}) Und wir brauchen eine Regierung, die innovativ denkt. Zum Beispiel könnten Sie endlich mal die kreativen Ansätze ermöglichen, den erneuerbaren Strom vor dem Netzengpass sinnvoll zu nutzen. Dann brauchen Sie selbst angesichts Ihrer bemerkenswerten Selbstzweifel hinsichtlich des Netzausbaus einen zielgerechten Ausbau der Erneuerbaren nicht zu fürchten. Hören Sie bitte auf zu zaudern, zu lamentieren, zu verschleppen. Ich fürchte fast, Sie sind zu bequem geworden, um für die Akzeptanz der Windenergie zu kämpfen – oder Sie vertreten sogar aktiv die Interessen der Fossillobby, und da kommen Ihnen die selbst verschuldeten Rückstände beim Netzausbau gerade recht. Hören Sie endlich auf mit der faulen Ausrede vom fehlenden Netzausbau! ({9}) Sie sind dafür verantwortlich, Sie haben jede Chance, den Netzausbau hinzubekommen. Also sorgen Sie endlich für Investitionssicherheit für die erneuerbaren Energien über die nächsten zwei Jahre hinaus, und zwar, bevor die Hälfte der Planer und Projektierer in der Windbranche ihren Job verloren haben. Sorgen Sie endlich für Planbarkeit und Verlässlichkeit. Sorgen Sie dafür, dass man Regierungsziele auch in Deutschland endlich wieder ernst nehmen kann. Danke schön. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Ingrid Nestle. – Nächster Redner: Dr. Andreas Lenz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle wissen, wie wichtig der Netzausbau ist. Diesen Satz aus meinem Manuskript muss ich nach dieser Debatte ein bisschen revidieren: Die meisten wissen, wie wichtig der Netzausbau ist. – Auch die WSB-Kommission hat darauf hingewiesen, dass im Rahmen der Versorgungssicherheit der Netzausbau unerlässlich ist, und zwar im Sinne von Modernisierung, von Optimierung und natürlich auch von marktbezogenen Maßnahmen. So bieten sich neben dem Ausbau zahlreiche smarte Lösungen, beispielsweise indem man Mahnzeitmanagement- und Digitalisierungsoptionen nutzt. Wo ist eigentlich das Problem? Es ist so: Wenn der Windstrom aus dem Norden nicht in den Süden abtransportiert werden kann, dann müssen Windkraftwerke im Norden abgeregelt werden. Das verursacht hohe Kosten. Was der Netzausbau bewirkt, sieht man beispielsweise an der fertiggestellten Thüringer Strombrücke. Diese spart jährlich 300 Millionen Euro an sogenannten Redispatchkosten. Das zeigt also: Wir brauchen auch im Sinne der Wirtschaftlichkeit den Netzausbau. Das NABEG wird die Verfahren beschleunigen. So werden die verschiedenen Planungsstufen besser miteinander verzahnt. Ein hohes Maß an Öffentlichkeitsbeteiligung bleibt dabei erhalten – von der Netzentwicklungsplanung bis zum Planfeststellungsverfahren. Auch deshalb müssen wir übrigens noch einmal über die Erwähnung des SuedOstLink im Gesetz sprechen. Die hohen materiellen Standards, beispielsweise zum Schutz vor elektrischen und magnetischen Feldern, bleiben dabei unberührt. Eine weitere Maßnahme, die auch durch das NABEG geregelt wird, ist die Einbeziehung der Erneuerbaren und der KWK-Anlagen beim Redispatchmanagement. Das führt zu einem effizienteren Engpassmanagement und hilft ebenfalls, Kosten einzusparen. Hier müssen wir darauf achten, dass eine enge Zusammenarbeit zwischen den Verteilnetzbetreibern und den Übertragungsnetzbetreibern gewährleistet bleibt. Auch die Regelungen zur Entschädigung wurden schon angesprochen. Frau Nestle, es ist schon so, dass es einen großen Unterschied macht, ob entsprechende Entschädigungszahlungen geleistet werden oder nicht. Wir haben hier beispielsweise einen Zuschlag für eine gütliche Einigung vereinbart. Insgesamt werden all diese Regelungen den Netzausbau deutlich beschleunigen. ({0}) Die Anpassung der Bundeskompensationsverordnung ist ein nächster wichtiger Schritt. Lassen Sie mich ganz ehrlich sagen: Aus meiner Sicht bräuchte man für den Netzausbau keine umweltrechtlichen Ausgleichsflächen, wenn dies der Energiewende insgesamt dient. Andernfalls würden der Landwirtschaft nochmals Produktionsflächen entzogen werden. Das leuchtet mir nicht ein. ({1}) Der Netzausbau ist auch wichtig, um die Bildung von unterschiedlichen Stromgebotszonen in Deutschland zu verhindern. Hier geht es um den Industriestandort Deutschland insgesamt. Insofern ist auch hier die Wichtigkeit für die Wirtschaft zu betonen. In Zukunft müssen der Ausbau der Erneuerbaren und die Netzsituation ebenso besser koordiniert werden. Wir hatten heute ein Gespräch mit der Bundesnetzagentur zu genau diesem Thema, um die Erfordernisse eines zusätzlichen Netzausbaus zu minimieren. Insgesamt wird das NABEG also helfen, beim Netzausbau voranzukommen. Weitere Schritte werden aber notwendig sein. In diesem Sinne ist das also ein erster wichtiger Schritt. Herzlichen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Andreas Lenz. Sie sind deutlich unter der Zeit geblieben. Das ist mal was Neues. Wir hängen ja über eine Stunde. Vielen Dank für Ihren Beitrag. Nächster Redner – er ist schon da –: Mario Mieruch, der fraktionslose Kollege.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist schon spannend, wie Sie sich hier gegenseitig Versäumnisse und Profitstreben vorwerfen. Aber nehmen wir mal Frau Meier, die am idyllischen Waldrand wohnt, oder Herrn Müller, der als Bauer tätig ist. Die beiden werden bald auf eine neue Hochspannungsleitung im Panorama blicken. Kein Problem, sagt die Bundesregierung, das erklären wir den beiden, da haben wir die Lösung parat, nämlich unseren Bürgerdialog Stromnetz. Dieser Bürgerdialog Stromnetz bescheinigt: Trotz der Beschleunigung des Ausbaus wird die Öffentlichkeit umfassend eingebunden. Da heißt es: Öffentlichkeitsbeteiligung ist für die Akzeptanz des Netzausbaus vor Ort von zentraler Bedeutung. – Man beachte: Akzeptanz. Der sogenannte Bürgerdialog Stromnetz soll den Anwohnern also schmackhaft machen, dass sie vom Wertverlust ihres Grundstückes am Ende noch profitieren. Verhindern können die Bürger es sowieso nicht. Das erklärt man ihnen gleich mit. Die Vertröster und die Beschöniger auf diesen Pseudodialogveranstaltungen lassen sich königlich dafür bezahlen, natürlich mit Steuergeldern. Konkret: Meier, Müller und alle anderen blechen nicht nur für die EEG-Umlage, für die Ökosteuer usw., nein, sie zahlen sogar noch dafür, dass ihnen die profitierende Lobbytruppe erklärt, dass sie das toll finden müssen. Wem sind denn diese Jobs in den Schoß gefallen? Da wäre einmal die Hirschen Group. Die Grünen werden sie ganz gut kennen; denn schließlich hat Hirschen jahrelang den grünen Wahlkampf als Werbeagentur geleitet. Das ist allerdings nicht der einzige Amigo in einem Netzwerk, von dem Frau von der Leyen noch richtig was lernen könnte. Denn auf der millionenschweren Gehaltsliste dieses Bürgerdialogs steht auch – wieder einmal – die Deutsche Umwelthilfe. Richtig gehört: In der Öffentlichkeit möchte die CDU der DUH gerade noch alle staatlichen Mittel entziehen, um dann hier, vom Bürger weitgehend unbemerkt, die Börse wieder weit aufzumachen. Weitere 800 000 Euro hat Minister Altmaier Ende letzten Jahres erst dafür freigegeben, damit der Bürgerdialog fortgeführt werden kann und die Leute erfahren, was toll ist. Ja, wir müssen dringend über sichere Energieversorgung und zukunftsfähige Infrastruktur sprechen. Aber vorher sollten wir noch viel dringender klären, warum ein millionenschwerer Dienstleistungsvertrag eines roten Wirtschaftsministeriums an eine Deutsche Umwelthilfe ging, bei der ein grüner Staatssekretär vorher sechs Jahre Geschäftsführer war. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster und letzter Redner in dieser Debatte: Timon Gremmels für die SPD-Fraktion. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute beschäftigen wir uns wieder einmal mit dem Thema Energiewende, mit dem Thema Leitungsausbau. Das sind die Zukunftsfragen, die wir hier klären müssen. Ich höre bei vielen Debatten, ob im eigenen Wahlkreis oder in anderen Wahlkreisen, wo ich unterwegs bin, dass wir auf das NOVA-Prinzip setzen müssen: Netzoptimierung vor Verstärkung und vor Ausbau. Auch wir als SPD haben das sehr lange gefordert. Optimierung bedeutet Freileitungsmonitoring, intelligente Lastverluststeuerung, automatische Betriebsführung. Verstärkung bedeutet Austausch von Betriebsmitteln wie zum Beispiel von Hochtemperaturleiterseilen. Das sind sinnvolle, gute Mittel, um unsere Leitungen effizienter zu machen, die bestehenden und neuen Leitungen effizienter zu nutzen. Wir sind froh, dass das endlich allgemein anerkannt wird, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Deswegen steht auch im NABEG, dass dieses ­NOVA-Monitoring eingeführt wird. Das ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Aber wenn ich höre, dass immer gesagt wird, man müsse als Alternative zum Netzausbau doch auf das ­NOVA-Prinzip setzen, dann vergessen die, die das sagen, immer, dass hinten auch noch ein A steht. Das A steht für Ausbau. Wir müssen das Netz weiter ausbauen. Ich glaube, daran besteht unter denen, die sich ernsthaft damit beschäftigen, kein Zweifel. Natürlich sind wir da etwas in Verzug. Ich sage Ihnen für die SPD-Fraktion ziemlich deutlich: Ich möchte, dass wir das nicht weiter verschleppen. ({1}) Wenn wir das nicht hinbekommen, höre ich schon die Ersten, die dann fordern, wir bräuchten 2022 vielleicht doch noch das eine oder andere AKW in Süddeutschland. Ehrlich gesagt: Das kann es nicht sein. ({2}) Wir halten am Atomausstieg fest. Dafür brauchen wir insbesondere in Süddeutschland die Leitungen. Aber das müssen sich die Kollegen der CSU jetzt auch von dieser Stelle einmal anhören: Warum brauchen wir denn insbesondere in Süddeutschland Leitungen? Weil Sie dort die Energiewende verschlafen, ({3}) weil Sie mit wirklich idiotischen – entschuldigen Sie, Frau Präsidentin –, suboptimalen Beschlüssen des Bayerischen Landtages eine 10H-Regelung eingeführt haben, die im Prinzip dazu geführt hat, dass der Windkraftausbau in Bayern zum Erliegen gekommen ist, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({4}) Insofern müssen Sie – auch wenn Sie unser Koalitionspartner sind – heute ertragen, dass ich das anmerke. ({5}) Lassen Sie mich an dieser Stelle noch etwas anderes ziemlich deutlich sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Es ist gut, dass in diesem Gesetzentwurf, den wir heute hier diskutieren, auch etwas anderes geregelt ist. Darin ist nämlich ein frühzeitiges und konstruktives Einbringen von Änderungsvorschlägen der Länder geregelt. Auch das ist wichtig. Hier werden die Länder frühzeitig einbezogen. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Ich bin Mitglied der Regionalversammlung Nordhessen. Wir haben dort sehr lange über die 380-kV-Wahle-Mecklar-Trasse geredet und übrigens auch gute Kompromisse mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort hinbekommen. Aber ein Problem hatten wir immer: den Übergabepunkt von Niedersachsen nach Hessen. Wir haben immer gezittert, ob die Niedersachsen so planen, dass der gleiche Übergabepunkt rauskommt wie in Hessen. Ehrlich gesagt: Das ist doch ein Teil des Problems. Deswegen ist es gut, dass die Länder hier besser einbezogen sind und es da eine engere Absprache gibt. ({6}) Künftig werden mit dem Gesetz engere Kooperationen ermöglicht und auch viel stärker die Interessen der Kommunalplanung berücksichtigt. Auch das steht im Gesetzentwurf. Das ist hilfreich und zeigt, dass die Interessen der Kommunen ernst genommen werden. Die Leerrohre wurden schon angesprochen. Dann lassen Sie uns aber auch die richtigen Leerrohre verlegen, bei denen moderne Verfahren wie das AGS-Verfahren, das sogenannte auftriebsgestützte Slipping, ein mittlerweile weit anerkanntes, innovatives Verfahren, Anwendung finden können. Lassen Sie mich zum Schluss noch eines kurz sagen. Ich bin auch Mitglied des Petitionsausschusses und sehe mich dort mit Projekten konfrontiert, wie Sie alle sie aus Ihren Wahlkreisen kennen. Es gibt Bürgerinitiativen insbesondere gegen Ultranet, bei dem die Bürger die Gekniffenen sind. Ich kann das, ehrlich gesagt, auch nachvollziehen. Gerade wurde gemeldet, dass demnächst eine weitere HGÜ-Leitung kommen soll, als Erdleitung wie beim SuedLink. Ausgerechnet Ultranet wird als Hybridleitung geführt. Auf bestehende Masten wird also eine weitere Leitung aufgesetzt. Damit haben die Menschen ein Akzeptanzproblem. Das müssen wir sehr ernst nehmen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, Sie haben versprochen: kurz.

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wie ich finde, leistet der Bürgerdialog „Stromnetzausbau“, der auch ein Büro in Kassel hat, sehr gute Arbeit. Die Ausschreibung für die nächste Runde muss kommen. Wir brauchen den Bürgerdialog, um die Menschen mitzunehmen und zu zeigen, dass wir sie ernst nehmen. Wir dürfen nicht versuchen, die Arbeit des Bürgerdialogs zu diskreditieren, wie das andere tun. Der Bürgerdialog zu Energiewende und Stromnetzausbau leistet gute Arbeit. Diese wollen wir fortführen. In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratungen über den Gesetzentwurf. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Gremmels. Herr Lenz hat Ihnen ja zwei Minuten geschenkt. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/7375 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe und höre keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Nicola Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004668, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist gleich am Anfang des Vertrags von Lissabon niedergelegt: Die Grundpfeiler der Europäischen Union sind unverletzliche, unveräußerliche Grundrechte. Ihre wichtigsten Werte sind Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Die Europäische Union ist also weit mehr als ein Binnenmarkt oder Personenfreizügigkeit. Sie ist eine Wertegemeinschaft. Sie ist der Sieg der Stärke des Rechts über das Recht des Stärkeren und so ein weltweites Vorbild für ein rechtebasiertes und demokratisches Miteinander. ({0}) Leider aber sind Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Bürgerrechte weltweit in die Defensive geraten. Auf der ganzen Welt sehen wir das immer gleiche Drehbuch. Zuerst werden mit Populismus von links oder von rechts Wahlen gewonnen. Dann wird Schritt für Schritt das Staatswesen umgebaut und die eigene Macht konsolidiert. Die ersten Opfer sind meistens die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung. Dann folgt die Beschränkung der Pluralität, der Presse- oder der Forschungsfreiheit. Zum Schluss haben die Bürgerinnen und Bürger keine freie Wahl mehr. Demokratien sterben meistens langsam. Leider macht dieses Phänomen auch vor der Europäischen Union nicht halt. Das zeigen die gegen Polen und Ungarn angestrengten Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Artikel 7 EUV und auch mehrere Resolutionen des Europäischen Parlaments, in denen die Sorge um den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in der EU zum Ausdruck kommt, zuletzt die Sorge um die Lage in Rumänien. Auch die Berichte der Menschenrechtsbeauftragten und der Venedig-Kommission des Europarats sind alarmierend. Der Democracy Survey 2018 des „Economist“ bezeichnet knapp die Hälfte der EU-Staaten als sogenannte „unvollständige“ Demokratien. Erst gestern hat das Europäische Parlament über die Lage in Ungarn debattiert, aber die rumänische Ratspräsidentschaft kommt mit dem Artikel-7-Verfahren nicht vom Fleck. Diese Entwicklungen gefährden nicht nur die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in den betreffenden Mitgliedstaaten. Sie gefährden auch die Glaubwürdigkeit und die Funktionsfähigkeit der gesamten Europäischen Union. ({1}) Genau deswegen dürfen wir nicht tatenlos zusehen, wenn etwa die parteiische Besetzung des Verfassungsgerichts in Warschau, die Vertreibung wichtiger Teile der CEU aus Budapest oder die Absetzung der Leiterin der Antikorruptionsbehörde in Bukarest die Rechte aus Artikel 2 EUV infrage stellen. In solchen Fällen müssen wir als Europäerinnen und Europäer schneller und wirksamer eingreifen, als wir das bisher tun. Hier muss zügig in einem unabhängigen rechtsstaatlichen Verfahren geklärt werden, was gegen unsere gemeinsamen europäischen Regeln von Rechtsstaat, Demokratie und Bürgerrechte verstößt, um es dann auch unverzüglich abzustellen. ({2}) Deswegen wollen wir Freie Demokraten eine europäische Grundwerteinitiative anstoßen und damit die Instrumente der Europäischen Union im Umgang mit Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit stärken und verbessern. Ich sage ausdrücklich mit Blick auf die Initiative der Grünen, dass ich mich darüber freue, dass wir hier als Oppositionsfraktionen ein gemeinsames Anliegen haben. ({3}) Wir schlagen Ihnen vor, dass das, was es im Fiskalbereich oder in der Wirtschaftspolitik schon längst gibt, nämlich die regelmäßige und unabhängige, objektive Evaluierung der Standards in den EU-Mitgliedstaaten, endlich auch im Rechtsstaatsbereich erfolgen soll. Das Mandat hierzu soll die unabhängige Europäische Grundrechteagentur erhalten, auch um dem immer wieder gern erhobenen Vorwurf der Politisierung der Rechtsstaatsmechanismen der EU ein für alle Mal den Boden zu entziehen. Damit die Berichte entsprechende Konsequenzen nach sich ziehen, dürfen wir auch vor schmerzhaften Maßnahmen wie etwa der Kürzung der EU-Mittel nicht zurückschrecken. Schließlich müssen wir in Zukunft Mittel und Wege finden, wie wir verhindern, dass Mitgliedstaaten, die es selbst mit der Rechtsstaatlichkeit nicht allzu genau nehmen, immer wieder Verfahren gegen andere Staaten blockieren. Wenn wir dazu das Primärrecht ändern müssen, dann müssen wir das eben langfristig verfolgen. ({4}) Lassen Sie mich zum Schluss feststellen, dass es sich hier um eine Frage von unschätzbarer Bedeutung für die Europäische Union handelt. Nur wenn die Europäische Union, nur wenn wir als Europäerinnen und Europäer selbst unsere Werte nach innen glaubhaft leben, können wir sie auch nach außen glaubwürdig vertreten. Wir alle sollten das Interesse haben, weltweit als starke Stimme für Menschenrechte und Freiheit aufzutreten. Dann kann die Europäische Union in der internationalen Diskussion auch einen Unterschied machen. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Nicola Beer. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Philipp Amthor. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über zwei Anträge der Grünen und der FDP zur Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union. Ich will als Ausgangspunkt sagen: Beide Anträge sind eigentlich ganz in Ordnung. ({0}) Wir können damit gemeinsam starten. Aber freuen Sie sich nicht zu früh. Ein paar Unterschiede gibt es auch. Schauen wir uns zuerst das Gemeinsame an. Ja, unsere Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft zum Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Ja, es liegt im deutschen und im europäischen Interesse, weltweit für diese Standards zu kämpfen. Ja, das Unionsrecht muss in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen angewendet werden. Es stimmt, Frau Beer: Wir müssen noch deutlich besser werden, wenn es darum geht, Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips funktionsadäquat zu sanktionieren. Ich glaube, über all das besteht kein Streit. Angesichts der beiden Anträge und der Tatsache, dass wir uns perspektivisch im Europawahlkampf befinden, möchte ich aber auch sachlich sagen: Wir sollten den Rechtsstaat in der Europäischen Union nicht schlechtreden. Ihre Anträge enthalten eine ganze Reihe von Vorschlägen, unter anderem den Vorschlag, endlich der EMRK beizutreten. Zudem müsse die Grundrechtecharta mehr Geltung entfalten. Das sind sicherlich verschiedene Punkte, die man ansprechen kann. Aber das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir schon heutzutage einen hervorragenden Grundrechtsstandard haben und dass etwa ein Beitritt zur EMRK in grundrechtsdogmatischer Hinsicht nicht viel ändern würde. Der entscheidende Punkt ist: Wir müssen eher in der politischen Debatte für Rechtsstaatlichkeit kämpfen. Dafür müssen wir das Recht nicht an vielen Stellen ändern. Wir haben nämlich kein Defizit in Form von zu wenig Grundrechten, sondern wir haben eher ein Defizit in der Frage, wie wir die Aufsicht über unsere Grundrechte ausüben, und da, glaube ich, sollten wir neue Instrumente einpflegen. Die Frage ist: Was können das für Instrumente sein? Es gibt einen Vorschlag, den die EU-Kommission unterbreitet hat – federführend von unserem deutschen EU-Kommissar Günther Oettinger –, der eben auch Konditionalität für den EU-Haushalt unter dem Blickwinkel von Rechtsstaatlichkeitskriterien vorsieht. Ich kann Ihnen sagen: Das ist ein guter Vorschlag. Es ist auch ein guter Vorschlag, darüber zu reden, ein Europäisches Semester der Rechtsstaatlichkeit einzuführen und das Rechtsstaatsmonitoring insgesamt zu verbreitern. Das sind Punkte, für die wir auch gemeinsam streiten können. ({1}) Ich will Ihnen aber sagen, was gemeinsam streiten voraussetzt. Erwecken Sie hier in der Debatte nicht den Eindruck, als müsste man die Bundesregierung und unsere Fraktion zum Jagen tragen! Wir sind es, die in Brüssel und hier im Deutschen Bundestag im Europaausschuss immer wieder gemahnt und dafür gekämpft haben, mehr Konditionalität einzuführen. Deswegen können wir auch im Ausschuss richtig darüber diskutieren. Aber ich habe Ihnen versprochen, dass ich zum Schluss noch ein paar Unterschiede anspreche, die es gibt. Die Unterschiede beziehen sich gar nicht so sehr auf den Antrag der FDP. ({2}) – Ja, liebe Frau Brantner, das kann ich Ihnen jetzt nicht ganz ersparen. – Als ich den Antrag der Grünen gelesen habe – wir haben ja oft sozusagen über die dogmatischen Linien gestritten; ich glaube, da ist viel Einigkeit –, sind aber doch an ein paar Stellen die Alarmglocken angegangen. Im Antrag der Grünen ist von Geldern für zivilgesellschaftliche Akteure, für NGOs, gegen Desinformation und für Berichte über die Rechtsstaatlichkeit unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft zu lesen. ({3}) Das klingt wieder wirklich super; es klingt richtig gut. Aber die Frage ist: Was haben Sie denn dafür für Kriterien? Wenn ich es richtig sehe, ist Ihr Vorschlag, Staaten, die sich aus Ihrer Sicht nicht opportun verhalten, das Geld zu kürzen und es stattdessen auf politisch opportune NGOs zu verteilen. ({4}) Was stellt man sich denn da für NGOs vor? NGOs für Gendersprache, gegen den Diesel, für Windkraftausbau, gegen Massentierhaltung und für ein tolles und buntes Europa. Das sind dann wahrscheinlich förderungswürdige Initiativen für den Rechtsstaat, aber was ist mit Bürgerinitiativen, mit Engagement für eine konsequente Durchsetzung des Ausländerrechts, für Lebensschutz, für die Sicherung von EU-Außengrenzen, für konventionelle Landwirtschaft, gegen den Wolf oder gegen Tempolimits? Da fängt es wahrscheinlich an, nicht mehr so gut zu werden. ({5}) Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Der Grundsatz „Ihr bekommt Geld, wenn ihr euch wohlverhaltet“, kann kein Grundsatz für die Verteilung von Geldern sein. Es geht vielmehr um qualitative, um materielle Rechtsstaatlichkeitskriterien und nicht um irgendwelche Vorstellungen von Zivilgesellschaft. ({6}) Deswegen sagen wir: Wir achten auf materielle Rechtsstaatlichkeit. Und das kann der Staat auch gut alleine. Herzlichen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Philipp Amthor. – Das Wort zu ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag hat die Abgeordnete Corinna Miazga für die AfD-Fraktion. ({0})

Corinna Miazga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004821, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren des Kollegiums! Herr Amthor – wo ist er? – ({0}) – ja, ich weiß –, ({1}) die beiden Anträge sind eben so gerade nicht im Großen und Ganzen in Ordnung, wie Sie gesagt haben. Aber ich werde mich jetzt auf den Antrag der Grünen konzentrieren. Der Antrag der Grünen trägt einen ambitionierten Titel, lässt aber leider jede juristische Kompetenz vermissen. ({2}) Ihr Vorhaben ist getragen von Misstrauen. ({3}) – Ja, murmeln Sie ruhig weiter rein! Es ist trotzdem falsch, was Sie da hineingeschrieben haben. Sie wollen die Mitgliedstaaten beaufsichtigen und bevormunden. Die selbstbestimmte Verantwortung ist aber essenzieller Teil der Souveränität der Völker. ({4}) Sie wachen selbst über das Recht in ihrem Staat, das in den Unionswerten – in Artikel 2 EUV – skizziert ist. Wenn die Werte von einem Mitgliedstaat nicht beachtet werden, bietet das Unionsrecht den Unionsorganen durchgreifende und bereits allemal ausreichende Befugnisse zur Sanktionierung des rechtsbrüchigen Mitgliedstaates im Verfahren nach Artikel 7 EUV. Was die Grünen hier bewirken wollen, ist nichts anderes als die Schaffung einer Rechtsaufsichtskommission, die jegliches Handeln der EU-Mitgliedstaaten überwachen soll. Big Brother is watching you: Das kennen wir schon. Nein danke! ({5}) Sie sprechen davon, dass die EU kein zentralistischer Superstaat werden soll, fabulieren aber gleichzeitig von einer europäischen Identität, die es überhaupt nicht gibt. ({6}) Sie sprechen sich für Subsidiarität aus, wollen aber mit dieser Kommission gleichzeitig die Axt an das Selbstbestimmungsrecht und die Souveränität der EU-Mitgliedstaaten legen. Souveränität und Selbstbestimmung sind aber gerade die Grundpfeiler der Völkerrechtsordnung. ({7}) Sie werden von der Union ohnehin schon stark genug traktiert. Und dieser Antrag geht jetzt leider über jedes erträgliche Maß hinaus. Das habe ich übrigens gern: Von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie reden, aber selbst keinen blassen Schimmer davon haben, was das eigentlich bedeutet. Ich sage nur: Frauenquote. ({8}) – Ja, wir brauchen keine in der AfD. Zurück zu Ihrem Antrag. Sie bleiben die Antwort darauf schuldig, welches die vertragliche Rechtsgrundlage für diese ominöse Kommission eigentlich sein soll. Die europäischen Verträge lassen die Schaffung eines solchen Quasiorgans nämlich überhaupt nicht zu. Sie müssten die Verträge dafür erst ändern, und Sie wissen genau wie ich, dass Sie dafür die Stimmen aller Mitgliedstaaten brauchen. Genau daran wird Ihr vollmundiges Projekt auch scheitern. Denn unsere europäischen Nachbarn sind ja nicht blöd. Sie wissen ganz genau, dass mit so einem Instrument wie einer Rechtsaufsichtskommission am Ende doch noch die Asylquoten und auch der Migrationspakt für alle verbindlich werden. ({9}) – Ja, oh Gott, oh Gott: Das denke ich auch, wenn ich dort hingucke. – Denn Sie wissen ganz genau, dass Werte ein Postulat bzw. ein sittlicher Appell sind, aber keine subsumierbaren Rechtssätze. Ich erinnere Sie weiter daran, dass das Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten nicht mit dem Verhältnis Bund/Länder vergleichbar ist, weil die EU eben kein Staat ist. ({10}) Wir von der AfD werden uns auch immer dafür einsetzen, dass das genau so bleibt. Wir stehen zum Rechtsstaat und zum Erhalt des Nationalstaats, und zwar – nach de Gaulle – zu einem Europa der Vaterländer in Freiheit, und ohne Recht gibt es keine Freiheit. ({11}) Geradezu erschreckend sind zudem Ihre Vorstellungen zur Schaffung – ich zitiere – „eines EU-weiten Netzwerks aus spezialisierten Zentren“ – Herr Amthor hat es schon angesprochen –, „Denkfabriken, NGOs“ usw. Deren Ziel soll sein, „systematische Faktenchecks und die Aufdeckung und Zuordnung von Desinformationen europaweit besser zu bündeln und möglichst … vorbeugend zu handeln.“ Wenn Sie ein Wahrheitsministerium schaffen wollen, dann nennen Sie das Kind bitte auch beim Namen. ({12}) Entlarvend sind darüber hinaus auch Ihre Gedanken zu der geplanten Whistleblower-Richtlinie. Ich habe dazu im Juli bereits eine Subsidiaritätsrüge verfasst. Zur Erinnerung: Diese Richtlinie sah vor, für Verstöße gegen das Unionsrecht neue Meldewege direkt zur Kommission zu schaffen – also eine Denunziationshotline. ({13}) Dieser Richtlinienentwurf hat in der Folge für so viel Wirbel gesorgt, dass – jetzt mal aufgepasst, CSU! – der Bayerische Landtag in einem Beschluss zur Richtlinie zu folgendem Fazit gekommen ist: Abschließend verwahrt sich der Bayerische Landtag gegen den mit dem Richtlinienvorschlag implizierten Generalverdacht gegen die Behörden in den Mitgliedstaaten. Das war die CSU. Sie hätten vielleicht vorher mal mit ihr reden müssen. ({14}) Inhaltlich gefolgt sind dem Bayerischen Landtag außerdem die zuständigen Ausschüsse des Bundesrates sowie zum Teil der Deutsche Anwaltsverein, der Deutsche Steuerberaterverband und mittlerweile der juristische Dienst des Rates selbst. Entgegen all dieser Kritik loben Sie von den Grünen die Richtlinie in den höchsten Tönen. Ich stelle fest: Aus der Europäischen Union wurde zuerst eine Transferunion gemacht, und nun soll sie auch noch zu einer Überwachungsunion verbösert werden. Wir lehnen Ihren Antrag ab und das belanglose Papier der FDP sowieso. Vielen Dank. ({15})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Johannes Schraps. ({0})

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich will versuchen, wieder ein bisschen mehr Sachlichkeit in die Debatte zu bringen. Ich glaube, das hat die Debatte verdient. ({0}) Denn eines ist richtig: Spätestens die beiden Artikel-7-Verfahren, die momentan gegenüber der polnischen und der ungarischen Regierung laufen und die gerade schon mehrfach erwähnt wurden, haben uns eines deutlich vor Augen geführt, nämlich dass wir uns innerhalb der EU dringend darüber Gedanken machen müssen, wie wir das System der Kontrolle von Rechtsstaatlichkeit als Grundlage für unsere Demokratie stärken und besser machen. Die aktuell zur Verfügung stehenden Verfahren sind nicht optimal. Deshalb müssen wir sie verbessern. Insofern – lassen Sie mich das deshalb gern, wie einige Vorredner auch schon, voranstellen – sind die beiden vorliegenden Anträge von FDP und Grünen wichtige Beiträge zu einer notwendigen Diskussion. ({1}) Aus meiner Sicht hat ein solcher Diskussionsprozess vier zentrale Säulen: Erstens müssen wir einen Mechanismus für das Monitoring von Rechtsstaatlichkeit in den EU-Mitgliedstaaten einführen. Zweitens müssen wir Verfahren entwickeln, mit denen Verstöße gegen unsere gemeinsamen Regeln klar benannt und sanktioniert werden. Drittens müssen wir uns in aller Klarheit darauf verständigen, um welche Werte es uns eigentlich geht. Viertens, Herr Kollege Amthor, müssen wir die Wurzeln des Problems angehen, indem wir tatsächlich mehr – und zwar deutlich mehr – in die europäische Zivilgesellschaft investieren. Das ist nämlich der beste Schutz. ({2}) Da liegen schon Dinge auf dem Tisch. Die Europäische Kommission – das ist gerade genannt worden – hat dazu mit Blick auf die Verhandlungen zum neuen mehrjährigen Finanzrahmen der EU bereits einen Verordnungsvorschlag gemacht. Der Text des Vorschlags „Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatlichkeitsprinzip in den Mitgliedstaaten“ klingt zwar zugegebenermaßen ziemlich sperrig, aber er verbindet erstmals rechtsstaatliche Standards mit der Vergabe von Geldern aus europäischen Finanztöpfen. Aus unserer Sicht gehen diese Vorschläge prinzipiell in die richtige Richtung; denn nur ein funktionierender Rechtsstaat stellt auch sicher, dass die europäischen Gelder dafür eingesetzt werden, wofür sie gedacht sind, nämlich zugunsten des Allgemeinwohls. Ohne unabhängige Justiz, ohne Redefreiheit, ohne politische Opposition, ohne freie und vielfältige Medienlandschaft hinterlassen hingegen schnell Korruption und Willkür ihre negativen Spuren. ({3}) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden solchen Entwicklungen mit aller Kraft entgegenstehen. Das kann ich Ihnen versichern, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Eines muss bei solchen Sanktionsmechanismen aber klar sein – hier müssen wir uns selbstkritisch eingestehen, dass wir das politisch häufig auch nicht richtig vermitteln und nicht richtig kommunizieren –: Erdogan ist nicht die Türkei, und Putin ist auch nicht Russland. ({5}) – Frau Beer, Sie nicken jetzt. Sie haben vorhin auch von Ungarn gesprochen: Genauso wenig ist Orban Ungarn, und Kaczynski ist nicht Polen. Da muss man schon unterscheiden. ({6}) Sanktionen dürfen und sollen sich gegen nationale Regierungen richten, aber nicht gegen die EU-Bürgerinnen und ‑Bürger in einem bestimmten Land. ({7}) Darauf haben nicht nur die Grünen, sondern auch die sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament im Rahmen der dortigen Beratungen in der vergangenen Woche ganz deutlich hingewiesen. Als Grundlage – darauf habe ich zu Beginn hingewiesen – muss zudem ein Monitoringmechanismus für Rechtsstaatlichkeit etabliert werden. Der könnte sich aus meiner Sicht am Beispiel der Venedig-Kommission des Europarates orientieren oder auch auf der Grundrechtecharta und der Grundrechteagentur der Europäischen Union aufbauen. Auch das EU-Justizbarometer kann da aus meiner Sicht eine Rolle spielen. Damit werden ja bereits heute sämtliche Justizreformen innerhalb der Europäischen Union regelmäßig evaluiert. Aber neben solchen eher funktionalen Fragen geht es aus meiner Sicht grundsätzlich noch um viel, viel mehr. Was wir brauchen, ist eine klare Verständigung darauf, welche Rechte und Werte wir eigentlich meinen, wenn wir von europäischen Grundrechten und Grundwerten sprechen. Die Grundwerte der Europäischen Union sind in Artikel 2 des Lissabon-Vertrages fest verankert: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Minderheitenrechte. Wer Demokratie nicht über diese Grundwerte in ihrer Gesamtheit definiert, lässt zu, dass Demokratie etwas Grundlegendes fehlt. Viktor Orban hat 2014 öffentlich angekündigt, die Staatsform der illiberalen Demokratie aufzubauen. Während die liberale Demokratie, die wir kennen, eben diese Minderheitenrechte und Gewaltenteilung achtet, soll die illiberale Demokratie nach Orbans Darstellung über eine starke Regierung verfügen, die den Mehrheitswillen repräsentiert und durchsetzt. Das ist keine Demokratie, die auf europäischen Grundwerten aufbaut. Darauf werden wir uns hier im Haus verständigen müssen, – ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– genauso – damit komme ich zum Ende, Frau Präsidentin – wie wir uns darauf verständigen müssen, wie europäische Parteienfamilien mit nationalen Parteien umgehen sollen, die in ihren Ländern eine Politik betreiben, die diesen gemeinsam verankerten Werten widerspricht. Einigkeit in diesen Fragen brauchen wir jedenfalls dringend. Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Schraps. – Nächster Redner für die Fraktion Die Linke: Andrej Hunko. ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Europäische Menschenrechtskonvention ist aus meiner Sicht das wichtigste Menschenrechtsinstrument, das wir auf europäischer Ebene haben. ({0}) Es schafft ein Individualklagerecht am Gerichtshof in Straßburg für 830 Millionen Menschen – nicht nur für die Bürger der 47 Mitgliedstaaten des Europarates, sondern zum Beispiel auch für jeden Flüchtling auf dem Mittelmeer. Dieses wichtige Menschenrechtsinstrument und der Straßburger Gerichtshof sind gegenwärtig von Erosionsprozessen bedroht. Lassen Sie mich das kurz ausführen. Aber lassen Sie mich zuerst an einigen aktuellen Beispielen ausführen, warum das so wichtig ist: Vorgestern ist die „Sea-Watch 3“ an den Gerichtshof herangetreten. Der Gerichtshof hat geurteilt, dass die Flüchtlinge von Italien versorgt werden mussten. Das ist ein gutes Urteil, und wir begrüßen das außerordentlich. ({1}) Gestern hat der Gerichtshof geurteilt, dass der 94-jährige Friedensaktivist John Catt aus Großbritannien nicht von der Polizei überwacht werden darf und seine Daten nicht gespeichert werden dürfen. Auch das war ein gutes Urteil. Ich war vor einigen Wochen in Barcelona und habe dort die katalanischen Gefangenen besucht. Sie rechnen mit 25 Jahren Gefängnis in Madrid – der Prozess beginnt jetzt – wegen der Organisierung des Referendums am 1. Oktober 2017. Die rechtspopulistische Vox, also die Freunde der AfD, fordert sogar 74 Jahre Gefängnis. Sie haben mir gesagt: Der Gerichtshof in Straßburg ist unsere letzte Hoffnung. All das zeigt, wie wichtig dieses Instrument ist. Es ist jedoch sozusagen einer Erosion ausgesetzt, zum einen wegen des möglichen Ausscheidens Russlands aus dem Europarat – auf die Gründe will ich nicht eingehen –, zum anderen durch die vielfältigen Angriffe verschiedener Rechtspopulisten in Europa, aber auch – das ist jetzt der zentrale Punkt – dadurch, dass die Europäische Union sich bis heute weigert, dieser Menschenrechtskonvention beizutreten, zu der sie sich 2009 im Lissabon-Vertrag selbst verpflichtet hat. ({2}) Ich halte das für skandalös. Ich denke, im Jahr 2019, zum zehnten Jubiläum, sollte das endlich umgesetzt werden. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Bemerkung oder Zwischenfrage von Herrn Boehringer, AfD-Fraktion?

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bitte schön.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Boehringer.

