Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/13/2018

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatten in den letzten Tagen über den Brexit waren in Großbritannien außerordentlich intensiv, und sie waren auch sehr emotional – und das ist noch sehr diplomatisch ausgedrückt. Aber angesichts der Tragweite der Entscheidungen, um die es da geht, ist das vielleicht auch gar nicht so verwunderlich. Das gestrige Misstrauensvotum gegen Theresa May war wohl einfach nur der sichtbarste Ausdruck dieser enormen Spannungen. Es sind historische Tage für Großbritannien, aber auch für uns. Dass Theresa May dieses Misstrauensvotum überstanden hat, ist erfreulich; das Ergebnis bietet aber keinen Grund, darauf schließen zu können, dass sich an den Mehrheitsverhältnissen im britischen Unterhaus hinsichtlich des Austrittsabkommens irgendetwas verbessert hätte. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Union hat sich in den Verhandlungen zum Brexit-Abkommen bisher äußerst geschlossen gezeigt. Und auch nach der Verschiebung der geplanten Abstimmung im britischen Unterhaus – vermutlich wird sie im Januar stattfinden – gibt es keinen Anlass, von dieser Linie abzurücken. Unser klares Interesse ist weiter eine Einigung mit Großbritannien. Das gemeinsam über Monate hinweg ausgehandelte Abkommen ist dafür ein wirklich fairer Kompromiss. Er liefert eine gute Basis für einen geordneten Austritt und für den Aufbau enger künftiger Beziehungen. Es gibt keine Grundlage dafür, dieses Abkommen wieder aufzudröseln. Dies haben wir in den vergangenen Tagen noch einmal deutlich gemacht. Daran wird sich auch nichts ändern. ({0}) Die kommenden Tage und Wochen werden sicherlich Aufschluss über den weiteren Verlauf der Debatte geben, vor allen Dingen in London. Wir sollten uns, wie ich finde, gar nicht groß mit Spekulationen über mögliche Szenarien in der britischen Innenpolitik aufhalten. Letztlich gebietet das schon der Respekt vor unseren britischen Partnern. Der weitverbreitete und sicherlich nachvollziehbare Wunsch, den Brexit rückgängig zu machen, ist etwas, dem wir alle außerordentlich nahestehen, aber wenn man sich die gegenwärtigen Umfragen in Großbritannien anschaut, dann stellt man fest, dass sich seit dem Referendum trotz einer außerordentlich chaotischen Debatte, die dort geführt wird, nicht viel geändert hat. Auch das muss man zur Kenntnis nehmen. Entscheidend ist letztlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir als 27 in der Europäischen Union weiterhin geschlossen auf die gegenwärtigen Ereignisse reagieren. Das gilt ganz besonders natürlich auch mit Blick auf den Europäischen Rat, der heute beginnt. Für uns in der Europäischen Union sind dabei folgende Punkte zentral: Unsere klaren Positionen aus den Leitlinien des Europäischen Rates gelten unverändert nach wie vor. Die im Austrittsabkommen definierte Lösung für einen funktionierenden Backstop für Nordirland steht nicht zur Disposition. Auf dieser Basis sind wir natürlich bereit, uns britische Überlegungen anzuhören, welche zusätzlichen Klarstellungen gewünscht werden, ohne aber in der Substanz das, was innerhalb der Europäischen Union vereinbart worden ist und was im Kabinett in London Zustimmung gefunden hat, grundsätzlich noch einmal zu verändern. Schließlich bleibt die Einheit der EU‑27 von überragender Bedeutung. Das wird ganz wichtig für die kommenden Tage und Wochen. Diese Einheit ist auch deshalb so wichtig, weil es um die Glaubwürdigkeit und die Zukunft des europäischen Projektes geht. Das hat bisher bemerkenswert gut funktioniert. Letztlich kann bei einem Austritt aus der Europäischen Union, von wem auch immer darüber entschieden wird, niemand darauf setzen, die Verpflichtungen loszuwerden, die Rechte und Vorteile einer Mitgliedschaft aber behalten zu können. Meine Damen und Herren, ein ungeregelter, ein harter Brexit hätte schwerwiegende Konsequenzen. Er liegt nicht im britischen, aber er liegt auch nicht im europäischen und im deutschen Interesse. ({1}) Angesichts der schwierigen politischen Lage, die wir in Großbritannien Tag für Tag mitverfolgen können, müssen wir unsere Planungen wie bisher auch für den Fall fortsetzen, dass es zu einem harten Brexit kommt. Wir haben gestern im Kabinett zwei Gesetzespakete verabschiedet, mit denen wir sicherstellen, dass auch in einem solchen Fall größtmögliche Rechtsklarheit für die Bürgerinnen und Bürger herrscht. Auch die praktischen Vorbereitungen laufen. So stellen wir zum Beispiel mehrere Hundert Zollbeamte zusätzlich ein, um das Mehr an Arbeit, das kommen wird, zu bewältigen. Damit sind wir auch für den Worst Case gerüstet. Solange das Austrittsabkommen nicht ratifiziert und unterzeichnet ist, werden wir diese Vorbereitungen konsequent fortführen. Auch das ist ein Gebot verantwortungsvollen Regierungshandelns. Unabhängig davon, ob es Mitglied der Europäischen Union ist: Großbritannien bleibt ein Teil unserer europäischen Werte- und Handlungsgemeinschaft. Wir werden auch in Zukunft viele Ziele gemeinsam verfolgen. ({2}) Denn letztlich stehen wir in Europa – und nicht nur in Europa, aber in Europa ganz besonders – vor immensen Herausforderungen, die alle keine Grenzen kennen: Globalisierung, Klimawandel, Migration, die Verteidigung der multilateralen Weltordnung. Auf all diese Fragen werden wir in Europa mit Großbritannien nur gemeinsam Antworten finden können: auf einer anderen Basis, zugegebenermaßen, aber auf jeden Fall als enge Partner und auch als Freunde. Das gilt für das Verhältnis der Europäischen Union zu Großbritannien. Das gilt aber natürlich auch für unser bilaterales Verhältnis zu Großbritannien. Deshalb haben wir schon im April dieses Jahres mit dem damaligen Außenminister Großbritanniens einen strategischen Dialog vereinbart. Gemeinsam werden wir uns intensiv und konstruktiv zu außen- und sicherheitspolitischen wie globalen Herausforderungen weiter austauschen und austauschen müssen. Eine gemeinsame Erklärung und ein Arbeitsprogramm sollen diesen Dialog um konkrete Projekte ergänzen, zum Beispiel durch eine Stabilisierungspartnerschaft zur Konfliktvermeidung und Friedenssicherung. Die bilaterale Zusammenarbeit wird genauso eng fortgeführt. Dieser Austausch ist umso wichtiger vor dem Hintergrund unserer anstehenden Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Dort werden wir mit Großbritannien als ständigem Sicherheitsratsmitglied eng zusammenarbeiten. Das haben wir auch schon vereinbart, völlig unabhängig vom Brexit. ({3}) Wir haben ein gemeinsames Ziel, das auch nach einem vollzogenen Brexit erhalten bleibt: die Verteidigung der regelbasierten internationalen Ordnung als wichtige Aufgabe gleichgesinnter demokratischer Staaten. Sosehr wir auch den Brexit bedauern, in der Debatte dürfen wir eines, glaube ich, nicht vergessen: Weiterhin wird uns mit Großbritannien mehr einen, als uns trennt. Auch wenn Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU ist, bleibt es immer noch ein Teil Europas, und zwar ein Teil, den wir auch weiterhin brauchen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist Martin Hebner, AfD. ({0})

Martin Hebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004740, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede der Opfer der letzten Tage gedenken. Wieder mal hat auf einem christlichen Weihnachtsmarkt ein islamischer Attentäter Bürger ermordet. Wieder einmal war der Täter schon mehrfach auffällig, auch in Deutschland. Und wieder einmal sollte er eigentlich schon längst verhaftet sein. Kommen wir zum vorliegenden Antrag der Regierungskoalition. Man könnte den Antragstext als „Much Ado About Nothing“ oder „Viel Lärm um nichts“ bezeichnen; ({0}) denn dieser Antragstext sagt eigentlich nur, dass es ein Austrittsabkommen gibt – und das auf mehreren Seiten. In einem – so könnte man sagen – larmoyanten Stil wird hier der Austrittswunsch Großbritanniens aus der EU beklagt. Es wird bedauert, es würden nur Verlierer zurückgelassen. Es wird das Ergebnis der Verhandlungen mit der EU als Kompromiss bezeichnet, was es im Übrigen auch ist. Dann wird in dem Fall noch konstatiert, dass alle auf der EU-Seite gut gearbeitet hätten; sprich: Das loben diejenigen, die dieses Problem eigentlich verursacht haben. ({1}) Neu- und Nachverhandlungen des Austrittsvertrages werden verdammt. Mit einem weinerlichen Schlusssatz, Großbritannien könne ja wieder an die Pforten der EU klopfen, wird dieser Antrag, der auf drei Seiten vorliegt, beendet. Meine Damen und Herren, dieser Antrag selber ist irrelevant. Relevant ist das Austrittsabkommen, das allerdings natürlich nicht öffentlich ist und über das wir jetzt hier auch nicht im Detail diskutieren, das auf gut 522 Seiten, die, wie gesagt, hier nicht behandelt werden, weil nichtöffentlich, die Gesamtregelung beinhaltet. ({2}) Wir sollen – das ist eigentlich der Antrag der Union und der SPD – dieses Austrittsabkommen hiermit nur schlicht zur Kenntnis nehmen. Das ist der Punkt. ({3}) Deswegen steht auch in diesem Antrag von Union und SPD, Frau Nahles, nur: Der Bundestag möge beschließen. Dann folgt der Satz: Der Bundestag möge zur Kenntnis nehmen. – Im Prinzip, im Endeffekt ist das nichts anderes als: Nehmt es in diesem Fall einfach an! ({4}) Das Anliegen der Briten – halten wir das schlicht einmal fest –: Die Briten wollen raus aus der EU, raus aus einer Zentralisierung, weg von bürgerferner und realitätsferner Gesetzgebung, weg von Zentralismus und Fremdbestimmung durch ein bürokratisches und reformunfähiges Brüssel. So weit klar und verständlich! ({5}) Was Sie, meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, nie verstanden haben, ist: Großbritannien und übrigens auch viele andere haben nichts gegen Europa – Gott behüte! –; sie wollen nur raus aus dieser in dem Falle zentralistischen und einschränkenden EU. ({6}) Genau dieser Austrittswunsch aus einem überbordenden, unkontrollierbaren Bürokratismus nicht demokratisch gewählter Politkommissare der EU-Kommission wird ihnen definitiv erschwert.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Hebner, der Kollege Graf Lambsdorff würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Martin Hebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004740, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Aber gern.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir haben uns eben beide angeschaut.

Martin Hebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004740, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das ist gut.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ihre Bemerkung, dass das Abkommen über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union angeblich nicht öffentlich sei, womit Sie hier so einer Art Verschwörungstheorie den Boden zu bereiten versuchen, konnten wir irgendwie nicht glauben. Wir haben es gerade überprüft: Sie können es googeln. ({0}) Es ist für alle Bürgerinnen und Bürger öffentlich einsehbar. Es hat 585, nicht 522 Seiten. Würden Sie so nett sein, das zur Kenntnis zu nehmen, Herr Hebner? ({1})

Martin Hebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004740, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Graf Lambsdorff, ich nehme zur Kenntnis, dass Sie das jetzt hier so sagen und dass Sie sich das angeschaut haben. ({0}) Der Punkt ist schlicht und ergreifend: Es wird ja hier gar nicht behandelt. ({1}) Sie werden in dem Antragspapier vonseiten der Union nur einen Verweis auf das Austrittabkommen lesen, auf einen Kompromiss. Sie haben aber hier keinerlei Verhandlung. ({2}) Sie haben hier in dem gesamten Antrag der Union keinerlei Sequenzen dieses Abkommens. Es wird nicht öffentlich diskutiert. ({3}) Es wird von uns in dem Fall nur beschlossen, dies zur Kenntnis zu nehmen. Das ist das Antragspapier der Union. ({4}) Danke schön. ({5}) – Herr Krichbaum, ich finde Ihre Äußerungen nett. Aber gleichwohl steht in dem Papier, in Ihrem Antrag, den Sie hier vorgelegt haben, nichts zu den – ich nehme es gern zur Kenntnis – 585 Seiten des Abkommens. Ergo gibt es keine Diskussion darüber. Wir nehmen es zur Kenntnis. ({6}) Was ich in dem Fall ganz klar sagen möchte, ist, dass hier die EU-Kommission, die natürlich keinerlei Interesse hat, ein funktionierendes Gegenmodell zur EU sich entwickeln zu lassen, ({7}) für die Verhandlungen autorisiert und von Ihnen ermächtigt wurde. Sie haben damit schlicht und ergreifend, was die gesamte Verhandlung anbelangt, den Bock zum Gärtner gemacht. ({8}) Was die deutschen Interessen anbelangt – ich will es noch mal betonen –, so hat während der gesamten Verhandlungen unsere Bundesregierung – Herr Maas hat eben darüber gesprochen – leider keinerlei Input mitgeliefert und keinerlei Steuerung vorgenommen. Wir möchten ganz klar betonen: Von diesem Vertrag sind natürlich gerade die Vertreter der deutschen Wirtschaft schwer betroffen. Sie müssen bitte zur Kenntnis nehmen, Herr Maas, dass unser Außenhandelsüberschuss gegenüber Großbritannien im Moment – Stand letzten Jahres – 47 Milliarden Euro beträgt. Davon leben auch Sie. Das heißt, auch Sie profitieren mit Ihrem Gehalt von diesem Überschuss. ({9}) Dass sich keiner Gedanken darüber gemacht hat, was mit diesem Abkommen alles an Problemen verursacht wird, vor allem auf Dauer, und dass nicht mal ein Plan B für einen harten Brexit existiert, Herr Maas, das ist ein absolutes Versäumnis. ({10}) Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Katja Leikert, CDU/CSU, ist die nächste Rednerin. ({0})

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Das, was diese Woche in Großbritannien passiert ist, haben wir uns alle so nicht gewünscht. Wir sehen in diesen Tagen politisches Chaos in London. Wir sehen ein Land in eine beispiellose Krise taumeln. ({0}) Poetisch könnte man formulieren, dass wir live dabei zuschauen können, wie populistische Dummheit seine hässliche Gestalt annimmt. ({1}) Das alles hätte Shakespeare nicht besser inszenieren können. Aber leider ist das eben kein Schauspiel, sondern bittere Realität, und es betrifft Millionen von Menschen. Es zeigt einmal mehr, sehr geehrter Herr Hebner, warum wir gegen jegliche Form dieser populistischen Zerstörungswut mit aller Macht jeden Tag kämpfen müssen. ({2}) Sehr geehrte Damen und Herren, wenn Sie mich am Montag gefragt hätten, wie diese Woche verlaufen würde, dann hätte ich Ihnen geantwortet, dass das Unterhaus am Dienstag das Abkommen mit der Europäischen Union ratifiziert und dass es dann, was schon traurig genug gewesen wäre, zu einem geordneten Brexit kommt. Wir erinnern uns – ich erkläre Ihnen das an der Stelle gerne noch mal –, was so eine Europäische Union leistet: Die Europäische Union hat selbst in so einer schweren Stunde ein großes Abkommen von über 580 Seiten – das haben Sie jetzt auch gerade gelernt – verhandelt. Genau das macht nämlich die Europäische Union aus: dass Konflikte kommunikativ und vertragsmäßig verhandelt werden. ({3}) Bis zu einer Übergangsfrist wäre Großbritannien in der Zollunion verblieben, und damit wäre auch eine harte Grenze auf der irischen Insel vermieden worden. Auch die Frage, wie es nach einer Übergangszeit weitergehen würde, wurde geklärt. Es sollte ein umfassendes Freihandelsabkommen mit Großbritannien verhandelt werden. Und wenn man sich die Position von Großbritannien anschaut, sieht man: Genau das war das Ziel von Großbritannien. Wir alle wissen auch: Das war schon die äußerste Grenze dessen, was die Europäische Union hätte zulassen können. Es ist insgesamt also ein fairer, vernünftiger Deal – so beurteilen wir das; Sie beurteilen das anders –, soweit man in dieser Lose-lose-Situation davon überhaupt sprechen kann. ({4}) Für uns als Koalitionsfraktionen ist klar: Wenn London die Gemeinschaft der Europäischen Union verlässt, dann heißt das noch lange nicht, dass die Europäische Union ihre eigene Identität aufgeben muss, weder den Binnenmarkt mit seinen vier Freiheiten noch den Anspruch an die Europäische Union als Friedensprojekt. ({5}) Es ist unsere Aufgabe, die Europäische Union zu schützen, insbesondere vor politischer Dummheit. ({6}) Mit dem Antrag, den wir, SPD, CDU/CSU, heute gestellt haben – vielleicht sind Sie ja einfach nur traurig, Herr Hebner, dass Sie Ihren Antrag nicht zustande bekommen haben; immerhin war er ja angekündigt –, ({7}) stehen wir für einen geordneten Brexit, für Planungssicherheit für Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen, für den Frieden auf der britischen Insel und vor allem für langfristige, gute, freundschaftliche Beziehungen zu Großbritannien. ({8}) An dieser Stelle auch mal ein herzliches Dankeschön an die SPD für ihre immer klare proeuropäische Haltung. Diese gibt es hier an vielen Stellen, auch bei der FDP und bei den Grünen, in diesem Hohen Haus. ({9}) Diese Woche kam schnell die Frage nach Nachverhandlungen auf. An dieser Stelle kann man wirklich nur sagen: Wesentliche Nachverhandlungen kann es nicht geben. Das liegt nicht daran, dass wir das den Briten nicht gönnen würden in irgendeiner Form. Das liegt einfach daran, dass das Verhandlungsergebnis eben ein gutes Ergebnis ist und vor allem den Frieden in Irland, auf der irischen Insel garantiert, und dazu stehen wir. Der Ball liegt ganz klar im Feld von London. ({10}) Abschließend möchte ich noch sagen, dass wir in Europa ja nicht nur den Brexit haben. Wir haben populistische Bewegungen von links und rechts. Wir kämpfen gegen diese Art von Politik auch hier im Deutschen Bundestag. ({11}) Wir lassen es uns nicht nehmen, offensiv für unser Europa und die Europäische Union zu kämpfen. Wir sind uns hier über ein Euro-Zonenbudget, eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung oder eine Einlagensicherung nicht immer einig; aber wir kämpfen für die besten Konzepte, die Europa stark machen. ({12}) Genau so werden wir in den Europa-Wahlkampf gehen. Wir als CDU/CSU werden es mit unserem Spitzenkandidaten Manfred Weber tun, einem echten Brückenbauer. ({13}) – Er ist ein guter Mann; da hat Ralph Brinkhaus recht. ({14}) – Schreien Sie hier nicht so rum! – Manfred Weber ist ein echter Kämpfer für den European Way of Life, wie er immer auf Bayrisch sagt. Ich möchte abschließend, weil ich es so toll fand, gerne auch mal Franziska Brantner an dieser Stelle danken für eine fraktionsübergreifende Initiative, den Wahlkampf unter Demokraten fair zu führen, sich gegen Hetze und Fake News einzusetzen. Ich wünsche Großbritannien und uns Good Luck! Herzlichen Dank. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist Alexander Graf Lambsdorff, FDP. ({0})

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bedauern, glaube ich, nahezu alle hier den Austritt Großbritanniens; aber ich will ein paar Worte aus der Sicht meiner Fraktion sagen: Großbritannien ist das Mutterland des Liberalismus. Für uns ist es ganz besonders schmerzhaft, dass die Briten gehen wollen. Die parlamentarische Demokratie stammt aus Großbritannien. Die Menschenrechte, Habeas Corpus, Industrie und Freihandel: Großbritannien hat unglaublich viel zur europäischen Geschichte, zur europäischen Kultur und zum Liberalismus beigetragen. Für uns ist es ein ganz besonders schwerer Verlust, und wir bedauern es außerordentlich, dass Großbritannien der Europäischen Union den Rücken kehren will. ({0}) Wir haben gestern hier die Bundeskanzlerin in der Regierungsbefragung gehört. Sie hat gesagt: Auch die Bundesregierung will, dass Großbritannien bleibt; und sie arbeitet weiter für einen geordneten Austritt. Aber, meine Damen und Herren, der Wahrheit die Ehre: Zurzeit ist keine Mehrheit in London – nirgends – für den ausgehandelten Deal für das Abkommen mit Großbritannien über den Austritt erkennbar. Wir müssen uns als Land und als Union auf einen harten Brexit einstellen. Hier komme ich nicht umhin, die Bundesregierung wirklich zu kritisieren für die mangelhafte Vorbereitung, mit der sie in dieser Angelegenheit unterwegs ist. ({1}) Wir als Fraktion der Freien Demokraten haben schon vor mehreren Monaten eine Große Anfrage gestellt, weil uns klar war: Es gibt verschiedene Szenarien. Ein Szenario ist das, das sich jetzt als wahrscheinlichstes herausstellt: ein harter Brexit. Was hat uns die Bundesregierung als Frist zur Beantwortung angeboten? Das muss man sich mal vorstellen: Am 29. März nächsten Jahres findet der Brexit nach dem Artikel 50 statt, und die Antwort auf unsere Große Anfrage zur Vorbereitung unseres Landes auf die Konsequenzen wollte die Bundesregierung am 31. Mai 2019 vorlegen. Ja, herzlichen Dank, liebe Bundesregierung! Das ist keine Vorbereitung. Das ist ein Nachklapp. Das brauchen wir nicht. ({2}) Aber die Menschen in unserem Land brauchen eine klare Ansage. Auch die Menschen aus unserem Land, die in Großbritannien leben – Studierende, Familien, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner –, sind nicht sicher, was eigentlich mit ihren Überweisungen, den Renten oder den Studiengebühren passiert. Bei den Patientinnen und Patienten wird es ganz besonders schlimm, und da geht es auch schon in die Wirtschaft rein. Was ist eigentlich mit der Zulassung von Medikamenten auf dem Kontinent und in Großbritannien nach einem harten Brexit? Und wie sieht es in der Automobilwirtschaft, in der Landwirtschaft, im Tourismus mit dem immer schwächer werdenden Pfund aus? Es gibt so viele Konsequenzen eines Brexits, insbesondere eines harten Brexits, auf die die Bundesregierung bisher überhaupt nicht eingegangen ist. Die Europäische Kommission und interessanterweise die britische Regierung haben Handreichungen ausgegeben – „Preparedness Notices“ heißen die –: Was müssen wir erwarten? Was haben wir im Falle eines harten Brexits zu gewärtigen? Von der Bundesregierung gibt es solche Handreichungen nicht. Meine Damen und Herren, Katja Leikert hat hier eben gesagt, dass Ganze erinnert an Shakespeare. Mich erinnert es eher an Lewis Carrolls „Alice in Wonderland“, was wir hier die letzten Tage gesehen haben, sozusagen „Theresa im Wunderland“ mit Jacob Rees-Mogg als Hutmacher und Boris Johnson als Märzhasen. ({3}) Das war ja ein Spektakel, das wir uns da angucken mussten. Wir dachten eigentlich, wir hätten heute eine Entscheidung, über die wir debattieren können. Jetzt dauert es bis Januar. Wir werden das respektvoll machen; denn eines – das will ich hier am Ende sagen – ist auch klar – ich glaube, da spreche ich für viele hier –: Insgeheim ist die britische Queen eigentlich eine Königin auch unserer Herzen. Wir mögen die Briten weiterhin. Sie bleiben unsere Partner, unsere Freunde, unsere Alliierten. Wir müssen in Europa mit Deutschland und Frankreich gemeinsam arbeiten, und wir müssen die Regierung dazu anhalten, unser Land endlich auf einen harten Brexit einzustellen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Fabio De Masi, Fraktion Die Linke, ist der nächste Redner. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Ladies and Gentlemen! Der Vorsitzende von Labour, Jeremy Corbyn, der Oppositionsführer in Großbritannien, sagte auf dem Kongress der europäischen Sozialdemokraten: Die extreme Rechte wird durch sinkenden Lebensstandard, kaputte Kommunen, unsichere Jobs und unterfinanzierte öffentliche Dienste gestärkt. Er fuhr fort: Die Kürzungspolitik in der EU hat zu Leid der Arbeitnehmer geführt und eine erhebliche Rolle beim Ja der Briten zum Brexit gespielt. – Die wichtigste Aufgabe angesichts des Austritts der Briten aus der EU ist es daher nach Überzeugung unserer Fraktion, dass wir Europa neu erfinden, damit es zu einer sozialen Schutzmacht über Menschen wird. ({0}) Jahrelang wurde etwa behauptet, wir könnten eine Finanztransaktionsteuer nicht machen, weil die Briten dann ihr Veto wegen der City of London einlegen. Jetzt gehen die Briten raus, und Deutschland und Frankreich machen zehn Jahre nach der Finanzkrise, die dem Brexit vorausging, eine reine Aktiensteuer, die 98 Prozent der Finanztransaktionen ausnimmt. Die Begründung lautet wieder, man könne das nicht machen wegen des Wettbewerbs mit den Briten und der City of London. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das ist absurd; denn die Aufblähung der Finanzmärkte und die Deindustrialisierung im britischen Norden ist ja einer der Gründe, warum eine Mehrheit der Briten letztlich für diesen bedauerlichen Brexit stimmte. Wer Europa retten will, muss daher – auch hier in Berlin – endlich eine neue Schallplatte auflegen. ({1}) Entscheidend ist, was die EU unternimmt, um zu verhindern, dass Großbritannien über eine Absenkung der Unternehmensteuern Steuerdumping weiter anheizt. Da muss es eine klare Botschaft geben, auch hier aus Berlin: Wenn ihr das macht, liebe Freundinnen und Freunde auf der Insel, dann wird es auch von Deutschland Quellensteuern auf Finanzflüsse in die Steueroase Großbritannien geben. ({2}) Entscheidend ist, dass wir den britischen Banken und Fonds sagen: Ihr bekommt nur eine Geschäftslizenz in der EU, wenn ihr euch hier an die Spielregeln auf dem Finanzmarkt haltet, wenn ihr euch der Finanzaufsicht vor Ort unterwerft und alle Finanzmarktgesetze der EU beachtet. ({3}) Entscheidend ist, dass wir Rechtsstreitigkeiten mit britischen Unternehmen nicht über Investor-Staat-Schiedsgerichte regulieren, wo Investoren Staaten verklagen können, wenn Gesetze ihre Profite hemmen. Gegen solche privaten Konzerngerichte sind viele Menschen in Europa bei Investitionsabkommen wie TTIP oder CETA auf die Straße gegangen. Entscheidend ist, dass EU-Bürger, die in Großbritannien arbeiten, nicht durch eine konservative Regierung um ihre sozialen Rechte gebracht werden, wie etwa bei der EU-Richtlinie gegen Höchstarbeitszeiten. ({4}) All diese Dinge sind im Austrittsabkommen aber nicht geregelt, auch nicht in der Protokollerklärung. Sie werden in einem Abkommen über die zukünftigen Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich geregelt. Und hier muss das Parlament dann wirklich Zähne zeigen und der Bundesregierung auch sagen, dass sie ihren Job zu tun hat. ({5}) Leider hat die Bundesregierung gegen unseren Rat die sozialen Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien in diesem Austrittsabkommen verankert. Wir halten das nicht für klug, ich will auch sagen, warum: Wenn der Deal jetzt scheitert, sind die EU-Bürger in Großbritannien nicht hinreichend geschützt. Wir sehen auch kritisch, dass in diesem Austrittsabkommen die Möglichkeit Großbritanniens, eine aktive Industriepolitik zu nutzen, durch die Koppelung an das EU-Beihilferecht beschränkt wird; denn Großbritannien hätte es bitter nötig, eine Industrie zu entwickeln, die eben nicht von den aufgeblähten Finanzmärkten abhängig ist, oder die die Möglichkeit einräumt, die chaotische Eisenbahn wieder zu verstaatlichen. Es gibt nun vier Möglichkeiten: Erstens. Der Brexit-Deal bekommt eine Mehrheit im britischen Unterhaus. Dann kommt der Brexit, und es wird über einen zukünftigen Vertrag verhandelt. So lange sind die Briten mit der Zollunion verheiratet und dürfen sich auch nicht scheiden lassen, weil die EU ein Veto hat. So wird verhindert, dass die Briten eigene Handelsabkommen schließen und es eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland gibt. Zweitens. Es gibt keinen Deal; das würde Chaos bedeuten – ich komme aus Hamburg, der vielleicht britischsten Stadt in Deutschland – und hätte in der Tat Konsequenzen, die wir alle nicht wollen. Drittens. Der Deal scheitert. Dann wird es Neuwahlen geben. Sollte Labour gewinnen, würde Corbyn eine dauerhafte Zollunion mit der EU anstreben. Eine neue Regierung braucht dafür aber Zeit und kann nicht für die alte Regierung verhaftet werden. Die EU sollte dann bereit sein, die Artikel‑50-Periode zu verlängern. Es gibt auch eine vierte Möglichkeit: ein zweites Referendum in Großbritannien über den Verbleib in der EU und die unilaterale Kündigung des Antrags auf Austritt aus der EU durch die Briten. Ich halte das in der Tat nicht für realistisch, und der Ausgang wäre auch nicht sicher. Aber sicher ist: Auch ein zweites Referendum würde zunächst eine Ablehnung des Deals und Neuwahlen erfordern; auch hier wäre also mehr Zeit erforderlich. Ich respektiere die inneren Angelegenheiten der Briten; aber man sollte auch nicht ein ganzes Land für seine schlechte Regierung verantwortlich machen. Ich bete daher täglich zu Gott oder zur Queen, dass es Neuwahlen in Großbritannien gibt und die Briten endlich von dieser Regierung erlöst werden. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist jetzt der zweite Europäische Rat ohne Regierungserklärung. Das ist auch nicht ersetzbar durch eine Fragestunde, wie wir sie gestern hatten, wo drei Minuten über den Rat geredet wurde. Daher finden wir es richtig, dass die FDP einfordert, es fester und verpflichtender zu etablieren, dass vor den Räten und danach hier im Haus debattiert werden muss. ({0}) Wenn man sich den Brexit anschaut, dann ist das ein einziges Trauerspiel, über das sich nur noch Zyniker oder Nationalisten freuen können. Wahrscheinlich ging es Ihnen allen gestern Abend so wie mir. Ich war erleichtert darüber, dass May das Misstrauensvotum überstanden hat. Es ist irgendwie schon absurd, dass man sich darüber freut und denkt: Eine Verrücktheit weniger, es bleiben nur noch die von Montag, dem 10. Dezember, die ja auch schon alle unlösbar sind. Das ist der Zustand der Verrücktheit, den wir gerade auf der britischen Insel haben. Was will Frau May? Alles, was wir bis jetzt gehört haben, ist, dass sie die rechtliche Zusicherung haben möchte, dass der Backstop nicht dauerhaft gilt oder – das ist das andere, was man hört – dass der Backstop nur in Kraft treten kann, wenn das Unterhaus darüber noch mal abgestimmt hat. Da kann ich nur sagen: Beides wäre der Wahnsinn. ({1}) Worum geht es denn eigentlich? Es gab den Konflikt, den Krieg, zwischen Irland und Nordirland, der zum Glück beendet wurde. Dieser Frieden hat einiges mit der Europäischen Union zu tun; auch wenn es einige auf der Insel erst jetzt entdecken oder erst jetzt bereit sind, darüber zu reden. Dass der Frieden möglich ist, hat viel damit zu tun, dass es zwischen Nordirland und Irland keine Grenzen gibt. Und es ist auch ein vitales Interesse von Irland und der Europäischen Union, diese offene Grenze zu behalten, damit es nicht wieder zu Konflikten, zum Krieg, auf der Insel kommt. ({2}) Jetzt sagen manche: Na ja, das ist doch nicht so schlimm, dann gibt es keinen Deal, dann ist es halt so wie mit der Schweiz. – Nein, es ist eben nicht so wie mit der Schweiz. Wie wäre denn die Grenze zwischen Nordirland und Irland? Sie wäre so wie zwischen der Europäischen Union und Russland; das wäre die Situation, in der sich Nordirland und Irland befinden würden. Und das geht eben nicht, das haben die Iren und die Europäische Union ganz klar gesagt. Und das ist auch richtig so. Was würde es bedeuten, würden wir einfach sagen: „Die Grenzen bleiben offen“? Das ist das, was die Briten häufig sagen: Dann lasst halt die Grenzen einfach offen. – Na ja, dann kann von Schweinepest bis Waffen alles in die Europäische Union reinkommen, ohne dass es irgendjemand kontrolliert hat. Das ist auch nicht im Interesse der Europäischen Union. ({3}) Deswegen haben wir einen sogenannten Backstop, der bedeutet: Es ist eine offene Grenze, Nordirland und UK bleiben Teil einer Zollunion, und Nordirland hält sich an einen Teil der Binnenmarktregeln. Das ist unserer Meinung nach schon ziemlich schwach ausgerichtet; aber es ist immerhin eine Antwort. Das ist aber nur die Antwort, wenn wir mit den Briten keine bessere finden. Das Ziel ist natürlich, dass man sich am Ende auf eine bessere Vereinbarung einigen kann, zum Beispiel wie mit Norwegen oder der Schweiz. Aber falls wir uns nicht einigen können, ist das unsere Rückversicherung – im schlechtesten Fall kommt das. Was macht May? Ich vergleiche es mal mit einer Brandschutzversicherung. Frau May sagt: Wir haben jetzt eine Brandschutzversicherung abgeschlossen, aber in den AGBs steht drin, dass, wenn das Haus wirklich brennt, der Chef der Versicherung entscheiden kann, ob die Versicherung auch wirklich gilt. – Dazu kann ich nur sagen: Das können Sie sich in die Haare schmieren. Das ist dann keine Versicherung mehr, sondern nur noch ein Ausnutzen der europäischen Solidarität. Das geht nicht, sehr geehrte Frau May. ({4}) Die Europäische Union darf nicht das vitale Interesse eines Mitgliedslandes über die Interessen von verrückten Tories oder einem unverantwortlichen Corbyn stellen. Das wäre doch der Wahnsinn, wenn die EU jetzt bereit wäre, diese Interessen preiszugeben für etwas, bei dem man noch nicht mal sicher ist, dass May am Ende dafür eine Mehrheit in ihrem Haus hätte. Das wäre doch der absolute Wahnsinn. ({5}) Daher, Herr Maas, bin ich wirklich der festen Überzeugung, dass da rechtlich nichts verändert werden darf. Sie können politisch noch zehnmal deklarieren, dass es für uns nur eine Versicherung ist und dass wir eigentlich etwas Besseres wollen; aber die Versicherung muss auch wirklich als Versicherung gelten. Alles andere wäre für die Europäische Union einfach nur fahrlässig. ({6}) Es ist übrigens interessant, warum das so schwierig ist: Die Briten wollen rausgehen aus diesem Haus, aber gleichzeitig drin wohnen bleiben. Das ist wie mit einem Teenager, der mit 18 auf Randale aus ist und sagt: „Jetzt aber raus, ich möchte Kontrolle über mein Leben haben, alles alleine machen“, aber auch sagt: „Mama und Papa, also, wenn ihr noch die Versicherung weiter für mich zahlt und irgendwie guckt, dass ich weiterhin ein Dach über dem Kopf habe, und zum Essen würde ich ab und zu auch gerne bei euch vorbeischauen, so am Sonntag, in gemütlicher Runde. Ginge das?“ ({7}) Das ist die Situation, die wir haben. Da kann ich den Briten nur sagen: Das macht es halt schwierig. Ihr könnt gerne weiter sonntags mit uns essen, und wir sind gerne bereit, euch Sicherheit mit zu garantieren; alles möglich. Aber was nicht geht, ist, dass ihr am Sonntag abhaut, ohne den Tisch mitabgeräumt zu haben. Ihr könnt nicht alle Rechte haben und keine Pflichten. Das geht nicht, in einer Familie nicht und in der Europäischen Union auch nicht. ({8}) Das haben wir bis jetzt auch immer durchgezogen, mit der Schweiz, mit Norwegen. Wir haben gerade einen großen Konflikt mit der Schweiz. Ich kann Ihnen sagen: Die Schweizer gucken sehr genau, was gerade mit den Briten passiert. Die warten nämlich nur darauf, dass wir Sonderausnahmen für die Briten machen. Dann werden die Schweizer sagen: Das hätten wir auch gerne. Und dann werden die Norweger kommen und sagen: Das hätten wir auch gerne. Und dann kommt Le Pen und sagt: Das hätte ich auch gerne. – Das ist das große Risiko. Deswegen darf es da keine Rabatte geben, keine Rosinenpickerei. Wir müssen unseren Kontinent retten, unsere Europäische Union. Auf Wahnsinn darf man nicht mit Wahnsinn antworten, sonst kriegt man nur noch mehr Wahnsinn. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Dr. Katarina Barley, SPD. ({0})

Dr. Katarina Barley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004247, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mich persönlich schmerzt der Brexit jeden Tag. Ich habe Familie dort. Ich habe auch einen britischen Pass; die meisten hier wissen das. Ein Teil der Familie, die ich dort habe, ist innerhalb Großbritanniens vor einiger Zeit von England nach Schottland gezogen. Eine der Fragen, die sie beschäftigt, ist: Wenn das jetzt alles so weitergeht, was macht dann eigentlich Schottland? Werden wir vielleicht irgendwann Ausländer im eigenen Land sein? – Dieser „Wahnsinn“, von dem die Kollegin Franziska Brantner zu Recht gesprochen hat, hat Dimensionen, die wir, wie ich glaube, im Moment noch gar nicht alle absehen können. Fakt ist, dass noch gar nicht klar ist, wohin die Reise am Ende gehen wird. Wir haben noch immer ganz, ganz viele Optionen offen; viele Rednerinnen und Redner haben das schon gesagt. Jeden Tag erleben wir eine neue kleine Wendung. Dadurch, dass das Misstrauensvotum gestern gescheitert ist, ist in diesem ganzen Prozess eine kleine Atempause entstanden; aber es bleibt ein großes Chaos. Was haben wir jetzt? Das fertig ausgehandelte Austrittsabkommen. Dieser Prozess war die Quadratur des Kreises. Man konnte nicht ein Ergebnis schaffen, mit dem am Ende alle zufrieden sein konnten; das war völlig klar. Aber es ist so gut gelungen, wie es eben möglich war. Das war ein fairer Prozess, ein geschlossener Prozess innerhalb der Europäischen Union – das war auch nicht selbstverständlich –, und vor allen Dingen konnte die so schwierige Frage des Verhältnisses zwischen der Republik Irland und Nordirland zufriedenstellend geklärt werden, zumindest aus unserer Sicht; sie wird hoffentlich auch aus britischer Sicht noch zufriedenstellend geklärt werden. Das ist wirklich das Existenzielle. Daran lässt sich festmachen, worum es bei einer Institution wie der Europäischen Union, worum es bei der europäischen Einigung eigentlich geht: Es geht darum, dass wir in einer Staatengemeinschaft friedlich miteinander leben können. ({0}) Dass wir das können, hat damit zu tun, dass wir in der Lage sind, durch Gespräche, durch Verhandlungen miteinander Kompromisse zu finden, und nicht mehr an Grenzen hart aufeinanderprallen, wie das früher zwischen Irland und Nordirland der Fall war. Wir haben es geschafft, dass die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, die aus Großbritannien in ein anderes EU-Land gezogen sind und dort weiterleben wollen – das gilt auch für die umgekehrte Richtung –, gewahrt werden. Wir werden weiterhin ganz enge Handelsbeziehungen haben. Das wird eine Partnerschaft sein, wie es sie noch nie mit einem Drittstaat gegeben hat, so eng und hoffentlich auch so vertrauensvoll. All das liegt im gemeinsamen Interesse Deutschlands, Großbritanniens und der gesamten EU. Ich bin sicher, egal wie das jetzt weitergeht und ausgeht, es wird immer eine ausgestreckte Hand zu unseren britischen Freundinnen und Freunden geben. ({1}) Was ist jetzt der aktuelle Befund? Der aktuelle Befund ist: Wir haben eine EU, die eher noch geschlossener ist als vorher. Das hat etwas mit den Verhandlungen zu tun. Das hat aber auch etwas damit zu tun, dass den Bürgerinnen und Bürgern in den Mitgliedstaaten deutlicher geworden ist, was eigentlich auf dem Spiel steht, sogar in Ländern wie Polen, wo es ja teilweise große Vorbehalte gibt; zumindest denkt man das, wenn man sich anhört, was die Regierung sagt. Auch da ist das Bewusstsein dafür gestiegen, welche Errungenschaft auch für das polnische Volk die Europäische Union darstellt. Die Zustimmungswerte steigen in vielen Mitgliedstaaten. Auf der anderen Seite haben wir ein zutiefst gespaltenes Großbritannien, wie ich persönlich es nicht für möglich gehalten hätte – das hat sich schon im Referendum selbst gezeigt –: zwischen den einzelnen Landesteilen, zwischen Stadt und Land, zwischen Jung und Alt. Jetzt haben wir diejenigen, die am liebsten alles rückgängig machen würde, wir haben diejenigen, die vernünftig verhandeln, und wir haben diejenigen, die am liebsten den harten Cut wollen. Was lernen wir daraus? Das ist heute noch gar nicht zur Sprache gekommen. Ich glaube, wir müssen uns wirklich fragen, was wir aus diesem ganzen Prozess lernen können. Es ist ziemlich viel, was man daraus lernen kann: Man kann zum einen daraus lernen, was passiert, wenn man von innenpolitischen Schwierigkeiten ablenken will und dafür die Europäische Union missbraucht. ({2}) Vergegenwärtigen wir uns doch noch einmal, wie es überhaupt zu diesem Referendum gekommen ist: David Cameron hat es im Wahlkampf auf die Tagesordnung gesetzt in dem vermeintlichen Bewusstsein, es gar nicht abhalten zu müssen. ({3}) Nigel Farage hat gezündelt und sich dann nachher vom Acker gemacht, als das Referendum überaschenderweise so ausgegangen ist, wie er es sich gewünscht hat. ({4}) Und Theresa May muss das jetzt aufräumen. Wie immer: Die Männer haben den Unfug angerichtet, und die Frauen müssen aufräumen. Sie tut es so gut, wie sie es eben kann. ({5}) Das zeigt aber auch, was passiert, wenn man nicht wählen geht. Ich glaube, auch das sollte man an einem Tag wie diesem einmal sagen. – Oh, Aufruhr bei den Männern im Parlament! Ich bitte, das zu Protokoll zu nehmen. ({6}) – Bei den CDU-Männern auch, lieber Herr Grosse-Brömer. – Was passiert, wenn man seine demokratischen Rechte nicht wahrnimmt, auch das zeigt dieses Referendum. Wir sehen das insbesondere bei den jungen Menschen. Drei Viertel der Britinnen und Briten unter 25 wollten in der EU bleiben, und nur ein Drittel ist zur Wahl gegangen. Allein diese Gruppe hätte das Referendum entscheiden können. Ich bin wirklich froh, dass dadurch ein höheres Bewusstsein entstanden ist – so erlebe ich das jedenfalls; gerade bei den jungen Menschen in der Europäischen Union, aber nicht nur bei ihnen –, dass es sich lohnt, für diese Europäische Union zu streiten und auch zur Wahl zu gehen. ({7}) Ein weiterer Punkt ist: Wir müssen besser werden. Wir müssen besser erklären, aber wir müssen auch dieses Europa besser machen. Wir müssen es sozialer machen. Wir müssen eine kulturelle Union schaffen. Wir brauchen eine Union des Fortschritts, der Jugend. Wir müssen uns weiterentwickeln, weg von der reinen Wirtschaftsunion.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die Redezeit ist um.