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke sehr, Herr Hunko, dass Sie die Bemerkung zulassen. Es ist nur eine Klarstellung, die uns aber wichtig ist. – Sie haben uns mit den spanischen Rechtspopulisten in der konkreten Situation der Sezessionsbestrebungen Kataloniens in Verbindung gebracht. Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass es keine einzige Stellungnahme der AfD gibt, die in irgendeiner Weise gegen diese Freiheitsbestrebungen Kataloniens gerichtet ist, und wir uns an der Stelle in keiner Weise mit der Vox in Spanien oder in Kastilien irgendwie gemeingemacht haben. Wenn Sie eine andere Information dazu haben, eine offizielle Rede der AfD zu diesem Thema, dann bitte ich, das an dieser Stelle zu erwähnen. Danke schön. ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Boehringer, mir ist durchaus bekannt, dass die verschiedenen rechtspopulistischen Formationen in Europa zu einzelnen Fragen durchaus unterschiedliche Ansichten haben. Sie eint, dass sie in der Regel diesen Gerichtshof angreifen. Ich glaube, das Phänomen von Vox ist durchaus vergleichbar mit dem Phänomen der AfD: Sie haben ihren Wahlkampf vor allen Dingen mit der Kampagne gegen Migranten gewonnen, genauso wie das die AfD in Deutschland macht. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön.

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich glaube, dass im Jahr 2019, zum zehnten Jubiläum des Inkrafttretens des Lissabon-Vertrages, die Frage des Beitritts der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention eine zentrale Frage sein sollte. Ich finde, wir sollten auch die Europawahl nutzen, um das Thema auf die Agenda zu setzen. Wenn die Europäische Union diese eigene Verpflichtung nicht umsetzt und damit nicht akzeptiert, dass es einen Gerichtshof in Straßburg gibt, der in Bezug auf Menschenrechte auch über mögliche Verletzungen von Menschenrechten bei EU-Organen urteilen kann, zum Beispiel bei Frontex oder Europol, macht sie sich unglaubwürdig. Und dann sind auch die anderen Mechanismen, die hier angesprochen sind, letztlich hinfällig. Ich glaube, das ist der zentrale Punkt im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union. Leider findet man dazu im Antrag der Grünen überhaupt nichts. Diese Forderung ist im Antrag der FDP unter Punkt 4 aufgeführt. Ich begrüße das. Wir werden über die Anträge diskutieren, aber ich denke, der Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention sollte umgesetzt werden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Andrej Hunko. – Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen: Dr. Franziska Brantner. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Europäische Union gründet auf Freiheit, Demokratie und dem Recht. Sie funktioniert nur, wenn sich alle Mitgliedstaaten an Rechtsstaatlichkeit, demokratische Prinzipien und die Grundrechte halten. Was kann und muss die Europäische Union also tun, um ihre Achtung in den Mitgliedstaaten zu sichern und zu stärken? Die Frage ist so dringlich – deshalb haben wir sie zusammen mit der FDP heute auf die Tagesordnung gesetzt –, weil wir Orban, Strache, Salvini – you name it –, antiliberale, autoritäre Bewegungen und Regierungen haben. Das hatten wir in Europa schon mal. ({0}) Vermutlich haben alle noch die eindrucksvolle Rede und die Mahnung von Herrn Friedländer von heute Morgen in den Ohren. Ich zitiere ihn: „für die wahre Demokratie zu kämpfen“ und als anständige Menschen zu handeln. ({1}) Dabei ist ganz klar, dass die Auseinandersetzung vor allem in den betroffenen Ländern selbst geführt werden muss. Wir müssen hier bei uns die AfD wieder aus den Parlamenten rauskicken. Das ist unsere Aufgabe und unsere Verantwortung, und die kann uns auch keiner abnehmen. ({2}) Von einer Partei, die das Europaparlament abschaffen will, lasse ich mir außerdem zur Demokratie in Europa gar nichts sagen. ({3}) Aber: Wir müssen überlegen, wie wir die EU stärken können, damit sie mit diesen antidemokratischen Tendenzen besser umgehen kann. Für uns Grüne sind dabei einige Punkte wichtig. Erstens. Wir brauchen einen besseren Überblick darüber, ob sich die Mitgliedsländer an die demokratischen Spielregeln und an die Grundrechte halten. Deshalb fordern wir eine Rechtsstaatskommission. ({4}) Sie soll dies regelmäßig und in allen Ländern überprüfen, damit es nicht mehr heißen kann: Es geht nur gegen die Kleinen, nur gegen die im Osten, nur gegen die schwarz Regierten. Stattdessen werden alle Länder überprüft, egal wie groß oder wie lange sie schon dabei sind. Die Mitglieder dieser Kommission sollen aus den nationalen Parlamenten und aus dem Europaparlament ernannt werden, damit auch die nationalen Parlamente an diesem Prozess beteiligt sind. Das hat das Europäische Parlament übrigens jetzt ebenfalls beschlossen. Ich fände es gut, wenn die Bundesregierung die Position des Europaparlaments unterstützen könnte. ({5}) Zweitens muss die EU die Mitgliedsländer auch wirklich sanktionieren können, wenn sie Rechtsstaatsverletzungen in den Ländern bestätigt bekommen hat. Und ja, es gibt den Artikel 7 des EU-Vertrags, der hat auch berechtigterweise hohe Hürden. Deswegen brauchen wir ein zusätzliches Instrument. Und es macht Sinn, dahin zu gehen, wo es wehtut, nämlich ans Geld. Der Vorschlag von Herrn Oettinger ({6}) sieht vor, dass das Geld in den Ländern eingefroren wird, die betroffene Regierung die Gelder aus dem eigenen Haushalt aber trotzdem selber zahlen muss, ({7}) sich also entweder verschulden, Steuern erheben oder irgendwo Mittel kürzen muss. Das halte ich für sehr unrealistisch. Außerdem wird es dazu führen, dass der Buhmann am Ende nur Europa ist und die Bürgerinnen und Bürger getroffen sind, die sich sogar noch für Europa einsetzen und vielleicht an einer europäischen Kooperation teilnehmen wollen. ({8}) In Frankreich hat das Parlament übrigens jetzt gefordert, dass die Sanktionen nur die treffen sollen, die wirklich verantwortlich sind, und nicht die Bevölkerung an sich. Deswegen ist unser Vorschlag, zu sagen, dass der jeweiligen Regierung die Vergabemacht entzogen wird und eine unabhängige Behörde die Gelder verteilt. ({9}) Herr Amthor, Sie haben gesagt: Dann trifft es nur die Zivilgesellschaft. – Wir sagen: Vergabe an Kommunen und zivilgesellschaftliche Akteure nach der gleichen gesetzlichen Grundlage wie bereits vorher. Darin ist sehr präzise definiert, welche zivilgesellschaftlichen Akteure die Gelder erhalten können. Daran ändert sich gar nichts. Wenn Sie wollen, leite ich sie gerne zur Kenntnisnahme weiter, ({10}) damit Sie wissen, wer Gelder bekommen kann. Von daher: Hören Sie auf, irgendwelche Buhmänner aufzubauen. Das stimmt einfach nicht. Es ist vielmehr der beste Weg, um die Menschen nicht zu treffen, die Regierungen aber sehr wohl. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie an die Redezeit.

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Am Ende – Sie haben es gesagt –: Es ist eine politische Frage. Deswegen wünsche ich mir, dass Sie Orban, Fidesz endlich aus Ihrer Partei herauskicken. Und auch die Sozialdemokraten könnten noch mal über ihre rumänischen Partner nachdenken. In dem Sinne: Alles für Europa, für Demokratie und Anständigkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Franziska Brantner. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Dr. Volker Ullrich. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die europäische Idee gründet auf gemeinsamen Werten. Hinter dem Binnenmarkt und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl stand stets das Versprechen auf Frieden, Freiheit und Wohlstand – im Bewusstsein, dass eine solche Friedens- und Freiheitsordnung Regeln braucht. Diese Regeln können nur jene von Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenrechten, Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit sein. Das sind die Werte, auf denen Europa gegründet ist. Damit ist Europa untrennbar mit Grundrechten verbunden. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass wir die Debatte über eine europäische Grundrechtsinitiative führen. ({0}) Es waren übrigens auch Grundrechte und Menschenrechte, die vor 70 Jahren als allererster Integrationsschritt zur Gründung des Europarates und zur Europäischen Menschenrechtskonvention geführt haben. Und ja, wir stehen heute, im Jahr 2019, vor unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Integration: Schengen-­Raum, Euro-Raum, europäischer Raum der Justiz. Aber obwohl es unterschiedliche Geschwindigkeiten bei der Integration gibt, darf es keine zwei Geschwindigkeiten bei der Frage von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geben. Die müssen überall in Europa gleichermaßen gelten. Das fordern wir ein. ({1}) Und ja, die Rechtsstaatlichkeit wird herausgefordert. Es gibt Zustände in europäischen Staaten, die besorgnis­erregend sind: Ungarn, Polen, Rumänien. Wir wissen, dass die Geltung von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit nicht von heute auf morgen verschwindet, sondern dass sie langsam verblasst. Das werden wir nicht hinnehmen. Wir haben die Situation, dass beim Zutritt zur Europäischen Union die Kopenhagener Kriterien eingehalten werden müssen. Aber ist man einmal Mitglied in der Europäischen Union, wird dieser Grundrechtsstandard nicht mehr überprüft. Es gibt im Augenblick nur das Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags, welches bis zum Stimmrechtsentzug und damit auch zum Verlust von Mitspracherechten führt, um Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit zu sanktionieren. Ich glaube, wir brauchen weitere und nicht ganz so einschneidende Verfahren, um in Europa ein Frühwarnsystem bei Verstößen gegen Grundrechte und gegen Rechtsstaatlichkeit zu etablieren. Die Idee einer Rechtsstaatskommission oder eines Weißbuchprozesses ist eine zielführende, ebenso wie der Vorschlag von Kommissar Oettinger, Mittel an die Einhaltung von rechtsstaatlichen Kriterien zu binden. Wie genau das passiert, darüber sollten wir uns sehr intensiv unterhalten. Auch die Bündelung und Koppelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union mit der Europäischen Menschenrechtskonvention ist diskussionswürdig. Insgesamt geht es aber darum, dass wir ein fein abgestuftes System finden, um in Europa passgenau auf den jeweiligen Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit reagieren zu können. Es ist niemandem geholfen, wenn es bei der Frage der Rechtsstaatlichkeit nur ein „Alles oder nichts“ gibt. Europa kann das klüger, und Europa wird es klüger machen. Abschließend noch einen Satz zu Ihnen, Frau Kollegin Miazga. Es war Ihre erste Rede, aber das kann inhaltlich so nicht stehen bleiben. Die Idee eines Europas der Vaterländer ist nicht mehr die Idee, die wir im Jahr 2019 verfolgen sollten. ({2}) Franz Josef Strauß hat bereits 1972 gesagt: Ein Europa der Vaterländer wäre eine Gruppe der Vaterländer ohne Europa. Wir kämpfen für Europa, für Grundwerte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Volker Ullrich. – Nächster Redner in der Debatte: Uwe Kamann.

Uwe Kamann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004772, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Sehr verehrte Bürger! Nein, wir müssen uns nicht in einen Stier verwandeln wie einst Zeus, um Europa in eine neue Welt zu entführen. Aber wir sollten alles dafür tun, den Menschen in der Europäischen Union Europa und unsere Gemeinsamkeiten wieder näherzubringen, um das Projekt EU wieder positiv aufzuladen. Die EU hat ein bedeutendes Problem, und das ist ihr Image: Ist nicht demokratisch genug, mischt sich überall ein, schert sich nicht um das Subsidiaritätsprinzip, aufgeblähter Apparat usw. Lasst uns doch bitte die Europäische Union endlich wieder attraktiv machen. Lasst uns die Vorteile herausstellen und den Kern dieses Zusammenschlusses der Mitgliedsländer wieder sichtbar herausarbeiten. Diese EU, das weiß doch jeder, benötigt eine liebevolle Entschlackungskur. Also, lasst uns diese Europäische Union auffrischen und mit Weitblick so gestalten, dass sie auf Sicht das Wertegerüst für ein friedliches und wirtschaftliches Miteinander in Europa darstellen kann. Glaubt jemand im Ernst, die Bürger und Regierungen der Mitgliedsländer würden der EU Blumen streuen, wenn Brüssel die Werkzeugkiste für Sanktionen vergrößert und die Beobachtung verschärft? Ist es luststeigernd, wenn, wie von den Grünen gefordert, ein Aktionsplan gegen Desinformation gestartet, wenn Sanktionen ausgeweitet werden? Ja zu den europäischen Werten, uneingeschränkt dreimal Ja zu Demokratie und Menschenrechten; aber Nein zu mehr Dirigismus. Das gefällt niemandem. Unsere gemeinsame Herausforderung kann doch nicht darin bestehen, ein Sammelsurium von nicht zielführenden Maßnahmen einzuführen, die Bürokratie wieder aufzublasen, zu gängeln und zu strafen. Das will keiner. Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir das große Unbehagen und die Verdrossenheit über die Europäische Union auflösen, wie wir die Vertrauenskrise beenden; darum geht es, meine Damen und Herren. Alles andere ist geeignet, die Fliehkräfte zu erhöhen, den Populismus zu stärken und die wertvolle Wertegemeinschaft EU mehr zu beschädigen als sie zu stabilisieren. Vielen Dank.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Uwe Kamann. – Nächster Redner: Axel Schäfer für die SPD-Fraktion. ({0})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Bemerkungen zu den Vorschlägen von FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Erstens. Ich finde es, wie meine gesamte Fraktion auch, gut, dass es eine solche Initiative gibt. Ich wünsche mir, dass die Diskussion in den Ausschüssen und im Parlament dazu führt, dass nicht nur diese beiden Fraktionen, sondern auch CDU/CSU, Linke und SPD zu einer gemeinsamen Positionierung bei der Frage „Grundwerte und wie wir sie weiter stärken und verbreiten“ kommen. Ich bin zuversichtlich, dass uns das auch gelingt. ({0}) Der zweite Punkt – es wurde zu Recht angesprochen, dass wir auch über unsere Erfolge und den Grundrechte­standard in der EU reden müssen –: Vor genau 20 Jahren hat es hier in diesem Haus von Rot-Grün, von Bundeskanzler Schröder und Außenminister Joschka Fischer eine Initiative für eine Grundrechtecharta gegeben. Es war ein großer Erfolg – Deutschland hatte die Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 – in der wahrscheinlich erfolgreichsten deutschen Ratspräsidentschaft. ({1}) Vielleicht gibt es ein paar Skeptikerinnen oder Skeptiker in der Unionsfraktion, deshalb erinnere ich: Diese Initiative war auch deshalb so erfolgreich, weil eine rot-grüne Bundesregierung Roman Herzog, einen prominenten CDU-Politiker und ehemaliges Staatsoberhaupt, als ihren Vertreter in den Konvent geschickt hat und weil es gelungen ist, dass der Bundestag fraktionsübergreifend zu vielen Positionierungen gefunden hat. Ich nenne in besonderer Weise Jürgen Meyer als unseren Vertreter für die CDU/CSU – sein Vertreter war übrigens ein gewisser Peter Altmaier –, Berichterstatter für die SPD war Michael Roth – Sie sehen, wie man nach frühen Europainitiativen viele weitere Erfolge in diesem Parlament erreichen kann. ({2}) Drittens – ich bin dem Kollegen Hunko sehr dankbar, dass er darauf hingewiesen hat –: Das Wichtigste wird für uns beim Thema „Grundrechte in Europa“ aktuell sein, dass es gelingt, am besten mit einer deutsch-französischen Initiative, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte tatsächlich handlungsfähig zu halten. Wir sind in einer außergewöhnlich schwierigen Situation. Die Kolleginnen und Kollegen, die in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats sind, wissen, worüber ich rede, und sie wissen auch, dass das wegen der Strukturen sowohl eine finanzielle Frage als natürlich auch eine Frage von Akzeptanz ist. Es wird wichtig sein, dass die Bundesregierung – der Staatsminister ist ja auch hier –, am besten mit den französischen Kolleginnen und Kollegen, genau das aufgreift. Das ist ein zentrales Pfund, das wir für die Grundrechte in ganz Europa haben. Die Europäische Union gründet sich darauf, egal ob wir die EMRK ratifiziert haben. ({3}) Unsere Standards sind so hoch, und unsere Standards müssen erhalten werden, indem wir sie verteidigen und leben. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Axel Schäfer. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Matern von Marschall für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, verehrte Frau Präsidentin! Zum Schluss der Debatte will ich noch einmal in Erinnerung rufen, dass wir den Tag mit einer Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus begonnen haben. Wir haben hier von Saul Friedländer ein erschütterndes Zeitzeugnis gehört. Saul Friedländer hat im Nachgang – das hat uns ermutigt und gestärkt – großen Wert darauf gelegt, zu betonen, dass er heute in Deutschland eine gefestigte und starke Demokratie sieht. Ich glaube, das ist auch der Grund gewesen, warum er das mit der Aufforderung an uns alle verbunden hat, weiterhin und vielleicht auch über unser Land hinaus für die wahre Demokratie zu kämpfen. Das habe ich jedenfalls als Ansporn so verstanden. ({0}) Jetzt ist die Frage, wie wir das innerhalb der Europäischen Union am besten tun. Vieles ist dazu gesagt worden. Ich will im Zusammenhang mit dem Vorschlag von Kommissar Oettinger deutlich machen, was hier zur Debatte steht. Der Vorschlag besagt, die Verwendung europäischer Mittel an Rechtsstaatsprinzipien zu orientieren; ich denke, es geht um Prinzipien, die die Mittelverwendung selbst betreffen. Es geht also um die Frage, wie dies so umgesetzt werden kann, dass das, was wir alle natürlich für richtig halten, nämlich dass europäische Steuermittel angemessen und in der Sache konkret für ihren Zweck bestimmt eingesetzt werden, gewährleistet ist. Das wird der Verhandlungsgang zum europäischen mehrjährigen Finanzrahmen – ein Bestandteil ist der Vorschlag des Kommissars – dann zeigen. Wir haben über Artikel 7 gesprochen; er ist eine hohe Hürde. Ich kann uns alle in der Europäischen Union ermuntern, diese Hürde abzusenken. Ob das allerdings realistisch ist, wird sich zeigen. Ich will etwas sagen, was Sie bitte nicht missverstehen und was kein Rabatt auf Defizite im Rechtsstaat sein soll. Wir haben hier insbesondere über Polen und Ungarn gesprochen. Ich glaube, wir sollten die Geschichte dieser Nationalstaaten, die relativ kurz ist, nicht aus dem Blick verlieren. Sie haben sich zunächst einmal aus der Umklammerung der Sowjetunion herauslösen müssen. Das ist eine Zeit in der Europäischen Union, in der sie sich selbst vergewissern. Wenn man auf die durchbrochene und prekäre nationale Souveränität Polens, die auch wir zu verantworten haben, zurückblickt, dann ist das vielleicht umso verständlicher. Wenn man erlebt, wie stark das, was als Trianon-Trauma bekannt ist, nämlich die territorialen Verluste Ungarns nach dem Ersten Weltkrieg, bis heute wirkt, dann muss man, glaube ich, einfach auch die Identität, die kulturelle Identität dieser Länder anders begreifen als diejenige von – ich sage mal – uns Westeuropäern. Das sollten wir im Auge behalten. Wir sollten immer sehr sorgsam darauf achten, diese Länder in unseren gemeinsamen europäischen Prozess einzubeziehen. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich sage das zum Abschluss – dann ist meine Redezeit zu Ende – auch deswegen, weil wir ja in der vergangenen Woche – darauf bin ich stolz – mit Frankreich einen neuen Freundschaftsvertrag abgeschlossen haben: Es sollte daraus aber nicht geschlossen werden, dass es nun eine Europäische Union unterschiedlicher Geschwindigkeiten gibt. Ich verstehe diesen Freundschaftsvertrag als einen Impuls für alle anderen Länder, sich dem gemeinsamen Vorangehen in der Europäischen Union anzuschließen. In diesem Sinne: Lasst uns immer auch die kleineren Mitgliedstaaten mitnehmen! Das war übrigens auch ein Bekenntnis von Helmut Kohl. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Matern von Marschall. – Damit schließe ich die Debatte. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/7423 und 19/7436 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden sind. – Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf Drucksache 19/7477 zu einem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens erweitert werden. Diese soll jetzt gleich als Zusatzpunkt 11 aufgerufen werden. Dieses Verfahren entspricht, wie Sie wissen, der langjährigen Praxis des Deutschen Bundestages. Erhebt sich dagegen Widerspruch? – Nein. Dann ist das so beschlossen.

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Das britische Unterhaus hat dem Entwurf des Austrittsabkommens mit der Europäischen Union eine zumindest vorläufige Absage erteilt. Damit ist eines klar: Wir müssen uns auf einen Austritt nach dem No-Deal-­Szenario vorbereiten. Meine Damen und Herren, ein No-Deal hat weitreichende Auswirkungen. Für diesen Fall, also nur und ausschließlich für den Fall eines Hard Brexits, hat die Bundesregierung den vorliegenden Gesetzentwurf mit Übergangsregelungen in den Bereichen Arbeit, Bildung, Gesundheit, Soziales und Staatsangehörigkeit vorgelegt. Kernbereich dieses Gesetzes sind Regelungen zur sozialen Sicherheit, insbesondere zur gesetzlichen Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung. Ein ungeregelter Brexit hat für bestimmte Personengruppen erhebliche Auswirkungen – auf den Sozialversicherungsstatus einerseits sowie auf die Ansprüche der sozialen Sicherheit andererseits. Dies gilt zum einen für Deutsche mit Wohnsitz in Großbritannien. Können diese beispielsweise als Rentner zukünftig die Leistungen des britischen Gesundheitssystems in Anspruch nehmen, obwohl sie nur in der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind? Das gilt aber zum anderen auch für die britischen Rentner und Rentnerinnen, die in Deutschland wohnen, jedoch dem britischen Recht der sozialen Sicherheit unterfallen. Probleme können sich – drittens – auch für deutsche Staatsangehörige ergeben, die aufgrund des Brexits Großbritannien verlassen und wieder auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß fassen wollen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf möchten wir diesen und weiteren Personengruppen so weit wie möglich Rechtssicherheit geben – in Bezug auf ihren Versicherungsstatus, in Bezug auf ihre künftigen Ansprüche und in Bezug auf ihre aktuellen Leistungen im Bereich der sozialen Sicherheit. Kern der Regelung ist Folgendes: Vor dem Brexit in Großbritannien zurückgelegte Zeiten in der Arbeitslosen-, Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung werden auch nach dem Wegfall der EU-Rechtsgrundlage weiterhin berücksichtigt. ({0}) Außerdem sollen Personen, die vor dem Brexit in der deutschen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung versichert waren, nicht allein aufgrund des Brexits ihren deutschen Versicherungsstatus verlieren. Unsere Regelungsvorschriften sind dabei präziser als die der EU-Kommission, die gestern überraschenderweise einen Verordnungsentwurf mit Übergangsregelungen vorgelegt hat. Die Regelungen widersprechen sich jedoch nicht, sondern ergänzen sich in sinnvoller Weise. Weitere Übergangsregelungen schlagen wir für das Arbeitsförderungsrecht und angrenzende Rechtsgebiete vor. Auch deutsche Studierende in Großbritannien und britische Studierende in Deutschland sollen nicht allein aufgrund des Brexits auf ihre laufenden Ausbildungsförderungen nach dem BAföG verzichten müssen. Schließlich sollen mögliche längere Bearbeitungszeiten bei Einbürgerungsanträgen nicht zulasten von solchen Britinnen und Briten gehen, die einen Antrag auf Einbürgerung noch vor dem Brexit gestellt haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf machen wir für die betroffenen Personen aus einem Hard Brexit keine Wohlfühlsituation. Ein harter Brexit wird für die Betroffenen auch mit den vorgeschlagenen Regelungen noch eine Vielzahl von individuellen Herausforderungen in vielen Bereichen des Alltags mit sich bringen. Wir fördern auch keine britische Rosinenpickerei, mit der die Briten möglichst viele Rechte aus der EU-Mitgliedschaft behalten, aber gleichzeitig von allen Pflichten entbunden werden möchten. Ich bitte Sie daher um konstruktive Beratung dieses Gesetzentwurfes. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Anette Kramme. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: René Springer. ({0})

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kürzlich veröffentliche die britische „Times“ einen Fremdschämbrief deutscher Persönlichkeiten zum Brexit. Unterschrieben wurde der Brief nicht nur von Betbruder Bedford-Strohm und der Toten Hose ­Campino, sondern auch von den peinlichen Vier: Kramp-­Karrenbauer, Baerbock, Habeck und Nahles. ({0}) Wir würden den legendären schwarzen Humor der Briten vermissen – so heißt es im Text – und auch die Besuche im Pub nach der Arbeit, um ein Ale zu trinken. Wir würden Tee mit Milch vermissen und das Autofahren auf der linken Spur. Und genau deshalb mögen die Briten doch bitte, bitte in der EU bleiben, weil sie uns sonst ganz schrecklich fehlen würden. Hier kommen wir zum Kern des Problems: Eine große Mehrheit in diesem Haus, repräsentiert durch die genannten Persönlichkeiten, ist nicht bereit, zu akzeptieren, dass sich das Volk des Vereinigten Königreiches ({1}) mehrheitlich für den Brexit entschieden hat. ({2}) Der Fremdschämbrief der peinlichen Vier ist ein Beispiel dafür. Ein weiteres Beispiel ist der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zu Übergangsregelungen in den Bereichen Arbeit, Bildung, Gesundheit, Soziales und Staatsangehörigkeit nach dem Brexit. Worum geht es in dem Gesetzentwurf? Mit dem Ende der britischen Mitgliedschaft in der Europäischen Union entfallen auch die bestehenden EU-Regelungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, über die eine Vielzahl von Sozialleistungsansprüchen zwischen EU-Mitgliedstaaten geregelt und abgestimmt werden. Das betrifft zum Beispiel Leistungen bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit, Leistungen im Alter, bei Mutterschaft, an Hinterbliebene und bei Invalidität, bei Arbeitsunfällen, bei Arbeitslosigkeit, Familienleistungen und viele andere. Nebenbei bemerkt sind das genau die EU-Regelungen, die uns vorschreiben, jährlich mehrere Hundert Millionen Euro deutsches Kindergeld auf ausländische Konten zu überweisen, ein unglaublicher Irrsinn. ({3}) Mit dem Brexit hätte die gemeinsame Koordinierung dieser Sozialleistungen naturgemäß ein Ende. Die Briten müssten danach wie andere Drittstaatsangehörige behandelt werden, wie Russen, Chinesen, Kanadier oder Amerikaner. ({4}) Doch anstatt genau das zu akzeptieren, versucht die Bundesregierung so zu tun, ({5}) als sei Großbritannien auch nach dem Brexit weiterhin ein Teil der Europäischen Union. Sozialleistungsansprüche sollen zukünftig – ich zitiere aus dem Gesetzestext – „berücksichtigt“ werden, als ob das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland weiterhin ein Mitgliedstaat der EU wäre. ({6}) Wir reden von Sozialleistungsansprüchen von bis zu 100 000 Briten in Deutschland und von bis zu 300 000 Deutschen in Großbritannien. ({7}) Es geht hier vermutlich nicht um Peanuts. Damit kommen wir zu einer zentralen Frage, nämlich zu der der Finanzierung des Gesetzentwurfes. Dem Gesetzentwurf zufolge entstehen keine zusätzlichen Haushaltsbelastungen. Wie auch? Es soll ja alles weiterlaufen wie bisher. Was aber zur Wahrheit und zur Klarheit gehörte, wäre eine Aussage darüber, welche Einsparungen es ohne dieses Gesetz gegeben hätte, ({8}) was es uns finanziell gebracht hätte, wenn die Bundesregierung die letzten zwei Jahre genutzt hätte, um ein bilaterales Sozialabkommen auszuhandeln, ({9}) wie es im Verhältnis zu Drittstaaten durchaus üblich ist. Aber diese Chance wurde schlichtweg verschlafen. Man hat es gerade aus den Worten der Staatssekretärin gehört. Wir müssen uns jetzt auf einen ungeordneten Brexit vorbereiten. Was sie vergessen hat, zu sagen, ist, dass wir zwei Jahre lang die Chance dazu hatten. ({10}) Meine Damen und Herren, den Gesetzentwurf betrachten wir sehr kritisch. Eines möchte ich, um ein klares Statement für die Fraktion abzugeben, sagen: Ein Austritt ist ein Austritt mit allen Konsequenzen. Großbritannien war eben nicht mehr bereit, sein nationales Selbstbestimmungsrecht an der Brüsseler Garderobe abzugeben. ({11}) Auch wenn der Brexit mit all seinen sozialen und volkswirtschaftlichen Konsequenzen möglicherweise problematisch ist: Wir haben diese Entscheidung zu akzeptieren, weil sie die Entscheidung einer souveränen Nation ist. Wir haben sie zu akzeptieren, zu respektieren und für uns das Beste daraus zu machen. Vielen Dank. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion: Antje Lezius. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Springer, es ist ungeheuerlich, welche Unwahrheiten Sie hier im Hohen Hause erzählen und wie despektierlich Sie mit den Ansprüchen der Bürger, die sie sich hart erworben haben, umgehen. ({0}) Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mich noch gut daran erinnern, als meine älteste Tochter vor Jahren erklärte, sie wolle für einige Zeit nach England ziehen. Ich fragte sie: Welche Versicherung benötigst du? Was passiert, wenn du arbeitslos wirst? Denkst du auch an deine spätere Rente? Ich hatte eine Reihe von Fragen, ({1}) Fragen, die mich umtrieben, als ich selbst ins Ausland gegangen bin, nur war das damals Jahrzehnte her. Meine Tochter aber antwortete, ich bräuchte mir gar keine Sorgen zu machen, das sei alles geregelt durch die EU. Heute, am 31. Januar 2019, steht das, was für meine Tochter eine Selbstverständlichkeit war, wieder zur Debatte. In weniger als zwei Monaten wird Großbritannien aus der Europäischen Union austreten, doch die Situation scheint verworrener denn je. Seit Dienstag fordern die Briten Nachverhandlungen über die Auffanglösung zwischen Nordirland und der Republik Irland, aber das führt in eine Sackgasse. Das Chaos in der britischen Innenpolitik ist verstörend. Die Wahrscheinlichkeit eines ungeregelten Brexits steigt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Chaos in Westminster zu verhindern, liegt nicht in unserer Hand. In unserer Hand liegt es jedoch, uns um die Bürgerinnen und Bürger zu kümmern, die auf die Errungenschaften des vereinten Europas gebaut haben. Für sie wollen und müssen wir Rechtssicherheit und Beständigkeit gewährleisten. ({2}) In zahlreichen wichtigen Bereichen hat die Europäische Union für den Fall eines ungeregelten Brexits bereits Maßnahmen ergriffen. Für die Koordinierung der sozialen Sicherung hat die EU-Kommission noch am gestrigen Tag Vorschläge verabschiedet. Auch die Bundesregierung hat Maßnahmen für den Fall eines ungeregelten Brexits getroffen. Heute beraten wir den Gesetzentwurf zu den Übergangsregelungen in den Bereichen Arbeit, Bildung, Gesundheit, Soziales und Staatsangehörigkeit. In Großbritannien leben derzeit 300 000 Deutsche. 100 000 Briten sind in Deutschland gemeldet. Mit dem Ende der Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU verlieren jedoch die Vereinbarungen, die die Sozialversicherungs- und Rentenleistungen zwischen unseren Ländern koordiniert haben, ihre Gültigkeit. Dazu gehören etwa Leistungen der Rente, bei Krankheit, bei Mutterschaft, bei Arbeitsunfällen und bei Arbeitslosigkeit. Langfristiges Ziel der Bundesregierung ist – wir haben es gerade von der Parlamentarischen Staatssekretärin Kramme gehört – die Verhandlung und Verabschiedung eines neuen Abkommens zur sozialen Sicherheit. Für den Fall eines ungeregelten Brexits müssen jedoch Übergangsregelungen geschaffen werden. Ohne die Übergangsregelungen würde ein Abkommen über soziale Sicherheit von 1960 in Kraft treten. Dieses ist jedoch nicht mit bestehenden Regelungen deckungsgleich, und es würde nicht alle von einem ungeregelten Brexit betroffenen Personen umfassen. Der vorliegende Gesetzentwurf soll Rechtsklarheit für die im besonderen Maße vom Austritt betroffenen Personen schaffen, Nachteile von unseren Bürgern abwenden und Versorgungslücken schließen. Ansprüche von Personen, die in Sozial- und Rentenversicherungen bereits relevante Zeiten zurückgelegt haben, werden demnach auch nach dem Austritt Großbritanniens berücksichtigt. Auch sollen Personen, die in der deutschen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung versichert waren, nicht aufgrund des Brexits ihren Versicherungsschutz verlieren. Auszubildende, die BAföG-berechtigt sind, erhalten bis zum Abschluss des laufenden Ausbildungsabschnitts weiter Leistungen. Bei der Einbürgerung wird die doppelte Staatsbürgerschaft vorübergehend akzeptiert. Warum tun wir das? Weil es ein berechtigtes Vertrauen von Bürgerinnen und Bürgern in den Bestand unserer Regeln gibt, weil wir verhindern wollen, dass eine bereits begonnene Betriebsausbildung oder ein Studium abgebrochen werden müssen, weil die Bürgerinnen und Bürger nicht auch noch finanziell die Leidtragenden sein dürfen. ({3}) Im persönlichen Bereich werden wir es wohl kaum verhindern können. Meine Tochter ist nicht ein, sondern fünf Jahre in London geblieben. Sie hat nicht nur Englisch zu ihrer zweiten Muttersprache werden lassen, sondern auch Freunde fürs Leben und eine zweite Heimat gefunden. Als überzeugte Europäerin halte ich es für falsch, dass Großbritannien aus der Europäischen Union austreten will. Wenn ich an die Erfahrungen meiner Tochter denke, macht es mich traurig. Es ist schwer, dem Chaos, das wir derzeit erleben, und der Arbeit, die wir für die Trennung aufbringen müssen, etwas Positives abzugewinnen. Die Tragödie des Brexits führt uns aber vor Augen, wie wertvoll die Union der europäischen Staaten ist und wie viel wir verlieren, wenn wir diese aufgeben. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Antje Lezius. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Carl-Julius Cronenberg. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Springer, bevor Sie das nächste Mal über Schamgefühle fabulieren, empfehle ich, sich mit dem Unterschied zwischen dem Akzeptieren von demokratisch legitimierten Entscheidungen einerseits und persönlichem Bedauern andererseits zu beschäftigen. ({0}) Wir Freien Demokraten tun das jedenfalls. Wir akzeptieren das Ergebnis des Referendums und bedauern die Entscheidung. ({1}) Wenn es in den vergangenen zwei Jahren während der traurigen Scheidungsverhandlungen irgendetwas Positives gegeben hat, etwas, das Mut macht, das in die Zukunft weisen könnte, dann war es die große Geschlossenheit, mit der die EU die Verhandlungen geführt hat. Davon wünsche ich mir mehr; das wünsche ich mir öfter. ({2}) Insofern folge ich Bundesminister Altmaier eben nicht, wenn er in der heutigen Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht verkündet, dass ein No-Deal-Brexit um jeden Preis verhindert werden müsse. Nein, Herr Altmaier, mit Verlaub, dass die EU nicht mehr geschlossen agiert, das muss um jeden Preis verhindert werden. ({3}) Wir Europäer können und werden weiter mit Premierministerin May sprechen. Das Austrittsabkommen aufschnüren dürfen wir nicht. ({4}) Frau May hat immer noch drei Alternativen: Sie findet doch noch eine Mehrheit für das Austrittsabkommen. Sie findet keine Mehrheit und scheidet ohne Abkommen aus. Und schließlich – mein Favorit –, sie zieht die Absichtserklärung zum Austritt nach Artikel 50 zurück, die Briten bleiben, und der ganze Quatsch wird abgeblasen. Das Leben ist aber nun mal kein Wunschkonzert, und die Entscheidung liegt nicht in unserer Hand. Deswegen ist es jetzt unsere Aufgabe, uns auf alle Szenarien vorzubereiten, auch auf den harten Brexit, den keiner will. Daher ist es richtig, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, der für diesen Fall in wichtigen Lebensbereichen Regelungen vorsieht. Viele Menschen mit britischem Pass in Deutschland fragen sich: Bekomme ich weiter Rente? Darf ich weiter studieren? Was passiert, wenn ich mal krank werde? Und natürlich auch: Kann ich zusätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben? Auf der einen Seite ist klar, dass 117 000 Briten in Deutschland kurzfristig Rechtssicherheit brauchen: Dürfen wir hier leben und arbeiten? Welche Sozialleistungen stehen uns zu? Andererseits steht auch fest: Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs sind britische Staatsbürger keine Unionsbürger mehr. Damit bekommen sie einen anderen Rechtsstatus.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung vom Kollegen der AfD?

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sie haben gerade gesagt, Sie würden sich wünschen, die britische Regierung zöge den Brexit zurück, und sich damit sozusagen gewünscht, dass sich eine Regierung eigenmächtig über ein Referendum des Volkes hinwegsetzt. ({0}) Finden Sie das wirklich wünschenswert?

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass ich mir wünsche, dass sie doch noch von ihrer Erklärung zurücktreten, weil sie keine Lösung haben. Es gibt keine Mehrheit im Parlament für einen No-Deal-Austritt. Es gibt eine klare Mehrheit dafür – das ist eine Recommendation, also eine Empfehlung, an die Regierung –, in jedem Fall ein Austrittsabkommen zu erwirken. Es gibt ein Austrittsabkommen, und wir schnüren das nicht mehr auf. Das ist aber bereits abgelehnt worden. Es bleibt die dritte Option, die Erklärung zurückzuziehen und sich damit Zeit zu verschaffen, neu zu verhandeln, oder auch, das Volk neu zu befragen. ({0}) Der vorliegende Entwurf für ein Begleitgesetz beantwortet aus unserer Sicht viele Fragen – das ist in Ordnung –, aber nicht alle. So haben beispielsweise knapp 4 000 Empfänger von Arbeitslosengeld II oder auch circa 1 000 Rentnerinnen und Rentner in der Grundsicherung im Alter mit britischem Pass noch keine Rechtssicherheit. Der Leistungsbezug hängt in erster Linie vom Aufenthaltsrecht ab. Laut Plänen des Bundesinnenministeriums haben britische Staatsbürger nach dem Austritt drei Monate Zeit, einen Aufenthaltstitel zu beantragen. Eine Garantie gibt es aber erst einmal nur für Erwerbstätige. Bei nicht Erwerbstätigen kann es Härtefälle geben. Nehmen wir beispielsweise eine Rentnerin mit britischem Pass, die seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, vielleicht schon verwitwet ist. Bekommt sie einen Aufenthaltstitel ohne Weiteres zugesprochen? Das ist meiner Ansicht nach nicht sicher. Die Menschen brauchen Klarheit. Dafür muss die Bundesregierung sorgen. Im Bereich der Wirtschaft gibt es auch noch ein paar Fragezeichen. Für die Unternehmen erwarte ich eine verlässliche Regelung für die Entsendung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in beide Richtungen. Wir werden diese Fragen, so hoffe ich jedenfalls, im Verlauf der parlamentarischen Beratung klären können. In jedem Fall reichen Übergangsregelungen nicht. Wir brauchen neben einem umfassenden Freihandelsabkommen auch ein weitreichendes Sozialversicherungsabkommen. Das wird noch zu klären sein. Zum Schluss bleibt mir zu sagen: Sollten sich die Briten, aus welchen Gründen auch immer, dazu durchringen, vorerst doch in der EU zu bleiben, so würde das, glaube ich, die überwältigende Mehrheit in diesem Hause sehr begrüßen. Wenn nicht, dann rufen wir unseren Freunden jenseits des Kanals zu: Ihr seid jederzeit willkommen. Europas Tür bleibt offen. Schönen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Carl-Julius Cronenberg. – Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke: Jutta Krellmann. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wohne in der Nähe von Hameln. In Hameln, aber auch in ganz Niedersachsen leben und arbeiten ziemlich viele Menschen aus Großbritannien. Manche waren ursprünglich mal als Soldaten in Hameln stationiert und sind dann in Deutschland geblieben. Manche haben Freunde oder Ehepartner gefunden. Außerdem ist England gar nicht so weit weg von Niedersachsen, einmal kurz über den Teich. ({0}) Sie alle sind durch die jahrelange Diskussion über den Brexit verunsichert und haben die Schnauze voll, die Schnauze voll von einer Politik, bei der man sich fragt: Sind wir hier im Kasperletheater? Europa beharrt auf seinen Positionen, und die britische Regierung dreht sich im Kreis. Die Menschen fühlen sich in ihrer Verunsicherung alleingelassen: Was passiert mit meinen Rentenansprüchen? Was passiert mit meiner Krankenversicherung und mit meiner Zahnbehandlung? Was ist mit meiner Mutter, die gerade ins Pflegeheim gekommen ist? Mit diesem Gesetzentwurf werden jetzt erste Antworten geliefert. Das ist auch gut so. ({1}) Das Problem ist aber noch nicht gelöst. Nach wie vor droht ein „Brexit by chaos“. Ein ungeordneter Brexit bedeutet für Millionen von Menschen soziale Unsicherheit und Angst vor der Zukunft, und zwar nicht nur in Großbritannien, sondern in ganz Europa. Der Brexit ist das Resultat von Sozialabbau und Deregulierung in Großbritannien, aber auch in ganz Europa. Die Politik der sozialen Kälte wurde in Großbritannien auf die Spitze getrieben: ({2}) Dumpinglöhne, Armutsrenten, Ausverkauf der öffentlichen Infrastruktur, Zerschlagung von Gewerkschaften – die Liste der Zumutungen ist lang. Maggie Thatcher lässt grüßen. ({3}) Während es bei vielen Menschen an allen Ecken und Enden fehlt, verzocken die Banken in London Milliarden. Diese Doppelmoral macht die Menschen zu Recht wütend. Die Spanne zwischen Arm und Reich wird immer größer, und zwar in allen europäischen Ländern. Die EU ist zu einem neoliberalen Projekt geworden. Der Standortwettbewerb zwischen einzelnen Ländern wird systematisch angeheizt. Wir brauchen endlich eine Politik, die die Menschen in Europa in den Mittelpunkt stellt: ({4}) Arbeit und Ausbildung für alle, gute Renten, gute und faire Löhne, Bildung und ein gutes Gesundheitssystem. ({5}) Die Briten wollen kein Chaos. Deswegen liegt Jeremy Corbyn von der Labour-Partei mittlerweile in den Umfragen ganz vorne. Theresa May hat bewiesen, dass sie es nicht kann. Corbyn als Premierminister wäre nicht nur ein Neustart für Großbritannien. Das wäre auch ein Signal für ganz Europa. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jutta Krellmann. – Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen: Dr. Franziska Brantner. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sitzen hier und reden, weil der Hard Brexit nähergekommen ist, weil Frau May die Zukunft Großbritanniens verzockt, weil sie die Einheit ihrer Tory-Partei über die Interessen ihres Landes gestellt hat. Damit gefährdet sie nicht nur ihr Land, sondern auch europäische Bürgerinnen und Bürger in Großbritannien und britische Bürger bei uns. Um diese Bürgerinnen und Bürger zu schützen, müssen wir uns in Deutschland – genau wie in allen anderen europäischen Partnerländern – auf einen Hard Brexit vorbereiten. Es ist gut, dass das Gesetz, das uns im Entwurf vorliegt, hier wichtige Rechtssicherheit bringt. ({0}) Es ist gut, dass der deutsche Student in London genau wie der britische Student in Deutschland weiter Zugang zum BAföG hat. Es ist gut, dass die Rentenansprüche geklärt sind, und es ist gut, dass eine doppelte Staatsbürgerschaft ermöglicht werden soll. Es wundert mich, dass die AfD hier gegen ein Gesetz wettert, das die Rechte von über 300 000 Deutschen sichert. ({1}) Es ist jetzt wichtig, dass die Bundesregierung diese Notfallmaßnahmen europäisch koordiniert, damit die EU-27 mit einer Stimme auf einen No-Deal reagiert. Bis jetzt gehen die Antworten sehr weit auseinander. Die Finnen machen es anders als wir, die Holländer noch mal anders. Es gibt seit gestern einen Verordnungsvorschlag. Ich würde mir wünschen, dass wir ihn jetzt berücksichtigen und das europäisch koordinieren; denn es darf nicht dazu kommen, dass wir lauter kleine Mini-No-Deal-Abkommen schließen, mit denen jedes Land versucht, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen, aber am Ende alle im Regen stehen. Von daher: Lassen Sie uns die Möglichkeit nutzen, europäisch eine Koordinierung zu garantieren. ({2}) Zu den aktuellen Verhandlungen zum Backstop möchte ich noch eines sagen: Es gibt ja anscheinend zwei Dinge, die die Briten wollen. Das eine ist eine Befristung. Für uns muss doch klar sein, dass wir eine Priorität haben, und das ist der irische Frieden. Wir können nicht zulassen, dass die Iren nur die Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen Hard Brexit oder befristetem Backstop haben. Es gibt keinen Frieden auf Zeit, es gibt auch keinen halben Frieden. Es gibt nur Frieden, und den müssen wir sichern. Wenn die Briten also unbedingt ein Datum haben wollen – es scheint ja, als ob sie irgendeine Zahl wollten –, dann geben wir ihnen doch eine Zahl, zum Beispiel „2119“ oder „2319“, aber nichts, was den Frieden in Irland gefährdet. ({3}) Das Zweite, was die Briten wollen – und das ist für uns und den Rest der Europäer gefährlich –, ist eine Aufweichung der Umwelt-, Verbraucher- und Sozialstandards. Wer am Dienstag die Debatte im Unterhaus verfolgt und gut zugehört hat, hat gehört, dass viele ein Papier zitiert haben, das klar aufzeigt, welche Alternative Arrangements man gerne hätte. Da wurde offen davon gesprochen, dass man die Nichtrückschrittsklauseln, die Non-Regressions Clauses, im Umwelt- und Sozialbereich abschaffen möchte, und die Regeln im Wettbewerbsbereich gleich dazu. Das ist auch das, was May in ihrer anschließenden Rede erwähnt hat. Sie sprach dort explizit von den Workers Rights, die man schwächen möchte. Wenn wir dem nachgeben, dann gefährden wir unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, unsere Verbraucherinnen und Verbraucher. Das kann die EU nicht tun. Wir können nicht Rechte und Zugang zum Binnenmarkt ermöglichen, aber gleichzeitig unsere Standards nicht mehr gelten lassen. Das wäre Dumping; das können wir nicht zulassen. Die Bundesregierung muss ganz klar dagegen sein. ({4}) Von daher: Machen Sie den Backstop nicht auf! Glauben Sie nicht an Einhörner, an Unicorns! Ich hoffe, dass diese Sendung im Unterhaus – sie ist eigentlich besser als jede Netflix-Sendung, wenn es bloß nicht Realität wäre – bald ein Ende hat. Ich hoffe, dass wir bald durch sind und unsere und die britischen Bürgerinnen und Bürger am Ende geschützt sind und weiter gut leben können. Ich danke Ihnen. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Franziska Brantner. – Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion: Angelika Glöckner. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, Sie stimmen mir alle zu – von einigen Ausnahmen abgesehen –, dass es besser wäre, wenn wir heute erst gar nicht über dieses Thema reden müssten. ({0}) Aber es ist nun mal so, wie es ist. Die Briten haben sich zu diesem Schritt entschieden. Wir bedauern das; aber natürlich akzeptieren wir das. Wir alle wissen: Es gab eine knappe Mehrheit. Mittlerweile liegt ein Austrittsabkommen vor, es ist ausverhandelt. Aber wir wissen auch, dass die Briten dem Austrittsabkommen sehr kritisch gegenüberstehen. Das haben wir am letzten Dienstag bei der Abstimmung einmal mehr erlebt. Ich sage auch: Die Wahrscheinlichkeit eines ungeregelten Austritts wird immer größer. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass wir heute für diesen Notfall vorsorgen. Ein ungeregelter Brexit ist nicht nur das, was viele glauben: Staus von Lkws an den Grenzen, Probleme beim Zoll oder beim Warenverkehr. Er hat eine viel größere Tragweite. Wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen auch an die Menschen denken, die davon besonders betroffen sind. Ich erkläre das noch einmal, weil es einige in diesem Hohen Hause offensichtlich noch nicht verstanden haben: Es geht um die Menschen, die als deutsche Staatsbürger in Großbritannien leben. Es geht um die Menschen, die als Briten hier in Deutschland arbeiten und wohnen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir für sie alle einen Schutz herstellen; denn mit einem ungeregelten Brexit würden die mit den Sozialversicherungssystemen einhergehenden Ansprüche abrupt enden. ({1}) Was bedeutet das? Das bedeutet doch nichts anderes, als dass die sicher geglaubten Ansprüche der Menschen aus Renten-, Kranken-, Arbeitslosen-, Pflege- und Unfallversicherung von heute auf morgen infrage gestellt werden. Auch das BAföG wurde oft erwähnt. Das BAföG ist doch ein unglaublich wichtiges Mittel für junge Menschen. Es ermöglicht Menschen, die aus weniger betuchten Häusern kommen, in Großbritannien eine solide Ausbildung zu absolvieren, was uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ganz wichtig ist. Wir müssen hier einen Strich ziehen und darauf hinwirken, dass ein entsprechender Schutz gewährt wird. ({2}) Es wurde mehrfach angesprochen: Es gibt 300 000 deutsche Staatsbürger, die in Großbritannien leben, und 116 000 Briten, die hier in Deutschland arbeiten und wohnen. Für uns als SPD ist elementar, dass wir die Rechte dieser Menschen schützen. Und deshalb ist es auch absolut richtig, dass wir für diesen Fall der Fälle heute einen Gesetzentwurf vorlegen. Wir stellen damit sicher, dass die Menschen, die als deutsche Staatsangehörige in Großbritannien arbeiten, und die Briten, die hier wohnen, die Sicherheit haben, dass sie dort, wo sie wohnen und arbeiten, leben können. Dies ist auch wichtig für die Betriebe, um auf bewährte Fachkräfte in Zukunft nicht verzichten zu müssen. ({3}) Natürlich ist es weiterhin möglich, dass junge Menschen eine Ausbildung machen können. Das alles wurde schon aufgezählt. Ich will am Ende meiner Ausführungen auf einen weiteren wichtigen Punkt eingehen. Das, was wir in Großbritannien sehen und erleben, veranschaulicht doch sehr deutlich, was es bedeutet, wenn ein Mitgliedstaat den sicheren Boden der EU verlässt. Großbritannien ist ausgetreten, weil es einen besseren Weg suchte, aber Großbritannien hat den Weg noch nicht gefunden. Die Menschen auf der Insel sind total verunsichert. Das Parlament ist total zerstritten, und die Populisten, die den Brexit befördert haben, haben sich aus dem Staub gemacht; sie haben sich der Verantwortung entzogen. ({4}) Wir müssen tun, was wir tun können. Wir müssen unseren Teil beitragen. Mit diesem Gesetzentwurf versuchen wir, die Rechte des Personenkreises, den ich aufgezählt habe, zu schützen. Das tun wir, und ich bin froh, dass wir heute die erste Lesung haben. Ich danke auch Hubertus Heil und Staatssekretärin Anette Kramme für die zügige Vorlage dieses Entwurfs. Ich freue mich auf die weiteren Debatten und danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Angelika Glöckner. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Peter Aumer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Man müsse auf alle Szenarien vorbereitet sein, stellte gestern EU-Kommissionspräsident Juncker im Europäischen Parlament fest. Nach der gestrigen Entscheidung im Parlament ist die Wahrscheinlichkeit eines Austritts Großbritanniens aus der EU ohne eine Austrittsvereinbarung größer geworden. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass die Bundesregierung heute den Entwurf eines Gesetzes zu Übergangsregelungen in den Bereichen Arbeit, Soziales, Bildung und Gesundheit einbringt. Das Gesetz wird nur wirksam, wenn es zu einem ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der EU kommt. Sehr geehrter Herr Springer, wir akzeptieren selbstverständlich die Entscheidung der Briten, austreten zu wollen. Aber wir haben die Aufgabe, das für die Menschen, die in Großbritannien oder in Deutschland leben und beispielsweise in die Rentenversicherung eingezahlt haben, verantwortungsvoll zu regeln. Deswegen ist es notwendig, dass hier eine Regelung auf den Weg gebracht wird und wir Rechtssicherheit für die Menschen gewährleisten. ({0}) Mit der aktuellen Debatte um den Brexit wird überdeutlich, wie stark und intensiv die Europäische Union zusammengewachsen ist und wie stark sich die Vorzüge der EU auf das Leben der Menschen auswirken. In den letzten 46 Jahren, seit Großbritannien zur EU gehört, sind viele gesetzliche Bestimmungen auf den Weg gebracht worden. Sie betreffen auch die grenzüberschreitende Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. All diese Regelungen, meine sehr geehrten Damen und Herren, zeigen die Kraft unseres geeinten Europas. Der Brexit, liebe Kollegen, zerteilt alles. Deswegen, Herr Springer, kämpfen wir für den Verbleib Großbritanniens. Wir akzeptieren die Entscheidung, aber kämpfen für den Verbleib. Das ist die Herausforderung, die wir als überzeugte Europäer annehmen. ({1}) Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU entfallen die Regelungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Aufgrund der aktuell schwierigen Gemengelage muss man auf alle Szenarien vorbereitet sein. Deshalb ist es wichtig und notwendig, den Deutschen in Großbritannien und den Briten in Deutschland im Falle eines No-Deal Rechtssicherheit zu gewähren. Betroffen von dem Gesetz sind unter anderem Versicherte und Rentner, die vor dem Brexit deutsche und britische Versicherungszeiten aufweisen. Die Übergangsregelungen sehen unter anderem vor, dass das europäische Sozialrecht im Verhältnis zu Großbritannien bei diesen Personen grundsätzlich weiter angewandt wird. Wer beispielsweise vor dem Austritt eine Rente der Deutschen Rentenversicherung bezogen hat, erhält sie auch weiterhin. Das gilt auch für BAföG-Empfänger, für Studierende, für Auszubildende, für Schüler; denn es darf hier nicht zu einem Bruch der Ausbildungs- und Bildungsbiografien kommen. Das britische Ministerium für den Austritt aus der EU hat ebenfalls ein Strategiepapier vorgelegt – auch das verschweigt die AfD –, das sich mit rechtlichen Regelungen für EU-Bürger in Großbritannien und britische Staatsangehörige in der EU befasst. Dieses Strategiepapier sieht eine Verpflichtung Großbritanniens vor, einen Großteil der Regelungen des Austrittabkommens zu übernehmen, wenn es zum ungeregelten Austritt kommen sollte. Geregelt würde beispielsweise der Zugang zur Gesundheitsversorgung, zu Bildungseinrichtungen und zu Sozialleistungen auch für deutsche Staatsbürger, Herr Springer. Obwohl die Verhandlungen schwierig sein werden, ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass den Menschen keine persönlichen Nachteile entstehen. Wir, die Politiker in Deutschland und Brüssel, aber auch in Großbritannien, müssen Rechtssicherheit für die Menschen schaffen. Sehr geehrte Frau Krellmann, ein EU-Bashing, wie Sie es in Ihrer Rede betrieben haben, hilft nicht, das Vertrauen der Menschen in die Europäische Union zu stärken. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir können das Vertrauen der Menschen in die EU, in ihre Staaten und in die Politik nur stärken, wenn wir Vertrauen schaffen und wenn wir Klarheit und Wahrheit – da muss ich noch mal auf Sie zu sprechen kommen, Herr Springer – in politische Entscheidungen einfließen lassen. Es ist ja klar geregelt, dass die vorliegenden Bestimmungen nur kurzfristig gelten sollen. Wenn es zum kalten Brexit kommen sollte, dann muss es selbstverständlich langfristige Regelungen zwischen Deutschland und Großbritannien geben. Das ist unser Ziel. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist uns wichtig, dass wir in der Europäischen Union eine Regelung finden, mit der die Briten in der Zukunft sehr nah an der Europäischen Union bleiben. Das Projekt Europa überzeugt die Bürger nur durch enge Zusammenarbeit, durch gelebte Solidarität, durch aufgezeigte Verlässlichkeit und durch maximale Vertrauensbildung. Dadurch ist Europa in den letzten Jahrzehnten zum Erfolgsfaktor geworden, und deswegen wird Europa auch Zukunftsmodell sein. ({3}) Daran müssen wir arbeiten, nach dem Motto der EU: Einheit in Vielfalt. Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Aumer. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/7376 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Christine Lambrecht (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003167

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann nahtlos da ansetzen, wo wir beim letzten Tagesordnungspunkt aufgehört haben. Es geht darum: Wie gehen wir damit um, wenn es kein Austrittsabkommen mit dem Vereinigten Königreich Großbritannien geben wird und es damit zu einem harten Brexit kommt? Am 29. März 2017 hat das Vereinigte Königreich erklärt, dass es aus der EU austreten will. Wahrscheinlich hatte man damals das Gefühl: Jetzt haben wir alle Zeit der Welt, um zu verhandeln, wie das ausgestaltet werden soll. – Zumindest hat man diesen Eindruck, wenn man merkt, was für eine geballte Beratungshektik jetzt entsteht. Was dabei herauskommt, können wir auch beobachten – sicherlich zumindest nicht das, was sich viele Bürgerinnen und Bürger bei einer so wesentlichen Frage vorstellen. Nichtsdestotrotz müssen wir als Bundesregierung, als Bundesrepublik Deutschland auf alle möglichen Austrittsszenarien vorbereitet sein, wenn es denn tatsächlich zu einem harten Brexit kommt, und diese entsprechend gesetzlich begleiten. Dazu stelle ich Ihnen heute das Brexit-Steuerbegleitgesetz vor. Der Austritt führt dazu, dass auf Großbritannien zahlreiche Veränderungen zukommen. Annehmlichkeiten des Binnenmarktes werden wegfallen. Das gehört eben dazu, wenn man als Drittstaat behandelt wird. Selbstverständlich akzeptieren wir die Entscheidung. Wir haben uns daher mit den verbleibenden Mitgliedstaaten, mit unseren europäischen Partnern, darauf verständigt, gegenüber dem Vereinigten Königreich keine einseitigen Maßnahmen zu ergreifen, mit denen der Status quo erhalten werden würde; denn das würde ja dem Willen zum Austritt widersprechen. Das kann es also nicht geben. Es geht auch nicht darum, wie es die Kollegin Brantner vorhin in der Debatte gesagt hat, die Schäfchen jedes einzelnen Staates ins Trockene zu bringen. Das tun wir in dem Bereich auf keinen Fall. Vielmehr geht es darum, mögliche erhebliche Nachteile für Steuerpflichtige, Finanzmarktdienstleister, Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger abzuwenden. Darum geht es, und darauf haben wir uns mit den anderen Mitgliedstaaten verständigt. ({0}) Es geht um Bestands- und Vertrauensschutz, und das ist auch richtig so. Es soll bei grenzüberschreitenden Sachverhalten eben nicht zu einer rückwirkenden oder sofortigen Besteuerung kommen. Es soll nicht zu einem abrupten Abbruch beispielsweise der Riester-Förderung kommen. Es soll auch nicht zu einer Instabilität des Finanzmarktes kommen. Deswegen mussten wir entscheiden – ich weiß, das ist eine vieldebattierte Regelung –, wie wir mit Risikoträgerinnen und Risikoträgern umgehen, also mit Menschen, die einen großen Einfluss auf Banken und Finanzinstitute haben, und ob es vertretbar ist, eine abweichende Kündigungsregelung für diejenigen zu schaffen, die negativen Einfluss nehmen, Verluste erwirken und damit die gesamte Finanzmarktstabilität in Gefahr bringen können. Wir haben uns entschieden, dass man das verantworten kann. Betroffen sind Menschen im Osten, also in den neuen Bundesländern, die mehr als 220 000 Euro verdienen, und in den alten Bundesländern, die mehr als 240 000 Euro verdienen – also eine Gruppe von circa 5 000 Menschen. Ich glaube, das ist akzeptabel, um diese Stabilität zu wahren. Es geht nicht darum, den Kündigungsschutz aufzuweichen, sondern es geht darum, dass auf diese Gruppe entsprechend eingewirkt werden kann. Deswegen haben wir das nicht über den allgemeinen Kündigungsschutz geregelt, sondern hier. Hier gehört es auch hin, weil es nur um diese Personengruppe geht, um Risikoträger bei erheblichen Instituten. Es geht um noch viel mehr, aber meine Redezeit lässt es leider nicht zu, ins Detail zu gehen. Aber wir haben noch ausreichend Zeit, zunächst einmal im Rahmen der Anhörung, die schon beschlossen ist, uns zu verständigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Finanzausschuss wurde die Frage gestellt: Kommt ihr damit nicht ein bisschen spät? – Zu spät auf jeden Fall nicht. Denn wir wollten die Verhandlungen, die immer noch laufen, nicht dadurch gefährden, dass wir den Eindruck erwecken, wir hätten das alles schon längst abgeschrieben. Deswegen ist es, glaube ich, genau der richtige Zeitpunkt, zu zeigen: Wir sind vorbereitet, wenn es dazu kommt. Wir sind entsprechend aufgestellt. Aber wir würden uns dennoch freuen, wenn es zu einem Austrittsabkommen kommt, wenn das noch gelingen würde. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Lambrecht. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Albrecht Glaser. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Neben dem nationalen Gesetz zu Fragen der Arbeit, Bildung, Gesundheit, Soziales und Staatsangehörigkeit hat die Bundesregierung ein Brexit-Steuerbegleitgesetz vorgelegt, über das heute zum ersten Mal gesprochen wird. Es geht um Wegzugsbesteuerung – das ist gerade gesagt worden –, um das Körperschaftsteuergesetz, um einkommensteuerrechtliche Vorschriften, nach denen bestimmte stille Reserven nicht aufgedeckt werden müssen, um Altersversorgungssysteme und die Fortführung von Finanzdienstleistungen, die einem kontinuierlichen Prozess dienlich sind, und vieles andere mehr. In den zehn Artikeln sind viele Einzelheiten enthalten, die hier nicht alle im Einzelnen diskutiert werden können. Abseits davon wird für sogenannte Risikoträger – das ist gerade auch angesprochen worden – mit hohem Einkommen bei Finanzinstitutionen der Kündigungsschutz aufgehoben – eine Maßnahme, die im Kapitaldienstleistungssektor tatsächlich eine sehr praktische Bedeutung hat und dem Bankenstandort Deutschland helfen wird. Dies alles, sage ich, ist tendenziell vernünftig und findet unsere Zustimmung. Allerdings wird durch erste externe fachliche Stellungnahmen klar, dass eine Reihe zusätzlicher Maßnahmen erforderlich sein wird. Der Finanzausschuss wird dazu eine Anhörung durchführen. Dort werden wir von den Fachleuten hoffentlich Details erfahren. Noch schöner wäre, wenn das eine oder andere davon auch umgesetzt würde, was eigentlich selten oder nicht geschieht. Dieser Vorgang ist Anlass, ein paar grundsätzliche Bemerkungen zum Brexit und zur EU zu machen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Die Briten haben sich spät – 1973 – entschlossen, dem kontinentalen Projekt beizutreten. ({1}) Churchill hat nach dem Zweiten Weltkrieg zwar für das verbliebene Westeuropa einen Staatenbund vorgeschlagen, England sollte allerdings nicht Mitglied werden. Auf diesem Stand sind wir nun wieder. Das erinnert an die USA nach dem Ersten Weltkrieg. Woodrow Wilson hatte den Völkerbund konzipiert; die USA sind ihm aber letztlich nicht beigetreten. Sie wissen, warum: Weil der amerikanische Kongress die Ratifizierung der Versailler Verträge verweigert hat. Diese Verweigerung geschah insbesondere wegen dem Souveränitätsdenken Amerikas, das seit Jahrhunderten besteht – Herr Trump ist da überhaupt keine Ausnahme, sondern er befindet sich in einer jahrhundertelangen Kontinuität. Auch den Briten wurde die EU-Jacke nunmehr zu eng. Die insbesondere deutsche Fantasie von den Vereinigten Staaten von Europa war mit britischen Vorstellungen von staatlicher Souveränität nicht vereinbar; das ist der wahre Kern der Veranstaltung. ({2}) Das gilt natürlich auch, meine sehr verehrten Damen und Herren, für den Euro, der nach der Vorstellung von François Mitterrand nicht etwa allen nützen sollte, sondern für Frankreich ein „Super-Versailles“ herbeiführen sollte, wie sein Berater Attali immer laut in der Öffentlichkeit formuliert hat. ({3}) Die stetige Abwertung des Francs gegenüber der D-Mark verletzte den Nationalstolz nicht nur der Regierenden, sondern breiter Schichten der Bevölkerung. Die Migrationspolitik der EU und die eigenwillige Entscheidung der Kanzlerin brachten bei den Briten das Fass zum Überlaufen. ({4}) – Dies ist demoskopisch relativ gesichert; denn die Frage, was bei den Briten tatsächlich zu dieser Entscheidung geführt hat, ist hochinteressanterweise damit verknüpft. Wir können Ihnen das nicht ersparen. Selbst wenn Sie sagen: „Es ist eigentlich gar nichts passiert“ – das Problem ist, dass Sie die Dinge, die wichtig sind, gelegentlich vielleicht doch aus dem Auge verlieren. Demoskopisch ist das, wie schon gesagt, gesichert. Und: Mit England wäre eine bessere EU möglich. Wir bedauern auch, dass das ohne England stattfindet. Die Sonderverbindung Deutschland-Frankreich, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird die EU auch weiterhin schwächen. Die Nordstaaten von den Niederlanden bis Finnland werden den weiteren Weg in eine Transferunion nicht mitgehen, und das ist gut so. Die Franzosen reden immerzu von Europa und meinen, wie schon François Mitterrand, Frankreich. Es ist eines unserer strategischen Ziele, Paris zum wichtigsten Finanzplatz in Europa zu machen. Das sagte soeben Bruno Le Maire, der französische Wirtschafts- und Finanzminister. Er macht dafür Steuergeschenke an Banker: bis zu 50 Prozent Einkommensteuerermäßigung für Expatriats, die im Finanzdienstleistungsgeschäft sind. Man stelle sich einmal vor, man würde das in Deutschland in die Diskussion bringen. Der frühere Investmentbanker Macron weiß, wie dieses Spiel gespielt wird, und er spielt es auch. Eine europäische Armee, ein EU-Finanzminister, eine gemeinsame Bankenhaftung, ein gemeinsamer Währungsfonds, eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung – der Fantasie der Transferleistungen von Nordeuropa an den Club Med, der von Frankreich orchestriert wird, sind scheinbar keine Grenzen gesetzt. ({5}) Eine Vielzahl heutiger EU-Staaten wird das jedoch nicht mitmachen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Dieser Entwicklung werden die berechtigten Interessen vieler Einzelstaaten Einhalt gebieten. Gehen Sie einmal nach Holland, und lassen Sie sich von den Holländern erzählen, wie sie unsere Sonderbeziehung zu Frankreich sehen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Glaser, achten Sie bitte auf die Zeit.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zum Schluss. – Diese Staaten werden dieser Entwicklung Einhalt gebieten, oder sie werden die Konsequenzen ziehen, wie sie das Vereinigte Königreich schon gezogen hat. Wer das Falsche tut, bringt zuweilen das Richtige hervor. Wir wünschen viel Glück auf diesem Weg. Wir werden es alle brauchen, das Glück. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Fritz Güntzler für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Ich bin immer erstaunt, Herr Glaser, dass Sie auch noch beweisen, dass Sie inhaltlich nichts draufhaben, indem Sie einfach über irgendwelche anderen Dinge und nicht zum Gesetz reden. Denn es lohnt sich, glaube ich, wirklich, sich mit dem Thema zu beschäftigen, das uns heute vorliegt. Der Brexit wird kommen. Sie mögen Ihre eigenen Begründungsmuster dafür haben, die schon sehr bemerkenswert sind. Ich will das aber nicht näher kommentieren, sonst verliere ich selbst viel zu viel Zeit, die ich brauche, um über das Gesetz zu reden. Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass der Brexit kommt. Ob mit Austrittsabkommen oder ohne, er wird irgendwann kommen. Und das wird Folgen für die Steuerpflichtigen in Deutschland haben. Denn klar ist: Entweder nach einem Austrittsabkommen oder bereits am 30. März – das sind übrigens nur noch 58 Tage – wird das Vereinigte Königreich, steuerlich betrachtet, Drittland sein. Das hat elementare Folgen; denn unser Steuerrecht ist so aufgebaut, dass bei bestimmten Sachverhalten, die die EU oder den EWR-Raum betreffen, gewisse Vorteile bestehen – jedenfalls gibt es bessere Regelungen als für Drittländer. Und wenn das Vereinigte Königreich nun Drittland wird, wird das gewisse Konsequenzen haben, auf die wir zu reagieren haben – wie es auch im Allgemeinen gewisse Probleme oder Dinge, aufgrund derer wir handeln müssen, geben wird. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die EU-Verträge für das Vereinigte Königreich dann nicht mehr gelten werden. Das heißt, dass die Grundfreiheiten, bis auf die Kapitalverkehrsfreiheit, die auch gegenüber Drittländern gilt, nicht mehr gelten. Wir haben das Thema der Beihilfe, über das wir hier viel diskutiert haben. Wir überlegen immer, ob die Dinge, die wir machen, beihilferelevant sind. Das Beihilfeverbot wird für das Vereinigte Königreich nicht mehr gelten, was uns im steuerlichen Wettbewerb unter Umständen Probleme bereiten kann. Die verschiedensten Richtlinien, die wir im Sekundärrecht haben – ich nenne nur die Mutter-Tochter-Richtlinie, die Zins- und Lizenzrichtlinie, die Mehrwertsteuerrichtlinie, die Amtshilferichtlinie –, werden für das Vereinigte Königreich keine Bedeutung mehr haben – ebenso wenig wie die EuGH-Rechtsprechung, die oft genug dazu geführt hat, dass wir Gesetze geändert haben oder anders auslegen mussten. Das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Bundesrepublik Deutschland, das wir 2010 zuletzt modifiziert haben, wird eine ganz neue Bedeutung haben. Oftmals haben wir gar nicht mehr hineingeschaut, weil es keine Bedeutung hatte, weil die Richtlinien es überlagert haben. Das werden wir uns in einzelnen Punkten ansehen müssen. Das heißt, es stehen viele Herausforderungen an, insbesondere für unsere Steuerpflichtigen. Darum wollen wir ihnen helfen, sodass es keine Nachteile gibt. Viele Unternehmen – ich hoffe, alle Unternehmen – sind mittlerweile bereit, sich darauf einzustellen, dass es vielleicht einen harten Brexit gibt, dass wir die Dinge vielleicht schon am 30. März 2019 vollziehen müssen. Wenn es zu einem Austritt mit einem Austrittsabkommen kommt, haben wir ja das Brexit-Übergangsgesetz, das wir klugerweise hier im Parlament beschlossen haben, sodass wir dann Übergangsregelungen haben. Wenn es aber nicht dazu kommt, müssen wir sofort handeln. Das bedeutet unter anderem, weil die Mehrwertsteuersystemrichtlinie wegfällt, dass das Umsatzsteuerrecht dann ein ganz anderes ist. Die innergemeinschaftliche Lieferung, die wir im Steuerrecht kennen, würde zur Ausfuhrlieferung werden, was völlig andere Beleg- und Buchnachweise für den Mandanten nach sich zieht, was erhebliche Umfänge annehmen würde. Wir kennen dann kein innergemeinschaftliches Verbringen, keinen innergemeinschaftlichen Erwerb mehr. All diese Dinge werden dann von gestern sein. Die Unternehmen müssen sich darauf vorbereiten. Aber in diesem Gesetz geht es nicht um diese Dinge, auf die sich die Unternehmen vorbereiten, sondern es geht um Dinge, die zu Nachteilen führen, obwohl der Steuerpflichtige nichts tut. Wir wollen mit diesem Gesetz verhindern, dass allein der Brexit als sogenanntes schädliches Ereignis in bestimmten Bereichen der Unternehmensbesteuerung und – die Staatssekretärin hat es angesprochen – auch bei der Riester-Förderung für den Steuerpflichtigen zu nachteiligen Folgen führt, also ohne weiteres Zutun. ({0}) – Lieber Lothar Binding, wir schützen die deutschen Steuerpflichtigen. Von daher ist das, glaube ich, ein gutes Gesetz. Es ist sehr klug gemacht. Wir haben schon mit einem Entschließungsantrag von SPD und CDU/CSU zum Brexit-Übergangsgesetz klargestellt, dass wir Bestands- und Vertrauensschutz wollen. Das führen wir hier letztendlich fort. ({1}) Um das deutlich zu machen, nenne ich nur ein Beispiel – es gibt verschiedene Punkte –: Wenn Sie stille Reserven realisiert haben, weil Sie Wirtschaftsgüter aus dem Steuergebiet der Bundesrepublik Deutschland in das Vereinigte Königreich gebracht haben, dann haben Sie die Möglichkeit, diese stillen Reserven nicht sofort zu versteuern, sondern sie über fünf Jahre zu stunden. Ist es gerecht, dass der Brexit dazu führt, dass sie zur Sofortversteuerung kommen? Nein, natürlich nicht. Von daher haben wir dafür Übergangslösungen. Das findet sich auch in anderen Bereichen wieder, sodass das, glaube ich, ein kluges Gesetz ist. Es ist klar – das hat auch Herr Glaser gesagt; das war, glaube ich, fast die einzige richtige Passage in seiner Rede –, dass es noch weitere Dinge gibt, die wir aufnehmen müssen. Das ist richtig. Das gilt für die Erbschaftsteuer; die Punkte haben wir schon angesprochen. Wir haben ein Riesenthema bei den Limiteds mit einer Geschäftsleitung in Deutschland, die auf einmal eigentlich nichts mehr sind. Deshalb muss man sich darum kümmern, was sie denn nun tatsächlich sind. Von daher gibt es noch viel Beratungsbedarf. Aber im Grundsatz ist das ein gutes Gesetz. Wir sind der Meinung: Es darf keinen Nachteil für deutsche Steuerpflichtige geben ohne Zutun. Von daher sage ich: Lassen Sie uns das gemeinsam weiter klug beraten und vielleicht auch gemeinsam beschließen. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Bettina Stark-Watzinger das Wort. ({0})