Dr. Katarina Barley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004247, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist eine Aufgabe, die bleibt. Was aber auch immer bleiben wird, ist die enge Freundschaft zu Großbritannien. ({0}) Dafür werde ich auch persönlich alles geben. Danke schön. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist Dr. Harald Weyel, AfD. ({0})

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Geehrter Herr Präsident! Damen und Herren! Liebe Zuschauer, auch draußen im Lande! Der Antrag ist zuvörderst ein hochoffizielles Eigenlob und eine erwartbare Verbeugung vor dem vermeintlichen Verhandlungsgenie eines Herrn Barnier. Weiterhin ist er eine interessante Gratwanderung zwischen Drohgebärde gegenüber dem britischen Parlament – es wird keine Neuverhandlung geben – und Schuldzuweisung an die britischen Wähler. Der Brexit lässt nur Verlierer zurück. Beides erinnert ein bisschen an „Gott strafe England“ auf der einen Seite und Kontinentalsperre à la Napoleon I. auf der anderen. ({0}) Was wollen Sie da tun? Beides erinnert an das sprichwörtliche Pfeifen im Walde, mit dem man seiner Angst vor dem, was da kommt, Herr werden will. ({1}) Was da auf die Europaideologen zukommt, ist nicht nur der Austritt der Briten, sondern auch die alte Frage nach der Reformfähigkeit und vor allem nach der Reformwilligkeit der EU. Diese Frage treibt nicht nur die britischen Wähler um, sondern eben auch die deutschen. Hätten die antragstellenden Parteien, insbesondere die mit dem C, es jemals ernst gemeint mit intelligenten Sub­stanzreformen einer völlig verfahrenen EU oder Euro-EU, so wären sie schon einem Premierminister Cameron entsprechend entgegengekommen. Stattdessen haben Sie es wieder einmal den Franzosen recht machen wollen mit unserem Steuerzahlergeld, ein ums andere Mal. ({2}) Die schier überbordende Spendierwilligkeit auch aller Scheinoppositionsparteien hier im Parlament, die allesamt links von uns sitzen, hat die Briten letztlich in ihre schon intern missliche Verhandlungsposition gebracht. Als deutsche Hauptlastträger aller negativen Folgen haben Sie es nicht einmal für nötig befunden, einen deutschen Verhandlungsführer durchzusetzen, so wie Sie einfach alles Verunstalterische, alles, was die Idee von Freiheit, Markt und Lastengerechtigkeit einer nicht ma­roden EU angeht, sowieso den Franzosen und ihren zahlreichen Trittbrettfahrern kampflos überlassen. ({3}) Apropos: „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“ würde bei Goethe heute wohl heißen müssen: Kennst du das Land, wo nicht nur die Mülleimer brennen? ({4}) Damit würde er insbesondere Frankreich umschreiben. Wieso sollte sich also jemand an eine ungut durchpolitisierte Wirtschaftsraumverwaltung namens EU binden, die mit gemeinsamen, gemeinsamer, gemeinsamster Arbeitslosenversicherung, steuerfinanzierten Sonder- und Pseudoinvestitionsvehikeln sowie mutierten Dauerrettungsfonds à la ESM oder EWF und noch viel mehr an grobem Unfug sozusagen die natürliche Schwerkraft der Konjunkturen und des Haftungsprinzips außer Kraft setzen will? ({5}) Dieses Europa soll doch letztlich in Staatswatte gepackt werden, weil man dem EU-Berufspolitikmoloch und seinen Profiteuren und Claqueuren auf den Leim geht, die behaupten, sie können besser wirtschaften als Unternehmer und Konsumenten. Derweil kriegt der Moloch nicht mal seine elementarsten Hausaufgaben hin, effektiven Grenzschutz beispielsweise. Hier erweist sich das dysfunktionale Weltsozialamt Deutschland als der eigentliche faule Kern des vermeintlich gesunden EU-Europa-Apfels. ({6}) Lassen Sie die Briten gehen und aufzeigen, dass es sehr wohl ein Leben nach der EU gibt und dass nach eventuellen Dellen in einem Umstellungsprozess sich bald keiner mehr daran erinnern kann, warum in aller Welt man diesen kontinentaleuropäischen Zirkus überhaupt so lange mitgemacht hat. ({7}) In den zurückliegenden zweieinhalb Jahren seit dem Referendum haben sich die Aktienmärkte vor Ort phasenweise sogar besser entwickelt als der EU-Durchschnitt. Endlich kühlt vor allem auch der überhitzte Immobilienmarkt ein bisschen ab. So sehen sie aus, die Kräfte des Marktes, wenn man sie nur lässt. Danke und Good Luck nach Großbritannien. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Florian Hahn, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Weyel, ich weiß nicht, ob Sie in der Tagesordnung die Überschrift zu dieser Debatte gelesen haben. Sie lautet: Brexit. In Ihrem Beitrag aber habe ich nichts zum Brexit und zur Frage, wie der Brexit gestaltet werden soll, der so ungeheuerliche Konsequenzen auch für unser Land hat, gehört. Nichts! Sie haben dafür keine Idee. Sie betreiben allein EU-Bashing. ({0}) Sie haben in dieser Debatte versagt. Sie haben keinerlei Beitrag dazu geleistet, zu klären, wie wir den Brexit gestalten sollten. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten am Anfang eines Wortbeitrags zum Brexit das hervorheben, was für alle Beteiligten einschließlich des Vereinigten Königreiches am besten wäre, nämlich der Exit vom Brexit, die Abkehr vom EU-Austritt. ({2}) Die Umkehr Londons wäre sogar unproblematisch und einseitig von London noch bis Ende März umsetzbar. Beginnen möchte ich deshalb mit dem Text am Ende unseres Antrags, über den wir heute debattieren: Die Tür zur Europäischen Union muss für das Vereinigte Königreich auch in Zukunft offengehalten werden. ({3}) Im gleichen Atemzug sollte aber auch klargestellt werden – und das sollten wir nicht vergessen, wenn wir über die Konsequenzen debattieren –, wer uns die Suppe eingebrockt hat: ({4}) die britische Regierung, wenn auch nicht die von Theresa May, sondern die des Vorgängers. ({5}) Die Lage wird jeden Tag komplexer und unübersichtlicher. Ich möchte deshalb einige aktuelle Fragen aufgreifen. Warum darf das Austrittsabkommen nicht mehr aufgeschnürt werden, wie London es gerne hätte? Bis zum Ende der Verhandlungen zum Austrittsabkommen galt: Nichts ist vereinbart, bis nicht alles vereinbart ist. Umgekehrt muss es dann auch heißen: Einen wichtigen Einzelaspekt infrage zu stellen, bedeutet, das Gesamtpaket infrage zu stellen. Das kann doch jetzt niemand ernsthaft wollen. Es geht dabei nicht um Prinzipienreiterei und auch nicht darum, jemanden zu bestrafen. ({6}) Das zeigt die jetzt laufende Debatte über den Backstop. Warum brauchen wir den Backstop? Beim Backstop geht es ganz konkret um die eminent wichtige Frage der Bewahrung des Friedens auf der irischen Insel und die Bewahrung des Karfreitagsabkommens. Weder London noch wir wollen, dass der Backstop in Kraft tritt. Er wäre nur eine Zwischenlösung für den Fall der Nichteinigung. Besser wäre es natürlich, wenn sich Brüssel und London innerhalb der Übergangsphase auf ein dauerhaftes neues Regime verständigen würden. Warum ist der Backstop nicht befristet und sieht keine Kündigungsrechte für London vor? Weil wir auf der irischen Insel dauerhaft, unwiderruflich und wasserdicht Zollgrenzkontrollen verhindern wollen. Das wäre nicht gewährleistet, wenn der Backstop befristet wäre oder London ihn einseitig kündigen könnte, ohne dass es eine Anschlussregelung gibt. Zudem würden wir uns in den Verhandlungen über das Zukunftsabkommen in dieser Frage von London abhängig machen. Sind das nicht theoretische Gedankenspiele? Muss die EU nicht trotzdem einlenken angesichts des Chaos in London? ({7}) Wir sind für dieses Chaos nicht verantwortlich. Das Beste für alle wäre eine Abkehr vom Brexit. Das britische Volk hat zwar vor gut zwei Jahren für den EU-Austritt gestimmt, aber es waren viele Falschinformationen im Spiel. Wenn ich mir das aktuelle Chaos in London anschaue, bin ich mir nicht sicher, ob die britische Bevölkerung sich das so vorgestellt hat. Stand heute, zweieinhalb Jahre später, wissen wir vor allem, was London nicht will: Es will nicht in der EU bleiben. Es will das vorliegende Austrittsabkommen nicht. Aber die innenpolitischen Probleme des Vereinigten Königreichs können wir nicht lösen, schon gar nicht dadurch, dass wir sehenden Auges Gefahr laufen, in einigen Jahren entweder die Integrität des EU-Binnenmarktes oder den Frieden auf der irischen Insel aufs Spiel setzen zu müssen. Fazit: Mehrheiten gegen alles Mögliche gibt es in London, aber keine für etwas. Der Ball liegt bei London: harter Brexit, weicher Brexit, kein Brexit – das sind die Optionen. Wir wollen endlich wissen, was London will. Wir wissen, was wir wollen. Wenn es zu einem Brexit kommt, dann wünschen wir uns einen weichen Brexit. Dafür haben wir ein gutes Abkommen. Wir wünschen uns eine friedliche Lösung für Irland. Und wir wünschen uns ein gutes Verhältnis zum Vereinigten Königreich, auch wenn es außerhalb der Europäischen Union ist, ohne dass der Austritt zum attraktiven Prototyp für eine Auflösung der EU wird. So haben wir das auch im vorliegenden Antrag deutlich gemacht. Ich bitte deshalb um Zustimmung. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Marco Buschmann, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Großbritannien ist das Mutterland der Demokratie. Großbritannien ist das Mutterland des Parlamentarismus. Bedenkt man John Lockes großen Satz, dass Leben, Freiheit und Besitztümer zum Menschen gehören, ist Großbritannien auch das Mutterland der Grund- und der Menschenrechte. Wenn ein solches Land seine Zukunft nicht mehr im Kreise der EU sieht, sondern außerhalb, dann ist das ein Anlass, der mich nicht nur besorgt, er macht mich traurig. Ich möchte fast sagen: Es zerreißt einem das Herz. ({0}) Deshalb sollten wir trotzdem, auch wenn es einige schon mehrmals gesagt haben, klar zum Ausdruck bringen: Wenn das britische Volk nach seinen eigenen verfassungsmäßigen Regeln zu dem Ergebnis kommen sollte, dass es seine Entscheidung korrigieren möchte, dann sollte es kein Triumphgeheul geben, dann darf es keine Arroganz geben, sondern dann sollten wir uns freuen und es wie den verlorenen Sohn im Kreise der Familie willkommen heißen, und zwar ohne jegliche Überheblichkeit. Dieses Signal sollte von dieser Debatte ausgehen. ({1}) Es zerreißt einem nicht nur das Herz, wenn man die Entwicklung beobachtet, sondern der harte Brexit würde auch Lieferketten zerreißen. Alexander Graf Lambsdorff und andere Redner haben darauf hingewiesen: Es betrifft das Familienrecht, das Gesellschaftsrecht, Medizinproduktezulassung – unzählige Lebensbereiche sind betroffen. Und wir sind uns in Wahrheit doch einig: Angesichts dieses Ereignisses, das so tiefgreifende, einschneidende Veränderungen im Leben nicht nur der britischen Bürger, sondern auch unserer Bürger bedeuten könnte – wenn es beispielsweise bei Ford demnächst Produktionsdrosselungen gibt, wenn Zulieferer betroffen sind –, müssen wir alle gemeinsam von der Bundeskanzlerin eine Regierungserklärung verlangen, aus der hervorgeht, wie sie die Lage beurteilt, was die Instrumente wären, um Schaden von uns abzuwenden, und wie sie diese Instrumente umsetzen würde. Ich kann nicht verstehen, dass die Bundeskanzlerin bis heute angesichts dieser historischen Entwicklung – der Außenminister hat es selbst „historisch“ genannt – eine Regierungserklärung in diesem Haus verweigert. Das ist inakzeptabel. ({2}) Wir werden als Parlament hier trotz dieser historischen Entwicklung wie Bittsteller behandelt, als ob wir um eine Audienz bei einem Gutsherren bitten; und es wird in Gutsherrenmanier darüber entschieden. Das ist angesichts einer so bedeutenden Frage ein Modus im Umgang, den wir uns als selbstbewusstes Parlament nicht bieten lassen können. ({3}) Und wenn das so ist, ({4}) dann ist der Weg, darauf zu antworten, der, ein Gesetz zu machen: Wir wollen und schlagen deshalb dem Parlament vor, dass dieses Parlament bei solchen Entscheidungen, solchen Entwicklungen mit solcher Tragweite nicht mehr betteln muss um eine Regierungserklärung, ({5}) sondern dass dieses Parlament einen Anspruch darauf hat, dass die Bundesregierung vor Räten und vor großen Entscheidungen mit internationalen Bezügen durch die Regierungschefin hier erklärt, ({6}) was sie vorhat, und sich anhören muss, was wir dazu zu sagen haben, und zwar als Vertreter des deutschen Volkes. Das ist angemessen für demokratischen Parlamentarismus. ({7}) Ich möchte schließen mit einer Bemerkung, die nicht von einem Mitglied meiner Fraktion stammt. Mein Büronachbar Norbert Lammert hat stets gesagt – –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Buschmann, der Kollege Grosse-Brömer würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich freue mich darauf. ({0})

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich freue mich auch, dass Sie, Herr Kollege, diese Frage zulassen. – Sind Sie mit mir einer Auffassung, dass das deutsche Parlament zu den Parlamenten zählt, das klare Regeln hat zur Beteiligung in Angelegenheiten der Europäischen Union – ja, dass man fast sagen kann: Kein Parlament ist eigentlich so intensiv beteiligt an der Einflussnahme auf die Regierung, wenn es um Entscheidungen in Europa geht? Würden Sie bestätigen, dass die Bundeskanzlerin hier regelmäßig Stellung nimmt vor großen Gipfeln, dass sie das zu G 20 getan hat, ({0}) dass sie das natürlich nicht zu jedem Gipfel macht, weil mancher Gipfel natürlich auch eine gewisse Routine ist, und dass es möglicherweise auch Sinn macht, dass die Bundesregierung in ihrer eigenen Kompetenz entscheidet, ob sie gewisse Sachen für so bedeutsam hält, dass sie dazu eine Regierungserklärung abgibt? ({1}) Wenn das alles zutrifft, würden Sie dann vielleicht mit mir der Auffassung sein, dass eine gesetzliche Regelung – zumal es auch schwierig ist, zu sagen, wann es wichtig und wann es unwichtig ist; ({2}) wahrscheinlich gibt es dazu sehr unterschiedliche Auffassungen – in diesem Fall wirklich unsinnig wäre? ({3})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin sehr dankbar für diese Frage; sie war nämlich zu erwarten, und sie gibt mir Gelegenheit, einen Teil meiner Argumentation vorzutragen, die ich sonst in vier Minuten nicht hätte unterbringen können. ({0}) Deshalb bin ich Ihnen erstens sehr dankbar und komme jetzt zweitens zur materiellen Beantwortung dieser Frage. Lieber Michael, das Bundesverfassungsgericht hat uns als Parlament aufgegeben, dass wir hier aufgrund unserer Verfassung eine Integrationsverantwortung haben ({1}) und dass deshalb der alte Modus, europäische Angelegenheiten wie Außenpolitik zu betrachten, verfassungsrechtlich inakzeptabel ist. Und deshalb haben wir hier das EUZBBG durchgesetzt. ({2}) Und deshalb ist es auch richtig, dass der Deutsche Bundestag eingebunden ist in Angelegenheiten der Europäischen Union, ({3}) dass diese Regelung jedoch zu einer Lücke führt: Die Informationspolitik ist intransparent, Große Anfragen werden so beantwortet, dass sich dieses Parlament verhöhnt fühlen muss, und eine Regierungserklärung wird verweigert, obwohl es um einen historischen Vorgang geht. Das führt dazu, dass eine Lücke an Aufklärung entsteht, in die dann die Fake News der Freunde vom rechten Rand Einzug halten. Und deshalb wäre es klug – in Anbetracht der Integrationsverantwortung, der Transparenz und des Selbstbewusstseins dieses Parlaments –, eine gesetzliche Regelung zu treffen. Und jetzt sage ich dir, Michael – ich bin noch nicht zu Ende –: Die Frau Bundeskanzlerin hat verweigert, hier eine Regierungserklärung abzugeben, obwohl wir am 1. Dezember 2016 die G‑20-Präsidentschaft übernommen haben – eine ganz außergewöhnliche Entwicklung. ({4}) Die Frau Bundeskanzlerin hat verweigert, hier eine Regierungserklärung vor dem ersten NATO-Gipfel mit Donald Trump abzugeben, der die Existenz des Nordatlantischen Bündnisses infrage gestellt hat. ({5}) Ja wenn man selbst bei solchen Dingen hier die Regierungserklärung verweigert, dann ist es Zeit, eine gesetzliche Verpflichtung einzuführen; daran führt kein Weg vorbei. ({6}) Und deshalb möchte ich mit den Worten des ehemaligen Präsidenten dieses Hauses schließen – Michael, der deiner Fraktion angehört –: „Nicht die Regierung hält sich ein Parlament“, sondern ein Parlament hält sich eine Regierung. – Und dieses Selbstbewusstsein fordern wir über unseren Gesetzentwurf ein. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Detlef Seif, CDU/CSU. ({0})

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen unserer Kollegen Marco Buschmann und Graf Lambsdorff können so natürlich nicht stehen bleiben. ({0}) Hier wird der Eindruck erweckt, als ob die Bundesregierung völlig überrascht sei und sagt: Jetzt haben wir eventuell einen harten Brexit; jetzt müssen wir uns vorbereiten. Tatsache ist doch, dass sich kein Mitgliedstaat schon zu Beginn der Verhandlungen nach außen erkennbar im Sinne eines Hard Brexit betätigt. Das würde doch den Eindruck erwecken, wir gingen von vornherein davon aus, dass es nichts wird. ({1}) Und wenn Sie einmal genau hinschauen, sehen Sie, dass sich diese Bundesregierung seit Sommer 2016 auf die Konsequenzen vorbereitet: Es fanden Ressortabstimmungen statt. Es wurde Personalbedarf ermittelt. Es wurde Anpassungsbedarf ermittelt. Es gab eine enge Zusammenarbeit mit den Verbänden ZDH und DIHK. Es gibt – wenn Sie sich einmal die Mühe machen – auf der Seite des Wirtschaftsministeriums eine E‑Mail-Adresse ({2}) und das Bürgertelefon „Brexit“, über die Sie sich als Unternehmer mit Ihren Fragen dorthin wenden können. ({3}) Wir als Parlament haben in Verbindung mit der Bundesregierung jetzt auch bereits vieles zu den Bürgerrechten auf den Weg gebracht – ich darf daran erinnern –: Staatsangehörigkeitsrecht, Beamtenstatusgesetz, Umwandlungsgesetz, Brexit-Steuerbegleitgesetz, Bausparkassengesetz, Pfandbriefgesetz, Regelungen für grenz­übergreifende Finanzdienstleistungen, Bestimmungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, Berufsausbildungsgesetz, Regelungen zum Arbeitsmarktzugang, zu aufenthaltsrechtlichen Fragen. Ja, wie kommen Sie auf die Idee, dass wir nicht vorbereitet sind? Natürlich sind wir das. Und jetzt sehen wir, dass der Hard Brexit eventuell kommt; und die drei, vier Monate werden ausreichen, damit wir uns nach diesen guten Vorbereitungen national, in der Bundesregierung und im Bundestag, dann auch letztlich an die wichtigen Gesetze begeben können. ({4}) Und an die AfD gerichtet: Es ist ja nicht so, dass wir die Erkenntnis haben: Das ist ein Lose-lose-Ergebnis, also beide werden verlieren. Ich darf daran erinnern: In den Jahren 2012 bis 2015 hat die britische Regierung selbst eine Untersuchung der Kompetenzverteilung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf den Weg gebracht. Ergebnis: wunderbar, auch im Interesse Großbritanniens. – Kurz vor dem Referendum über den Brexit schlussfolgerte die britische Regierung, dass kein bestehendes Modell außerhalb der Europäischen Union auch nur annähernd dieselben Vorteile und denselben Einfluss bieten könne wie die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Und dann gibt es noch einen geleakten Bericht vom Januar 2018; den wollte die britische Regierung zunächst verstecken und geheim halten. Daraus folgt: Bei allen Brexit-Szenarien wird der Verlierer auch eindeutig Großbritannien sein, und die wirtschaftliche Entwicklung wird deutlich zurückgehen. Meine Damen und Herren, wenn wir nach Großbritannien schauen, dann habe ich den Eindruck, dass den dortigen Politikern doch eines verloren gegangen ist: der klare Kompass für ein Handeln aus Überzeugung und für ein Handeln auf der Grundlage von Daten und Fakten. Denn anders ist es nicht zu erklären, dass die Erkenntnisse aus den Berichten nicht umgesetzt und nicht berücksichtigt wurden. Es ist schade, dass man hier seinen Weg stur weitergeht. Meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor. Wir haben jetzt in Europa, in der Europäischen Union und auch in den Mitgliedstaaten einige Absagen an Großbritannien erteilt, was Nachverhandlungen über den Inhalt des Austrittsabkommens angeht. ({5}) Ich habe mich am Samstag mit einem britischen Staatssekretär unterhalten, und er hat mir gesagt: Ach, das war doch immer so. Im letzten Moment, wenn es darauf ankommt, da gibt die EU doch nach. Ich kann an unsere britischen Freunde nur die Erklärung abgeben: Macht keinen Fehler! Nachverhandlungen sind ausgeschlossen. Es wurden bereits rote Linien überschritten. Durch das Ergebnis dürfen weder das Projekt EU noch die Integrität des Binnenmarktes beeinträchtigt werden. ({6}) Deshalb gibt es auch keine Nachverhandlungen. Die Bedenken der britischen Seite bei der Notfalllösung müssen wir natürlich ernst nehmen. Dort ist der Eindruck entstanden: Man will uns innerhalb der Europäischen Union halten durch eine Zollunion, durch Binnenmarktregelungen für Nordirland. – Diesen Eindruck – das ist ganz wichtig – müssen wir im Weiteren zunichtemachen, indem wir unseren Freunden aus Großbritannien deutlich machen, dass auch wir – die Europäische Union, aber auch Deutschland – ein großes Interesse daran haben, möglichst schnell innerhalb der Übergangsphase tatsächlich zu einem Freihandelsabkommen zu kommen. Abschließend kann ich an die britischen Freunde nur appellieren, die uns an dieser Stelle – das ist richtig – einen Vertrauensvorschuss geben müssen, in ihrem eigenen Interesse und auch im Interesse der angestrebten besonders engen, freundschaftlichen und maßgeschneiderten zukünftigen Beziehungen zur EU dem ausgehandelten Austrittsvertrag und der politischen Erklärung zuzustimmen, gegebenenfalls noch mit den Zusicherungen, die ich gerade aufgezeigt habe. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Philipp Amthor, CDU/CSU. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte zum Brexit hat uns gezeigt – und ich glaube, so sollten wir auch immer differenzieren –, dass wir dieses Problem auf mehreren Ebenen angehen müssen. Natürlich – das müssen wir gerade auch als selbstbewusste Parlamentarier sagen – ist die allererste Ebene, auf der wir uns diesem Thema nähern, die nationale Perspektive: ({0}) Was ist zu tun für unser Land, was müssen wir anpassen, welche Konsequenzen sind im deutschen Interesse? Ich will entgegen aller Kassandrarufe, die es hier in der Debatte gab, deutlich sagen: Die Bundesregierung ist vorbereitet, und wir werden auch auf die neuen Entwicklungen reagieren. Wir werden hier im nationalen Interesse agieren. ({1}) Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Hinzu kommt aber – das ist völlig klar; Herr Buschmann, Sie haben das zu Recht angesprochen –: Natürlich gibt es die europäische Dimension des Brexits. Der Brexit ist für uns kein europapolitisches Tagesgeschäft, sondern im Moment wirklich eine der wichtigsten Entwicklungen innerhalb der Europäischen Union, die uns natürlich auch Sorge macht. Gerade deshalb haben wir als selbstbewusste Parlamentarier auch gesagt, dass wir uns mit einem Antrag, aus den Fraktionen heraus erarbeitet, mit diesem Thema beschäftigen wollen. Ich weiß ja nicht; aber die FDP scheint wirklich Sehnsucht danach zu haben, dass die Bundesregierung hier die Debatten aufwirft. Wir machen das bei uns in der Fraktion selbst und haben einen eigenen Antrag vorgelegt, und das ist auch ein guter Weg. ({2}) Ich will auch sagen: Der Antrag, den wir vorgelegt haben, enthält vor allem einen Anspruch, den wir haben müssen, nämlich den Anspruch, den Blick auf eine multinationale Welt zu lenken. Das ist auch wichtig. Wir sehen bei den Briten in der Innenpolitik im Moment eine gewisse Verunsicherung, und wir sehen in der britischen Innenpolitik vor allem – das darf nicht die Herangehensweise des Deutschen Bundestages sein –, dass man sich schneller einig darin ist, gegen etwas zu sein, als für etwas zu sein. Die Briten sind gegen das Abkommen, sie sind zum Teil gegen Theresa May, aber trotzdem auch gegen ein Misstrauensvotum, aber sie sagen uns nicht, für was sie sind. ({3}) Hier ist es wichtig, zu formulieren: Für was wollen wir eintreten? ({4}) Für uns ist ganz klar: Wir wollen hier für Freihandel, für eine Sicherheitskooperation und für Wachstum eintreten. Da ist die Tür auch für Großbritannien offen; aber wir sind nicht bereit, nur aus einer Abwehrhaltung heraus Freihandel zu betreiben und eine Kooperation einzugehen. Das ist nicht der richtige Weg auf der internationalen Ebene. Deswegen geben wir ein klares Bekenntnis zum Multilateralismus ab. Das ist auch der Geist, den unser Abkommen trägt. Aber wir sagen – das haben die Kollegen Florian Hahn und Detlef Seif zu Recht gesagt –: Wir wollen keine Nachverhandlungen. – Es gilt am Ende eines langen Abstimmungsprozesses: Take it or leave it. – So ist es auch mit diesem ausgehandelten Abkommen. Der Entwurf, der auf dem Tisch liegt, ist fair, er ist ausgewogen, und beide Seiten haben auch Zugeständnisse gemacht. ({5}) Ich kann nur sagen: Wenn die Briten glauben, dass sie durch den Brexit gewonnen haben, dann ist das die völlig falsche Grundannahme. Das Grundübel waren schon die Kampagne für den Brexit und die Entscheidung für den Brexit. ({6}) Man kann, wenn man eine falsche Grundentscheidung getroffen hat, nicht erwarten, als Gewinner vom Platz zu gehen. ({7}) Dass die Briten am Ende Einschnitte hinnehmen müssen, war schon in ihrer Entscheidung am Anfang begründet. Was ist unsere Erwartung auch als Europäer? Ich sage ganz klar, gerade auch mit Blick auf das nächste Jahr: Es muss einen Unterschied machen, ob man in der Europäischen Union ist oder nicht, und wenn man die Europäische Union verlassen will, dann darf man sich nicht wundern, dass das negative Konsequenzen hat. Es geht mir nicht darum, die Briten zu bestrafen, wie mancher kokettiert; ({8}) aber ich will auch nicht am Ende von Verhandlungen die Bilder sehen, auf denen Nigel Farage und Boris Johnson mit dem Union Jack in der Hand über die Straßen von London laufen und rufen: „We are free“. – Das ist das falsche Bild, und das werden wir auch nicht produzieren. Wir wollen in den Verhandlungen vielmehr erreichen, dass sich die Gemeinschaft zu Multilateralismus, zu Freihandel und zu Wachstum bekennt. Das ist ein Weg, wie man Europa gestalten kann. Dafür steht den Briten unsere Tür offen. Wir sagen hier: Wir wollen eine Zusammenarbeit mit Großbritannien, wir wollen die deutsch-britische Freundschaft; aber wir wollen keine faulen Kompromisse auf Kosten der Europäischen Union. Es ist etwas wert, wenn man in der Europäischen Union ist. Diese Erfahrung machen die Briten zurzeit, und sie ist schmerzlich. Ich hätte es mir für sie anders gewünscht. Nun hoffen wir, dass wir auf dem Weg vorangehen und dass die europäische Idee auch in Zukunft gewinnt. Dafür arbeitet meine Fraktion. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache 19/6412 mit dem Titel „Den Brexit geordnet vollziehen – Das Austrittsabkommen und die Politische Erklärung als Voraussetzung für eine künftige enge und vertrauensvolle Partnerschaft der EU mit dem Vereinigten Königreich“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Antrag mit den Stimmen von CDU/CSU gegen die Stimmen von AfD und Fraktion Die Linke bei Enthaltung von FDP und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. ({0}) – Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD angenommen. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 19/6399 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Liebe Landsleute! Die rot-grüne Regierung hat im Jahr 2004 die Meisterpflicht für 53 Handwerksberufe abgeschafft. Damit hat sie den Handwerksmeistern ihre Berufsehre und die Wertschätzung ihrer Arbeit genommen. ({0}) Ein starkes Stück, wenn man sich überlegt, dass die SPD mal eine Arbeiterpartei war! ({1}) Die Abschaffung des Meistersbriefs traf Gewerke, in denen die Unfallgefahr als gering eingestuft wurde – als ginge es nur um Sicherheit –, darunter Metall- und Glockengießer, Gold- und Silberschmiede, Holzbildhauer, Buch- und Siebdrucker, Korbmacher, Schneider, Weber, Kürschner, Schuhmacher, Sattler, Müller, Brauer und Mälzer, Glas- und Porzellanmaler und viele mehr, die ich jetzt nicht alle aufzählen kann, die aber alle gleich wertvoll sind. ({2}) Damit hat die Bundesregierung einer der tragenden Säulen der deutschen Wirtschaft – und der deutschen Kultur – erheblichen Schaden zugefügt. 53 Handwerke sind aufgrund der seit 14 Jahren nicht mehr geltenden Zulassungspflicht in ihrem Kern destabilisiert. ({3}) Ich betone bewusst den kulturellen Wert handwerklicher Fertigkeiten, mit dem wir unseren Antrag auch begründen. Ich denke hier vor allem an die vielen kunsthandwerklichen Berufe und Gewerke zur Herstellung von Musikinstrumenten wie Geigenbauer, Orgelbauer, Klavier- und Cembalobauer und andere: In all diesen Gewerken wurden mit der Abschaffung des Meisterbriefs wertvolles Wissen und Tradition vernichtet. Über viele Jahrhunderte gewachsenes kulturelles Kapital geht hier verloren. Das kommt dabei heraus, wenn Rot-Grün an die Macht kommt. ({4}) Das deutsche Handwerkswesen ist auch Ausdruck unseres kulturell tief verankerten Qualitätsbewusstseins. Dazu gehört eine bestimmte Haltung zur Arbeit, zum Beispiel die typisch deutsche Gewissenhaftigkeit, die auch viel mit Verantwortungs- und Gemeinschaftsgefühl zu tun hat. Es ist unsere historische Pflicht, diese kulturellen Werte zu erhalten. Das sind wir den großen Meistern vor uns und den Generationen, die nach uns kommen, schuldig. ({5}) Dafür setzt sich die AfD ein, und unsere Position ist dabei nicht verhandelbar. Ja, Frau Özoğuz, es gibt eine deutsche Kultur, und sie ist auch identifizierbar: Sie zeigt sich nicht zuletzt in unserer Handwerkstradition. ({6}) Das erschließt sich vielleicht nur denjenigen, die einen Sinn für deutsche Wertarbeit haben. ({7}) Da gibt es natürlich große kulturelle Unterschiede. Hier müssen wir offenbar noch einiges an Integrationsarbeit leisten und unseren ausländischen Mitbürgern deutlicher vermitteln, was unsere Kultur ausmacht, die sich ja nicht in Folklore erschöpft. ({8}) Abgesehen davon können wir es uns gar nicht leisten, diese Werte und diese Standards aufzugeben. Sie sind unser Kapital. ({9}) Anders als Afrika und Indien haben wir keine wertvollen Bodenschätze wie Gold und Diamanten. Wir haben auch kein Erdöl wie Saudi‑Arabien. Unser Geist, unsere Kreativität und unsere Schaffenskraft, das ist alles, was wir haben. ({10}) Diese Dinge dürfen wir nie und nimmer aufgeben und preisgeben; denn das wäre der Untergang einer Kulturnation im Herzen Europas. ({11}) Das Handwerk ist eine tragende Säule des deutschen Mittelstands. Mehr als 5,3 Millionen Erwerbstätige arbeiten im Handwerk. Das haben Sie im Koalitionsvertrag ja selbst geschrieben. Wenn man die jungen Leute an den Schulen aber richtig über Ausbildungsmöglichkeiten im Handwerk informieren würde, dann wären noch mehr Stellen im Handwerk besetzt; da bin ich mir sicher. Und dann hätten wir auch keinen Fachkräftemangel. ({12}) Der entstand ja nur deshalb, weil junge Leute in die Akademisierung getrieben wurden und viele Handwerksberufe in der Öffentlichkeit gar nicht bekannt sind. ({13}) Als Ursache für den Fachkräftemangel ist das viel schlüssiger als der gebetsmühlenartig wiederholte Geburtenrückgang, der so dramatisch eigentlich gar nicht ist. Den Begriff vom „Akademisierungswahn“ prägte wohlgemerkt ein Professor, Herr Nida-Rümelin, der ehemalige Kulturstaatsminister. Er hat schon vor Jahren vor dieser Entwicklung gewarnt, aber er wurde offenbar nicht gehört. Ich kann den Kollegen der Altparteien nicht den Vorwurf machen, dass Sie die Relevanz des Handwerks und der dualen Ausbildung für die deutsche Wirtschaft leugnen. Schon im Jahr 2014 haben Sie hier im Plenum über das Handwerk debattiert. Sie waren sich größtenteils einig, dass die Abschaffung des Meisterbriefs ein Fehler war. Inzwischen sind vier weitere Jahre vergangen, und nichts ist geschehen. ({14}) Warum eigentlich nicht? In allen Koalitionsverträgen nach 2004 hat sich die Bundesregierung zur Stärkung des Handwerks bekannt. ({15}) Im Jahreswirtschaftsbericht 2018 sucht man jedoch vergeblich nach dem Wort „Handwerk“. Stattdessen haben Sie tatenlos zugesehen, wie deutsche Handwerksbetriebe zunehmend durch EU-Regularien und Bürokratie stranguliert werden. ({16}) Es handelt sich bei der Meisterpflicht fürs Handwerk nicht um eine überkommene Tradition, sondern um eine bewährte Tradition, die es zu erhalten gilt. ({17}) Die negativen Folgen der Abschaffung des Meisterbriefs bestätigen dies. Sie sind durch zahlreiche Studien belegt und wurden schon in der Debatte im Jahr 2014, insbesondere von der Kollegin Strothmann von der CDU/CSU, klar benannt. ({18}) Es ist inzwischen erwiesen, dass Betriebe, deren Inhaber einen Meisterbrief besitzen, größere Chancen auf nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg haben. Die Handwerksnovelle hat weder die Beschäftigungs- noch die Ausbildungsrate im Handwerk erhöht. Die Wiedereinführung des Meisterbriefs würde sich auch positiv auf den ländlichen Raum auswirken, insbesondere auf die historisch gewachsenen Handwerksregionen. Das sind nämlich die Regionen, in denen ein Großteil der Erwerbstätigen im Handwerk beschäftigt ist. Viele Landkreise in Bayern und Sachsen sind stark von dieser Struktur geprägt. Wenn Sie den ländlichen Raum stärken wollen, dann sollten Sie sich als Erstes darum kümmern, dass das Handwerk wieder die gesellschaftliche Würdigung erfährt, die ihm zusteht. ({19}) Das sind nämlich die Betriebe, die vielleicht nicht ganz so exorbitante Gewinne einfahren wie internationale Großkonzerne, die dafür aber solide und nachhaltig wirtschaften und vielen Bürgern auf dem Land eine zuverlässige, sinnstiftende Existenz sichern. In der handwerklichen Tätigkeit sind Körper und Geist gefragt. Viele Handwerksberufe erfordern neben Körperkraft und Geschicklichkeit auch ein hohes Maß an Konzentration. Wissen über die physikalischen Eigenschaften von Materialien ist wesentlich. Aber sehr wichtig ist die effiziente Kommunikation im Team. Das alles sind Eigenschaften, die auch im sonstigen Leben sehr nützlich sind. Gerade das Handwerk hat einen starken Gemeinsinn geprägt. Ich denke hier an die Gilden und Zünfte. Und das Handwerk förderte von jeher den grenzüberschreitenden, kulturellen Austausch, wenn zum Beispiel Zimmermänner auf Wanderschaft gingen, um in der Ferne andere Arbeitsweisen kennenzulernen. ({20}) Der fahrende Geselle brauchte jedenfalls noch keine Belehrungen über den europäischen Geist. ({21}) Diesen gesellschaftlichen Wert des Handwerks sollten doch gerade diejenigen zu schätzen wissen, die immer von Menschenwürde, sozialem Miteinander und Europa reden. Wenn übrigens die EU mit dem deutschen Handwerk ein Problem hat, dann muss die EU ihre Haltung ändern und nicht wir. ({22}) Deutschland zahlt die höchsten Beiträge an die EU. Von daher wäre es eigentlich angebracht, dass wir den Kommissaren sagen, wo es langgeht, und nicht umgekehrt. ({23}) Zeigen Sie endlich Rückgrat, und machen Sie den Kommissaren klar, dass wir uns nur für Europa einsetzen können, wenn unsere Wirtschaft funktioniert, und dass wir das Recht haben, diese nach unseren Regeln zu gestalten! ({24}) Frau Strothmann hat damals die „Meistersinger“ von Richard Wagner zitiert und berief sich auf eine Tradition, die sich 150 Jahre lang bewährt hat. Ich gehe noch weiter zurück und zitiere den Meistersinger und Schuhmacher Hans Sachs aus dem 16. Jahrhundert: Ehre, deutsches Volk, und hüte getreulich deinen Handwerksstand. Als das deutsche Handwerk blühte. blühte auch das deutsche Land. ({25}) Da kriegen die Grünen fast Schnappatmung. – Hans Sachs würde sich im Grabe umdrehen wenn er sähe, wie hier mit diesen ehrbaren Berufen umgegangen wird, erst recht, wenn er sich die neusten Ideen von Frau Karliczek anhören müsste, die ja vorgeschlagen hat, die neudeutschen akademischen Abschlüsse – Master und Bachelor – auf das Handwerk zu übertragen. Damit werten Sie das Handwerk doch nicht auf, sondern ab, Frau Karliczek. ({26}) Ich hoffe, dass wir mit unserem Antrag den Anstoß dazu geben, längst überfällige Korrekturen vorzunehmen und die Handwerksnovelle von 2004 rückgängig zu machen. Das sind Sie den fleißigen Handwerkern in unserem Land schuldig. Allen Meistern, Gesellen und Lehrlingen in unserem Land wünsche ich friedliche und besinnliche Weihnachtsfeiertage. Ich danke Ihnen. ({27})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Astrid Grotelüschen, CDU/CSU. ({0})

Astrid Grotelüschen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004046, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Es wäre schön, aber so einfach geht es dann doch nicht. Fakt ist, dass wir als Kunden und auch als Verbraucher, aber vor allen Dingen auch das Handwerk selbst mehr Meister brauchen. Denn die Zahl derer, die eine Meisterprüfung ablegen, ist in den letzten 20 Jahren stetig gefallen: ({0}) von knapp 34 000 in den zulassungspflichtigen Gewerken der Anlage A auf heute nur noch 19 500. Das ist ein Rückgang um rund 43 Prozent, und das ist volkswirtschaftlich gesehen ein schlechtes Signal, das wir als CDU/CSU-Fraktion deshalb gerne umkehren möchten. ({1}) Doch der Weg zum Meistertitel ist kein Spaziergang. Übung, Fleiß, Disziplin und Können sind gefragt. Das zeichnet eine Meisterin, das zeichnet einen Meister aus. Daher ist es uns als Union wichtig – quasi zur besten Redezeit heute –, über ein Anliegen zu diskutieren, das wir gemeinsam mit den vielen Millionen Beschäftigten und auch selbstständigen Frauen und Männern im Handwerk verfolgen, die täglich unseren Alltag sprichwörtlich am Laufen halten, denen wir signalisiert haben, dieser Verknüpfung von Tradition und Innovation ein Stück ihrer Identität und ein Stück des verlorengegangenen ordnungspolitischen Rahmens zurückzugeben, und zwar, indem wir mehr Gewerken als aktuell einen Weg aufzeigen, wieder zulassungspflichtig zu werden. Aus diesem Grund haben wir in unserem Koalitionsvertrag die Aussage verankert: Wir werden den Meisterbrief erhalten und verteidigen. Wir werden prüfen, wie wir ihn für einzelne Berufsbilder EU-konform einführen können. Und in diesem Prozess, meine lieben Kollegen, sind wir als Regierungskoalition mittendrin. Warum schlagen wir diesen sicher nicht einfachen Weg ein? Weil der Meisterbetrieb aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion für Qualität, für Verbraucherschutz und als Garant für die duale Ausbildung mit ihrer Spitzenqualifikation, der Meisterin und dem Meister, steht. Hier gibt es – das haben die Erfahrungen der letzten 15 Jahre gezeigt – deutlich negative Entwicklungen durch die unter Rot-Grün erfolgten Liberalisierungsreformen im Jahr 2004, als da wären – um nur einige zu nennen – die Verdrängung etablierter und qualifizierter Betriebe durch Billigkonkurrenz ohne entsprechende Qualifikation oder zum Beispiel der Boom bei der Gründung von Ein-Mann-Betrieben mit mangelnder sozialer Absicherung. Diese Fehlentwicklungen gilt es zu stoppen. Es gilt, sie umzukehren, und zwar, um die sehr gute Reputation, die mit dem Meisterbrief seit jeher verbunden wird, zu erhalten, meine Damen und Herren. ({2}) Konkret geschieht dies in einer Arbeitsgruppe der Koalition, die in enger Zusammenarbeit mit dem ZDH, mit Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaftsseite die Vor- und Nachteile sowie rechtliche Möglichkeiten auslotet. Es gilt nämlich, das Ziel europarechts- und grundgesetzkonform zu erreichen. Es ist bezeichnend, dass man dazu im vorliegenden Antrag der AfD nichts findet. Aus meiner Arbeit als Berichterstatterin für die freien Berufe und auch für das Handwerk in den letzten Jahren weiß ich sehr wohl, dass wir mit Blick auf die rechtliche Seite sauber arbeiten müssen, um nicht zu unrealistischen Forderungen zu gelangen oder EU-Verfahren zu pro­vozieren, die nachher nur kontraproduktiv sein können. Das öffentlich einsehbare Gutachten von Professor ­Burgi – das sage ich in Richtung AfD – zur verfassungs- und europarechtlichen Statthaftigkeit der Wiedereinführung der Meisterpflicht kann ich nur empfehlen; lesen Sie es, es gibt wirklich eine gute Orientierung. Der Antrag der AfD tut dies leider nicht. Deshalb werden wir ihn auch – das wird Sie nicht verwundern – ablehnen. Sie machen eigentlich immer wieder das gleiche Prozedere, egal zu welchem Thema: Sie beschreiben in höchstem Maße negative Zustände, stellen dann dieser Beschreibung Forderungen zur Seite, zeigen aber nicht einmal ansatzweise detaillierte Lösungen auf. Meine Kritik kommt nicht von ungefähr. So fordern Sie im ersten Punkt Ihres Antrags – ich zitiere –, „die Meisterpflicht im Sinne § 45 Handwerksordnung für alle zulassungspflichtigen Handwerksberufe wiedereinzuführen“. Wer das mit Verstand liest, bemerkt sofort, dass da nur eine unsinnige Wortklauberei formuliert worden ist, da die Definition „zulassungspflichtiges Handwerk“ das Vorliegen eines Meisterbriefes voraussetzt. Für alle zulassungspflichtigen Handwerksberufe besteht die Meisterpflicht bereits. Hier muss also nichts wiedereingeführt werden. Das nenne ich „handwerklich ganz schlecht gemacht“. ({3}) Wir in der Union hingegen wollen ernsthaft und mit Sorgfalt die Fehlentwicklungen, die seit der rot-grünen Reform sichtbar werden, angehen. Gleichzeitig geht es aber auch darum, dass wir den Rechtsstaat achten, dass wir jetzt nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, indem wir die Betriebe kaputt machen, die sich in den letzten 15 Jahren erfolgreich etabliert haben, oder die Branchen blockieren, die mit der Liberalisierung gut gefahren sind. Kurzum: Wir wollen eine gute und differenzierte Lösung, die dem Handwerk wirklich nützt und es vor allen Dingen nicht zusätzlich belastet. Daher plädieren wir, genauso wie im Übrigen das Handwerk selbst, für eine offene, transparente und ausgewogene Entscheidungsfindung. Keine Passepartout-Lösung, wie von Ihnen vorgeschlagen – einfach 53 Handwerksberufe wieder zurück in die Meisterpflicht nehmen –, sondern eine Lösung, die mit Experten aus der handwerklichen Praxis und Hand in Hand mit der Politik – an der zukünftigen Ausgestaltung des ordnungspolitischen Rahmens orientiert – erarbeitet wird. ({4}) Wir haben mit unseren Gesprächen den Anstoß gegeben für die Ausarbeitung eines Kriterienkatalogs, der die Basis für die Wiederaufnahme einiger Gewerke in die Meisterpflicht sein kann. Wenn dieser Katalog steht, meine Damen und Herren, plädieren wir dafür, dass wir mit den Branchen reden, die dann jeweils darlegen können, warum eine Wiederaufnahme erforderlich ist oder gewünscht wird. Das kann man sicherlich im Rahmen einer Anhörung machen. Wir brauchen eine klare Operationalisierbarkeit einer begrenzten Anzahl rechtlich relevanter Kriterien, deren Erfüllung empirisch nachweisbar sein muss. So kommen wir dann zu einer Lösung, die das Handwerk dort unterstützt, wo diese Wiedereinführung nötig und sinnvoll ist. Das, meine Damen und Herren, muss unser gemeinsames Ziel sein. So verstehe ich im Übrigen auch den Antrag der FDP-Fraktion, der unseren Arbeitsprozess, den ich eben beschrieben habe und in dem wir schon seit mehreren Monaten stecken, einfach wiedergibt. Er kommt aus meiner Sicht verspätet und setzt keine neuen Impulse. ({5}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Man kann durchaus zusätzliche Impulse setzen. Meisterbonus und Meister-BAföG sind ganz wichtige Aspekte. Wir sind in meinem Heimatbundesland Niedersachsen hier mit gutem Beispiel vorangegangen. Wenn es einen gibt, dem die Zukunft des Handwerks am Herzen liegt, dann der Union. Um es mit dem Motto einer Glaserei aus Bremerhaven zu sagen, die es bei der Azubisuche über YouTube zum Hit gebracht hat: Aufgeben ist keine Option! Wir sind Handwerker, wir können das! – Und ich ergänze: Die Union versteht ihr Handwerk auch! ({6}) Ich wünsche uns in diesem Sinne eine gute, eine ehrliche und eine zielgerichtete Debatte, die dazu beiträgt, das Handwerk zu stärken. Ich lade Sie alle dazu ein. Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Manfred Todtenhausen, FDP. ({0})

Manfred Todtenhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004222, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Um das deutsche Handwerkswesen, besonders um den Ausbildungsbereich, beneidet uns die ganze Welt. Gerade das Handwerk bietet jungen Menschen, die kein Studium anstreben, eine qualifizierte, hochwertige Ausbildung und Beschäftigung. Das Handwerk trägt erheblich zum Wohl unseres Landes bei. Daher verdient es auch unsere Unterstützung bei der Erhaltung der Qualität. Als Bundestag müssen wir diese Unterstützung aber mit Verstand und Augenmaß angehen. Bei diesen Begriffen fällt mir der Übergang zum Antrag der AfD sehr schwer. Er erinnert mich an Bernd; Bernd kennen wir alle. Bernd ist der Nachbarsjunge. Wenn die Kinder im Sandkasten gespielt haben und dort die Burg aufgebaut, Türmchen gemacht, Fensterchen eingebaut, die Zugbrücke gemacht haben, dann kam Bernd mit seiner großen Schaufel, und übrig blieb ein großer Sandhaufen. Genauso ist dieser Antrag. ({0}) Ob Handwerkskammern oder Handelskammern zuständig sind, ob fehlende Ausbildungsplätze oder fehlende Azubis das Problem sind, das ist für Sie egal. Sie werfen das alles in einen Topf. Ob europäischer Binnenmarkt oder Dienstleistungsfreiheit, auch das ist Ihnen völlig egal. Ein viel größeres Problem Ihres Antrags ist aber – auch das ist Ihnen völlig egal –, welche rechtlichen Rahmenbedingungen es gibt. Das ist gefährlich für das deutsche Handwerk, dem Sie mit diesem Antrag mehr schaden als nutzen. ({1}) Denn bei einer solchen Frage kann, nein, muss man Genauigkeit erwarten. Eingriffe in die Berufsfreiheit müssen begründet werden; das verlangt das Grundgesetz. Sie würden mit Ihrem Antrag am Ende dem gesamten Meisterwesen sogar bedenkenlos erheblich schaden; selbst das ist Ihnen egal. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Handwerksnovelle war Teil der Agenda 2010 von Gerhard Schröder und wurde im Bundestag zusammen mit anderen Ideen am 14. März 2003 vorgetragen. Damals hatten wir 5 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Die mittel- und osteuropäischen Staaten waren noch nicht Mitglied der EU, und eine Freizügigkeit gab es für deren Arbeitnehmer erst recht nicht. Heute ist die Situation eine völlig andere. Es fehlen Facharbeitskräfte. Der demografische Wandel ist in allen Berufszweigen spürbar. Betriebe finden keine Auszubildenden. Insofern muss man nach 15 Jahren einmal genau hinschauen und sorgfältig prüfen, welche Korrekturen im Rahmen von Artikel 12 des Grundgesetzes und der EU-Dienstleistungsrichtlinie notwendig, sinnvoll und vor allem rechtlich machbar sind. Das geht aber nur durch die Einzelfallprüfung und nicht pauschal mit Bernds Schaufel. ({3}) Wir als Freie Demokraten sind angetreten, weil wir die weltbeste Bildung wollen. Dazu gehört auch die berufliche Bildung. ({4}) Wir wollen jedem, je nach Begabung, den persönlichen Weg und damit seine individuelle Entwicklung offenhalten. Nicht jeder kann oder will ein Studium machen. Manche stellen erst später fest, dass sie mit ihrer Situation nicht zufrieden sind oder dass sie sich einfach weiterbilden wollen. Dafür ist es wichtig, dass es den Meister gibt. Ja, für mich persönlich war es ein Fehler, die Meisterpflicht in einigen Gewerken abzuschaffen. ({5}) Ausbildungszahlen und Unternehmensentwicklungen zeigen das in vielen Fällen. Aber warum sollen wir nicht aus Fehlern lernen? ({6}) Bundesminister Altmaier hat gesagt, er werde der Meisterpflicht für einige Berufe nicht im Wege stehen. Das bedeutet letztendlich: Er stellt sich an die Seite und wartet ab, was passiert. Es wäre aber gerade seine Aufgabe, diesen Weg zu bereiten. Das erwarte ich von ihm. Er soll der Motor sein, wenn es um Wirtschaftsförderung geht. Nur durch das duale Ausbildungssystem und den Meister kommen wir dahin, dass das Handwerk der Ausbilder der Nation bleibt. ({7}) Ich komme zum Schluss. Wir fordern Herrn Altmaier auf: Werben Sie auch in Europa für den Meisterbrief! Legen Sie dem Bundestag bis Mai ein Gesetz vor, das das Meisterwesen in Deutschland und Europa stärkt! Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sabine Poschmann, SPD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Sabine Poschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004377, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich mir den AfD-Antrag, über den wir heute zu beraten haben, so anschaue, kann ich nur sagen: Doch noch wach geworden, meine Damen und Herren?! Ihr Papier kommt reichlich spät. Ich empfehle Ihnen einen Blick in den Koalitionsvertrag aus dem Frühjahr. Dort heißt es wörtlich: Wir werden den Meisterbrief erhalten und verteidigen. Wir werden prüfen, wie wir ihn für einzelne Berufsbilder EU-konform einführen. ({0}) Ihr Antrag ist einmal mehr blanker Populismus. ({1}) Sie versuchen in aller Eile, auf einen Zug aufzuspringen, den wir schon längst in Fahrt gebracht haben. Vielleicht ist es Ihnen ja schlicht entgangen, dass wir innerhalb der Koalitionsarbeitsgruppe „Meisterbrief“ schon viele Gespräche mit dem Handwerk, mit den Verbänden und natürlich mit den Gewerkschaften geführt haben. Es kann gut sein, dass Ihnen auch die neuen Gutachten durchgegangen sind, die der Zentralverband des Deutschen Handwerks in Auftrag gegeben hat. So simpel, wie Sie die Gewerke zur Meisterpflicht zurückführen wollen, ist die Sache nicht. Im Gegensatz zu Ihnen streben wir eine Handwerksreform an, die mit den Spielregeln der EU einhergeht. In Richtung FDP sage ich: Natürlich wollen auch wir eine verfassungskonforme Lösung erzielen. Das sind Begriffe, die ich in dem AfD-Antrag nicht wiederfinden kann. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum wir den AfD-Antrag ablehnen werden. ({2}) Sie scheinen auch sonst nicht ganz im Thema zu sein. So planen Sie im ersten Schritt, die Gewerke aus der Anlage B zu löschen. Erst im zweiten Schritt wollen Sie darüber nachdenken, welche B1-Gewerke in die Anlage A sollen. Da frage ich mich: Was passiert denn mit den Gewerken, die es nicht in die Anlage A schaffen? Diese würden ja dann der Industrie- und Handelskammer zugeordnet werden, was das Handwerk nachhaltig schwächen würde. Da wundere ich mich schon sehr. ({3}) Außerdem kommen Sie bei allen Problemen, die Sie nennen, zu dem Schluss, dass die Wiedereinführung der Meisterpflicht das Allheilmittel ist. Damit machen Sie es sich zu einfach. Ja, der Meisterbrief ist ein Gütesiegel und ein Qualifikationsrahmen für alle Handwerksbetriebe; aber der Meisterbrief ist nur eine von vielen Stellschrauben, die wir drehen müssen, um es bei den Themen „Rückgang der Zahl der Auszubildenden“ und „Fachkräftesicherung“ nach vorne zu schaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, laut DGB wandern zwei von drei jungen Leuten, die im Handwerk ausgebildet werden, in die Industrie ab, gehen in den Handel oder bilden sich weiter. Da muss man doch fragen: Warum? Alle Maßnahmen von der Ausweitung der Meisterpflicht bis zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz werden nur ein Tropfen auf den heißen Stein bleiben, wenn wir nicht endlich in einen breiten Dialog darüber eintreten, wie wir die Attraktivität des Handwerks als Arbeitgeber insgesamt stärken. ({4}) Laut einer Studie des Göttinger Volkswirtschaftlichen Instituts für Mittelstand und Handwerk werden nur noch 30 Prozent der im Handwerk Beschäftigten nach Tarifvertrag bezahlt. Wer aus Tarifverträgen flüchtet, darf sich nicht wundern, wenn ihm auch das Personal von der Fahne geht. ({5}) Wenn das Handwerk im Wettbewerb um die besten Köpfe mithalten will, braucht es neben einer qualifizierten Ausbildung und einer modernen Weiterbildungsstrategie zwischen Innung und Gewerkschaften verbindlich ausgehandelte Tarifverträge. ({6}) Das sind die Ebenen, die miteinander verbunden werden müssen: Meisterbrief, Fachkräfteeinwanderungsgesetz und eine funktionierende Sozialpartnerschaft. Hier sind auch die Innungen gefragt. Sie sollten sich wieder vermehrt als Tarifpartner zur Verfügung stellen. Meine Damen und Herren von der AfD, Sie sehen: Das Thema ist etwas komplexer, als Sie uns das hier vermitteln wollen. ({7}) Wenn Sie dem Handwerk helfen wollen, sollten Sie sich besser ein paar Gedanken mehr machen. Den FDP-Antrag lehnen wir ebenfalls ab, ({8}) weil es bereits verschiedene Ausarbeitungen über dieses Thema gibt. ({9}) Ich empfehle einen Blick auf die Antwort auf die Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen. Meines Erachtens würden weitere Gutachten in diesem Bereich das Ganze nur unnötig in die Länge ziehen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist Klaus Ernst, Die Linke. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon wirklich merkwürdig. Wir reden regelmäßig darüber, dass SPD und Grünen mit der Änderung der Handwerksordnung 2004 wirklich kein großer Wurf gelungen ist – das muss man ja zugeben –; ({0}) aber es ändert sich nichts. ({1}) Deshalb ist es natürlich schon sinnvoll, dass das Thema noch einmal auf der Tagesordnung steht. Wo ist eigentlich das Problem? Bis 2004 war die Welt für die Handwerksmeister, aber auch für die Kunden weitgehend in Ordnung. Wenn Sie einen Fliesenleger organisierten, der Ihnen Fliesen an die Wand klebte, konnten Sie nämlich einigermaßen sicher sein, dass diese Fliesen auch ein Jahr später noch an der Wand waren. Auch wenn Sie jemanden holten, der Parkett verlegte, konnten Sie sicher sein, dass sich dieses Parkett nicht nach zwei Tagen wölbte und neu gemacht werden musste. Das alles war eigentlich einigermaßen vernünftig geregelt. Dann hat man es im Jahre 2004 geändert, und die Welt war anders. 53 Gewerke sind aus der Regelung, eine vernünftige Berufsausbildung zur Voraussetzung für die Ausübung einer Tätigkeit bzw. eines Berufs zu machen, herausgenommen worden. Damit hat sich natürlich tatsächlich einiges geändert. Damit mich die Kollegen von der AfD nicht falsch verstehen: Das beste Beispiel dafür, dass die Ausübung einer Tätigkeit etwas mit Qualifikation zu tun haben muss, ist der Antrag, den Sie eingebracht haben. ({2}) Ich habe nämlich den Eindruck, dass das nicht so richtig beachtet wurde. Was ist eigentlich die Folge der Regelung, die 2004 geschaffen wurde? Das Erste ist: Man kann sich nicht mehr sicher sein, dass die Leistung qualifiziert ausgeführt wird. Zweitens haben wir eine Veränderung der Qualifikation der Beschäftigten in diesen Bereichen. Rund zwei Drittel aller Beschäftigten in den Betrieben, die vom sogenannten Meisterzwang ausgenommen werden, sind inzwischen ungelernt oder angelernt. Zwei Drittel! Das Problem ist auch, dass die meisten Unternehmen nicht mehr ausbilden. Nur 7,2 Prozent der Betriebe mit bis zu vier Beschäftigten bilden überhaupt aus. Die Zahl der Auszubildenden hat sich drastisch reduziert. Das hat übrigens auch die Bundesregierung gemerkt. Sie stellt in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen einen durch die HwO-Novelle ausgelösten Niveauunterschied fest. Es geht sicher nicht um ein höheres Niveau, sondern eher um ein niedrigeres. Aktuell konstituiert sich anscheinend eine Koalitionsarbeitsgruppe „Meisterbrief“. ({3}) Sie soll die rechtssichere Wiedereinführung des Meisterbriefs als verpflichtende Voraussetzung für eine Betriebsgründung in einigen Gewerken des Handwerks prüfen. Auch wir als Linke sagen dazu eindeutig und klar: Bei der Liberalisierung 2004 wurde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Sie war ein Fehler, meine Damen und Herren. ({4}) Sie hatten mal einen Vorsitzenden, der gesagt hat: Fehler kann man machen, aber man muss sie korrigieren. ({5}) Ich kann Ihnen das nur empfehlen. Jetzt komme ich dazu, warum Ihr Antrag, Kolleginnen und Kollegen der AfD, nicht nur handwerklich, sondern auch inhaltlich am Problem vorbeigeht. ({6}) – Vielleicht lachen Sie hinterher nicht mehr. Das könnte sein. – Die Meisterpflicht ist nämlich nicht die Lösung aller Probleme. Der DGB sagt dazu: Eine auf die Wiedereinführung der Meisterpflicht reduzierte Betrachtung des Reformbedarfs im Handwerk ist … nicht ausreichend. ({7}) Warum? Das Handwerk ist für viele Jugendliche nicht mehr attraktiv. ({8}) – Das werde ich Ihnen jetzt erklären, Herr Chrupalla. – Es gelten nämlich nur noch für 30 Prozent der Beschäftigten Tarifverträge. In der gesamten Wirtschaft sind es 53 Prozent. ({9}) Die Folge: Die große Mehrheit der Beschäftigten im Handwerk verdient nicht nur teilweise weit unter Tariflohn, sondern hat auch überlange Arbeitszeiten und weniger Urlaubstage als andere Beschäftigte. – Sie schütteln den Kopf: Auch wieder ein Beweis für fehlende Qualifikation in diesem Bereich! ({10}) Kein Tarifvertrag, meine Damen und Herren von der AfD – überwiegend ja Herren –, bedeutet in der Regel weniger Geld und schlechtere Arbeitsbedingungen. Das ist das Problem im Handwerk. ({11}) Wir haben inzwischen im Handwerk 20 Prozent niedrigere Löhne als in vergleichbaren Industriebereichen, übrigens bei ähnlicher Qualifikation. 20 Prozent weniger Geld! Kein Wunder, dass nur etwa jeder Dritte der ausgebildeten Gesellen des Handwerks in diesem Bereich bleibt. Sie suchen sich einen anderen Job, zum Beispiel am Band in der Industrie. Sie geben sozusagen ihre Qualifikation, die sie erworben haben, auf und gehen dorthin, wo sie besser verdienen. Der viel beklagte Mangel an Nachwuchs- und Fachkräften ist damit direkte Folge jahrelanger Tarifflucht und schlechterer Bezahlung im Handwerk. ({12}) – Nein, nicht anderes Thema! Das gehört zusammen. Es ist ja genau das Problem, dass Sie nicht erkennen, dass das zusammengehört. ({13}) Sie meinen, dass das nur am Meisterzwang liegt. Es liegt aber auch daran, dass wir diese Arbeitsbedingungen im Handwerk haben. Meine Damen und Herren, zwar hat das Bundesverwaltungsgericht mittlerweile verboten, dass man Mitglied einer Innung sein kann, aber die Tarifverträge der Innung nicht anwendet, also eine sogenannte OT-Mitgliedschaft, eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, hat. Aber wie haben die Innungen darauf reagiert? Sie lagern die Aufgaben der Tarifverträge einfach aus und sagen: Wir bilden Tarifgemeinschaften. – Diese sollen dann die Tarifverträge aushandeln. Wozu führt das? Nach Zahlen des DGB von 2017 sind zum Beispiel im Kfz-Handwerk Hessen von 2 600 Betrieben der Innung nur 130 in Tarifgemeinschaften organisiert und wenden Tarifverträge an. Vor diesem Hintergrund braucht man sich doch nicht zu wundern, dass im Handwerk das eine oder andere nicht mehr funktioniert, meine Damen und Herren. ({14}) Die Handwerksbetriebe müssen selbst die Einsicht entwickeln, dass sie Tarifverträge brauchen, um die Attraktivität ihrer Arbeitsplätze zu sichern und dann vielleicht auch wieder genügend Mitarbeiter zu bekommen, die vernünftig beschäftigt werden. Ganz zum Schluss, meine Damen und Herren. Auf all diese Fragen haben Sie von der AfD keine Antwort. ({15}) Sie interessiert das auch nicht. Sie haben mit Ihrem Antrag wieder bewiesen, dass Sie von dem Thema eigentlich nur einen kleinen Ausschnitt verstehen. Mit mehr Qualifikation werden Ihre Anträge vielleicht besser. Ich danke fürs Zuhören. ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Claudia Müller, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin. ({0})