Bettina Stark-Watzinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004902, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Seit zwei Jahren quält sich Großbritannien aus der EU. In der Zivilgesellschaft entsteht langsam der Eindruck, dass man sich nach dem Austritt großen Problemen wird stellen müssen. Aber die britische Politik hat nach wie vor keine Ahnung, wie sie einen geordneten Austritt erreichen soll. Aber auch die Bundesregierung hat viel zu lange die Augen verschlossen. ({0}) Mein Kollege Alexander Graf Lambsdorff hat es in der Brexit-Debatte hier bereits gesagt: Wir Freie Demokraten haben schon im April 2018, also vor neun Monaten, eine Große Anfrage gestellt mit detaillierten Fragen zu den Planungen für den Brexit. Die Antworten wurden uns avisiert für Mai 2019, zwei Monate nach dem Brexit. Wer keine Antworten auf unsere Fragen hat, hat sich auch nicht auf Deal oder No-Deal vorbereitet. ({1}) Seit zwei Jahren ist der 29. März 2019 als Austrittsdatum bekannt. Und jetzt bringt die Bundesregierung Ende Januar den Entwurf eines Brexit-Steuerbegleitgesetzes ein, der frühestens Ende Februar verabschiedet wird. ({2}) Das Zeitfenster für die Umsetzung durch die Menschen: ein Monat. Das ist alles viel zu spät. ({3}) Mit dem Ausscheiden aus dem Europäischen Wirtschaftsraum wird Großbritannien ein Drittstaat, mit weitreichenden steuer- und finanzmarktrechtlichen Konsequenzen. Das Gesetz soll verhindern – das hat der Kollege Güntzler eben schon gesagt –, dass der Brexit bei den Steuerpflichtigen nachteilige Rechtsfolgen auslöst oder die Finanzmarktstabilität gefährdet. Das begrüßen wir. Der Bedarf für das Gesetz ist unstrittig, ob es alle Sachverhalte erfasst, hingegen nicht. Bereits heute, noch bevor wir die Expertenanhörung hatten, ist deutlich, dass es Verbesserungsbedarf gibt. Das ist ein sehr umfassender Gesetzentwurf. Ich möchte das Schlaglicht auf zwei Punkte werfen: Die Kollegen der Union haben es gestern im Finanzausschuss selbst gesagt: Bei der Erbschaftsteuer muss nachgearbeitet werden, zum Beispiel hinsichtlich der Berücksichtigung von Teilen des Betriebes für in Großbritannien geschaffene Arbeitsplätze. Direkt nach der Ausschusssitzung erreichte mich die Antwort des Bundesfinanzministeriums auf unsere Kleine Anfrage – es ging um eine Frage zu diesem Thema – mit einer genau der gegenteiligen Antwort. ({4}) Unterschiedliche Aussagen bedeuten Unsicherheit für die Unternehmen in unserem Land, wo doch Familienunternehmen dringend Rechtssicherheit benötigen. ({5}) Zweitens. Der Zugang zu den Märkten, auf denen Unternehmen zum Beispiel ihre Rohstoffrisiken absichern oder Stadtwerke ihre Emissionszertifikate kaufen, darf nicht abrupt verschlechtert werden. Bereits heute zeichnet sich ab, dass in der Neuregelung des § 53b KWG, wo geregelt wird, wie die in Großbritannien ansässigen Finanzdienstleister für eine Übergangszeit den EU-Unternehmen noch Geschäfte anbieten können, Sprengstoff liegen kann. Das Bundesfinanzministerium hat gestern im Finanzausschuss die Regelung als umfassend genug eingestuft. Es gibt aber heute bereits Hinweise und kritische Stellungnahmen aus der Wirtschaft, nicht zuletzt auch von der Deutschen Börse. Kritisiert wird, dass sich das Ganze nur auf Geschäfte bezieht, die in einem engen Zusammenhang mit zum Zeitpunkt des Austritts bestehenden Verträgen stehen. Das beschränkt diese KWG-Regelung, und damit geht sie an der Realität vorbei. Das alles hört sich technisch an; aber es hat weitreichende Konsequenzen. Es kann ganz konkret werden, wenn zum Beispiel wegen teurer Absicherungen die Strompreise steigen. Leider hat der Finanzminister hier noch keine Klarheit geschaffen. Es sind viele Punkte offen, zu viele Punkte. Es gibt die Anekdote, dass man im britischen Unterhaus, wenn es zeitlich eng wird, gerne mal die Uhr anhält. Meine Damen und Herren, man kann die Uhr anhalten, aber nicht die Zeit. Deswegen müssen wir handeln. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun Jörg Cezanne das Wort. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kürzungspolitik in der EU hat zu Leid der Arbeitnehmer geführt und eine erhebliche Rolle beim Ja der Briten zum Brexit gespielt, so der Vorsitzende der britischen Labour-Partei, Jeremy Corbyn. Ich sehe das genauso. ({0}) Die wichtigste Schlussfolgerung aus dem Debakel des EU-Austritts des Vereinigten Königreichs muss daher sein, die Europäische Union im Interesse der Mehrheit der Menschen in Europa neu zu gründen. Sie muss zu einer sozialen Schutzmacht für Menschen gemacht werden. ({1}) Die konservative politische Elite Großbritanniens hat sich dieser Frage genau nicht gestellt. Mit dem durchsichtigen taktischen Versprechen, ein Referendum zum EU-Austritt abhalten zu wollen, hatte der damalige konservative Ministerpräsident David Cameron vielmehr die nationalistische Karte gezogen. Ihm ging es um die Mehrheit in der eigenen Partei und darum, eine Wahl zu gewinnen. Das Spiel mit der nationalistischen Karte hat dann gerade jene rechten und zum Teil menschenfeindlichen Kräfte gestärkt, die jetzt ein wesentlicher Grund sind, warum keine vernünftige Lösung gefunden werden kann. Mit der nationalistischen Zuspitzung wurde gezündelt und taktiert. Herausgekommen ist ein politischer Flächenbrand, der eine ganze Nation und einen Kontinent erfasst hat. Das muss uns allen eine Warnung sein. ({2}) Meine Damen und Herren, zum konkreten Gesetzentwurf. Natürlich wirft der Brexit viele steuerpolitische Fragen auf. Soweit das Gesetz auf unvermeidliche Fragen des praktischen Übergangs nach einem Austritt Großbritanniens pragmatische Antworten gibt, erscheint mir der Gesetzentwurf in den meisten Bereichen unterstützenswert. ({3}) – Gell, so sind wir. – Geregelt werden überwiegend Bestandsgarantien für bereits getätigte Geschäfte, salopp gesprochen. Es geht um Sicherheiten für Pfandbriefe, Bestandsschutzregelungen für Bausparer, für die Sicherungsvermögen von betrieblichen Pensionskassen wie auch Pensionsfonds. Was darin nicht geregelt wird – und was auch in dem Austrittsabkommen gar nicht geregelt war –, sind die großen Fragen: Wie kann noch eine Koordination der Steuerpolitik zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich bewerkstelligt werden? ({4}) Wie wird sichergestellt, dass britische Banken die Regeln der europäischen Finanzmarktgesetze vollumfänglich achten? In dem Gesetzentwurf findet sich aber auch eine Antwort auf eine Frage, die der Brexit selber gar nicht stellt. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, wollen für das durchaus hinterfragenswerte Ziel, möglichst viele Banken von London nach Frankfurt zu locken, in äußerst fragwürdiger Weise den Kündigungsschutz für eine kleine Gruppe von Bankmitarbeitern aufheben. Nun sind Fondsmanager mit hohen Einkommen weder die Stammwählerschaft der Linken noch meine engsten Freunde. Mit der windigen Kategorie sogenannter Risikoträger, die letztlich nur über eine Gehaltsgrenze bestimmt wird, ({5}) führen Sie aber eine völlig neue und willkürliche Kategorie von Beschäftigten ein. Das ist ein grundsätzlicher und beängstigender Bruch mit der bisherigen Logik im Beschäftigungsschutz. ({6}) Über die Europäische Sozialcharta ist der Kündigungsschutz ein Grundrecht im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wer die Axt an den Kündigungsschutz legt – auch bei einer nur kleinen Gruppe von privilegierten Besserverdienenden –, rührt an Grundsätzlichem. Das werden wir nicht mitmachen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Danyal Bayaz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Danyal Bayaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider muss Europa, leider müssen wir erkennen, dass britische Populisten, aber auch die Unfähigkeit etablierter Parteien UK und damit eben auch ganz Europa auf einen harten Brexit zusteuern lassen. Ich finde, deswegen darf man an dieser Stelle auch noch einmal betonen, dass es wichtig ist, dass wir Europäer, dass gerade wir Deutsche weiterhin den britischen Bürgerinnen und Bürgern sagen: Unsere Tür steht weiterhin offen. Das haben ja einige Mitglieder dieses Hauses ({0}) vor zwei Wochen, glaube ich, in der „Times“ sehr prominent gesagt; viele Prominente waren dabei, Unternehmen waren dabei. Ich finde, gerade in so turbulenten Zeiten wie diesen ist das ein wichtiges Zeichen. ({1}) Also herzlichen Dank an diejenigen, die mit dabei waren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute können wir unseren Teil dazu beitragen, den Brexit – auch wenn er jetzt sehr wahrscheinlich als harter Brexit kommen mag –, so gut es eben geht, in einem möglichst geregelten Rahmen zu gestalten. Der Brexit war sicherlich nicht unser Wunsch; aber wir sollten es gerade anders machen als das britische Unterhaus und unserer Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger da draußen wirklich nachkommen, gerade auch im Bereich der Steuer- und der Finanzpolitik. Im Fall des Brexits bedeutet das doch, den betroffenen Personen, den betroffenen Unternehmen die Sorgen zu nehmen. Was heißt das konkret? Wir haben ein paar Punkte heute schon gehört. Das heißt zum Beispiel, dass die Riester-Sparer davor geschützt werden, dass Steuerbehörden die in UK angelegten Riester-Forderungen zurückfordern. Oder – Herr Güntzler hat es angesprochen – nehmen wir die Unternehmen mit ihren Niederlassungen, mit ihren Tochtergesellschaften: Die müssen in Ruhe ihr Geschäft und auch die steuerlichen Folgen planbar machen können und neu ordnen können. Auch die Banken brauchen Zeit, um ihre Verflechtungen mit dem Finanzplatz London neu zu ordnen. Wir wissen, wie fragil die Finanzindustrie auch zehn Jahre nach der Lehman-Pleite ist. Deswegen ist es richtig, hier planbare Übergangszeiten zu gewähren. Und – das sei auch noch erwähnt – ich glaube, es ist wichtig, sich mit den anderen Ländern in Europa abzustimmen, dass wir da wirklich eine gesamteuropäische Planbarkeit bekommen; ich glaube, das ist ganz wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ich glaube, wir müssen den Brexit im großen Ganzen betrachten. London hat letztes Jahr seine Stellung als globaler Finanzplatz Nummer eins an New York abgegeben. Frankfurt profitiert davon, auch wenn die Bundesregierung – ich sage es salopp – letztes Jahr ziemlich gepennt hat, als es darum ging, die EBA eventuell nach Frankfurt zu holen. Jetzt ist sie bei den Freundinnen und Freunden in Paris. Das ist auch gut. Es gibt weitere Chancen für den Finanzplatz Deutschland und übrigens auch für Paris, Dublin, Amsterdam. Es muss doch in unserem Interesse sein, dass sich der Finanzsektor, der erfolgreich ist, gesund, nachhaltig, aber auch zukunftsgerecht entwickelt. Deswegen finde ich es sehr befremdlich, dass sich der Bundesfinanzminister aktuell eher damit beschäftigt, einen nationalen Bankenchampion zu etablieren, und sich das BMF offensichtlich im Zweiwochentakt mit dem Aufsichtsrat und dem Vorstand der Deutschen Bank darüber unterhält. Ich weiß nicht, ob das die richtige Frage ist. Es ist doch nicht entscheidend, ob die Deutsche Bank mit der Commerzbank fusioniert – zwei Banken, die durchaus ihre Probleme haben, Herr Hakverdi, und deren Fusion wahrscheinlich mehr Probleme verursacht, als löst. Ich glaube nicht, dass das die Herausforderungen sind, vor denen wir stehen. Unsere Banken stehen längst nicht mehr nur untereinander im Wettbewerb, sie stehen auch im Wettbewerb mit Gigatech-Unternehmen. Apple Pay gibt es seit einigen Wochen jetzt auch in Deutschland. Die wachsen rasant. Klar, es ist auch angenehm, diese Angebote zu nutzen. Aber das stellt die Branche natürlich vor grundsätzliche Fragen; denn unsere Banken werden anders reguliert als die digitalen Player. Ich finde, da müssen wir aufpassen, da muss auch der Finanzminister aufpassen, dass unsere Sparkassen nicht irgendwann die verlängerte Werkbank der Apples und Googles werden. Wie wir den Finanzmarkt wirklich zukunftsgerecht machen wollen, wäre, glaube ich, eine Frage, mit der sich der Bundesfinanzminister viel stärker auseinandersetzen sollte, meine Damen und Herren. ({3}) Zum Schluss vielleicht noch etwas Grundsätzliches. Herr Glaser, jetzt haben Sie viel über Geschichte gesprochen. Mir wäre es auch wichtig, dass wir den Blick nach vorne werfen und über die Zukunft sprechen. Ich finde, die Diskussion über den Brexit zeigt, dass alle die, die für die Remain-Kampagne waren, am Ende eigentlich in allen Punkten sozusagen auf der wahrhaftigen Seite waren und alle die, die die Brexit-Kampagne befeuert haben, entweder mit Halbwahrheiten oder sogar mit Lügen uns gefüttert haben. Das zeigt: Es ist nicht nur populistisch, sondern es ist wirklich ein Risiko für den Wirtschaftsstandort Deutschland, wenn man jetzt von einem Dexit redet. Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Wir wollen Teil der Europäischen Union bleiben – nicht nur, weil sie eine Friedens- und Wertegemeinschaft ist, sondern weil sie uns auch wirtschaftlich nach vorne bringt. Ich glaube, es ist ganz wichtig, gerade vor der Europawahl, das noch einmal zu sagen, damit Populisten mit einfachen Antworten – wie „Let’s leave Europe“ oder Dexit – auf sehr komplexe Fragen keine Zukunft haben. Deutschlands Zukunft ist in Europa, nicht nur aus Friedens- und aus Wertesicht, sondern gerade auch aus wirtschaftlicher Sicht; dessen sollten wir alle uns noch einmal vergewissern. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Hakverdi das Wort. ({0})

Metin Hakverdi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004289, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 29. März rückt näher, damit auch der Zeitpunkt eines möglichen Brexits. Die vielen Debatten im britischen Unterhaus haben keine Klarheit gebracht. Auch die Debatte in dieser Woche hat in Wahrheit die Unsicherheit nur erhöht und nicht kleiner gemacht. Der Antrag eines Tory-Abgeordneten, das sogenannte Brady-Amendment, hat eine Mehrheit gefunden. Nun möchte die britische Regierung den Backstop für das irische Grenzregime neu verhandeln. Wer sich mit den Details des Kompromisses befasst hat, weiß, dass die gefundene Lösung ein Drahtseilakt war und ist. Die EU hat Zugeständnisse gemacht im Hinblick auf die Integrität des Binnenmarktes. Das Vereinigte Königreich musste Zugeständnisse machen, die seine eigene Souveränität betreffen. Diese Verrenkungen von beiden Seiten waren notwendig; denn wir wollen nach wie vor die Vereinbarungen des Karfreitagsabkommens nicht beschädigen. ({0}) Schließlich bildet das Karfreitagsabkommen die Grundlage für den Frieden auf der irischen Insel insgesamt. Um ehrlich zu sein: Mir fehlt jede Fantasie, wie es gelingen soll, hier zu einem anderen Ergebnis zu kommen; denn jedes Ergebnis müsste von einer Mehrheit in Westminster getragen werden, und das sehe ich nach den letzten Wochen und Monaten – ich glaube, wie viele in diesem Haus – überhaupt nicht. Da ist die Reaktion der EU richtig, dass man das Fass nicht wieder neu aufmachen will. In dieser Zeit der Ungewissheit habe ich Anfang der Woche das Airbus-Werk in Broughton besucht. Ich habe dort mit dem Management, genauso mit dem Betriebsrat gesprochen. In diesem Werk in Wales werden die Flügel des A320 und des A350 gebaut, die dann nach Hamburg geflogen werden, um dort endmontiert zu werden. Airbus ist ein Sinnbild der Erfolgsgeschichte europäischer Integration. Heute ist das Unternehmen mit seinem amerikanischen Konkurrenten auf Augenhöhe. Die Auftragsbücher für den A320 sind für die nächsten Jahre voll. Statt jetzt noch einen draufzulegen, statt jetzt anzugreifen, auf dem Weltmarkt noch erfolgreicher zu sein, muss man sich jetzt in Hamburg und Toulouse um den Brexit kümmern. Das ist bitter – für uns alle. Die Situation von Airbus ist auch Sinnbild für unser Dilemma in der aktuellen geopolitischen Situation. Während sich die globalen Mächte neu aufstellen, bindet der Brexit-Prozess unsere Aufmerksamkeit in Europa. Auch deshalb ist es wichtig, dass wir bald zu einer Entscheidung kommen. Aus Broughton habe ich aber auch andere Stimmungen mitgebracht. Die Luftfahrindustrie in Wales ist einer der größten Arbeitgeber der Region und zahlt sehr gute Löhne. Trotzdem hat eine Mehrheit – und das ist interessant – der Bevölkerung von Broughton dafür gestimmt, die Europäische Union zu verlassen. Kolleginnen und Kollegen, um die Menschen für die europäische Idee zu gewinnen, reicht es eben nicht, nur eine Wettbewerbsgemeinschaft zu sein. ({1}) Oder wie Jacques Delors es einmal gesagt hat: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.“ Wir müssen mehr tun. Erstens müssen wir dafür sorgen, dass dieser Wohlstand, den uns die EU verschafft hat – und nur die EU verschaffen kann – allen Menschen in unserem Land und in der Europäischen Union insgesamt zugutekommt. Das heißt: Europa muss auch sozialer werden. Wir brauchen einen europäischen Mindestlohn, und wir müssen dafür sorgen, dass in den Mitgliedstaaten der EU eine Mindestsicherung für alle Menschen bereitgestellt wird. ({2}) Beide Projekte müssen wir klar europäisch definieren und politisch durchsetzen. Ich möchte ein Plakat lesen, auf dem steht: Wir haben den Mindestlohn in Europa durchgesetzt. Schönen Gruß, Ihre EU. ({3}) Zweitens – genauso wichtig – müssen wir aufhören – das geht jetzt in die Richtung der AfD – pauschal schlecht über Europa zu reden ({4}) nach dem Motto „Alles Gute kommt aus dem nationalen Parlament, alles Schlechte aus Brüssel“. Damit kann man vielleicht eine nationale Wahl gewinnen, gut für die Menschen ist das nicht. Kolleginnen und Kollegen, wir wissen nicht, was in den kommenden Wochen noch in Westminster passiert oder nicht passiert. Deshalb müssen wir uns auf einen harten Brexit vorbereiten. Da ist es gut, dass wir jetzt verschiedene Gesetzespakete auf den Weg gebracht haben. Mit dem Brexit-Steuerbegleitgesetz wollen wir insbesondere die Sachverhalte regeln, bei denen Menschen darauf vertraut haben, dass das Vereinigte Königreich ein Mitglied der Europäischen Union bleibt. Für mich ist das wichtigste Prinzip, dass wir bei allen Notfallgesetzen, die wir in den nächsten Wochen beschließen, diesen Vertrauensschutz gewährleisten. Den weiteren Anpassungsbedarf können wir dann im Ausschuss nach der öffentlichen Anhörung besprechen. Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Matthias Hauer das Wort. ({0})

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Juni 2016 haben die Wählerinnen und Wähler im Vereinigten Königreich für einen Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Das Ergebnis des Referendums war äußerst knapp. Es war sicherlich auch eine Momentaufnahme. Dennoch gilt es, diese Entscheidung zu respektieren. Ich sage sehr deutlich: Ich bedaure diese Entscheidung. Die Menschen in Schottland, in Nordirland, in England, in Wales, sie gehören genauso zu Europa wie die Menschen in Berlin, in Paris, in Rom oder in meiner Heimatstadt Essen. ({0}) Die europäische Idee ist eine Idee von Frieden, Freiheit und Wohlstand. Sie wird dem Brexit standhalten, und sie wird auch den massiven Attacken von linken und rechten Populisten standhalten. Aber wir müssen in Europa stärker zusammenrücken. Wir müssen uns zusammenraufen und das betonen, was uns eint. Das sage ich als Deutscher und auch als überzeugter Europäer. Vor knapp zwei Jahren hat die britische Regierung den Trennungsprozess offiziell eingeleitet. Seitdem wurde mit Premierministerin May ein Abkommen ausgehandelt, um das Auseinandergehen möglichst geordnet zu regeln. Das Abkommen fand bekanntlich keine Mehrheit. Nun droht zum 29. März der ungeordnete Austritt Großbritanniens aus EU und Europäischem Wirtschaftsraum. Auf beide Szenarien, ob mit Abkommen oder ohne Abkommen, müssen wir vorbereitet sein. Es gilt, die negativen Folgen, die so oder so mit dem Brexit einhergehen, zu minimieren – für die Bürger in Deutschland, aber auch für die Bürger in Großbritannien und in der Europäischen Union insgesamt. Dazu dient auch dieses Maßnahmenpaket, das wir heute beraten, unter anderem mit dem Brexit-Steuerbegleitgesetz. Wenn das Vereinigte Königreich aus EU und EWR ausscheidet, ist es steuer- und finanzmarktrechtlich als Drittstaat zu behandeln. Die unionsrechtlichen Regelungen finden dann im Verhältnis zum Vereinigten Königreich keine Anwendung mehr. Die daraus resultierende Rechtsunsicherheit wollen wir reduzieren. Mein Kollege Fritz Güntzler hat gerade die steuerrechtlichen Themen dargelegt. Ich will mich daher auf den Finanzmarktbereich konzentrieren. Mit Übergangsregelungen für Banken, Versicherungen und andere Finanzunternehmen verhindern wir, dass grenzüberschreitende Verträge nach dem Brexit unverzüglich massenweise abgewickelt oder übertragen werden müssen. Wir schützen die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte durch Bestandsschutzregelungen im Pfandbriefgesetz und im Bausparkassengesetz, aber auch dadurch, dass die BaFin Unternehmen mit Sitz im Vereinigten Königreich in Teilbereichen künftig übergangsweise den Marktzutritt gestatten kann, also die entsprechende Nutzung der Regelungen zum sogenannten Europäischen Pass. Die Stabilität des Finanzmarktes in Deutschland stärken wir auch durch eine Änderung des Kreditwesengesetzes. Ein kleiner Personenkreis wird beim Kündigungsschutz künftig leitenden Angestellten gleichgestellt. Davon ist nur betroffen, wer als Risikoträger bei einem bedeutenden Finanzinstitut arbeitet und ein Jahreseinkommen von weit über 200 000 Euro erhält. Den Instituten wird also ermöglicht, sich leichter von den Beschäftigten zu trennen, die Einfluss auf das Risikoprofil der gesamten Bank haben. Für alle anderen Beschäftigten bleibt der Kündigungsschutz – das ist uns besonders wichtig – unverändert bestehen. Der Finanzplatz Deutschland wird dadurch für Finanzinstitute attraktiver, gerade für Institute, die im Zuge des Brexit vor der Entscheidung stehen, ihre Geschäfte innerhalb der EU aus Deutschland heraus fortzuführen. Wir werden in den anstehenden Beratungen den Gesetzentwurf kritisch beleuchten. Es wird auch Ergänzungen geben. Am Ende muss eine Lösung stehen, die den Finanzplatz Deutschland stärkt und für die Beteiligten möglichst Rechtssicherheit schafft. Dafür setzt sich die CDU/CSU-Fraktion ein. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren die Auswirkungen des Brexits. Ich konzen­triere mich auf die Auswirkungen auf die Finanzmärkte, die den Bereich des Finanzausschusses tangieren. Im Juni 2016 – der Kollege Hauer hat es gesagt – war bereits das Referendum. Es hat dann gedauert, bis die entsprechenden Anträge gestellt wurden. Es sind seitdem über zweieinhalb Jahre vergangen. Frau Stark-Watzinger, Sie haben die Bundesregierung wegen ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage des Kollegen Graf Lambsdorff gerügt. Ich schätze Sie beide sehr. Allerdings kann ich in diesem Fall die Rüge nicht verstehen; denn es war richtig, meine Damen und Herren, dass man in dieser Situation des Ausscherens Großbritanniens nicht den Versuchungen nachgibt, bereits nach eineinhalb Jahren singulär vorzugehen, und jeder Mitgliedstaat dann den einen oder anderen Weg finden muss. Es war richtig, dass die Kommission für alle Mitgliedstaaten verhandelt. Nur so konnten wir unsere Position auch entsprechend einbringen und durchsetzen. ({0}) Das Chaos ist nicht auf europäischer oder deutscher Seite entstanden, sondern auf britischer Seite – darin ist sich ja die überwiegende Mehrheit hier im Haus einig –, und zwar durch Versprechungen, die gegeben wurden und letztendlich nicht gehalten wurden. Meine Damen und Herren, das Chaos, das sich heute in Großbritannien zeigt, darf sich nicht auf den europäischen Finanzmarkt übertragen. Darum hat die EU dort gehandelt, wo sie Zuständigkeiten hat, zum Beispiel beim Clearing. Beim Clearing soll es entsprechende Übergangslösungen geben. Die Äquivalenz soll so lange hergestellt werden, bis Maßnahmen getroffen sind. Wir müssen uns nämlich vor Augen führen: Der größte Finanzplatz verlässt die Europäische Union, der Europäische Pass geht verloren. – Die Kritik, zu lange gewartet zu haben, möchte ich heute an die Marktteilnehmer richten. Das, was jetzt eingetreten ist, kam nicht überraschend. Es musste so nicht kommen. Aber ich finde es schon bemerkenswert, dass viele hochbezahlte Manager in den verschiedensten Industrien sich zurücklehnen und warten, was kommt. Sie sagen: Jetzt müsst ihr es regeln. – Das war ja auch ein Stück weit die Taktik der Briten nach dem Motto „Wir müssen nur genügend Druck aufbauen, dann werden die entsprechenden Nationalstaaten Zugeständnisse machen“. ({1}) Meine Damen und Herren, neben den wirtschaftlichen Themen, die wichtig sind, stehen der Fortbestand und die Einheit der Europäischen Union auf dem Spiel. Darum war es richtig, wie wir bisher vorgegangen sind. ({2}) Dort, wo wir national gehandelt haben oder die Möglichkeiten dazu haben, tun wir das jetzt. Der Kollege Hauer hat auf die Vertragskontinuität hingewiesen. Dort gibt es entsprechende Übergangsfristen. Wir müssen insbesondere auf die Altverträge schauen. Bei den Pfandbriefen müssen wir uns in der Anhörung mit der Frage beschäftigen, ob wir, was die Drittlandproblematik angeht, auch zukünftig bestimmte Möglichkeiten eröffnen. Das werden wir im konkreten Gesetzgebungsverfahren noch nachholen können. Ich halte auch die Frist bis 2020 für richtig, gerade mit Blick auf das, was ich über die Marktteilnehmer gesagt habe, die sich sonst zurücklehnen. Wenn bestimmte Eventualitäten eintreten, die wir nicht absehen konnten, müssen wir natürlich auch darüber nachdenken, wie die nationalen Aufsichtsbehörden und die Europäische Zentralbank reagieren können. Lassen Sie mich aber noch ein paar Worte zum zweiten Redebeitrag sagen. Herr Glaser, genauso wie der Fraktionsvorsitzende der AfD geben Sie ja gerne die Geschichtsonkel und erklären uns hier immer die Daten. Wir haben bereits im Geschichtsunterricht gelernt: Es geht nicht nur darum, Daten auswendig zu lernen, sondern auch darum, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Ausgerechnet am heutigen Tag, wo wir eine Gedenkstunde zu den Opfern des Nationalsozialismus hatten, der Nationalstaatlichkeit in Europa nach wie vor das Wort zu reden und sie zum Ziel zu haben, zeigt eindeutig: Sie haben aus der Geschichte nichts gelernt. Daher werden wir diese Politik mit allen Maßnahmen bekämpfen. Besten Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/7377 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor gut zwei Stunden haben Sie hier über die Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union diskutiert; ich habe mir das in meinem Büro angehört. Aber was Sie von der FDP und der CDU/CSU hier bei uns in Deutschland, in der bevölkerungsreichsten Demokratie der EU, in den letzten Wochen und Monaten an rechtsstaatlichem Verständnis vorleben, verhöhnt leider Ihre eigenen Beiträge, die Sie vor zwei Stunden hier gehalten haben. ({0}) In einem Rechtsstaat hängt die Förderung von Nichtregierungsorganisationen nicht von der Willkür regierender Parteien ab, wie es in Polen allerdings seit Ende 2017 der Fall ist, sondern von der Anwendung allgemeiner Gesetze durch die Verwaltung. In einer liberalen Demokratie werden auch keine Parteikampagnen gegen einzelne Nichtregierungsorganisationen gefahren mit dem Ziel, den Widerspruch der Zivilgesellschaft mundtot zu machen, wie wir es im letzten Jahr in Ungarn erlebt haben. ({1}) Was aber ist in den letzten Monaten in Deutschland passiert? Die FDP-Fraktion bringt einen Antrag in den Bundestag ein, in dem sie eine gezielte Einflussnahme der Bundesregierung auf die Finanzverwaltung fordert mit dem Ziel, einer konkreten Tierschutzorganisation die Gemeinnützigkeit zu entziehen. FDP und Union führen seit Monaten eine beispiellose Kampagne gegen die Deutsche Umwelthilfe. Der zentrale Vorwurf lautet – in einem Rechtsstaat geradezu bizarr –, dass die Deutsche Umwelthilfe das geltende Recht vor Gericht erfolgreich durchsetzt und damit das tut, was eigentlich Aufgabe des Verkehrsministeriums wäre. ({2}) Der CDU-Parteitag verlangt die Überprüfung der Gemeinnützigkeit der Deutschen Umwelthilfe durch Finanzämter und ihren Ausschluss von Bundesmitteln, ohne Begründung. ({3}) Die neue Parteivorsitzende Annegret Kramp-­Karrenbauer setzt sich gar an die Spitze dieser Kampagne. ({4}) Zu verführerisch ist es, so vom eigentlichen Problem abzulenken, nämlich vom vollständigen Scheitern Ihrer Verkehrspolitik in der Bundesregierung. ({5}) Sie loben den Rechtsstaat vor zwei Stunden, und gleichzeitig missachten Sie ein fundamentales Prinzip des Rechtsstaats: das Prinzip der Gewaltenteilung. Fraktionen hier im Hause wirken an der Gesetzgebung mit, an abstrakt-generellen, willkürfeindlichen Regelungen. Mehr Rechtssicherheit für gemeinnützige Organisationen durch eine Modernisierung der Abgabenordnung, das wäre wichtig für die Stärkung der Zivilgesellschaft. Das wäre unsere Aufgabe hier im Parlament. Dazu kommt aber von Ihnen nichts. ({6}) Es ist aber keine Aufgabe von Parteien und Fraktionen, in die Anwendung von Recht und Gesetz durch Finanzämter oder Gerichte hineinzupfuschen. Genau das nehmen Sie sich seit Monaten heraus. Fast 70 000 Bürgerinnen und Bürger haben die Gefährlichkeit dieses Verhaltens erkannt. So viele haben nämlich mittlerweile eine Onlinepetition gegen diesen Angriff auf die Zivilgesellschaft unterzeichnet. Diese vielen Menschen haben begriffen, wofür Sie blind sind: wie sehr diese Kampagne der Glaubwürdigkeit Deutschlands bei der Verteidigung von Recht und Demokratie in Europa und der Welt schadet, ({7}) wie sehr Sie die Arbeit deutscher Nichtregierungsorganisationen im Ausland für Demokratie, Menschenrechte oder Naturschutz erschweren. Fragen Sie einmal die Friedrich-Naumann-Stiftung, die Hanns-Seidel-Stiftung oder andere deutsche Stiftungen im Ausland, was es für sie bedeutet, wenn deutsche Parteien ihnen so in den Rücken fallen. ({8}) Wir fordern Sie auf: Stoppen Sie diese Irrfahrt! Sie schaden Europa. Sie schaden Deutschland, und Sie disqualifizieren sich selbst. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Christian Freiherr von Stetten das Wort. ({0})

Christian Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich gestern erfahren habe, dass die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen heute kurzfristig über einen Antrag auf Förderung des Ehrenamts im Deutschen Bundestag debattieren möchte, habe ich mich, ehrlich gesagt, sehr gefreut; denn wir, Regierung und Opposition, können in der Tat gemeinsam viel für die Millionen ehrenamtlich tätigen Bürgerinnen und Bürger erreichen. Wir könnten zum Beispiel die Haftungsrisiken für ehrenamtlich engagierte Vorstandsmitglieder weiter beschränken. Wir könnten bürokratische Vorschriften für Sportvereine bei den Aufzeichnungspflichten im Zusammenhang mit dem Mindestlohn beschränken. ({0}) Wir könnten die Übungsleiterpauschalen erhöhen. Wir könnten die Ehrenamtspauschalen erhöhen. Wir könnten für die Mitarbeiter der Feuerwehren, der Hilfsorganisationen und des THW viel tun. Wir könnten generell die Bedeutung des Ehrenamts in Deutschland stärken und für mehr Respekt vor der Tätigkeit der ehrenamtlich Tätigen sorgen. Ich habe mich also auf die heutige Debatte gefreut. Aber nachdem ich Ihnen zugehört habe, liebe Frau Kollegin Dr. Rottmann, und den Antrag Ihrer Fraktion gelesen habe, muss ich sagen: Für die Millionen ehrenamtlich tätigen Bürgerinnen und Bürger in Deutschland haben Sie gar kein Verständnis. Für diese ist die heutige Debatte gar nicht gemacht. ({1}) Was Sie hier betreiben, ist reine Klientelpolitik für Organisationen wie die Deutsche Umwelthilfe, wie Sie selber gesagt haben. Wir haben Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag, die der Auffassung sind, dass die Deutsche Umwelthilfe ein reiner Abmahnverein ist. ({2}) Die Umwelthilfe hat bundesweit gerade einmal 350 Mitglieder, verfügt aber über fast 100 gut bezahlte Mitarbeiter und nimmt allein durch Abmahnungen über 2 Millionen Euro im Jahr ein. ({3}) Ich habe das Gefühl, dass die Deutsche Umwelthilfe nicht zu den Vereinen gehört, die wir in Zukunft weiterhin stärken sollten und die entsprechende Privilegien genießen sollten. Solche Vereine müssen in Zukunft sehr genau erklären – das ist sicherlich richtig und auch eine Forderung der FDP –, worin die Gemeinnützigkeit oder sogar die Mildtätigkeit ihres Tuns besteht, wenn sie sich zu einem so großen Anteil über Abmahngebühren finanzieren. ({4}) Wenn ich Ihre Rede richtig verstanden habe, wollen Sie demokratisch gewählten Parteien und Fraktionen auch noch verbieten, solche Pseudovereine zu kontrollieren und zu kritisieren. ({5}) Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass dem Tun solcher Vereine ein Riegel vorgeschoben wird. Wir denken darüber nach, ob wir die Abmahngebühren in Zukunft weiterhin den Abmahnvereinen zur Verfügung stellen oder ob wir diese Gebühren in die Staatskasse einzahlen lassen. Dann ist es mit der bisherigen Klageflut vorbei. ({6}) Wir sollten in Zukunft stärker unterscheiden – darin sollten wir uns einig sein – zwischen gemeinnützigen und mildtätigen Vereinen auf der einen Seite und solchen auf der anderen Seite, die die Gemeinnützigkeit als Deckmantel für ihre Interessen nutzen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr von Stetten, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Rottmann?

Christian Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Wenn Sie etwas gegen Abmahnungen unternehmen wollen – das kündigt Ihre Regierung seit Monaten an –: Warum gibt es dazu noch immer keinen Gesetzentwurf? ({0}) Warum wollen Sie stattdessen den Finanzämtern ins Geschäft pfuschen? Von uns gibt es dazu einen Antrag mit vielen Anregungen. Diesen gebe ich Ihnen gerne mit. ({1})