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Klappern gehört zum Handwerk. Aber bei diesem Antrag hat die AfD eindeutig die Rüttelplatte rausgeholt. Die Handwerksnovelle als Vernichter des Handwerks, das ist das Bild, das Sie hier zeichnen. Das ist – die Vorrednerinnen und -redner haben das dargestellt – deutlich überzeichnet. ({0}) Die FDP hingegen ist deutlich vorsichtiger. Man muss sich schon bemühen, die klare Positionierung zu erkennen. Ihr Antrag enthält die Forderung nach Überprüfung der Ausweitung der Meisterpflicht auf Verfassungs- und Europarechtskonformität und Bestandsschutz für Betriebe der Anlage B1 ohne Meisterpflicht. Ich muss gestehen: Ich finde es durchaus ein bisschen ironisch, dass die selbsternannte Freiheitspartei hier anstatt auf positive Anreize tatsächlich auf eine Rückkehr zur Zwangsverpflichtung, wie Gegner es nennen, setzt. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. ({1}) Immerhin haben Sie den Punkt des Bestandsschutzes drin. Das ist etwas deutlich Positives, woran die AfD ja noch nicht einmal denkt. Ihnen von der AfD scheint es vollkommen egal zu sein, was Ihr Antrag für Tausende von Betrieben und Solo-Selbstständige bedeuten würde, nämlich den Verlust der Zulassung. Das ist Ihnen vollkommen egal. ({2}) Man sieht wieder: Ihr Antrag besteht nur aus Plattitüden, enthält keine Ideen zur Lösung des Problems und ist zum Teil wieder einmal kompletter Unsinn. Von Ihnen ist auch nichts anderes zu erwarten. ({3}) Was Sie können, ist dramatisieren. Die AfD spricht davon, dass das Handwerk nur wegen der Handwerksnovelle 2004 im Kern so destabilisiert ist, dass es keinen gesicherten Fortbestand der zulassungsfreien traditionellen B2-Gewerke gibt. Sie haben sie ja genannt: Sattlerei, Glockengießerei, Siebdruckerei, Uhrmacherei. In allen diesen Bereichen arbeiten also nur noch so wenige Menschen wegen der Handwerksnovelle 2004. Veränderte Lebensgewohnheiten, die Ausweitung von industrieller Fertigung, all das hat in Ihren Betrachtungen keinen Einfluss. Der Antrag zeigt wieder einmal Ihre Haltung: Zurück zum Anfang des 20. Jahrhunderts, wenn nicht sogar zurück ins 19. Jahrhundert! Mit den Methoden der Verkürzung und Überdramatisierung kennen Sie sich ja aus. Schauen wir uns doch mal die Ausbildungszahlen an. Ihrer Meinung nach sanken die ja erst seit der Handwerksnovelle 2004. Das ist übrigens ein tolles Beispiel, wie man mit Verkürzungen manipulieren kann. Es ist ja vollkommen unbestritten, dass die Ausbildungszahlen im Handwerk sinken, und das schon seit vielen Jahren, in den alten Bundesländern übrigens seit Mitte der 80er-Jahre, in den neuen Bundesländern seit dem Jahre 2000. Das gilt übrigens sowohl für die zulassungsfreien als auch für die zulassungspflichtigen Berufe. Es gibt sogar einige Bereiche, in denen die Zahlen vorher sogar noch stärker gesunken sind. Ich habe mal ein Beispiel rausgesucht – ich habe das eigentlich für Herrn Linnemann rausgesucht; denn er nimmt es auch sehr gerne –: die Fliesen-, Platten- und Mosaikleger. 1998 hatten wir in diesem Bereich noch 8 114 Auszubildende, im Jahre 2004  3 029. Es ist nicht so, dass die Zahlen die ganze Zeit ein Plateau gebildet haben und dann 2004 schlagartig absanken. Vielmehr war es ein gradueller Rückgang. 2004 hatten wir nur noch 37 Prozent der Auszubildenden, die wir 1998 hatten, und das innerhalb von sechs Jahren. ({4}) Bis 2017 sank die Zahl dann auf 2 353. Aber Sie sehen: Das ist ein deutlich geringerer Abfall als in der Zeit davor. ({5}) Das heißt, hier zu sagen, die Handwerksnovelle sei verantwortlich für diesen Einbruch, ist schlicht und ergreifend falsch. Monokausales Denken hilft uns an dieser Stelle nicht weiter. ({6}) Wenn wir über den Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel reden, dann müssen wir analytisch an dieses Thema herangehen und dürfen das nicht so populistisch machen wie Sie. ({7}) Ein Gegenbeispiel: Wir haben diese Einbrüche auch in zulassungspflichtigen Bereichen. Meine Kollegin Monika Lazar ist eine Vertreterin des Bäckerhandwerks. Auch dort haben wir extreme Einbrüche gehabt, sowohl in der Ausbildung als auch in den Betrieben. Aber einer der Hauptgründe ist hier die deutliche Ausweitung der industriellen Fertigung. Das treibt die kleinen Handwerksbetriebe aus dem Markt. Seriöse Studien, wie zum Beispiel die von Klaus Müller aus dem Jahre 2018, weisen darauf hin – ich zitiere –: Es ist anzunehmen, dass das veränderte Ausbildungsinteresse der Jugendlichen an einzelnen Berufen eine sehr viel größere Rolle spielt als die Novellierung der HwO. Die Novellierung der Handwerksordnung wird in diesem Punkt also deutlich überschätzt. Und: Ja, die Anzahl der Klein- und Kleinstbetriebe hat sich erhöht, allerdings ebenfalls in den zulassungspflichtigen Bereichen. Sie hat sich in den Jahren 1995 bis 2015 in beiden Bereichen fast verdreifacht. Sie lag allerdings bei den Betrieben aus dem B1-Bereich schon vor 1995 deutlich höher als in den anderen Bereichen. ({8}) Sie sehen: Es ist also deutlich komplizierter als gedacht. Die Antwort auf die Kleine Anfrage, die wir gestellt haben – mehrere Kollegen haben ja schon darauf hingewiesen –, gibt eine breite Antwort auf viele Fragen. Allerdings ist es ein Sammelsurium. Wir wünschen uns, dass wir, bevor wir hier Schritte unternehmen, noch mal einen deutlichen Blick darauf werfen, insbesondere was die Evaluation im Hinblick auf die Einhaltung von Artikel 12 GG und die Europarechtskonformität angeht. Es gibt Experten, die hier von der Büchse der Pandora sprechen. Frau Grotelüschen hat das angesprochen: Das kann tatsächlich genau das Gegenteil von dem bewirken, was wir wollen. Da müssen wir sehr vorsichtig sein. ({9}) Was wir tun sollten, ist, den Meisterbrief zu stärken, Anreize zu setzen. Es gibt Bundesländer – Frau Grotelüschen, Sie haben darauf hingewiesen –, die durch Ausbildungsprämien – ähnlich dem Meister-BAföG – unterstützen, allen voran Niedersachsen mit 4 000 Euro und Mecklenburg-Vorpommern auf Platz zwei mit 2 000 Euro und 5 000 Euro für die Jahrgangsbesten. Wir sollten Anreize schaffen und zeigen, dass der Meisterbrief nicht nur Qualität bedeutet, sondern auch Chancen für einen Bildungsaufstieg eröffnet, dass er den Einstieg für alle Bildungswege offenhält, dass die Entscheidung für eine Ausbildung oder ein Handwerk in jungen Jahren gleichbedeutend damit ist, dass einem später alle Türen für den beruflichen Werdegang offenstehen. Darauf sollten wir einen Blick werfen. Insofern brauchen wir hier keine Schnellschüsse, sondern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema. Vielen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Jens Koeppen, CDU/CSU. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor fast genau 15 Jahren, am 1. Januar 2004, hat die damalige rot-grüne Bundesregierung eine neue Handwerksnovelle auf den Weg gebracht. Diese Handwerksnovelle hatte zum Ziel, 53 Handwerksberufe aus der Anlage A der Handwerksordnung in die Anlage B einzutragen und die Meisterpflicht für diese 53 Berufe abzuschaffen. Ich mache es mir jetzt nicht einfach, und es ist auch nicht trivial, wenn ich sage: Da wurde falsch gehandelt. Zur damaligen Zeit – das muss man denjenigen, die diese Änderung gemacht haben, zugestehen – gab es eine verdammt hohe Arbeitslosigkeit, gab es viele Ausbildungswillige, die zu Hause gesessen haben und ausgebildet werden wollten. Deswegen war das, obwohl ich es für falsch hielt, aus damaliger Sicht absolut nachvollziehbar und verständlich. Aber die Erwartungen, die daran geknüpft wurden – das ist nun einmal bei Gesetzen und Verordnungen so –, wurden nicht erfüllt. Es gab – wie soll ich sagen? – eine Fehlentwicklung. Was ist passiert? Die Gesellen sind aus den guten Meisterbetrieben abgewandert und haben gesagt: Das, was der Alte kann, kann ich schon lange. – Sie haben sich letztendlich selbstständig gemacht. Das führte dazu, dass die Zahl der Auszubildenden zurückging; denn als Nichtmeisterbetrieb haben sie nicht die Voraussetzung gesehen, auszubilden. Es gab einen Qualitätsverlust, der nachweisbar ist. Es gab einen Ausbildungsrückgang. Viele Betriebe haben sich neu gegründet, aber es waren in erster Linie Solo-Selbstständige, unter anderem auch aus Osteuropa. Es entstand ein Lohndumping, eine Preisspirale nach unten, ein Preiswettbewerb, der die Qualität beeinflusst hat. Deswegen sagen wir schon länger: Wir müssen etwas tun. Das haben wir im Koalitionsvertrag auch so festgehalten. Ich selbst bin gelernter Elektromonteur und Elektromeister für Industrieelektronik und Elektromeister für das Elektroinstallateurhandwerk. Ich habe diese Entwicklung immer für falsch gehalten. Herr Todtenhausen, da haben wir etwas gemeinsam. ({0}) Aber was mich besonders bedrückt: Warum haben wir verlernt, wirklich stolz auf das deutsche Handwerk zu sein und zu sagen, es ist systemrelevant? ({1}) Es gibt 1 Million Betriebe mit 5,5 Millionen Beschäftigte. Das deutsche Handwerk macht 560 Milliarden Euro Umsatz. Es gibt über 21 000 bestandene Meisterprüfungen, über 96 000 bestandene Gesellenprüfungen, und – das finde ich sehr gut; das passt vielleicht auch für die Politik; diese Zahl wünscht sich jeder – 85 Prozent der Deutschen vertrauen nach Umfragen immer noch dem deutschen Handwerk. Das ist eine absolut klasse Zahl und Entwicklung. ({2}) Wie können wir jetzt diese Fehlentwicklung stoppen und möglicherweise umdrehen? Zwei Anträge liegen vor. Ich möchte zu den Anträgen sagen: Ja, das, was dort beschrieben wurde – auch im Antrag der AfD –, kommt von den Verbänden, den Kammern. Das, was dort steht, ist letztendlich eine Binsenwahrheit. Aber, was bei Ihrem Antrag zu kritisieren ist, ist, dass Sie eine sogenannte Rückvermeisterung wollen. Das geht in die Hose; das kann ich Ihnen sagen. Wir müssen schauen, wie wir das machen. Eine Rückvermeisterung kann nicht stattfinden; denn viele Betriebe wollen gar nicht zurück in die Anlage A und viele Betriebe, wenn wir es richtig sehen, können auch nicht zurück. Da geht es nicht um den Instrumentenbauer; da geht es auch nicht um verschiedene Gewerke, die das wollen. Wir müssen dies mit Sinn und Verstand angehen. Es nützt uns auch kein Aktionismus. Wir müssen hier behutsam und mit einem transparenten Verfahren vorgehen. Es ist nun einmal rechtlich, insbesondere europarechtlich, eine sehr heterogene Gemengelage. Wir müssen schauen, was mit dem Bestandsschutz ist – Astrid Grotelüschen hat es gerade angesprochen –, weil sich gerade viele Betriebe eingerichtet haben und so weiter agieren wollen. Das ist auch möglich. Die Betriebe, wie Sie beschrieben haben, alle aus der Anlage B zu löschen und in die Anlage A einzutragen, wird nicht funktionieren. Das kann auch gar nicht funktionieren, schon gar nicht, wenn sie einmal gelöscht sind. Wo sollen sie hin, etwa zur IHK? Frau Kollegin Poschmann hat es schon angesprochen. Also, kein Aktionismus, sondern behutsames Vorgehen. Sie haben auch – deswegen erledigt sich der FDP-Antrag ein bisschen – gefordert, dass die Entwicklung durch Gutachten begleitet werden soll. Diese beiden Gutachten sind auf dem Weg. Es hat sich jetzt ein bisschen überschnitten. Haben Sie noch nicht beide Gutachten? Sind sie schon da? Das weiß ich jetzt gar nicht. ({3}) Professor Burgi untersucht die rechtlichen Möglichkeiten, und Professor Haucap und Professor Rasch überprüfen die ökonomischen, die volkswirtschaftlichen und die betriebswirtschaftlichen Auswirkungen. Diese Gutachten sind auf dem Weg. Wir werden jetzt eines machen: Wir werden mit allen Branchen Anhörungen durchführen. Das ist eine Menge Arbeit. Wie wir das machen, wissen wir noch nicht. Aber wir müssen es machen, um den Leuten das Gefühl zu geben, dass wir es ernst meinen. Dabei werden wir klare Kriterien festlegen. Die Gefahrengeneigtheit wird immer wieder genannt, sie wird in diesen Kriterien enthalten sein, auch der Vertrauensschutz. Was nützt es uns, wenn die Gewährleistung bei so vielen Solobetrieben, die in die Insolvenz gehen, nicht mehr vorhanden ist? Hier spielt die Bestandsfestigkeit der Betriebe eine Rolle. Die Ausbildung wird eine Rolle spielen. Die Qualität wird eine Rolle spielen. Alles in allem bitte ich darum, nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten, sondern behutsam an die Thematik heranzugehen. Von mir aus können wieder so viele Meisterbetriebe wie möglich zugelassen werden, damit die Qualität wieder steigt, aber wir müssen hier mit der Spitzzange statt mit dem Brecheisen oder mit der Holzhammermethode agieren. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Thomas Kemmerich für die FDP-Fraktion. ({0})

Thomas L. Kemmerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004775, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der deutsche Handwerksmeister, das Handwerk, die duale Ausbildung stehen weltweit für deutsche Qualität, für made in Germany, ja, für German Mittelstand. Wo wir heute noch gute Auslastungen verzeichnen können, sehe ich morgen sehr große Probleme. Strukturprobleme, Ausbildungen, Weiterbildungen, die ehrenamtliche Organisation, Nachfolge und natürlich der Fachkräftemangel sind die Probleme, die das Handwerk belasten. Aber es gibt auch viele hausgemachte Probleme, die die Großen Koalitionen seit 2005 verursacht haben. Betrachten wir einmal einen modernen Handwerksbetrieb, einen modernen Handwerksmeister. Was haben sie alles auszuführen? Sie sind gleichzeitig Rechtsanwalt, Müll­experte, Arbeitsschutzobmann, Datenschützer, Buchhalter, Steuerberater, Seelsorger, Verkehrssicherheitsexperte, Zollbeamter, oftmals noch Berufslehrer. All das sind Dinge, die sie von ihren eigenen Tätigkeiten abhalten. Noch schlimmer: Diese Tätigkeiten müssen sie mit einer hohen Akribie ausführen; denn sonst drohen durch die öffentliche Hand drakonische Strafen. ({0}) Da mag es nicht verwundern, dass die Jugendlichen heute oftmals nicht mehr in handwerkliche oder gewerbliche Berufe streben, sondern eine akademische Ausbildung bevorzugen. Da müssen wir ansetzen. Das Handwerk braucht heute neue politische Unterstützung. Das Handwerk braucht in dieser neuen Zeit vor allen Dingen eines: mehr gesellschaftliche Anerkennung. ({1}) Wir brauchen eine zeitgemäße Berufsausbildung. Es ist gesagt worden, es muss für die jungen Menschen attraktiv sein, sich im Handwerk zu tummeln und ausbilden zu lassen. Eine klare Zukunftsperspektive muss gewährt werden. Wir brauchen weniger belastende Bürokratie. Wir brauchen mehr Vertrauen in die Unternehmer und Unternehmerinnen. Wir brauchen die Förderung der Meisterausbildung in Form von BAföG oder Meisterprämien. Das ist gesagt worden. Der Meisterbrief ist unverzichtbarer Bestandteil der beruflichen Bildung, gerade in kleinbetrieblichen und KMU-Strukturen. Er ist zu erhalten. Natürlich macht es Sinn, ihn auch noch weiter auszuweiten. Es ist gesagt worden, dass der ZDH ein Gutachten in Auftrag gibt. Es gibt Berufe, die hier sehr geeignet sind. Man muss dies im Jahre 2018/2019 neu überdenken, um Fehlentwicklungen zu korrigieren. ({2}) Das ist das, was das Handwerk braucht. Wir brauchen keine Anträge, wie sie die AfD formuliert. Dazu ist von meinem Kollegen alles gesagt worden. Lassen Sie uns daran arbeiten, dass wir mehr Meister statt Master schaffen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kemmerich.

Thomas L. Kemmerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004775, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Handwerk hat goldenen Boden, aber es sollte ihn auch behalten. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Katzmarek für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Katzmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei meinen Schulbesuchen und in Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern frage ich regelmäßig nach, welchen Berufswunsch die Schülerinnen und Schüler denn haben und welchen Beruf sie erlernen wollen, wenn sie die Schule zum Beispiel nach dem folgenden Schuljahr verlassen. Ich bekomme ganz, ganz selten eine Antwort, die lautet: Ich will in einem Handwerksberuf meine Ausbildung machen, ich will ein Handwerk erlernen. – Jetzt kann man sagen, das sei nur meine Wahrnehmung oder habe etwas mit der Struktur der Schulen bei uns in Baden-Württemberg zu tun. Aber nein, das ist keine subjektive Wahrnehmung. Die Zahlen von 2017 besagen, dass 19 000 Ausbildungsplätze im Handwerk nicht besetzt wurden. Da muss man sich natürlich fragen, warum das Handwerk nicht attraktiv ist, warum die jungen Leute nicht ins Handwerk gehen und ob das daran liegt, dass es in bestimmten Gewerken keine Meisterpflicht mehr gibt. Das könnte ja, auch wenn man der Logik der Anträge folgt, durchaus dahinterstecken. Aber dann, meine sehr geehrten Damen und Herren, müsste es ja signifikante Unterschiede zwischen den Berufen geben, in denen es eine Meisterpflicht gibt, und denen, in denen es keine Meisterpflicht gibt. Dann müsste man feststellen, dass die Berufe ohne Meisterpflicht nicht so attraktiv sind und die Auszubildenden nicht in diese Berufe hineingehen. So ist es aber bei weitem nicht. Deshalb ist die Frage der Attraktivität des Handwerks weiterzufassen. Grundprobleme des Handwerks wurden hier schon aufgezeigt, einmal von meiner Kollegin Poschmann, aber auch von Klaus Ernst, aber auch ich will sie wiederholen, damit deutlich wird, worüber wir reden müssen, wenn es um die Attraktivität im Handwerk geht. Die Beschäftigten im Handwerk verdienen im Durchschnitt 20 Prozent weniger als die Beschäftigten in allen anderen Branchen. Nur noch 30 Prozent der Beschäftigten fallen unter einen Tarifvertrag. Da frage ich mich: Ist das attraktiv? Wenn ich mich frage, wo ich arbeiten gehen will, dann muss ich feststellen: garantiert nicht dort. Im „handwerk magazin“ wird geschrieben – es sind also keine Zahlen, die wir selbst erstellt haben –: Der Durchschnittsverdienst eines Handwerkers liegt zwischen 1 800 und 2 900 Euro brutto. Jetzt soll mir bitte schön mal jemand erklären, wie attraktiv das ist, wie es möglich sein soll, eine Familie mit 1 800 Euro brutto zu versorgen, und warum man in einem solchen Beruf, auch wenn er wieder durch die Meisterpflicht aufgewertet wird, eine Ausbildung machen soll. Das muss mir mal jemand erklären. Ich kann es nicht. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich müssen wir über die Einführung der Meisterpflicht in einigen Gewerken nachdenken. Das tun wir; das wurde heute auch schon erwähnt. Letztendlich geht es bei der Steigerung der Attraktivität des Handwerks aus meiner Sicht aber um mehr. Das Handwerk ist wichtig, das hat heute jeder Redner hier gesagt. Das ist keine Frage.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin Katzmarek, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus den Reihen des Koalitionspartners?

Gabriele Katzmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn der Koalitionspartner mit mir hier heute diskutieren will, dann soll er es bitte tun.

Eckhard Pols (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie diese Zwischenfrage zulassen.

Gabriele Katzmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, Frau Katzmarek lässt sie zu. Aber macht nichts.

Eckhard Pols (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Na ja, die Frau Präsidentin hat sie ja auch zugelassen. – Frau Kollegin, ich habe bei Ihren Ausführungen gerade so ein bisschen gestutzt. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass man im Handwerk nur ausbilden kann, wenn man auch eine Meisterprüfung hat? ({0}) Die vielen Betriebe im Handwerk, die ohne Meister geführt werden, dürfen überhaupt keine Lehrlinge ausbilden. Da wir im Handwerk das Problem haben, dass Nachwuchs fehlt und wir diesen generieren müssen, geht die Diskussion bei Ihnen ein bisschen daran vorbei. Ist Ihnen das bekannt?

Gabriele Katzmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mir ist bekannt, dass es eine Ausbildereignungsprüfung nach der Ausbilder-Eignungsverordnung braucht. Ich hoffe, das ist Ihnen auch bekannt. ({0}) Sie ist die Voraussetzung für die Ausbildung. Es muss also erst eine Ausbildereignungsprüfung vorliegen, erst dann kann man ausbilden. ({1}) – Doch! Ich fang mit Ihnen hier jetzt keine Kontroverse an. ({2}) Da können wir gerne noch mal nachschlagen. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss lassen Sie mich bitte noch auf einen Punkt hinweisen: Für die Menschen, die im Handwerk arbeiten, ist es wichtig, dass wir über sie reden, aber schöne Worte alleine helfen ihnen natürlich nicht. Was diese Menschen brauchen, ist, dass ihre Arbeit, die gut, richtig und wichtig ist, auch wertgeschätzt wird, wertgeschätzt wird zum Beispiel durch Tarifverträge, durch gute Bezahlung, durch faire Arbeitszeiten und durch gute Rahmenbedingungen. Das Ziel muss es sein, die Arbeit dieser Menschen in unserem Land wertzuschätzen. Die beiden Anträge, die uns vorliegen, gehen darauf absolut nicht ein. Deshalb werden wir sie ablehnen. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Handwerk hat goldenen Boden. Und so wunderbar vielfältig und leistungsfähig unser Handwerk ist, so komplex ist das Thema, das wir heute hier diskutieren. Mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, mehr Innovation hatte sich die damalige rot-grüne Bundesregierung erhofft. Wir erlebten stattdessen eine Explosion der Zahl der Betriebe und eine Implosion der von ihnen geleisteten Qualität. Kunden haben keine Gewissheit mehr, ob die Leistung stimmt. Pfusch beim Fliesenlegen oder unzureichendes Wissen über Parkettboden waren die Paradebeispiele, die heute schon mehrfach genannt wurden. Viele Solo-Selbstständige, die massenweise auf den Markt drängten, hielten sich nicht einmal an die Gewährleistungspflicht. Das entstandene Preis- und Lohndumping führte letzten Endes dazu, dass es für Betriebe mit qualitativem Anspruch – und somit letztlich auch die Entscheidung, selbst ein Unternehmen in diesem Markt­umfeld zu gründen – immer schwerer wurde. Insofern ist es sehr begrüßenswert, dass die Problem­lage erkannt wurde und dass man sich willens zeigt, Lösungen zu finden. Eines ist dabei sicher: Für eine gesunde Wirtschaft müssen wir unnütze Vorschriften streichen, bürokratische Hürden abbauen und leistungsbereiten Bürgern Wege ebnen. Beim Meister war das früher einfach: Er sicherte vergleichbare Qualität und die Weitergabe von Geschick und Tradition. Er hat das Wissen von Jahrhunderten an zukünftige Generationen weitergegeben und war lange Zeit ein Stück unserer deutschen Identität. Geiz war halt früher nicht immer geil. Die Zeit läuft jedoch weiter. Seit der Abschaffung der Meisterpflicht hat es durchaus Veränderungen gegeben, die wir bei einer konstruktiven Lösungsfindung beachten sollten: Wie binden wir zum Beispiel die seit Jahren erfolgreichen und leistungsfähigen Betriebe ein, die sich ohne Meisterpflicht etabliert haben? Wie unterstützen wir eine Wiederbelebung der Meisterprüfung, die Ausbildung von Lehrlingen und die Weiterbildung von Gesellen, wie das heute auch schon mehrfach angesprochen wurde? Muss es künftig überall zwingend der Meister sein, oder finden wir innovative Lösungen, die Lebensleistung langjähriger Gesellen und Facharbeiter wertzuschätzen und entsprechend zu würdigen? Wie schaffen wir einen verlässlichen Rahmen, klassisches Handwerk auch im Zuge der Digitalisierung innovativ weiterentwickeln zu können? Wie gehen wir mit Subunternehmern um, die sich nicht an tarifliche Absprachen halten, um Preise zu drücken? Das alles sind Fragen, die beantwortet werden wollen. Meine Damen und Herren, die letzten 15 Jahre waren nicht immer optimal, aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Wiedereinführung des Meisters alleine nicht der Schlüssel zum Glück sein wird. Es lohnt sich aber immer wieder, jene zu fragen, die es betrifft. Vielen Dank.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Karl Holmeier für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das deutsche Handwerk bildet das Rückgrat unserer Wirtschaft und auch unseres Wohlstandes. Das deutsche Handwerk ist vor allem in ländlichen Regionen ein wichtiger Arbeitgeber. Handwerklich geprägte Regionen weisen eine geringere Arbeitslosigkeit und auch eine höhere Ausbildungsquote bei Jugendlichen auf. Die hervorragende Arbeit des deutschen Handwerks ist über die Landesgrenzen hinaus bekannt und Synonym für höchste Qualität. Grundlage hierfür ist die ausgezeichnete Ausbildung vor allem im dualen Bildungssystem. Der Meisterbrief bildet die höchste Ausbildungsstufe im Handwerk und ist ein besonderer Qualitäts- und Qualifizierungsnachweis. Der Meisterbrief ist für die Verbraucherinnen und Verbraucher zudem ein wichtiger Anhaltspunkt, um eine qualifizierte und hochwertige handwerkliche Leistung zu erhalten. Durch den Meisterbrief wird die Qualität der handwerklichen Arbeiten gesichert und der Verbraucherschutz garantiert. Untersuchungen haben ergeben, dass die Bestandsfestigkeit eines Handwerksbetriebs mit Meisterbrief höher ist als bei Handwerksbranchen ohne Meisterpflicht. Die Meisterausbildung vermittelt nicht nur Praxis, sondern vor allem auch kaufmännische Ausbildung und Mitarbeiterführung. Die Meisterausbildung bereitet hervorragend auf die Selbstständigkeit vor. Die Wiedereinführung der Meisterpflicht für einzelne Berufsfelder im Handwerk ist auch der Koalition ein wichtiges Anliegen. Es wurde auch schon mehrfach gesagt: Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, den Meisterbrief zu erhalten und zu verteidigen. Wir werden prüfen, wie wir den Meisterbrief für einzelne Berufsfelder EU-konform wieder einführen können. Das Bundesministerium für Wirtschaft kommt dem Prüfauftrag aus dem Koalitionsvertrag derzeit nach. Wir führen bereits in einer Arbeitsgruppe die notwendigen Gespräche und werden dann im Deutschen Bundestag eine Anhörung dazu durchführen. Zurückblickend: Die Novellierung der Handwerksordnung im Jahre 2004 war Teil der Agenda 2010 der damaligen rot-grünen Bundesregierung. In Deutschland war damals die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie heute. Vorrangiges Ziel war es, Arbeitslose zur Gründung selbstständiger Existenzen anzuregen und zu motivieren. Dass die Arbeitslosigkeit nicht durch die Abschaffung der Meisterpflicht wirksam bekämpft werden kann, war der CDU/CSU-Fraktion damals schon bewusst, und wir haben dagegengestimmt. Seit 2004 ist in den zulassungsfreien Handwerksbranchen teilweise ein starker Rückgang der Ausbildungsleistung festzustellen. Vor diesem Hintergrund halten wir die Wiedereinführung des Meisterbriefs für einzelne zulassungsfreie Handwerke für richtig und für wichtig. Der heute vorliegende Antrag der AfD enthält jedoch einige gravierende handwerkliche Fehler. Es ist kein guter Ansatz, für alle 53 zulassungsfreien Handwerke den Meisterbrief wieder einzuführen. Dies müssen wir in einzelnen Berufsfeldern sorgfältig prüfen. Wir können das nicht pauschal für alle fordern. Dazu brauchen wir auch den Antrag der AfD nicht. Wir arbeiten bereits in einer Arbeitsgruppe, und wir werden die gefundenen Ergebnisse auch umsetzen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Holmeier, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Klaus Ernst?

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, ja.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Kollege Holmeier, danke, dass Sie die Frage zulassen. – Ich möchte Sie auf Folgendes aufmerksam machen: Als ich noch in Stuttgart gearbeitet habe, ging ein Spruch durch Stuttgart. Er hieß: Die größte Bäckerei und die größte Metzgerei in Stuttgart ist Daimler-Benz. – Dort arbeiteten nämlich sehr viele ausgebildete Metzger und ausgebildete Bäcker am Band. Ich habe versucht, darauf aufmerksam zu machen. Sind Sie denn mit mir der Auffassung, dass wir, wenn wir das ändern wollen, wenn wir also Leute in ihrem erlernten Beruf halten wollen, auch über die Frage der Tarifverträge reden müssen? Ich habe das angesprochen. Ich habe jetzt noch niemand aus Ihrer Fraktion gehört, der sich dazu geäußert hat. Ist es nicht notwendig, dass Sie, wenn Sie mit Ihrem Koalitionspartner diese Frage klären, auch darüber nachdenken, wie wir in diesen Bereichen mehr vernünftige Arbeitsbedingungen, einen vernünftigen Urlaub, vernünftige Regelungen organisieren können, damit wir die Fähigkeiten, die es bei den Menschen gibt, zum Beispiel beim Bäcker, wirklich erhalten. Ich bin für kleine Bäckereien, absolut. Aber dann muss man doch die Arbeitsbedingungen so attraktiv gestalten, dass die Leute ihren Job mit Lust und Freude ausüben. ({0})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, man darf nicht generell sagen: Die Handwerksbetriebe zahlen schlecht und sind schlechte Arbeitgeber. – In keinster Weise. Das Handwerk ist ein hervorragender Arbeitgeber. Sicherlich spielt die Bezahlung in den Berufen eine ganz entscheidende Rolle. Wir wissen auch ganz klar, dass viele Ausgebildete den Handwerksbetrieb verlassen, aus ihrem Handwerksberuf aussteigen und in die Industrie wechseln, weil gerade in der Industrie in den letzten Jahren viele, viele Arbeitsplätze entstanden sind. Aber zu den Bäckern. Die Arbeitszeit spielt dort sicherlich auch eine Rolle – nicht nur die Bezahlung, sondern auch die Arbeitszeit. Deshalb müssen wir uns insgesamt fragen: Wie können wir in einzelnen Berufen bestimmte Sachen verbessern? Da spielt die Bezahlung sicherlich eine Rolle, ganz klar. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, das deutsche Handwerk befindet sich momentan auf einem konjunkturellen Hoch. Der Indikator für die Geschäftslage im Handwerk befindet sich im Herbst dieses Jahres zum vierten Mal in Folge auf einem Allzeithoch. Ebenso stieg die Zahl der Beschäftigten. Das Handwerk hat im Jahr 2018 circa 30 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Die Mehrzahl der Handwerksbetriebe beurteilt auch für die Zukunft die wirtschaftliche Lage als sehr gut. Es gibt viele Herausforderungen, denen sich das Handwerk und auch die Politik stellen müssen. Wir werden alles daransetzen, dass wir das Handwerk dabei unterstützen. Hierzu gehören neben der Stärkung des Meisterbriefs noch zahlreiche zusätzliche Maßnahmen. Der Handwerksberuf muss zudem für junge Menschen wieder attraktiver werden und ihr Interesse wecken. Entscheidend für unser Handwerk und für die Berufsentscheidung junger Menschen für das Handwerk sind die Wertigkeit und die Qualität der Ausbildung. Deshalb ist die beste Ausstattung unserer Berufsschulen von entscheidender Bedeutung. Ein guter baulicher Zustand, bestmögliche Ausstattung und gut ausgebildete und motivierte Lehrkräfte sind ein wichtiger Grund für die Akzeptanz des Handwerks und damit entscheidend für die Berufswahl junger Menschen. ({1}) Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: In meinem Wahlkreis bauen wir gerade den letzten Abschnitt einer neuen Berufsschule. Das ist die modernste Berufsschule Deutschlands mit der modernsten digitalen Ausstattung. Wir haben zusätzlich Berufswahltage. Wir haben zusätzlich Baufachtage, die das Handwerk in den Schulen durchführt. Wir stellen fest, dass das Interesse der Schulabgänger für das Handwerk enorm gestiegen ist. Die Zahl der Auszubildenden steigt, und das Interesse am Handwerk ist bei weitem größer geworden, als es vor einiger Zeit war. Wir werden mit einem Berufsbildungspakt die berufliche Bildung stärken und modernisieren, damit wir uns den Wettbewerbsvorteil und vor allem das duale Ausbildungssystem erhalten. Die berufliche und die akademische Bildung müssen gleichwertig sein; denn ohne qualifizierte Fachkräfte verliert Deutschland enormes wirtschaftliches Potenzial. Die berufliche Ausbildung muss auch für Abiturienten eine Möglichkeit darstellen und Karrierechancen bieten. Wir werden die berufliche Qualifizierung zum Meister besser finanziell fördern und dem kostenlosen Hochschulstudium angleichen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden die Wiedereinführung des verpflichtenden Meisterbriefs für einzelne Handwerksbranchen umfassend prüfen. Bei den Berufen, bei denen dies geboten und rechtlich auch möglich ist, werden wir den verpflichtenden Meisterbrief wieder einführen. Wir müssen da sehr behutsam vorgehen. Die Anträge der AfD und der FDP zur Wiedereinführung des Meisterbriefs lehnen wir deshalb ab. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Martin Rabanus das Wort. ({0})

Martin Rabanus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende einer solchen Debatte ist man ein bisschen in der Versuchung, eine Zusammenfassung zu liefern, was natürlich nur schwer möglich sein wird. Beginnen will ich mit dem AfD-Antrag. Da haben meine Kollegin Sabine Poschmann, aber auch alle anderen Redner völlig zu Recht festgestellt: Er kommt spät um die Ecke und ist oberflächlich. Der Antrag ist schlecht gemacht. ({0}) Er ist insbesondere von Unkenntnis geprägt. – Dem will ich nicht viel hinzufügen, außer einen Ausspruch, der wohl auf Konrad Adenauer zurückgeht, der da lautet: „Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont.“ – Das beschreibt den Antrag, finde ich, ganz gut. ({1}) Der zweite vorliegende Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, hätte auch ein bisschen substanzieller sein können; das hätten wir uns jedenfalls gewünscht. ({2}) Sie bringen sechs – auf Neudeutsch – Bullet Points zusammen, in denen Sie ein bisschen Bestandsaufnahme, ein wenig Gutachten haben wollen, und das mit einem Schuss Kopenhagen-Prozess verrühren. ({3}) Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist wirklich ernüchternd. Mir hat übrigens auch der freundliche Hinweis von Ihnen gefehlt, dass Sie 2004 – jedenfalls nach meiner Kenntnis – der Handwerksnovelle zugestimmt haben. ({4}) Es hat auch der freundliche Hinweis gefehlt, dass Sie 2009 bis 2013 mitregiert haben und etwas hätten bewegen können. Der freundliche Hinweis, dass Sie letztes Jahr etwa um diese Zeit entschieden haben, nicht Verantwortung für Deutschland zu übernehmen, hat auch gefehlt. Auch das hätte man sagen können – aber gut. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, das ist uns also insgesamt ein wenig zu dünn. Deshalb handeln wir als Koalition; auch das ist deutlich geworden. Richtig, wir haben keinen Antrag formuliert. ({5}) Aber klar geworden ist doch, dass sich die Koalition mit dem Bereich Handwerk intensiv auseinandersetzt. Das ist hier auch mehr als deutlich vorgetragen worden. ({6}) Wir unterstützen die Menschen auch dabei, Meister zu werden, und zwar – auch darauf will ich noch einmal hinweisen – nicht erst seit jetzt, seit gestern, sondern seit der letzten Wahlperiode mit der Reform des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes. Und das wirkt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Rabanus, ich habe die Uhr angehalten und frage Sie, ob Sie eine Frage oder Bemerkung von Herrn Chrupalla zulassen.

Martin Rabanus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Das wollen wir jetzt nicht in die Länge ziehen, und das wird es auch nicht besser machen. ({0}) Also: Die Reform des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes wirkt. Wir haben 2017 in diesem System 165 000 Menschen mit insgesamt 640 Millionen Euro gefördert. Das ist etwas, was auch einen Unterschied markiert: Wir haben hier auf der einen Seite Anträge, und auf der anderen Seite wird gehandelt. Das ist die Politik und die Linie der Koalition. ({1}) Wir werden das fortführen. Wir werden in dieser Wahlperiode eine weitere Reform des Meister-BAföGs auf den Tisch legen. Die SPD-Fraktion hat erste Eckpunkte dazu beschlossen. Wir sind uns klar, dass wir die Förderzahlen weiter erhöhen müssen, dass wir den Weg zum Meister für diejenigen attraktiver und möglich machen müssen, die Familie und Fortbildung vereinbaren wollen, und dass wir das System insgesamt flexibler machen und aufeinander bezogene Fortbildungen förderfähig machen müssen. Das nur zu diesem Bereich als ein Schlaglicht. Vieles andere könnte man noch nennen. Wichtig für uns als SPD – aber das ist in der Koalition auch unstreitig – ist, dass wir die Gleichwertigkeit der beruflichen und der akademischen Bildung erreichen wollen. Das gilt für das Handwerk – das ist der Schwerpunkt der heutigen Debatte –, und das gilt genauso für die anstehende Reform des BBiG für eine Mindestausbildungsvergütung in anderen Berufen. Damit bin ich dann auch am Ende meiner Ausführungen angekommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ja, wir haben uns viel vorgenommen, aber hier zeigt sich der Unterschied: auf der einen Seite Anträge, die uns nicht weiterbringen, auf der anderen Seite eine Koalition, die handelt. Und das ist auch gut so. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/4633 und 19/6415 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 19/6415 – Tagesordnungspunkt 4 b – soll federführend beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dem Gesetz für schnellere Termine und eine bessere Versorgung geht es um konkrete und auch im Alltag spürbare Verbesserungen für Patientinnen und Patienten. Wir wollen das zusammen mit denen erreichen, die in der ambulanten ärztlichen Versorgung jeden Tag tätig sind, den Ärztinnen und Ärzten; denn – und das weiß, denke ich, jeder, der in der Gesundheitspolitik tätig ist – eine gute Versorgung und zufriedene Patienten schaffen wir nur mit zufriedenen Ärzten, zufriedenen Apothekern und Pflegekräften sowie zufriedenen anderen Menschen, die im Gesundheitswesen jeden Tag tätig sind. Deswegen geht es natürlich um gute Rahmenbedingungen für die tägliche Arbeit und auch um eine angemessene Vergütung. Wenn es jetzt darum geht, Termine schneller und besser möglich zu machen, sehen wir im Gesetzentwurf – das zu sagen, sei mir gestattet; das geht nämlich, wenn ich manche Pressemitteilungen sehe, auch heute wieder, etwas unter – auch umfangreiche Verbesserungen bei der Vergütung vor: Für die Annahme neuer Patienten und für eine schnellere Terminvergabe wird es in Zukunft zusätzlich Geld geben. Es soll sich natürlich auch lohnen. Es soll niemand bestraft werden, wenn es darum geht, neue Patienten anzunehmen. Es gibt zusätzlich eine Vergütung für die Hilfe bei der Vermittlung eines Facharzttermins für den Hausarzt. Es geht auch darum, mit zusätzlichen Vergütungsanreizen und Zuschlägen Ärzten einen guten Grund dafür zu bieten, Regionen mit Unterversorgung in den Blick zu nehmen, wenn es um die eigene Niederlassung geht. Was wir mit diesem Paket wollen – es sind viele weitere Maßnahmen darin enthalten –: die vertragsärztliche Versorgung verbessern und insbesondere die Ärztinnen und Ärzte unterstützen, die heute schon weit über das Maß, auch über das Mindestmaß, das gesetzlich vorgegeben ist, hinaus Patienten versorgen. ({0}) Wir haben viele Ärzte, die abends um 7 Uhr, um 8 Uhr noch Patientinnen und Patienten im Wartezimmer, in der Versorgung haben – Haus- wie Fachärzte –, und diese Ärzte sollen natürlich auch eine angemessene Vergütung bekommen. Sie sollen übrigens auch sicher sein können, dass auch die Ärzte in der Nachbarschaft mit ähnlich gutem Einsatz unterwegs sind. Auch dafür haben wir entsprechende Regelungen vorgesehen. Dazu gehört im Übrigen auch die Terminservicestelle. Diese ist unter der Nummer 116 117 schon heute zu erreichen. Aber das, was wir da jetzt im Ausbau miteinander schaffen wollen – 24 Stunden, sieben Tage die Woche, einheitlich in Deutschland erreichbar, Vermittlung auch zu Haus- und Kinderärzten, auch ein Onlineangebot und als App verfügbar –, ist ein richtiger Quantensprung im Angebot einer Dienstleistung für Patientinnen und Patienten. Wenn wir in einem nächsten Schritt auch noch die Notfall- und Notdienstversorgung, die wir stärker zusammenführen wollen, integrieren, dann ist das ein echter Strukturwandel im Sinne der Patientinnen und Patienten und ein besseres Serviceangebot, das insbesondere im Notfall wie bei der Suche nach Terminen unterstützen soll. ({1}) Es geht in diesem Paket auch um die elektronische Patientenakte ab 2021, die in diesem Gesetzentwurf als Verpflichtung der Kassen gegenüber ihren Versicherten vorgesehen ist. Es wird in Deutschland nirgendwo mehr so viel gefaxt wie im Gesundheitswesen. ({2}) – Im Bundestag faxen wir auch manchmal noch zu viel; das ist wohl wahr. ({3}) Es ist mir ein besonderes Anliegen, die elektronische Patientenakte mit Behandlungsdaten, Röntgendaten und Arzneidaten für jeden, der behandelt, mit Zustimmung des Patienten verfügbar zu machen, um die Kommunikation zu verbessern, eine effizientere Versorgung möglich zu machen und um vor allem eben auch Patientendaten gut und zügig verfügbar zu haben. Wir haben, auch mit den Koalitionsfraktionen im parlamentarischen Verfahren, schon in den Blick genommen, auch Physiotherapeuten, Logopäden, Ergotherapeuten, Podologen und Diätassistenten, den sogenannten Heilmittelerbringern, bessere Arbeitsbedingungen, eine bessere Vergütung und auch eine bessere Unterstützung möglich zu machen, etwa wenn es darum geht, diese weniger mit Bürokratie zu belasten. ({4}) Heilmittelerbringer werden im Zusammenspiel mit den ärztlichen und anderen Behandlern gebraucht: nach Operationen, bei Verletzungen oder bei Sprachschwierigkeiten. Es ist mir echt ein besonderes Anliegen – weil wir ja alle auch vor Ort in den Wahlkreisen gespürt haben: da besteht Handlungsbedarf –, dass wir dort was tun. Ich finde, es ist ein starkes Zeichen, dass wir auch das mit diesem Gesetzentwurf zügig angehen wollen. ({5}) Ich will noch kurz einige weitere Inhalte des Gesetzentwurfs anreißen. Es ist ein sehr umfangreicher Entwurf, unser umfangreichster bisher, sodass man all die auch wichtigen und guten Verbesserungen zum Teil nur kursorisch erwähnen kann, so zum Beispiel die Erhöhung der Festzuschüsse für Zahnersatz. Hier geht es immerhin um 700 Millionen Euro im Jahr an Entlastung für die Versicherten. Es geht um Betreuungsdienste in der Pflege. Das ist ein Thema in Regionen, in denen Familien zum Teil sehr verzweifelt gerade nach Pflegediensten und Unterstützung für Pflege in der Familie suchen. Diese Dienste wollen wir zusätzlich zulassen, etwa die Haushaltshilfe, zum Beispiel für zwei, drei Nachmittage in der Woche. Es geht auch um den Kampf gegen HIV und Aids mit PrEP, der Präexpositionsprophylaxe. Es geht auch – das ist mir ein persönliches Anliegen – um die sogenannte Kryokonservierung. Es geht darum, dass insbesondere Frauen, die etwa durch eine Krebsbehandlung die Fähigkeit verloren haben, Kinder zu bekommen, Eizellen einfrieren können, um sich später tatsächlich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Ich weiß aus persönlichen Gesprächen – es sind auch Betroffene heute da –, wie emotional wichtig das in dieser Situation ist. Das ist vielleicht nur eine kleine Regelung in diesem Gesetz, aber eine wichtige für jede einzelne Betroffene und jeden einzelnen Betroffenen. Deswegen ist es mir ein besonderes Anliegen, dass wir das hier mit regeln. ({6}) Frau Präsidentin, gestatten Sie mir, ein letztes Thema kurz anzusprechen: die Psychotherapie. Das will ich ganz ruhig und sachlich, aber auch persönlich machen, weil ich in diesen Tagen manches an Vorwürfen und Unterstellungen lese. Ich kann Ihnen sagen – auch aus persönlichem Erleben in der eigenen Familie, im engsten Umfeld –, dass ich weiß, was eine psychische Erkrankung für den Betroffenen und die Familie bedeutet. Ich weiß auch, was es bedeutet, nicht schnell eine entsprechende Versorgung zu finden, einen entsprechenden Termin zu bekommen. Deswegen lassen Sie uns bitte bei der Debatte zu diesem Thema uns gegenseitig unterstellen – das wäre schon mal was –, dass wir alle gemeinsam das Richtige wollen, nämlich eine bessere Versorgung. Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass die hier vorgeschlagene Regelung verbesserungsfähig ist: Prima! Ich bin der Erste, der für eine Verbesserung zu haben ist. Aber ich würde mir sehr wünschen – übrigens auch mit Blick auf das, was in sozialen Medien zum Teil so in der Wortwahl abgeht –, auch sehr persönlich wünschen, dass wir das in einer Art und Weise machen, die diesem Ziel Rechnung trägt, nämlich Patienten mit psychischen Erkrankungen besser zu versorgen, und uns nicht die schlimmsten Dinge unterstellen. Wenn wir mit diesem Geist in die Debatte gehen, dann wird das ein gutes Gesetz werden. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Robby Schlund für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf den Rängen! Die Weihnachtszeit ist eine Zeit der Besinnung, eine Zeit der Geschenke. Aber bei mancher Art von Beschenkungen fürchtet man sie. Wissen Sie auch, welche? Das ist die Mogelpackung. Sie ist in ihrer luxuriösen und schillernden Hülle die heilige Verkündung einer freudigen Überraschung, die jedoch beim Auspacken eine Enttäuschung wird. So eine Enttäuschung ist der Entwurf des Terminservice- und Versorgungsgesetzes. Unsere Menschen und ganz besonders unsere Patienten sollen über die substanziellen Probleme des Gesundheitswesens nämlich getäuscht werden. ({0}) Das TSVG ist auch eine Diskreditierung aller in Deutschland praktizierenden Ärzte. Mit einer Anhebung der Mindestsprechstundenzahl von 20 auf 25 Stunden wollen Sie, Herr Spahn, weismachen, die Ärzte wären faul. ({1}) Doch arbeiten niedergelassene Ärzte bereits statistisch circa 50 Stunden pro Woche. Offene Sprechstunden mit besserer Honorierung, die Sie fordern – das ist ein klassischer Fehlanreiz. Die Folgen sind: katastrophale Zustände in den Arztpraxen und stundenlange Wartezeiten. Das ist ein Schlag ins Gesicht der chronisch kranken Menschen in Deutschland. ({2}) Der Thüringer Hartmannbund hat Ihnen ja bereits geschrieben, Herr Spahn, dass durch diese staatsdirigistische Einengung die Leistungsbereitschaft im Gesundheitssystem sinken wird. 2017 haben Vertragsärzte und Psychotherapeuten rund 562 Millionen Fälle behandelt. Durch Terminservicestellen wurden nur 190 000 Terminanfragen bearbeitet; das entspricht einem Anteil von lediglich 0,03 Prozent. Statt Fremdzuweisung durch Terminservicestellen zu schaffen, schaffen Sie doch bitte einfach ganz pragmatisch die Budgetierung für Ärzte ab. ({3}) Mit Ihrer Politik sind Sie mitverantwortlich, dass der Arztberuf für deutsche Ärzte in Deutschland nicht mehr attraktiv ist. Das Defizit decken Sie dann mit ausländischen Ärzten ab. Derzeit arbeiten rund 51 000 ausländische Ärzte in Deutschland; das sind circa 11,8 Prozent. Sprachbarrieren und ungleiche ärztliche Fähigkeiten, ja sogar gefälschte Zertifikate führen zu gravierenden Behandlungsfehlern. Deshalb fordern wir, die Alternative für Deutschland, dass Ärzte aus Drittstaaten eine Approbation grundsätzlich erst nach dem entsprechenden dritten Staatsexamen in Deutschland erhalten können. ({4}) Das ist übrigens gängige Praxis im Einwanderungsland USA. ({5}) Weiterhin finden wir Regelungen zu den medizinischen Versorgungszentren und zu den Praxiskliniken völlig inakzeptabel. Damit aber nicht genug: Sie wollen mit gestufter und gesteuerter Versorgung die Fähigkeiten unserer Psychotherapeuten infrage stellen. Gerade Patienten mit hochkomplexen psychologischen Krankheitsbildern werden sich kaum einer dritten Person offenbaren. Dennoch finden wir auch positive Ansätze im TSVG, die ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung sind, zum Beispiel die Honorarsteigerungen bei Physio-, Ergotherapeuten, Logopäden und Diätassistenten sowie die Abschaffung des Schulgeldes für Heilmittelerbringer. Die Idee, mit einem Gesetz den Service im Gesundheitswesen zu verbessern, ist gut; aber dieser Entwurf hat mit der Realität und der Lebenswirklichkeit von Patienten, Ärzten, Psychologen und Therapeuten nicht viel gemein. Der Überweisung stimmen wir zu. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Nur ganz kurz zu Herrn Schlund: Sie sagen, dass die Tätigkeit als Arzt für deutsche Ärzte nicht mehr attraktiv sei. Es bewerben sich bis zu zehn Deutsche auf einen Studienplatz und bekommen ihn nicht. Das heißt, wenn wir mehr Ärzte sehen wollen, müssen wir die Zahl der Studienplätze erhöhen; das wäre die Maßnahme, die wir hier benötigen. ({0}) Zum Zweiten: Ich finde es nicht angemessen – es gibt gute Ärzte aus jedem Land; ich habe zehn Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt; es gibt gute Ärzte überall –, Ärzte aufgrund ihrer Nationalität gegeneinander auszuspielen. Das müssten Sie als Arzt zuerst einräumen. ({1}) Wir haben heute ein wichtiges, ein großes Gesetz einzubringen, und in der Tat stimme ich Minister Spahn zu: Das Gesetz umfasst so viele Bereiche, dass man es in der kurzen Zeit nicht komplett vorstellen kann. Daher konzentriere ich mich auf die Punkte, die mir besonders wichtig sind. Wir haben in Deutschland zwar eine sehr hohe Arztzahl, die höchste Facharztdichte in Europa, trotzdem gibt es aber zum Teil sehr lange Wartezeiten, um einen Facharzttermin zu bekommen. Hier gibt es große Unterschiede zwischen Stadt und Land; aber es gibt auch große Unterschiede zwischen gesetzlich und privat Versicherten. Das ist ungerecht, und zwar deshalb, weil gerade die gesetzlich Versicherten, die auf dem Land oder in unterversorgten Gebieten leben, sehr, sehr lange warten, zum Teil Monate, sie aber einen großen Teil des Solidarsystems bezahlen. Sie zahlen mit für die Einkommensschwachen, die die Beiträge, die kostendeckend wären, nicht selbst erbringen können. Somit ist es ungerecht, dass ausgerechnet hier die Wartezeiten so lang sind. Das ist der Grund, weshalb sich die SPD seit Jahren konsequent für die Bürgerversicherung einsetzt. Das wäre das richtige System; ({2}) denn wir brauchen keine zwei Gesundheitssysteme in einem Land. Es muss jeder so behandelt werden, wie es medizinisch notwendig ist, nicht, wie er versichert ist oder wo er wohnt. Von diesen Zufällen darf es nicht abhängen, insbesondere nicht für ältere Menschen und Kinder. ({3}) Der Schritt, der jetzt durch die Terminservicestellen und die Aufwertung der Bezahlung für die Behandlung neuer Patienten, die gesetzlich versichert sind, gemacht wird, ist ein sehr wichtiger Schritt in Richtung Bürgerversicherung, ({4}) weil wir nämlich die Behandlung von gesetzlich Versicherten beim Facharzt deutlich besser vergüten. Das muss man einräumen: Es ist ein großes Unrecht, auch für Ärzte, dass derzeit für die Behandlung eines gesetzlich Versicherten viel weniger bezahlt wird als für die eines Privatversicherten. ({5}) Diesem Problem begegnen wir hier ein Stück, indem wir die gesetzlich Versicherten besserstellen: Die gesetzlich Versicherten, die über diese Terminservicestellen aufgenommen werden, werden über das Budget hinaus finanziert. Das heißt, es gibt einen besonderen Anreiz, diese neuen Patienten aufzunehmen. Das wird in der Praxis die Beschleunigung ({6}) der Terminvergabe beim Facharzt für gesetzlich Versicherte deutlich verbessern. Das ist ein wichtiger Schritt nach vorne. ({7}) Wir sind uns auch einig, dass bei den psychisch Kranken etwas passieren muss. Die Psychosen gehören tatsächlich zu den schwersten Erkrankungen überhaupt. Was wenig bekannt, aber richtig ist: Wenn ich mir die chronischen Erkrankungen anschaue, stelle ich fest, dass im Bereich der psychischen Erkrankungen die Sterblichkeit mit die höchste ist. Es sterben also sehr viel mehr Menschen an psychischen Erkrankungen als an organischen Erkrankungen wie zum Beispiel Rheuma, die allerdings viel bekannter sind; viel mehr Menschen sterben an Depressionen als an Rheuma. Wir haben in diesem Bereich aber eine massive Unterversorgung. Es wird monatelang gewartet. Hier unternehmen wir einen sehr wichtigen Schritt: Für denjenigen, der eine akute Versorgung benötigt, werden die neugeschaffenen Terminservicestellen, die online 24 Stunden pro Tag an sieben Tagen pro Woche erreichbar sind, innerhalb von zwei Wochen eine Akutversorgung organisieren. Das ist eine deutliche Verbesserung der akuten Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen, die dringend nottut. ({8}) Ich komme zum Abschluss auf etwas zu sprechen, was eben schon angesprochen worden ist. Wir müssen auch etwas tun, um die Versorgung in der Psychotherapie besser zu organisieren. Es ist tatsächlich so, dass wir aufgrund der bestehenden Anreize zum Teil eine Unterversorgung haben. Es gibt tatsächlich Bereiche, in denen der Versorgungsbedarf als gedeckt gilt, es aber viel zu wenig Psychotherapeuten, es gibt da zu wenige Zulassungen. Es ist darüber hinaus so, dass sich die Vergütung zum Teil zu wenig nach der Schwere der Erkrankung richtet. Hier müssen wir eine große Reform vorbereiten. Das, was im Gesetzentwurf dazu stand – Sie haben vorhin selbst von der Wortwahl gesprochen, Herr Spahn –, war von der Wortwahl her nicht geeignet, Vertrauen zu schaffen. Wir brauchen daher mehr Zeit. Wir müssen das mit den Betroffenen und mit den Verbänden diskutieren. Dann werden wir zu einer gemeinsamen Lösung kommen. Die Probleme sind wirklich, und sie sind zu wichtig für einen Schnellschuss. Ich bin sicher, dass wir noch zu einer sehr guten Lösung kommen. Insgesamt zeigt dieser Gesetzentwurf: In der Großen Koalition wird konkret gearbeitet, und wir verbessern die Versorgung der Patienten mit chronischen Erkrankungen, mit psychischen Erkrankungen und auch mit schweren organischen Erkrankungen. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun Christine ­Aschenberg-Dugnus. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Minister Spahn! Wenn wir uns den Titel des heute vorliegenden Gesetzentwurfs anschauen, stellen wir fest, dass es um eine bessere gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung geht. Ich glaube, dieser Wunsch eint uns alle in diesem Haus. Die Frage ist aber, ob wir mit diesem Gesetz wirklich eine bessere gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung erreichen. Ich beginne, weil mir das sehr wichtig ist, mit der Regelung zur psychotherapeutischen Behandlung. Herr Spahn, ich unterstelle Ihnen hier überhaupt nichts Böses oder irgendeine Absicht. Aber Sie müssen sich schon gefallen lassen, dass wir das kritisieren; denn der Ansatz einer gestuften und gesteuerten Versorgung von psychisch Kranken verfehlt doch das Ziel einer besseren Versorgung – aber komplett! ({0}) Wenn in einer Voruntersuchung erst mal entschieden werden soll, welche Therapie der Betroffene erhält, dann ist das eine zusätzliche, überhaupt nicht notwendige Hürde für den Erkrankten. Was muten wir den Patienten eigentlich zu? Psychisch Erkrankten fällt es doch ohnehin schwer, über ihre Probleme zu reden und sich überhaupt Hilfe zu suchen. Und dann müssen sie sich noch zusätzlich vorweg, bevor sie behandelt werden, einem Behandler öffnen, den sie überhaupt nicht kennen, den sie auch nie wiedersehen und den sie sich auch nicht selbst ausgesucht haben. ({1}) – Hören Sie mir einfach zu. – Das ist ein Nadelöhr vor der eigentlichen Behandlung, und das, meine Damen und Herren, widerspricht dem Grundsatz, dass der Patient sich den Arzt seines Vertrauens selbst aussuchen kann, gerade in einem so sensiblen Bereich wie der Psychotherapie. ({2}) Meine Damen und Herren, die seit der Strukturreform, seit April 2017 geltende Psychotherapie-Richtlinie sieht doch bereits eine gestufte Versorgung vor – das steht doch schon drin –, und zwar mit den Elementen Sprechstunde und Akutversorgung. Lassen Sie das doch erst einmal wirken. Es zeigt sich doch schon jetzt, dass das positive Ergebnisse bringt. Das, was Sie da vorhaben, benötigen wir also gar nicht. Ich fordere Sie daher nachdrücklich auf, den Zusatz „gestufte Steuerung“ ersatzlos zu streichen – im Sinne der Patientinnen und Patienten. ({3}) Meine Damen und Herren, wir werden dazu einen entsprechenden Antrag einbringen. Außerdem könnten mit unserem vorliegenden Antrag zur Regionalisierung der Bedarfsplanung die Möglichkeiten zur Niederlassung von Psychotherapeuten sofort verbessert werden. Das wäre auch mit Blick auf andere Arztgruppen, zum Beispiel Kinderärzte, von denen wir ja auch zu wenige haben, ein nachhaltiger Beitrag zur Lösung der Versorgungsprobleme. ({4}) Ein nächster Punkt, bei dem ich eine Verbesserung der Versorgung entschieden infrage stelle: Mit der Erhöhung der Mindestsprechstundenzeit von 20 auf 25 Stunden pro Woche erreichen Sie doch nur eines: Sie frustrieren die niedergelassenen Ärzte, die diese Vorgabe bereits mehrheitlich erfüllen. Lieber Herr Lauterbach, bei dem, was Sie heute Morgen im „Morgenmagazin“ gesagt haben, ist mir fast die Kaffeetasse aus der Hand gefallen. Sie haben die von der Kassenärztlichen Vereinigung erhobenen Zahlen öffentlich infrage gestellt. Das ist eine Sache, die ich wirklich sehr kritisiere. Legen Sie da bitte einmal konkrete Zahlen vor! ({5}) Fest steht auch, dass mit dem TSVG die Niedergelassenen mit sehr viel mehr Bürokratie überschüttet werden. Schon heute müssen die Ärzte und Psychotherapeuten 60 Tage allein für den Verwaltungsaufwand arbeiten. Das kann doch nicht sein. Diese Zeit brauchen wir für die Patientenversorgung, meine Damen und Herren. Und deswegen kritisieren wir das auch. ({6}) Mit unserem Antrag auf Entbudgetierung und Entbürokratisierung haben wir konkrete Vorschläge vorgelegt, wie die Versorgung der Patientinnen und Patienten auf jeden Fall verbessert werden kann. Und mit unserem Antrag zur Regionalisierung – ich habe ihn schon erwähnt – kann die Niederlassungsfreiheit besser gestärkt werden als durch Ihre Regelungen im TSVG. Meine Damen und Herren, ich freue mich auf die Anhörung im Januar. Herr Spahn, Sie haben ja immer gesagt, dass Sie für konstruktive Vorschläge offen sind. Ich hoffe, Sie stehen dazu. Wir haben mit unseren Anträgen konstruktive Vorschläge vorgelegt. Ich bedanke mich bei Ihnen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Achim Kessler für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Minister! Auf dem Tisch liegt heute ein umfangreicher Gesetzentwurf zu zahllosen, so möchte man sagen, Themen. Sie wollen damit wichtige Ziele erreichen: Gesetzlich Versicherte sollen schneller Termine bekommen, die Versorgung im ländlichen Raum soll verbessert werden. Um das zu erreichen, wollen Sie zum Beispiel die Sprechzeiten von Ärztinnen und Ärzten für gesetzlich Versicherte von 20 auf 25 Stunden erhöhen. Das hört sich gut an. Aber wie wollen Sie das sicherstellen? Wie wollen Sie überprüfen, dass diese Zeit nicht doch genutzt wird, um privat Versicherte zu behandeln oder andere Dinge zu erledigen? Herr Minister, das ist blinder Aktionismus, was Sie da machen. ({0}) Sie wollen Ärztinnen und Ärzten einen Aufschlag zahlen, wenn sie neue Patientinnen und Patienten behandeln, wenn sie Patientinnen und Patienten behandeln, die von Terminservicestellen vermittelt werden, oder für die Behandlung von besonders dringenden Fällen. Ich frage Sie: Ist es nicht so, dass Ärztinnen und Ärzte schon heute gut bezahlt sind? Ist es denn wirklich gerechtfertigt, Ärztinnen und Ärzten Aufschläge zu zahlen, nur weil sie ihre Arbeit machen? Ich finde, wir dürfen nicht vergessen: Das ist das Geld der Versicherten, und das ist hart erarbeitet. ({1}) All Ihre Maßnahmen sind nur Flickschusterei, weil Sie sich wieder nicht an das zentrale Problem ranwagen, an die Ungleichheit in unserem Gesundheitssystem. Solange Ärztinnen und Ärzte für die Behandlung von Privatpatientinnen und ‑patienten viel höhere Honorare erhalten, werden gesetzlich Versicherte immer den Kürzeren ziehen. ({2}) Deshalb wird dieses Gesetz kaum etwas bewirken. Nur wenn alle Patientinnen und Patienten gleich versichert sind, werden sie auch den gleichen Zugang zum Gesundheitssystem bekommen. ({3}) Schauen wir uns die Versorgung auf dem Land an: Es ist doch so, dass Ärztinnen und Ärzte sich bevorzugt in reichen Regionen mit vielen lukrativen Privatpatientinnen und Privatpatienten niederlassen. Ärmere Regionen dagegen haben einen massiven Ärztemangel. Die einzig konsequente Antwort darauf ist, die private Krankenversicherung abzuschaffen. ({4}) Alle Menschen müssen in einer solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung abgesichert sein. Gewerkschaften, Sozialverbände und Die Linke sprechen in dieser Frage schon lange mit einer Stimme. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich verstehe Sie wirklich nicht mehr. Sie haben 2017 lautstark gegen die Zweiklassenmedizin gewettert. Sie haben eine Bürgerversicherung verlangt; Herr Lauterbach hat es eben wiederholt. Sie wissen, wie es besser geht, aber Sie machen es nicht. Das verzeihen Ihnen die Menschen nicht. ({6}) Setzen Sie sich endlich für die Interessen der Patientinnen und Patienten ein, anstatt die Interessen der Versicherungswirtschaft zu bedienen. Doch nun zum nächsten Versorgungsnotstand, der sich ankündigt. Wegen der miserablen Vergütung können viele Therapeutinnen und Therapeuten in Gesundheitsberufen ihre Praxen nicht halten. So verdienen zum Beispiel Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten im Mittel 2 100 Euro, und zwar brutto. Das reicht nicht zum Leben, und das führt direkt in die Altersarmut. Für ihre Ausbildung zahlen sie ein Schulgeld von bis zu 20 000 Euro. Wen wundert es, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den entsprechenden Schulen seit vielen Jahren kontinuierlich sinkt? Da zeichnet sich ein neuer Notstand an. Herr Minister Spahn, noch im Juni hatten Sie keine Zeit, die „Therapeuten am Limit“ zu empfangen, die Ihnen 1 000 Protestbriefe übergeben wollten. Nach massivem Druck haben Sie jetzt immerhin Änderungsanträge zu Ihrem Gesetzentwurf angekündigt. Es freut mich, dass Sie damit auf unseren Antrag vom 10. Oktober reagieren. Sie sehen, meine Damen und Herren: Links wirkt! ({7}) Ihre angekündigten Verbesserungen reichen aber bei weitem nicht aus; denn die Vergütungen der Therapeutinnen und Therapeuten müssen schnell auf das Niveau der Einkommen ihrer Kolleginnen und Kollegen in den Krankenhäusern steigen. Diese verdienen nämlich sage und schreibe bis zu 1 000 Euro mehr. Wir fordern deshalb die sofortige Erhöhung der Vergütung für Therapeutinnen und Therapeuten um 30 Prozent. ({8}) Die Vergütungen müssen bundeseinheitlich sein, und zwar auf dem Niveau der jeweils höchsten Sätze. Sie dürfen aber – das geht auch in Richtung der Grünen – nicht bei der Vergütung der Selbstständigen haltmachen. Besonders wichtig ist uns – deswegen haben wir dazu einen Antrag eingebracht –: Auch die in den Praxen angestellten Therapeutinnen und Therapeuten müssen so viel bekommen wie ihre tariflich bezahlten Kolleginnen und Kollegen in den Krankenhäusern. ({9}) Herr Minister, Ihre vollmundige Ankündigung, das Schulgeld abzuschaffen, haben Sie nicht eingelöst. Ich fordere Sie auf: Setzen Sie diese Ankündigung endlich um! ({10}) Auch der Zugang zu Heilmitteln, zum Beispiel zu Physiotherapie, darf nicht vom Geldbeutel und auch nicht vom Wohnort abhängen. ({11}) Die Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung muss beseitigt werden. Auf gar keinen Fall dürfen neue Hürden aufgebaut werden. ({12}) Sie wollen einen gestuften und gesteuerten Zugang zur Psychotherapie. Wir und viele Expertinnen und Experten, aber vor allen Dingen auch viele Betroffene – das dürfen Sie nicht vergessen –, fürchten, dass dadurch neue Hürden entstehen, egal ob Sie das wollen oder nicht. Wir aber brauchen einen besseren und leichteren Zugang für die betroffenen Menschen. Deshalb werden wir mit einem Änderungsantrag versuchen, den Direktzugang zu erhalten. Ich bitte Sie dafür um Ihre Unterstützung. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Dr. Kirsten Kappert-Gonther das Wort. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was sind die großen Baustellen des Gesundheitssystems? Worauf müssen wir endlich gute gesundheitspolitische Antworten finden? Die Zahl der älteren Menschen und der chronisch Kranken nimmt zu. Auf dem Land finden sie kaum noch einen Arzt, eine Ärztin. Das ist besonders für die Älteren und die chronisch Kranken ein riesiges Problem. ({0}) Es fehlen Tausende von Pflegekräften. Die Kluft zwischen ambulant und stationär ist nach wie vor viel zu groß. Die Notaufnahmen platzen aus allen Nähten. Und nun, Herr Minister Spahn, legen Sie diesen Gesetzentwurf vor, der auf alle diese Fragen keine strukturellen Antworten findet. ({1}) Stattdessen haben Sie es geschafft, mit Ihrem Gesetzentwurf schon vor der Einbringung in den Bundestag rund 200 000 Menschen – mindestens – gegen sich aufzubringen. Die Petition gegen Ihre Vorschläge, psychisch Kranken neue Hürden zuzumuten, ist damit eine der erfolgreichsten Petitionen aller Zeiten, ({2}) und das zu Recht; denn Menschen in einer seelischen Krise brauchen Hilfe und Unterstützung und keine zusätzlichen Hürden. ({3}) Aus meiner langjährigen Arbeit als Psychiaterin und Psychotherapeutin weiß ich: Es darf nicht sein, dass gerade den Menschen, denen es besonders schwerfällt und die lange zögern, sich die dringend benötigte Hilfe zu holen, zusätzlich Steine in den Weg gelegt werden. ({4}) Es ist schwierig, über das Innerste zu sprechen. Es ist emotional eine Zumutung, das nun auch noch vor einer zusätzlichen Distanz tun zu müssen, um überhaupt einen Therapieplatz zu bekommen. Es ist diskriminierend, gerade den psychisch Kranken, den Menschen in einer seelischen Krise, zusätzliche Hürden aufzubürden. ({5}) Der entsprechende Passus, den Sie für das TSVG vorschlagen, gehört gestrichen. Ich habe wohl gehört, dass Sie Gesprächsbereitschaft signalisiert haben. ({6}) Das finde ich gut; denn wir müssen das ändern. Dieser Passus muss raus! ({7}) Was wir stattdessen brauchen, sind mehr Psychotherapeutinnen und -therapeuten, gerade im ländlichen Raum. Seit Jahren warten wir auf eine angemessene Bedarfsplanung. So, wie es jetzt ist, kann es nicht weitergehen. ({8}) Gleichzeitig sieht Ihr Gesetzentwurf viel zusätzliches Geld für bestimmte Facharztgruppen vor, bezahlt von den gesetzlich Versicherten. Durch die Bonuszahlungen werden in erster Linie die Ärztinnen und Ärzte belohnt, die bisher weniger Sprechstunden anbieten. Wer leer ausgehen wird, sind die Haus- und Kinderärztinnen und -ärzte, und das ist ungerecht. Das schadet der Versorgung. ({9}) Für Patientinnen und Patienten ist es letztlich egal, wie eine medizinische Leistung abgerechnet wird, nicht egal ist, wie die Qualität der Versorgung ist, nicht egal ist, wie die Anschlussbehandlung nach einem Krankenhausaufenthalt funktioniert, nicht egal ist, ob im ländlichen Raum noch ein Arzt, eine Ärztin zu finden ist, und nicht egal ist, ob ich im Notfall adäquate Hilfe bekomme. Ihr Vorschlag, durch finanzielle Anreize die Terminvergabe zu verbessern, klingt nur im ersten Moment gut. Wie stellen Sie sicher, dass diese Regelungen nicht zulasten der chronisch Kranken gehen? Gerade die körperlich und psychisch chronisch Kranken brauchen bessere Angebote als bisher. ({10}) Nächste Baustelle: die ungleiche Verteilung der Arztpraxen. In strukturschwachen, in ländlichen, in ärmeren Regionen ist der Zugang zu Ärztinnen und Ärzten zunehmend schwieriger. Da sind Sie nun mit der Gießkanne unterwegs. Die pauschale Aufhebung von Zulassungssperren für bestimmte Arztgruppen wird den Mangel an Ärztinnen und Ärzten in den unterversorgten Regionen noch verstärken. Das wird dazu führen, dass sich noch mehr Ärztinnen und Ärzte in den Städten niederlassen, wo es jetzt schon viele Praxen gibt. Genau diese Ärztinnen und Ärzte werden in Zukunft im ländlichen Raum fehlen. Das macht doch gar keinen Sinn. ({11}) Der Vorschlag der FDP bringt wirklich gar nichts. Er würde das Problem sogar noch verschärfen. ({12}) Das ist reine Klientelpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({13}) Auch die Idee, Ärztinnen und Ärzte durch regionale Honorarzuschläge zu unterstützen, wird das Problem nicht beheben. ({14}) – Klar habe ich den gelesen, gestern Abend. Das ist Klientelpolitik. Er verstärkt das Problem. Wir werden ihn ablehnen. ({15}) Dabei gibt es kluge Ideen zur Neustrukturierung, um die Versorgung im ländlichen Raum endlich zu verbessern: mehr Kooperation zwischen ambulant und stationär, mehr Kooperation zwischen den Gesundheitsberufen! Ärztinnen und Ärzte, Physiotherapeuten, Pfleger, Hebammen arbeiten Hand in Hand! So sieht die Gesundheitsversorgung der Zukunft aus, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({16}) Stichwort „Physiotherapeuten“. Sie müssen genau wie alle anderen Heilmittelerbringer endlich ihrer Kompetenz entsprechend arbeiten dürfen. Eine adäquate Bezahlung, Hausbesuche – das würde die Versorgung unmittelbar verbessern. Davon steht bisher leider nichts im Gesetzentwurf, Herr Minister Spahn. Sie haben eben gesagt, die Bedingungen für die Heilmittelerbringer würden aufgrund Ihres Gesetzentwurfes deutlich besser werden. Bisher ist das nicht der Fall. Aber es liegt ja ein Antrag von uns Grünen vor, über den wir debattieren können. Last, but not least: die Notfallversorgung. Auch hier ist Ihr Gesetzentwurf leider – es wäre so dringend, dass sich in diesem Bereich etwas verbessern würde – eine absolute Nullnummer. Auch hierzu haben wir Grüne in einem Antrag Reformvorschläge gemacht: integrierte Leitstellen, eine Anlaufstelle, eine medizinische Ersteinschätzung, die den Menschen hilft, genau dorthin zu gelangen, wo sie die passende medizinische Hilfe bekommen. So gelingt eine gute Reform. ({17}) Ihr Gesetzentwurf wird den großen Aufgaben des Gesundheitswesens leider nicht gerecht – im Gegenteil –, und das ist schlecht. Ich hoffe sehr, dass wir in den Beratungen im Ausschuss noch zu deutlichen Verbesserungen kommen; denn das wäre für die Patientinnen und Patienten dringend notwendig. Vielen Dank. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Karin Maag das Wort. ({0})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vor allem: Lieber Kollege Lauterbach! Ich war ja wirklich beeindruckt und freue mich, dass Sie jetzt endlich mit uns der Meinung sind, dass gesetzlich Versicherte auch ohne Bürgerversicherung bessergestellt werden können. ({0}) Schon das war wirklich ein erkennbarer Fortschritt. ({1}) Wir schaffen jetzt gemeinsam einen besseren Zugang zur ambulanten Versorgung für alle und verkürzen die Wartezeiten für alle, genau so wie wir es den Wählerinnen und Wählern versprochen haben. Das setzen wir jetzt zügig und konkret um. Wie wir das umsetzen, haben wir adressiert: Die Terminservicestellen zum Beispiel vermitteln bereits heute innerhalb einer Woche den Termin beim Facharzt, mit einer Wartezeit von maximal vier Wochen. Künftig werden die Termine bei Haus- und Kinderärzten vermittelt, und die Terminservicestellen unterstützen unter der Telefonnummer 116117 künftig auch die Suche nach dem dauerhaft betreuenden Haus- und Kinderarzt. Diese und viele weitere Verbesserungen – zum Beispiel beim Zahnersatz, bei der Versorgung von Versicherten mit HIV-Risiko oder bei der Ermöglichung künstlicher Befruchtung nach schweren Krankheiten – sieht dieser Gesetzentwurf vor. Nun geht mein Appell an die Ärzteschaft: Wir wollen gerne mit Ihnen Versorgung gestalten. – Deshalb folgt der Gesetzentwurf einer sehr einfachen Logik: Dort, wo wir mehr Leistung adressieren, wird selbstverständlich auch mehr Leistung bezahlt. Wir schätzen und anerkennen die Leistungen und den außerordentlichen Einsatz der Vertragsärzteschaft. Gleichzeitig bitte ich aber auch um Verständnis, dass es unsere Aufgabe ist, Zugangshürden für alle Patienten abzuschaffen. ({2}) Deshalb zum Stichwort „Steuerung“. Aus Sicht der Ärzte ist die Forderung nach einer koordinierten, gesteuerten Inanspruchnahme der Ressource „Arzt“ sicher richtig.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Maag, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der FDP-Fraktion?

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir machen das nachher, am Ende, Herr Kollege. – Also: Die koordinierte, gesteuerte Inanspruchnahme der Ressource „Arzt“ ist aus Sicht der Ärzte sicher richtig, aber genauso richtig ist es aus Sicht der Kassen und der Beitragszahler, den Grundsatz der Beitragsstabilität zu erhalten. Und wir in der Politik – vor allen Dingen, wenn wir eine Fraktion mit Verantwortung sind – müssen diesen Spagat gestalten. Das ist das Wesentliche. Jetzt fordern AfD und FDP die Entbudgetierung. Offensichtlich ist für Sie die Beitragssatzstabilität also herzlich überflüssig. ({0}) Offensichtlich ist es Ihnen entgangen, dass bereits heute ein Drittel aller vertragsärztlichen Leistungen extrabudgetär vergütet werden. Offensichtlich ist Ihnen auch entgangen, dass der Anteil der so geförderten Leistungen seit Jahren zunimmt. ({1}) Offensichtlich ist Ihnen gar nicht bekannt, dass in den Fällen des § 87b und § 100 die Fallzahlenbegrenzungen heute gar nicht angewendet werden dürfen. ({2}) Und offensichtlich ignorieren Sie, dass mit unserem Entwurf bereits verbindliche Vorgaben zur Anerkennung von Praxisbesonderheiten festgestellt werden, und das finde ich einfach jammerschade. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Teil des TSVG ist auch das Heilmittelpaket. Für unsere Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden und Podologen heben wir die Obergrenze für Vertragsverhandlungen an. Wir kehren von der Anbindung an die Grundlohnsumme komplett ab, heben zusätzlich die Honorare an, übertragen ihnen die Versorgungsverantwortung für die Art der Leistungserbringung ({4}) und gehen einen wichtigen und richtigen Schritt in Richtung Digitalisierung. Es wird eine elektronische Patientenakte geben, und die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sowie das elektronische Rezept werden dann im Jahr 2021 zur Verfügung stehen. Smartphones und Tablets – auch das ist eine schöne Botschaft – werden es künftig möglich machen, dass die Versicherten auf ihre Daten zugreifen können. Wir haben gemeinsam ein Interesse, dass die Versorgung in ländlichen und strukturschwachen Regionen erhalten werden muss. Auch dort muss sich jeder Bürger auf eine wohnortnahe, zügige und gute Versorgung verlassen können. Auch dort muss es attraktiv bleiben, sich als Arzt niederzulassen. Deswegen heben wir dort die Zulassungssperren für Neuniederlassungen auf. Mehr noch: Für Ärzte, die dort praktizieren, werden die regionalen Zuschläge verpflichtend bezahlt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Stichwort „flächendeckende Versorgung“ ist mir und meinen Kollegen aus der AG Gesundheit auch die aktuelle Diskussion um die Versorgung mit Apotheken ein Anliegen. Meine Haltung zum Versandhandelsverbot ist bekannt. Die Diskussion über die Gleichpreisigkeit kann man führen; aber Boni, die ausschließlich ausländische Versandhändler gewähren sollen, tragen ganz sicher nicht dazu bei, dass eine flächendeckende Apothekenversorgung erhalten bleibt. ({5}) Meine Damen und Herren, ein letztes Thema: Die MVZ-Gründung durch Kapitalinvestoren macht uns Sorgen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Maag.

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme gleich zum Schluss.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Moment. – Sie können gerne weiterreden. Das geht dann aber auf Kosten Ihrer Kollegen.

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schlusssatz. – Wir werden uns dieses Themas annehmen. Wir wollen keine Katalysatoren zur Gewinnmaximierung in unserem Gesundheitssystem. – Ich freue mich auf die Beratungen. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bevor wir weitermachen, ein kleiner Hinweis: Ich werde, wenn sich jemand zu einer Frage oder Bemerkung meldet, immer fragen, ob das zugelassen wird. Eine Ablehnung einer solchen Frage oder Bemerkung zieht aber nicht nach sich, dass ich dann das Wort zu einer Kurzintervention erteile; das wird je nach Situation entschieden. Das heißt: Kurzinterventionen werden jeweils vom Präsidenten bzw. von der Präsidentin gewährt und nicht von den Rednerinnen und Rednern. Das sollten wir auch im Laufe des weiteren Tages beachten. ({0}) Dann kommen wir durch unsere Tagesordnung und unseren Zeitplan. Das Wort hat der Abgeordnete Detlef Spangenberg für die AfD-Fraktion. ({1})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Rahmen dieses Gesetzesvorhabens haben wir den Antrag „Einheitliches Prüfverfahren zur fachlichen Eignung ausländischer Ärzte aus Drittstaaten“. Zuerst stellt sich die Frage: Wer ist für wen da? Der Patient für den Arzt oder der Arzt für den Patienten? Ich denke, die Antwort ist einfach: Der Arzt sollte für den Patienten da sein. Die Rechtsgrundlage, um eine Approbation zu erhalten, ist § 3 der Bundesärzteordnung. Und üblicherweise ist es so: Wenn jemand drei Mal durch die Prüfung gefallen ist, dann hat er in Deutschland kein Recht mehr, den Arztberuf zu ergreifen. Das dient der Sicherheit der Patienten. Das sind strenge Maßstäbe, meine Damen und Herren, aber wenn Ärzte das deutsche Prüfungssystem nicht absolviert haben, dann müssen wir handeln, weil da Gefahren bestehen. Der Deutsche Ärztetag vom Mai 2018 hat Folgendes festgestellt: Überprüfungen haben bestätigt, dass teilweise unzureichende Kenntnisse bei ausländischen Ärzten vorliegen. Es gab mehrere Fälle, wo ausländische Studienbescheinigungen gefälscht waren oder nicht den deutschen Anforderungen oder der Qualifikation generell genügten, mit der Folge von Behandlungsfehlern und sogar nachgewiesenen Todesfällen. – Meine Damen und Herren, das Patientenwohl geht hier vor. Der Deutsche Ärztetag hat weiterhin festgestellt: Die Integration ausländischer Ärzte ist unzureichend. Die tatsächliche Qualifikation reicht oft nicht aus, trotz Bescheinigungen. Auch Fälschungen auf Originalpapier sind nachgewiesen worden, und das auch bei Ärzten aus europäischen Staaten. ({0}) Meine Damen und Herren, § 3 Absatz 1 der Bundesärzteordnung beinhaltet eine Ausnahmeregelung für Ärzte aus dem europäischen Ausland. Wenn sie in Deutschland durchgefallen sind, können sie trotzdem, wenn sie die Prüfung im europäischen Ausland bestanden haben, als Arzt arbeiten. Aber, wie ich eben sagte, gab es auch bei diesen Fällen Unzulänglichkeiten, die zu Fehlbehandlungen geführt haben. Ich betone noch einmal das Patientenwohl. Die mangelnden Sprachkenntnisse des ausländischen Arztes ermöglichen keine ausreichende Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Es kann auch keine psychologische Betreuung bzw. kein fachliches, verständliches Erläutern während der Behandlung stattfinden. Auch das ist eingeschränkt oder nicht möglich. Jetzt komme ich zum Kernsatz: Ausländische Ärzte, meine Damen und Herren, sind nicht ideologisch als förderwürdige Ausländer zu sehen. Der Patient und die Sicherheit unseres Gesundheitswesens stehen im Vordergrund, nicht die Integration des ausländischen Arztes am Krankenbett. ({1}) Das kann es nicht sein. Wenn wir das zulassen, schwindet das Vertrauen der Patienten in ausländische Ärzte, und das wollen wir doch bestimmt alle gemeinsam nicht. Deswegen sind unsere Forderungen: Nachweis des fachlichen Kenntnisstandes auf deutschem Niveau ohne jedwede Zugeständnisse einfordern, gegebenenfalls die Gutachtenstelle für Gesundheitsberufe, GfG, ausbauen und keine Gleichwertigkeit ärztlicher Kenntnisse nach Aktenlage anerkennen. Es gibt tatsächlich Fälle, in denen Sachbearbeiter nach Aktenlage die Gleichwertigkeit anerkannt haben, mit den eben genannten Folgen. Die Sprachkenntnisse eines praktizierenden Arztes sollten mindestens auf dem Niveau der Stufe C 1 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen sein. Weiterhin muss sichergestellt werden, dass ein Antragsteller bei Ablehnung nicht in einem anderen Bundesland die Möglichkeit bekommen kann, es dort noch mal zu versuchen. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Ärztemangel ist nur durch eine deutliche Erhöhung der Zahl der Studienplätze zu beheben. Die Attraktivität des Arztberufes auch im ländlichen Raum – so auch die Forderung von Professor Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer – muss erhöht werden. Gesundheitspolitik dürfte keine Parteienpolitik sein. Wenn wir Ärzte aus Ländern holen, in die wir Entwicklungshilfe schicken, wird diese dadurch an und für sich konterkariert; das ist doch logisch. Außerdem ist das, was wir da machen, Neokolonialismus. Wir sollten die Ärzte ermuntern, in ihrem eigenen Land zu praktizieren. Dort werden sie gebraucht. Recht vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Abgeordnete Sabine Dittmar das Wort. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich werde jetzt wieder zum Thema der aktuellen Aussprache zurückkommen. ({0}) Für uns Sozialdemokraten ist es wichtig, dass jeder unabhängig von Wohnort, Einkommen und Versichertenstatus einen guten Zugang zur medizinischen Versorgung erhält. Da gibt es, obwohl wir unbestritten eine sehr hohe Versorgungsqualität haben, nach wie vor Defizite. Vermutlich kann jeder von uns aus seinem eigenen Umfeld, aus persönlichen Erfahrungen berichten, wie schwierig es oftmals ist, einen Facharzttermin zu bekommen. Auch wenn es die verfasste Ärzteschaft anders darstellt: Wartezeiten von mehreren Monaten sind für gesetzlich Krankenversicherte keine Seltenheit. Das ist nicht hinnehmbar. ({1}) Deshalb werden wir mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz dafür sorgen, dass der Zugang zur ärztlichen Sprechstunde deutlich schneller und spürbar besser wird. ({2}) Im Gesetzentwurf sind hierfür verschiedene Einzelmaßnahmen vorgesehen: Der Ausbau der Terminservicestellen, die Ausweitung der Mindestsprechstundenzeiten und vor allem auch die mit Aufschlag und Extrabudget vergütete Neuaufnahme von Patientinnen und Patienten sind hier sicherlich von zentraler Bedeutung. Besonderes Augenmerk werden wir auch auf die psychotherapeutische Versorgung legen. Häufig müssen Patienten und Patientinnen trotz neuer Psychotherapieleitlinie, trotz Akutsprechstunde monatelang auf die notwendige Weiterbehandlung warten. Das ist nicht zumutbar, und hier haben wir – das ist ja schon von vielen festgestellt worden – unbestritten Handlungsbedarf. Deshalb sage ich jetzt hier in aller Deutlichkeit – auch der Minister hat es ja zwischenzeitlich angedeutet –: Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmen werden dieses Problem nicht lösen, sondern eher verschärfen. ({3}) Erst heute Morgen wurde eine Petition mit fast 200 000 Unterschriften übergeben. Den Betroffenen kann ich eine Botschaft mitgeben. Für uns als SPD ist klar: Statt zusätzliche Hürden aufzubauen, müssen wir dafür sorgen, dass es einen flächendeckenden und zeitnahen Zugang zur psychotherapeutischen Therapie gibt, einer Behandlung, die sich in Art und Umfang an den Bedürfnissen der Patienten orientiert. ({4}) Fragen, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es auch bei den vorgesehenen Regelungen für Medizinische Versorgungszentren. MVZs spielen in der Versorgungslandschaft eine wichtige Rolle sowohl für die Patientinnen und Patienten, die sehr viel einfacher interdisziplinär behandelt werden können, als auch für viele Ärztinnen und Ärzte, denen dieses Versorgungsangebot, das flexible Arbeitszeiten und Teamarbeit ermöglicht, sehr entgegenkommt. Insofern sind MVZs in vielen Gebieten aus der Versorgung nicht mehr wegzudenken. Deshalb werden wir im parlamentarischen Verfahren sehr genau darauf achten, dass keine bürokratischen Hürden aufgebaut werden, die diese Versorgungsform gefährden, zum Beispiel dann, wenn es um die Nachbesetzung von Arztstellen geht. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gesetz ist ein echtes Omnibusgesetz – es ist schon gesagt worden – mit sehr vielen Detailregelungen. Ich möchte explizit ein Thema herausgreifen, weil es mir sehr wichtig ist: die Kryokonservierung. Patienten, die in jungen Jahren eine Diagnose erhalten – Krebs, aber auch andere Diagnosen wie zum Beispiel rheumatoide Arthritis – und sich einer Therapie unterziehen müssen, die die Fertilität oder Zeugungsfähigkeit beeinträchtigt, haben neben vielen anderen Sorgen auch die Frage: Werde ich nach erfolgter Therapie eigene Kinder haben können? Bislang mussten die Kosten für die Ei- und Samenzellkonservierung selbst bezahlt werden, und hier, meine Damen und Herren, sprechen wir von mehreren Tausend Euro. Für viele war und ist das nicht leistbar. Mit dem Gesetz, das hier als Entwurf vorliegt, schließen wir endlich eine nicht hinnehmbare Regelungslücke. Künftig wird die Kryokonservierung Kassenleistung. Damit nehmen wir den Patientinnen und Patienten in einer ohnehin schwierigen Situation die finanzielle Sorge und schenken Hoffnung und Möglichkeit, nach der Genesung den Kinderwunsch zu erfüllen. ({6}) Auch das ist soziale und patientenorientierte Gesundheitspolitik, auf die wir stolz sein können. Ich freue mich auf die parlamentarischen Beratungen; denn da werden wir aus einem guten Gesetzentwurf ein noch sehr viel besseres Gesetz machen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Andrew ­Ullmann das Wort. ({0})

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es lohnt sich durchaus, das TSVG im Ganzen anzuschauen. ({0}) Hier versucht Bundesminister Spahn, uns allen einiges unterzujubeln. So lösen Sie kein Problem, sondern schaffen neue Probleme. Da wäre zum einen, was Sie gerade angesprochen haben, die Kryokonservierung. Das ist ein wichtiges Thema für Patienten, die eine Chemotherapie erhalten. Es freut mich außerordentlich, dass das Ministerium diesen Punkt aufgenommen hat. Doch da zeigt sich deutlich: Gut gemeint, aber nicht gut gemacht! Denn um die Erstattung der Kosten fertilitätserhaltender Maßnahmen bei Krebs­patienten zu ermöglichen, ist der von der Bundesregierung gewählte § 27a SGB V ein denkbar ungeeigneter Regulierungsort. ({1}) Dieser bezieht sich nämlich auf den Prozess einer künstlichen Befruchtung. Die Kryokonservierung gehört jedoch nicht zu diesem Prozess. Sie ist eine Vorabmaßnahme, die neben der künstlichen Befruchtung ebenfalls für eine Wiederherstellung der natürlichen Fertilität der Betroffenen sorgen kann. Faktisch ist das Gesetz nicht auf die Kryokonservierung anwendbar; das ist keine juristische Spitzfindigkeit. Es stellen sich neue Fragen: Wie lange dürfen beispielsweise konservierte Zellen und Zellgewebe auf Kassenkosten eingelagert werden? Wie soll mit der für eine künstliche Befruchtung geltenden Altersgrenze umgegangen werden? Für die künstliche Befruchtung setzt das Gesetz ein verheiratetes Paar voraus. Es bleibt unklar, inwieweit das für die Kryokonservierung gilt. ({2}) Was ist mit unverheirateten Paaren oder Singles? Sollen sie etwa keinen Anspruch haben? Hier wollen wir als Freie Demokraten mit unserem Antrag Klarheit schaffen. ({3}) Wir wollen, dass die Übernahme der Kosten für die notwendige Kryokonservierung im Rahmen einer zytoreduktiven Therapie durch die Krankenkassen in einer Weise herbeigeführt wird, die allen Betroffenen tatsächlich Rechtssicherheit verschafft. Ein weiterer sehr heikler Punkt im TSVG ist die Impfstoffversorgung. Hier habe ich vor vier Wochen schriftlich nachgefragt: Hat die Bundesregierung aus ihrer Sicht alles Erforderliche zur Prävention einer Grippewelle in der aktuellen Grippesaison getan? Nicht überraschend ist die Antwort der Bundesregierung: Wir haben alles richtig gemacht. – Fakt ist aber: Es besteht wieder ein Mangel an Vierfach-Grippeimpfstoff in Deutschland, verursacht durch eine Fehl- und Überregulierung, die Sie mit diesem Gesetz weiter verschärfen wollen. Sie wollen auf dem Rücken der Patienten mit zusätzlichen Zwangsrabatten die Kosten drücken und damit Versorgungsunsicherheiten und zukünftige Lieferengpässe weiter in Kauf nehmen. Der bessere Weg wäre gewesen, Rabatte an Erfolg zu koppeln. Das wäre sinnvoll, möglich und zum Wohle der Patientinnen und Patienten. So würde die Impfstoffversorgung sichergestellt und der Gesundheitsschutz der Versicherten gewährleistet. ({4}) Denn, meine Damen und Herren, für uns gilt: Gesundheitspolitik für den Patienten. Ich freue mich auf die Auseinandersetzung in den Ausschüssen. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Erich Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen Debatte befassen wir uns mit dem Regierungsentwurf eines Gesetzes für schnellere Termine und eine bessere Versorgung in Deutschland. Ich möchte hier schon die Grundsätzlichkeiten dieses Gesetzentwurfs herausstellen, und ich möchte vorab klarstellen: Wir schätzen die ärztlichen und die medizinischen Berufe und wollen dieses System verbessern und zukunftsfähig machen; wir wollen nicht irgendjemanden anprangern, gängeln oder sonst irgendetwas. ({0}) Ich möchte aber auch klarstellen, meine sehr geehrten Damen und Herren – denn hier wird immer wieder das Thema Bürgerversicherung angedeutet –: Das ist jetzt kein Einstieg in eine Bürgerversicherung, sondern es sind Zukunftsmaßnahmen in einem System. Es geht darum, dass wir hier zu einer gerechten Lösung kommen. Diese Verbesserung der Situation von gesetzlich Versicherten war überfällig, und deshalb haben wir hier einen Plan und einen Vorschlag. Ich möchte aber auch ganz klar sagen, dass aus meiner Sicht dieses Gesetz der richtige Ansatzpunkt sein kann, um den Alltagsproblemen der Menschen entgegenzukommen. Es ist doch kein Widerspruch, dass man versucht, für gesetzlich Versicherte einen Vorteil und eine Verbesserung zu schaffen, ohne dass man sofort den ganzen medizinischen Betrieb gegen sich aufbringt. Ich finde es auch nicht negativ, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass wir einen Vorschlag präsentieren, den wir jetzt auch mit aller fachlichen Expertise diskutieren. Das ist doch notwendig, und ich glaube, das zeichnet auch eine gute und lebendige Demokratie aus. Wir haben einen Grundsatz, und dieser Grundsatz lautet: Wer mehr und zusätzlich leistet, soll auch dafür vergütet werden. Das ist anständig, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({1}) Die einzelnen Verbesserungen wurden schon angesprochen. Sie kennen das Ganze ja. Ich möchte noch einmal das Thema Kinderwunsch herausstellen, das von meinem Vorredner Herrn Dr. ­Ullmann angesprochen worden ist. Damit wird doch eine Lücke geschlossen, die wir bis jetzt hatten. Ich denke, dass man in diesem parlamentarischen Prozess Ihre berechtigten oder unberechtigten Punkte – ich habe das nicht so gesehen, das sage ich ganz ehrlich, aber ich nehme natürlich Ihre Auffassung zur Kenntnis – diskutieren sollte. Lassen Sie uns das doch diskutieren. ({2}) Werte Kolleginnen und Kollegen, Sie werden doch auch die Einwände der Kinder- und Jugendärzte bekommen haben, die bei uns in einer hohen Anzahl eingegangen sind.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Irlstorfer, ich habe die Uhr angehalten und frage Sie, ob Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Schinnenburg zulassen.