Christian Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben ja im Zusammenhang mit der europäischen Datenschutzrichtlinie erfahren, was da auf uns zukommen kann und was für ein Geschäftsmodell da läuft. Deswegen freue ich mich, dass in unseren Fraktionen darüber nicht nur debattiert wird, sondern auch Handlungslösungen gesucht werden. Was Sie jetzt allerdings vorschlagen, ist, dass wir dafür eine neue Behörde gründen sollen, obwohl ich glaube: Unseren Finanzämtern kann man bei diesen Themen keinen Vorwurf machen. Ich denke, wir haben gute Beamte, die gut unterscheiden können, was mildtätig und was gemeinnützig ist, die auch ehrenamtlich engagierte Vorstände in diesen Punkten unterstützen. ({0}) Wenn Sie jetzt eine neue Behörde ins Leben rufen wollen, dann glaube ich: ({1}) Es ist besser, das Geld, das da ausgegeben werden soll, den Vereinen, die ehrenamtlich arbeiten, zur Verfügung zu stellen. Aber wir freuen uns auf die Debatte mit Ihnen. Wenn Sie plötzlich mit dabei sind, in Zukunft Abmahnvereine und Abmahnkanzleien in die Schranken zu weisen, dann können wir hier einen einstimmigen Beschluss im Deutschen Bundestag fassen. ({2}) Wir werden Ihren Antrag zur weiteren Diskussion in die Bundestagsausschüsse überweisen. Ich sage Ihnen: Ich lade Sie bei dieser Diskussion ein, das Thema mit uns gemeinsam etwas größer zu diskutieren und dann den ehrenamtlich engagierten Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich weitere Verbesserungen zukommen zu lassen. Wir müssen die Vereine und die Hilfsorganisationen stärker unterstützen. Ich bin mir sicher, dass wir das Ehrenamtsstärkungsgesetz aus dem Jahr 2013 jetzt fortschreiben sollten, nachdem einige Jahre ins Land gegangen sind. Ich bin sehr dafür, dass wir die Übungsleiterpauschale von jetzt 2 400 Euro in dieser Legislaturperiode erhöhen sollten. ({3}) Die Übungsleiter sind längst mehr als Vorturner in Sportvereinen. Die Übungsleiter sind mittlerweile in der Regel der erste Ansprechpartner von Jugendlichen, wenn sie Probleme in der Familie und in der Schule haben. Ich bin auch der Meinung: Wir sollten in Zukunft die Ehrenamtspauschale von jetzt 720 Euro für Vorstandsmitglieder, Schiedsrichter und alle anderen, die sich besonders engagieren, anheben. ({4}) Wenn Sie in Zukunft die Erhöhung der Zweckbetriebsgrenze von 45 000 Euro unterstützen, bin ich auch dabei. ({5}) Vor allem sollte uns allen ein Anliegen sein – Lothar, dafür sollten wir in der Finanzarbeitsgruppe und vor allem auch die Kollegen im Rechtsausschuss besonders viel Zeit verwenden –, bei den Haftungsrisiken unser ehrenamtlich engagierten Vorstandsmitglieder aufpassen. ({6}) Wir haben so viele Bürgerinnen und Bürger, die sich im Vorstand engagieren wollen, die aber Angst vor den Haftungsrisiken haben, die der Vorstand trägt. Wer möchte schon in einem Ehrenamt mit einem Fuß im Gefängnis stehen? ({7}) Helfen Sie mit, dass wir diesen normalen Bürgern einen besseren Start in das Ehrenamt geben, und hören Sie mit der Klientelpolitik für Abmahnvereine auf! Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Kay Gottschalk für die AfD-Fraktion. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Mitbürger! Das war schon sehr heuchlerisch, Frau Rottmann; ich darf Ihr Demokratieverständnis heute in dieser Rede einmal zerlegen, der Kollege hat es eben schon angedeutet. Ihr Demokratieverständnis könnte man darauf reduzieren: Es geht darum, eine Klientelpolitik mit Abmahnfähigkeit zu fördern. Kurzum: Ihr Antrag „Gemeinnützigkeit braucht Rechtssicherheit statt politischer Willkür“ heißt doch eigentlich, dass es nur darum geht, Ihre grünen Gesinnungstäter und grünen Gesinnungshelfer der Deutschen Umwelthilfe zu schützen und ihnen zur Seite zu springen. ({0}) Im Wesentlichen geht es tatsächlich um § 52 der Abgabenordnung zum Thema „Gemeinnützige Zwecke“. Hier wird genau definiert, wann ein Verein Gemeinnützigkeit erwirbt. Seien wir ehrlich: Natürlich ist es für einen Verein sehr wichtig, diese Gemeinnützigkeit zu haben; denn dann erhält er Spenden, dann erhält er Förderung. Und: Die Spenden können dann natürlich auch steuerlich abgesetzt werden. Ich zitiere aus § 52 AO mit der Erlaubnis der Präsidentin: Eine Körperschaft verfolgt gemeinnützige Zwecke, wenn ihre Tätigkeit darauf gerichtet ist, die Allgemeinheit ... selbstlos zu fördern. „Selbstlos zu fördern“, meine Damen und Herren. Ein selbstloser Abmahnverein ist die DUH. Das werde ich Ihnen jetzt mal darstellen. Schauen wir uns die Selbstlosigkeit der DUH an. Sie hat einen Jahresetat von 8,3 Millionen Euro. Der Kollege hat es schon gesagt: Rund ein Viertel davon, 2,3 Millionen Euro, erwirbt sie durch Abmahnerei. Ein Großteil des übrigen Geldes besteht aus Steuergeldern von den einzelnen Ministerien des Bundes und der Länder. Das heißt, im Konkreten finanzieren wir einen Abmahnverein zulasten der Allgemeinheit. ({1}) Mehr noch: Selbst „Spiegel Online“, ein eher Ihnen nahestehendes Nachrichtenmagazin, schrieb: Die DUH hat ein regelrechtes Geschäftsmodell etabliert, in dem jede noch so unbedeutende Verfehlung abgemahnt wird, meine Damen und Herren. – Diese Gelder, die aus diesen Verfahren erworben werden, werden dann genutzt, um unsere Städte und Gemeinden mit den unnützesten Verfahren – das bedeutet auch Behinderungen für Menschen im Rechtsleben – zu überziehen. Stuttgart steht dafür Pate, Hamburg steht dafür Pate. Vielleicht will der Verein ja irgendwann noch die Wunderkerzen und die Adventskerzen in den einzelnen Haushalten hier in Deutschland verbieten. Meine Damen und Herren, es ist ein steuerfinanzierter Feldzug, den die DUH gegen unsere deutsche Autoindustrie führt. Sie unterstützen das auch noch, meine Damen und Herren von den Grünen. Das ist heuchlerisch, weil es in § 52 AO weiter heißt: Eine Förderung der Allgemeinheit ist nicht gegeben, wenn der Kreis der Personen, dem die Förderung zugutekommt, fest abgeschlossen ist ... Nun, ich will es genau sagen: Die Deutsche Umwelthilfe hat 347 Mitglieder – 347! ({2}) 82 Millionen Menschen leben in Deutschland. Sie haben hier eben seelenruhig vorgeführt, was Sie unter Demokratie oder einem Closed Shop verstehen. Bei diesem Etat heißt das 24 000 Euro pro Kopf. Das ist mehr, als mancher Rentner in diesem Land nach einem langen Arbeitsleben erhält. Das ist Ihre Realität von Gesellschaft. Aber das sind auch nicht mehr, als noch SPD wählen. Aber Spaß beiseite! Für mich ist das schon ein abgeschlossener Kern. Es gibt nicht einmal einen Mitgliedsantrag auf der Homepage der DUH; ich habe es mir angesehen. Ich zitiere nochmals mit der Erlaubnis der Präsidentin aus der „Süddeutschen Zeitung“ – das, was Herr Resch dieser Zeitung gesagt hat, passt schon sehr ins Bild –: Wer die Deutsche Umwelthilfe als Mitglied unterstützen will, … brauche … „so eine Art Bürgen“ dafür, dass er es ernst meint mit dem Umweltschutz. Oder er wird zum Gespräch eingeladen. „Die DUH könnte ansonsten leicht unterlaufen und lahmgelegt werden“, fürchtet Resch. Er will sich von niemandem bremsen lassen. Das ist ein fundamentales Desinteresse an Demokratie. Mancher Logenverein und manche Freimaurerloge ist da demokratischer. Sie sind an dieser Stelle rückwärtsgewandt, und Ihre Liberalität bei Demokratie ist schlichtweg geheuchelt. ({3}) Aber noch einmal zurück zum Antrag. Hier zeigen die Grünen ihre typische Paranoia. Bei im Ausland tätigen NGOs werden Sie hysterisch. Wählen Sie doch vielleicht erst mal unsere Bundestagsvizepräsidentin, bevor Sie über Demokratie reden. In Wahrheit wird hier nur heiße Luft verbreitet. Es geht Ihnen nämlich in Wirklichkeit darum – das ist der Kern der ganzen Geschichte, auf die ich jetzt eingehen werde –, dass Sie das Verbandsklagerecht schützen wollen, das Verbandsklagerecht, meine Damen und Herren, mit dem Sie wahrscheinlich Deutschland deindustrialisieren wollen, mit dem Sie eine Rückabwicklung der deutschen Infrastruktur sehr erfolgreich vorantreiben. Kurzum: Zurück in die Steinzeit. Darum geht es. Die Kollegen von der CSU – ich glaube, Herr Ramsauer wird sich erinnern – wollten ja schon einmal dieses Verbandsklagerecht einbremsen oder, wenn man so will, abschaffen. Das ist der Kern der Geschichte. Mit diesem Verbandsklagerecht legen Sie Bremen, legen Sie die Rheinbrücken und jedes andere Projekt lahm. Damit legen Sie auch Stuttgart 21 und die Elbvertiefung lahm. Darum geht es. Das wird es mit der AfD nicht geben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Gottschalk, kommen Sie bitte zum Schluss.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, ich komme zum Ende. – Das wird es mit der AfD nicht geben. Insoweit sind wir vollkommen bei Ihnen. Auf geht’s! Bremsen wir die Deutsche Umwelthilfe ein! Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Michael Schrodi das Wort. ({0})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im vorliegenden Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, sich einer willkürlichen Behandlung gemeinnütziger Organisationen zu widersetzen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Im Koalitionsvertrag beispielsweise halten wir fest, dass wir die Kultur des zivilgesellschaftlichen Engagements und des Ehrenamts fördern und stärken wollen. Wir werden vielmehr – auch das haben wir im Koalitionsvertrag festgehalten – das Gemeinnützigkeitsrecht modernisieren und es erweitern. Beispielsweise haben wir letztens über das Thema „Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Freifunk“ gesprochen und werden das an weiteren Stellen noch tun. Wir werden also in unserem Regierungshandeln – das tun wir auch schon – dem nachkommen, was die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hier gefordert hat. Wir lehnen den Antrag deshalb ab. ({0}) Aber natürlich kann und will die Bundesregierung nicht darüber entscheiden, welche Organisation gemeinnützig ist. Das kann, darf und soll auch keine Partei tun. Das ist eine Entscheidung der Finanzämter. Der Antrag der Grünen hat natürlich eine andere Ursache, die zum Beispiel darin liegt, dass die FDP in ihr Programm zur Europawahl hineinschreiben lässt – Sie haben es heute auch noch mal so schön wiederholt –, Sie wollten die Meinungs- und Pressefreiheit schützen. Zudem nennen Sie die abschreckenden Beispiele aus Polen und Ungarn. Im politischen Alltag hier im Bundestag stellten Sie dann einen Antrag zur Diskussion am 14. Juni letzten Jahres, mit dem Sie versuchen, die Organisation PETA mit der Drohung des Entzugs der Gemeinnützigkeit einzuschüchtern, und das, weil sie sich einmischt – zum Teil auch kritikwürdig einmischt – und politisch nach außen versucht zu wirken, wie übrigens viele andere Organisationen auch. Attac steht unter Druck, BUND steht unter Druck, beide ebenfalls, weil sie sich politisch einmischen. Das darf nicht sein. Was Sie in Europa kritisieren, dürfen Sie hier im Deutschen Bundestag nicht anders machen. Das tun Sie aber, und deswegen ist das an der Stelle heuchlerisch, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({1}) Ich frage mich wie damals auch: Was ist eigentlich aus der alten Bürgerrechtspartei FDP geworden? Ich sage Ihnen eines: Wenn einmal Herr Kubicki etwas Richtiges sagt, dann hören Sie auf ihn! Er sagte: In einer pluralen Gesellschaft müssen aber auch Meinungen zugelassen werden, die nur schwer tolerierbar sind. Ja, halten Sie sich daran! Auch Ihre sind oft nicht leicht hinnehmbar und tolerierbar. ({2}) Sehr geehrte Damen und Herren Koalitionskollegen aus der CDU/CSU-Fraktion, natürlich müssen wir auch über den Beschluss des Bundesparteitags der CDU im Dezember 2018 sprechen. ({3}) Herr von Stetten, Sie haben an der Stelle übrigens ganz wenig über die Gemeinnützigkeit gesagt. ({4}) Seit Beginn der Dieselaffäre kann man den Eindruck gewinnen, dass die Verkehrsminister – seit zehn Jahren von der CSU gestellt – sich weniger schützend vor die Verbraucherinnen und Verbraucher, die geprellt worden sind, stellen, sondern sich schützend vor die Automobilindustrie stellen. Statt nun endlich das zu tun, was die Sozialdemokraten von Anfang an gefordert haben, nämlich Hardwarenachrüstungen auf Kosten der Hersteller, um Dieselfahrverbote zu verhindern, Vertrauen in die wichtige Automobilindustrie wiederherzustellen und übrigens auch die Gesundheit der Menschen zu schützen, ({5}) suchen Herr Scheuer und Sie einen Sündenbock, um von den Versäumnissen abzulenken. Das ist dann die Deutsche Umwelthilfe. So geht es an der Stelle auch nicht, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({6}) Die CDU fordert mit dem Parteitagsbeschluss tatsächlich eine Überprüfung der Gemeinnützigkeit einer Organisation. Und wir sprechen hier nicht über die Abmahnpraxis, die natürlich kritik- und fragwürdig ist, ({7}) sondern über die Überprüfung der Gemeinnützigkeit einer Organisation, die geltendes Recht einklagt und damit vor Gericht auch recht bekommt. Sorgen Sie dafür, dass es endlich eine Nachrüstungsverpflichtung für die Autohersteller gibt! Das ist rechtlich auch heute noch möglich. Gängeln Sie nicht gemeinnützige Organisationen an dieser Stelle! ({8}) Wir wollen und werden uns übrigens an den Koalitionsvertrag halten. Darin steht: Wir wollen die Gemeinnützigkeit stärken, wir wollen das Ehrenamt stärken; denn eine plurale, eine demokratische Gesellschaft braucht engagierte Bürgerinnen und Bürger. Sie braucht auch engagierte Organisationen. Wir wollen, dass sie sich einmischen und sich nicht ins Private zurückziehen. Bereits in der griechischen Antike nannte man den Rückzug ins Private übrigens Idiotie. Der unpolitische Mensch war der Idiot. Wir wollen keine Menschen, die sich ins Private zurückziehen, sondern solche, die sich engagieren. Alles andere wäre tatsächlich idiotisch. In diesem Sinne hoffen wir an dieser Stelle in Zukunft auf eine Besserung bei Ihren Anträgen. Danke schön. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun Katja Hessel das Wort. ({0})

Katja Hessel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zweite Debatte über Gemeinnützigkeit im Jahr 2019: Man könnte ja meinen: Die Gemeinnützigkeit hat hier im Hohen Haus einen ganz großen Stellenwert erhalten. – Es ist auch ein wichtiges Thema: Durch die Anerkennung gemeinnütziger Organisationen wird das ehrenamtliche Engagement Tausender Verbände und Vereine gewürdigt, die einen beispiellosen Beitrag für das Gemeinwohl erbringen. Durch den Zugang zu Spendengeldern, aber natürlich auch durch öffentliche Gelder oder Steuererleichterungen wird dieses Engagement gewürdigt. Bei der Anerkennung durch die örtlich zuständigen Finanzämter gibt es natürlich das Problem, dass es zu sehr unterschiedlichen Beurteilungen gleicher Sachverhalte kommen kann, weil eben die örtlichen Finanzämter entscheiden. Der Gesetzgeber ist schon gefordert, Rechtssicherheit für viele tatsächlich gemeinwohlorientierte Vereine herzustellen, und das war auch Gegenstand unseres Antrags zum Freifunk letzte Sitzungswoche. ({0}) Es sind rund 23 Millionen Menschen – mehr als ein Viertel unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger –, die sich in solchen Vereinen – mehr als 600 000 – und in Stiftungen engagieren. Sie leisten einen wertvollen Beitrag. Wenn man das alles so sieht und den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen so liest, könnte man meinen: Ist ja gar nicht so schlecht, Abbau von Rechtsunsicherheit für gemeinnützige NGOs, Schutz dieser innerhalb der EU vor Repressionen – klingt alles gut, wichtige und richtige Ziele. – Aber es braucht sicherlich nicht den Aufbau einer Bundesbehörde; Kollege von Stetten hat das schon gesagt: Das ist über das Ziel hinausgeschossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, die Zentralisierung im Steuerrecht ist auch hier nicht die Lösung aller Probleme, sondern führt nur zu wesentlich mehr Bürokratie. ({1}) Aber das ist ja eigentlich der Kern des Antrags: Der Kern des Antrags liegt in der Begründung, und Frau Kollegin Dr. Rottmann hat das hier auch sehr ordentlich ausgeführt. Demokratie braucht eine sehr kritische Zivilgesellschaft, und in dieser starken Zivilgesellschaft sind gemeinnützige Organisationen sicherlich ein tragendes Fundament. Dazu stehen wir als Freie Demokraten – ohne jegliches Wenn und Aber. Aber beim Lesen Ihres Antrags wurde es mir dann schon irgendwie übel; das ist ein bisschen übertrieben, aber es war schon seltsam. Sie schreiben, wir würden NGOs wie die Deutsche Umwelthilfe einer beispiellosen Diffamierungskampagne unterwerfen. Dann zitieren Sie aus unserem Antrag: Die FDP-Fraktion scheut sich nicht, eine gezielte Einflussnahme der Bundesregierung auf die Finanzverwaltung zum Zwecke der Lenkung der Rechtsanwendung im Einzelfall mit dem Ziel des Entzugs der Gemeinnützigkeit für konkrete Organisationen zu beantragen ... Und das Ganze dann auch noch in Zusammenhang mit den NGOs in Polen und in Ungarn! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das ist schon fast Diffamierung. Wir als Rechtsstaatspartei haben einen sehr genauen Kompass für Rechtsbruch, ob dies in Ungarn ist, ob das in Polen ist oder ob das auch bei uns ist. ({2}) Das heißt nun mal ganz deutlich: Für die Vertreter eines Rechtsstaates und die Verfechter von Rechtsstaatlichkeit ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Straftaten jeglicher Art nicht geduldet werden und schon gar nicht damit belohnt werden, dass es Gemeinnützigkeit gibt. ({3}) Meine lieben Kollegen, so nicht! ({4}) – Ja, wir haben eine Gewaltenteilung. ({5}) – Da soll die Justiz entscheiden. Aber die Exekutive, lieber Kollege Schrodi, das Finanzamt entscheidet über die Gemeinnützigkeit. Aber wenn gemeinnützige Organisationen bzw. deren Repräsentanten straffällig geworden sind, kann es nicht sein, dass man Zugang zu Steuergeldern erhält. Lieber Kollege Schrodi, weil Sie gerade hineingerufen haben: Es ist schön, dass Sie sich Gedanken über unsere FDP machen. Entschuldigung, machen Sie sich mal Gedanken um die gute alte Sozialdemokratie! Die ist nämlich momentan auch nicht so richtig sichtbar. ({6}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es tut mir leid: Der Antrag ist für mich die Fortsetzung des Reichsbürgervergleichs der letzten Sitzungswoche: Alles, was nicht in das grüne Weltbild passt, wird an den Pranger gestellt. – Wir werden darüber im Ausschuss diskutieren. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat Jörg Cezanne das Wort. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir begrüßen ausdrücklich das klare Bekenntnis im vorliegenden Antrag der Grünen zu äußerster Zurückhaltung staatlicher Akteure, insbesondere von Landesregierungen und Bundesregierung, aber natürlich auch politischer Parteien, bezüglich der Unabhängigkeit zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation. ({0}) Der Antrag ist daher auch ein Plädoyer für zivilgesellschaftliches Engagement, ist ein Plädoyer für den Einsatz für emanzipative und den sozialen Zusammenhalt fördernde Initiativen, Vereine und Verbände. Das findet unsere volle Unterstützung. ({1}) Aber in den vorhergehenden Redebeiträgen ist das schon deutlich geworden: Wir wissen auch, warum wir heute über dieses Thema reden müssen. Da gibt es zum einen den nun in die dritte Instanz gehenden Rechtsstreit zwischen dem globalisierungskritischen Netzwerk Attac auf der einen Seite und letztlich dem Bundesfinanzministerium auf der anderen Seite um die Gemeinnützigkeit von Attac. Die seit 2014 geführte Auseinandersetzung ist aus unserer Sicht deutlich politisch motiviert. Für Die Linke steht fest: Der Einsatz für eine gerechte Steuerpolitik, für Solidarität und soziale Gerechtigkeit weltweit ist selbstlos, im Interesse aller und muss als gemeinnützig anerkannt werden. ({2}) Von den Gerichten wurde in zwei Instanzen ein weiter Begriff von politischer Bildung anerkannt. Das Finanzgericht Kassel hatte in seinem Urteil zugunsten von Attac bereits darauf hingewiesen, dass die Abgabenordnung entsprechend geändert werden kann, um hier Rechtssicherheit zu schaffen. Das sollte man dann auch tun. ({3}) Eine zweite offene Baustelle ist der laufende Antrag der FDP zu PETA; das ist ja auch schon angesprochen worden. Mit dem Verweis auf angebliche Verstrickungen der Tierrechtsorganisation in militante Tierschutzaktivitäten wird deren Gemeinnützigkeit infrage gestellt. Auch hier ist es ein politisches Problem, das dem zugrunde liegt. Aus meiner Sicht ruft PETA weder zu Straftaten auf, noch fördert es sie. Das eigentliche Problem sind vielmehr unzureichende Möglichkeiten, Verstöße gegen das Tierschutzrecht zu ahnden. Es gibt kein Verbandsklagerecht für die Verbände, und die behördliche Ausstattung ist zu unzureichend, um eine vernünftige Überprüfung der Betriebe durchzuführen. Gerichte haben deshalb eine Notstandssituation festgestellt, die das Eindringen in Tierställe unter bestimmten Umständen rechtfertigt, sodass das dann eben kein Einbruch, also eine Straftat, ist; denn – so die Begründung –: Die Behörden seien trotz Aufforderung der Tierschützer nicht aktiv geworden. Das gleiche Problem wurde in Bezug auf die Deutsche Umwelthilfe hier schon angesprochen. Die Deutsche Umwelthilfe kann das, was sie tut, ja nur deshalb erfolgreich tun, weil staatliche Behörden bei der Durchsetzung gesetzlicher Verpflichtungen zumindest – vorsichtig gesagt – nicht alles so umsetzen, wie es der Gesetzgeber vorgesehen hat. ({4}) Ich möchte den Blick abschließend noch mal auf eine grundsätzliche Frage richten. Natürlich denkt man beim Thema Gemeinnützigkeit an freundliche Hilfsorganisationen und karitative Einrichtungen, aber die Bandbreite dessen, was dabei als gut und gemeinnützig gilt, ist weit. Genau deshalb ist es wichtig, dass der Gesetzgeber den Finanzämtern praktikable und möglichst präzise Angaben macht, was denn nun im Einzelfall als gemeinnützig angesehen wird. Dafür gibt es keinen per se konsensfähigen Katalog von guten und richtigen gesellschaftlichen Zielen. Darüber muss sich in einem gesellschaftlichen Dialog verständigt werden, aber nicht mit Drohungen gegen zivilgesellschaftliche Organisationen. Ich danke Ihnen. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Sebastian Brehm das Wort. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich, dass wir einmal mehr hier im Plenum über die Abgabenordnung reden. Wir hatten das Thema im letzten Juni durch den Antrag der FDP in nahezu ähnlicher Diskussionsrunde. Das gibt einmal mehr Gelegenheit, auch mal Danke zu sagen – und zwar Danke an die über 22 000 freiwilligen Feuerwehren mit über 1 Million Mitglieder, Danke an die 90 000 Sportvereine, an die 14 000 Schützenvereine, an die unzähligen Kultur- und Heimatvereine, Karnevalsvereine, Naturschutzvereine, Nachbarschaftsvereine, Wohlfahrtsverbände, Tierschutzvereine und an ganz viele andere ehrenamtliche Vereine. ({0}) Sie sind die Stütze der Gesellschaft, und sie sind das Fundament für den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Deswegen ein großes Dankeschön an alle Vereine in Deutschland für das große Engagement. ({1}) Wir hatten auch die Diskussion über Gemeinnützigkeit von Freifunk, der wir positiv gegenüberstehen. Wir sagen, dass wir Änderungen der Abgabenordnung gerne vornehmen, um das zu ergänzen und Erleichterungen für Vereine zu schaffen; Christian von Stetten hat dazu bereits gesprochen. Doch wie ist die Definition von Gemeinnützigkeit im Gesetz? Die Definition findet sich im Gesetz in § 52 Abgabenordnung. Da steht: Die Tätigkeit der Körperschaft muss darauf gerichtet sein, „die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern“. In dem Anwendungserlass zur Abgabenordnung ist außerdem klar geregelt, wann diese Gemeinnützigkeit entzogen werden kann und unter welchen Voraussetzungen. Da steht drin: Der Vorstand verstößt gegen die Vereinssatzung, unerlaubte Zuwendung an Mitglieder, überhöhte Vergütungen, keine Unmittelbarkeit, Dauerverluste im wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb, zu hohe Gewinne im wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb und natürlich auch Gesetzesverstöße. – Genau dazu gehört die Diskussion um PETA; denn Einbruch und Sachbeschädigung haben nichts mit Gemeinnützigkeit und Selbstlosigkeit zu tun. ({2}) Jetzt kommt in dieser Diskussion ein zweiter wichtiger Aspekt hinzu. Die Frage ist ja, wer die Straftat begangen hat. Ist es ein Mitglied des Vereins, oder wird sie im Namen des Vereins oder mit Duldung bzw. Billigung des Vorstands des Vereins begangen? Das ist letztlich die Frage, um die es bei PETA geht. Es ist eine rein sachlich orientierte Frage. Deswegen verstehe ich Ihre Aufregung und die Einordnung „Die einen sind gut, die anderen sind schlecht“ auch nicht. Wir haben eine gesetzliche Vorgabe, und die gilt es zu prüfen. ({3}) Der dritte Punkt betrifft – sowohl bei PETA als auch bei der Deutschen Umwelthilfe; darauf komme ich gleich – die Mitgliederzahl. PETA hat eine ganz geringe Zahl von Mitgliedern, die überhaupt stimmberechtigt sind. Alle anderen sind Fördermitglieder. Der Zugang als Mitglied in diese Organisation ist stark und restriktiv begrenzt. Vielleicht sollten wir probieren, dort mal Mitglied zu werden und dann mit Meinungsbildung zu unterstützen; das wird uns wahrscheinlich nicht gelingen. Im Fall der Deutschen Umwelthilfe geht es um eine Frage, die auf einen ganz anderen Sachverhalt, also nicht auf eventuell begangene Straftaten oder Einbrüche, zielt. Hier geht es vielmehr um die Prüfung, ob es der Allgemeinheit dienlich ist, also ob eine wirtschaftliche Tätigkeit vorliegt und ob durch die Steuerbefreiung oder die Steuerbegünstigung im Verein ein ungerechtfertigter Wettbewerbsvorteil erzielt wird. Es geht um die Abmahnungen. Mittlerweile sind sie bei der Deutschen Umwelthilfe, nach den Veröffentlichungen, eine erhebliche Einnahmequelle. In einem „Spiegel Online“-Artikel vom November 2018 wird erwähnt, dass allein die Einnahmen aus den Abmahnungen über 2,5 Millionen Euro betragen; ({4}) das sind über 30 Prozent der Gesamteinnahmen des Vereins. So wird es in dem Artikel wiedergegeben. Auch dort gibt es die Diskussion um die niedrige Mitgliederzahl. Hier sind es nach Aussagen rund 370 Mitglieder, die stimmberechtigt sind und die Meinungsbildung im Verein organisieren können. Das ist ein wichtiger Diskussionspunkt. Das ist die Diskussion bei beiden Vereinen, sowohl bei PETA als auch bei der Deutschen Umwelthilfe. Darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Deswegen kann man doch in der politischen Diskussion sagen: „Wir meinen, das ist nicht der Allgemeinheit dienlich“, und jemand anders sagt: Das ist der Allgemeinheit dienlich. ({5}) Darüber kann man eine politische Diskussion führen. Zu entscheiden, was gemeinnützig ist, obliegt ja nicht der Politik, sondern es obliegt den Finanzämtern, und zwar dem Wohnsitzfinanzamt oder dem Finanzamt, das für den Sitz der Gesellschaft oder des Vereins zuständig ist. Das ist eine Behörde des Landes, also der Exekutive. Insofern kann man auch nicht sagen: Die Länder sollen sich nicht einmischen. – Sie sind letztlich nämlich die Träger der Finanzämter. Als Gerichtsbarkeit stehen das Finanzgericht und der Bundesfinanzhof zur Verfügung. Was mich an dem Antrag der Grünen ärgert, ist, dass suggeriert wird, dass diese Rechtsstaatlichkeit und diese objektive Einordnung von Gemeinnützigkeit in Deutschland nicht existiert. Ich kann Ihnen bloß sagen: Die Finanzämter und die Finanzgerichte leisten eine gute Arbeit und haben in den Fällen sachgerechte Entscheidungen getroffen. ({6}) Deswegen: Hören Sie bitte auf, diese Menschen so zu diffamieren! Ich glaube, das ist falsch. ({7}) Wir sollten hier vielmehr den Finanzämtern und den Finanzgerichten Rückendeckung geben. Richtig ist, dass es in anderen Ländern Europas – wie Sie es erwähnen – nicht so gründlich gemacht wird wie in Deutschland. Das kann man zu Recht kritisieren; das ist völlig klar. Aber in Deutschland ist die Sachentscheidung über die Gemeinnützigkeit bisher in den Verfahren sachgerecht getroffen worden. Und wenn die Diskussion über PETA oder die Deutsche Umwelthilfe aufkommt, wird man es in den Finanzämtern und Finanzgerichten genauso sachgerecht handhaben. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Lothar Binding für die SPD-Fraktion. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Sebastian Brehm und Christian von Stetten haben sich beim Ehrenamt bedankt, bei den vielen Vereinen. Dem schließen wir uns natürlich an. Wir kennen den Kitt der Gesellschaft: 22 Millionen Leute helfen. Wenn ich den Antrag aber richtig verstanden habe, geht es überhaupt nicht ums Ehrenamt, ({0}) sondern es geht darum, dass wir das Gemeinnützigkeitsrecht vor parteipolitischer Einflussnahme schützen. Und das ist meines Erachtens auch ein schützenswerter Grund. ({1}) Alle Organisationen, die das Gemeinnützigkeitsrecht erfüllen, sind gemeinnützig. Ein trivialer Satz; das stimmt. Aber ob die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt werden, entscheidet ein Finanzamt – da haben wir gar keine schlechten Erfahrungen –; ({2}) im Zweifelsfall entscheidet das ein Finanzgericht. Deshalb muss man sich darüber gar keine Gedanken machen. Das wird da entlang der rechtsförmlichen Bedingungen entschieden, und dann ist alles wunderbar. Solche Organisationen müssen sich – das wurde auch schon vorgetragen – für die Allgemeinheit einsetzen – das prüft das Finanzamt –, selbstlos sein, und sie müssen – das finde ich auch wichtig – unabhängig von der Regierung sein. Deshalb ist das Gemeinnützigkeitsrecht parteipolitisch neutral. Und gerade die staatliche Unabhängigkeit, dass sie frei sind von staatlichem Handeln und Regierungshandeln und dessen Beeinflussung, verleiht den Vereinen diese große Reputation. Das gibt ihnen doch Kraft für die Entscheidung, zu tun, was notwendig ist. Deshalb ist das ein Antrag, der schon in die richtige Richtung zielt; ob alle Mittel, die vorgeschlagen werden, gut sind, ist eine andere Frage. Insbesondere den Vorschlag, eine eigene Bundesbehörde zu gründen, die die Gemeinnützigkeit feststellt, halten wir für falsch; denn morgen kommt dann der nächste Vorschlag für eine Kontrollbehörde zur Prüfung dieser Behörde. Das ist nicht der richtige Weg – die Finanzämter machen gute Arbeit –; aber sich darum zu kümmern, ist gleichwohl richtig. Dass die Finanzämter an dieser Stelle parteipolitisch neutral sind, ist wichtig, und wenn da irgendetwas nicht in Ordnung ist, dann, finde ich, muss man das benennen. ({3}) Darum kann man sich doch kümmern. Dann muss man Beispiele nennen und sagen: Ich habe damit ein großes Problem. – Dann wird das Problem gelöst. Aber warum jetzt die Deutsche Umwelthilfe so in den Fokus gestellt wird, habe ich nicht ganz verstanden; denn sie ist ja nach dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz ein anerkannter Umweltschutzverband und zusätzlich klageberechtigter Verbraucherschutzverband. ({4}) Insofern nutzt sie ihre legalen Rechte aus, und das hat seine Ordnung. Wenn jemand daran etwas ändern will, braucht man nur zu klagen. Oder habe ich da was falsch verstanden? ({5}) Das ist keine Sache, die man parteipolitisch vermischen darf, weil einem ein Verband nicht so gut gefällt. Übrigens ist das keine private Entscheidung: nicht von einem Unternehmen, nicht von irgendeinem anderen Verband, der vielleicht neidisch ist, auch nicht von einer Ministerin, die ihr Amt verliert, weil sie vielleicht Viehzucht betrieben hat, die sozusagen tierschutzrechtlich bedenklich war. Es gibt ja Ministerinnen, die mussten infolgedessen zurücktreten. ({6}) Insofern bin ich mir nicht ganz sicher, ob das, was PETA gemacht hat, nicht möglicherweise sogar gerechtfertigt ist, um so etwas aufzudecken. Ich bin ja kein Jurist, Gott sei Dank. ({7}) – Aber der Rücktritt ist passiert, oder? Er muss ja irgendeinen Grund gehabt haben. ({8}) Man sieht: Die Sache ist nicht so einfach; aber es lohnt sich, das Gemeinnützigkeitsrecht vor parteipolitischer Einflussnahme zu schützen. Deshalb war es gut, dass wir heute darüber geredet haben. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7434 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Joana Cotar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004696, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Der heute vorliegende AfD-Antrag beschäftigt sich mit der Datenschutz-Grundverordnung. Schon bevor die DSGVO in Deutschland in Kraft trat, haben wir von der AfD vor der Tatsache gewarnt, dass sie weit über das Ziel hinausschießt. Die EU und Sie, werte Kollegen von den Altparteien, wollten die Großen treffen: Sie zielten auf Facebook, auf Google, auf große Unternehmen, die es mit dem Datenschutz nicht immer so genau nehmen. Hier ist Datenschutz wichtig; da gehen wir mit Ihnen konform. Doch dabei ist es leider nicht geblieben. Die DSGVO trifft auch und vor allem den kleinen Mann, das kleine mittelständische Unternehmen, den privaten Website-Betreiber, den Blogger, den Influencer, den YouTuber, den unabhängigen Street-Photographer und viele andere mehr. ({0}) Wichtige Detailfragen bleiben bei der Verordnung ungeklärt, und Rechtsunsicherheiten in der Bevölkerung sind nach wie vor groß. Noch ist die deutsche Abmahnindustrie nicht in Gang gekommen, ({1}) und auch die Strafen der Behörden waren bisher überschaubar. Doch Baden-Württembergs Datenschutzbeauftragter, Stefan Brink, erklärte gerade erst gegenüber dem „Spiegel“, dass die Aufsichtsbehörden eben „ein bisschen Vorlauf“ gebraucht haben, und kündigte nun in größerem Umfang Strafen an; fünfstellige Bußgelder werden dann keine Seltenheit mehr sein. Zu den Rechtsunsicherheiten kommt es auch, weil die deutsche Regierung es verpasst hat, den in Artikel 85 Absatz 1 der DSGVO enthaltenen Anpassungsauftrag umfassend zu nutzen. ({2}) Die EU hat ausdrücklich festgehalten, dass die Mitgliedstaaten durch Rechtsvorschriften den Datenschutz mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit in Einklang bringen können und auch sollen. Die Bundesregierung ist einerseits der Meinung, dass solch eine allgemeine Anpassung nicht nötig sei. Sie verweist auf das Grundgesetz und auf das Kunsturheberrecht. ({3}) Andererseits wurden auf Bundes- und Landesebene durchaus spezielle Vorschriften zum Schutz der Meinungsfreiheit erlassen. Diese beschränken sich allerdings auf die institutionalisierte Presse, auf Berufsjournalisten, deren Berichterstattung nicht gefährdet werden soll. ({4}) Außen vor bleiben die von mir zuvor erwähnten Gruppen, die aber ebenfalls maßgeblich zum demokratischen Diskurs beitragen: ({5}) der Blogger, der sich mit den aktuellen politischen Themen beschäftigt und sich durchaus auch mal kritisch äußert, der Pressesprecher eines Vereins, Künstler, die die Gesellschaft aktiv mitgestalten. ({6}) Für all diese Gruppen ist der rechtliche Status nicht geklärt; sie müssen Abmahnungen und Strafen befürchten. Selbst der Bundestag weiß bis heute nicht, welche Regelung auf ihn zutrifft; der Wissenschaftliche Dienst hat dies in einem Brief an die Fraktionen und an die Abgeordneten bestätigt. ({7}) Es ist nicht zu verstehen, wenn es aus dem Innenministerium heißt, dass besondere gesetzliche Anpassungen zum Schutz von Diskursteilnehmern nicht notwendig seien, gleichzeitig aber im zweiten Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetz genau solche speziellen Schutzfristen vorgesehen sind, aber nur für die Deutsche Welle und deren Journalisten. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen, meine Damen und Herren, und genau das wollen wir von der AfD beenden. ({8}) Solche Schutzvorschriften muss es auch für Diskursteilnehmer jenseits des professionellen Journalismus geben. Andere Länder haben diesen Spielraum, den die EU ihnen gegeben hat, nämlich genutzt. Genau das fordern wir jetzt auch für Deutschland. Die AfD steht mit dieser Forderung nicht alleine da. Ausgewiesene Datenschutzjuristen des Deutschen Anwaltvereins kritisieren seit Verabschiedung der DSGVO den fehlenden Gestaltungs- und Umsetzungswillen der Bundesregierung im Sinne der Öffnungsklausel. Sie sprechen sogar von erheblichen Einschüchterungseffekten, die sich mit dem Inkrafttreten der DSGVO eingestellt haben. ({9}) Die Verordnung wirke gemeinsam mit anderen Kon­strukten auf juristisch nicht vorgebildete Personen wie eine Drohkulisse. Wir erinnern uns an den #blogsterben. Nicht wenige Webseiten und Blogs sind seit Mai 2018 vom Netz gegangen oder nur noch eingeschränkt verfügbar ({10}) Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, ein Schelm, wer denkt, dass das vielleicht sogar Absicht war. ({11}) Diese Rechtsunsicherheiten lassen sich aber beheben, und wenn die Einschüchterungen keine Absicht waren, sollte hier im Raum auch keiner etwas dagegen haben. Anstatt fünf bis sechs Jahre zu warten, bis Gerichte in Präzedenzfällen geklärt haben, welche Interpretation der DSGVO nun die richtige ist, sollte die Regierung handeln. Die AfD fordert, das Medienprivileg auf Blogger, Fotografen und Tätige im Öffentlichkeitsbereich auszuweiten. ({12}) Diese Anpassung schadet niemandem, hilft aber ganz vielen aktiven und engagierten Bürgern. Liebe Kollegen, zeigen Sie hier und heute, dass auch Sie für die Meinungsfreiheit und die Informationsfreiheit einstehen, und stimmen Sie unserem Antrag zu. Und weil wir wissen, dass eine Zustimmung zu einem Antrag von der ach so bösen AfD für Sie eigentlich nicht infrage kommt, haben wir es Ihnen diesmal eigentlich besonders einfach gemacht. Wenn Sie zustimmen, dann stimmen Sie vor allem auch den fähigen Juristen des Deutschen Anwaltvereins zu. Das sollte doch bei so einem wichtigen Thema wirklich möglich sein. ({13}) Setzen wir gemeinsam auf einen angemessenen Interessenausgleich zwischen notwendigem Datenschutz und Öffentlichkeitsinteresse! Vielen Dank. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Marc Henrichmann hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher! Es zeugt ja schon in gewisser Weise von Ironie, wenn die Fraktion, die die größten Schwierigkeiten mit der Meinung Andersdenkender hat, hier einen Antrag einbringt, dessen Titel mit „Freie Meinungsäußerung sicherstellen“ beginnt. ({0}) Ziel des Schnellschussantrages ist nach meinem Dafürhalten aber nicht die fehlende Meinungsfreiheit; denn die ist gottlob grundgesetzlich geschützt. Ihnen geht es, glaube ich, eher um die Äußerungen, die nicht mehr durch die Meinungsfreiheit gedeckt sind und die Ihrer Fraktion regelmäßig Schwierigkeiten bereiten. Nicht umsonst haben Sie das Interesse des Verfassungsschutzes geweckt. Dieser lässt ausgewiesene Freunde der Verfassung ja eigentlich in Ruhe. ({1}) Sie fürchten doch nur die rechtlichen Konsequenzen der Meinungsäußerung. Sie nutzen den Deckmantel der Meinungsfreiheit ja nur allzu gerne für die Diffamierung und für Fake News. ({2}) Und genau das stößt den Menschen auch mächtig auf. Der Antrag ist eine Lex AfD. Einziger Antrieb sind Ihre persönlichen Interessen und auch Ihre Parteikommunikation, ({3}) ansonsten hätten Sie nicht nur eine Gruppierung mit Ihrem Antrag in den Blick genommen, sondern auch die vielen Vereine, die Mittelständler und andere. Doch diese haben Sie gar nicht in den Blick genommen. Aber schauen wir auch mal juristisch auf diesen Schnellschussantrag. Sie fordern die Bundesregierung auf, die Öffnungsklausel im Sinne des Artikels 85 Absatz 1 DSGVO für eine spezielle Regelung zum Zweck der freien Meinungsäußerung zu nutzen. Schon heute gibt es für nichtöffentliche Stellen bei der Verarbeitung nicht sensibler Daten die Rechtsgrundlage des Artikels 6 Absatz 1 DSGVO, besser bekannt als Wahrung eines berechtigten Interesses. Für sensible Daten wie politische Meinungen und Weltanschauungen gilt ohnehin ein grundsätzliches Verarbeitungsverbot. Schon bisher hat die Rechtsprechung Maßstäbe beim nötigen Ausgleich zwischen den Grundrechten auf Meinungsäußerung einerseits und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung andererseits entwickelt. Wer das aber nun – wie Sie – ignoriert und mit dem Dampfhammer im grundgesetzlich sensiblen Bereich operiert, der sollte wenigstens Vorsicht walten lassen. Das ist Ihnen aber alles Schnuppe. Sie wollten ein Schwert und schmieden es aus Pappe. Dass Ihre Vorschläge teils in den Kompetenzbereich der Bundesländer fallen, verschweigen Sie auch. Kompetenzrechtliche Bedenken bei Ihnen? Fehlanzeige. Das Grundgesetz und die Rechtsprechung differenzieren aus gutem Grund zwischen dem Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit auf der einen Seite und Rundfunk- und Pressefreiheit andererseits. Sie wollen jetzt ohne saubere juristische Grundlage das sogenannte Medienprivileg auch auf den nicht verfassten journalistischen Bereich ausdehnen, also auf Blogger zum Beispiel, und damit auch auf die Meinungsäußerungen von Privaten in sozialen Netzwerken übertragen. ({4}) Aber was im Bereich des nicht verfassten Journalismus mit bewährten Instrumenten wie der Selbstkontrolle passiert, verraten Sie nicht. Was ist zum Beispiel mit dem Rundfunkrat? Soll der überflüssig werden? Auch dazu hätten Sie etwas sagen dürfen. ({5}) Das zeigt, dass es Ihnen mit dem Antrag überhaupt gar nicht um ehrbare Journalisten und Blogger gehen kann, sondern um den Schutz von Fake-News-Trollen in sozialen Netzwerken. ({6}) Gesetze sind aber saubere handwerkliche Arbeit und kein Weihnachtswunschzettel, auf den ich alles schreibe, was mir gerade so einfällt. ({7}) Dann sollte ich zumindest wissen, was ich gesetzlich überhaupt regeln kann und wofür ich zuständig bin. Auch das ignoriert dieser Antrag. Natürlich braucht es mehr Rechtssicherheit und Praxisnähe der Datenschutz-Grundverordnung. Ich habe das bei allen Reden hierzu betont. Dafür stehen auch CDU und CSU. Deswegen arbeitet die Koalition auch mit Hochdruck am zweiten Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetz. Und, ja, neben vielen technischen und redaktionellen Anpassungen haben wir natürlich auch das Thema „Erweiterung des Medienprivilegs“ auf der Agenda. Aber es ist doch viel zu kurz gesprungen, jetzt nur eine Gruppe auszunehmen und alle anderen Umsetzungsprobleme, die mit der Datenschutz-Grundverordnung verbunden sind, auszublenden. Ziel muss doch sein, Rechtssicherheit für alle zu schaffen und Unsicherheiten zu beseitigen. Und dann ist es egal, ob es Blogger oder Journalisten sind oder Mittelständler, Vereine oder Vermieter. ({8}) Ansonsten verlieren wir nämlich die gesellschaftliche Akzeptanz für den Datenschutz. Und der darf nicht unter die Räder kommen. Es gilt jetzt natürlich auch, Datenschutzpolitik verständlich und ihren Mehrwert für jeden Einzelnen nachvollziehbar zu machen. Ihr Antrag kommt dafür allerdings zu spät, er greift viel zu kurz, lässt die allermeisten Fragen offen und ist juristisch eine Nebelkerze. Allein deswegen ist die Zustimmung unmöglich. Ich verweise lieber auf die laufenden Beratungen zum zweiten Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetz und hoffe auf gute Ergebnisse. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP hat nun Manuel Höferlin das Wort. ({0})