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, gerne.

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben gesagt, Sie wollen ein Gesetz machen, das den Menschen nützt. Stellen Sie sich einen Moment vor, ein enger Verwandter von Ihnen hat ein psychisches Problem. Was sagen Sie dem, wenn er nun hört, dass er ab 1. April nicht mehr direkt in eine Therapie gehen kann, sondern dass er sich erst einem Dritten offenbaren muss. Wie können Sie das verantworten? ({0})

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich habe das so nicht wahrgenommen. Sie nehmen das so wahr. Ich kenne diese Briefe auch; ich bekomme sie natürlich ebenfalls. Es ist doch unsere Aufgabe als Parlamentarier – dafür ist der parlamentarische Prozess da –, dann, wenn wir der Meinung sind, dass das, was in dem Gesetzentwurf verankert ist, richtig und notwendig ist, aber dass es von der Formulierung her Ungereimtheiten gibt, diese Dinge klarzustellen; das können wir als Politiker doch im Endeffekt zurechtzurren. Deshalb müssen wir mit den Menschen reden. Wir müssen diese Einwände ernst nehmen und dementsprechend behandeln. ({0}) Ich möchte noch einmal unterstreichen, dass wir die Einwände, die aus der Ärzteschaft, aus der Bürgerschaft und von den Betroffenen kommen, nicht einfach ad acta legen, sondern dass wir im parlamentarischen Verfahren und natürlich auch in der Anhörung sehr genau diesen Dialog führen werden. ({1}) Wir haben kein Interesse, irgendetwas zur reinen Selbstdarstellung auf die Piste zu bringen, das den Menschen nicht weiterhilft. Das ist die Unterstellung, die in dieser Debatte mitschwingt, und die stört mich, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({2}) – Aber es schwingt mit, Frau Kollegin. ({3}) Dies ist unsere vorderste Aufgabe. Wir haben ein gutes Grundlagenpapier. Ich danke dem Minister und dem Ministerium ausdrücklich dafür, dass wir hier ein ordentliches Papier haben, das die Diskussionsgrundlage für die nächsten Monate sein wird. Ich kann nur parteiübergreifend alle darum bitten, diesen Prozess zu unterstützen und ihn aufrecht und ehrlich zu führen. Ich hoffe, das wird uns gelingen, und wir werden dann ein ordentliches Gesetz verabschieden. In diesem Sinne herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Abgeordnete Bettina Müller das Wort. ({0})

Bettina Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004358, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ein Teil der Ärzteschaft schlägt derzeit schrille Töne an: Staatsdirigismus, Degradierung Niedergelassener zu Scheinselbstständigen, Beleidigung der Würde eines ganzen Berufsstandes. – Wer uns so heftig Einmischung in die Selbstorganisation der Ärzte vorwirft, den frage ich: Wo bleibt die Perspektive der Patientinnen und Patienten? ({0}) Damit habe ich es als Kommunalpolitikerin in einem sehr ländlichen Wahlkreis in Hessen regelmäßig zu tun. Die Menschen machen sich Sorgen um die ärztliche Versorgung oder haben schon Probleme, zum nächsten Arzt zu kommen. Jeder Dritte der rund 4 000 Hausärzte in Hessen ist 60 Jahre oder älter. Ein Drittel der Ärzte wird in den nächsten zehn Jahren die Praxis schließen. Nur jeder Zweite wird einen Nachfolger finden. Die meisten Fachärzte sind sowieso in der Großstadt Frankfurt und Umgebung angesiedelt. Deshalb wollen wir mit dem TSVG die Versorgung gerade in den ländlichen und strukturschwachen Gebieten verbessern. Wir verpflichten die KV zu Eigeneinrichtungen und Sicherstellungszuschlägen dort, wo Unterversorgung droht. Wir erweitern den Strukturfonds und machen mobile und telemedizinische Behandlungen möglich. Auf dem Land, wo Ärzte häufig Hausbesuche bei älteren Patienten machen, ist durch dieses Gesetz jetzt auch der Regress kein Thema mehr. ({1}) Die Einzelpraxis auf dem Land ist für viele Ärzte nicht mehr attraktiv. Deshalb sind MVZs eine sinnvolle Ergänzung der Versorgung. So kann man als junger Arzt auch einmal den Schritt aufs Land wagen, ohne sich als Einzelkämpfer bis zur Rente zu verpflichten. Hier sollte zwischen den Versorgungsformen kein Stellungskrieg geführt werden, sondern es sollte zusammengearbeitet werden. Mit lokalen Gesundheitszentren beispielsweise können wir hier viel erreichen. Die Länder werden bei der ärztlichen Versorgung vor Ort ein Wort mitreden und natürlich auch in der Pflicht sein. Sie können Gebiete von Zulassungsbeschränkungen befreien, damit die Menschen im ländlichen Teil eines Bedarfsplanungsbezirks nicht das Nachsehen haben, wenn viele Ärzte in die Stadt abwandern. Einige KVen empfinden das vielleicht als Einmischung in die Selbstverwaltung. Aber wir sind inzwischen ja schon so weit, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass beispielsweise die KV Hessen im Dezember 2017 die Politik ausdrücklich um Unterstützung gebeten hat, weil sie die Versorgung in einigen Bereichen nicht mehr sicherstellen kann. Politik sollte nicht alles regulieren – das ist ein Grundsatz erfolgreicher Selbstverwaltung –, aber wir müssen dort eingreifen, wo dieses System an seine Grenzen stößt. ({2}) Längere Öffnungszeiten, offene Sprechstunden, eine Terminhotline und auch mehr Geld für Ärzte, die mehr Patienten behandeln wollen, sind unser Sofortprogramm für die Versorgung gesetzlich Versicherter. Mit der Kommission für ein Vergütungssystem und der Arbeitsgruppe von Bund und Ländern zur sektorenübergreifenden Versorgung schaffen wir die Grundlage für weitere Weichenstellungen. Einen wichtigen Hinweis, wie wir unser gutes Gesundheitssystem zukunftsfest machen können, hat der jüngste OECD-Bericht geliefert: Bei der Arztdichte und den Ausgaben für unser Gesundheitssystem liegen wir ganz weit vorne, aber die häufigen Besuche bei teuren Spezialisten machen uns nicht gesünder. Gleichzeitig herrscht – auch das ist festgestellt worden – akute Knappheit beim nichtärztlichen Personal. Wir brauchen hier unbedingt eine bessere Zusammenarbeit der verschiedenen Gesundheitsberufe. ({3}) Wir werden daher im Verfahren noch Regelungen zu den Heilmittelerbringern ergänzen, zum Beispiel die Blankoverordnung als Regelverordnung. Das stärkt die Therapieberufe und verbessert die Versorgung im ländlichen Raum, auch wenn wir hier aus meiner Sicht langfristig einen Direktzugang anstreben sollten. Ich freue mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf die Beratung. Eine schöne Weihnachtszeit! ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der letzte Redner in dieser Debatte ist Alexander Krauß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe die Ehre, abschließend die Thematik zusammenfassen zu dürfen. Das Gesetz für schnelle Termine und bessere Versorgung ist das wichtigste Gesetz in dieser Wahlperiode im Bereich der medizinischen Versorgung. ({0}) Es ist ein Gesetz, das wirklich jeden Bürger in diesem Land betrifft. Wir haben einen Sack voller Geschenke; für jeden ist etwas dabei. In erster Linie natürlich für die Patienten: Sie sollen leichter einen Facharzttermin bekommen, sie bekommen kürzere Wartezeiten, sie bekommen mehr Sprechstunden bei den Ärzten, und sie werden weniger zuzahlen, zum Beispiel beim Zahnersatz. Aber auch für die Ärzte ist etwas dabei: Sie bekommen mehr Geld, zum Beispiel, wenn sie neue Patienten aufnehmen. Das ist ein Ansporn gerade für die Ärzte, die besonders viel leisten oder die sich im ländlichen Raum niederlassen. Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Logopäden – eher Berufsgruppen, die bislang ein Schattendasein hatten – bekommen die gleiche Bezahlung in Ost und West, in Nord und Süd. Das kostet Geld. Wir können uns das leisten, weil die Arbeitnehmer und die Unternehmer in unserem Land das erarbeitet haben. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, warum ist das Gesetz so notwendig? Ganz einfach: weil Patienten heute nicht immer die medizinische Versorgung bekommen, die sie verdient haben und die sie brauchen. Keine Frage, wir haben eines der besten Gesundheitssysteme auf der Welt. Dennoch gibt es Verbesserungsbedarf. In meine Bürgersprechstunde im Erzgebirge kamen viele Menschen, nicht nur einer, die gesagt haben: Ich bekomme keinen Termin beim Augenarzt. – Ich finde, das geht nicht. Die Leute haben einen Anspruch darauf, dass sie zeitnah einen Termin beim Augenarzt bekommen. Bei mir war ein Pfarrer, der zu uns ins Erzgebirge gezogen ist und einen Hausarzt für sich und seine Familie gesucht hat. Er hat keinen Hausarzt gefunden. Man hat ihm gesagt, er soll doch bitte dorthin gehen, wo er bislang war. Das geht nicht. Deswegen müssen wir etwas ändern, deswegen müssen wir uns anstrengen und dieses Gesetz auf den Weg bringen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Kassen­ärztlichen Vereinigungen haben den Auftrag übernommen, die medizinische Versorgung sicherzustellen. Ich bin dankbar, dass die ärztliche Selbstverwaltung das gemacht hat, weil ich finde, sie können das dreimal besser, als die Politik es könnte. Aber wir müssen dann auch Wert darauf legen, dass dieser Auftrag erfüllt wird, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen das auch wirklich machen. Das tun wir mit diesem Gesetz. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch zwei, drei Sätze zu dem sagen, was die AfD ausgeführt hat. 95 Prozent der AfD-Reden kann man immer in zwei Wörtern zusammenfassen: Ausländer raus. – Das wird dann durchexerziert an verschiedenen Beispielen, ({3}) mit denen man diese Kernbotschaft letzten Endes immer irgendwie untermauert. Hier hat man es an den ausländischen Ärzten festgemacht. Hier arbeiten 51 000 ausländische Ärzte. Das sind statistisch so viele Ärzte, wie in 500 Krankenhäusern arbeiten. Ich müsste 500 Krankenhäuser vollkommen schließen, wenn ich keine ausländischen Ärzte mehr hätte. Wir könnten 5 Millionen Patienten nicht mehr adäquat betreuen; die würden im Krankenhausbereich gar keine Behandlung bekommen. Sie würden also die medizinische Versorgung ernsthaft gefährden, wenn man so etwas machen würde. Ich finde, wir können froh sein, dass wir ausländische Ärzte haben. Sie haben kein lobendes Wort über die ausländischen Ärzte verloren. Sie haben nur so getan, als ob das alles Kurpfuscher sind und Leute, die die Zeugnisse fälschen. ({4}) Einmal zu sagen, dass wir sehr dankbar sind, dass wir 51 000 Ärzte aus dem Ausland haben, das möchte ich an dieser Stelle tun. ({5}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben heute über unsere Vorschläge gesprochen, wie wir die medizinische Versorgung verbessern können. Sie haben darüber gesprochen, wie Sie unser Gesundheitswesen gegen die Wand fahren würden. Ich finde, auf diese Vorschläge sollten wir uns nicht einlassen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/6337, 19/6436, 19/4887, 19/5909, 19/6130, 19/2689, 19/6419, 19/6423 und 19/6417 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Weihnachten und die Adventszeit sind für Kinder eine wunderbare Zeit. Das sehe ich an meinen beiden Kindern, 4 und 7 Jahre alt. Die freuen sich jeden Tag, wenn sie ein Türchen im Kalender aufmachen können, und die sagen einen im Advent immer beliebten Kinderreim auf – den kennen Sie auch –: „Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Erst eins, dann zwei …“ Am Schluss heißt es dann: „Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann hast du Weihnachten verpennt.“ Auf dem Adventskranz der Linken brennen inzwischen 55 Kerzen; denn der Antrag, den Sie einbringen, stammt vom 22. November 2017. Die Linke hat also nicht nur eine Woche, sondern über ein ganzes Jahr verpennt, was hier in diesem Hohen Haus beschlossen wurde. ({0}) In diesem Jahr haben wir zahlreiche Gesetze verabschiedet und auf den Weg gebracht, die Kinder und Familien konkret helfen. Das sollten Sie mal zur Kenntnis nehmen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({1}) Wir lehnen den Antrag aus mehreren Gründen ab. Erstens. Sie setzen den falschen Hebel an. Kindergeld und Freibetrag sollen das Existenzminimum steuerlich freistellen; das ist an Weihnachten nicht anders als zu anderen Zeiten. Zweitens. Ihr Vorschlag sieht eine Einmalzahlung in Höhe von 97 Euro vor. Dazu sagt selbst der Kinderschutzbund: Das ist kein großer Beitrag zur Bekämpfung der Kinderarmut. ({2}) Drittens. Die von uns beschlossenen und auf den Weg gebrachten Gesetze unterstützen und entlasten Kinder und Familien weitaus mehr, als das Ihr Antrag tut. ({3}) Zum Beispiel bringt das Familienentlastungsgesetz ab Mitte 2019 eine Entlastung von 10 Euro pro Monat. Das sind im Jahr dann nicht, wie bei Ihnen, 97 Euro, sondern 120 Euro mehr in der Tasche. ({4}) Im Starke-Familien-Gesetz, das wir auf den Weg bringen, werden wir gerade Familien in der Grundsicherung und mit kleinem Einkommen entlasten, zum Beispiel mit kostenlosem Mittagessen, kostenlosem Bus- und Bahnticket, und wir werden den Kinderzuschlag auf 185 Euro im Monat erhöhen. Wir wollen das vereinfachen. Das kommt dann bei denen in der Grundsicherung an. Auch da tun wir was – und mehr als das, was Sie tun, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({5}) Dazu kommen auch weitere Leistungen. Ich will nur das Baukindergeld und die Förderung des sozialen Wohnungsbaus zur Schaffung von mehr bezahlbarem Wohnraum für Familien erwähnen. Eines sei Ihnen auch noch gesagt: In den sozialen Arbeitsmarkt, um den wir lange gekämpft haben, werden wir bis 2021  4 Milliarden Euro investieren, um reguläre, ordentlich bezahlte Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose zu schaffen. Wir wissen, dass Arbeitslosigkeit ein Armutsrisiko für Kinder ist. Deshalb ist das ein wichtiger Beitrag, um etwas für Kinder, die in Armut leben, zu tun und sie da herauszuholen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch das ist sozialdemokratische Arbeitsmarktpolitik. ({6}) In Ihrem Antrag schreiben Sie übrigens ganz richtig: Nur „etwas mehr als die Hälfte aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten“ erhält Weihnachtsgeld. Um das mal zu aktualisieren: Die Hans-Böckler-Stiftung schreibt unter dem Titel „Froheres Fest dank Tarif“: Von den Beschäftigten mit Tarifvertrag erhalten 77  Prozent ein Extra zum Jahresende, ohne Tarifvertrag sind es lediglich 42 Prozent. Wir müssen dabei aber auch zwischen Männern und Frauen unterscheiden. 57 Prozent der Männer und 49 Prozent der Frauen bekommen Weihnachtsgeld. Das heißt für uns: a) Es lohnt es sich, sich gewerkschaftlich zu organisieren. b) Es zeigt sich, wie wichtig die Tarifbindung und die Stärkung der Tarifbindung sind. c) Es ist es auch unsere Aufgabe gerade bei öffentlichen Aufträgen, mit gutem Beispiel voranzugehen. ({7}) Deswegen muss es in allen Bundesländern ein Tariftreuegesetz geben, damit bei öffentlichen Aufträgen Tarifverträge eingehalten werden. Da sollten der Freistaat Sachsen und der Freistaat Bayern nachziehen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({8}) Die Linke verliert sich in ihrem Antrag wieder in ganz kleinem Karo. Sie haben einen Ansatz; wir machen viel mehr. Sie wollen immer nur auf Hartz IV hinaus und bohren dort immer wieder. Wir machen aber mehr. ({9}) Es wird in den nächsten Jahren darum gehen, den Sozialstaat der Zukunft zu entwickeln und das Sozialstaatsversprechen und übrigens auch das Versprechen von gutem Lohn für gute Arbeit zu erneuern und auszubauen. Mir gefällt das Bild von Norbert Walter-Borjans, den ich zitieren darf, ganz gut. Er sagte: Deutschland galt wirtschaftlich als der kranke Mann Europas. Er hatte quasi Grippe. Deshalb ist ihm ein Grippemittel verordnet worden. Es hat gewirkt. Aber ist das eine Begründung dafür, zwanzig Jahre später immer noch das gleiche Grippemittel in der gleichen Dosierung zu verabreichen wie damals? Stattdessen sollten wir unvoreingenommen auf die Risiken und Nebenwirkungen blicken. ({10}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, natürlich tun wir das. Die Nebenwirkungen bestehen darin, dass es immer mehr prekäre Beschäftigung gegeben hat. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch darüber diskutieren, wie wir Einkommens- und Vermögensungleichheit in Zukunft verringern und wie wir 2 Millionen Kinder, die in Bedarfsgemeinschaften leben, aus der Armut herausholen. Das tun wir übrigens, und es würde mich freuen, wenn Sie sich daran beteiligen. Unsere Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles hat deutlich gemacht, dass wir eine eigenständige Kindergrundsicherung brauchen, die Kinder aus der Sozialhilfe holt und Teilhabe schafft. Das sind die Zukunftsdebatten, die wir hier führen wollen. Wir wollen eine Stärkung der gesetzlichen Sicherungssysteme und mehr Verteilungsgerechtigkeit; denn starke Schultern können mehr tragen und sollten das auch tun. ({11}) – Nein, wir tun das. Wir tun das jetzt im Kleinen und diskutieren genau diese Frage im Großen. Sie sind herzlich eingeladen, sich daran zu beteiligen. ({12}) Das gilt auch für die Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Vor uns liegt die Reform der Grundsteuer. Dabei wird es genau diese Debatte auch geben. Die Grundsteuer sichert nämlich die finanzielle Ausstattung der Kommunen, also der Schulen und Kindergärten und damit den familiären Zusammenhalt. Wir werden dabei aber auch darauf achten müssen, dass die Grundstückseigentümer, die große Wertsteigerungen in den letzten Jahren und Jahrzehnten verzeichnen konnten, mehr zur Finanzierung von Schulen und Schwimmbädern oder Bibliotheken beitragen als weniger leistungsstarke Menschen. ({13}) Verteilungsgerechtigkeit ist eben komplexer als solch ein besinnlicher Adventsantrag. Ich lade Sie ein, diese Debatte mit uns zu führen. Aber Ihr Antrag ist in diesem Sinne nicht zielführend. Danke schön. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Albrecht Glaser für die AfD-Fraktion. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Gespenst geht um in Europa: der Populismus. ({0}) Er ist überall anzutreffen. Niemand weiß jedoch, wer er eigentlich ist. Zurzeit scheint er in Frankreich sein Unwesen zu treiben, und auch dort weiß man nicht so genau, wer oder was er ist. Auf alle Fälle ist er eine große Bedrohung, wird gesagt, so eine Art Waldsterben der politischen Kultur. In früherer Zeit verwendete man den Begriff des Demagogen und den des Populisten synonym. Utopische politische Forderungen, die breiten Bevölkerungsschichten gefallen, ja, sie in ihrem Wahlverhalten zugunsten der Populisten manipulieren sollten, wurden schon immer als „Wahlversprechen“ oder etwas deutlicher als „Wählertäuschung“ bezeichnet. Häufig ging es dabei um Versprechen von Geldleistungen für möglichst viele Wähler. Die Finanzierungslast solcher Versprechen blieb typischerweise im Dunkeln oder wurde einem anonymen Kollektiv zugeordnet: dem Staat, der Gesellschaft oder dem Großkapital. ({1}) Langfristige Statistiken zur nationalen Staatsverschuldung zeigen, dass fast immer nach Wahlen – etwa Bundestagswahlen – die Staatsverschuldung besonders rapide zunahm. Versprechenspolitik und Schuldenpolitik, meine Damen und Herren, oder eben diese Art von Populismus, standen und stehen stets in einem Ursachen- und Wirkungsverhältnis zueinander. Man könnte es auch so formulieren: Stimmenkauf durch Schuldenpolitik ist die schlimmste Form von Populismus. ({2}) Sie hat bekanntlich schon viele Staaten in den Abgrund gerissen, und Deutschland hat bekanntlich seit Jahren unverändert 2 Billionen Euro Staatsschulden. Erstaunlicherweise hat sich für dieses Phänomen, für diese Art von Politik, welche zuletzt 2008 die ganze Euro-Zone in eine Existenzkrise gestürzt hatte, zu keiner Zeit der Populismusbegriff durchgesetzt, obwohl diese Charakteristik offen zu Tage tritt. ({3}) Wir haben nun einen Antrag der Linken vorliegen, der zwar nicht vom Volumen des Versprechens, jedoch von seiner Art und seinem Zeitpunkt offensichtlich ein populistischer ist. Wie wir seit Monaten erleben, werden derlei Anträge von den Linkspopulisten gewohnheitsmäßig gestellt. So zu verfahren, liegt gewissermaßen in ihrer politisch linken Natur bzw. in der Natur linker Politik. ({4}) Kuba, Venezuela, Nicaragua und viele andere Fälle funktionieren nach dem immer gleichen Strickmuster. ({5}) Ein Weihnachtsgeld für alle Kinder oder fast alle – nicht natürlich für diejenigen, deren Eltern diesen Staat in hohem Maße finanzieren – wird gefordert. Es ist dabei zur Begründung von der „wichtigsten Familienfeier“ die Rede und von Weihnachten als „zentralem Bestandteil des religiösen Lebens“ für viele Menschen. Die Linke und das religiöse christliche Leben vieler Menschen in diesem Lande, das gehört irgendwie zusammen; wenn Sie mir diese ironische Bemerkung gestatten. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Ausgestaltung des Sozialstaates ist ein wichtiges Thema, aber die Verquickung angemessener Sozialpolitik mit Sankt Nikolaus und Weihnachten ist eher Blasphemie, in jedem Fall aber Linkspopulismus. ({7}) Es ist daher der Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu folgen und der Antrag der Linken abzulehnen. Herzlichen Dank und fröhliche Weihnachten! ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Johannes Steiniger das Wort. ({0})

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herzlichen Glückwunsch, Herr Glaser! Sie haben es tatsächlich gepackt, hier vier Minuten zu reden, ohne überhaupt auf das Thema einzugehen. ({0}) – Noch klatscht die Linke. – Ich komme jetzt zurück zur Sache und möchte gleich zu Beginn in aller Deutlichkeit sagen: Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, diesen Antrag hätten Sie heute eigentlich zurückziehen können; denn im Kern fordern Sie ungefähr 100 Euro mehr Kindergeld pro Kind. Wir haben aber schon vor Wochen mehr beschlossen: Es gibt ab kommendem Jahr 120 Euro mehr Kindergeld pro Kind. Ab 2021 erhöhen wir das Ganze auf 300 Euro. ({1}) Wir haben also viel mehr für die Familien und Kinder in Deutschland getan, als Sie hier vorschlagen. Ihr Antrag ist deshalb eigentlich erledigt, erledigt durch die gute Arbeit in unserer Regierungskoalition. ({2}) Dass Sie diesen Antrag nicht zurückziehen und uns stattdessen vielleicht sogar für unsere Politik loben, zeigt doch eines: Das Ganze ist ein reiner Schaufensterantrag. Pünktlich zur Adventszeit 2017, im vergangenen Jahr, wurde dieser Antrag eingebracht. Er hat dann hier im Parlament ein Jahr lang geschlummert. Pünktlich zur Adventszeit 2018 wird er wieder herausgekramt, ({3}) und wir diskutieren ihn heute hier im Plenum. Ihnen geht es also weniger um die Kinder in diesem Land, sondern eher um Ihre eigene Publicity. ({4}) Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, dann liest man darin relativ viel Weihnachtsprosa. Da geht es um Dekoration, da geht es um Festschmuck, Geschenke, Weihnachtstradition und vieles andere. Ich habe mich da, ehrlich gesagt, etwas gewundert. Die Kommunisten und Sozialisten sind ja nicht unbedingt dafür bekannt, dass sie christliche Feste besonders wertschätzen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({5}) Schauen wir uns den Antrag jetzt im Einzelnen an: Erstens. Wie lustlos dieser Antrag geschrieben ist, sieht man ja allein daran, dass Sie sich nicht mal die Mühe gemacht haben, kurz auszurechnen, was der ganze Spaß kostet. ({6}) Die Linke fordert – ich habe es gerade eben schon erwähnt – im Monat Dezember eine einmalige Leistung von rund 100 Euro für diejenigen – und nur für diejenigen –, die Kindergeld beziehen. Was das kosten soll: keine Angabe. Typisch Linkspartei! Im Antrag fehlen komplett die Kosten. Wie soll sich die Bevölkerung, wie sollen sich die Herrschaften auf der Tribüne denn eine Meinung bilden, wenn Sie hier gar keine haushalterische Hausnummer haben? Meine sehr geehrten Damen und Herren, etwas zu beantragen, ohne es einmal vorher durchzurechnen, ist schwach und einfach unseriös. ({7}) Aber wir sind ja Serviceregierungskoalition und haben deshalb Pi mal Daumen ausgerechnet, dass das Ganze 1,7 Milliarden Euro kosten würde. Gegenfinanzierung in Ihrem Antrag: Fehlanzeige! Nirgends auch nur ein Wort dazu, wo das Geld herkommen soll. Dieser Antrag verstrickt Sie zweitens in Widersprüche. Sie wollen uns diese 100 Euro hier als großen Wurf verkaufen. Auf der anderen Seite haben Sie, als wir vor einigen Wochen über die Frage der Kindergelderhöhung in zwei Schritten diskutiert haben – erst um 120 Euro pro Jahr, ab 2021 dann um 300 Euro pro Jahr –, nicht mitgestimmt. Das muss ja mal einer kapieren, dass Sie hier etwas fordern und dann, wenn wir es einbringen, nicht mitstimmen. Ist ja klar: Kommt von der Regierung; dann kann man als Opposition nicht zustimmen. – Also: Widersprüche. Drittens ist dieser Antrag auch steuersystematisch ein Widerspruch in sich; denn wir haben ja seit vielen Jahren ein bewährtes Verfahren. Wir prüfen zunächst, wie viel eine Familie für die Finanzierung eines Kindes jährlich mindestens braucht. Das stellen wir dann über den Kinderfreibetrag steuerfrei. Das nennt sich Freistellung des Existenzminimums. Dazu passen wir seit vielen Jahren das Kindergeld für diejenigen entsprechend an, die von der Steuerfreiheit nicht profitieren. Das nennt sich soziale Gerechtigkeit. Beides haben wir gerade erst wieder gemacht, und das sollten Sie eigentlich mitbekommen haben. Warum soll das im Übrigen zu Weihnachten anders sein? Das Existenzminimum ist über das Jahr hinweg genau gleich, auch in der Adventszeit. Natürlich ist es an Weihnachten ein bisschen anders: Es gibt ein bisschen anderes Essen, eine andere Stimmung, vielleicht auch ein bisschen anderes Wetter. Sicher ist es aber nicht anders, was die Logik des Steuerrechts angeht. Auch wir wollen natürlich alle Familien fördern, und das auch zu Weihnachten. Deswegen passt uns an Ihrem Antrag auch nicht dieser einseitige Fokus nur auf diejenigen, die Kindergeld beziehen. Es passt uns nicht, dass Sie diejenigen, die vom Kinderfreibetrag profitieren, hier überhaupt nicht adressieren. Wir als Koalition machen lieber echte Entlastungspolitik. Ich habe das Familienentlastungsgesetz genannt. 10 Milliarden Euro, die wir im nächsten Jahr an zusätzlicher Entlastung hier auf den Weg bringen, helfen den Familien in Deutschland wirklich mehr als ein Kinderweihnachtsgeld von 100 Euro. ({8}) Mir ist aber auch wichtig, dass wir noch ein anderes Thema ansprechen. Denn statt über das Verteilen von Weihnachtsgeschenken sollten wir lieber darüber sprechen, wie wir Kinderarmut effektiv bekämpfen können. ({9}) Dass Ihr Vorschlag im Übrigen hier keine Abhilfe bringt, liegt auf der Hand. Das sagt sogar der Deutsche Kinderschutzbund, der darauf hinweist, dass Ihr Vorschlag überhaupt keinen Beitrag leistet, um Kinderarmut in Deutschland nachhaltig zu bekämpfen. An dieser Stelle kann ich dem Deutschen Kinderschutzbund nur zustimmen. ({10}) Ja, wir haben in Deutschland Kinder in schwierigen sozialen Lagen. Um sie müssen wir uns kümmern. Wir müssen den Kindern in Deutschland deshalb Chancen bieten. Ein Kinderweihnachtsgeld bringt da aus meiner Sicht nichts. Der Schlüssel ist vielmehr: Bildung, Bildung, Bildung. Bildung ist Länderaufgabe. Aber wir nehmen uns als Bund hier nicht aus der Verantwortung, Stichwort „DigitalPakt“. Daher an dieser Stelle noch mal der Appell an die Länder – den können Sie dann gerne auch mitnehmen –: Die Länder dürfen den DigitalPakt im Bundesrat nicht weiter blockieren, sondern das Geld muss jetzt schnell in die Schulen. ({11}) Im Koalitionsvertrag steht der einfache, aber klare Satz: „Wir bekämpfen Kinderarmut“. Es wurde schon erwähnt: Wir werden hier demnächst das Familienstärkungsgesetz auf den Weg bringen und im Schulstarterpaket die Unterstützung für Ranzen, Federmappen, Stifte, Hefte, Lern-Apps und anderes von 100 Euro auf 150 Euro erhöhen. Wir werden zusätzlich die vollen Kosten für die Fahrkarten zur Schülerbeförderung übernehmen. Wir wollen das Mittagessen in Schulen und Kitas kostenlos machen. Am Ende des Tages profitieren bis zu 1 Million Kinder davon, und das ist, glaube ich, richtig, um in Deutschland Kindern und Jugendlichen Chancen zu geben. ({12}) Wir werden darüber hinaus auch am Kinderzuschlag arbeiten. Der ist ja geschaffen worden für diejenigen, die ein geringes Einkommen haben. Mit dem neuen Gesetz wollen und werden wir dafür sorgen, dass wir mit dem Zuschlag 500 000 Kinder mehr erreichen als bisher. Mehr Kindergeld, Erhöhung des Kinderfreibetrages, Familienentlastungsgesetz, das haben wir bereits beschlossen. Mehr Unterstützung für den Schulstart, Erweiterung des Kinderzuschlags im Familienstärkungsgesetz, das werden wir bald beschließen. Das hilft allen Kindern und Familien in Deutschland, und deswegen lehnen wir diesen Antrag ab. Er hilft uns hier nicht weiter. Ich wünsche Ihnen allen noch eine schöne Restadventszeit und dann ein frohes Weihnachtsfest. ({13})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank dafür. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Markus Herbrand. ({0})

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass ausgerechnet die Linkspartei, ({0}) dass ausgerechnet Die Linke hier einen Antrag einbringt, der einen so religiösen Bezug hat, ist schon echt verwunderlich. ({1}) Die religiöse Tradition Ihrer Partei, der Linken, ist uns jedenfalls neu. Der Antrag instrumentalisiert das vor uns stehende Weihnachtsfest für parteipolitische Spielchen; denn im Grunde genommen wollen Sie nur eins: Sie wollen, dass morgen in der Zeitung steht, dass Sie die Guten sind und wir die Bösen. ({2}) Warum beantragen Sie eigentlich nicht zur Bekämpfung der Altersarmut auch noch ein Weihnachtsgeld für die Rentner? Das wäre auch noch eine Möglichkeit. ({3}) Aber ich möchte Sie gar nicht auf so schlechte Ideen bringen. Der Antrag der Linken hat mit christlichen Werten nichts zu tun, dafür umso mehr mit Populismus; denn er nähert sich einem ohne Zweifel bestehenden Problem nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit. Tatsache ist: Obwohl wir schon sehr viel Geld und Mittel in die Bekämpfung der Kinderarmut stecken, sind mehr als 2 Millionen Kinder immer noch von Armut betroffen. Das ist ein Befund, der uns alle hier wirklich nicht zufriedenstellen kann. Wollen Sie allen Ernstes dieses Problem mit einer Einmalzahlung lösen? ({4}) Nein, so löst man wirklich keine Probleme. ({5}) Ihr Vorschlag verteilt einmalig Geld mit der Gießkanne, bietet aber, ehrlich gesagt, überhaupt kein Angebot, die Kinderarmut gezielt zu reduzieren. ({6}) Es ist, wenn überhaupt, nur ein unbeholfener, wenig nachhaltiger Versuch, ausgewählten Familien zu helfen. ({7}) Natürlich muss gerade bei der Förderung von Familien etwas passieren; da sind wir uns einig. Die FDP-Fraktion hat deshalb nicht nur Anträge im Rahmen des Familien­entlastungsgesetzes eingebracht, denen Sie ja auch zum Teil zugestimmt haben, sondern mit dem Elterngeld Plus und dem Kinderchancengeld auch Konzepte entwickelt, um das Problem strukturell und nachhaltig anzugehen. Da werden Sie noch die Gelegenheit haben, zuzustimmen. ({8}) Unser Ziel muss es ja sein, dass Kinder in Deutschland mindestens eine warme Mahlzeit am Tag bekommen und die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe erhalten. Das kann aber nicht alles sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Unser Fokus, der der Freien Demokraten, lag schon immer auf einer Förderung der Chancengerechtigkeit. Richtig und zielführend ist, jedem die gleichen Chancen einzuräumen. Der Schlüssel dazu – da bin ich bei dem Kollegen Steiniger – ist Bildung. Deshalb müssen wir jedem Kind beste Kitas, beste Schulen, beste Universitäten, beste Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen. ({9}) Liebe Kollegen, Ihr Vorhaben würde übrigens dieses Jahr – da bin ich auf die gleiche Zahl wie Herr Steiniger gekommen – 1,7 Milliarden Euro kosten. Die Antwort darauf, wie Sie das finanzieren wollen, bleiben Sie uns mal wieder schuldig. ({10}) Das passt auch zu Ihren abenteuerlichen Forderungen während der Haushaltsberatungen. Da haben Sie mehr als 30 Milliarden Euro Mehrausgaben gefordert, ohne die Finanzierung darzustellen. Im Zweifel heißt es bei Ihnen immer: Steuern erhöhen. ({11}) Was anderes fällt Ihnen da nicht ein. ({12}) Eines sollte dem Antragsteller meines Erachtens auch noch zu denken geben. Ist es nicht verantwortungslos, möglicherweise auch demokratieschädlich, wenn Sie trotz besserem Wissen mit Hoffnungen von Menschen spielen, die Sie erkennbar nicht erfüllen werden können? So befeuern Sie die Politikverdrossenheit und nutzen möglicherweise genau denjenigen – das behaupte ich jedenfalls –, denen Sie gar nicht nutzen wollen. ({13}) Zusammenfassend: Ihr Antrag ist wenig glaubwürdig begründet. Probleme werden damit überhaupt nicht behoben, sie werden noch nicht mal angegangen, und er ist finanziell nicht durchdacht und unseriös. ({14}) Es handelt sich um einen schlechten Schaufensterantrag. Herzlichen Dank. ({15})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als Nächstes spricht für die Fraktion Die Linke die Abgeordnete Katja Kipping. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viele von uns freuen sich schon auf die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage. Ich auch; denn die Erinnerungen an Weihnachten in Familie in Dresden gehören für mich zu den schönsten Kindheitserinnerungen. ({0}) Doch bei all dieser Vorfreude sollten wir eins nicht vergessen. Für viele Eltern stellen sich angesichts des bevorstehenden Festes viele sorgenvolle Fragen: Wie beschere ich meinem Kind ein schönes sorgenfreies Fest, obwohl das Geld schon so vorne und hinten nicht reicht? Wie verhindere ich, dass der Mangel, der bei uns beständiger Gast ist, wenigstens in dieser Zeit nicht so sichtbar ist? Ja, viele Menschen in diesem Land haben Probleme, mit ihrem Einkommen bis zum Monatsende über die Runden zu kommen. „Monatsende“ bedeutet für diese Menschen vor allem eins: dass man jeden Cent dreimal umdrehen muss. Das Monatsende bedeutet für diese Menschen, dass die Kinder besonders häufig Geburtstagsfeiern ihrer Schulfreunde absagen müssen, weil das Geld nicht mehr für ein Geschenk reicht und die Scham verhindert, dass man offen damit umgeht. Das, was für das Monatsende gilt, schlägt mit voller Härte am Jahresende zu. Das kann uns nicht kaltlassen. ({1}) Um wenigstens Familien mit Kindern zu helfen, schlagen wir ein Kinderweihnachtsgeld vor – für ein sorgenfreies Fest für alle. Dieses Kinderweihnachtsgeld soll einem halben Kindergeld entsprechen. Wir reden also von rund 100 Euro pro Kind – und das ohne Anrechnung auf Sozialleistungen. Das ist der große Unterschied zur Kindergelderhöhung. ({2}) Unser Ansatz ist dabei inklusiv; denn es soll verschiedenen Kindern zustehen: sowohl Kindern, die in Sozialleistungsbezug sind, ({3}) als auch Kindern von Geflüchteten und Asylbewerbern und Asylbewerberinnen, auch wenn Weihnachten für sie ein neuer Brauch ist, sowie Kindern von Eltern mit mittlerem Einkommen, Herr Schrodi. Wir wollen nicht die Gruppen gegeneinander ausspielen. Lediglich die reichsten 25 Prozent wären draußen, die zusätzlich zum Kindergeld noch vom Steuerfreibetrag profitieren; denn sie profitieren schon besonders. Nach unseren Berechnungen würden 13 Millionen Kinder und Jugendliche in den Genuss eines solchen Kinderweihnachtsgeldes kommen. Ich finde, das sollten wir in Angriff nehmen. ({4}) Nun haben einige von Ihnen – wie überraschend und wie unoriginell! – unseren Antrag als Populismus gebrandmarkt. ({5}) Aber einst gab es für Menschen mit Sozialhilfebezug eine Weihnachtsbeihilfe. Anerkannte Institutionen wie der Deutsche Verein haben Empfehlungen für die Höhe dieser Weihnachtsbeihilfe gegeben. Mit der Einführung von Hartz IV wurde diese Weihnachtsbeihilfe eingestellt, außer für junge Menschen in stationären Einrichtungen, und das, obwohl nicht klar ist, dass bei der Berechnung des Hartz-IV-Regelsatzes die Weihnachtsbeihilfe abgedeckt wird. Also, es ist unter Fachleuten sehr wohl umstritten, ob die Einstellung der Weihnachtsbeihilfe überhaupt rechtens ist. Ich meine, die Unterschlagung der Weihnachtsbeihilfe für die Ärmsten ist vor allem eins: Leistungsraub. Diese Bundesregierung enthält den Ärmsten das vor, was ihnen zusteht, und das zur Weihnachtszeit. ({6}) Sicherlich, eine besinnliche Weihnachtszeit ist nicht nur eine Frage des Geldes. Aber wenn hier irgendjemand von Ihnen behauptet, es käme überhaupt nicht auf das Geld an, kann ich nur sagen: Versuchen Sie doch mal, mit einem Kind über den Weihnachtsmarkt zu gehen, wenn es von allen Seiten lecker duftet, ohne auch nur einen Euro ausgeben zu können! ({7}) Das ist für Sie vielleicht ein theoretisches Experiment; für Menschen in Hartz IV ist das bittere Realität; denn alle bisherigen Bundesregierungen haben Dinge, die zur Weihnachtszeit einfach dazugehören, aus dem Hartz-IV-Regelsatz herausgestrichen. Um das zu verdeutlichen, habe ich Ihnen was mitgebracht. ({8}) Man sieht, welche Dinge, die zu Weihnachten gehören, aus dem Hartz-IV-Regelsatz gestrichen wurden. ({9}) Haustiere sind nicht regelsatzrelevant nach dem Willen aller bisherigen Sozialminister und Sozialministerinnen. Wer also Katzenfutter kaufen möchte, muss sich das vom Munde absparen. Ein Weihnachtsbaum gilt genauso wie Blumen für Menschen in Hartz-IV-Bezug als nicht regelsatzrelevant. ({10}) Wir wissen, dass sich Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, oft ein Geschenk nicht leisten können. ({11}) Ja, auch der kandierte Weihnachtsapfel – –

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Kipping, hören Sie mir bitte zu.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Wir haben in unserer Geschäftsordnung nicht vorgesehen, dass demonstrative Bekundungen über Plakate oder Ähnliches hier im Plenum vorgenommen werden. ({0}) Zur Unterstützung Ihrer Argumentation können Sie durchaus eine Grafik hochhalten, aber Sie können hier nicht über Minuten hinweg als Plakatfrau stehen. Das ist nicht der Geist unserer Geschäftsordnung, nach dem wir über das gesprochene Wort die inhaltliche und geistige Auseinandersetzung suchen. Deshalb bitte ich Sie, das Plakat nicht weiter hochzuhalten. ({1}) Sie können fortfahren.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident, ich glaube, es war wichtig, hier mal zu verdeutlichen, was alles gestrichen wurde. ({0}) Ich sage noch mal: Auch ein kandierter Weihnachtsapfel gilt als Verpflegung außer Haus und ist von allen bisherigen Sozialministern und Sozialministerinnen für Menschen im Hartz-IV-Bezug gestrichen worden. Das, finde ich, musste hier angedeutet werden. ({1}) Die Linke beantragt heute eine ganz konkrete Hilfe für Menschen, für Familien mit geringen bis mittleren Einkommen in der Weihnachtszeit. Aber ja, darüber hinaus brauchen wir grundlegende Veränderungen. Ich bin froh, dass Bewegung in die Debatte über grundlegende Alternativen zu Hartz IV gekommen ist. Liebe SPD, liebe Grüne, wenn euch das wirklich ernst ist, was es an interessanten Vorschlägen gibt – die sind mir oft nicht weitgehend genug, aber sie sind diskussionswürdig –, dann muss doch auch eins klar sein: An der Seite der Union wird man von diesen Vorschlägen nichts, aber auch gar nichts umsetzen können. ({2}) Das heißt, wenn das ernst gemeint ist, müssen wir jetzt gemeinsam den Kampf aufnehmen um andere Mehrheiten in der Gesellschaft, um fortschrittliche Mehrheiten. Wir müssen hinarbeiten auf einen grundlegenden Politik- und Regierungswechsel, und zwar nicht um unseretwillen, sondern für die vielen Menschen, die Monat für Monat darum kämpfen, über die Runden zu kommen; denn diese Menschen verdienen mehr: mehr, als ihnen diese Regierung bereit ist zuzugestehen. Vielen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kinderweihnachtsgeld, das klingt erst einmal super. Das klingt nach einem Staat, der ein Herz für Kinder hat. Man stelle sich Olaf Scholz vor, verkleidet als Weihnachtsmann, wie er durch das Land zieht, zu den Familien, anklopft und sagt: Hohoho, ich bringe hier das Kinderweihnachtsgeld! ({0}) Ein solches Bild der Regierung, die Geschenke verteilt, müsste doch eigentlich die SPD in schwierigen Zeiten freuen. Aber das ist das völlig falsche Bild; denn das Kindergeld ist kein Geschenk. ({1}) Das Kindergeld ist nicht mal eine Sozialleistung. Wenn man im Bundeshaushalt bei den sozialen Leistungen guckt, dann stellt man fest, dass das Kindergeld dort nicht auftaucht. ({2}) Das Kindergeld ist im Einkommensteuergesetz geregelt. Es ist ein Freibetrag, der an diejenigen ausgezahlt wird, die vom Kinderfreibetrag nicht ausreichend profitieren. Das bekommen alle, bedingungslos. Es wird an alle ausgezahlt, egal ob mit geringem oder hohem Einkommen, in gleicher Höhe. Das macht das Kindergeld aus. Es ist kein Geschenk, keine Wohltat, sondern es ist ein Anrecht, das alle Kinder in diesem Land haben. ({3}) Insofern ist der Antrag völlig schräg, aber er weist auf Probleme hin, und er passt in der Tat gut zur Weihnachtszeit. Schauen wir uns die Berechnung des Regelsatzes an. Vorhin gab es den Zwischenruf aus der CDU/CSU: Das stimmt alles gar nicht, was die Katja Kipping da erzählt! – Doch, es stimmt, was nicht drin ist im Regelsatz: Es sind keine Malstifte drin, mit denen Kinder als Weihnachtsgeschenk ein Bild für ihre Eltern malen können; ({4}) es ist nicht drin, dass, wenn man auf den Weihnachtsmarkt geht, die Kinder auch mal gebrannte Mandeln bekommen. ({5}) Das ist nicht im Regelsatz drin. Auch der Weihnachtsbaum – das sollte gerade der CDU, der Christlich Demokratischen Union, viel wert sein – ist nicht im Regelsatz drin; den müssen sich die Leute tatsächlich vom Mund absparen – und sie tun das auch; dazu gibt es genügend Studien. Das wäre eigentlich was gewesen, was in diesem Antrag hätte stehen müssen: die Anhebung und Neuberechnung des Kinderregelsatzes, ({6}) damit sich Kinder wirklich ein vernünftiges Leben leisten können. Das steht leider nicht drin. Und es verweist darauf, dass wir in unseren Familien/Kinder-Leistungen insgesamt ein hohes Maß an Ungerechtigkeit haben, ein hohes Maß an Wirrwarr und Nichtsystematik. Das mit dem Kindergeld ist ja prima; das ist die Basis, bekommen alle. Und dann ist es so, dass alle Menschen, die ein hohes Einkommen haben, wie wir als Bundestagsabgeordnete, mit den Kinderfreibeträgen oben noch was draufbekommen. Wie schön ist das denn!? ({7}) Das müssen wir nicht mal beantragen: Wenn wir eine Einkommensteuererklärung machen, prüft das Finanzamt, ob wir einen Anspruch haben, der höher ist als das Kindergeld, und dann bekommen wir das automatisch ausgezahlt. Wenn man ein geringes Einkommen hat, dann muss man das alles beantragen. Die mit ganz geringem Einkommen bekommen das sogenannte Sozialgeld – wenn die Eltern Hartz-IV-Empfänger sind –; das muss man beantragen. Die Bildungs- und Teilhabeleistungen muss man beantragen. Das machen ganz viele nicht. Und für die, die ein bisschen mehr als Hartz IV haben, gibt es eine Leistung, die heißt „Kinderzuschlag“ – eine völlig komplizierte Geschichte, völlig bürokratisch; nimmt auch nur ein Drittel der Eltern, die einen Anspruch darauf haben, an. Daran ändert auch Ihr Starke-Familien-Gesetz – so heißt es, glaube ich –, das Sie im nächsten Jahr einbringen wollen, überhaupt nichts; es wird eher noch komplizierter als einfacher. ({8}) Die Familienkasse bietet jetzt sogar eine Videoberatung an: Man kann sich per Skype mit der Familienkasse verbinden, um sich bezüglich des Kinderzuschlags beraten zu lassen. Das zeigt, wie irrsinnig diese Sozialleistung ist. Es sollte mindestens mal so sein wie bei uns mit dem hohen Einkommen, dass das vom Finanzamt, wenn man eine Einkommensteuererklärung macht, geprüft und automatisch ausgezahlt wird. Automatische Auszahlung des Kinderzuschlags, das wäre ein Mindestschritt, den man gehen müsste. ({9}) Aber es ist ja so: Die Ungerechtigkeit, dass wir mehr bekommen als Menschen mit mittlerem Einkommen, die muss beseitigt werden; zumindest wir Grüne finden das völlig ungerecht. Deswegen schlagen wir vor, dass die Kinderfreibeträge in einen Auszahlbetrag umgewandelt werden, im Prinzip so ähnlich wie das Kindergeld, aber in einer Höhe, dass Menschen mit hohem Einkommen und Menschen mit mittlerem Einkommen das Gleiche bekommen; dass der Betrag ausgezahlt wird an alle – an die Reichen, an die mit mittlerem Einkommen und auch an die mit geringerem Einkommen –; denn jedes Kind sollte dem Staat gleich viel wert sein. ({10}) Zusätzlich sollte es einen Aufschlag für Menschen mit geringem Einkommen geben, der automatisch ausgezahlt wird. Das gehört zur Kindergrundsicherung dazu, wie wir Grüne das vorschlagen, diese Basis in Höhe des Regelbedarfes an alle, damit der tatsächlich für alle gedeckt ist, für alle gleich, und dann das Existenzminimum, einkommensabhängig, für Menschen mit geringem Einkommen zusätzlich. Das wäre ein gutes Konzept: eine richtige Kindergrundsicherung für alle, die vor Armut schützt, die konsistent ist, und die tatsächlich Gerechtigkeit herstellt. ({11}) Das, was Die Linke vorschlägt, ist so was wie eine Kindergrundsicherung für einen Monat. Weil das so schräg ist, können wir dem nicht zustimmen. Aber weil es immerhin eine Kindergrundsicherung für einen Monat ist, werden wir auch nicht dagegenstimmen, sondern uns enthalten. Vielen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht Ingrid Arndt-­Brauer für die Fraktion der SPD. ({0})

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! ({0}) – Von mir aus: Auch die seien gegrüßt von mir! Der Antrag, der uns hier vorliegt – Einführung eines Kinderweihnachtsgelds – kommt sehr sensibel daher, ist aber wirklich populistisch, und er ist wirklich schlecht gemacht: Sie haben es noch nicht mal geschafft, das Kindergeld von im Moment 194 Euro pro Monat – für das erste und zweite Kind – richtig durch zwei zu teilen. Sie kommen in Ihrem Antrag auf 96 Euro. Es kostet aber 97 Euro. Wahrscheinlich ist dadurch auch die Differenz entstanden zwischen Ihren 1,3 Milliarden Euro, die das angeblich kostet, und den 1,7 Milliarden Euro, die wir ausgerechnet haben. ({1}) Also, ich finde, diesen Antrag haben Sie sehr schnell dahingehuscht. ({2}) Was mich auch stört: Es ist natürlich schön, wenn man kurz vor Weihnachten – es passt zur Stimmung – mit so einem Antrag kommt. Aber was ist denn die Erwartung, die Sie den Menschen vermitteln? Die Erwartung ist: Wir debattieren heute, verabschieden das, morgen steht es im Gesetzblatt, und übermorgen wird es ausgezahlt. – Oder was wollen Sie den Leuten suggerieren, wie wir hier mit solchen Anträgen umgehen können? Also, ich finde das schon populistisch. Deswegen lehne ich das auch ab für meine Fraktion. ({3}) – Nein, nicht nur deswegen. Ich finde es auch nicht in Ordnung, dass Sie hier diesen religiösen Gedanken herausstellen. Den hat Weihnachten. Aber wenn man diesen Gedanken herausstellt, erkennt man: Das hat nichts mit Konsum zu tun. ({4}) Sie unterstellen den Leuten, dass sie nichts Besseres zu tun haben, als Bratäpfel zu kaufen und Geschenkkartons zu transportieren. Ich finde, wenn Ihnen der religiöse Gedanke wichtig ist, dann gehen Sie bitte auch auf den Grund des Weihnachtsfestes zurück! ({5}) Ansonsten: Was mich wirklich stört, ist, dass Sie sich in Ihrem Antrag überhaupt nicht an die Systematik halten, die wir hier haben. Es ist von meinen Vorrednern schon gesagt worden: Wir haben hier eine Systematik: Kinderfreibetrag; Freistellung des Existenzminimums; die Leute, die nicht freibetragsberechtigt sind, bekommen Kindergeld. Wenn Sie eine Leistung für Kinder zusätzlich haben wollen, dann nennen Sie die anders, und betiteln Sie die anders, und bitte bringen Sie sie auch anders ein! Frau Kipping hat vorhin davon geredet, dass es früher eine Weihnachtsbeihilfe gegeben hätte, bei der Sozialhilfe. Darf ich an diese tolle Sozialhilfe erinnern: Da gab es einen Rückgriff bei Bedürftigkeit: wenn die Eltern genug Geld hatten, den Rückgriff bei den Kindern, und auch andersherum den Rückgriff bei den Eltern. Von daher: Bitte nicht wieder zurück zur Sozialhilfe! ({6}) Wenn Sie bei der Weihnachtsbeihilfe für Kinder bleiben wollen, dann frage ich mich ernsthaft: Warum nicht auch für Rentner, ({7}) warum nicht auch für andere Menschen, die Ihnen vielleicht gerade so einfallen? Dann fordern Sie sie doch generell, Weihnachtsbeihilfe für alle, damit wir alle ein konsumorientiertes Weihnachtsfest feiern können. – Ich meine, das ist nicht im Sinne der Sache. Gehen wir mal zurück zu dem, was uns wirklich wichtig ist. Uns ist wichtig, dass die Kinder, die mehr Unterstützung brauchen, auch mehr Unterstützung bekommen. ({8}) Dafür machen wir eine ganze Menge: Wir haben das Familienentlastungsgesetz gemacht. Sie wissen ganz genau, wir haben das Kindergeld erhöht – wir haben natürlich auch die Freibeträge erhöht –, wir haben es wirklich massiv erhöht. Solange ich hier bin, haben wir es noch nie um so viel erhöht, wie wir es nächstes Jahr erhöhen werden. ({9}) Und wir werden mit dem Starke-Familien-Gesetz gerade Familien, die Sie vielleicht im Fokus hatten mit Ihrem populistischen Antrag, mehr stärken. Wir werden den Kinderzuschlag vereinfachen, und wir werden ihn erhöhen. Wir werden Menschen natürlich nicht das Geld hinterhertragen können – natürlich werden sie es weiterhin beantragen müssen –; aber es wird einfacher werden für die Menschen, und sie werden auch eher darauf hingewiesen werden, dass es ihnen zusteht. Wir werden auch beim Bildungs- und Teilhabepaket mehr machen. „Teilhabe“ bedeutet nicht nur, einen Christbaum aufstellen zu können, sondern tägliche Teilhabe an dem, was über das ganze Jahr auf die Kinder einprasselt und für die Kinder gemacht werden muss. ({10}) – Ich finde, das ist ein Argument. Es ist das ganze Jahr über nötig, dass wir was für Kinder tun, und das tun wir auch. Wir machen hier massiv Politik für Familien und stärken gerade Familien im unteren Einkommenssegment. ({11}) Wir erhöhen sogar die Regelsätze, nicht nur bei Hartz IV für Erwachsene, sondern auch für Kinder. Das könnten Sie auch erwähnen; dann hätten Sie mit Ihrem Antrag auch ein bisschen tiefer steigen können. Also wir machen eine ganze Menge. Ich denke, das ist immer noch ausbaufähig – keine Frage –; aber nicht mit so einer populistischen Maßnahme anderthalb Wochen vor Weihnachten, um den Leuten zu suggerieren: Wir können mal eben hier 1,7 Milliarden Euro übers Volk schütten. Das ist nicht ehrenwert, und ich denke, das sollte man auch nicht tun. Trotzdem wünsche ich allen schöne Weihnachten. Vielen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Martin Sichert für die AfD. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Manche Eltern denken sicher: Kinderweihnachtsgeld klingt gut, das hätte ich auch gerne. – Was aber wie eine schöne Geste des Staates aussieht, ist nichts anderes als die Umverteilung von arbeitender Bevölkerung an jene, die nicht arbeiten. ({0}) Das Kindergeld soll für alle gelten, ja, aber es gibt nichts umsonst. Jeder Cent, den der Staat ausgibt, der muss von irgendjemandem in diesem Land erarbeitet werden. ({1}) Und selbst wenn man es über Schulden finanziert, dann müssen diese Schulden von der arbeitenden Bevölkerung irgendwann beglichen werden. Es sind vor allem die 4 Millionen Selbstständigen und die 22 Millionen sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten in diesem Land, die die finanzielle Last in diesem Staat tragen; 26 Millionen Menschen sind das. 1,7 Milliarden Euro würde das Kinderweihnachtsgeld pro Jahr kosten. 1,7 Milliarden Euro geteilt durch 26 Millionen ergibt für jeden Leistungsträger in diesem Land im Schnitt 66 Euro an Belastung. Das heißt, eine deutsche Familie mit einem Kind, dessen Eltern Vollzeit arbeiten, bekommt gegebenenfalls 97 Euro extra, wird zugleich aber mit 132 Euro belastet. Es ist für sie also kein Weihnachtsgeschenk, sondern Ihr Antrag kommt die fleißige Familie teuer zu stehen. ({2}) Und Eltern, die den Kinderfreibetrag nutzen, die bekommen gleich gar nichts, die zahlen bei dieser Umverteilung nur drauf. Auf der anderen Seite: Eine frisch eingereiste Asylbewerberfamilie mit 23 Kindern, vier Müttern und einem Vater, ({3}) die bekommt 2 413,50 Euro extra durch Sie. Diese Perversion muss man sich einfach einmal vor Augen führen: Die Eltern, die arbeiten, um ihrem Kind etwas zu ermöglichen, müssen den Gürtel enger schnallen, und das Weihnachtsgeschenk fällt für dieses Kind gegebenenfalls geringer aus, damit eine frisch zugewanderte Familie von Muslimen, die nicht einmal Weihnachten feiern, mehrere Tausend Euro zusätzlich bekommt. Das ist keine soziale, sondern eine asoziale Politik. ({4}) Ihnen von der Linken geht es nicht um das Kindeswohl, Ihnen geht es darum, möglichst viele Menschen in diesem Land vom Staat abhängig zu machen. Immer mehr Geld soll den Menschen aus den Taschen gezogen und umverteilt werden. Bilden Sie sich nicht ein, dass Sie gute Menschen sind! Denn gute Menschen helfen mit ihrem eigenen Vermögen, mit ihrem eigenen Geld, Sie aber geben ständig nur Geld aus, das Ihnen weder gehört noch das Sie erarbeitet haben. ({5}) Anstatt dass Sie sich bei den Menschen bedanken, dass ihre Arbeit Ihre Wahlgeschenke überhaupt erst ermöglicht, bekommen die Leistungsträger unserer Gesellschaft nur eine Watsche nach der anderen. ({6}) Die Leistungsträger unserer Gesellschaft, das sind nicht die Menschen auf der linken Seite hier in diesem Parlament, die Leistungsträger unserer Gesellschaft sind jene, die mit ihrer Hände Arbeit Wohlstand schaffen: ({7}) Der Arbeiter, der seine Familie nur am Wochenende sieht und unter der Woche müde ins Bett fällt, weil er jeden Tag stundenlang hart körperlich arbeitet. ({8}) Der Polizist, die Hebamme, die Kindergärtnerin, die in der Freizeit, die eigentlich der Erholung dienen sollte, einen Zweit- oder gar Drittjob brauchen, weil sie sich sonst ihr Leben gar nicht leisten könnten. Wer bilden Sie sich eigentlich ein zu sein, diesen Menschen immer mehr Geld wegzunehmen und damit staatliche Almosen zu finanzieren, die es gar nicht bräuchte, wenn Sie den Mitbürgern nicht ständig tiefer in die Taschen greifen würden? ({9}) Um es auf den Punkt zu bringen: Was hier im Bundestag betrieben wird, insbesondere auf der linken Seite, ist die moderne Form der Sklaverei. Die letzten 100 Jahre haben jeden bei Verstand eines gelehrt: Sozialismus ist keine Lösung, Sozialismus ist eine Katastrophe. Sozialismus bedeutet nicht Reichtum, sondern Armut für alle. Ich bin sehr froh, dass die normalen Arbeitnehmer in diesem Land wieder eine Stimme haben, eine Stimme der Freiheit, die sie vor der Ausbeutung und der Versklavung durch den Staat schützt. ({10}) Liebe Mitbürger in diesem Land, ich wünsche Ihnen allen frohe Weihnachten! Und ich verspreche Ihnen: Wir werden auch im nächsten Jahr den feuchten sozialistischen Träumen sowohl der Linkspartei als auch der anderen Altparteien Einhalt gebieten. Freiheit statt Sozialismus braucht dieses Land. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Olav Gutting. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Besucherinnen und Besucher des Hohen Hauses! Pünktlich zu den Festtagen haben wir heute diesen Antrag der Fraktion Die Linke zur Einführung eines Kinderweihnachtsgeldes auf der Tagesordnung. Zugleich – und das ist fast noch interessanter – soll der Bundestag feststellen, dass Weihnachten „für viele Menschen die wichtigste Familienfeier“ ist und „die Möglichkeit, Weihnachten zu feiern, elementar zur gesellschaftlichen Teilhabe gehört“. Das nenne ich mal gute Symbolpolitik zum richtigen Zeitpunkt. Mir war bisher jedenfalls nicht bewusst, dass sich Die Linke so intensiv um christliche Feiertage bemüht und dass sie die Bedeutung von Weihnachten als christlichem Feiertag in den Fokus stellt. ({0}) Bei den endlosen Diskussionen der letzten Monate hier in Berlin von Rot-Rot-Grün über die zusätzliche Einführung eines Feiertages war Die Linke jedenfalls nicht dadurch aufgefallen, dass sie sich zum Beispiel für den christlichen Reformationstag ausgesprochen hätte. ({1}) Aber ich nehme zur Kenntnis, dass Ihnen das christliche Weihnachtsfest wichtig ist, und ich will sagen: Das freut mich. ({2}) Vor etwa drei Jahrzehnten haben nämlich noch viele aus Ihren Reihen über das Weihnachtsfest schmunzelnd als Jahresendfeier gesprochen und es so verspottet. Das hat sich offensichtlich geändert. Das nehme ich erfreut zur Kenntnis. ({3}) Aber lassen Sie uns sachlich argumentieren. Sie wissen, dass die Entkoppelung des geforderten Kinderweihnachtsgeldes vom Kinderfreibetrag der steuerlichen Systematik komplett widerspricht. Unser Steuerrecht fordert eine steuerliche Freistellung des Existenzminimums. Was die Große Koalition im Rahmen des Familienentlastungsgesetzes hier umgesetzt hat, ist mehr als ausreichend. Ihr Vorschlag würde zu einer maximalen Erhöhung des Kindergeldes um circa 100 Euro pro Jahr führen; das haben wir hier schon gehört. Durch das von uns gerade beschlossene Familienentlastungsgesetz wird das Kindergeld in der Endstufe aber um 300 Euro pro Kind erhöht werden. Ihr Vorschlag hinkt, wie wir hier sehen, unserer Gesetzgebung erstaunlich hinterher. ({4}) Was Sie fordern, ist systemwidrig. Das Kindergeld wird mit dem Kinderfreibetrag abgeglichen und verrechnet. In Ihrem Antrag schreiben Sie, der Kinderfreibetrag solle im Zuge der Zahlungen nicht angehoben werden, darüber hinaus solle Ihr Kinderweihnachtsgeld nicht auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch und auf den Unterhalt angerechnet werden. Auch das ist systemwidrig. ({5}) Ich weiß, dass Sie es als Ungerechtigkeit betrachten, dass Kindergeld auf Hartz IV angerechnet wird, aber das ist systematisch völlig korrekt. In diesem Zusammenhang wird immer wieder behauptet, dass uns die Kinder von Hartz-IV-Familien weniger wert wären als andere. Aber genau das Gegenteil ist doch der Fall; denn gerade die Kinder aus Hartz-IV-Familien sind uns fiskalisch am teuersten und wichtigsten. Sie bekommen am meisten vom Fiskus. Was Sie dagegen machen, ist: Sie werfen alles in einen Topf, rühren kräftig um, versuchen, von oben nach unten zu verteilen, ohne sich über die Kosten überhaupt Gedanken zu machen. In Ihrem Antrag – wir haben es schon gehört – findet sich nichts über die haushälterischen Auswirkungen, nichts über die Kosten. Es ist hier auch nicht zu erkennen, warum wir zum Beispiel Leistungen für Kinder von Geflüchteten und Asylbewerbern nach Ihrem Vorschlag über das Hilfskonstrukt Einkommensteuergesetz erbringen sollen. Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun. Dies hat im Einkommensteuerrecht überhaupt nicht zu suchen. Hier besteht überhaupt kein Anknüpfungspunkt. Deswegen ist auch das abzulehnen. Wenn dieses Kinderweihnachtsgeld, das Sie hier vorschlagen, wenigstens dazu beitrüge, Kinderarmut zu bekämpfen. Aber auch das ist nicht der Fall. Selbst der Kinderschutzbund – wir haben es vorhin schon gehört – sieht darin gerade keinen Beitrag zur Bekämpfung der Armut von Kindern. Es ist schlichtweg der falsche Ansatz. Wichtiger als den Weihnachtskonsum zu fördern, ist nämlich die Verbesserung der Bildungschancen, gerade für Kinder aus finanziell schwachen Familien. Dazu diskutieren wir in der Großen Koalition derzeit den Entwurf eines Gesetzes zur zielgenauen Stärkung von Familien und ihren Kindern durch die Neugestaltung des Kinderzuschlages und die Verbesserung der Leistungen für Bildung und Teilhabe. Mit diesem Starke-Familien-Gesetz wird gerade die Gruppe, über die wir hier sprechen, deutlich höhere Unterstützung bekommen als das, was Sie hier vorschlagen. Das ist sachlich und fachlich missraten. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen. Kinderarmut und fehlende Teilhabemöglichkeiten – das will ich hier noch mal betonen – sind wichtige Themen. Das sind Herzensthemen, auch bei uns in der Union. ({6}) Uns allen hier ist doch daran gelegen, dass wir Kinderarmut bekämpfen, aber mit den richtigen Ansätzen bekämpfen, jedenfalls nicht so, wie Sie das hier vorschlagen. Ihr Antrag ist rein populistischer Natur. In der Regel fordern Sie immer Freibier für alle. Heute variieren Sie und sagen: Weihnachtspunsch für alle. Aber was Sie machen, ist, planlos umzuverteilen. Sie wollen vor Weihnachten noch mal für gute Stimmung sorgen. Es interessiert Sie dabei nicht die Bohne, ob unsere Rechtssystematik durch die von Ihnen vorgeschlagene Entkoppelung des Kindergeldes vom Kinderfreibetrag zu Schaden kommt. Um das zu verhindern, muss dem ein Riegel vorgeschoben werden. Das genau tun wir heute mit der Ablehnung Ihres Antrags. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Grigorios Aggelidis für die Fraktion der FDP. ({0})

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche allen, dass sie in der Weihnachtszeit zur Ruhe kommen und mit den Menschen wertvolle Zeit verbringen, die ihnen besonders am Herzen liegen. Menschen suchen ganz besonders und bewusst in dieser Zeit im Familien- und Freundeskreis das Miteinander, das Gefühl von Geborgenheit, ganz bewusst weg vom Kommerz und vom Materiellen. Die Linke dagegen benutzt mit ihrem Antrag Weihnachten nur als einen weiteren Anlass, ihren Reflex nach mehr Transferleistungen in eine andere, wie es tatsächlich hier anklang, populistische Verpackung zu stecken. Denn Ihr Antrag ist nichts weiter als eine Erhöhung des Kindergeldes ohne entsprechende Anpassung des Kinderfreibetrages. Die Verbände, die Sie zitieren, fordern übrigens – so steht es in Ihrem eigenen Antrag – „eigenständige Leistungen an Kinder, die nicht die Bedürftigkeit der Eltern voraussetzen“. ({0}) Sie machen genau das Gegenteil. Sie schließen dabei einen Großteil der Kinder in unserem Land aus. Wenn Sie für Kinder und ihre Familien nachhaltig was Gutes schaffen wollen, wenn Sie Kinderarmut endlich effektiv bekämpfen wollen, dann müssen Sie weg vom Hamsterrad der simplen Erhöhung, in der Hoffnung – seit vielen, vielen Jahren in der vagen Hoffnung –, dass damit irgendetwas passiert. ({1}) Wir von den Freien Demokraten jedenfalls denken da größer und radikaler. Wir, die Fraktion der Freien Demokraten, haben deshalb einstimmig das Kinderchancengeld beschlossen. Dieses Konzept bietet nämlich den Kindern endlich nachhaltige Chancengerechtigkeit, und zwar weit über das Materielle hinaus, was Sie nur im Blick haben. ({2}) Im Kinderchancengeld werden alle bisherigen kindesbezogenen Leistungen endlich, muss man sagen, gebündelt, vernetzt und vereinfacht. So entstehen eben drei aufeinander abgestimmte Säulen, die zusammen die neue Förderung bilden und Kinderarmut effektiv bekämpfen. ({3}) Die erste Säule ist der klar definierte Grundbetrag, den alle Kinder automatisch bekommen. Die zweite Säule ist der Flexibetrag, der ganz bewusst die jeweiligen Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern berücksichtigt. Die wichtigste Säule aber ist das Chancenpaket, das den Kindern endlich Bildung, Teilhabe und Chancengerechtigkeit bringt. Wir geben damit den Eltern das ganze Jahr über die Sicherheit, dass ihre Kinder einen guten Start ins Leben haben, und zwar jenseits der Entwicklung eines Familieneinkommens. ({4}) Ihre übliche Forderung jetzt mit einer populistischen Schleife zu Weihnachten vorzulegen, ist ja vielleicht gut gemeint, liebe Kollegen von den Linken; aber das Gegenteil von gut gemacht. Ihre Geschenke, die abhängig machen und im Zweifel nur eine Belastung für genau diese Kinder in der nächsten Generation sind, gehören deshalb in die Tonne. ({5}) Wir hingegen müssen Kindern alle Möglichkeiten bieten, ihren Weg zu gehen, ihre Zukunft zu gestalten. Dafür setzen wir Freie Demokraten uns ein – das ganze Jahr über und nicht nur zu Weihnachten. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Sebastian Brehm von der Fraktion CDU/CSU. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne! Wir sprechen heute mal wieder über den Antrag der Linken, der im November 2017 ja schon einmal vorgestellt wurde. Aber, liebe Kollegen: Wenn man einen Antrag zweimal vorstellt, wird er leider trotzdem nicht besser. ({0}) Gern nutze ich noch mal die Gelegenheit, um über die Systematik des Kindergelds zu sprechen. Beim Kindergeld geht es um die Freistellung des Existenzminimums und nicht um eine Sozialleistung. So ist es im Einkommensteuergesetz niedergeschrieben. Deswegen passt auch Ihr Antrag nicht, nämlich dass man ein Weihnachtsgeld eben nur segmentweise einführt und eine Ungleichbehandlung vornimmt, weil das eben im Steuergesetz so überhaupt nicht vorgesehen ist. Ich glaube, richtig ist, dass wir junge Familien entlasten wollen und dass wir natürlich auch Kinderarmut bekämpfen müssen. Doch was Sie fordern, haben wir in diesem Jahr schon lange umgesetzt, und zwar ohne Zustimmung der Linken. Ich will nur zwei Gesetzesinitiativen aus diesem Jahr rausgreifen – eine kommt übrigens auch morgen dran –, mit denen man genau entlarvt, wie Sie Politik machen. Einmal das Familienentlastungsgesetz. Wir haben im ersten Schritt eine Kindergelderhöhung ab dem 1. Juli 2019 in Höhe von 120 Euro im Jahr vorgenommen. In einem zweiten Schritt kommt es noch mal zu einer Erhöhung von 180 Euro, ({1}) also insgesamt eine Erhöhung um 300 Euro pro Jahr. Das ist der dreifache Betrag von dem, was Sie fordern. Und was haben Sie gemacht? Sie haben diesem Gesetz nicht zugestimmt. Das ist letztlich irgendwo grotesk. ({2}) Der Kinderfreibetrag wird erhöht. Die Entlastungen betragen 10 Milliarden Euro für junge Familien und für einkommensschwache Familien. Dem hätten Sie bitte auch zustimmen müssen. ({3}) Die zweite Gesetzesinitiative ist das Gute-Kita-Gesetz, das morgen behandelt wird. Auch da kommt es bis zum Jahr 2022 zu einer Entlastung für Familien von 5,5 Milliarden Euro. Es geht genau darum, Familien mit geringerem Einkommen komplett zu entlasten und auch die Kitagebührenfreiheit herzustellen. Sie haben im Vorfeld in der Diskussion über den Gesetzentwurf Ablehnung signalisiert. Also, wenn Sie wirklich Familien entlasten wollen, dann müssten Sie morgen zustimmen und nicht ablehnen. Daran wird sich zeigen, wie Ihre geistige Haltung ist. ({4}) Sie werden morgen wohl ablehnen. Das ist genau dasselbe Prinzip wie bei dem Weihnachtskindergeld: Ablehnung am Morgen, und am Nachmittag fordern Sie genau dasselbe in einem eigenen Antrag. Das ist Populismus in Reinform. ({5}) Bitte, wenn Sie eine Entlastung wollen, müssen Sie morgen zustimmen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Anstatt Schaufensteranträge zu stellen so wie Sie, handeln wir. Übrigens dort, wo Sie Regierungsverantwortung tragen – in Berlin, Brandenburg und Thüringen –, ist die Kinderarmut am höchsten und wird am wenigsten getan. ({7}) Das gehört in dieser ganzen Debatte auch zur Wahrheit. Dort, wo wir Verantwortung tragen, ist nämlich eine Entlastung von jungen Familien garantiert. Ich kann Ihnen ein Beispiel aus Bayern geben: Ab dem 1. September 2018 ist ein Familiengeld in Höhe von 250 Euro pro Monat eingeführt worden – nicht 96 Euro pro Jahr, sondern 250 Euro pro Kind und Monat. Das bedeutet 3 000 Euro pro Jahr und für das dritte Kind sogar 3 600 Euro. Es kommt genau so an, wie Sie es wollen, nämlich ohne Anrechnung auf SGB-Leistungen. Da müssen wir uns in der Tat noch durchsetzen. Das ist bayerische Politik. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Kollege Brehm, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lötzsch?

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde jetzt fortfahren.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Bitte sehr.

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke. – Also nicht 96 Euro, wie von Ihnen gefordert, sondern 3 000 Euro bzw. 3 600 Euro im Jahr: Das ist Politik. Übrigens: Die Kollegen in Sachsen und auch in Thüringen überlegen, ob man diesem Vorbild aus Bayern folgt. Deswegen: Anstatt Ihr Plakat hochzuhalten, hätten Sie lieber einen CDU-Aufkleber hochhalten müssen. ({0}) Wenn Sie junge Familien wirklich entlasten wollen, dann müssen Sie nächstes Jahr in Thüringen und in Sachsen CDU wählen; dann werden Familien entlastet. Das ist vielleicht mal eine Anregung. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können das in Bayern umsetzen, weil wir eben genau nicht die Neiddebatte führen, die Sie führen. Bei uns können Menschen Geld verdienen; aber durch die soziale Marktwirtschaft leisten sie natürlich auch einen Beitrag für diejenigen, die weniger verdienen. Das nennt sich Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Das ist ein Grundprinzip der sozialen Marktwirtschaft. Es ist richtig, und es ist Vorbild für ganz Deutschland. Nicht Ihr System der Umverteilung, sondern Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ist, glaube ich, genau der richtige Weg. ({2}) Mein letzter Punkt ist: Wenn Sie schon einen Antrag durchbringen wollen, dann müssen Sie auch bitte sagen, wie Sie es finanzieren. Einfach einen Antrag ohne eine Gegenfinanzierung zu stellen, ist unseriös. ({3}) Wir haben jedes Gesetz gegenfinanziert. Wir haben einen Haushalt, der sogar Schulden zurückführt. Deswegen können wir auch diesen Schritt gehen und die Familien entlasten, und an diesem Schritt werden wir auch weiterarbeiten. ({4}) Wahrscheinlich haben Sie gehofft, dass das Christkind einige Milliarden unter den Weihnachtsbaum legt. Aber ich will den Weihnachtsfrieden nicht länger stören, sondern will einfach sagen: Sie können reden. Wir setzen es um. Wir handeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen eine gesegnete Adventszeit. Fröhliche Weihnachten! Danke schön. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Kurzinterventionen lasse ich mit Blick auf die bereits erhebliche Zeitüberschreitung nicht zu. Wir sind damit am Ende der Debatte und kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Einführung eines Kinderweihnachtsgeldes“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/6276, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/101 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen ist der Antrag mit der Mehrheit des Hauses angenommen.

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Worum geht es? Die Jusos haben auf ihrem Bundeskongress am 1. Dezember die Streichung der §§ 218 und 219 StGB beschlossen. ({0}) Für die Nichtjuristen: Eine Streichung des § 218 bedeutet die Legalisierung der Abtreibung bis zum neunten Monat. ({1}) Ein lebensfähiges, voll ausgewachsenes Kind darf dann auch noch eine Minute vor der Geburt getötet werden. ({2}) Um nicht ungerecht zu sein: Es gab auf dem Juso-Kongress auch Gegenstimmen. Eine Delegierte warf die zentrale Frage auf: Was passiert denn, wenn die Spätabtreibung schiefgeht und das Kind nicht getötet wird und stirbt, sondern geboren wird und lebt? ({3}) Dann liegt es auf dem OP-Tisch, 50 Zentimeter groß, 3 000 Gramm schwer und kämpft um sein Leben. Der Arzt, der dieses Kind gerade noch zerstückeln wollte, muss es nun retten. ({4}) Die Fragen der Delegierten haben genau gezeigt, dass die Jusos exakt wussten, was sie da beschlossen haben. Sie wollten das Töten von Babys erlauben. ({5}) Was ist das für ein Menschenbild? Es ist nicht das Menschenbild unserer Kultur und auch nicht das Menschenbild unserer Zivilisation. ({6}) Der Skandal ist aber nicht nur der Beschluss, sondern das laute Schweigen der Presse, des SPD-Bundesvorstands, der SPD-Familienministerin und auch das Schweigen der Union und der Amtskirchen. ({7}) Wir appellieren an Sie: Nehmen Sie diese Aktuelle Stunde heute zum Anlass, Ihr Schweigen zu beenden. Ich weiß, dass Kollegen von CDU und CSU über diesen Beschluss genauso schockiert sind wie wir. ({8}) Sagen Sie das auch! Auch Koalitionspragmatismus hat Grenzen. ({9}) Weichen Sie nicht aus! Relativieren Sie nicht, indem Sie sagen, der Beschluss der Jusos sei unangemessen! ({10}) Dieser Beschluss ist nicht unangemessen, sondern ein Anschlag auf das Leben und auf das Grundgesetz. ({11}) In Artikel 2 des Grundgesetzes heißt es: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit … Deswegen ist Abtreibung eine Straftat und nur unter ganz bestimmten Bedingungen straffrei gestellt. Den Lebensschutz zu streichen, ist ein Anschlag auf das Herz der Verfassung. ({12}) Wenn Sie sich, meine Damen und Herren von der SPD, von dieser Forderung nicht distanzieren, müssen Sie sich diese Forderung zuschreiben lassen. Sie sollten sehr gut darüber nachdenken, ob Sie die Chance jetzt nicht nutzen wollen, sich von der Babymörderfraktion in Ihrer Jugendorganisation abzugrenzen; ({13}) denn Ihr Schweigen macht einen verheerenden Eindruck. Wenn die Jusos mit breiter Mehrheit das Recht auf Abtreibung bis unmittelbar vor der Geburt, also das Töten von lebensfähigen Kindern, fordern und sich die SPD davon nicht distanziert, sondern gleichzeitig die Legalisierung der Werbung für Abtreibung zur Schicksalsfrage ihrer Koalition macht, dann drängt sich der Schluss geradezu auf: Die Entwertung und Zerstörung ungeborenen menschlichen Lebens ist für die SPD und ihre Parteijugend offensichtlich ein politisches Herzensanliegen. ({14}) Wenn Sie diesem Eindruck entgegentreten wollen, dann handeln Sie. Die Forderung, die Kindstötung zu legalisieren, rechtfertigt Parteiausschlussverfahren. ({15}) Sie wollten Thilo Sarrazin ausschließen wegen kritischer Äußerungen zum Islam. Wenn Sie jetzt nicht gegen diejenigen vorgehen, die die Babytötung legalisieren wollen, dann ist die Botschaft der SPD klar. ({16}) Die Kritik am Islam ist gegen die Parteilinie, ({17}) die Legalisierung von Kindermord offenbar nicht. Es geht um Kinder, die neun Monate alt und voll lebensfähig sind. ({18}) Die AfD gibt Ihnen durch diese Aktuelle Stunde die Chance, sich von den Jusos zu distanzieren und eine rote Linie zu ziehen. Nutzen Sie sie. Ich will Ihnen gerne glauben, dass auch die übergroße Mehrheit der SPD keine Babymörderpartei sein will. Sie haben jetzt die Gelegenheit, das zu zeigen. Vielen Dank. ({19})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Es ist hier natürlich möglich und auch notwendig, dass jede Fraktion und jede Rednerin und jeder Redner jeder Fraktion die Sachverhalte, die den Fraktionen am Herzen liegen und die sie hier thematisieren wollen, entsprechend vortragen. Ich bitte trotzdem darum, sich einer parlamentarischen Ausdrucksweise zu befleißigen. ({0}) Die Bezeichnung einer wie auch immer verfassten Gruppe als „Babymörderfraktion“ zähle ich persönlich nicht dazu, und diesen Hinweis stelle ich jetzt hier in den Raum. ({1}) – Auch den Parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktion der AfD dürfte bekannt sein, wie und wo Kritik an der Amtsführung der Präsidentinnen und Präsidenten vorgetragen und verhandelt wird, jedenfalls nicht hier im Plenum. ({2}) Sollten Sie dieses wünschen, haben wir dazu ein anderes Gremium, welches auch in dieser Woche noch tagen kann, gar kein Problem. Wir fahren jetzt in der Debatte dort. Das Wort hat die Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker für die Fraktion der CDU/CSU. ({3})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erinnern uns vielleicht: Im September 2017 – das war im Wahlkampf – sprach eine junge Frau mit Downsyndrom die Kanzlerin darauf an, dass Menschen wie sie durch Spätabtreibung bis unmittelbar vor der Geburt getötet werden können, ihnen das Lebensrecht abgesprochen wird. Ich glaube, Natalie Dedreux hatte damals alle Sympathien auf ihrer Seite, und ich finde, sie hatte vor allem recht: Es ist schwer erträglich, es ist ein Zynismus, dass Menschen, weil sie krank sind, weil sie behindert sind, durch Spätabtreibung sozusagen am Leben gehindert werden können aus dem Gedanken heraus, dass es ihren Eltern, ihrer Mutter nicht zuzumuten sei, mit diesem Kind zu leben. Es ist deshalb ein Skandal, weil das Potenzial, das diese Menschen mitbringen, total abgewertet wird, nicht anerkannt wird, und es ist deshalb ein Skandal, weil hier im Ergebnis unterschieden wird zwischen gesunden und behinderten Babys. Deshalb hier noch einmal ganz klar: Ein behindertes Kind hat ein Lebensrecht um seiner selbst willen. Es ist Mensch, unabhängig davon, ob es für seine Eltern oder die Gesellschaft eine positive Erfahrung bedeutet oder mit Lasten verbunden ist. ({0}) Die Jusos haben nun einen Vorschlag gemacht, der auch für mich schwer erträglich ist, der unter anderem dazu führen würde, die Ungleichbehandlung aufzuheben. Sie schlagen vor, für alle Kinder Regeln gelten zu lassen, nach denen ohne jede Beratung, ohne jede Befristung eine Abtreibung bis unmittelbar vor der Geburt möglich wäre. Sie bestreiten das Lebensrecht des Kindes bis zur Geburt. Es wurde gesprochen von irgendwelchen Ungeborenen, die doch keine Rechte haben. Dementsprechend kommt das ungeborene Kind in dem ganzen Beschluss auch nirgendwo vor. Anscheinend kommt es in der Gedankenwelt der Jusos überhaupt nicht vor. So ist jedenfalls die Diskussion verlaufen. ({1}) Den Gegnerinnen der Jusos, die das dann auch angemerkt und kritisiert haben, wurde vorgeworfen, sie hätten nicht das richtige feministische Bewusstsein. Ich glaube, das ist die Höchststrafe bei den Jusos, wenn man vorgeworfen bekommt, nicht das richtige feministische Bewusstsein zu haben. ({2}) Ich glaube, das war ziemlich neben der Sache. Unser Recht, unsere Verfassung sieht es jedenfalls anders. Nach unserem Verfassungsauftrag haben wir als Staat von Anfang an die Pflicht, ein Kind, auch ein ungeborenes Kind, zu schützen. Das Verfassungsgericht sagt eindeutig, dass sich das Ungeborene als Mensch und nicht zum Menschen entwickelt, von Anfang an, und daraus wird sein Lebensrecht, seine Würde abgeleitet. ({3}) Ich glaube, jeder, der einmal in das Gesicht eines neugeborenen Kindes geblickt hat, hat ein unmittelbares Verständnis davon, dass da eine kleine Person mit hohem Selbstbestimmungsrecht und Anspruch liegt und dass sich das nicht erst im Moment der Geburt entwickelt, sondern in einer kontinuierlichen Entwicklung von Anfang an, von dem Beginn an, wo das Individuum mit seinem Bauplan praktisch feststeht. Wenn wir davon reden, dass Frauen es sich nicht leicht machen, dass sie den Konflikt spüren, dann setzt das doch gerade voraus: Ein Konflikt besteht nur dann, wenn auf der anderen Seite auch ein Rechtsträger steht. ({4}) Wenn Frauen hier einen Konflikt empfinden, dann haben sie das Gespür dafür, dass in ihrem Bauch ein Kind heranwächst, das eigene Rechte hat. Deshalb hat der Staat eine Schutzpflicht, und dieser müssen wir nachkommen. Es ist ein tragfähiger Kompromiss, dass wir in den ersten zwölf Wochen diesen Schutz nicht durch das Strafrecht anbringen wollen, sondern durch die Beratung. Aber es ist eine Pflicht des Staates, hier eine Beratung zum Leben zu ermöglichen und diese vorzusehen. ({5}) Es muss dazu kommen, dass es Hilfen gibt, und das alles vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass jedes Kind real nur mit der Mutter und nicht gegen sie geschützt werden kann. Insofern ist das ein guter Kompromiss. Ganz kurz zu den neuen Eckpunkten, die uns die Minister vorgelegt haben. Ich hoffe, dass wir auf dieser Basis zu einer Versachlichung der Debatte kommen und dass wir gemeinsam überlegen können, wie wir die Informationen über die Praxen, in denen Abtreibungen durchgeführt werden, verbessern. Ich glaube, da haben wir uns etwas vorgenommen. Auf diesem Weg wollen wir auch konstruktiv zusammenarbeiten. Danke. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun die Abgeordnete Katrin Helling-Plahr das Wort. ({0})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Aktuelle Stunden können verlangt werden, um Themen von allgemeinem, aktuellem Interesse zu debattieren. Solche Themen betreffen regelmäßig das Verhalten der Bundeskanzlerin oder der Bundesregierung, oder es geht auch um Einsätze unserer Truppen im Ausland. Für die AfD gibt es diese Woche offenbar nichts Wichtigeres als einen Beschluss des Bundeskongresses der Jungsozialisten. ({0}) Nun habe ich mich selbst jahrelang intensiv in einer politischen Jugendorganisation, bei den Jungen Liberalen, engagiert. Die Arbeit, die dort geleistet wird, ist ohne Zweifel von hoher Bedeutung und immenser Wichtigkeit. Dass sich nun der Bundestag mit einem Beschluss des Juso-Bundeskongresses befassen soll, ist aber doch ein bisschen viel des Guten. Und, sehr geehrte Damen und Herren von der AfD, ich will lieber gar nicht wissen, was die Junge Alternative auf ihren Kongressen alles so beschließt. ({1}) Offenbar jedenfalls Sprengstoff genug, um den Verfassungsschutz in einigen Ländern auf den Plan zu rufen. ({2}) Aber nun zur inhaltlichen Fragestellung: ({3}) Das Bundesverfassungsgericht hat wie folgt ausgeführt: Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG). Die Schutzpflicht des Staates verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen. Die Forderung der Jusos ist mithin offensichtlich verfassungswidrig und dementsprechend eigentlich gar nicht diskussionswürdig. ({4}) Im Übrigen wäre es zunächst einmal vornehmste Aufgabe der Jusos gewesen, ihre Mutterpartei anzutreiben. Liebe Jusos, mit etwas weniger radikalen Forderungen wäre es euch vielleicht auch gelungen, eure Mutterpartei davon zu überzeugen, bei § 219a StGB den Rücken geradezumachen und sich nicht von der CDU ins Bockshorn jagen zu lassen. ({5}) Der langersehnte GroKo-Kompromiss schafft nun leider nur eine Scheinlösung. Denn so falsch die Forderungen der Jusos sind, so wichtig ist es, dass Frauen ein umfassendes sachliches, auch ärztliches Informationsangebot erhalten, wenn sie eine Abtreibung in Betracht ziehen. Denn bei dem ethisch so bedeutsamen Thema Abtreibung geht es gerade auch um das Thema Selbstbestimmungsrecht der Frau. Deutsche Frauen haben bereits in den 70er-Jahren erstritten, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht in die Hände von Engelmacherinnen in Hinterzimmern gehören. ({6}) Noch heute sind unter medizinisch schlechten Bedingungen durchgeführte Abbrüche eine der häufigsten Todesursachen für Frauen weltweit. Ich behaupte: Keine Frau hat sich je und wird sich eine Entscheidung gegen das ungeborene Leben in ihrem Bauch leicht machen. ({7}) Wenn wir eines nicht brauchen, liebe AfD, dann ist es die gesellschaftliche Rolle rückwärts, zurück ins Mittelalter. ({8}) Es ist gut und wichtig, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der offen über Sexualität und auch Verhütung gesprochen wird – auch um einer späteren Abtreibung vorzubeugen. ({9}) Da nutzt es nichts, sehr geehrte Damen und Herren von der AfD, dass Sie im Kampf gegen von Ihnen zu Wahlkampfzwecken erfundene angebliche Frühsexualisierung die frühzeitige Aufklärung unserer Kinder unterbinden wollen. ({10}) Da nutzt es nichts, wenn Ihre Jugendorganisation seriöse Kampagnen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Kondome zu benutzen, skandalisiert. Aber der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, so war der Presseberichterstattung ja auch zu entnehmen, dass Frau von Storch die Wirksamkeit von Kondomen angezweifelt hat. ({11}) Es fragt sich, ob sie dafür eigentlich einen goldenen ­Aluhut erhalten hat. Abschließend: In der ethisch bedeutsamen Abtreibungsthematik brauchen wir einen breit getragenen gesellschaftlichen Konsens. Den haben wir – von Regelungsbedarf rund um § 219a StGB abgesehen – erreicht. ({12}) Es braucht Zeit, und wir haben eine Lösung, die sowohl den Lebensschutz als auch das Selbstbestimmungsrecht berücksichtigt. Aufgeregte Schaufensterdiskussionen, ({13}) wie Sie sie hier heute veranstalten, nützen niemandem und werden dem Thema nicht gerecht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nächster Redner ist Dr. Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich feststellen: Die Debatte, die wir hier führen, betrifft ein wichtiges ethisches Thema, aber die Sprache, in der sie seitens der AfD geführt wird, ist schockierend, nicht angemessen und ein Tiefpunkt der Debattenkultur. ({0}) Sie werfen alles durcheinander. ({1}) Sie machen keinen Unterschied zwischen einem Fötus, einem Baby und einem Kind. Sie machen keinen Unterschied. ({2}) Bevor das Kind geboren ist, ist es ein Fötus. Es macht einen Unterschied, ob ein Kind oder ein Fötus abgetrieben wird. ({3}) Nicht jede Tötung ist ein Mord. Die Art und Weise, wie Sie die Debatte hier führen, vergiftet jede ethische Debatte, eine ethische Debatte, wie wir sie hier im Haus dringend benötigen. ({4}) Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass ausgerechnet die AfD sich darüber Sorgen macht, dass die Jusos auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. ({5}) Das ist ein Hohn. Es hat doch keine Jugendorganisation von Parteien dieses Parlaments mehr Probleme mit dem Grundgesetz als Ihre Jugendorganisation. ({6}) Der Hintergrund der Debatte ist doch § 219a. Bei § 219a ist meine Position als Arzt ganz simpel. ({7}) Selbstverständlich ist es richtig, dass wir Ärzte über Eingriffe, die wir legal durchführen können, auch informieren dürfen. Das ist eine Selbstverständlichkeit, eine Klarheit. ({8}) Es ist genauso selbstverständlich, dass wir für solche Eingriffe nicht werben dürfen. Wir dürfen für keinen unserer Eingriffe werben. Wir sind keine Kaufleute. Wir sind Ärzte. Daher ist es auch falsch, zu sagen: Das ist eine Gewissensentscheidung. – Ich brauche mein Gewissen nicht zu konsultieren, um zu wissen, dass ein legaler Eingriff durch einen Arzt auch der Information durch den Arzt bedarf. Das ist eine Selbstverständlichkeit. ({9}) Es ist daher auch ein guter Kompromiss. Wir stellen Informationen zur Verfügung, wir stellen sie durch die Ärztekammer und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zur Verfügung. ({10}) Das heißt, das Informationsangebot wird besser. ({11}) Das Ergebnis ist, dass wir mehr Informationen haben und keine Werbung. Das ist genau das, was wir benötigen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. ({12}) – Ich komme jetzt zu Ihrer Hetze, keine Sorge. Bei § 218 ist es in der Tat eine Ethikentscheidung. Das ist eine Gewissensentscheidung. Sie haben gezeigt, wie man diese Debatte hier nicht führen sollte. ({13}) Was hier passiert, ist doch ganz einfach: Die von Ihnen bekannte allgemeine Hetze gegen Flüchtlinge wird jetzt ausgedehnt auf eine Hetze gegen schwangere Frauen. Das ist doch, was hier abgeht. ({14}) Ich bin ebenfalls im Inhalt nicht der Meinung des Jusos-Antrags. Als Arzt sage ich: Abtreibung im achten Monat ohne medizinische Indikation würde ich persönlich ablehnen. Trotzdem ist das Anliegen der Jusos ein nobles Anliegen. ({15}) – Ja, es ist ein nobles Anliegen. – Worum geht es denn? Die Jusos wollen verhindern, dass Frauen kriminalisiert werden, an den Pranger gestellt werden, mit dieser Entscheidung alleingelassen werden, ({16}) Entscheidungen, die durch Männer mit verursacht werden, wahrscheinlich auch durch Mitglieder Ihrer Fraktion. ({17}) Wir müssen diese Debatte ohne Polemik führen. Wir brauchen eine Debatte, die den ethischen Charakter würdigt. Bei § 219a haben wir eine gute Lösung: Werbung nein, Information ja. ({18}) Wir müssen aber vorsichtig sein, dass wir nicht auf ein Niveau herabrutschen, wo ethische Debatten im Bundestag unmöglich werden durch eine Verhetzung von Menschen und insbesondere durch die Verhetzung von Frauen. Frauen an den Pranger zu stellen, ist unwürdig. ({19}) Jede Frau macht sich diese Entscheidung schwer, und die Zahl der Abtreibungen ist seit 1995 um 25 Prozent zurückgegangen. ({20}) Ich kenne keine Frau, die sich diese Entscheidung leicht macht. ({21}) Sie tun hier, als wenn es eine Entscheidung wäre, die mit Mord und Totschlag gleichzusetzen ist. Das ist schäbig, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({22})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Cornelia Möhring für die Fraktion Die Linke. ({0})