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als Digitalpolitiker habe ich über die Jahre hinweg schon manche Schmerzen ertragen müssen, aber dieser AfD-Antrag stellt meine Leidensfähigkeit wirklich auf eine ungeahnt neue harte Probe; ({0}) denn bei diesem Antrag geht es nicht um Datenschutz und erst recht nicht um Presse- und Meinungsfreiheit. Dieser Antrag zielt einzig und allein darauf ab, dass die AfD ihre Meinungsmache und politische Hetze unter dem Deckmantel des Medienprivilegs weiter ungehindert verbreiten darf. ({1}) Das zeigt sich insbesondere an einigen Stellen des Antrags. Die ersten Anzeichen finden sich schon im Titel. „Tätige im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit“ steht darauf. Auf sie soll das Medienprivileg erweitert werden. Das ist so weit gefasst und ungenau, dass es schon fast euphemistisch ist. Hier bekommt man eine erste Ahnung davon, wie wenig es der sogenannten Alternative in Wirklichkeit um die Weiterentwicklung des Datenschutzes und um die Rechte von Medienschaffenden geht. Deutlicher wird die wahre Intention des Antrages dann auf Seite 2, wenn Sie, die Kolleginnen und Kollegen der AfD, allen Ernstes Parteien und Politiker dem Berufsfeld „journalistische Berichterstattung“ zuordnen wollen. Noch deutlicher wird es bei einem Blick auf den Forderungskatalog des Antrags. Da geht es nämlich darum, dass Sie sich von den datenschutzrechtlichen Verpflichtungen und Regeln befreien wollen. Das betrifft die Informationspflichten gegenüber Betroffenen, die Auskunftsrechte von Betroffenen, das Recht der Betroffenen auf Berichtigung und Löschen von Daten, das Recht auf Datenübertragbarkeit und zu guter Letzt – da wird es wirklich richtig interessant – das Recht, dass niemand ohne guten Grund dem sogenannten Profiling unterworfen wird. Damit ist ganz klar: Sie wollen mit diesem Antrag kein Medienprivileg, sondern Sie wollen ein Parteien- und Politikerprivileg für sich. ({2}) Sie selbst wären der größte Nutznießer Ihres eigenen Antrags. Es geht darum, Ihre feindseligen Fake News noch zielgruppengenauer an die zugänglichen Bürgerinnen und Bürger zu bringen. Kurzum: Es geht in diesem Antrag wirklich um Selbstprivilegierung und um nichts anderes. ({3}) Der Gesetzgeber hat das Medienprivileg für die überwiegende Zahl der Journalistinnen und Journalisten geschaffen, die jeden Tag faktenbasiert und mit der erforderlichen Sorgfalt und Genauigkeit arbeiten. ({4}) – Ja, da können Sie brüllen, wie Sie wollen. ({5}) Deshalb ist es richtig, sie im berufsbezogenen Umgang mit personenbezogenen Daten von diesen Pflichten zu befreien. Doch für die AfD ist dieses Privileg ganz sicher nicht gemacht und für Sie als Politiker erst recht nicht; denn solch ein Zugeständnis kann man Ihrer Partei nach all dem, was wir in den letzten Monaten in diesem Haus, in anderen Parlamenten, in der Presse, in den sozialen Medien gehört und gesehen haben, auf keinen Fall machen. ({6}) Es geht hier um Datenschutzlockerung für Sie selbst. Es ist eine unglaubliche Frechheit, was Sie hier vorlegen. ({7}) Bei der Öffentlichkeitsarbeit geht es bei Ihnen um drei Dinge: Sie wollen falsche Behauptungen und erfundene Statistiken verbreiten. Sie wollen Misstrauen gegen die demokratischen Institutionen schüren. Und Sie wollen Feindbilder durch Hass und Hetze schaffen. Wir alle in diesem Haus wissen: Das ist Ihr Business. ({8}) Das ist Ihr Markenkern. Das ist Ihnen tausendmal wichtiger als jede inhaltliche, sachliche Auseinandersetzung in politischen Fragen. Am Ende setzen Sie sich hierhin und rufen – so wie jetzt – „Mimimi“ und fühlen sich angegriffen. Es ist immer das gleiche Prinzip. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen, ich bin der festen Überzeugung, dass wir Politiker und Parlamentarier bei den Datenschutzbestimmungen keine Änderung für uns brauchen. ({10}) Wir brauchen erst recht keine Sonderregelungen für uns, wie die AfD sie fordert. Wir Freien Demokraten sind mit Sicherheit eine digitale Fraktion und arbeiten digital und nehmen das Datenschutzthema immer ernst. ({11}) – Ja, da können Sie lachen. Machen Sie uns das erst mal nach. – Deswegen wollen wir auch keine gesetzlichen Anordnungen, keine Befreiungen. Wenn wir etwas im Bereich Datenschutz hier im Parlament machen wollen, dann können wir uns das selbst auferlegen. Wir können uns Regeln geben. Da gibt es keine Probleme. Es gibt jedoch einen Punkt, der allerdings nichts mit Ihrer Intention zu tun hat: Die Bundesregierung hat es versäumt, das Medienprivileg im Sinne des Artikels 85 DSGVO entsprechend auszugestalten. Sie hat während der Übergangsphase versäumt, die Bevölkerung richtig auf die DSGVO vorzubereiten. Sie hat auch bis jetzt versäumt, die Öffnungsklausel mittelstandsfreundlicher zu gestalten. Von daher gibt es Grund genug, sachliche Anträge zu diesem Thema zu stellen, aber bestimmt nicht so etwas. Das ist diesem Hause nicht würdig. Herzlichen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Saskia Esken für die SPD-Fraktion. ({0})

Saskia Esken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Visitenkarten, die wegen der Datenschutz-Grundverordnung jetzt in gebundener Form herausgeben werden müssen, Fotos aus dem Kindergarten – süß die Kleinen, nicht? – jetzt nur noch mit geschwärzten Gesichtern: Die Rechtsunsicherheiten im Zusammenhang mit der DSGVO treiben schon sehr seltsame Blüten. All diese Geschichten gehören ins Reich der Fabeln. Nichts von dem ist dem Datenschutz geschuldet, sondern nur der Hysterie, die um die europäische Verordnung gemacht wird. Dabei geht es doch – das begreifen wir mit jedem Skandal ein bisschen mehr – um den Schutz der Daten, um den Schutz unserer digitalen Identitäten, um den Schutz unserer Privatsphäre. Darüber wurde in den ersten Monaten der Wirksamkeit der DSGVO leider viel zu wenig gesprochen und viel zu viel über die kleinen Verrücktheiten. ({0}) Heute sprechen wir aber über die wichtige Balance von Meinungsfreiheit und Datenschutz, zwei Grundrechte, die natürlich konkurrieren und die gegeneinander abgegrenzt werden müssen. Zu dieser Balance enthält auch Artikel 85 DSGVO – der Kollege hat es gesagt – einen Regelungsauftrag an die nationalen Parlamente. Die Bundesregierung war und ist auch bisher noch der Auffassung, dieser Regelungsauftrag sei mit den Landespressegesetzen und mit dem Kunsturhebergesetz erfüllt. ({1}) Zur Öffentlichkeitsarbeit von Vereinen, Verbänden, zur Arbeit von freien Fotografen, investigativen Journalisten und Bloggern gab und gibt es aber unterschiedliche Auffassungen. Das haben wir auch gemerkt. Es gab infolgedessen große Ängste, viel Verunsicherung. Wir haben viele Diskussionen zu dem Thema geführt. Was mich persönlich letztlich überzeugt hat, ist eine ganz persönliche verrückte Geschichte. Ich habe den Rat bekommen, in Zukunft bei meinen Veranstaltungen mit den anwesenden Besuchern einen Model-Release-Vertrag zu schließen, also einen Vertrag über die Bildnutzungsrechte. Ich sollte Daten erfassen, um Daten zu schützen. So etwas ist nicht nur verrückt, es ist auch datenschutzwidrig, also verboten. ({2}) Als mich dann aber auch noch der Vertreter der Lokalpresse gefragt hat, ob er hier fotografieren dürfe oder vorher die Anwesenden fragen müsse, ob er fotografieren darf, habe ich gemerkt: Okay, hier ist irgendetwas schiefgelaufen. ({3}) Hier ist nicht nur das Berichtsinteresse der Öffentlichkeitsarbeit oder die Kunstfreiheit des Fotografen in den Köpfen der Menschen ins Wanken geraten. Die Lokalzeitung sollte ihre Leute wohl ein bisschen besser informieren. Die Rechtsunsicherheit der anderen kann man mit etwas gutem Willen und etwas Fantasie tatsächlich ausräumen. Deshalb haben wir im Rahmen des Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetzes – wir haben wunderbare Namen für unsere Gesetze – einige konkrete Formulierungen vorgeschlagen, die zurzeit beraten werden. Damit wollen wir erreichen, dass der Datenschutz nicht gegen die Meinungsfreiheit ausgespielt werden kann oder umgekehrt. Wir müssen einen angemessenen Ausgleich zwischen diesen Grundrechten finden und dabei die Interessen beider Seiten bestmöglich berücksichtigen. Klingt nach einem Kunststück, ist es auch. Offensichtlich haben wir aber zumindest schon den Kollegen Henrichmann überzeugt. Ich freue mich darauf, das dann gemeinsam auf die Beine zu stellen. ({4}) Ausgerechnet die AfD bringt hier einen Antrag zur Rettung der Meinungsfreiheit ein. ({5}) Sind nicht unter Ihrer Flagge Schülerinnen und Schüler dazu aufgerufen worden, Lehrer zu denunzieren, die Meinungen äußern, die ihnen nicht passen? ({6}) Ist das die Meinungsfreiheit, die Sie meinen? Ich finde, unter diesem Licht betrachtet, Ihren Antrag geradezu abwegig. ({7}) Die Meinungsfreiheit, die Sie meinen, ist eben nicht die Meinungsfreiheit der Andersdenkenden. Sie fordern Meinungsfreiheit für sich und meinen damit genau genommen, dass man Ihnen nicht widersprechen soll. ({8}) Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass unsere Verfassung so ein Recht niemandem zugesteht. ({9}) Nur am Rande sei gesagt: Ihrem Behandlungsvorschlag, den Ihr Parlamentarischer Geschäftsführer unterbreitet hat, den Antrag in die AfD für digitale Agenda zu überweisen, können wir leider nicht stattgeben. Ein solches Gremium gibt es hier nicht. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben alle noch in Erinnerung, wie im letzten Jahr die Datenschutz-Grundverordnung Anlass für einiges an Aufregung und Verunsicherung war. Viele befürchteten, nun ein rechtliches Risiko einzugehen, wenn sie fotografierten, Kontaktdaten speicherten oder einen Blog betrieben. Dass sich die vielen dramatischen Befürchtungen so nicht bewahrheitet haben, ist natürlich zu begrüßen. Aber dass große Abmahnwellen ausgeblieben sind und sich die Aufsichtsbehörden mit ihren begrenzten Ressourcen nicht auf Einzelpersonen, kleine Vereine oder Unternehmen gestürzt haben, ändert am Ende nichts daran, dass diese Rechtssicherheit und eben auch klare Vorgaben brauchen. Für die Bundesregierung war das bei der Umsetzung der Datenschutz-Grundverordnung, wie wir zwischenzeitlich wissen, aber erkennbar keine Priorität. Gerade wenn es um die Gewährleistung der Meinungsfreiheit und der Freiheit der Berichterstattung geht, wissen wir, dass schon ein gewisses Klima der Unsicherheit ausreichen kann, deutlich negative Auswirkungen zu haben. Auch ohne direkte Sanktionen schränken sich Menschen schon im Vorfeld selbst ein und handeln zurückhaltender, man spricht von Chilling Effects. Es gibt also gute Gründe dafür, nicht einfach abzuwarten, wo sich Probleme ergeben, sondern für den Artikel 85 der Datenschutz-Grundverordnung eine explizite bundesrechtliche Regelung zu finden neben den leider sehr uneinheitlichen Regelungen, die es inzwischen auf Landesebene gibt. So hat sich zuletzt auch in der Anhörung des Innenausschusses zum zweiten Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetz genau diese Position herausgestellt. Dass diese Fragen jetzt in den Fokus rücken, nachdem die Datenschutz-Grundverordnung ja nun auch schon einige Jahre Vorlauf hatte, ist leider charakteristisch für einen gewissen Gesetzgebungsstil, den ich auch bei anderen Themen mit netzpolitischem Bezug schon länger in diesem Haus beobachte. ({0}) Es werden Gesetze mit Großunternehmen im Kopf gemacht, ohne sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen, ob sie nicht vielleicht kleine, private oder nicht profitgetriebene Akteure härter treffen könnten. Das drastisch­ste Beispiel ist mir hier noch sehr lebendig vor Augen, nämlich das Leistungsschutzrecht für Presseverlage, das als Anti-Google-Gesetz gestartet war und inzwischen Google als Einzigen nicht trifft. Wenn wir unsere zukünftige Lebenswelt nicht den großen Netzkonzernen überlassen wollen, dann müssen entsprechende Gesetze nicht nur gut gemeint, sondern auch gut gemacht sein. ({1}) Mein abschließendes Plädoyer also an dieser Stelle: Bei aller Geschwindigkeit des digitalen Fortschritts muss Zeit sein für eine Folgeabschätzung von Gesetzen, die insbesondere die Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit und all jene, die nicht über die Ressourcen der großen bzw. größten Wirtschaftsakteure verfügen, in den Blick nimmt. Danke. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Tabea Rößner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der AfD geht es vor allem wieder nur um eines: um die Diskreditierung eines europäischen Projekts. ({0}) Dabei hat die EU mit der Datenschutz-Grundverordnung den großen Plattformen bei ihrer maßlosen Datensammelwut erstmals Zügel angelegt. Und das sollten wir hochhalten! ({1}) Dagegen schüren Sie mit Ihrem Antrag die Unsicherheit der Bürgerinnen und Bürger. ({2}) Dass so viel Verunsicherung rund um die Datenschutz-Grundverordnung entstanden ist, geht allerdings auch auf das Konto der Bundesregierung. Statt richtig zu informieren, haben Sie die Menschen mit ihren Fragen alleine gelassen und damit der Panikmache überhaupt erst Raum gegeben. ({3}) Worum geht es? Es geht um den angemessenen Ausgleich von widerstreitenden Grundrechten. Wir stehen heute gerade durch die digitalen Verbreitungswege mehr denn je im Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit und dem genauso wichtigen Schutz der persönlichen Daten. Deswegen sollte es gerade nicht ein generelles Medienprivileg für alle möglichen Berufsgruppen geben. Und ja, es werden noch einige schwierige Fragen zu beantworten sein. Aber Ihr Vorschlag löst diesen Konflikt eben nicht, er schafft keinen nachhaltigen Interessenausgleich und ist zudem überflüssig. ({4}) Denn für die Regelungen publizistischer Fragen sind die Länder zuständig – und die sind auch dabei, die Landesgesetze anzupassen. Jeglicher Grundlage entbehrt aber Ihr Ansatz, ganze Personengruppen wie Blogger und Politiker komplett in das Medienprivileg einzubeziehen. ({5}) Blogger tragen zur Meinungsbildung bei; das steht außer Frage. Aber es gibt solche und solche, und es kommt auf die journalistische Arbeit an. Das definieren die Landesgesetze. Da plädieren wir für eine großzügige Auslegung. ({6}) Aber manche Blogger verarbeiten eben auch große Mengen an Personendaten. Die können Sie doch nicht automatisch von allen Pflichten befreien! Und mit einer Mär muss hier dringend aufgeräumt werden: Die DSGVO hat nicht zu einem Blogsterben geführt. Natürlich kann man Webseiten datenschutzkonform betreiben – und viele machen das auch. Aber weil Gegner des Datenschutzes Ängste schürten und die Informationspolitik zu wünschen übrig ließ, fühlten sich viele überfordert. Inzwischen sind aber die meisten Blogger wieder im Netz – völlig datenschutzkonform, und das ist auch gut so. ({7}) Um Blogger richtig zu unterstützen, brauchen sie gute Beratung, benutzerfreundliche Technik, die datenschutzkonformes Publizieren ermöglicht, und wir müssen den Missbrauch von Abmahnungen verhindern. Auf die Vorschläge von Justizministerin Barley warten wir. Unsere haben wir bereits vorgelegt. ({8}) Besonders befremdlich ist, dass das Medienprivileg für Politiker gelten soll. Interessant, dass ausgerechnet so etwas von der selbst ernannten Anti-Establishment-Partei kommt. Eine solche pauschale Ausnahme von Politikern, die sich dann nicht einmal an der DSGVO orientieren müssen, ist elitär und der Bevölkerung nicht zu vermitteln. ({9}) Ich frage mich, vor was Sie die Politiker denn bewahren wollen. Das Fallbeispiel vom DAV ist wenig überzeugend: Ein Politiker fotografiert eine Besuchergruppe und verbreitet das Foto im Internet. – Und nun? Ehrlich gesagt, es sollte bereits vor Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung selbstverständlich gewesen sein, das Einverständnis der Besuchergruppe vorher einzuholen. ({10}) Ich weiß nicht, wie Sie das machen. Ich handhabe das schon immer so. Zusammenfassend kann ich sagen: Wir brauchen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den verschiedenen Interessen, die neu austariert werden müssen, und es gibt noch offene Baustellen. Man könnte zum Beispiel im Bundesrecht klarstellen, welche Rechtslage für Fotografie gilt, und dabei auch prüfen, ob weitere Spielräume nach Artikel 85 DSGVO notwendig sind. Ich verweise gerne auf das jüngste Gerichtsurteil des OLG Köln. Das hilft, wieder von den Bäumen herunterzukommen. Die Richter sahen das Kunsturhebergesetz im Sinne der Öffnungsklausel der DSGVO als anwendbar an und wogen in gewohnter Manier die betroffenen Rechte ab. Ein solch besonnener Umgang sollte uns allen ein Vorbild sein. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Tankred Schipanski für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ausschuss Digitale Agenda hat am 12. Dezember letzten Jahres ein Fachgespräch geführt, welches Deutschland mit Blick auf die ersten sechs Monate im Geltungsbereich der Datenschutz-Grundverordnung beleuchtete. Gast war Andrea Voßhoff, unsere damalige Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, kurz BfDI. Geladen war auch die Vorsitzende der Datenschutzkonferenz der Bundesländer, die leider bei diesem wichtigen Thema nicht dabei sein konnte. Die BfDI gab den Parlamentariern einen guten Überblick über die Problemfelder bei der Umsetzung der DSGVO. Die hier aufgeworfene Problematik gehörte nicht dazu. Bezeichnend war vielmehr: Nirgends in Europa ist die Aufregung bei der Umsetzung der DSGVO so groß wie in Deutschland. Die BfDI sprach in der Anhörung daher von einer Vielzahl an Fehlinformationen, die selbst Frau Voßhoff überrascht haben. Sie regte daher eine zentrale Informationskampagne an, beispielsweise über die Bundesstiftung Datenschutz. Ferner diskutierten wir in der Anhörung über Probleme mit vermeintlichen Abmahnungen, die Anzahl der Beschwerden in Deutschland und in Europa, aber auch über die wirklichen Datenschutzverstöße. Das ist alles auf den Seiten des Bundestages nachzulesen. Im Übrigen war das Fachgespräch auch öffentlich. Meine Damen und Herren, im Ergebnis des Fachgespräches stellte sich ein ganz anderes wesentliches Problemfeld heraus, dass wir nämlich in Deutschland keine einheitliche Anwendungspraxis der unabhängig agierenden Datenschutzbeauftragten haben. Es fehlt an einem einheitlichen Vorgehen der Datenschutzbeauftragten der Bundesländer hinsichtlich der DSGVO. Man bemüht sich zwar, in der freiwillig eingerichteten Konferenz der Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder zusammenzuwirken. Eine verbindliche Entscheidungsbefugnis gibt es jedoch nicht. Diese verbindliche Entscheidungsbefugnis habe man letztlich nur im europäischen Datenschutzausschuss, der in den vergangenen Monaten eine Vielzahl von Leitlinien herausgegeben hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn der Thüringer Datenschutzbeauftragte Lutz Hasse Klingelschilder mit Namen an unseren Häusern als einen Verstoß gegen die Datenschutz-Grundverordnung wertet, ist dies rechtlich mehr als fragwürdig und trägt zur Verunsicherung der Bevölkerung in Deutschland bei. ({0}) Daher muss es unsere Aufgabe in diesem nationalen Parlament sein, sicherzustellen, dass wir einheitliche Entscheidungen und Kriterien bei der Anwendung der DSGVO in Deutschland erreichen. Dazu müssen wir Vorschläge erarbeiten und Ideen entwickeln. Es kann nicht sein, dass digitale datengetriebene Geschäftsmodelle im Westen der Republik zulässig sein sollen, im Osten aber nicht. Mit Blick auf die eigentlichen Herausforderungen der DSGVO bringt uns der Antrag der AfD kein Stückchen weiter. Meine Damen und Herren, die AfD greift in ihrem Antrag eins zu eins die Forderungen des Deutschen Anwaltvereins auf. So schreibt sie es ja auch selber in dem Antrag. Ich finde es erstaunlich, dass es nunmehr Fraktionen im Parlament gibt, die im Plenum Positionspapiere von Interessengruppen debattieren lassen – ein Novum im parlamentarischen Brauch. ({1}) Bisher war es Sitte, mit allen betroffenen Gruppen ins Gespräch zu kommen, Argumente abzuwägen und einen vermittelnden Vorschlag im Parlament einzubringen. Das scheint aber nicht der Arbeitsweg der AfD zu sein. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird ihre Arbeitsform beibehalten und seriöse Argumente und Ansichten abwägen. ({2}) Wenn wir dann eine Regulierungsnotwendigkeit erblicken, werden wir auch Lösungsvorschläge unterbreiten. ({3}) Diesen parlamentarischen Standard erfüllt der vorliegende Antrag nicht. Es werden unterschiedliche juristische Ansichten präsentiert. Diese auszudiskutieren, ist Aufgabe der Rechtswissenschaft. Wenn es dann immer noch offene Fragestellungen gibt, dann kann der Gesetzgeber eingreifen. Lassen Sie mich abschließend feststellen, dass ich es putzig finde, wenn nun ausgerechnet die AfD im Bundestag propagiert, die Datenschutz-Grundverordnung würde die Meinungsfreiheit in Artikel 5 GG übermäßig beschneiden. Die AfD will sich mit diesem Schaufensterantrag als Kämpfer für die Medienfreiheit darstellen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird einem solchen Antrag nicht auf den Leim gehen. Wir lehnen diesen ab. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Kamann.

Uwe Kamann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004772, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Bürger! Der vorliegende Antrag der AfD ist, oberflächlich betrachtet, vielleicht sogar nachvollziehbar; denn man könnte den Eindruck bekommen, dass tatsächlich Rechtssicherheit hergestellt werden soll. Schaut man aber etwas tiefer in diesen Antrag hinein, müsste man ihn sehr kritisch betrachten. ({0}) Es gilt gewiss, die Frage zu klären, ob nach dem aktuellen Sachstand etablierte Medienunternehmen nicht eine unzulässige Privilegierung erfahren – zulasten von selbst ernannten Bloggern, Hobbyjournalisten und anderen Mitwirkenden am öffentlichen Diskurs. Ich möchte vorab betonen: Es ist gut, dass es ein europäisches Gesetzeswerk gibt. Das hilft vielen Unternehmen, die europaweit tätig sind, auf einer gemeinsamen Grundlage zu arbeiten, auch wenn es erhebliche Schwächen hat, welche dringend nachzubessern sind. Die deutsche Medienlandschaft ist bunt und vielfältig, und die Vertriebskanäle in den sozialen Netzwerken stehen zudem faktisch jedem offen. Aber die Meinungsfreiheit ist eben nicht bedroht, wenn das Medienprivileg auf den beschriebenen Personenkreis nicht ausgeweitet wird und dieser zum Beispiel keine personenbezogenen Daten speichern darf. Das Medienprivileg gemäß dem vorliegenden Antrag auszuweiten, würde darüber hinaus zu mehr statt weniger Rechtsunsicherheit führen. Wie bitte definiert sich ein Blogger? Wir kennen alle die Unterschiede aus dem Internet. Es gibt seriöse Blogs, betrieben von ernsthaften Menschen, die ihre Meinungsfreiheit ausüben und Rechte achten. Und dann gibt es viele Hetzblogs und solche, die Verschwörungstheorien und anderen Unsinn verbreiten. Soll jeder, der sich die WordPress-Software herunterlädt und in die Tasten haut, mit einem Journalisten gleichgestellt werden, der von seinem Beruf lebt und klare Regeln befolgt? Ich meine, nicht. ({1}) Wollen Sie von der AfD allen Ernstes das berechtigte Interesse des Schutzes von personenbezogenen Daten – ({2}) – nein, das war nicht mein Antrag, definitiv nicht; Sie müssen mal richtig zuhören, lieber Herr Kollege – tatsächlich den Interessen von jedem Blogger und Influencer opfern? Noch diffuser wird es bei denen, die im Bereich Öffentlichkeitsarbeit tätig sind. Hier ist die Auflistung derart vage, dass es mir nicht möglich erscheint, diese Personengruppe auch nur ansatzweise klar zu definieren. Blogger, YouTuber, Influencer, Hobbyjournalisten und wer noch alles sind gewiss keine bedrohte Spezies. Der AfD-Antrag hat unter anderem darin einen kapitalen Systemfehler und ist nicht zu Ende gedacht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kamann, achten Sie bitte auf das Signal.

Uwe Kamann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004772, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sofort. – Er ist deshalb meiner Ansicht nach im Interesse des Datenschutzes aller Menschen in diesem Lande abzulehnen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Martin Rabanus für die SPD. ({0})

Martin Rabanus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon reichlich verlogen, wenn die AfD nun vermeintlich Presse-, Meinungs- und Medienfreiheit für sich entdeckt; denn sonst hört sich das vollkommen anders an. Sonst sind Zeitungen und Qualitätsmedien für sie Lügenpresse, ({0}) sonst ist öffentlich-rechtlicher Rundfunk abzuschaffen, ist das Staatsrundfunk. Kritische Berichterstattung ist auch nicht so Ihre Sache. Sie sind eher für Fake News als für Fakten. Sie lassen auch sonst keinen Anlass aus, um Journalistinnen und Journalisten in ihrer Arbeit zu behindern und nicht zu befördern. ({1}) Ebenfalls lassen Sie normalerweise keine Gelegenheit aus, die Datenschutz-Grundverordnung in Bausch und Bogen abzulehnen als Stückwerk, als Chaos, das sie bringen würde. ({2}) Und am besten müsse man sie sofort aussetzen. ({3}) Auch mit dem Datenschutz ist es nicht besonders weit her. Meine Kollegin Saskia Esken hat schon darauf hingewiesen. Sie zeichnen sich eher durch dubiose Meldeportale aus, bei denen für Sie Datenschutz und Persönlichkeitsrechte offensichtlich keine Rolle spielen. ({4}) Tatsächlich ist es so wie schon beim Deutsche-Welle-Gesetz: ein kleines trojanisches Pferd, auf das Sie außen Meinungsfreiheit, Staatsferne und Pressefreiheit draufschreiben, ({5}) und tatsächlich ist da AfD-Interesse drin, um mehr geht es auch bei diesem Antrag nicht. ({6}) Sie wollen ganz offensichtlich für sich als Personen, als Partei und für Ihre rechten Schmierfinken im Netz ein Paar Privilegien rausholen. Das ist unanständig, das gehört sich nicht, und das machen wir nicht mit; das ist ja wohl klar. ({7}) Tatsächlich ist es kein Geheimnis – um jetzt mal zur Sache zu kommen –, dass auch die SPD einen konkreten Handlungsbedarf bei der Umsetzung von Artikel 85 DSGVO sieht ({8}) und dass wir hierzu auch Formulierungsvorschläge vorgelegt haben. Es gibt Unsicherheiten. Es gibt natürlich die Umsetzung im Bereich der Landesrechte; das ist vorgenommen worden. Aber wir denken auch, dass es noch Unsicherheit im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit, der Meinungsäußerungsfreiheit und im Bereich des Rechtes am eigenen Bild gibt. Aber: Das muss da beraten werden, wo es hingehört, nämlich bei der im parlamentarischen Verfahren befindlichen Gesetzgebung zum Zweiten Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetz. In diesem Rahmen werden wir das in aller Ruhe miteinander beraten und nicht im Rahmen eines Schaufensterantrags, wie Sie ihn vorgelegt haben. Es muss im Kern darum gehen, dass Datenschutz und Meinungsfreiheit nicht gegeneinander ausgespielt werden, dass sie nicht in Stellung gegeneinander gebracht werden, dass es einen Ausgleich zwischen dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit und dem Recht auf informelle Selbstbestimmung gibt, dass wir die Abwägung haben zwischen den berechtigten Interessen der betroffenen Personen am Schutz ihrer personenbezogenen Daten und der Meinungsäußerungsfreiheit auf der anderen Seite. Das wird die Koalition in aller Ruhe in den parlamentarischen Verfahren machen, die dafür vorgesehen sind. Einen Antrag wie den Ihrigen brauchen wir dafür nicht. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Abschluss der Debatte noch einmal darauf hinweisen, dass die Datenschutz-Grundverordnung – jetzt acht Monate in Kraft – ein Zeichen eines starken Europas ist. Wir haben es geschafft, die Regeln des Datenschutzes anzugleichen und damit für alle Bürgerinnen und Bürger in Europa das gleiche Datenschutzniveau zu gewährleisten. Beim Datenschutz geht es vor allen Dingen um eines: um die persönliche Integrität eines jeden Einzelnen. Und das ist zu einem Zeitpunkt, an dem wir darüber sprechen, wie wir Menschen schützen können, indem wir die Daten schützen, glaube ich, eine wichtige Errungenschaft. Ich bin froh, dass sich viele der Befürchtungen, die im Vorfeld geäußert worden sind, in der Luft zerschlagen haben. Deswegen kann man sagen, dass der gemeinsame europäische Datenschutzraum auch eine europäische Datenschutzerfolgsgeschichte ist, und darauf sollten und können wir auch stolz sein. ({0}) In Bezug auf die Meinungs- und Informationsfreiheit enthält die Datenschutz-Grundverordnung eine sogenannte Öffnungsklausel. Die Öffnungsklausel dient der Erfüllung der Meinungs- und Informationsfreiheit sowie der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, genannt: Medien- und Wissenschaftsprivileg. Dabei ist die Frage „Was ist Meinungsäußerung?“ weit zu fassen, ganz im Sinne des Bundesverfassungsgerichts. Es geht um den offenen Diskurs in einer Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund kann und muss man formulieren, dass das Medienprivileg einen weiten Anwendungsspielraum hat. Der Begriff des Journalismus ist weit gefasst; es kommt nicht allein auf die Gewinnerzielungsabsicht an. Die meinungsbildende Tätigkeit muss aber irgendwie prägender Bestandteil sein und darf nicht als schmückendes Beiwerk betrachtet werden. Wir brauchen eben doch eine Differenzierung zwischen den einen, die informieren und berichten wollen, und den anderen, die das kommerziell tun; sonst würden wir dieses Medienprivileg ad absurdum führen. ({1}) Meine Damen und Herren, die Übertragung des Medienprivilegs auf Politiker geht völlig fehl. Wer das fordert, hat den Verfassungsstaat nicht verstanden. Das Medienprivileg folgt ja gerade aus der Kontrollfunktion einer freien Presse gegenüber der Politik. ({2}) Deswegen kann die Politik nicht automatisch die gleichen Befugnisse besitzen, die wir den Medien zu Recht gewährleisten. Wer das möchte, will im Grunde genommen Medien und Politik nivellieren, indem er beide Rechte abschafft, und das ist, glaube ich, ein Stück weit Ihre Intention in dem Antrag. Wenn ich mir ansehe, dass wir vor einem Jahr hier im Deutschen Bundestag auf Antrag der AfD debattiert haben, ob man Deniz Yücel öffentlich missbilligen soll für eine journalistische Tätigkeit, die er vollbracht hat, wenn ich lese, dass Ihr Kollege Tino Chrupalla in Bezug auf die Medien von Feindpropaganda spricht und schwarze Listen von unseriösen Pressevertretern anlegen möchte, dann rufe ich Ihnen zu: Sie haben die freie Gesellschaft nicht verstanden, und sie wollen Meinungs- und Pressefreiheit in diesem Lande relativieren. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({3}) Wir werden über die Frage diskutieren, inwiefern wir eine Generalklausel brauchen oder nicht. Das Kunsturhebergesetz ist seit 100 Jahren eine starke privilegierende Vorschrift für Fotografen und Journalisten. Aber wir wollen diese Debatte im Respekt vor der Presse- und Meinungsfreiheit führen; wir wollen die Debatte führen vor dem Hintergrund des notwendigen Datenschutzes. Wir werden sie nicht führen mit Missbilligung und Verachtung für die demokratische Ordnung, so wie Sie das tun. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/7430 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, allerdings ist die Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wollen eine Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat; die AfD-Fraktion wünscht Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der AfD – Federführung Ausschuss Digitale Agenda – abstimmen. Wer stimmt dafür? – Das sind AfD und FDP. – Wer stimmt dagegen? – Das sind CDU/CSU, SPD, Grüne und Linke. Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt. ({0}) Ich lasse über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD – Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat – abstimmen. Wer stimmt dafür? – Das sind Linke, SPD, Grüne und CDU/CSU. Dagegen? – FDP und AfD. Damit ist der Überweisungsvorschlag angenommen.

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau ­Karliczeks Platz ist halb leer. Sie gibt wohl gerade ein Interview, wie Ende November in der „Zeit“, als sie mit einem Satz die Deutsche Transfergemeinschaft wegbürsten wollte. Sie sei – ich zitiere – „nicht dafür, ständig neue Strukturen aufzubauen“. Mit diesem Basta-Satz hat die Ministerin die Debatte nicht beendet; sie hat sie geradezu eröffnet – ({0}) übrigens auch die Debatte über ihre eigene Glaubwürdigkeit als vorgebliche Jeanne d’Arc für Mittelstand, berufliche Bildung, Fachkräfte und Transfer. So billig kann sich die Ressortchefin nicht aus der Debatte stehlen. Denn zugleich fordert sie, dass über den Forschungstransfer die Innovationspipeline dieses Landes stets gefüllt wird. Wer trägt denn dafür die politische Verantwortung? ({1}) Liebe Frau Karliczek – Herr Staatssekretär, nehmen Sie das mit! –, die Schonfrist als Kabinettsnovizin nähert sich dem Ende. ({2}) Was tun Sie denn für die Hochschulen, die sich bei der Anwendung in der Praxis richtig reinhängen? ({3}) Es sind übrigens die Hochschulen neben den Milchkannen, ({4}) die einen Schlüsselbeitrag zum Transfer leisten, oft mit magersten Ressourcen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft bedenkt die Fachhochschulen hierzulande mit einem halben Prozent ihrer Forschungsgelder. Das ist so viel wie für die germanistische Mediävistik. Und Ihre 60 Millionen Euro Bundesmittel für Forschung und Entwicklung an Fachhochschulen? Der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Peter-André Alt, hat sich ja entsprechend geäußert: ({5}) Tropfen auf die heißen Steine. Meine Damen und Herren, nur 35 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen investieren in Innovation. Diese Innovationsarmut schönzureden, gilt nicht mehr. ({6}) „Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.“ Das ist übrigens ein Satz von ({7}) Kurt Schumacher. ({8}) Seine heutigen Genossinnen und Genossen haben die Deutsche Transfergesellschaft in den Koalitionsverhandlungen zwar thematisiert, aber dazu kein Wort im Koalitionsvertrag ausgehandelt. Kein Wunder, denn die CDU/CSU windet sich bei dem Thema wie ein Aal. Konservative setzen ja bei solchen Themen gerne auf mehr vom Selben. ({9}) Insofern schlagen wir Ihnen heute einen kühnen Wurf vor: ({10}) die Deutsche Transfergemeinschaft ({11}) – ja, oho! –, ({12}) eine Organisation, die weder Reparaturbetrieb für Unternehmen ist noch Elfenbeinforschung für die Hochschulen betreibt. ({13}) Der Clou dabei: Wir lesen die zwischen zwei Ministerien zerfledderten Mittel auf und bündeln sie – kein Silo-Denken mehr im Hause Altmaier und auch nicht im Hause Karliczek, sondern gemeinsame, interministerielle Verantwortung. ({14}) Wir wollen eine Deutsche Transfergemeinschaft, die die nötigen Projekte in Wirtschaft und Zivilgesellschaft sauber auswählt, gerne mit den bewährten Netzwerken, wie etwa der Industriellen Gemeinschaftsforschung unter dem Dach der AiF, als Rückgrat. Die bekäme so einen weiteren Schub. ({15}) Wir wollen eine Deutsche Transfergemeinschaft, die Oberfranken genauso befruchtet wie die Lausitz, die wirtschaftlich und demografisch geforderte Regionen stärkt, die sich um Lebensqualität, um soziale Innovation und Gesundheit kümmert, die Hochschulen beflügelt, die für den Transfer brennen. Wir Freien Demokraten kämpfen dafür, das innovative Potenzial dieses Landes zu entfesseln. Die CDU/CSU lacht. ({16}) Lassen Sie uns nicht ständig darüber diskutieren, was alles nicht geht. Lassen Sie uns endlich darüber reden, was alles möglich ist. ({17}) Ran an den Speck, Frau Karliczek! ({18})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Andreas Steier. ({0})