Cornelia Möhring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004111, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das grenzt ja an Absurdistan. Hier werden kranke Zerstückelungsfantasien zum Besten gegeben. Sie, Frau Winkelmeier-Becker, machen aus einer Debatte, in der es um etwas völlig anderes geht, eine ethische Debatte zur Spätabtreibung und zucken nicht mal, wenn Sie nur Beifall von der AfD bekommen. Das erschüttert mich wirklich. ({0}) Ich finde, diese Debatte ist echt eine Farce. Der Beschluss der Jusos ist eigentlich so, dass er hier verabschiedet werden sollte. ({1}) Ich zitiere einmal: Dort steht, dass „die aktuellen gesetzlichen Regelungen in den §§ 218 ff. und §§ 219 ff. StGB zu rechtlicher Unsicherheit, Kriminalisierung und gesellschaftlicher Stigmatisierung nicht nur für (ungewollt) Schwangere, sondern eben auch für Ärzt*innen“ führen. Zitat Ende. Dann wird in dem besagten Beschluss skizziert, welche Folgen dieser Zustand hat, und die Streichung beider Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch gefordert. Völlig richtig! Von Abbrüchen bis zum neunten Schwangerschaftsmonat steht da kein Ton drin, ({2}) das ist wirklich Ihrer voll kranken Fantasie entsprungen. ({3}) Die AfD meint jetzt, die Aktuelle Stunde nutzen zu müssen, um davor zu warnen, dass bald womöglich schwangere Frauen im achten Monat plötzlich feststellen: Ach, ich will jetzt keine weiteren Wochen schwanger sein, ich mache mal eine Spätabtreibung. – Das ist doch Schwachsinn! ({4}) Meine Güte, welche Frau würde das tun! Und welcher Arzt, welche Ärztin würde das zulassen! Das ist völlig irre. Aber es war zu erwarten, dass wir von der AfD hier solche Aktuellen Stunden beschert kriegen. Das rechte und rückschrittliche Frauenbild geht nun mal von der Vorstellung aus, dass Frauen ohne Pflichtberatung und ohne willkürlich festgelegte Fristen nicht selber entscheiden können, ob sie ein Kind wollen oder nicht – eine Vorstellung, die meint, dass Frauen nicht in der Lage sind, selbst einzuschätzen, wann sie medizinischen Rat brauchen und oder nicht. Vermutlich ist es leider verschwendete Lebenszeit, erneut zu erklären, dass auch Frauen vernunftbegabte Wesen sind. ({5}) Das wollen aber leider die AfD und anscheinend auch große Teile der Union nicht verstehen. Ich versuche es mal mit einem positiven Beispiel aus dem befreundeten Ausland: In Kanada gibt es die Haltung, dass auch Frauen Menschen sind, die nicht erst durch überwiegend von Männern gemachte Gesetze vor sich selbst geschützt werden müssen. Dort gilt: Schwangerschaftsabbrüche sind einfach eine ärztliche Leistung – ohne gesetzliche und erst recht ohne strafrechtliche Einschränkung. Die Folge: sinkende Abbruchraten, und die meisten Schwangerschaftsabbrüche werden bis zur zwölften Woche vorgenommen und mitnichten später. Das interessiert aber unsere ideologisch verblendeten Hardliner wohl wenig, und es interessiert anscheinend auch nicht diejenigen, denen das Kindeswohl nur so lange am Herzen liegt, solange sie damit Kontrolle über weibliche Körper erlangen können. ({6}) Ehrlich gestanden kann ich mir die Doppelmoral der Union anders nicht erklären. Sie verantworten, dass 2,4 Millionen Kinder in Armut leben; Sie verantworten, dass Familien über Kontinente getrennt sind und sich nicht wiedersehen können; ({7}) Sie verantworten, dass schwangere Frauen in Abschiebehaft genommen werden – ich finde, es ist pure Heuchelei, was Sie hier zum Lebensschutz erzählen. ({8}) Eine weitere Farce, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wäre es aber auch, wenn Sie all das mittragen und die Eckpunkte, die gestern zum Kompromiss vorgeschlagen wurden, stimmen. Denn dann wäre das kein Kompromiss, sondern vor allem der Beweis Ihrer eigenen Schwäche und Ihres Opportunismus. Angesichts dieses möglichen erneuten Versagens der SPD, Haltung zu zeigen, hilft dann auch der wirklich gute Beschluss der Jusos nicht. Denn das, was gestern Abend als Eckpunkte für die lange versprochene Lösung präsentiert wurde, ist schlechter als ein fauler Kompromiss, es ist eine volle Nullnummer. ({9}) Es ändert sich nichts, der § 219 bleibt im Strafgesetzbuch. Und als wäre der Union damit nicht schon ausreichend gedient, es werden sogar Geschenke für die selbsternannten „Lebensschützer“ aufgenommen, indem ihr Vokabular sogar übernommen wird. Ich muss gestehen: Auch wenn das Verhalten der Ministerinnen jetzt keine so große Überraschung für mich war, hatte ich doch auf mehr Konsequenz von den Sozialdemokraten gehofft. Aber nun gut! Die Abschaffung des § 219a, die wir ja nachher noch mal diskutieren, hätte ein gemeinsamer Sieg hier sein können. Jetzt habt ihr euch anscheinend auf die falsche Seite gestellt. Ich sage aber: Die Linke gibt nicht auf. Wir wollen, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr im Strafgesetzbuch stehen. Übrigens freue ich mich sehr, dass auch die Jugendorganisation der Linken, Solid, und der Studierendenverband SDS genauso gute Beschlüsse gefasst haben wie die Jusos. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Ulle Schauws für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was wir heute hier erleben, ist ein Paradebeispiel für das, was die AfD-Fraktion als politischen Auftrag versteht, nämlich Skandale herbeizureden, wo es keine gibt. ({0}) Es ist kein Skandal, dass die Jusos auf ihrem Parteitag ein gesellschaftlich wichtiges Thema, nämlich einen Antrag auf straffreien Schwangerschaftsabbruch von Frauen, debattieren und über den Antrag abstimmen. Aber es wird zum Skandal, wenn Sie diesen Beschluss nehmen und daraus Fake News machen, ({1}) wenn Sie mit bösartigen Verdrehungen und fehlerhafter Wiedergabe des Inhalts falsche Behauptungen aufstellen. Das ist nicht nur hoch kritikwürdig, das ist unverantwortlich. ({2}) Wir wissen – und Sie wissen –, dass im Juso-Antrag nirgendwo was von einer Abtreibung bis zum neunten Monat steht. Was hingegen dort steht, ist, dass man eine Neuregelung finden will, die man noch diskutieren muss. Sie schreien ungeachtet dieser Zeilen „Skandal!“, obwohl Sie gar nicht wissen können, wie diese Neuregelung außerhalb des Strafgesetzbuches aussehen soll. Sie verzerren Wahrheiten, weil Sie ganz offensichtlich über das Thema Abtreibung in einer skandalisierenden Weise reden wollen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen! ({3}) Im Landtag von Baden-Württemberg hat Ihr Kollege von der AfD es diese Woche so auf die Spitze getrieben, genau bei diesem Thema, sich dermaßen danebenbenommen, dass er mit Polizeibegleitung aus der Sitzung geleitet werden musste. ({4}) Ich kann nur sagen: Das ist megapeinlich für die AfD. ({5}) Ich sehe es wie der Kollege von der SPD: Es könnte auch ein Ablenkungsmanöver von Ihrer rechtsradikalen Jugendorganisation sein; dieses Eindrucks kann man sich hier nicht erwehren. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage aber auch ganz klar, worüber wir hier heute reden müssen – ohne die Skandalisierungsversuche der AfD –: Wir müssen reden über eine gute, umfassende Versorgung von ungewollt Schwangeren, über Rechtssicherheit von Ärztinnen und Ärzten; ({7}) wir müssen reden über eine Haltung, in der ungewollt Schwangere nicht diffamiert und moralisch verurteilt werden, ({8}) über reproduktive Rechte von Frauen, die ohne uneingeschränkte Selbstbestimmung nicht denkbar sind, über eine emanzipatorische, positive, stärkende Gesellschaft. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, man sollte meinen, aus den vielen Debatten um den § 219a in den letzten 13 Monaten und den vielen Informationen auch aus der Fachanhörung seien Erkenntnisse bei der Regierung angekommen. Darum ist es auch für mich umso unglaublicher, dass es in dem auf den allerletzten Drücker gefundenen Kompromiss zu § 219a nicht zu einer klaren Regelung und zu Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte gekommen ist. Stattdessen tun Sie als Bundesregierung alles, um auf keinen Fall den § 219a streichen zu müssen – nur um dieses Tabu aufrechterhalten zu können. Das ist absurd, das ist unausgegoren – aber diese Debatte führen wir heute zu einem späteren Zeitpunkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die AfD unterstellt Frauen bei den Debatten um den § 218 doch, verantwortungslos zu handeln; Sie haben es gerade genau so gemacht. In Ihrer Vorstellung brauchen Frauen Gesetze, und am besten das Strafgesetzbuch mit Gefängnis­androhung. In Ihrer Vorstellung gibt es jedes Jahr über 100 000 Mörderinnen in Deutschland. – Das ist das Bild von Schwangeren in einer ungewollten Notsituation, das ist das Bild von Schwangeren, die abtreiben müssen. Sie reden von Tötungskliniken, von Kindstötung, und Sie haben heute noch ganz andere Begriffe verwendet; das ist das Vokabular, das Sie benutzen. In Ihrer Vorstellung ist der Feminismus an all dem schuld; bei Ihnen ist allein der Begriff „Feminismus“ schon ein rotes Tuch. Für Sie ist das Ziel einer gleichberechtigten Gesellschaft mit Selbstbestimmung, sexuell-reproduktiven Rechten ein regelrechtes Hexenwerk. Bei Ihren Wahnvorstellungen – ich kann das nicht anders bezeichnen – fühlt es sich so an, dass Sie wirklich im Mittelalter stehen geblieben sind; zumindest kann ich das jeden Tag bei den Debattenbeiträgen von Ihrer Seite so wahrnehmen. ({9}) Für uns Grüne steht das Ziel einer gleichberechtigten Gesellschaft im Mittelpunkt. Wir wollen eine Gesellschaft, in der Frauen und Männer gleichberechtigt sind und auf Augenhöhe. Wir wollen endlich gleichen Lohn ({10}) für gleichwertige Arbeit, eine paritätische Besetzung in den Parlamenten, in Wirtschaft, Kultur und Medien. Wir sollten das Ehegattensplitting endlich angehen, für mehr Prävention und Schutz bei Gewalt sorgen – auch in bundespolitischer Verantwortung –, für alle Frauen. Digitalisierung mit Diversität, Armut von Frauen im Alter und bei Alleinerziehenden – da fehlen immer noch gute Lösungen. Die bedrückenden Probleme des Sexismus – das hat uns die Me-too-Debatte eindrucksvoll vor Augen geführt –, auch hierfür brauchen wir Lösungen. Das Gleiche gilt für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das sind Themen, über die wir reden sollten, wo wir Konzepte und Lösungen vorlegen müssen. Dafür würde es sich lohnen, auch sehr kontrovers hier zu streiten. Aber das interessiert Sie als AfD alles nicht, Sie nutzen diese Aktuelle Stunde für Lösungsvorschläge für Frauen jedenfalls nicht, sondern nur, um Ihre Hetze loszuwerden. Ich hoffe auf eine qualifiziertere Debatte heute Abend über § 219a. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Ingmar Jung für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingmar Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muss sagen: Als ehemaliger Landesvorsitzender der Jungen Union bin ich schon ein bisschen neidisch, dass es die Jusos geschafft haben, dass wir hier eine Aktuelle Stunde am Donnerstagmittag darauf verwenden, um über einen Beschluss des Juso-Bundeskongresses zu reden. Das Thema, um das es hier geht, ist ein wichtiges; damit müssen wir uns beschäftigen, und das tun wir auch dauernd. Aber ob es dabei unbedingt um Anträge der Jusos gehen muss, weiß ich nicht. Die Jusos beschließen doch jedes Jahr, irgendetwas abzuschaffen: Einmal waren es die Noten, dann, 2016, wollten sie die Grenzen abschaffen. 2015 haben sie beschlossen, den Tatbestand der Staatsbeleidigung abzuschaffen – mit einem Antrag unter dem Titel „Ey, Deutschland, du mieses Stück Scheiße“. Das alles ist ein Stück weit untergegangen, weil es keiner so hochgehoben hat wie die AfD. Sie haben es geschafft, dass wir mitten im Bundestag über Juso-Anträge reden. ({0}) Ich kann nur sagen: Herzlichen Glückwunsch, Kevin Kühnert! ({1}) Wenn man sich den Antrag genau anschaut – ich weiß nicht, wer das alles gemacht hat –, ({2}) dann stellt man fest, dass das echt schräg ist, was dort drinsteht. Er beginnt mit der Forderung, für ein Recht auf reproduktive Selbstbestimmung einzutreten. Aus dieser Überschrift kann man schon eine gewisse Zielrichtung ablesen. Dann beschäftigt man sich im gesamten An­tragstext nur mit der einen Seite des Problems, nämlich mit der Selbstbestimmungsfrage. Das verfassungsrechtlich garantierte Recht auf Leben und die staatliche Schutzpflicht für das ungeborene Leben werden im ganzen Antrag mit keinem einzigen Wort erwähnt. Das macht diesen Antrag und diesen Beschluss auch so indiskutabel. ({3}) Das sollte eigentlich gesellschaftlicher Konsens sein. Es geht aber so weiter. Es werden einige Dinge gestreut, und dann hat man als großen Beweis eine Bundestagsdrucksache herangezogen, die die Meinung der Jusos bestätigen soll. Das klingt so offiziell, so formal, eine Bundestagsdrucksache! Wenn man sich diese Bundestagsdrucksache aber heraussucht, dann stellt man fest, dass es sich um einen Gesetzentwurf von 1991 von der damaligen Bundestagsgruppe der Grünen handelt. Darin erklären sie, dass es in der DDR zwar besser war als in der BRD, aber auch nicht gut genug, und legen einen Gesetzentwurf vor, in dem in § 1 ein Rechtsanspruch auf Schwangerschaftsabbruch konstituiert wird. Das ist diese formale Bundestagsdrucksache. Der beste Vorschlag – im ironischen Sinne – ist dann, im weiteren Verlauf das Schwangerschaftskonfliktgesetz in Schwangerschaftsgesetz umzubenennen, weil es ja keinen Konflikt zwischen den widerstreitenden Rechtsgütern gibt. Das ist im Ergebnis alles schon ziemlich schräg. Wenn man die Debatten, die wir in den letzten Wochen hier miteinander geführt haben, noch ein bisschen in Erinnerung hat, dann weiß man, dass eine solche Position weder irgendetwas mit dem gesellschaftlichen Konsens zu tun hat noch irgendetwas mit einer möglichen Verfassungsmäßigkeit und insofern eigentlich auch wirklich nicht ernst zu nehmen ist, hier im Parlament möglicherweise nur von der Linkspartei. Aber, wie wir spätestens seit gestern nach dem gemeinsamen Auftritt der Ministerinnen und Minister wissen, ist das doch auch keine Position, die von der SPD hier geteilt wird. Das wird niemand behaupten. ({4}) Ich verstehe, Herr Kollege Lauterbach, dass Sie versuchen, die eigene Jugendorganisation zu schützen und deswegen ein bisschen drumrum argumentiert haben; das würden wir vielleicht auch so machen. Aber man muss doch sagen: Wir verschwenden hier wirklich viel Zeit auf einen Antrag der Jusos. Es wäre besser, wir könnten uns dem Problem sachgemäß, ordentlich und verantwortungsvoll widmen, meine Damen und Herren. Ob die SPD das anders sieht – da bin ich bester Dinge. Das werden wir, glaube ich, heute Abend in der Debatte um § 219a sehen. Deswegen gehe ich jetzt nicht weiter darauf ein, wir werden heute Abend noch über § 219a sprechen können. Aber eines will ich noch sagen: Wenn man sich diesen Antrag und diesen Beschluss anschaut, dann erkennt man ein klassisches Muster. Es wird ein hochemotional besetztes Thema genommen, man nimmt eine plakative Überschrift, man geht bewusst über die Grenzen des Comment hinaus, provoziert noch ein bisschen, am Ende macht man ein paar Fake News hinein, wie mit dieser Bundestagsdrucksache – und wunderbar, es wird sich ein politischer Gegner finden, der am Ende darauf anspringt. Sie haben das gemacht. Wenn Sie mich fragen, ob das eine Art ist, Politik zu betreiben, die wir gutheißen sollten, dann meine ich: Nein. Dass aber ausgerechnet die AfD auf dieses Muster reinfällt, das ist wirklich erstaunlich und abenteuerlich. Nur sollten Sie sich das nächste Mal vielleicht ein anderes Thema suchen. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Martin Reichardt für die AfD-Fraktion. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! ({0}) Walnussbäume mit einem Umfang von mehr als 60 Zentimetern dürfen ohne Genehmigung nicht gefällt werden. Autobahnen werden nicht gebaut, weil eine Fledermauskolonie schützenswert ist. Der Juso-Beschluss ermöglicht es nun, dass eine Nadel durch den Bauch der Mutter in das Herz des Ungeborenen gestoßen wird, um dessen Tod durch das Injizieren von Kochsalzlösung herbeizuführen. ({1}) Meine Damen und Herren, dieser Beschluss der Jusos ist eine Grausamkeit und Unmenschlichkeit, wie sie in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands einmalig ist. ({2}) Er ist ein Beschluss, dessen Umsetzung zu einer Aufnahme in die Reihe der größten Unmenschlichkeiten und Kulturbrüche der ganzen Menschheitsgeschichte führen würde. ({3}) Ungeborene Babys mit Armen und Beinen, die ihre Augen zum Schlafen schließen und die Berührungen durch die Bauchdecke wahrnehmen können, sollen laut diesem Beschluss keine Rechte in Deutschland mehr haben. Zitat: Irgendwelche Ungeborenen haben juristisch eh keine Rechte, sagte eine Genossin von Ministerin Giffey und von Frau Nahles. Gegnern, die dem widersprachen, wurde pathetische Rhetorik vorgeworfen. Ich nenne die Rhetorik der Jusos in der Frage zu werdendem Leben eine entmenschlichte Rhetorik, eine Rhetorik, die ans Ende der humanen Gesellschaft führt, meine Damen und Herren. ({4}) In China und auf dem Balkan werden Mädchen abgetrieben, weil Väter einen Stammhalter wollen, weil Mädchen dort nichts wert sind. ({5}) In Deutschland stellen die Jusos ein von Linken pervertiertes Selbstbestimmungsrecht der Frau über das ungeborene Leben. ({6}) Das ist ein Angriff auf das ungeborene Leben. Ich sehe dort keinen Unterschied zu jenen Vätern, die ihre Töchter abtreiben wollen, um einen Stammhalter zu zeugen. ({7}) Ich hätte von meinen ehemaligen Genossen – zum Glück sind sie es nicht mehr – eine klare Aussage erwartet, ein klares Nein zu diesem Beschluss, ({8}) ein klares Nein zum Töten von Kindern und ein lautes Ja zum Schutz menschlichen Lebens. ({9}) Ihr bis heute letztlich andauerndes Schweigen macht Sie zum Komplizen jener Menschenverächter, die bei den Jusos offensichtlich die Mehrheit stellen, meine Damen und Herren. ({10}) Im „Handelsblatt“ ruderte der Juso-Vorsitzende ­Kühnert denn auch politisch zurück. Er sagte: Es mag naiv ... gewesen sein zu glauben, man könne die Zurücknahme der geltenden Regeln fordern, ohne gleichzeitig einen konkreten Vorschlag zu unterbreiten ... Ein paar Sätze weiter sagt er: Uns ging es darum, in einer sensiblen ethischen Frage klar Position zu beziehen … Die klare Position der Jusos kennen wir: Ein ungeborenes Leben hat eben keine Rechte und ist infolgedessen auch nichts wert, meine Damen und Herren. ({11}) Weiterhin beklagt Herr Kühnert einen Shitstorm von vermeintlich Rechten, die mit „widerlichsten Methoden“ auf die notwendige Diskussion reagieren. Widerlich, meine Damen und Herren, ist nur eines, widerlich ist der Beschluss der Grünen – der Jusos. ({12}) – Aber die Grünen passen da ja auch mit rein. ({13}) Was Herr Kühnert einen Shitstorm nennt, das ist ein Aufstand der Anständigen, ({14}) ein Aufstand, der zeigt, dass die Zeit zu Ende geht, in der linke Ideologen jede Form der Perversion in gesellschaftlichen Fortschritt umdeuten können. ({15}) Es ist ein Aufstand derer, die anders als die Jusos noch über Menschlichkeit verfügen und den Willen haben, die Menschenrechte in Deutschland zu verteidigen und zu schützen. ({16}) Auf dem Bundeskongress der Jusos hat sich die unmenschliche Fratze linker Ideologie gezeigt, die Kinder tötet und überall von Humanität faseln will. ({17}) Die Menschen wollen kein pervertiertes Selbstbestimmungsrecht, das sich über ungeborenes Leben setzt. Sie wollen eine Familienministerin, die sich schützend vor kleine Hände, kleine Arme, kleine Beine stellt, vor he­ranwachsendes Leben. Das wollen die Menschen. ({18}) Die wichtigste Diskussion, die wir hier ethisch im Bundestag zu führen haben, meine Damen und Herren, ist die Diskussion, warum Frauen in Deutschland überhaupt zur Abtreibung genötigt sind. ({19})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Reichardt, setzen Sie bitte einen Punkt.

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich schließe mit dem Talmud – da werden Sie mich wohl nicht unterbrechen –: Wer ein Menschenleben rettet, dem wird es angerechnet, als würde er die ganze Welt retten. Und wer ein Menschenleben zu Unrecht auslöscht, dem wird es angerechnet, als hätte er die ganze Welt zerstört.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie kommen jetzt zum Schluss.

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen und Ihren Familien ein frohes Weihnachtsfest. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Leni Breymaier für die SPD-Fraktion. ({0})

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Reichardt, auch wenn Sie Ihre kruden Argumente in den Saal brüllen, haben Sie nicht für 5 Cent mehr recht. ({0}) Das ist ja wirklich unerträglich. ({1}) Ich weiß auch gar nicht, wie es bei der AfD zugeht. Bei uns werden Anträge geschrieben, werden Konferenzen abgehalten. Die Jusos haben einen Beschluss gefasst. Dieser Beschluss wird dem SPD-Bundesparteitag vorgelegt; da wird er diskutiert werden, da gehört das hin. Ich weiß gar nicht, was dieses Thema heute hier verloren hat. ({2}) Aber den Herrn Kühnert wird es sicher freuen. ({3}) Ich gehe nicht leichtfertig mit dem Thema um, weil ich mich noch gut erinnern kann, wie wir Jahrzehnte um den Kompromiss des § 218 StGB gerungen haben, den wir heute haben. Wir haben ihn mühsam miteinander erstritten. Wenn man die Debatten heute und auch in den letzten Monaten verfolgt hat, kann man sich vorstellen, was das für eine Leistung war. Trotzdem sage ich: Natürlich hat jede Generation das Recht, solche gefundenen Kompromisse infrage zu stellen. Das ist eigentlich auch die Pflicht jeder Generation. Ich freue mich, dass die Jusos das im Kern tun und dass wir die Debatten noch einmal führen. Das ist mir allemal lieber als Junge Liberale, die mir ihrer rückwärtsgewandten, strukturellen Nähe zum Rechtsextremismus frauenfeindlich bis zum Abwinken sind. Deshalb freue ich mich, dass die Jusos vielleicht auch mal übers Ziel hinausschießen. ({4}) – Junge Alternative. Entschuldigen Sie bitte ausdrücklich! ({5}) So ist es halt; ich meinte Sie. Aber ich habe ja sofort gemerkt, dass Sie sich angesprochen gefühlt haben. ({6}) Ich finde, dass wir auch berücksichtigen sollten, dass wir es mit der Debatte um den § 218 StGB und seiner Beratungspflicht bundesweit und auch in Baden-Württemberg zusammen geschafft haben, dass wir inzwischen die historisch niedrigste Abbruchrate haben, die wir je hatten. ({7}) Insofern sollten wir das, was als Kompromiss gefunden wurde, nicht infrage stellen. ({8}) Meine Kolleginnen und Kollegen, Ziel jeder Debatte über Abtreibungen muss es sein, dass Frauen selbstbestimmt entscheiden können, und jede Frau trifft ihre Entscheidung nicht leichtfertig, sondern verantwortungsbewusst. Wir wissen auch, dass die Anzahl der Abtreibungen in den unterschiedlichen Ländern nicht unbedingt davon abhängt, ob Straffreiheit vorherrscht oder nicht. Die Anzahl der Abtreibungen hängt davon ab, was Frauen für ihre Kinder an Rahmenbedingungen sehen. ({9}) Zu diesen Rahmenbedingungen gehören natürlich Dinge wie: Finde ich eine bezahlbare Wohnung für die größer werdende Familie? Gibt es eine anständige Kinderbetreuung? Das sind Dinge, an denen wir arbeiten. Die Anzahl der Abtreibungen hängt auch davon ab, wie gut oder schlecht und wie flächendeckend die Sexualaufklärung an den Schulen ist und wie niedrigschwellig der Zugang zu Verhütungsmitteln. Darüber haben wir uns zu unterhalten und nicht über irgendwelche Fantasien, die Sie hier ausleben. ({10}) Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, Herr Gauland: Mit einer Partei, die es gerade einmal schafft, 10,6 Prozent Frauen in dieses Parlament zu schicken, rede ich nicht über eine so elementare Frauenfrage. ({11}) Was mir noch wichtig ist und vielleicht dazu führt, dass die Anzahl der Abtreibungen auch bei uns sinkt, ist, dass sich die Männer nicht nur als Erzeuger sehen, sondern auch das Selbstverständnis haben, sich an der Sorgearbeit zu beteiligen. ({12}) Ich schließe mit dem Satz: Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, jedes Kind hat das Recht, erwünscht zu sein. ({13}) Ich freue mich, die Debatte dort fortsetzen zu können, wo sie hingehört, nämlich beim SPD-Bundesparteitag. Da werden Sie leider nicht dabei sein. ({14}) Schönen Dank. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Frauke Petry. ({0})

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte meine Rede mit einem Dank beginnen. Er geht überraschenderweise an die Jungen Sozialisten. Jahrelang mussten sich christliche und konservative Politiker vorwerfen lassen, sie führten Scheingefechte. Das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche sei nicht so schlimm. Heute, nach dieser Aktuellen Stunde, weiß das ganze Land, was Ihre eigentliche Agenda ist. Wer hier heute bestreitet, dass die rechtliche Konsequenz der Streichung des § 218 StGB die Legalisierung der Abtreibung – im schlimmsten Fall bis zur Geburt – ist, ist entweder naiv oder grob unehrlich. Niemand soll vermuten, dass deswegen die Diskussion derer, die das wünschen, nach der Abschaffung des § 219a StGB vorbei sei. Niemand soll vermuten, bei der Abtreibung bis zum neunten Monat sei das Ende der Debatte erreicht. Es stellt sich dann die zwingende Frage, warum ein Kind, das vielleicht mit acht Monaten auf die Welt kommt, mehr Recht auf Leben haben soll als eines, das mit acht Monaten noch im Mutterleib lebt. Die logische Folge – sie ist Realität, nicht Fiktion –: Im „Journal of Medical Ethics“ vertraten bereits 2011 zwei australische Forscher den Standpunkt, dass die Tötung von Kindern auch nach der Geburt möglich sei, als sogenannte – man höre – postnatale Abtreibung; denn eine Person ist ein Baby nach Auffassung der Lebensfeinde ebenso wenig im Mutterleib wie auch in den ersten Monaten nach der Geburt. Wir hören heute viel von Selbstbestimmungsrechten der Frau. Tatsache ist jedoch: In 50 Prozent der Fälle stehen Frauen unter externem Druck. Ich rede von Arbeitgebern, von Vätern und von anderen, die Druck auf Frauen, auf Mütter ausüben, die gerade deshalb zu keiner freien Entscheidung mehr kommen. Wenn es Ihnen also heute tatsächlich um die Selbstbestimmtheit der Frau geht, dann erwarte ich Sie an dieser Stelle an unserer Seite, an der Seite der blauen Partei, dann erwarte ich, dass der externe Druck auf Frauen endlich aufhört. Wir müssen diejenigen unter Strafandrohung stellen, die diesen Druck auf Frauen in einer emotionalen Ausnahmesituation ausüben. Wer auch immer Druck auf eine schwangere Frau ausübt, damit diese eine Abtreibung durchführt, muss bestraft werden. Wir können damit vermutlich bis zur Hälfte aller Abtreibungen in Deutschland verhindern. Schwangerschaft ist keine Krankheit, kein Schönheitsfehler und kein Mangel. Sie ist der Ausdruck natürlichster Weiblichkeit. Bismarck hat gesagt: Einer Frau mit Kinderwagen hat selbst der stolzeste Soldat von Sedan aus dem Weg zu gehen. – Das ist ein Gesellschaftsbild, von dem wir meilenweit entfernt sind. Helfen wir dabei, dass wir den Wert neuen Lebens wieder wertschätzen. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass Frauen wieder mehr Vertrauen haben, das Leben mit Kind zu meistern. Beseitigen wir auch praktische Hemmnisse für Familien mit kleinen Kindern; in Zügen, Flughäfen und Taxen kommen sie sich oft – das weiß ich aus eigener Erfahrung – wie Behinderte zweiter Klasse vor. Sorgen wir mit einem Familiensplitting und mit Abgabensenkungen dafür, dass die familiäre Abhängigkeit von staatlicher Umverteilung beendet wird. Stellen wir heute gemeinsam die Weichen dafür, dass der Begriff „Menschenwürde“ Kindern wie Müttern wieder gerecht wird. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, das Thema Lebensschutz muss für uns alle so wichtig sein, dass wir auch an die Debatte den Anspruch erheben, sie ohne Provokation zu führen und ohne spalten zu wollen. Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Das ist Ihnen von der AfD heute bei weitem nicht gelungen. Aber das ist auch Ihnen von den Linken nicht gelungen. Und ja, selbstverständlich: Den Jusos ist es schon gar nicht gelungen. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, will ich sagen: Schauen Sie sich diese Debatte an. Was mir da zu sagen bleibt, ist: Das sind die Geister, die Sie gerufen haben, ({0}) und zwar an dem Tag, an dem Sie eine Gemeinschaft geschlossen haben mit den Linken, den Grünen und der FDP zur Abschaffung von § 219a. Da haben Sie die Büchse der Pandora geöffnet. Und diese Debatte ist überflüssig; denn wer sich mit der Materie beschäftigt, der muss sagen: Die §§ 218 bis 219 sind ein sehr austariertes System und wirklich feingliedrig unterlegt mit der Rechtsprechung des BGH und auch des Bundesverfassungsgerichts. Man muss ehrlicherweise sagen, dass es denjenigen, die die ganze Zeit für die Abschaffung des § 219a eingetreten sind, eigentlich nur gelungen ist, diese Debatte am Leben zu halten, indem sie immer wieder Falschbehauptungen ins Feld geführt haben. ({1}) Da ist zum Beispiel gesagt worden – auch heute wieder –: Schwangere in unserem Land bekommen ja keine ausreichenden Informationen, wenn sie über eine Abtreibung nachdenken. ({2}) Das sagt sogar die FDP. ({3}) Die FDP will die Partei der Digitalisierung sein. Kollege Thomae, Sie werden Google kennen. Wenn Sie das Wort „Schwangerschaftskonfliktberatung“ bei Google eingeben, dann bekommen Sie in 0,43 Sekunden 293 000 Treffer. ({4}) Wenn ich das auf meinen Regierungsbezirk runterbreche, bekomme ich in derselben Zeit 16 900 Treffer, und wenn ich die Suche auf meinen Wahlkreis beschränke, bekomme ich 2 130 Treffer. Das sind natürlich nicht alles Beratungsstellen, ({5}) aber es sind zahlreiche unabhängige Beratungsstellen dabei, die man mit Adresse und Telefonnummer aufgeführt bekommt, unterlegt mit einer Landkarte, die zeigt, wie man hinkommt. Dort bekommt man dann neutrale Beratung, kostenlose Beratung und auf Wunsch eben auch anonyme Beratung. ({6}) Dann wird gesagt: Die Rechtsunsicherheit für Ärztinnen und Ärzte – auch das ist heute wieder angeklungen – in unserem Land ist viel zu groß. Die wissen gar nicht, was sie tun sollen. – Das kann ich überhaupt nicht teilen. Die Regelung in § 219a ist so klar, dass es klarer gar nicht geht. Das zeigt im Übrigen auch die juristische Relevanz dieser Norm. In Bayern hat es in den Jahren 2010 bis 2017 einen einzigen Fall strafrechtlicher Art gegeben, wo § 219a eine Rolle gespielt hat. Das spricht meines Erachtens schon dafür, dass die Regelung offensichtlich sehr klar sein muss. ({7}) Und dann heißt es: Ja, aber bei einer Knie-OP ist es ja auch so, dass der Arzt, der mich informiert, auf seine Homepage schreiben kann, dass er diese Leistung anbietet. – Aber liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns schon einmal vor Augen führen – das ist heute auch angeklungen –, dass das Bundesverfassungsgericht gesagt hat: Ein Schwangerschaftsabbruch darf keine Normalität sein. ({8}) Er darf eben nicht kommerzialisiert werden. Und das unterscheidet den Schwangerschaftsabbruch von einer Knie-OP. ({9}) Es ist nämlich ein Eingriff in menschliches Leben. ({10}) Und man merkt an Ihrer Erhitzung, ({11}) dass Sie das offensichtlich überhaupt nicht verstanden haben. ({12}) Wir leben in einem Land, in dem wir Werbeverbote für Arzneimittel, Tabak und Glücksspiel haben, und ich sage Ihnen: Das muss dann erst recht im Bereich der Abtreibung gelten. ({13}) In der Vergangenheit hieß es dann immer: Ja, aber den Lebensschutz wollen wir ja nicht antasten. Aber wenn wir den nicht antasten wollen, warum reagieren Sie denn dann jetzt so erhitzt? ({14}) Ich hoffe, dass wir mit dem Kompromiss, wie er jetzt vorliegt, tatsächlich zu einer sachgerechten Lösung kommen. Ich bedauere, dass die Debatte heute gezeigt hat, dass wir in Sachen Lebensschutz offensichtlich in manchen Bereichen immer noch keinen gesellschaftspolitischen Konsens haben. Den hätte ich gerne hergestellt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Sarah Ryglewski für die SPD-Fraktion. ({0})

Sarah Ryglewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss ganz ehrlich sagen: Jetzt, am Ende dieser Debatte, bin ich doch einigermaßen erschüttert, wie unwürdig sie teilweise gerade von denen geführt wurde, ({0}) die den Begriff „Lebensschutz“ im Munde geführt haben. Meine Damen und Herren von der AfD, das gilt für Sie im Besonderen. Ich sage Ihnen auch ganz genau, warum. Ich finde es wirklich erschütternd, welch unterschiedliche Maßstäbe Sie als AfD im Allgemeinen und ganz besonders Sie, Frau Storch, an das menschliche Leben anlegen. ({1}) Auf der einen Seite wird von Ihnen das ungeborene menschliche Leben absolut gesetzt. Die Rechte von Frauen und die Auswirkungen, die eine ungewollte Schwangerschaft vielleicht auf ihr weiteres Leben hat, spielen bei Ihnen keine Rolle. ({2}) Auf der anderen Seite schweigen Sie zu vielen Tausend Menschen, die jedes Jahr im Mittelmeer ertrinken; ({3}) auch das ist menschliches Leben. ({4}) Im besten Falle schweigen Sie dazu. Im schlimmsten Falle wird das von Ihnen noch begleitet mit einer Aussage nach dem Motto: Wer sich in Gefahr begibt, der kommt eben darin um. – Ich unterstelle einfach einmal, dass Sie da mit zweierlei Maß messen, weil es sich bei den einen um Menschen in Deutschland handelt und bei den anderen um Musliminnen und Muslime, und die haben ja bei Ihnen eh relativ wenig Rechte. ({5}) Frau Storch ist ja sogar der Meinung, dass man auf Frauen und Kinder, die die deutsche Grenze überschreiten wollen und die vor Not, Krieg und Vertreibung geflohen sind, schießen solle. So viel zum Thema Lebensschutz und zu den Maßstäben, mit denen Sie messen. ({6}) Kommen wir einmal zu der Grundlage, die diese Debatte ausgelöst hat. Das kann man gar nicht oft genug betonen; denn es ist einfach peinlich, was Sie sich da rausgegriffen haben. Ja, es gibt einen Beschluss der Jusos, §§ 218 und 219 zu streichen und in das Schwangerschaftskonfliktgesetz zu überführen. Darüber kann man streiten. Aber es gibt diesen Beschluss, und alles andere, was Sie hier ausgeführt haben, sind einfach Fake News. ({7}) Im Beschluss der Jusos steht nichts, aber auch gar nichts von Abtreibung im neunten Monat. Der Vorsitzende der Jusos, Kevin Kühnert, hat am 11. Dezember 2018 im „Handelsblatt“ – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin – gesagt: Nichts dergleichen wollen wir, nichts dergleichen haben wir beschlossen. ({8}) Klarer kann man es nicht formulieren. Für mich gelten die Beschlusslage und die Aussagen des Vorsitzenden der Jusos. Dieser ist demokratisch gewählt. Die Beschlüsse sind demokratisch gefasst worden. So funktioniert das in der SPD. So funktioniert das auch bei den Jungsozialistinnen und Jungsozialisten. Wenn Sie das bei der AfD nicht kennen, kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. ({9}) Aber es gilt nicht Ihre Interpretation der Beschlusslage der Jusos. So viel zur dünnen Grundlage Ihrer Aktuellen Stunde. Ich möchte einfach noch einmal darauf hinweisen, was die Auswirkungen der Art und Weise sind, wie Sie diese Debatte führen. Die Kollegin Kiziltepe hat mir gerade gesagt, dass die Jungsozialistin, die auf dem Bundeskongress dafür gesprochen hat, mittlerweile Morddrohungen bekommt. Da sind wir wieder beim Thema Lebensschutz. Man kann über dieses Thema streiten und über die Frage, wann Abtreibungen erlaubt sind und wie sie geregelt sind. Das ist eine zutiefst ethische Debatte, etwas, was unser persönliches Empfinden anrührt wie nichts anderes. Es gibt aber auch Frauen – das muss man einfach einmal so deutlich sagen, Herr Hoffmann –, für die eine Schwangerschaft vielleicht nicht ein Geschenk ist, wie bei vielen anderen Frauen, die sich ein Kind wünschen, für die das eine Konfliktsituation bedeutet. Dann findet doch genau derselbe Abwägungsprozess statt, den wir hier immer im Parlament zu führen haben. Natürlich fragt sich eine Frau: Was für ein Empfinden habe ich gegenüber dem Kind, das in meinem Körper ist? Wie steht das im Verhältnis zu dem, was ich mir vielleicht für mein eigenes Leben in Zukunft wünsche? – Das ist ihr gutes Recht. Wir haben zum Glück reproduktive Selbstbestimmung in diesem Land; dafür haben wir lange gekämpft als Frauen und zum Glück auch mit vielen Männern. Natürlich stellt sich eine Frau auch die Frage – und das ist, finde ich, eine richtige Frage –: Bekomme ich Unterstützung, wenn ich ein Kind habe? Kann ich diesem Kind überhaupt etwas bieten? – Das ist der Konflikt, in dem diese Frauen sind und den sie am Ende immer mit sich alleine werden austragen müssen. Was wir brauchen, ist eine vernünftige Unterstützung für die Frauen, die in diese Konfliktsituation kommen. Einen Satz noch zu § 219 a, und damit komme ich dann auch zum Schluss: Ich möchte nicht, dass Frauen während eines individuellen Entscheidungsprozesses vor einem Computer sitzen und Google konsultieren müssen und dabei möglicherweise auf die Seiten selbsternannter Lebensschützer kommen, die genau das machen, was Sie, Frau von Storch, am Anfang ausgeführt haben, nämlich zerstückelte Föten zeigen und Frauen, die abtreiben wollen, mit Mörderinnen gleichsetzen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Das ist nicht das, was wir wollen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin.

Sarah Ryglewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir wollen, dass Frauen durch einen vernünftigen Informationsprozess zu einer guten Entscheidung für sich und das ungeborene Leben kommen. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das heutige Recht, die §§ 218, 218a, 219, 219a, ist Resultat einer großen gesellschaftlichen Auseinandersetzung und das Ergebnis der Konsequenzen, die der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 gezogen hat. Ich finde, dass es dieser Debatte guttut, an die Wertungen, die das Bundesverfassungsgericht damals vorgenommen hat, zu erinnern; denn ich glaube, dass diese Wertungen, die Grundlage waren für die Schaffung des heutigen Rechts, auch heute noch Bestand haben. Das Grundgesetz – so heißt es im ersten amtlichen Leitsatz dieses Urteils – verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. Diese Schutzpflicht hat ihren Grund in Art. 1 Abs. 1 GG; ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt. Menschenwürde – so das Bundesverfassungsgericht – kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu. Die Rechtsordnung muß die rechtlichen Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines eigenen Lebensrechts des Ungeborenen gewährleisten. Dieses Lebensrecht wird nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet. ({0}) Dass die Annahme seitens der Mutter eine gewissermaßen unerlässliche Voraussetzung für das Gedeihen des Kindes ist, stimmt; aber sie wird nicht erst dadurch begründet, dass die Mutter das Kind annimmt. Im zweiten amtlichen Leitsatz heißt es: Die Schutzpflicht für das ungeborene Leben ist bezogen auf das einzelne Leben, nicht nur auf menschliches Leben allgemein. Dritter Leitsatz: Rechtlicher Schutz gebührt dem Ungeborenen auch gegenüber seiner Mutter. Ein solcher Schutz ist nur möglich, wenn der Gesetzgeber ihr einen Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verbietet und ihr damit die grundsätzliche Rechtspflicht auferlegt, das Kind auszutragen. Das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes sind zwei untrennbar verbundene Elemente des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes. Im Weiteren führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass es bei der Reichweite der Schutzpflicht im Blick auf die Bedeutung und Schutzbedürftigkeit des Kindes auf die Abwägung damit kollidierender anderer Rechtsgüter ankommt: Als vom Lebensrecht des Ungeborenen berührte Rechtsgüter kommen dabei – ausgehend vom Anspruch der schwangeren Frau auf Schutz und Achtung ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) vor allem ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit … sowie ihr Persönlichkeitsrecht … in Betracht. – Dagegen kann die Frau für die mit dem Schwangerschaftsabbruch einhergehende Tötung des Ungeborenen nicht eine grundrechtlich in Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Rechtsposition in Anspruch nehmen. Ich glaube, es ist relativ wichtig, sich diesen Rahmen, in dem wir handeln, noch einmal vor Augen zu führen. Abgesehen davon, wie Einzelne zu der Frage stehen: „Wollen wir da etwas ändern oder nicht?“, glaube ich, dass dieser Rahmen ein Bezugspunkt ist, der auch verhindert, dass diese Debatte zu einer gesellschaftlichen Polarisierung führt, die mehr Unfrieden als Hilfe erzeugt. Jetzt zu diesem Juso-Beschluss. Ich glaube, richtig ist, dass die Jusos wahrscheinlich nicht festlegen wollten, ab welchem Zeitpunkt der strafrechtliche Schutz gelten soll. Sie haben im Grunde genommen die Dreimonatsfrist problematisiert. Es gab auf dem Juso-Bundeskongress mehrere Anträge, andere Fristen zu nennen. ({1}) Es gab auch Anträge, die dafür geworben haben, es an bestimmte Konditionen zu binden. Aber das größte Problem ist, finde ich jedenfalls, die Zustimmung zu einem Satz des Grünen-Gesetzentwurfs von 1991, Bundestagsdrucksache 12/696. Darin steht, dass „die Festlegung einer Frist, nach deren Ablauf eine Abtreibung verboten ist, unterstellt, daß Frauen nicht dazu in der Lage sind, selbständig die für sie richtige Entscheidung zu treffen“. Das kann man in der Tat als Absage an jede Frist werten, selbst wenn das die Autoren, die ja darauf verweisen, dass es ein anderes Gesetz brauche, in dem man die Dinge regelt, so nicht aussprechen wollten. Der Gesetzentwurf, der zustimmend zitiert wird, enthält eine Absage an jede Frist.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Henke, achten Sie bitte auf die Zeit.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. – Damit sind die Jusos, auch wenn sie das Problem inzwischen registriert haben, ein Mitauslöser dafür, dass der Eindruck entstehen konnte, es würde an keine Frist gedacht. ({0}) Ich glaube, dass – –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Henke, tun Sie mir bitte den Gefallen, dass ich jetzt nicht auf den Knopf drücken muss, und setzen Sie selbst den Punkt.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das will ich gern tun. – Ich werbe dafür, diese Debatte so zu führen, wie ich versucht habe sie zu beenden, und nicht, wie sie gestartet ist. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich habe die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Wahlergebnisse bekannt zu geben und bitte um die notwendige Aufmerksamkeit. Wir kommen zum Ergebnis des zweiten Wahlgangs einer Stellvertreterin des Präsidenten des Deutschen Bundestages: Im Deutschen Bundestag haben wir aktuell 709 gewählte Mitglieder; es wurden 659 Stimmzettel abgegeben, es gab keine ungültige Stimme. Mit Ja haben 241 Abgeordnete gestimmt, mit Nein haben 377 Abgeordnete gestimmt, und es gab 41 Enthaltungen. Die Abgeordnete Mariana Iris Harder-Kühnel hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen nicht erreicht. Sie ist zur Stellvertreterin des Präsidenten nicht gewählt. Ich komme zum Ergebnis über die Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums gemäß § 10a der Bundeshaushaltsordnung: abgegebene Stimmen 650, ungültig war 1 Stimmzettel. Mit Ja haben 224 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 386 Abgeordnete, 39 haben sich enthalten. Der Abgeordnete Marcus Bühl hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen nicht erreicht. Er ist als Mitglied des Vertrauensgremiums gemäß § 10a der Bundeshaushaltsordnung nicht gewählt. Wir kommen zum Ergebnis der Wahl von zwei ­Mitgliedern des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes, Bundesfinanzierungsgremium: abgege­­be­ne Stimmen 647. Mit Ja haben für den Abgeordneten Albrecht Glaser 157 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 445, 45 Abgeordnete haben sich enthalten. Auf den Abgeordneten Volker Münz entfielen 225 Jastimmen. 369 Abgeordnete haben mit Nein gestimmt. 48 haben sich enthalten. In diesem Fall gab es 5 ungültige Stimmen. Die Abgeordneten Albrecht Glaser und Volker Münz haben die erforderliche Mehrheit nicht erreicht. Wir kommen zum Ergebnis der Wahl eines Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene Stimmzettel 647 , ungültig war keine. Mit Ja haben 212 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 403 Abgeordnete, 32 haben sich enthalten. Der Abgeordnete Peter Boehringer hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen nicht erreicht. Er ist als Mitglied des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes nicht gewählt. Wir kommen zum Ergebnis der Wahl eines stellvertretenden Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene Stimmzettel 646, ungültig waren 2 Stimmzettel. Mit Ja haben 203 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 403 Abgeordnete. Es gab 38 Enthaltungen. Die Abgeordnete Dr. Birgit Malsack-Winkemann hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 Stimmen nicht erreicht. Sie ist als stellvertretendes Mitglied des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes nicht gewählt. Das sind die Ergebnisse der heute durchgeführten Wahlgänge. Die AfD-Fraktion hat mir den Wunsch auf Unterbrechung der Sitzung zur Durchführung einer Fraktionssitzung übermittelt. Ich gehe davon aus, dass alle Fraktionen damit einverstanden sind. – Ich unterbreche die Sitzung bis 17 Uhr. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es noch nicht ganz halb sechs, aber es sind alle Rednerinnen und Redner im Saal. Deswegen eröffne ich die Sitzung wieder.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schön, dass Sie alle wieder da sind. Anfang Oktober sind fast eine Viertel Million Menschen in Berlin auf die Straße gegangen. Sie haben mit ihrer Präsenz dort ein Zeichen gegen Rassismus und Abschottung gesetzt, für Toleranz und Weltoffenheit, dafür, dass Menschenrechte unteilbar sind. Was für ein großartiger Tag war das in Berlin! ({0}) Diese Erkenntnis verdanken wir der Weltgemeinschaft, die sich vor 70 Jahren auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte geeinigt hat. Gerade einmal drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschworen die Staaten die Würde und die unveräußerlichen Rechte eines jeden einzelnen Menschen – ein Bekenntnis und ein Auftrag zugleich. Seitdem haben wir, wie ich finde, viel erreicht. ({1}) Wir können heute auf ein stabiles System zum Schutz der Menschenrechte zurückgreifen: der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf, die Hochkommissarin für Menschenrechte, die Überwachungsausschüsse, die es gibt, und die vielen Mandatsträgerinnen und Mandatsträger der Vereinten Nationen. Doch wir wissen mittlerweile: Dieses System ist auch nicht unumstößlich. Mit den USA ist ausgerechnet einer der traditionell stärksten Partner in der Menschenrechtspolitik aus dem Menschenrechtsrat ausgetreten. Das zeigt, dass wir in Zeiten leben, in denen es keine Selbstverständlichkeiten gibt. Vielmehr müssen wir das Erreichte entschieden verteidigen. ({2}) Wir sehen besorgt weltweit dramatische Menschenrechtsprobleme, in China und Myanmar bis Saudi-Arabien und bei vielen anderen. Wir nutzen die Kanäle, die wir haben, natürlich auch den Menschenrechtsrat, um Missstände anzusprechen. Aber das ist keine Einbahnstraße. Auch wir wurden zum Beispiel nach den Vorfällen in Chemnitz mit deutlicher internationaler Kritik im Rahmen des Staatenüberprüfungsverfahrens konfrontiert. Ja, auch das zeigt, dass die Gremien, die wir haben, funktionieren. Wir müssen auch vor unserer eigenen Haustür kehren, wenn wir weltweit für Menschenrechte eintreten wollen; denn nur so bleiben wir wirklich glaubwürdig. ({3}) Deshalb hat die Bundesregierung – um nur ein Beispiel zu nennen – in der vergangenen Woche 7 000 deutsche Unternehmen angeschrieben und für die weltweite Umsetzung ihrer menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht geworben. Denn eines ist doch klar: Ohne die Umsetzung der Menschenrechte bleiben Frieden und Sicherheit fragil und auch Entwicklung und Wohlstand nicht nachhaltig gesichert. Dafür braucht es nicht nur Regierungen, die ihre Verpflichtungen ernst nehmen, und eine unabhängige Justiz. Es braucht vor allen Dingen auch eine engagierte Zivilgesellschaft. ({4}) In vielen Teilen der Welt – auch das darf nicht unausgesprochen bleiben – sehen wir jedoch, wie sich die Freiräume der Zivilgesellschaft verengen. Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und NGOs werden an vielen Stellen der Welt eingeschüchtert und drangsaliert. Auch für deren Schutz müssen wir uns einsetzen, wenn wir es mit den Menschenrechten ernst nehmen. ({5}) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen: Warum haben wir als Europäische Union eigentlich kein Instrument – wir haben keines! –, um Menschenrechtsverletzer weltweit mit Sanktionen zu belegen? Genau darüber werden wir in den nächsten Wochen mit unseren europäischen Partnern reden; denn es gibt eine entsprechende Initiative aus den Niederlanden, die auch wir unterstützen werden. ({6}) Wir unterstützen außerdem die Initiative eines Peer Review, eines Mechanismus, in dem sich alle teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten gegenseitig einer Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit unterziehen. Rechtsstaatlichkeit als Grundwert sollte nämlich in der EU einen und nicht spalten. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Herausforderungen ändern sich auch. Wir sind heute mit Herausforderungen konfrontiert, die so vor 70 Jahren noch nicht bestanden. Globalisierung, Digitalisierung, Migration, Klimawandel – alles ist grenzenlos. Das Klima der Welt verändert sich rasant, auch wenn mancher noch immer Klima und Wetter verwechselt. ({8}) Es ist nicht nur ein Umweltproblem, um das es da geht, sondern es ist längst auch ein Menschenrechtsproblem, wenn der Meeresspiegel steigt und Wetterextreme den Zugang zu sauberem Wasser gefährden. Das zeigt, dass es bei den Menschenrechten um viel mehr geht als das, was wir den klassischen Menschenrechtsschutz nennen. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von neuen Themen. Die Verbindung von Klima und Sicherheit ist darunter eines, das wir zu einem Schwerpunktthema unserer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erklärt haben. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Entwicklung, der Zusammenhang zwischen Klima und Sicherheit, führt unweigerlich dazu, dass es mehr Migration geben wird. Umso gewichtiger erscheint das, was wir jetzt mit dem Globalen Migrationspakt erreicht haben. Er ist nämlich eine Voraussetzung dafür, auch auf diese globale Entwicklung eine Antwort zu geben. ({10}) Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen. So heißt es im ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Satz meint alle – hier, aber auch draußen und überall auf der Welt. Das Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten ist der Kern dessen, was unsere Gesellschaft zusammenhält. ({11}) – „Nee“ ruft da einer dazwischen? ({12}) Das Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten ist der Kern dessen, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Wer das nicht erkennt und wer das nicht für richtig hält, stellt sich außerhalb unserer Gesellschaft, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({13}) Es darf deshalb keine Rolle spielen, woher man kommt. Es darf auch keine Rolle spielen, woran man glaubt. Es darf auch keine Rolle spielen, wen man liebt. Wenn wir uns heute weltweit für Menschenrechte engagieren, dann machen wir das auch aus dieser Überzeugung heraus. Ich frage: Wer, wenn nicht wir, die freiheitlichen Demokratien, soll das machen? ({14}) Ich weiß, dass auch hier im Deutschen Bundestag wichtige Beiträge dazu geleistet werden, nicht nur in den Debatten und mit dem, was wir hier beschließen. Ich denke auch an das Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“, bei dem einige von Ihnen Patenschaften für gefährdete Abgeordnete anderer Länder übernehmen. Auch das hat etwas mit Freiheit und mit Menschenrechten zu tun. ({15}) Für Menschenrechte muss man überall eintreten: in Berlin, in Peking, in Chemnitz genauso wie in Moskau. Am Schluss liegt es an uns selbst, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit Leben zu füllen. Herzlichen Dank. ({16})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Heiko Maas. – Nächster Redner in der Debatte: Jürgen Braun für die AfD-Fraktion. ({0})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor 70 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet. Sie ist eines der großen Dokumente der Menschheit. Der große Staatsrechtslehrer Josef Isensee nannte sie eine Weltmission. Diese Menschenrechte wurden unter dem unmittelbaren Eindruck des barbarischen Mordens der NS-Diktatur und anderer totalitärer Regime verfasst. Sie haben geholfen, Generationen von Menschen in vielen Ländern ein friedliches und freiheitliches Leben zu ermöglichen. Das können wir mit großer Dankbarkeit heute feststellen. ({0}) Die Menschenrechte haben eine tiefe Wurzel in Europa. ({1}) Die Magna Charta libertatum datiert bereits aus dem 13. Jahrhundert. Martin Luther, John Locke und Charles-Louis Montesquieu – das wahre Europa ist mehr als das Verteilen von Geldern und die Befriedigung immer neuer Ansprüche. ({2}) Es geht um die Unverletzlichkeit des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit, Schutz vor politischer Verfolgung, Freiheit der Meinung und viele andere Grundrechte. ({3}) Wenn ich mir aber den heutigen Antrag der Grünen anschaue, stelle ich fest, dass es nur um Befriedigung von immer neuen Ansprüchen geht. Sie, liebe Grüninnen und Grüne, ({4}) begreifen doch die große Tradition der Menschenrechte, die große Tradition hier in Europa, gar nicht. ({5}) Die Menschenrechte sind in Gefahr. Sie werden uminterpretiert und entstellt, und das nicht nur von den Vertretern der linksgrünen Hypermoral hier im Deutschen Bundestag, sondern auch von deren neuen Verbündeten, den radikalen Moslems. Die Menschenrechte sind im Zangengriff der Menschenfeinde. ({6}) Seit Generationen haben sich die schlimmsten Diktaturen übrigens immer wieder auf die sogenannten kulturellen und sozialen Menschenrechte berufen, um abzulenken von ihrer Schreckensherrschaft. ({7}) Artikel 13 Absatz 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lautet – ich zitiere wörtlich mit Erlaubnis der Präsidentin –: Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren. Ich sage Ihnen das gerne nochmals konkret: Es gibt kein Menschenrecht auf das Eindringen in ein fremdes Land. Es gibt dagegen sehr wohl ein Recht, sein Land zu verlassen und in Freiheit wieder zurückzukehren. Die Opfer der SED-Diktatur wissen ganz genau, wovon ich spreche. ({8}) Auch die Täterseite, die vierfach umbenannte SED hier links von mir, Ihre Partei hat dieses Menschenrecht jahrzehntelang mit Füßen getreten. Sie hat auf Menschen schießen lassen, die von Deutschland nach Deutschland wollten und von einem Teil Berlins in den anderen, hier vor unserer Tür, hier direkt am Reichstag, wenige Meter von uns entfernt. ({9}) Heute ist es wieder die mehrfach umbenannte SED, die die Erinnerung an die kommunistischen Verbrechen tilgen möchte. Der Mann, der am meisten für die Aufarbeitung des SED-Unrechts getan hat, wird entlassen: Hubertus Knabe. ({10}) Hubertus Knabe wird aus der von ihm geschaffenen und geleiteten Gedenkstätte hinausgedrängt. Dieses Beispiel der Schande macht Schule. ({11}) – Ja, Herr Brand. – Sie haben Helfershelfer in den anderen Parteien, auch in den Unionsparteien, sogar auf der Regierungsbank, Frau Grütters. ({12}) Ihr Verhalten in dieser Sache ist enttäuschend, um es vorsichtig auszudrücken, verdammt vorsichtig. ({13}) Meine Damen und Herren, schauen Sie sich dieses winzig kleine Deutschland doch mal auf dem Globus an. ({14}) Oft genug ist dennoch Gefahr ausgegangen vom deutschen Größenwahn. Und heute? Der aktuelle Größenwahn ist die linksgrüne Hypermoral. Geld umverteilen und mannigfaltige Rechte gleich mitverschenken. Mit deutschem Geld, am deutschen Geld und deutschen Wesen soll die ganze Welt genesen offenbar. ({15}) Nirgendwo auf der Welt gibt es ein umfassendes subjektives Grundrecht auf Asyl. Nur hier bei uns in Deutschland ist das anders. ({16}) Und dann wird auch noch so getan, als sei es das selbstverständliche Recht aller illegalen Migranten, hier Geldleistungen und Wohltaten zu erhalten. ({17}) Vor dem Missbrauch des Menschenrechts für alles und jedes, für Kleinigkeiten warnte schon der große Staatsrechtslehrer Günther Dürig. ({18}) Er verwahrte sich dagegen, mit der Menschenwürde, so wörtlich, in „kleiner Münze“ zu handeln, den Begriff „Menschenwürde“ für alles und jedes zu missbrauchen. Und genau das tun Sie hier tagtäglich im Deutschen Bundestag – genau das. ({19}) Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war zunächst formal nicht bindend, aber weite Teile gelten heute als Völkergewohnheitsrecht. Nun schauen Sie auf den Migrationspakt. ({20}) Angeblich ist der auch nicht verbindlich; so will es uns Frau Merkel verkaufen. Noch einmal: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist verbindlich geworden . Wie lange wird also der Migrationspakt wohl angeblich unverbindlich bleiben? Frau Merkel hat diesen Pakt maßgeblich betrieben. ({21}) Unverbindlich ist er nur nach der Lesart weniger, nach der Lesart der Physikerin Merkel und des Wirtschaftsanwalts Harbarth ({22}) zum Beispiel. Führende Völkerrechtler sehen das ganz anders. Lassen Sie mich es klar und deutlich sagen: Dieser Pakt wird leider sehr bald seine Verbindlichkeit entfalten – leider. ({23}) Für die universellen Menschenrechte gibt es noch eine weitere Gefahr. Sie kommt aus dem Islam. Verräterisch ist da die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam. ({24}) Nur unter dem Vorbehalt der Scharia sollen die Menschenrechte gelten. ({25}) Hören wir der iranischen Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi zu – Zitat –: Wenn diese Länder ihre Erklärung aber als Gegenentwurf zur Allgemeinen Menschenrechtserklärung verstehen, sind sie auf einem Irrweg. In Kairo habe ich im November den ranghöchsten Geistlichen der sunnitischen Moslems weltweit gefragt, Großscheich Ahmad al-Tayyib von der Al-Azhar-Universität. Persönlich fragte ich ihn nach der Gültigkeit der Menschenrechte für die islamische Welt. Der Großscheich sagte wörtlich – ich zitiere –: Die Menschenrechte schätzen wir, sofern sie mit den Grundsätzen des Islam konform gehen. – Der Großscheich gibt es damit zu: Die Scharia steht für Moslems als Rechtsnorm über den international anerkannten Menschenrechten. ({26}) Der Großscheich vertritt die inzwischen größte ideologische Staatengruppe innerhalb der Vereinten Nationen, die islamische, höchstgefährlich für den Erhalt der Menschenrechte weltweit. Nennen wir das Kind also beim Namen: Die islamische Welt arbeitet an der faktischen Abschaffung der universalen Menschenrechte. ({27}) Islamische Staaten, aber auch Diktaturen wie Nordkorea und Venezuela, weite Teile der Welt missachten heute die Menschenrechte. Eine Mehrheit der Staaten der Vereinten Nationen bricht sie, und auch eine Mehrheit im UN-Menschenrechtsrat hält sich nicht daran. Für eine Verklärung der Rolle der Vereinten Nationen besteht also kein Anlass. Aus 100 Diktaturen wird in einem multilateralen Zusammenschluss mitnichten eine großartige freiheitliche Gesellschaft. ({28}) Multilateralismus löst die Probleme der Welt allein nicht. Auch Friedrich Merz hat zu Recht auf die Notwendigkeit eines stabilen deutschen Nationalstaats verwiesen. Das Streben nach einer mächtigen und vermeintlich weisen Weltregierung ist irreal und menschenverachtend zugleich. ({29}) Schon viel zu oft wurde das Paradies auf Erden verkündet und die Hölle auf Erden geschaffen. ({30})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Braun. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Michael Brand. ({0})