Andreas Steier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004903, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht lassen wir ein bisschen mehr Sachlichkeit in die Debatte einkehren. ({0}) Wenn wir über Transfer sprechen, dann nutzen wir ein vielgenutztes Wort, das manchmal auch als Passwort verwendet wird. Vielleicht sollten wir uns ein klein bisschen mehr darauf konzentrieren, was mit Transfer gemeint ist. ({1}) Da sollten wir in der Debatte vielleicht zuerst ansetzen. Beim Transfer ist meist die Frage entscheidend, ob wissenschaftliche Erkenntnis auch einen Output bringt. Bei Transfer sprechen wir über viele Dinge: Wir sprechen über die immer wieder zitierte Zahl der Neugründungen von Start-ups, aber auch von Innovationen in bestehenden Unternehmen. Wir sprechen bei Transfer auch davon, wie Innovationen in kleine und mittelständische Unternehmen reingebracht werden. Bei Transfer geht es auch darum, dass Köpfe aus der Wissenschaft, aus der Forschung in die Unternehmen wechseln. Beim Transfer müssen wir auch darüber sprechen, wie entsprechende Patente und wissenschaftliche Publikationen gefördert werden und wie wir das alles zusammenbringen. Transfer und Transferleistungen – das haben Sie richtig zitiert – sind bei uns im Koalitionsvertrag zentral vermerkt, ({2}) und die Bundesregierung steht dafür, dass wir den Transfer weiter stärken wollen. ({3}) Die entscheidende Frage ist dabei natürlich: Wie schaffen wir den Transfer? ({4}) Herr Sattelberger, eine zusätzliche Behörde, eine zusätzliche Transfergemeinschaft findet – erstens – noch keinen neuen Forscher und noch keinen neuen Unternehmer. Das heißt, man schafft nur eine zusätzliche Verwaltungseinheit. ({5}) Zweitens erreicht man so keine Vernetzung vor Ort. Wir müssen die Kräfte vor Ort stärken, damit weiterhin Transfer stattfinden kann. Eine Bundesbehörde stellt hier keine Lösung dar. Ich kann Ihnen sagen: Ich komme aus dem Wahlkreis Trier, und Trier ist weit entfernt von Berlin. Schon vor 2 000 Jahren wurden bei uns führende Innovationen vorangetrieben. ({6}) Von daher gilt es, die Regionen zu stärken, anstatt eine neue Behörde zu schaffen. ({7}) Wenn es um Transfer geht, dann sollte man sich auch mal gewisse Innovationsindikatoren anschauen, Herr Sattelberger. Ich darf hier den BDI, das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung und auch das ZEW erwähnen, das im Dezember einen „Innovationsindikator“ vorgestellt hat. Dort heißt es – ich darf zitieren –: Der Austausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft im Innovationsprozess ist in Deutschland insgesamt gut entwickelt. ({8}) Es heißt sogar weiter, dass die „Interaktionen zwischen Unternehmen und öffentlicher Forschung zu den Stärken Deutschlands“ im internationalen Vergleich zählen. Richtig ist aber auch, dass in gewissen Bereichen die Innovationskraft nachlässt. Da gilt es, zielgenau nachzusteuern, aber nicht mit einer solchen Behörde, sondern dort, wo nachgesteuert werden muss. Gerade bei kleinen und mittelständischen Unternehmen lässt die Innovationskraft nach. Das liegt zum Teil am Fachkräftemangel. Es liegt auch daran, dass in kleinen und mittelständischen Unternehmen zum Teil die Unternehmensnachfolge nicht geklärt ist. Da gilt es, zielgenau mit unseren Maßnahmen anzusetzen. ({9}) Es ist weiterhin so, dass wir gerade bei wirklich innovativen, neuen Produkten nachbessern müssen. Da setzt die Regierung an, da setzen wir von der Großen Koalition an, da wollen wir nachbessern. Ein anderer Bereich, über den wir sprechen sollten, sind dynamische Innovationsprozesse gerade im digitalen Bereich. Da müssen wir nachsteuern, und das werden wir auch tun. ({10}) Und wenn man über Nachsteuern redet – Herr Röspel, vielen Dank für den Applaus –, dann muss man zuerst einmal eine neue Dynamik entwickeln. ({11}) Das schaffen wir aber nicht mit einer neuen Verwaltungseinheit, sondern wir müssen dort, wo es notwendig ist, eine neue Dynamik entwickeln. Ich freue mich, dass unser Wirtschaftsminister Peter Altmaier heute Morgen die steuerliche Forschungsförderung erwähnt hat. Denn damit fördert man die kleinen und mittelständischen Unternehmen, und da setzen wir an. ({12}) Da kommt Geld direkt von oben, vom Staat, auch unten beim Unternehmen an. Da sind wir dran, und das werden wir auch umsetzen. Ich darf noch einen zweiten Punkt nennen. Wenn man über wirklich zielgenaue Förderung spricht, dann muss man auch darüber sprechen, neue, innovative Geschäftsmodelle zu fördern. In der Vergangenheit haben wir ja auch die Agentur zur Förderung von Sprunginnovationen unterstützt, die neue Modelle zielgenau fördert. Das müssen wir in die Umsetzung bringen. ({13}) Wenn man über Anreizsysteme in der Wissenschaft spricht, dann muss man auch darüber sprechen, wie man sie wirklich umsetzen kann. Zurzeit sind wir in neuen Verhandlungen zum Pakt für Forschung und Innovation. Eine Messgröße ist dabei natürlich der Transfergedanke, den wir dort unterbringen wollen. Und der Transfergedanke ist bei uns natürlich je nach Forschungsinstitut bzw. Hochschule missionsspezifisch. Nur wenn wir missionsspezifisch vorgehen, können wir Ziele definieren. Und über die Definition von Zielen können wir Kriterien festlegen, die wir von Zeit zu Zeit in zyklischen Abständen immer wieder evaluieren. Dadurch können wir unsere Gelder zielgenau vor Ort verausgaben. Natürlich muss auch eine Vernetzung mit den Forschungseinrichtungen, mit den Ländern, mit den Kommunen und auch mit den Unternehmen vor Ort stattfinden. Denn nur wenn man den Unternehmergeist vor Ort stärkt, wird es eine gute Entwicklung geben. Es ist nicht so, dass es hier in Deutschland keine Bereitschaft der Unternehmer zur Vernetzung gäbe, aber wir müssen sie auch fördern, damit sie bereit sind, ins Risiko zu gehen, neue Investitionen zu tätigen und etwas zu machen. Der Staat muss nicht etwas machen, sondern der Staat muss Macher fördern. Dann sind wir auf dem richtigen Weg. Das wollen wir in der Diskussion weiter vorantreiben. ({14}) Ich darf zusammenfassen: Wir brauchen keine zusätzliche Verwaltungsstruktur – nein, wir müssen die Stärken in unserem Prozess weiter ausbauen. Wir müssen zielgenau da nachbessern, wo es nachzubessern gilt. Und vor allem müssen wir eine Vernetzung vornehmen. Dafür brauchen wir keine neue Verwaltungsstruktur. Ich freue mich schon auf die Diskussion im Ausschuss. Vielen Dank. ({15})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Michael Espendiller. ({0})

Dr. Michael Espendiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004711, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir debattieren heute einen Antrag der FDP, der sich dem Innovationstransfer von der Wissenschaft in die Praxis widmet. Zunächst ein kurzer Problemaufriss, worum es hier überhaupt geht: Wir finanzieren in Deutschland in durchaus beachtlichem Maße die Grundlagenforschung an unseren Universitäten. Auch das ist natürlich noch ausbaufähig. Aber im Verhältnis dazu fristet die Finanzierung und Förderung von anwendungsorientierter Forschung ein Schattendasein. Viele Innovationen bleiben ungenutzt „im Aktenschrank“; Potenziale werden nicht erkannt und auch nicht genutzt. Insofern sind wir uns mit der FDP in der Problemanalyse einig. Zur Lösung dieser Misere fordern die Kollegen der FDP die Gründung einer Deutschen Transfergemeinschaft, kurz: DTG. Die DTG ist nach den Plänen der FDP eine Behörde, in der ein bunt zusammengewürfeltes Grüppchen von Leuten über die Vergabe von Projektfördermitteln entscheidet. Dafür müssen Unternehmen und Hochschulen sich einem bürokratischen Prozess unterziehen. Das Geld kommt vom Staat, also vom Steuerzahler. Bisherige Transferprojekte sollen zur Finanzierung zusammengelegt werden. Die Kosten sollen sich insgesamt zukünftig auf 1 Milliarde Euro belaufen. Ihnen, liebe Kollegen von der FDP, geht es um eine bessere wirtschaftliche Verwertung von Forschungsergebnissen. Jetzt mal ganz im Ernst: Das Beste, was Ihnen dazu einfällt, ist die Schaffung einer neuen planwirtschaftlichen Behörde zur Produktion von Innovationen? ({0}) Sie vergessen dabei das Wichtigste, Herr Sattelberger: Der Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen in marktreife Produkte ist ein schöpferischer, individueller Akt, der aus Fleiß, Disziplin, Vorstellungskraft und eigenem Willen heraus geschieht. ({1}) Sind Sie in Ihrer Staatsgläubigkeit mittlerweile ernsthaft so weit, ({2}) dass Sie glauben, solche Ergebnisse mit Bürokratie zu erreichen? Der Grundsatz Ihres Antrags ist beschämend; das ist Magenta-Sozialismus in Reinform. ({3}) Interessant ist auch, dass die Idee einer Transfergemeinschaft gar nicht von der FDP selbst kommt, sondern bereits seit längerer Zeit diskutiert wird, zum Beispiel vom Bundesverband mittelständische Wirtschaft, in dessen Geschäftsleitung der Ex-FDP-Abgeordnete Patrick Meinhardt sitzt. Ebenfalls unterstützt wird die Forderung von der Hochschulallianz für Mittelstand – Sie erwähnen das in Ihrem Antrag. Praktischerweise wird deren Beirat vom Antragsteller selbst, dem FDP-Kollegen Sattelberger geleitet. ({4}) Beiden Verbänden käme ein Fördertopf in Höhe von 1 Milliarde Euro sicherlich nicht ungelegen. Liebe Kollegen von der FDP, Sie sprechen ja im Plenum häufiger davon, dass Sie die Serviceopposition sind. Ich habe das am Anfang nicht so ganz verstanden; mittlerweile ist mir aber klar: Sie bieten nach wie vor Servicedienstleistungen für Lobbyisten an! ({5}) Was unsere Unternehmen tatsächlich brauchen, ist mehr Freiraum für eigene Projekte. Deutschland ist nach wie vor ein unattraktiver Standort für die Gründung von Unternehmen und für den Einsatz von Wagniskapital. Wir ersticken jede Idee in einem Berg aus Vorschriften, Formularen, Genehmigungen, Besteuerungen, Zwangsmitgliedschaften in Kammern, Verbänden und der nannyhaften „Fürsorge“ durch staatliche Institutionen. Dieser freiheitsfeindliche Sozialismus ist das Ende jeder Innovation. ({6}) – Den Antrag habe ich gelesen: Sie wollen eine Behörde haben. Das haben wir auch von der Union gehört. ({7}) Wir vertreten hier auf jeden Fall das Gegenteil. Wir haben bereits einen eigenen Antrag eingereicht, in dem wir die steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung fordern. ({8}) Der liegt im Moment im Finanzausschuss. Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, wird aber den erhofften Aufschwung alleine auch noch nicht bringen. Dabei ist die Lösung denkbar einfach: Geben wir den Menschen Freiheit! Lassen wir sie in Ruhe! Hören wir auf, ihnen noch eine Behörde, noch ein weiteres Subventionsprogramm und noch eine Richtlinie reinzudrücken! Lassen wir sie einfach machen! ({9}) Dazu müssen wir ihnen aber die nötigen finanziellen und rechtlichen Freiheiten geben. Senken wir endlich die Steuern! Reduzieren wir staatliche Markteintrittsbarrieren, und lassen wir unsere hervorragenden Universitäten und Fachhochschulen ihre Zusammenarbeit mit der Wirtschaft alleine regeln, Herr Sattelberger! Das können die vor Ort sowieso viel besser machen als eine zentralistisch geführte Behörde, die regelmäßig den Fünfjahresplan für den Patent-Output herausgibt. Was kleine und mittelständische Unternehmen für Innovationen brauchen, ist Zeit und Geld – Geld, das der Staat ihnen nicht wegversteuert, um es dann umzuverteilen, und Zeit, die die Unternehmen mit jeder Stunde beim Steuerberater, jedem Briefwechsel mit dem Finanzamt, dem Ordnungsamt oder der GEZ verschwenden und in der sie nicht innovativ sein können. Liebe Mitarbeiter der Serviceopposition, Sie haben sich wirklich sehr weit von Marktwirtschaft, Freiheit und ordnungspolitischen Grundsätzen entfernt ({10}) und steuern jetzt mit Vollgas Richtung DDR. ({11}) Wir hoffen auf ein Umschwenken Ihrerseits und freuen uns auf die kommende Debatte. ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Dr. Manja Schüle hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Manja Schüle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004885, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Was haben die weltweit erstmals angebotene umfassende Darmflora aus Wildau, passgenaue Unterhemden aus Teltow und eine Wurstpelle eines Hotdogs aus Potsdam gemein? Herr Sattelberger, Sie haben bestimmt eine Idee! ({0}) Ich helfe Ihnen – es ist ja auch ein bisschen spät –: Das alles sind Innovationen aus Brandenburg. Diese Information ist für mich wichtig – für Sie vielleicht nicht so sehr. Aber die zweite Information ist insgesamt wichtig: Das sind Innovationen, die in Zusammenarbeit von einer Hochschule für angewandte Wissenschaften, einem Forschungsinstitut und einem Unternehmen entwickelt worden sind. Sie wurden also in der Forschung entwickelt oder mithilfe der Forschung optimiert, und in Zusammenarbeit mit einem Unternehmen wurden aus den Ergebnissen Produkte, und diese Produkte können wir heute kaufen. Das heißt, die Innovationen sind in der Breite angekommen. Mit der Agentur für Sprunginnovationen wollen wir die Innovationen mit hoher Durchschlagskraft fördern. Neben der Konzentration auf die Spitze müssen wir aber auch das Wachstum in der Breite in den Blick nehmen. Für mich ist das kein Widerspruch; das sind zwei Seiten einer Medaille. Der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum wird nicht müde, uns darauf hinzuweisen, dass wir eine Wissensinfrastruktur brauchen, die das Wissen von oben nach unten durchreicht und eine Innovationskette zulässt, die lückenlos ist. Denn wir brauchen Wachstum da, wo in der Vergangenheit am häufigsten keines stattgefunden hat, nämlich bei den normalen Unternehmen. Das ist auch kein Selbstzweck für uns, sondern das entscheidet heute und vor allem morgen darüber, wie wir unsere Arbeitsplätze sichern können, wie wir Steueraufkommen sichern können und wie wir den gesellschaftlichen Fortschritt auch in den nächsten Jahrzehnten absichern können. ({1}) – Jetzt hören Sie doch zu, Herr Sattelberger! Jetzt kommt die Überraschung für Sie! Genau an diesem Punkt kommt die Deutsche Transfergemeinschaft ins Spiel, die wir Sozialdemokraten unterstützen. – Jetzt will ich Beifall von Ihnen! ({2}) Schauen wir uns unsere stark mittelständisch geprägte deutsche Wirtschaft an. Sie muss von den Ergebnissen der Grundlagenforschung genauso profitieren, wie sie auf die angewandte Forschung angewiesen ist. Deshalb verbietet sich aus meiner Sicht auch eine Verengung der Debatte auf „Was ist besser, Grundlagen- oder Anwendungsforschung?“. Das wäre kurzsichtig und falsch; denn wir brauchen beides. ({3}) Wir brauchen neben exzellenter Grundlagenforschung einen strukturierten und einfacheren Zugang zu Anwendung und zu Kooperationen. Was wir haben, sind gute Förderprogramme in den Bereichen Wissenstransfer, Technologietransfer und, ja, auch Unternehmensgründung. Diese zu bündeln und zu flexibilisieren und vor allen Dingen auch die Fachhochschulen als strategische Partner unserer regionalen Wirtschaft in den Blick zu nehmen, das ist dann die Aufgabe einer Transfergemeinschaft. Warum Fachhochschulen? Das ist ganz einfach: Die sind im besten Alter, nämlich 51, sie sind bestens aufgestellt, sowohl regional als auch thematisch, sie haben mittlerweile über 50 000 bestens ausgebildete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und über 1 Million Studierende. Das Gründungsmoment für unsere Fachhochschulen vor 51 Jahren war das Bekenntnis unseres Landes „Bei uns zählt jedes Talent“. Mittlerweile zählen die Fachhochschulen oder auch die Hochschulen für angewandte Wissenschaften zu den verlässlichsten Partnern unserer regionalen Wirtschaft, und sie sind darüber hinaus Wissens- und Qualifizierungsanker. Sie haben damit eine ganz eigene Güte innerhalb unseres Systems entwickelt. Und seien wir ehrlich: Wir alle reden wahnsinnig gerne und stolz über unsere Fachhochschulen als Wirtschaftsmotoren und als Anker. Aber das Benzin oder den Kraftstoff, den geben wir ihnen ganz oft nicht. Das kann so nicht bleiben. ({4}) Bedauerlicherweise enden an dieser Stelle unsere Gemeinsamkeiten mit Ihnen, mit der FDP. An anderer Stelle werden Sie nie müde, den schlanken Staat zu fordern, liebe Liberale. ({5}) Aber hier diskutieren Sie eine Ansiedlung der Transfergemeinschaft als Organisationseinheit unter dem Dach von zwei Bundesministerien? Hoppla, einen schlanken Staat stelle ich mir anders vor. ({6}) Auch Ihr zweiter Vorschlag irritiert mich. Sie können sich die Deutsche Transfergemeinschaft als einen zusätzlichen Zweig der Deutschen Forschungsgemeinschaft vorstellen. Sie selbst stellen in Ihrem Antrag fest, dass von den 2 Milliarden Euro, die 2016 an die Hochschulen geflossen sind, nur 0,5 Prozent an die Fachhochschulen gegangen sind. ({7}) Nur 0,5 Prozent gingen an die Fachhochschulen, weil die DFG eben auf Grundlagenforschung ausgerichtet ist und nicht auf Anwendungsforschung. Deswegen wollen wir eine unabhängige Transfergemeinschaft auf Augenhöhe und nicht als Annex der Deutschen Forschungsgemeinschaft. ({8}) Dabei kann und soll aus unserer Sicht auf die Erfahrungen der Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen genauso wie von acatech oder VDI zurückgegriffen werden. Sie haben sich aus unserer Sicht längst als Partner und als Plattform für den Transfer von Forschungsergebnissen empfohlen. Liebe FDP, wir teilen das Grundanliegen Ihres Antrags. Wir freuen uns vor allen Dingen darüber, dass nun endlich auch Sie in der deutschen Realität angekommen sind. Bisher kannte ich von der FDP – das muss ich ehrlicherweise sagen – immer nur die Kopie des US-amerikanischen Modells: Im Anschluss an Grundlagenentwicklung oder -forschung gibt es einen Haufen Risikokapital, mit dem man einen Prototypen entwickeln kann, den man demonstrieren kann und mit dem man in die Serienfertigung gehen kann. ({9}) Mit dem vorgelegten Antrag beweisen Sie, dass Sie in der deutschen Realität angekommen sind. Dazu von mir ein aufrichtiges Chapeau! Ich freue mich über die Debatte über das Wie und Wann im Ausschuss, lieber Herr Sattelberger. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Dr. Petra Sitte. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind uns hier also grundsätzlich einig, dass Transfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zu fördern ist – Punkt. Aber ein Modell des Wissenstransfers, wie es die FDP mit der Transfergemeinschaft will, engt aus meiner Sicht bei diesem Zuschnitt am Ende den Transfer ein. Warum? Weil es vor allem auf Unternehmensinteressen fokussiert ist; Gesellschaft und Wissenschaft werden nachrangig. ({0}) – Moment, diese schönen Schaufenstersätze habe ich gelesen. An die glaube ich nicht mehr nach dem, was ich hier erfahren habe. ({1}) Forschungspolitik ist weit mehr als Wirtschaftsförderung bzw. Industriepolitik. Es bedarf beim Wissenstransfer einer Balance zwischen Forschung, Gesellschaft und Wirtschaft. Vor allem die gesellschaftliche Dimension, insbesondere die Gemeinwohlorientierung, gewinnt angesichts der technologischen Brüche, die in dieser Gesellschaft zu bewältigen sind, immer mehr an Bedeutung. ({2}) Ich möchte noch einen zweiten Punkt dieses Antrags ansprechen, weil er für mich zeigt, dass ein Paradigmenwechsel in der Innovationsförderung verfolgt wird. Die stark nachgefragten und erfolgreichen Transferprogramme des Wirtschaftsministeriums und des Forschungsministeriums wie Zentrales Innovationsprogramm Mittelstand, „Mittelstand innovativ!“ oder Industrielle Gemeinschaftsforschung sollen in dieser Transfergemeinschaft aufgehen. – Ich finde, wir brauchen uns hier nicht gegenseitig etwas vorzumachen. Das bedeutet am Ende, dass diese Programmlinien abgeschafft werden. Und das halte ich für ziemlich widersinnig angesichts des Erfolges dieser Programme. Das Programm ZIM beispielsweise hat 2017 laut Bundesbericht Forschung und Innovation 3 500 Einzel- und Kooperationsprojekte mit über 550 Millionen Euro gefördert. Laut einer Studie des Wirtschaftsministeriums konnte der Umsatz in ZIM-Projekten um zwei Drittel gesteigert werden. Das ergab immerhin einen Beschäftigtenzuwachs von 60 Prozent. Jedes fünfte Projekt der Industriellen Gemeinschaftsforschung hat in Deutschland Trends gesetzt und gab eine Initialzündung mit neuen wissenschaftlich-technischen Ansätzen. Das ist auch nicht verwunderlich; denn 56 Prozent der beteiligten Forschungseinrichtungen waren Hochschulen. Wenn es nach der FDP geht, soll das alles infrage gestellt werden. Das finde ich, ehrlich gesagt, ein bisschen absurd. ({3}) – Aber natürlich. Hallo, das ist mein Kerngeschäft. ({4}) – Nicht alle. ({5}) – Nein. Da können wir gerne im Ausschuss drüber reden. ({6}) Ich kann Ihnen auch die Verbände nennen. – Insofern war ich erleichtert, dass Ministerin Karliczek, die heute ganz sicher etwas Wichtigeres zu tun hat, dieser Transfergemeinschaft eine Absage erteilt hat. Aber Sie wissen ja, ich lobe nicht oft das Bildungsministerium, und auch in diesem Fall flacht meine überschäumende Begeisterung schon wieder ab: Ich finde, wenn man dieser Transfergemeinschaft eine Absage erteilt, muss man nachlegen. Dann muss man bei dem, was bereits vorhanden ist, nachlegen. Das heißt für uns: Sie müssen bei den Hochschulen beginnen. Entlasten Sie diese. Beenden Sie die Unterfinanzierung der Hochschulen. ({7}) Fachhochschulen und Hochschulen für angewandte Wissenschaften sind ja gerade angesprochen worden. Das bedeutet insbesondere: Stärken Sie Fachhochschulen personell, beispielsweise im Mittelbau. Beenden Sie die permanenten Wettbewerbe zu befristeten Programmen, und reduzieren Sie endlich den Antragsbürokratismus. Lieber Herr Sattelberger, ich glaube nicht daran, dass die Transfergesellschaft am Ende weniger bürokratisch ist. Ich glaube, dass es einer Hochschule ziemlich wumpe ist, ob sie bei der Transfergesellschaft den Antrag stellt, beim Ministerium oder bei der einzelnen Programmlinie bei der DFG. Über die Brücke gehe ich noch nicht. Meine Damen und Herren, trotz manches Schaufenstersatzes fürchte ich: Geht es nach der FDP, werden die strukturschwachen Regionen und der innovative Mittelstand gegen die Größeren – so, wie es schon immer war – verlieren. So wird den Löwenanteil dann wieder – wie immer – der eine oder andere strukturstarke und gut aufgestellte Wirtschafts- und Hochschulstandort abholen. Meine Damen und Herren, auch ich habe mich gewundert – das ist vorhin schon gesagt worden –, dass die FDP eine neue Struktur schaffen will. Sie sagen doch immer, Sie seien die Mittelstandsversteher. Deswegen frage ich mich: Wieso wollen Sie funktionierende Programme abschaffen?

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Solch eine neue Struktur wollen wir nicht. Danke. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Dr. Anna Christmann spricht für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Anna Christmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004694, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns alle einig: Es ist gut, dass wir heute über die Frage des Transfers sprechen. Wir brauchen mehr Transfer. Das ist keine neue Erkenntnis. Deswegen fordern wir als Grüne zum Beispiel die steuerliche Forschungsförderung schon eine ganze Weile. Nur leider haben die letzten drei Regierungen diese Forderung nicht umgesetzt, unter anderem auch die Regierung nicht, an der die FDP beteiligt war. ({0}) Das könnte schneller gehen. ({1}) – Nein. Wir Grüne wissen ziemlich genau, dass wir die Innovationen aus Wirtschaft und Wissenschaft brauchen, um die großen Herausforderungen unserer Gesellschaft bewältigen zu können. ({2}) Es geht in erster Linie eben nicht nur um Wirtschaftsförderung, sondern es muss darum gehen, diejenigen Innovationen voranzubringen, die sozial-ökologisch und zum Wohle unserer Gesellschaft sind. ({3}) Bisher ist bei der Ministerin noch nicht so viel passiert. Wir haben bisher nur Eckpunkte für eine Agentur für Sprunginnovationen gesehen, leider noch nicht mehr als Eckpunkte. ({4}) Auch diese Agentur für Sprunginnovationen scheint eher an der Ministerialbürokratie angelegt zu sein. Bisher ist noch ziemlich offen, wann wir sie sehen werden. Und auch die Mittel für die ganzen Programme, die erwähnt wurden, ZIM usw., wurden in der letzten Zeit nicht signifikant erhöht. ({5}) Das heißt, der Mittelstand wurde von der Regierung bisher nicht besonders freundlich behandelt. Da erwarten wir deutlich mehr Initiative von der Bundesregierung. ({6}) Jetzt gibt es den Vorschlag der Deutschen Transfergemeinschaft. Das ist – das ist ja schon öfter gesagt worden – kein ureigener, neuer Vorschlag, sondern den gibt es schon eine ganze Weile. Er weist natürlich in die richtige Richtung: Wir brauchen mehr Transfer, gerade zwischen kleinen und mittleren Unternehmen und den Hochschulen, die regional wirklich stark aufgestellt sind. Wir sind absolut dafür, diesen Gedanken auch zu stärken. Aber es ist eben entscheidend, dass der Transfer dann nicht nur von der Wirtschaftsseite kommt, sondern auch von der Hochschulseite. Der Gedanke ist richtig, dass man hier neue Antragsmöglichkeiten aus den Hochschulen heraus schafft. Ich empfehle allerdings nicht nur den Blick auf die Innosuisse, die Sie ja auch in Ihrem Antrag nennen, sondern es gibt auch noch andere Innovationsstiftungen in Europa, die es sich anzuschauen lohnt. ({7}) Da gibt es zum Beispiel die Nesta in Großbritannien, die Vinnova in Schweden. Das sind Innovationsstiftungen, die genau diese Innovationen in der sozial-ökologischen Forschung noch mal in einer gezielteren Art und Weise fördern. Ich wäre absolut dafür, dass wir uns diese verschiedenen Modelle noch mal anschauen, bevor man sich hier voreilig auf eine Sache festlegt, und dass wir uns vielleicht auch noch mal im Zusammenhang mit der Agentur für Sprunginnovationen anschauen, wie wir uns insgesamt bei der Innovationsförderung aufstellen – sowohl bei bahnbrechenden Innovationen als auch bei Innovationen in der sozial-ökologischen Forschung –, und auch regionale Innovationskooperationen einbeziehen. ({8}) Das sind die drei Punkte, die für uns entscheidend sind. ({9}) Jetzt möchte ich zum Schluss noch eine Sache sagen zu Ihrem Antrag, lieber Herr Sattelberger. Ein Satz hat mich doch sehr überrascht. Im Antrag steht wörtlich: Zu oft wird in Deutschland noch für die Erkenntnis an sich geforscht … Da möchte ich ganz eindeutig widersprechen. Ich finde es sehr schade, wenn wir Grundlagenforschung und angewandte Forschung hier gegeneinander ausspielen. ({10}) Aus allen Bereichen kommen hier die guten Ideen, die wir brauchen. Das ist leider die Schwäche Ihres Antrages: dieser enge Fokus. Sie sagen, Sie wollen kein Silodenken. Dann sollten wir da auch nicht bei der Einteilung von Forschung anfangen. Ich würde mich freuen, wenn die Bundesregierung sowohl die Grundlagenforschung als auch die Transferfragen in nächster Zeit etwas ambitionierter anpackt. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Der nächste Redner ist der Kollege Uwe Kamann.

Uwe Kamann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004772, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Bürger! Es ist nicht zielführend, Deutschland als hochinnovativen Standort schönzureden. Es ist aber wohlfeil, von Innovationsnotwendigkeit zu reden. Auch ist es in hohem Maße sinnvoll, tragfähige Grundlagen zu schaffen, damit innovatives Gedankengut in die Wirtschaft einfließen und somit gedeihlich genutzt werden kann. Hier kann die Deutsche Transfergesellschaft eine möglicherweise tragende Rolle spielen. Denn wir haben sie ja, die klugen Köpfe in Hochschulen und Forschungseinrichtungen; darüber sollte hier im Hohen Hause Einigkeit herrschen, denke ich. Was nutzen uns Forschungsergebnisse, die in Hochschulen gefeiert werden, jedoch nicht den Weg in die Wirklichkeit finden? Was nutzen uns bahnbrechende Erkenntnisse, die nicht zu mehr Arbeitsplätzen führen, die keine Impulse auslösen, die nicht dazu beitragen, KMU-Unternehmen in diesem Land – die die meisten Menschen in Lohn und Brot bringen – zukunftssicher aufzustellen? So gesehen weist der vorliegende Antrag in die richtige Richtung. Die Vorgabe der Organisation nach dem Prinzip der akademischen Selbstverwaltung, wie es der Antrag vorsieht, ist dabei ebenso zu unterstützen wie die vorgesehene Förderung durch politisch unabhängige Gremien. Dieser Punkt ist mir besonders wichtig; denn es sollte bei der DTG darum gehen, einen der Wirtschaft dienlichen Wissenstransfer zu bewirken – auf Ansätze einer staatlichen Lenkungswirtschaft sollte man getrost verzichten. Wir sind nicht mit Rohstoffen gesegnet, weshalb allein Bildung und Forschung – weiß Gott in diesem Land vernachlässigt! – der Treibstoff sein könnte, der unsere Wirtschaft auf Touren hält und weiterentwickelt. Gehen wir das nicht konsequent, unbürokratisch, mit hinreichender finanzieller Ausstattung an, werden wir im Konzert der bedeutenden Wirtschaftsmächte bald eine der letzten Geigen spielen. Entscheidend dabei können die Fokussierung auf die DTG, die Integration der bereits vorhandenen Förderprogramme, die Schaffung flacher Strukturen, die Vermeidung von bürokratischem Ballast und vor allem Geschwindigkeit in der Umsetzung sein. Deswegen finde ich, der Antrag sollte unterstützt werden. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. Die Rede von Dr. Wolfgang Stefinger geht zu Protokoll. Der Kollege René Röspel, SPD-Fraktion, ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

„Zu oft wird in Deutschland noch für die Erkenntnis an sich geforscht“ – mit diesem Satz, der Anna Christmann auch schon aufgefallen ist, auf der ersten Seite Ihres Antrags haben Sie uns schon verloren, wenn das heißen soll, dass tatsächlich zu oft in Deutschland Grundlagenforschung betrieben wird. ({0}) Wir halten diesen Satz für grundsätzlich falsch, weil Grundlagenforschung tatsächlich Basis unseres Wohlstands und Basis unseres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolges ist. ({1}) „Zu selten wird geprüft, ob eine Erkenntnis auch einen Nutzen stiften kann.“ – Das ist der Satz, der danach kommt. An dieser Stelle könnten wir uns schon wieder näherkommen, weil das tatsächlich eine der beiden Zielsetzungen beschreibt, bei denen wir vielleicht oder wahrscheinlich wieder einig sind. Die erste Zielsetzung ist nämlich: Wie bekommen wir es hin, dass Erkenntnisse, die aus Grundlagenforschung entstehen, tatsächlich auch für Transfer oder für eine kommerzialisierbare Anwendbarkeit genutzt werden, ohne dass es Anforderung an Grundlagenforschung ist, dass so etwas entstehen muss? Da müssen wir zweifelsohne besser werden. Die zweite Zielsetzung wäre tatsächlich: Wie bekommen wir es eigentlich hin, dass anwendungsorientierte Forschung, zielgerichtete Forschung, Forschung, die darauf gerichtet ist, für ein Problem eine Lösung zu finden, verbessert werden kann, gestärkt werden kann und auch der Transfer gestärkt werden kann? Sie haben richtig beschrieben, dass es in Deutschland zwischen diesen beiden Ansätzen ein großes Missverhältnis gibt. Es ist auch unser Bestreben, anwendungsorientierte Forschung zu fördern. Wir glauben, dass die Deutsche Transfergemeinschaft – das ist ja keine Idee der FDP, sondern kommt überwiegend von den Fachhochschulen – da eine gute Idee ist. Tatsächlich haben wir das in den Koalitionsverhandlungen im Gepäck gehabt, konnten es aber nicht realisieren. Sie bemerken in Ihrem Antrag ja auch, dass an vielen Stellen tatsächlich Transfer steht, es transferorientierte Programme gibt, und dass wir jetzt versuchen, das mit einer Allianz für Transfer zu konkretisieren. Wenn ich Ihren Ausdruck von vorhin aufnehmen darf, Herr Sattelberger: Sie sagen: Es ist mal an der Zeit, nicht nur über das zu reden, was nicht geht, sondern zu machen. Das war tatsächlich unsere Handlungsanleitung im letzten Februar, als wir gesagt haben: Wir bekommen nicht alles durch; aber wir sollten endlich das machen, was wir hinbekommen. – Deswegen sind wir in diese Koalition gegangen und haben uns dem nicht verweigert. ({2}) Wir versuchen, die Förderung auch in einem anderen Punkt noch deutlich zu verstärken, bei dem uns seit Jahren immer wieder nur ein kleiner Erfolg beschieden ist. Wir haben im Etat des BMBF rund 55 Millionen Euro, im neuen Haushalt jetzt 60 Millionen Euro für angewandte Forschung an Fachhochschulen. Wir glauben und sind überzeugt, diesen Ansatz sollte man verdoppeln, um eine größere Basis zu bekommen, und einen Pakt für Fachhochschulen machen und diesen wie den Pakt für Forschung und Innovation mit einem jährlichen 3-prozentigen Aufwuchs versehen, damit endlich auch Fachhochschulforscherinnen und -forscher Verlässlichkeit bekommen ({3}) und wissen: Es gibt ausreichend Mittel, und darauf kann man aufbauen. – Vielleicht entwickelt sich daraus dann auch so etwas wie eine Deutsche Transfergemeinschaft. Ein weiterer Punkt. An einer Stelle Ihres Antrags wird es interessant – aber unbeantwortet von Ihnen –, nämlich da, wo Sie beschreiben, dass steuerliche Forschungsförderung und Projektförderung in einem Unternehmen aneinandergeraten können. Sie schlagen vor, jedes Unternehmen könne ja je nach Forschungsprojekt entscheiden, ob es eine steuerliche Forschungsförderung haben will oder eine Projektförderung. Liebe FDP, Sie sind ja immer für den Abbau von Bürokratie. ({4}) Aber ich kann mir vorstellen, was das an Papierkram bedeutet, sich hier immer zu entscheiden! Wahrscheinlich müssten die Unternehmen dann ein vierseitiges ­Sattelberger-Formular einreichen. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/6265 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2018 gab es circa 600 rechtsextrem motivierte Gewalttaten in der Bundesrepublik. Über 400 hatten einen fremdenfeindlichen Hintergrund. Rund 350 Menschen wurden verletzt. Das geht aus den offiziellen Angaben der Bundesregierung hervor. Alle Erfahrung sagt: Das ist noch tiefgestapelt, und die Zahlen sind vorläufig. Umso mehr gilt den Betroffenen unser Mitgefühl, übrigens den heimischen genauso wie Geflüchteten oder Asylsuchenden. ({0}) Die Praxis sieht allerdings anders aus: Häufig werden von Gewalt betroffene Asylsuchende abgeschoben, entweder weil eine vermeintliche Frist abgelaufen ist oder weil sie nach der Gewalttat bestimmte Auflagen, zum Beispiel Tätigkeiten, nicht mehr ausführen können. Diese Praxis ist unmenschlich. ({1}) Mehr noch: Ein Staat, der so handelt, macht die Opfer rassistisch motivierter Gewalt auch noch zu Opfern staatlicher Kälte, und die rassistischen Täter wähnen sich dadurch obendrein im Recht. Das findet Die Linke falsch, und deshalb haben wir einen Antrag zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes vorgelegt. Wir wollen ein Aufenthaltsrecht für Opfer rechter Gewalt. ({2}) Das betrifft eine soziale Frage und zugleich eine rechtsstaatliche. Ein Beispiel mag das illustrieren: Asylsuchende werden Opfer rassistischer Täter. Kommt es deshalb zum Gerichtsprozess, was selten genug in unserem Land passiert, dann können die Opfer der Gewalttat nicht einmal daran teilnehmen und dort Zeugnis ablegen, weil sie aus formalen Gründen des Landes verwiesen wurden. ({3}) Ich finde, das ist auch ein Verstoß gegen Artikel 1 des Grundgesetzes, nach dem die Würde des Menschen unantastbar ist, und zwar aller Menschen. ({4}) Das heißt: Artikel 1 unseres Grundgesetzes gilt für alle Menschen, die in diesem Land leben, und wir müssen das auch durchsetzen. Auch deshalb werbe ich um die Zustimmung zum Antrag der Linken und freue mich, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, dass Sie unserem Anliegen entsprechend zustimmen. Ich habe der Kollegin Polat versprochen, das hier auch gleich zu sagen, sodass sie ihre Rede zu Protokoll geben kann. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner ist, abweichend von der Liste, die wir an der Tafel haben, der Kollege Alexander Throm, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte eigentlich meine Rede zu Protokoll geben wollen, aber halte sie jetzt trotzdem gerne. Die Fraktion der Linken legt uns zu später Stunde ({0}) einen Gesetzentwurf vor, welcher allen ausländischen Opfern rechter Gewalt ein unbedingtes und unbefristetes Bleiberecht in Deutschland gewähren möchte. Das wird begründet mit einer – ich zitiere – „Entschädigung für einen mangelnden effektiven Schutz vor rassistischer Gewalt … in der Bundesrepublik Deutschland“. Ich kann das nicht erkennen. Es gibt keinen absoluten Schutz, nicht nur keinen vor rechter Gewalt, sondern im Grunde genommen vor allen Kriminalitätsdelikten. Aber wir gewährleisten trotzdem einen hohen Schutz, und wir machen gerade in diesem Bereich auch vieles, um die Menschen vor rassistisch motivierter und rechter Gewalt zu schützen. ({1}) Sie führen in Ihren Gesetzentwurf dann weiter aus, dass der – ich zitiere – „Anschein einer – und sei es unfreiwilligen – ‚Kumpanei‘ zwischen rechten Gewalttäterinnen und Gewalttätern und dem Staat vermieden werden“ muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, das ist mehr als verräterisch. Eine Kumpanei zwischen dem Staat und rechten Gewalttätern kann ich nicht erkennen. Das ist ein schwerer Vorwurf ohne jeglichen Beleg. ({2}) Das ist ein grundsätzliches Misstrauen, das Sie gegenüber unserem Rechtsstaat hegen. Selbst wenn Sie den NSU ansprechen, Frau Kollegin, ist dies kein Beleg dafür, dass das für alle Taten rechter Gewalt gilt, wie Sie es hier angeführt haben. ({3}) Das sind Einzelfälle, bedauerliche Einzelfälle, die wir aufklären müssen. Aber sie sind kein Grund, um von einer Kumpanei zwischen Staat und den rechten Tätern zu sprechen. Wir sind uns sicherlich alle einig, dass wir gegen alle Formen des Extremismus vorgehen müssen, ob rechts, ob links oder religiös motiviert. Dazu sind wir – heute Morgen haben wir es bei der Gedenkstunde gehört – gerade auch unserer Geschichte wegen verpflichtet, dass wir insbesondere bei Rechten dann ein bisschen genauer hinschauen, und das tun wir auch. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und insbesondere Antisemitismus haben keinen Platz in unserer Gesellschaft. ({4}) Wir müssen gerade hier alles dafür tun, dass wir diese mit Prävention, Aufklärung, mit Vorleben durch Zivilcourage und auch mit dem Strafrecht bekämpfen. Eine Änderung des Ausländerrechts aber, die Sie uns heute hier vorschlagen, ist mit Sicherheit das falsche Mittel dafür. ({5}) Denn Ihr Gesetzentwurf ist systemwidrig. Das Aufenthaltsgesetz ist kein Gesetz zur Entschädigung oder Wiedergutmachung. Es ist ein Ordnungsrecht zur Steuerung von Migration. Dafür müssen wir es nutzen. Es kann nicht als Mittel der Gewaltprävention, der Wiedergutmachung oder der Opferentschädigung dienen. Vielmehr müssen wir individuelle Lösungen für die Menschen finden, die Opfer von Gewalt werden, rechter wie linker. Dafür gibt es heute schon im aktuell geltenden Aufenthaltsrecht genügend Möglichkeiten. Der Staat, Frau Kollegin Pau, tut dies auch individuell bei den einzelnen Fällen, sei es, dass im Rahmen der Strafverfolgung selbstverständlich entsprechende Duldungen ausgesprochen werden, damit das Opfer als Zeuge bei den Strafverfahren aussagen kann, oder sei es, dass nach § 25 Aufenthaltsgesetz aus humanitären und persönlichen Gründen, wenn etwa die Gesundheit beschädigt ist, aufgrund derartiger Gewalttaten entsprechende Duldungen ausgesprochen werden oder aber zum Schluss eben über § 23a Aufenthaltsgesetz eine Härtefallregelung greift. Insofern ist Ihr Gesetzentwurf unsystematisch, unnötig und überflüssig, weil es derartige Regelungen schon gibt, und deswegen können wir dem so nicht zustimmen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner für die AfD-Fraktion: Dr. Christian Wirth. ({0})

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Jede Form von Gewalt ist zu verurteilen, ob rechtsextrem, linksextrem, religiös oder sonst wie motiviert; das ist gar keine Frage. Hier liegt aber wieder ein Gesetzentwurf vor, der weltfremd und sozialromantisch ist nach dem Motto „Jeder darf rein, keiner muss raus, der deutsche Steuerzahler hat zu zahlen und zu erdulden“. Aber die große Leerformel Solidarität wird von der Linken nur für die Opfer rechter Gewalt bemüht. Man könnte dieser Solidarität ja etwas abgewinnen, wenn Die Linke im Gegenzug bereit wäre, allen Migranten, die in diesem Land Gewalt anwenden, unverzüglich alle Aufenthaltsrechte abzuerkennen und sie abzuschieben. Aber weit gefehlt! Hier ist Die Linke Hand in Hand mit den Grünen Patin eines jeden gewalttätigen Migranten. ({0}) Schauen wir uns den Gesetzentwurf an. Ein Migrant wird Opfer von Hasskriminalität. Wir zeigen uns solidarisch und ersetzen im Gegenzug eine Ausreisepflicht durch ein dauerhaftes Bleiberecht, und vielleicht gibt es dann noch die deutsche Staatsangehörigkeit obendrauf. Das eine ergibt sich zwar nicht zwingend aus dem anderen; aber lassen wir das mal so stehen. Aber was sind Opfer nach Ihrer Definition? Ich zitiere aus Ihrer Begründung: Erforderlich ist nicht, dass eine gerichtliche Verurteilung der Täterin bzw. des Täters vorliegt, die eine solche Motivation als bewiesen annimmt. Ebenso wenig ist erforderlich, dass Ermittlungsbehörden oder die Staatsanwaltschaft von einer solchen Motivation ausgehen. Sondern: Zur Feststellung einer rassistischen oder vorurteilsmotivierten Gewalttat genügen in diesem Zusammenhang nachvollziehbare Angaben der Opfer. ({1}) Das ist nur konsequent für ein Land, in dem Falschaussagen im Asylverfahren ohne Konsequenzen bleiben, selbst wenn lebenslange Alimentation vom deutschen Steuerzahler erschlichen wird. Halleluja! Der Stein des Weisen ist gefunden: Weg mit den Ausländerbehörden, weg mit dem BAMF! Die Linke produziert mit ihren Helfershelfern per Fließband vorgefertigte Ich-bin-Opfer-Formulare zum Ankreuzen: a) Ich habe einen Sachsen gesehen, b) Ich bin einem Chemnitzer begegnet, und c) Ich habe Herrn Gauland im Fernsehen gesehen. – Und schon hat man ein Bleiberecht für immer, ({2}) und als angenehmer Nebeneffekt lässt sich die Statistik zu fremdenfeindlichen Straftaten beliebig aufstocken, ({3}) wie Ihre neuerliche unsägliche Behauptung von Chemnitzer Menschenjagden im vorliegenden Gesetzentwurf belegt. ({4}) Diese Einstellung ist es, die Deutschland zu einem sicheren Rückzugsgebiet für jegliche Straftäter, insbesondere islamistische Kriminelle und Terroristen, macht. Nein, meine Damen und Herren, für den Kampf gegen jegliche Gewalt, auch gegen rechte, linke und religiöse Gewalt, sind die deutschen Staatsbehörden zuständig. Hier bedarf es keines Bonussystems für Migranten. Aber können Sie Ihren Gesetzentwurf wirklich ernst nehmen? Für Die Linke ist es doch schon rechtliche Gewalt, wenn der Staat mithilfe der Polizei sein Gewaltmonopol gegenüber randalierenden Migranten durchsetzt, siehe den Twitterpost von Frau Jelpke zum Polizeieinsatz im AnKER-Zentrum in Bamberg. Das unterscheidet Die Linke von der AfD: Wir distanzieren uns von jeder Gewalt. ({5}) Demgegenüber heizen Sie doch gerade die Gewalt des schwarzen Mobs an, wenn es gegen das Bürgerliche, das Konservative geht, sprich: gegen Menschen mit einer anderen Meinung als Ihrer. Und so fällt es uns schwer, Ihren Gesetzentwurf ernst zu nehmen; denn wenn Sie etwas nicht haben, dann ist es Solidarität mit der deutschen Bevölkerung und mit Deutschland. ({6}) Aber was will man von einer Partei erwarten, die sich 2009 höchstrichterlich durch Urteil die Anerkennung erstritten hat, die Nachfolgepartei der SED zu sein? ({7}) Das ist an Obszönität kaum zu überbieten. Der SED-Hass auf das eigene Volk scheint in Ihrer DNA verblieben zu sein. ({8}) Bevor Sie sich zum Sachwalter jedes Menschen auf dieser Welt machen, kümmern Sie sich um die schwer traumatisierten Menschen der ehemaligen DDR: die Angehörigen der aus Staatsräson Ermordeten, die in Gefängnissen und psychischen Anstalten Eingesperrten und die im Namen der Stasi Missbrauchten, Gedemütigten und Misshandelten und nicht zuletzt die entwurzelten zwangsadoptierten Kinder. Toben Sie dort Ihr Helfersyndrom aus, arbeiten Sie Ihre Geschichte auf; dann können wir reden. Bis dahin sind Sie für uns lediglich ein Kollateralschaden der deutschen parlamentarischen Demokratie. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Helge Lindh. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin jetzt in einem doppelten Dilemma. Nach der Rede von Herrn Wirth wäre ich versucht, ein flammendes Plädoyer für den Gesetzentwurf zu halten. Das werde ich aber nicht tun, da es auch Kritikpunkte gibt. ({0}) Ich kann Ihnen zum Trost sagen: Den Vorwurf seitens der AfD zu bekommen, weltfremd und sozialromantisch zu sein, ist, soweit ich sagen kann, ein ziemlich großes Kompliment. Also seien Sie zufrieden! ({1}) Der zweite Teil meines Dilemmas ist, dass ich Frau Pau, die eben den Gesetzentwurf vorgestellt hat, sehr schätze und ihre Begründung noch besser finde als den Gesetzentwurf selbst. Gleichwohl werde ich leider einige Kritikpunkte nennen müssen. Ich werde es so halten – hoffentlich nicht die Zeit ausschöpfend, um alle zu schonen –, dass ich kurz etwas zum Sachverhalt sage. ({2}) – Werte Kollegen von der CDU/CSU, Sie schätzen es doch, wenn ich rede. Ich erinnere an die Debatte über die sicheren Herkunftsstaaten. ({3}) Also Geduld! Im Folgenden geht es zum Ersten um den Sachverhalt, zum Zweiten um eine Würdigung und zum Dritten um Kritik am vorliegenden Gesetzentwurf. Zum Sachverhalt. Der vorliegende Gesetzentwurf hat eine Vorgeschichte. Ein ähnlicher war damals im Kontext der Beschlussfassung des Untersuchungsausschusses zu den NSU-Morden vorgelegt worden, und vor diesem Hintergrund ist es ein ernstes Thema, das hier zur Debatte steht. Es ist darauf hinzuweisen, dass es der SPD nicht völlig fremd ist, sich mit dem Thema „Aufenthaltsrecht für Opfer rechter Gewalt“ auseinanderzusetzen; alles andere wäre Geschichtsklitterung. In Bremen, Berlin, Thüringen und Brandenburg ist man in der Tat bemüht, die gegenwärtige Rechtslage so zu nutzen, dass Opfer rechtsextremistischer Gewalt möglichst vollumfänglich vom Aufenthaltsrecht Gebrauch machen können. Es gibt auch eine entsprechende Initiative im Bundesrat. Die Ehrlichkeit gebietet es, darauf hinzuweisen. Des Weiteren ist festzustellen, dass von einem solchen Gesetz eine Signalfunktion, eine symbolische Kraft ausgehen würde. Es gibt starke Argumente, die für ein solches Gesetzesvorhaben sprechen. Das eine Argument ist – es wurde schon erwähnt –, dass es nicht sein kann, dass Betroffene während eines Verfahrens abgeschoben werden und so selber nicht mehr als Nebenkläger und als Opfer auftreten können. Einen solchen Zustand können wir nicht wirklich begrüßenswert finden. ({4}) Außerdem ist es in der Tat so, dass die Residenzpflicht bzw. die Wohnsitzauflagen dazu führen können, dass Geduldete und Asylsuchende den Tätern wieder begegnen. Auch diesen Aspekt sollten wir beleuchten und kritisch prüfen. ({5}) Es kann auch passieren, dass jemand aufgrund einer Straftat nicht mehr erwerbstätig sein kann und infolgedessen seinen Aufenthaltstitel zu verlieren droht. Auch das ist ein Aspekt, den wir im parlamentarischen Verfahren kritisch beleuchten sollten. Dass dieser Aspekt im vorliegenden Gesetzentwurf enthalten ist, spricht für den Gesetzentwurf. ({6}) Ich habe darauf hingewiesen, dass die Stärke des Gesetzentwurfs in der Symbolik liegt. Die größte symbolische Stärke – das ist aber nicht das abschließende Argument für den Gesetzentwurf selbst – ist, dass wir damit ein starkes Zeichen gegenüber denen setzen würden, die rechte Taten gegen Flüchtlinge begehen. Damit würden wir klarmachen: Wir folgen nicht eurer Logik. Im Gegenteil: Diejenigen, die ihr angreift, werden von uns geschützt; denn sie bleiben, und ihr erreicht somit genau das Gegenteil dessen, was ihr erzielen wollt. – ({7}) Das ist, so scheint mir, auch das Hauptargument für Ihren Gesetzentwurf. Dennoch möchte ich mir, drittens, ein paar kritische Bemerkungen erlauben. Einige Punkte wurden bereits von Herrn Throm erwähnt. ({8}) Sie betrafen unter anderem die Rechtssystematik; denn das deutsche Rechtssystem kennt im Bereich der Generalprävention wie auch der Wiedergutmachung nicht die Form, dass man Fachrecht verwendet, um zu kompensieren. Das ist eine Eigentümlichkeit, die dem deutschen Rechtssystem nicht entspricht. Logischer wäre da Wiedergutmachung im Rahmen des Strafrechts. Auf diesen Zusammenhang muss man hinweisen. Außerdem beurteile ich bestimmte Formulierungen kritisch. Im Gesetzentwurf wird der Eindruck von „Kumpanei“, auch von staatlicher Billigung rechter Taten erweckt. Das scheint mir eine zu fatalistische Wahrnehmung des Staates zu sein. Ich fände es besser, wenn wir alles täten, um unseren Rechtsstaat zu stärken, anstatt ihn schwachzureden. ({9}) Der Erstimpuls müsste sein, dass wir, wenn man davon ausgeht, dass rechte Taten nicht hinreichend geahndet werden, entsprechend dafür sorgen, dass die Justiz stärker wird und wir viel mehr unternehmen, um rechte Täter zu bestrafen. Die Gewährung des Aufenthaltsrechts als Antwort auf die Probleme mit rechter Gewalt ist doch nur eine Notlösung. Vielmehr müssten wir viel konsequenter dafür kämpfen, dass rechte Taten gar nicht erst passieren und, wenn sie passieren, dass sie entsprechend hart geahndet werden. Man sollte nicht auf das Aufenthaltsrecht ausweichen. So ist jedenfalls meine Einschätzung. Der größte Kritikpunkt – bei aller Zustimmung zur Intention des vorliegenden Gesetzentwurfs – ist der gesamte Komplex der Form der „Entschädigung“, und zwar nicht die Rechtslogik, sondern den Gedanken betreffend, der dahintersteht. Denn was bedeutet das eigentlich? Das bedeutet, dass wir grundsätzliche Zweifel an diesem Rechtsstaat haben. Spätestens an diesem Punkt muss man in Aktion treten und alles unternehmen, zum Beispiel gemeinsam Anträge stellen, um durch Prävention und andere Maßnahmen aktiv zu werden und nicht hinzunehmen, dass der Staat am Ende selber sagt: Wir sind offensichtlich unfähig zu handeln. Deshalb gewähren wir allen Opfern von rechtsextremer Gewalt, die wir nicht verhindern können, ein Aufenthaltsrecht. – Ich halte das für nicht wirklich logisch und appelliere an Sie, diesen Punkt noch einmal zu überdenken. Ich fasse zusammen: In der Analyse ist Wahrheit vorhanden. Es gibt tatsächlich Missstände. Das müssen wir erkennen; viele A-Länder haben das bereits getan. Ich halte die Antworten, die Sie geben, zum Teil für einen Irrtum; aber manchmal ist es so, dass der Irrtum Wahrheit gebiert. Wir alle sind nun auf das Thema aufmerksam geworden. Allen ist klar, dass Handlungsbedarf besteht. Nach den NSU-Morden und dem Skandalösen, was in diesem Umfeld passiert ist – das betrifft viele Menschen, die ich kenne, die damals nicht das Vertrauen des Staates gespürt haben, sondern Misstrauen, und die im Übrigen zum Teil tatsächlich selbst oder jedenfalls ihre Angehörigen von Abschiebung bedroht waren –, gilt es gerade an diesem Tag, einen Moment innezuhalten und zu überlegen, wie die Zahl rechter Straftaten so weit wie möglich reduziert werden kann. Wir alle sollten wenigstens in dieser Frage zusammenhalten. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Lindh. – Die nächsten Reden von Linda Teuteberg, Michael Kuffer, Filiz Polat und Christoph Bernstiel gehen zu Protokoll, sodass ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt schließen kann. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/6197 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die beiden vorliegenden Anträge die Ausschussöffentlichkeit betreffend sind der Wiederaufguss eines gemeinsamen Antrags der beiden Fraktionen aus dem Jahr 2016. Die vorliegenden Anträge sind fast wortgleich mit dem damaligen Antrag. Das ist aber nicht weiter schlimm; Originalität ist jetzt nicht unbedingt der Maßstab. Beide Anträge beginnen mit der Feststellung, dass die Ausschüsse von der Möglichkeit, öffentlich zu tagen, selten Gebrauch machen. Diese Aussage halte ich im besten Falle für etwas voreilig, ansonsten für unbedacht übernommen; denn uns liegen vorläufige Zahlen für die vergangene Legislaturperiode vor. Und siehe da: 22 Prozent der Ausschusssitzungen waren öffentlich, und das ist alles andere als selten. Das will ich zunächst einmal festhalten. Wenn man in Rechnung stellt, dass es auch Gremiensitzungen gibt, die selbstverständlich nichtöffentlich sind, dann relativiert das die Aussage noch ein Stück weit mehr. Es ist schwierig, wenn in beiden Anträgen suggeriert wird, dass, wenn Nichtöffentlichkeit bei der Beratung vorherrscht, das etwas Schwieriges und möglicherweise sogar etwas Anrüchiges sei. Das stellt die Nichtöffentlichkeit so ein bisschen unter Generalverdacht. Nun ist vollkommen unbestritten, dass Öffentlichkeit zur Demokratie dazugehört. Das drückt auch das Grundgesetz aus. In Artikel 42 Grundgesetz heißt es: „Der Bundestag verhandelt öffentlich.“ Damit ist natürlich das Plenum gemeint. Das Bundesverfassungsgericht, dessen Stellungnahme in beiden Anträgen eingangs zitiert wird, stellte natürlich fest, dass Öffentlichkeit etwas besonders Wichtiges ist in dem Sinne, dass die Öffentlichkeit den öffentlichen Diskurs nachvollziehen und auch führen können muss anhand der öffentlichen Beratungen und Beschlussfassungen über bestimmte Tagesordnungspunkte. Insofern wird das Bundesverfassungsgericht richtig zitiert; aber es wird unvollständig zitiert. Denn das Bundesverfassungsgericht sagt darüber hinaus, dass Öffentlichkeit nicht in jedem einzelnen Punkt der Beratung und der Beschlussfassung vorliegen muss. ({0}) Ich sage: Öffentlichkeit und Transparenz müssen nicht in jedem Falle vorliegen. Ich sage auch: Es ist manchmal sogar besser und vorteilhafter, wenn wir nichtöffentlich tagen und Räume haben, in denen wir geschützt diskutieren können. Öffentlichkeit ist also keine Maximalforderung des Bundesverfassungsgerichts. Wenn Sie die Ausführungen in Ihren Anträgen konsequent weiterdenken würden, dann müssten Sie zu dem Schluss kommen, dass auch Ihre Fraktionssitzungen öffentlich durchzuführen sind; denn auch die gehören zum Entscheidungsfindungsprozess dazu. Aber hier merkt man, dass es dann etwas absurd wird. Ich meine, die Grünen haben das in ihren parlamentarischen Anfangsjahren, in den 80er-Jahren, durchaus gemacht; ({1}) aber mir ist nicht bekannt, dass man das bis heute fortgesetzt hat, und das hat gute Gründe. Ich glaube, dass wir geschützte Räume brauchen, in denen diskutiert werden kann, ohne dass die Öffentlichkeit in jedem Falle beteiligt wird. ({2}) Dafür gibt es gute Argumente. Ich glaube, dass wir diese Räume brauchen, damit man nicht unbedingt immer jedes Wort abwägen muss, damit man mal querdenken kann, damit man auch Kompromisse finden kann. Ich halte es für schlechterdings unvorstellbar, dass wir, beobachtet von Kameras, in aller Öffentlichkeit um Kompromisse ringen. Wir brauchen diese Rückzugsräume, um das alles sicherstellen zu können. Es entwertete letztlich auch die Arbeit des einzelnen Abgeordneten, wenn wir diese Räume nicht zulassen würden; denn es würde voraussetzen, dass Fraktionen ihre Linien dann im Vorfeld noch mal abstimmen würden, und damit wären Äußerungen, die man einfach mal so aus der Lamäng macht, quasi unmöglich. Man würde nur all diese Beratungen, die in einem geschützten Raum stattfinden müssten, in andere Gremien vorverlagern, und dann hätten wir überhaupt keine Änderungen bei den Abläufen, die hier eigentlich beabsichtigt sind. Ein Letztes. Eine solche Änderung würde dazu führen, dass wir die Diskussionen hier im Plenum uninteressanter machen. Wir ringen ja heute schon um Aufmerksamkeit. Wer sich nur die öffentlich-rechtliche Berichterstattung anschaut, der merkt doch, dass wir oft an dritter oder vierter Stelle kommen, sofern dort überhaupt über Parlamentsarbeit berichtet wird. Wenn wir all diese Diskussionen auch noch in den Ausschüssen öffentlich führen würden, dann würde das Interesse an dem, was wir hier schlussendlich diskutieren und entscheiden, zurückgehen, allein schon aufgrund der Fülle all dessen, was wir machen. ({3}) Deshalb glaube ich, dass wir mit dieser Aufteilung bisher gut gefahren sind: dass wir in den Ausschüssen nichtöffentlich beraten, so wie es übrigens auch der Bundesrat macht. Seine Ausschüsse tagen nicht nur nichtöffentlich, sondern auch noch vertraulich. Es darf noch nicht einmal erzählt werden, was dort beraten worden ist und wie es beraten worden ist. Wir sind gut damit gefahren, im Plenum, also in der Öffentlichkeit, die Argumente darzustellen. Das entspricht übrigens auch der Janusköpfigkeit unseres Parlamentes: das Plenum als Redeparlament und die Ausschüsse als Arbeitsparlament. Insofern sollten wir bei der jetzt bestehenden Regelung bleiben: Die Ausschüsse sollten nichtöffentlich tagen. Lassen Sie mich ganz zum Schluss noch eines sagen: Es wird ja auch argumentiert, man könne das Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehren und würde dann im Prinzip dem Ausschuss anheimstellen, zu entscheiden, wann er nichtöffentlich tagt. Ich halte das für nicht praktikabel, weil der Rechtfertigungsdruck dann so groß wäre, dass man letztlich die Argumente, die für eine Nichtöffentlichkeit sprechen, schon auf den Tisch legen muss, und damit wäre de facto jede Ausschusssitzung öffentlich. Auch das ist kein probates Mittel, hier etwas zu ändern. Also, wir plädieren dafür, dass es so bleibt, wie es ist. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: der Kollege Thomas Seitz, AfD-Fraktion. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn wir heute über die Anträge der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen zur Frage der öffentlichen Verhandlung von Ausschüssen beschließen, wird sich die Fraktion der Alternative für Deutschland bei der Abstimmung enthalten. Wir als Alternative für Deutschland positionieren uns damit im Hohen Haus genau dort, wo wir in der gesellschaftlichen Realität grundsätzlich stehen, nämlich auf dem Standpunkt des gesunden Menschenverstandes und in der Mitte der Gesellschaft. ({0}) Nach Artikel 42 Absatz 1 Grundgesetz verhandelt der Bundestag öffentlich. Diese Bestimmung zielt nach der Systematik der Regelung eindeutig nur auf das Plenum ab, da der dritte Absatz in Artikel 42 Grundgesetz zeigt, dass unsere Verfassung ausdrücklich eine Unterscheidung zwischen dem Bundestag als Plenum einerseits und den Ausschüssen andererseits vornimmt. Eine unmittelbare verfassungsrechtliche Pflicht, die Arbeit der Ausschüsse im Regelfall öffentlich auszugestalten, lässt sich deshalb gerade aus dem Grundgesetz zunächst einmal nicht ableiten. Aber betrachten wir doch näher, wie sich in der Praxis die Arbeit des Plenums tatsächlich gestaltet. Die mit der Anwesenheit von mehr als der Hälfte seiner Mitglieder geregelte Beschlussfähigkeit des Bundestages erweist sich doch als blasse Theorie oder – eher noch – als frommes Wunschdenken. ({1}) Abgesehen von wenigen Themen mit hoher Aktualität oder großer Presseresonanz und auch abgesehen von Wahlen, bei denen die Nichtteilnahme mit einer Kürzung der Kostenpauschale sanktioniert ist, ist die Abwesenheit von mehr als der Hälfte der Abgeordneten doch der Normalfall. Schauen Sie sich doch bitte einmal um, und betrachten Sie die unzähligen leeren Plätze hinter Ihnen! ({2}) Es ist der Normalfall, dass eine noch weit geringere Anzahl von Abgeordneten im Plenum anwesend ist, und das, obwohl im Moment nicht einmal mehr der Untersuchungsausschuss mit seinen neun Mitgliedern tagt. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Missstand zwar gebilligt, aber es hat der parlamentarischen Praxis gleichwohl ins Stammbuch geschrieben, dass das Verlangen nach Präsenz aller Abgeordneten im Plenum dem Geiste des Parlamentarismus und dem Prinzip der Repräsentation am ehesten gerecht werde. ({3}) Die wesentlichen Elemente des demokratischen Parlamentarismus sind die öffentliche Debatte und die öffentliche Diskussion durch streitiges Verhandeln von Argumenten in Rede und Gegenrede. Nur die Öffentlichkeit dieses Plenums führt der ganzen Republik vor Augen, wie Ihre Fraktionen, meine sehr geehrten Damen und Herren, unserer AfD-Fraktion das uns zustehende Amt eines Vizepräsidenten vorenthalten. ({4}) Das Präsidium dieses Hohen Hauses ist eben nicht verfassungsgemäß besetzt. Herr Präsident, mit Verlaub, allen Entscheidungen des Präsidiums haftet der unrühmliche Makel seiner fehlenden Legitimität an. ({5}) Schlichtweg eine Schande ist es daher für das Parlament eines demokratischen Rechtsstaates, dass dieser Zustand seit über einem Jahr andauert und von Ihrer Seite auch keine Bereitschaft in Sicht ist, unserem verfassungsmäßigen Recht zu seiner Verwirklichung zu verhelfen. ({6}) Das Bundesverfassungsgericht befindet, dass gerade das im parlamentarischen Verfahren gewährleistete Maß an Öffentlichkeit der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche Möglichkeiten eines Ausgleichs widerstreitender Interessen eröffnet, die sich so bei einem weniger transparenten Vorgehen nicht ergäben. Wenn das Bundesverfassungsgericht allerdings die Verlagerung der Präsenz der Abgeordneten vom Plenum in die Ausschüsse gebilligt hat, weil die Repräsentation eben nicht nur im Plenum, sondern auch in den Ausschüssen erfolgt, dann bleibt dies nicht ohne Auswirkung auf die Frage, ob die Ausschüsse grundsätzlich nichtöffentlich tagen dürfen. Denn wenn es mangels Anwesenheit der Abgeordneten faktisch kein Plenum mehr gibt, das die notwendige Öffentlichkeit und Transparenz herstellen kann, dann bedarf es zum Ausgleich eben eines höheren Maßes an Öffentlichkeit in den Ausschüssen – nicht trotz, sondern wegen Artikel 42 Grundgesetz. Die Öffentlichkeit muss dann eben den Abgeordneten folgen, um dem Streben unserer Verfassung nach Publizität und Transparenz gerecht zu werden. Die vorliegenden Anträge schießen jedoch über das Ziel hinaus, indem sie einfach für alle Ausschüsse einheitlich die Umkehr des zugrundeliegenden Regel-Ausnahme-Verhältnisses vorsehen. Auch die Antragsteller wissen, dass es Ausschüsse gibt – ich denke da an den Innen- oder den Verteidigungsausschuss –, die aus zwingenden Sachgründen die Öffentlichkeit nur ausnahmsweise vertragen. Wir als AfD – ich komme zum Schluss – setzen deshalb auch in dieser Frage auf das Prinzip der Subsidiarität statt auf sozialistische Gleichmacherei. Für uns bedeutet dies, dass es der Differenzierung bedarf und dass richtigerweise jeder Ausschuss für seinen Bereich selbst entscheiden können muss, ob seine Angelegenheiten grundsätzlich eine öffentliche Verhandlung vertragen oder nicht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Rede des Kollegen Dr. Bartke von der SPD geht zu Protokoll. Ich rufe auf Dr. Marco Buschmann, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Grundanliegen der beiden Anträge, die wir hier verhandeln, teilen wir. Transparenz ist ein hohes Gut, und auch die Arbeit der Ausschüsse kann und sollte transparenter werden. Wir haben dazu eigene Vorschläge gemacht: Protokolle veröffentlichen, auch Anhörungen öffentlich durchführen. – All das halten wir für richtig. Nur hier, an dieser Stelle, gehen Sie, glauben wir, einen Schritt zu weit, wenn Sie sagen, dass grundsätzlich jede Ausschusssitzung öffentlich stattfinden soll. Denn das veränderte das Wesen der Ausschussarbeit erheblich, ({0}) und unserer Auffassung nach zu ihrem Nachteil. ({1}) Das möchte ich Ihnen kurz begründen. Es gibt ja unterschiedliche Formen der Transparenz. Die Öffentlichkeit, die wir hier durch Rede und Gegenrede herstellen, durch den lustvollen Streit, bei dem die großen Linien aufeinanderprallen, ist natürlich konstitutiv und unerlässlich für die Demokratie. Aber es gibt auch eine andere Form von Transparenz, eine Transparenz, die beispielsweise die Regierung gegenüber dem Parlament herstellen muss, weil wir Parlamentarier ja für den Unterschied, was Sach- und Detailkenntnisse der Exekutive, den Wissensvorsprung der Exekutive gegenüber dem Parlament, angeht, einen Ausgleich erhalten müssen. Das ist häufig eine Transparenz der Kleinteiligkeit, des Details, der detaillierten Sachkunde. Für die Schaffung dieser Transparenz, dieses Wissensausgleichs ist die Logik der Konfrontation, wie wir sie hier im Plenum haben, häufig überhaupt nicht günstig. Wenn ich die dürren, langweiligen Auskünfte, die wir hier im Plenum im Rahmen der Fragestunde oder der Regierungsbefragung bekommen, ({2}) mit den Auskünften vergleiche, die wir in einer Ausschusssitzung bekommen, wenn wir da im Gespräch miteinander sind, dann muss ich sagen, dass wir dank des Klimas im Ausschuss häufig mehr Erkenntnis gewinnen und mehr Information erhalten als das, was wir hier geboten bekommen. Wenn Sie dieses Argument nicht überzeugt, dann möchte ich Ihnen ein zweites Argument nennen; das sollte insbesondere allen Oppositionsfraktionen zu denken geben. Wenn wir aus den Ausschüssen ein Aushilfsple­num machen, wenn also in den Ausschüssen demnächst all die Reden gehalten werden sollen, die hier nicht gehalten werden können, weil wir nicht genug Redezeit haben, weil die Kollegen möglicherweise nicht immer den Slot bekommen, den sie sich wünschen, was glauben Sie denn, was dann passieren wird? Wird der Ausschuss zum Aushilfsplenum, dann wird doch von den Mehrheitsfraktionen die Logik des Plenums auch auf die Ausschüsse übertragen werden. Was bedeutet das? Wir würden dann erleben – das würde gar nicht lange dauern –, dass die Mehrheitsfraktionen irgendwann auf den Gedanken kommen: Mensch, wenn wir im Plenum nach Stärkeverhältnissen der Fraktionen Redezeiten quotieren und wenn die Ausschüssen genau so funktionieren wie das Plenum, warum sollten wir dann nicht auch in den Ausschüssen die Redezeiten quotieren? ({3}) Ich muss sagen: Es ist ein enormer Vorteil der Ausschussarbeit, dass Redezeiten dort nicht quotiert sind, dass dort das Frageinteresse, die Vorbereitung, die Sachkunde und auch die Qualität des Arguments dafür entscheidend sind, wer dort die Debatte prägt. Da sind nämlich die Oppositionsfraktionen meiner Meinung nach häufig im Vorteil. ({4}) Deshalb würde ich uns allen empfehlen, diesen Schritt nicht zu gehen. Demgemäß stimmen wir den Anträgen in der Sache nicht zu und stimmen der Beschlussempfehlung des Ausschusses zu. Folglich empfehle ich Ihnen: Überlegen Sie sich es hier noch mal. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Der nächste Redner: der Kollege Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zur Beratung steht der Antrag meiner Fraktion Die Linke zur „Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages“, in dem es um die Zulassung der Öffentlichkeit in Ausschusssitzungen geht. Ein Antrag mit gleichlautenden Forderungen der Grünen liegt ebenfalls vor. Wir sind der Überzeugung, dass die Öffentlichkeit der Ausschusssitzungen weitestgehend hergestellt werden muss – anders als gerade von meinem Vorredner ausgeführt –, und zwar insbesondere durch das Zulassen von Presse und Besucherinnen und Besuchern bei den Sitzungen sowie vor allem auch durch einen Livestream im Internet. ({0}) Es sollte doch selbstverständlich sein, dass zum Beispiel Petentinnen und Petenten im Petitionsausschuss die Behandlung ihrer Anliegen verfolgen können. Das schulden wir dem Demokratieprinzip und dem Prinzip der Transparenz und damit unseren Wählerinnen und Wählern. ({1}) Genau deshalb wiederholt meine Fraktion diese Forderung seit Jahren. In den Ausschüssen – es ist angesprochen worden – sollten die gesetzgeberischen Entscheidungen des Parlaments vorbereitet werden. Dazu müssen diese aber auch genau dort entsprechend diskutiert werden. Schon daran hapert es allerdings oft. Diese Debatten dennoch öffentlich auszutragen, ist nötig, damit die Bürgerinnen und Bürger den parlamentarischen Prozess überhaupt nachvollziehen können. ({2}) Für den Rechtsausschuss kann ich konstatieren: Dort wird oftmals die juristische Debatte geführt, dort werden Argumente ausgetauscht, und manchmal finden sich überraschende Übereinstimmungen in einzelnen Punkten zwischen unterschiedlichen Fraktionen, weil das Sachargument überzeugt hat. ({3}) Dass sich diese Übereinstimmungen auch im Ergebnis niederschlagen, kann ich allerdings nicht bestätigen. Besonders auffällig ist das bei Themen, die in der Öffentlichkeit eine größere Rolle spielen und gleichzeitig in der Regierungskoalition Probleme verursachen. So war es bei der Ehe für alle in der letzten Wahlperiode, und so ist es bei der immer noch überfälligen Abschaffung des Informationsverbotes bezüglich Schwangerschaftsabbrüchen in der jetzigen. Probleme wurden und werden im Ausschuss still und leise wegmoderiert, solange es nur irgendwie möglich und opportun erscheint. Als Abgeordnete sollten wir aber den Mut haben, zu unseren Entscheidungen zu stehen und dies auch in öffentlichen Ausschussberatungen zu tun. Die Stimmung in der Bevölkerung wird doch immer mehr von dem Grundtenor geprägt: Die machen doch sowieso, was sie wollen. – Wer dieser Stimmung entgegentreten will, muss Debatten offen führen und darf sich nicht einigeln. ({4}) Die Frage „Warum haben die so entschieden und nicht anders?“ wäre doch durch diese öffentlichen Debatten viel leichter zu beantworten. Die demokratische Auseinandersetzung würde gestärkt, da ein weiteres Element des politischen Willensbildungsprozesses offengelegt würde. Alles andere führt uns Abgeordnete in den Verdacht der Geheimniskrämerei, und Sie wissen doch: Das ist der Sprengstoff, aus dem die Verschwörungstheoretiker unseres Landes ihren Profit ziehen. Transparenz entzieht den Populisten den Nährboden. ({5}) Ich darf die langjährige Präsidentin des Bayerischen Landtages, Barbara Stamm, aus einem Statement zu den öffentlichen Sitzungen der Ausschüsse in ihrem Hause zitieren: Das ist gelebte Bürgernähe und fördert die Transparenz unserer Arbeit hier im Landtag. Das sagt Frau Stamm, und sie ist, wie Sie wahrscheinlich wissen, keineswegs Vertreterin meiner Partei. Sie sehen also: Es geht, wenn man es denn nur will. Zurück zum Antrag. Ich habe hoffentlich deutlich gemacht, warum meine Fraktion Die Linke die Herstellung von Transparenz bei den Verhandlungen in den Ausschüssen für ein zentrales Element hält, um Vertrauen in die parlamentarische Arbeit wiederherzustellen. Wir sind überzeugt: Die Politik muss mehr liefern. Damit sind in erster Linie die demokratischen Fraktionen hier in der Pflicht. Stimmen Sie daher unserem Antrag zu oder dem der Grünen oder am besten gleich beiden! Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin: die Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich finde, es geht hier um nicht weniger als um die Frage: Sind wir eigentlich gemeinsam der Auffassung, dass wir alle mehr tun müssen, um den Parlamentarismus lebendiger, das Vertrauen und Zutrauen in Politik größer und die Nachvollziehbarkeit von politischen Entscheidungen transparenter und besser erklärbar zu machen und mit mehr Bürgernähe zu verbinden? ({0}) Darum geht es, meine Damen und Herren, wenn wir über die Frage sprechen, ob Ausschusssitzungen künftig öffentlich sein sollen. Wir sollten nicht so tun, als wäre das in diesem Haus nicht schon mal so gewesen. Meine Damen und Herren, viele von Ihnen vergessen vielleicht oder wissen nicht, weil Sie damals noch nicht im Deutschen Bundestag waren, dass zum Beispiel der Sportausschuss, der Ausschuss für Kultur und Medien und der Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement ({1}) alle schon mal öffentlich tagten, und zwar in der Regel und nicht, weil es in jeder Sitzung beantragt wurde. ({2}) – Das hat mit den gesetzgebenden Ausschüssen nichts zu tun. Denken Sie zum Beispiel an die Landesparlamente von Bayern, Niedersachsen, Berlin oder Brandenburg; ({3}) ich könnte die Liste unendlich fortführen. ({4}) Die tagen nämlich alle öffentlich und verstecken sich nicht hinter den Argumenten, dass sonst der Austausch der Fraktionen und das gute Miteinander der Sachargumente gefährdet wären, meine Damen und Herren. ({5}) Ich verstehe nicht, warum Sie als Parteien das nur in den Ländern machen. Und die Länder, die ich gerade aufgezählt habe, sind durchaus nicht alles Länder, in denen die Grünen den Ministerpräsidenten stellen. ({6}) In Niedersachsen zum Beispiel hatte Schwarz-Gelb überhaupt kein Problem damit, die Öffentlichkeit von Ausschüssen, die damals von Rot-Grün eingeführt worden ist, einfach fortzuführen. Oder Bayern: In Bayern ist es ja leider immer noch so, dass es dort recht breite CSU-Mehrheiten gibt. ({7}) Aber auch da scheinen es die Abgeordneten im Parlament nicht so zu fürchten wie hier, dass man demnächst auch in den Ausschüssen transparent und öffentlich verhandelt, meine Damen und Herren. Zu diesem immer wieder zelebrierten Bild dieser Ausschusswirklichkeit ({8}) „Wir legen mal was richtig Gutes vor, und dann entschließt sich die Regierungskoalition aus lauter Überzeugung dazu – weil die Argumente so überzeugend waren –, dem zuzustimmen“ ({9}) muss ich ganz ehrlich sagen: Meine Damen und Herren, gerade in Zeiten der Großen Koalition ist diese Ausschusswirklichkeit eine Mär. ({10}) Lassen Sie sich davon nicht blenden. ({11}) Nichts würde verloren gehen. Wir könnten nach wir vor Berichterstattergespräche führen. Wir könnten unter Fachabgeordneten in Anhörungen darüber diskutieren, was der beste Weg zur Lösung für ein Element ist. Ich frage mich: Warum nutzen Sie nicht gemeinsam mit uns die Chance, zu sagen: „Dieser Parlamentarismus muss sich verändern“? Wir stehen vor einem ganz anderen Transparenzgebot. Politik muss sich mehr erklären. Warum eigentlich schaffen die Parteikolleginnen und ‑kollegen Ihrer Fraktion das in den Bundesländern, und hier bringen Sie nicht die Souveränität auf, das zu tun? ({12}) Das ist mir schleierhaft. Ich hoffe, Sie können das Ihren Bürgerinnen und Bürgern vor Ort mal in der Sprechstunde erklären. Ich finde, sachliche Argumente dafür haben Sie schon lange nicht mehr. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. ({13})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin Haßelmann. – Die Reden von Michael Frieser und Sonja Steffen gehen zu Protokoll , sodass ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt schließen kann. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf Drucksache 19/5496. Unter Buchstabe a der Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/10 mit dem Titel „Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages – hier: Ausschussöffentlichkeit“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Das sind FDP, CDU/CSU und SPD. Gegenprobe! – Linke und Grüne. Enthaltungen? – AfD. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/965 mit demselben Titel. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind wieder CDU/CSU, SPD und FDP. Wer stimmt dagegen? – Grüne und Linke. Enthaltungen? – Enthaltung der AfD. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Wir sind am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 1. Februar 2019, 9 Uhr, ein. Kommen Sie gut nach Hause. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 23.37 Uhr)