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen den Horizont wieder weiten. Mit dieser Begrenzung, mit dieser falschen Haltung, lieber Kollege Braun, hätten wir es vor 70 Jahren garantiert nicht geschafft, dieses wichtige und wertvolle Dokument auf den Weg zu bringen. ({0}) Was war das eigentlich für eine revolutionäre Vision: nach den beiden Weltkriegen eine neue Weltordnung, gegründet auf den Rechten der Menschen, auf den Weg zu bringen. ({1}) Die Welt hat mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eine universale Antwort auf die globalen Kriege gegeben. Wir haben als Staatengemeinschaft eine Antwort gegeben auf die Frage, was der Mensch an unveräußerlichen Rechten hat und welche Ziele sich die Menschheit setzen soll. Damit hat die Welt auch Grenzen festgelegt für das, was der Mensch dem Menschen zumuten darf und was nicht. Diese Grenzen sind in den letzten Jahren massiv unter Druck geraten. Zur Ängstlichkeit gibt es keinen Grund, schon gar nicht zum Wegducken; denn wir haben in der Tat, Herr Außenminister Maas, gewaltige Erfolge vorzuweisen. Wir haben in den letzten Jahrzehnten der universellen Bedeutung der Menschenrechte weltweit immer mehr Geltung verschafft. ({2}) Die Kodifizierung von Menschenrechten war nicht weniger als die echte Globalisierung von Grundrechten. ({3}) Selbst in Ländern, in denen brutale Diktatoren herrschten, haben wir unter Berufung auf die UN-Menschenrechtscharta in vielen Einzelfällen und insgesamt Millionen Menschen dabei geholfen, sich gegen autoritäre und brutale Regime besser zu wehren, ihre Rechte besser durchsetzen zu können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dabei sind wir nicht blind. Wir sehen Menschenrechtsverletzungen auf der radikalen Seite von links, auf der radikalen Seite von rechts, auf der islamistischen Seite und auf der nationalistischen Seite. Hier gilt der alte Satz: Wir sind auf keinem Auge blind! ({4}) Allerdings müssen wir wachsam bleiben. Wir befinden uns international in einer akuten Phase, in der autoritäre Herrscher und autoritäre Staaten stärker als zuvor versuchen, die freiheitliche Gesellschaft zu beschränken, zu bekämpfen und sogar zu vernichten. Es ist ein schreiendes Alarmsignal, dass inzwischen sicher geglaubte Standards für Menschenrechte auf internationalem Parkett ganz offen oder scheibchenweise infrage gestellt oder mit Füßen getreten werden, ob in Russland, in China, der Türkei oder selbst von Mitgliedstaaten der Europäischen Union. ({5}) Wie ein Krebsgeschwür breiten sich vielerorts massive Einschränkungen von Rechtsstaat, von Zivilgesellschaft, von Medien aus. Wir müssen die Mutigen, die sich dagegen wehren, unterstützen. Die Einschränkung der Religionsfreiheit – ich freue mich, dass Markus Grübel, der Beauftragte für weltweite Religionsfreiheit, bei der heutigen Debatte dabei ist –, die Sicherheitsgesetze als Vorwand für den totalen Überwachungsstaat wie in China sowie wachsender Populismus und Rassismus auch in Europa bedrohen den Konsens über den Schutz von universellen Menschenrechten. Und Ihre Zwischenrufe, dass die Menschenrechte nicht für alle gelten würden, zeigen, dass Sie eine Bedrohung sind. ({6}) Natürlich haben Sie es gesagt. und zwar bei dem Zwischenruf während der Rede des Außenministers. Und jetzt lügen Sie auch noch! Das ist Strategie: Sie setzen Dinge in den Raum und bestreiten sie anschließend. Der Kampf gegen die Freiheit und die Menschenrechte findet heute nicht nur mit Armee, Polizei oder Zensur statt. Der Kampf gegen Freiheit und Menschenrechte, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen von allen Staaten der Erde formal anerkannt werden, hat sich in einem hybriden Krieg mit Mitteln der digitalen Propaganda und der Versuche zur Umdeutung von Freiheit und Menschenrechten verwandelt. Nicht dass das für uns neu wäre: Alle von uns, die Diktatur, Teilung und Repression auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs oder von Militärdiktaturen überall auf der Welt kennen, wissen: Freiheit und Menschenrechte müssen in der Tat jeden Tag, jede Woche und jedes Jahr verteidigt und gefestigt werden. So ist dieser Jahrestag kein Tag der übergroßen Freude, allerdings ist er ein Tag der Freude. Er ist kein Tag des Triumphs, sondern es ist ein Tag der Erinnerung. Jahrestage wie diese ermahnen uns alle daran, dass wir diese ungeheure neue Qualität an Menschlichkeit und Würde nicht umsonst geschenkt bekommen haben. Wir müssen uns gerade als die, die in der privilegierten Welt, der Freiheit, leben, dieser Freiheit und dieser Menschenwürde als würdig erweisen. Wir erweisen uns dieser Rechte als würdig, wenn wir nicht so tun, als wären sie selbstverständlich, ({7}) wenn wir nicht so tun, als wären wir weltweit in der Minderheit und als würde unsere Freiheit und die Menschenrechte nicht durch Autokraten und Hetzer gefährdet. Wir erweisen uns dieser Rechte als würdig, wenn wir im Rahmen unserer Möglichkeiten aktiv auch für die Rechte aller Menschen eintreten. ({8}) „Aller Menschen“ bedeutet, dass wir die Freiheit nicht denjenigen absprechen, die nicht so sind wie wir. Menschenrechte gelten universal. ({9}) Sie gelten für Deutsche wie für Nichtdeutsche. Sie gelten für Christen wie für Muslime, für Buddhisten, für Juden, für Sikhs und für Agnostiker. Ja, die grundlegenden Menschenrechte, die jedem Menschen zu eigen sind und die ihm nicht abgesprochen werden können, gelten für Demokraten wie für Antidemokraten, für Angeklagte und Ankläger, für Opfer und Täter, für Friedfertige wie für Hetzer. Sie gelten selbst für diejenigen, die Menschenrechte abschaffen oder einengen wollen, ({10}) wie für eine ganze Reihe von Hetzern und Funktionären auf der rechten und linken Seite. ({11}) – Sind Sie etwa für linke Extremisten? Ich nicht. Ich habe kein Verständnis für Extremisten, egal woher sie kommen, ob sie rechts, links, Islamisten oder Nationalisten sind. Das unterscheidet uns im Übrigen auch. ({12}) Die Menschenrechte sind für uns als CDU/CSU vor allem aus dem C und unseren Grundwerten abgeleitet. Wir kennen die Erfahrung, dass Menschlichkeit und Toleranz diejenigen provozieren, die Hetze und Agitation als einfache Lösungen betrachten und die Mühe des menschlichen Miteinanders nicht auf sich nehmen wollen. ({13}) Wo menschliches Miteinander und Menschenrechte durch Ideologie, Intoleranz und Repression unterdrückt oder gar aggressiv ausgerottet werden sollen, ist die Unterdrückung und Vernichtung der Menschen selbst nicht mehr weit. Die Brutalität der Feinde der Menschenrechte in Wort und Tat haben wir alle vor Augen. Der brutale syrische Verbrecher wie sein ebenfalls brutaler engster Alliierter in Moskau sind keine Freunde der Menschen, sie sind erklärte und praktizierende Feinde der Menschenrechte, nicht nur in Syrien. Der salafistische saudische Kronprinz musste nicht erst mit dem brutalen Mord an dem Publizisten Khashoggi ausgerechnet in einer diplomatischen Mission beweisen, zu welcher brutalen Verletzung der Menschenrechte er offenkundig mit einem Wimpernzucken bereit ist. ({14}) Der selbst für dortige Verhältnisse ungewöhnlich brutale Krieg im Jemen unter der Führung des saudischen Regimes mit entsetzlichen Folgen für die Zivilbevölkerung zeigt, wes Geistes Kind dieses Regime ist, ({15}) das nicht nur Öl, sondern auch Salafismus, Indoktrination und Gewalt exportiert. ({16}) Der Regisseur Oleg Senzow wurde Opfer der erklärten Feindschaft des russischen Präsidenten. Er sitzt ohne Grund und unschuldig in russischer Haft. Autoritäre Führer haben Angst vor Menschenrechten. Sie haben Angst davor, dass dieser Bazillus der Freiheit und der Menschenrechte ihre Macht, ihr Geld und ihre Geltung gefährden könnte. Dass sie zu solch brutalen Methoden greifen, ist doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Beleg für die Wirkung der Menschenrechte und der Kämpfer für Menschenrechte. Seit dem Mittelalter wissen die Despoten und Diktatoren, dass die Menschenrechte sich auf Dauer nicht unterdrücken lassen. ({17})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie können immer nur versuchen, einzelne Exempel zu statuieren, um Angst zu verbreiten. Dabei schaffen sie nur neue Märtyrer für die Menschenrechte. Ich komme zum Schluss. Was bedeutet es für uns, die wir für Menschenrechte in den Kampf ziehen? Es bedeutet, dass wir nicht am Ende der ideologischen Auseinandersetzung angekommen sind. In der Zeit der Globalisierung haben sich auch die Gegner einer freiheitlichen Gesellschaft internationalisiert. Die Rollen sind klar verteilt. Die einen sind Dirigenten und die anderen die nützlichen Idioten.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege.

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Putin ist einer der Dirigenten, Herr Gauland und Frau Weidel sind es nicht, Frau Le Pen und Herr Wilders sind es auch nicht. ({0}) Am 70. Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte, diesem unendlich wichtigen und wertvollen Dokument der Menschheitsgeschichte, sollten wir als Deutscher Bundestag, als Mehrheit derer, die die Menschenrechte für den fundamentalen Wert einer Gesellschaft schlechthin halten, aufhören, mit den Feinden der Menschenrechte zu sanft umzugehen – heute und jeden Tag. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe schon öfter gesagt: Wenn es am Rednerpult blinkt, dann heißt es, dass die Redezeit zu Ende ist. Wenn die Redezeit überzogen ist, wie jetzt, ziehe ich Ihrer Fraktion entsprechend Redezeit ab. ({0}) Wir wollen versuchen, konkreter und besser durchzukommen. Das haben wir verabredet. Deswegen hat Kollege Brehm nicht mehr sechs Minuten, sondern maximal fünf Minuten Redezeit. Nächste Rednerin: Gyde Jensen für die Fraktion der FDP. ({1})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die größte Errungenschaft in 70 Jahren Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist, dass sie Menschen weltweit bis heute Orientierung für ein freies und menschenwürdiges Leben bietet. Die Erklärung ist ein bis heute gültiger Wertekatalog, ein historischer Erfahrungsschatz menschlicher Zivilisation und ein gemeinsames Sicherheitsnetz in einer immer stärker vernetzten Welt, mit positivem Menschenbild und gesellschaftlichen Idealen, denen Menschen weltweit folgen. Darauf können wir zu Recht stolz sein. ({0}) Meine Damen und Herren, damit das auch so bleibt, müssen wir Menschenrechte auch in das digitale Zeitalter übersetzen; denn die Realität ist die Folgende: anlasslose kommerzielle oder staatliche Datensammlung, Ausspähsoftware und diverse Überwachungstechnologien – von Lauschangriffen bis hin zu Trojanern –, die Sperrung von sozialen Medien und Nachrichtenseiten unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung, digitale Kriegsführung. ({1}) Werte wie Selbstbestimmung, digitale Partizipationsrechte und die Privatheit auf internationaler Ebene müssen in der analogen wie in der digitalen Welt gleichermaßen gelten. Anders gesagt: Privatheit darf nicht nur ein Button in den Privatsphäreeinstellungen bei Facebook sein. ({2}) Es muss als Grundrecht im Bewusstsein der Menschen verankert sein und Staaten dazu verpflichten, danach zu handeln. ({3}) Wir Freie Demokraten fordern deshalb von der Bundesregierung, sich für eine Ergänzung des UN-Zivilpaktes einzusetzen, eine Art Genfer Konvention 4.0 für einen zeitgemäßen Schutz von Privatsphäre, Selbstbestimmung und Partizipation im digitalen Zeitalter. Wir müssen digitale Schutzräume für diejenigen schaffen, die von digitaler Überwachung bedroht sind, und weltweit Netzwerke für Menschenrechtsverteidiger schützen und fördern. Deutschland muss sich die Gestaltung internationaler Politik endlich wieder zutrauen. Wir Freie Demokraten machen mit unserem Antrag konkrete Vorschläge: zum Beispiel mit einem gezielten Monitoring durch die Stärkung des Mandats der europäischen Grundrechteagentur, aber auch für ein gemeinsames Bewusstsein gegen Cyber­attacken, mit der Stärkung des Programms – der Minister hat es schon angesprochen – „Parlamentarier schützen Parlamentarier“, das Öffentlichkeit für Menschenrechtsverteidiger weltweit schafft und Menschenrechte mit Gesichtern verbindet – nicht nur für Parlamentarier weltweit, auch für alle anderen – , mit einem globalen Fonds für gesicherte Vernetzung besonders für Journalisten, für Blogger und für Whistleblower unter der Aufsicht eines UN-Sonderbeauftragten für Presse- und Meinungsfreiheit, der eigeninitiativ tätig werden kann. ({4}) Wir brauchen eine neue Menschenrechtsbewegung, an der Spitze die Europäischen Union, die ein neues Bewusstsein dafür schafft und alle Staaten nach ­Teheran ­1968 und Wien 1993 zu einer weiteren, einer dritten Weltkonferenz für Menschenrechte an einen Tisch bringt. Jedes Vorhaben der deutschen und europäischen Außenpolitik für eine vernetztere Welt auf Basis von freiheitlichen Werten ist aber nichts als heiße Luft, wenn wir unsere Hausaufgaben hier nicht machen. Wir sehen heute, dass China die Erfindung des NetzDG des damaligen Justizministers Heiko Maas zum Vorbild für Zensur und digitale Überwachung der eigenen Bürger nimmt. Dasselbe gilt für die verfassungswidrige und europarechtswidrige Vorratsdatenspeicherung. Wir machen etwas falsch, wenn sich Diktaturen an unseren Überwachungsgesetzen ein Beispiel nehmen. ({5}) Der Kampf für die Übersetzung von Menschenrechten ins digitale Zeitalter, für Werte wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist der Kampf von uns allen, der Kampf für universelle Rechte. Sorgen wir dafür, dass die Kraft der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wieder spürbarer wird! Bereits Timothy Garton Ash wusste, dass die Idealisten in der Geschichte sich als die besseren Realisten erwiesen haben: indem sie wertebewusst immer auf Veränderung gepocht haben. Wir pochen mit diesem Antrag auch auf Veränderung. Ich würde mich über Ihre Zustimmung freuen. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Gyde Jensen. – Nächste Rednerin: Zaklin Nastic für die Fraktion Die Linke. ({0})

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist leider ein reines Kontrastprogramm zur deutschen Regierungspolitik. ({0}) So haben die Vereinten Nationen erst kürzlich die Bundesregierung dafür gerügt, ({1}) dass es immer noch ungleichwertige Lebensbedingungen in Ost und West gibt, dafür, dass 1,2 Millionen Menschen wohnungslos sind ({2}) und dass es nicht genug bezahlbaren Wohnraum gibt, ({3}) aber auch dafür, dass in diesem reichen Land fast 20 Prozent der Kinder in Armut leben müssen, und übrigens auch dafür, dass Deutschland mit seinen billigen Agrar­exporten in die Länder des Südens die lokalen Märkte und damit auch die Existenz der Bauern zerstört. Es ist wohlfeil, an diesem Mikro Menschenrechtsverletzungen in ärmeren Ländern anzuprangern, wie zum Beispiel auf Kuba. Aber die kostenlose medizinische Versorgung im armen, kleinen Kuba lebt Deutschland noch einiges vor in Sachen Menschenrechte. ({4}) Meine Damen und Herren, in Artikel 23 steht: Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit … auf gerechte … Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der … Würde entsprechende Existenz sichert … Das ist der krasse Gegenentwurf zu Hartz IV, aber auch dazu, dass auf unsere Rentnerinnen und Rentner eine Welle der Altersarmut zukommt. ({5}) Auch das, was Sie als „Leiharbeit“ beschönigen, ist eine reine Menschenrechtsverletzung. ({6}) Die Leiharbeit hat in Deutschland in den vergangenen Jahren um 40 Prozent zugenommen. Leiharbeit verleiht nichts, Leiharbeit raubt. ({7}) Mehr als 1 Million Menschen in Deutschland sind Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen. Davon profitiert unter anderem die Firma Randstad mit einem Umsatz 2017 von allein 23,3 Milliarden Euro, ({8}) mit einem Geschäftsmodell namens Sklavenarbeit. ({9}) Meine Damen und Herren, in einer Welt, in der alle fünf Sekunden ein Kind stirbt, klingt Artikel 28 so unerfüllt wie revolutionär. Darin heißt es: Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können. Stattdessen hungern 840 Millionen Menschen auf der Welt – obwohl man die Menschheit zweimal ernähren könnte. Warum? Weil vor den Menschenrechten der Konzernprofit regiert. ({10}) Wann endlich findet sich in diesem Hohen Hause eine Mehrheit, diesen Räubern in den Chefetagen mit dem scharfen Schwert der Gesetze endlich entgegenzutreten, zum Beispiel dem Konzern Bayer-Monsanto mit einem jährlichen Gewinn von 3 Milliarden Euro – mit Glyphosat, mit krebserregenden Chemikalien, mit gentechnisch veränderter Baumwolle und Mais, mit Missernten und Selbstmorden von indischen Bauern. Würden wir diesen Völkermördern in Nadelstreifen ({11}) endlich entschlossen entgegentreten, dann müssten sich auch nicht 70 Millionen Menschen auf die Flucht begeben. ({12}) Diese Konzerne machen satte Gewinne an der Börse mit Krieg, Hunger und Flucht. Und wenn dann Menschen davor fliehen müssen, machen rechte Parteien Gewinne auch noch auf dem Rücken der Geflüchteten. Darum sind deren Profite übrigens der AfD so heilig; denn sie haben ein gemeinsames Geschäftsmodell, und das heißt Elend. Deshalb können übrigens Rechtsparteien auch niemals Menschenrechtsparteien werden. ({13}) Ja, meine Damen und Herren, man muss die Feinde der Menschenrechte auch beim Namen nennen: Goldman Sachs, BlackRock, Daimler, Heckler & Koch, die Deutsche Bank und noch so manch ein Konzern, der schon früher, wie thyssenkrupp zum Beispiel, auf der Spendenliste von Faschisten und Rechtsparteien gestanden hat. ({14}) Im Übrigen betrifft das nicht nur die AfD. Weisen Sie Parteispenden von Menschenrechtsverletzern zurück! ({15}) Oder machen Sie endlich eine Politik, dass die Ihnen gar nichts mehr spenden wollen! Nehmen Sie sich an den Linken ein Beispiel! ({16}) Rheinmetall zum Beispiel hat einen Jahresumsatz von 6 Milliarden Euro – mit nichts anderem als dem Export von Mordwerkzeug in alle Welt, an Saudi-Arabien zum Beispiel, Deutschlands zweitbesten Kunden. Die Bundesregierung sonnt sich ja gerade darin, einen Rüstungsexportstopp an Saudi-Arabien verhängt zu haben. Gilt das übrigens auch für deren Tochterunternehmen?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie?

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. – Oder fahren Sie die Rüstungsexporte nur für zwei, drei Monate runter, bis Gras über Khashoggis Leiche gewachsen ist? Die Linke sagt grundsätzlich Nein; Menschenrechte und Rüstungsexporte vertragen sich nicht. ({0}) Meine Damen und Herren, die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte stellt zudem fest, es ist notwendig, … Menschenrechte … zu schützen, damit der Mensch nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung zu greifen. Nun werden Sie sagen: Emmanuel Macron ist doch kein Tyrann, und die Gelbwesten haben auch deshalb nicht das Widerstandsrecht als letztes Mittel. Aber wenn man tagtäglich mit der Angst und Panik leben muss: „Wie bezahle ich mein Essen, meinen Strom, meine Miete?“, ({1}) auch das ist eine Art der Tyrannei. ({2}) Jetzt hat Macron etwas nachgeben müssen. Aber was zeigen uns die Gelbwesten? Dass Menschenrechte eben nicht in einer Glasvitrine ausgestellt sein sollten, ab und zu hier zitiert und gelobt werden sollten, sondern dass Menschenrechte tagtäglich erkämpft werden müssen ({3}) und mit Leben ausgestattet sein müssen, auch auf der Straße und auch hier in Deutschland! ({4}) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollegin Nastic. – Nächste Rednerin: Margarete Bause für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Margarete Bause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004663, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzte Woche durfte ich eine unglaublich mutige und eindrucksvolle Frau kennenlernen: Lamija Adschi Baschar. Lamija ist Jesidin, und sie ist Trägerin des Sacharow-­Preises, den sie zusammen mit Nadia Murad, der diesjährigen Friedensnobelpreisträgerin, im Jahr 2016 erhalten hat. Lamija war Festrednerin bei der Menschenrechtskonferenz unserer Fraktion hier im Bundestag. Sie hat unvorstellbare Gräueltaten erleiden müssen: Mit 15 Jahren wurde sie von Schergen der IS-Milizen verschleppt. Sie wurde versklavt, misshandelt, vergewaltigt, immer wieder an andere Männer verkauft. Ihr Martyrium dauerte fast zwei Jahre, bis sie endlich fliehen konnte und bis sie im Mai 2016 nach Deutschland, genauer gesagt: nach Baden-Württemberg, ausreisen konnte. Ich habe sie gefragt, wie sie es denn eigentlich geschafft hat, dass sie angesichts dieser entsetzlichen Gewalt, die sie erleiden musste, nicht innerlich zerbrochen ist. Sie hat gesagt: Ich wollte überleben, damit ich meine Stimme erheben kann gegen die Verbrechen an mir und all den anderen Frauen und Kindern und damit sich diese Verbrechen nicht wiederholen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Lamijas Schicksal zeigt uns: Menschenrechte gehören nicht ins Museum oder ins Schaufenster; sie müssen täglich neu erkämpft und verteidigt werden, ({1}) und wir, wir haben die Verantwortung, alles zu tun – was wir nur können –, ihnen Geltung zu verschaffen, hier bei uns und weltweit. ({2}) Mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte feiern wir wirklich eine Sternstunde der Menschheit. Ihre Verabschiedung stellt bis heute eine der größten Errungenschaften unserer Zivilisation dar. Ihre Annahme vor 70 Jahren war ein Kraftakt, den wir auch einer bewundernswerten und starken Frau verdanken: Eleanor Roosevelt. Dafür auch nach 70 Jahren noch ganz herzlichen Dank! ({3}) Und heute? Regierungen wenden sich vom Multilateralismus ab, Menschenrechte und deren Institutionen werden offen infrage gestellt. Freiheitsrechte und Handlungsräume der Zivilgesellschaft werden unter dem Vorwand nationaler Sicherheit beschnitten. Menschenrechtsverteidiger werden drangsaliert, eingesperrt oder gar ermordet. Es geht hier auch um die Menschenrechte in Syrien, in China, in Myanmar, in Ägypten oder der Türkei und vielen anderen Ländern – aber nicht nur. Auch in den USA oder in Europa – wo wir uns immer unsere Werte so sehr zugutehalten –, auch hier geraten die Menschenrechte zunehmend unter Druck. Auch in der EU hetzen Regierungen gegen Ausländer, auch hier im Bundestag wird gegen Ausländer gehetzt. In der EU werden Journalistinnen und Journalisten ermordet und Minderheiten unterdrückt. Und wir in Deutschland? Wie steht es um unsere Glaubwürdigkeit? Minister Maas hat das Thema Glaubwürdigkeit vorhin in seiner Rede erwähnt. Wie ist das zum Beispiel mit den Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien? Im Jemen leiden 11 Millionen Kinder an Hunger und Krankheit. Alle zehn Minuten stirbt dort ein Kind. „Jemen ist eine Hölle auf Erden für Kinder“, sagt UNICEF. Diese Kinder sind Opfer eines Krieges, der maßgeblich betrieben wird vom Abnehmer unserer Waffen, von Saudi-Arabien. Und wie glaubwürdig ist denn eigentlich ihr viel zu spät verkündeter Exportstopp – erst nach der Ermordung von Khashoggi –, wenn Rheinmetall nun offenkundig über ausländische Tochterfirmen weiter tödliche Waffen an die Saudis liefern kann? Da stellt sich in der Tat die Frage der Glaubwürdigkeit. ({4}) Oder: In seinem jüngsten Bericht hat das Deutsche Institut für Menschenrechte darauf hingewiesen, dass Arbeitsmigranten in Deutschland schwerer Ausbeutung ausgesetzt sind. Und auch die menschenrechtlichen Standards deutscher Unternehmen im Ausland beruhen immer noch auf Freiwilligkeit. Auch da brauchen wir endlich klare gesetzliche Regelungen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Menschenrechte sind kein Nice-to-have, sondern die völkerrechtliche Grundlage unserer Zivilisation. Amnesty International hat soeben eine Umfrage veröffentlicht, wonach 86 Prozent der Deutschen wollen, dass wir hier im Bundestag und Sie in der Regierung eine aktivere und offensivere Menschenrechtspolitik machen und dass wir solche Staaten, die Menschenrechte verletzen, stärker unter Druck setzen. Ich finde, das ist ein klarer Handlungsauftrag an uns alle. ({6}) Wenn wir glaubwürdig sein wollen, dann müssen wir eine Menschenrechtspolitik aus einem Guss machen, und dann darf nicht das Wirtschaftsministerium bei Rüstungsexporten das letzte Wort haben und auch nicht das Innenministerium bei Abschiebungen in Konfliktstaaten oder Unrechtsstaaten, ({7}) und dann dürfen wir dem Sterben im Mittelmeer nicht länger tatenlos zusehen. ({8}) Zu einer erfolgreichen Menschenrechtspolitik gehört es auch, gute Arbeitsstrukturen zu haben. Deutschland tut sicher einiges, um Menschenrechtsverteidiger in vielen Ländern zu unterstützen; aber dieser Einsatz darf eben nicht vom Engagement einiger motivierter Diplomaten abhängen. Deswegen sollte es an allen deutschen Auslandsvertretungen Menschenrechtsreferentinnen und -referenten geben und Schutzräume für Aktivistinnen und Aktivisten. Auch die Handlungsmöglichkeiten der Menschenrechtsbeauftragten sollten verbessert werden; sie sollte mehr Möglichkeiten haben. Ich finde, insgesamt sollte das Amt ans Bundeskanzleramt gehen, damit deutlich wird: Menschenrechtspolitik ist eine Querschnittsaufgabe. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie bitte an die Redezeit.

Margarete Bause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004663, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr gerne. – Der Arzt Denis Mukwege, auch ein Friedensnobelpreisträger, hat gesagt: Nur der Kampf gegen die Straflosigkeit kann die Gewaltspirale durchbrechen. – Stärken Sie also den Internationalen Strafgerichtshof sowie die Abteilung für Völkerstrafrecht der Bundesanwaltschaft! Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir die Menschenrechte zum Kompass unseres Handelns! Das, finde ich, sind wir Lamija Baschar, Nadia Murad, Oleg Senzow, Amal Fathy, Ilham Tohti und unzähligen weiteren mutigen Menschen schuldig. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Margarete Bause. – Nächste Rednerin: Gabriela Heinrich für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriela Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004296, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 1948: Millionen Menschen waren tot. Millionen Menschen waren auf der Suche nach ihren Familien. Millionen waren heimatlos. Der Kalte Krieg war in vollem Gange, und diese Stadt Berlin, die musste aus der Luft versorgt werden. Und trotzdem war die Weltgemeinschaft zum ersten Mal in der Lage, etwas absolut Unglaubliches zu tun: Sie gestand mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in 30 Artikeln jedem einzelnen Menschen die gleichen elementaren Rechte zu – und das, obwohl noch so viele verfeindet waren. Das war eine Zäsur. ({0}) Die Wunden des Zweiten Weltkriegs waren noch offen; aber die Menschenrechtserklärung führte die Menschen zusammen. Sie war und ist Ordnungspolitik – für ein gutes Zusammenleben und für die individuelle Freiheit. Sie liefert Regeln gegen Diskriminierung, Hass und Gewalt, Regeln, die uns ganz klar sagen: Der, den du nicht kennst, auch der, den du nicht magst, der ist immer und überall ganz genauso viel wert wie du. ({1}) Heute wächst der Widerstand derjenigen wieder, die die Menschenrechte eben nicht für alle akzeptieren. Immer wieder wurde und wird versucht, die Menschenrechte zu relativieren. Häufig wird ein Gegensatz konstruiert: Man müsse sich entweder für soziale oder für individuelle Menschenrechte entscheiden. Beispiel China. Dort gingen Hunger und Armut massiv zurück. Immer mehr Menschen geht es dort wirtschaftlich besser. Das ist ein Fortschritt. Aber warum müssen Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit dahinter zurückstehen? Ein weiteres großes Problem unserer Zeit betrifft den Widerstreit zwischen wirtschaftlichen Interessen und der Bewahrung der Umwelt. Indigene Völker verlieren ihre Lebensgrundlagen, wenn reines Profitdenken das Handeln bestimmt. Umweltaktivisten, die sich zum Beispiel in Lateinamerika dem entgegenstellen, sind massiv gefährdet. Viele werden getötet, und viele verschwinden. Oder: Menschenrechte werden als unvereinbar mit einer bestimmten Kultur, Tradition, Religion abgelehnt und Veränderungen als Angriff auf Identität verstanden, als westliche Werte. Manche islamische Länder neigen hierzu. Wir erleben das aber auch in allen Teilen der Welt, auch in Teilen Afrikas. Besonders Frauenrechte und die Rechte von Schwulen, Lesben, Transgendern sind von solchen kulturellen Relativierungen betroffen. Aber – und hier sind wir in Europa angekommen –: Identitätsbildung wird auch gerne benutzt, um sich abzugrenzen. Andere Kulturen und Menschen sind dann plötzlich weniger wert. Andere Meinungen gelten nicht, und zentrale Werte wie die Gleichheit aller Menschen werden offen infrage gestellt. Zu beobachten ist das auch in Ungarn, in Polen, in Italien und bei Rechtspopulisten in Österreich und Deutschland. Und dem müssen wir Demokratinnen und Demokraten uns entgegenstellen, in Deutschland wie in Europa. Denn ein Angriff auf die Menschenrechte ist immer auch ein Angriff auf die Demokratie. ({2}) Das Konzept der universellen, unveräußerlichen und unteilbaren Menschenrechte ist es wert, davon begeistert zu sein; ({3}) denn es verbessert das Leben von allen Menschen – in Europa und auf der Welt. Die Menschenrechte sind besser dazu geeignet, Identität zu stiften, als Ausgrenzung. In meiner Heimatstadt Nürnberg, der Stadt des Friedens und der Menschenrechte, ist das so. Die Auseinandersetzung mit der Menschenrechtserklärung ist zu einem wichtigen Teil unserer Stadtidentität geworden; das ist auch ein Teil unserer Verantwortung. ({4}) Aber es geht auch um Hoffnung, um die Hoffnung, dass wir gemeinsam etwas erreichen können auf dem Weg, die 30 Artikel der Erklärung der Menschenrechte für alle zur Geltung zu bringen. Denn wenn wir uns die Welt heute anschauen, dann muss man sagen: Heute brauchen wir die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ganz bestimmt genauso wie vor 70 Jahren. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Gabriela Heinrich. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Dr. Lukas Köhler. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Linke! Liebe Frau Nastic, ich hatte eigentlich einen ganz anderen Einstieg geplant. Aber ich muss sagen: Man kann die Bundesregierung kritisieren. Man kann sie oft kritisieren, man kann sie für vieles kritisieren, es ist an vielen Stellen problematisch. ({0}) Aber ihr vorzuwerfen, die Regierungspolitik sei ein Kontrastprogramm zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, das wird weder der Sache gerecht, noch ist es ungefährlich. Was Sie hier tun, ist: Sie schleifen das große Schwert der Menschenrechte ab. Sie machen es stumpf für ihre Verteidigung. ({1}) Was die Bundesregierung an so vielen Stellen tut, ist, sich überall für die Menschenrechte einzusetzen. Das ist gut, und das ist richtig. Ja, wir haben Probleme. Ja, wir können an einigen Stellen vor unserer eigenen Haustür kehren. ({2}) Aber das heißt doch nicht, dass die Bundesregierung sich nicht für die Menschenrechte einsetzen würde. Das ist völlig absurd. ({3}) Genau das ist es, glaube ich, was wir an einem solchen Tag, am 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, tatsächlich hier diskutieren müssen. Es ist zwar ein Jubiläum, aber ich finde, es fordert nicht zum Jubeln auf, sondern es fordert dazu auf, nachzudenken, und zwar darüber, was im Moment auf der Welt passiert. Wenn linke Intellektuelle aus Frankreich Menschenrechte, Demokratie und Kapitalismus zusammendenken und sagen: „Sie müssen überwunden werden“, dann ist das ein Grund zur Sorge. Wenn der russische Präsident und die russischen Staatsmedien darüber sprechen, dass die westliche Welt verweichlicht und Kriminalität und absurderweise Homosexualität dazu führen, dass wir vor großen Problemen, vor großen Herausforderungen in unserer Gesellschaft stehen, dann ist das ein Grund zur Sorge. ({4}) Wenn Entwicklungs- und Schwellenländer auf der Klimakonferenz in Kattowitz davon sprechen, dass Menschenrechte in Artikel 6 des Pariser Abkommens, in dem es um die Marktmechanismen geht, nichts zu suchen haben, dann ist das ein Problem. Deshalb ist der Kampf für ein liberales Verständnis von Menschenrechten so absolut zentral. Diese Menschenrechte fußen auf der Autonomie des Menschen. Deswegen sind sie für uns wichtig. Deswegen sind sie an jedem Tag zu leben. Aber sie sind nicht nur juristisch umzusetzen. Sie sind zu leben, und sie müssen gelebt werden – von uns allen und das täglich. Sie gelten weltweit. Natürlich sind sie niemandem abzusprechen, egal welcher Religion, welcher Herkunft oder welcher Hautfarbe. ({5}) Sie müssen aber verteidigt werden. Sie müssen auch auf neue Herausforderungen überprüft werden. Herr Maas hat es gesagt: Gerade der Klimawandel bedroht Menschenrechte an vielen Stellen. Wir müssen nicht nur weltweit darüber nachdenken, sondern auch zeitlich darüber nachdenken, wie Menschenrechte kommender Generationen betroffen sind. Das ist ein Auftrag liberaler Demokratie. ({6}) Meine Damen und Herren, ich kann Sie nur einladen: Lassen Sie uns gemeinsam für Menschenrechte einstehen! Lassen Sie uns gemeinsam dafür kämpfen, dass Rechtsstaat und Demokratieprinzip zusammengedacht werden mit Chancen, die auch durch marktwirtschaftliche Prozesse entstehen! Lassen Sie uns gemeinsam dafür kämpfen, dass wir weltweit noch weitere 70 Jahren Menschenrechte feiern können! Vielen lieben Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Köhler. – Nächste Rednerin: die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth. ({0})

Dr. Maria Flachsbarth (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003527

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948 ist einer der wichtigen Ecksteine internationaler Politik. Sie war aber auch eine Reaktion auf die dunkelsten Kapitel in der deutschen Geschichte: auf die Gräuel des Zweiten Weltkrieges, auf die Nürnberger Gesetze, die Wannsee-Konferenz, auf die „Topographie des Terrors“, die wir in unmittelbarer Nähe unseres Ministeriums stets vor Augen haben. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Mit diesem Satz haben die Vereinten Nationen vor 70 Jahren jedem Menschen auf diesem Planeten, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Religion oder sozialem Status, in einer Art Grundgesetz die gleichen Rechte und Freiheiten zugesichert. Alle Staaten sind mit ihrem UN-Beitritt die Verpflichtung eingegangen, den Menschenrechten in ihren nationalen Rechtssystemen volle Geltung zu verschaffen. Es war die Vision von einer besseren Welt, ({0}) die im Dezember 1948 Delegationen aus allen Teilen der Welt unter der Leitung von Eleanor Roosevelt in Paris zusammenführte: einer Welt, in der alle Menschen in ihrer Würde als Individuen geschützt werden, einer Welt, in der Gleichheit und Gerechtigkeit als universelle Werte gelten. Derzeit beobachten wir weltweit mit großer Sorge, dass die in der Erklärung festgeschriebenen menschenrechtlichen Normen zunehmend gefährdet oder infrage gestellt werden. In vielen Teilen auch der westlichen Welt nehmen Menschenrechtsverletzungen zu. Angesichts der Kriege in Syrien und im Jemen, der Situation der Frauen im Ostkongo, der Flüchtlinge in Nordlibyen oder der Versklavung von Kindern und Frauen durch islamistische Terrorgruppen oder Drogenkartelle in Lateinamerika kann wahrlich keine Rede davon sein, dass der Kampf um die Menschenrechte gewonnen wäre. Ethnische und religiöse Minderheiten oder Menschen mit unterschiedlichster sexueller Identität sind immer noch in weiten Teilen der Welt Diskriminierungen, Repressalien, Gewalt und unwürdiger Behandlung ausgesetzt. Und nicht nur das: Man kann, wenn man auf die Zahlen schaut, mit Fug und Recht sagen: Keine Religion wird heute stärker verfolgt als das Christentum. Zugleich werden die Handlungsspielräume für die Zivilgesellschaft in vielen Ländern signifikant eingeschränkt. Deshalb möchte ich an dieser Stelle heute unterstreichen: Für uns als Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ist deutsche Entwicklungspolitik primär Menschenrechtspolitik. Menschenrechte sind das Herzstück, aber auch der Rahmen der Agenda 2030, die für uns die Richtschnur unseres entwicklungspolitischen Handelns darstellt. Über 90 Prozent des dazugehörigen umfangreichen Zielkatalogs nehmen Bezug auf Menschenrechte und auf Arbeitnehmerrechte. Jeden Tag bedeutet das für uns im BMZ: Wir wollen mit unseren Projekten dazu beitragen, dass Menschen überall auf dieser Welt in Würde und Freiheit leben können. Unsere Vorhaben sind daher so vielfältig und komplex wie die dahinterstehenden Herausforderungen. ({1}) Die Bundesregierung unterstützt zum Beispiel den Afrikanischen Gerichtshof und die Afrikanische Kommission für Menschenrechte. Lassen Sie mich nur in einer Fußnote darauf hinweisen, dass der südafrikanische ANC bereits am 16. Dezember 1943 in seiner Erklärung „Africans’ Claims in South Africa“ die Gültigkeit der Menschenrechte auch für Afrika einforderte. Überlegen Sie mal, wo Europa an diesem Tag war! Anfang nächsten Jahres, im Februar, werden wir im Rahmen des Marshallplans mit Afrika in Abidjan Mitgastgeber einer Konferenz zum Thema „Zugang zum Recht und Integrität der Gerichte“ sein. Wo immer möglich kooperieren wir mit nationalen Menschenrechtsinstitutionen, zum Beispiel in Mauretanien zur Förderung der öffentlichen Menschenrechtsdebatte, in Marokko, wo wir den Menschenrechtsrat beim Aufbau eines Menschenrechtsbildungszentrums unterstützen. In Bangladesch und auch in Lateinamerika unterstützen wir besonders von Diskriminierung und Marginalisierung betroffene Bürgerinnen und Bürger, unter anderem beim Zugang zum Rechtssystem. Die Bekämpfung von ausbeuterischer Kinderarbeit, Kinderhandel oder geschlechtsspezifischer Gewalt ist zum Beispiel in Burkina Faso ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit. Bei humanitären Katstrophen kommt dem Schutz der Schwachen oft die größte Bedeutung zu. Hier schätzen wir zum Beispiel die Zusammenarbeit mit Pionierorganisationen wie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz. ({2}) Aber wir wissen auch: Das Streben nach Menschenrechten bleibt ein gefährliches Unterfangen, gerade dort, wo sich Unrechtsregime festgesetzt haben. Deshalb ist eine informierte, eine aktive Öffentlichkeit für den Schutz des Individuums so unverzichtbar. Hier möchten wir ganz besonders auf die Rolle von Menschenrechtsverteidigerinnen und -anwälten aufmerksam machen, die in vielen Ländern dieser Welt mit ihrem Einsatz für Menschenrechte Leib und Leben, auch das ihrer Familien, riskieren. Genau das Gleiche gilt für Journalistinnen und Journalisten, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken, auch hier bei uns in Europa. Ich möchte einen weiteren Punkt einführen: Das ist die Rolle der globalisierten Wirtschaft. Auch Unternehmen stehen in der Pflicht. Mit dem Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ formuliert die Bundesregierung daher eine klare Erwartungshaltung an die Privatwirtschaft. Menschenrechte sind zu achten, und die gesamten Lieferketten sind so zu organisieren, dass sie menschenrechtlichen Standards genügen. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn zum 70. Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zweifellos große Fortschritte zu verzeichnen sind, so nehmen wir das Jubiläum in erster Linie auch zum Anlass, unser Bekenntnis zu den Menschenrechten zu bekräftigen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte entstand in einem denkbar ungünstigen Klima, das von dem heraufziehenden Kalten Krieg stark überschattet war. Dennoch hat ihr Beharren auf die unveräußerlichen Rechte eines jeden Millionen Menschen Hoffnung und Mut gemacht und ihnen ihre Würde gegeben. Das sollte auch uns jetzt in Zeiten neuer internationaler Krisen und Entsolidarisierung Inspiration und Ansporn sein. Danke schön. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Maria Flachsbarth. – Nächste Rednerin: Dr. Frauke Petry, fraktionslose Kollegin. ({0})

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist nicht nur für die Geschichte der Vereinten Nationen, sondern auch für Deutschland ein bedeutsames Datum. Die Deklaration inspirierte und beeinflusste den Parlamentarischen Rat, der damals noch um das deutsche Grundgesetz rang. Der erste Artikel unserer Verfassung fußt auf der Präambel und dem ersten Artikel des UN-Dokuments. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gilt aber auch als Fundament der Europäischen Menschenrechtskonvention, die bis heute vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte überwacht wird. Damit haben die Menschenrechte nicht nur als Gewohnheits- oder weiches Recht Bedeutung; hier in Europa sind sie sogar zu hartem Recht geworden. ({0}) Das ist im Übrigen eine Wandlung von Soft Law zu Hard Law, wie sie 70 Jahre später in Marrakesch für den Migrationspakt ausgeschlossen wird. Die UN-Erklärung ist damit mehr als nur ein schöner Traum. Zumindest in Teilen der Welt ist sie gesellschaftliche Realität geworden. Zuweilen können aber auch Träume zu Albträumen mutieren, nämlich dann, wenn der Kontext verloren geht. 70 Jahre später muss man sich diesen Kontext in Erinnerung rufen. Die UN und ihre Charta erwuchsen aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs und im Angesicht des Konfliktes zwischen den freien Staaten des Westens und den sozialistischen Staaten des Ostens. Die Deklaration rückte den Menschen in den Mittelpunkt – eine Kampfansage in jener Welt, die den Nationalsozialismus überwunden hatte, aber immer noch mit dem Kommunismus rang. Viele Passagen der Erklärung sind wiederum so allgemein, dass sie die damaligen sozialistischen Länder nicht ablehnen konnten. Unter diesem Doppelgesicht leidet das Dokument bis heute. In den 50ern sollte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte die Freiheit und Selbstbestimmung von Regimekritikern in Ostblockstaaten stärken. Heute entkoppeln Politiker, NGOs und andere selbsternannte Menschenrechtsaktivisten den Inhalt der Erklärung zu ihren Gunsten und verzerren somit ihren eigentlichen Inhalt. Das Menschenrecht auf Arbeit wird zum Menschenrecht auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, das Menschenrecht auf Asyl zum Menschenrecht auf Migration, das Menschenrecht auf Nichtdiskriminierung wird zum Menschenrecht auf die Auflösung gesellschaftlicher Standards und Normen umdefiniert. Keiner der Vertreter der damaligen 58 Mitgliedstaaten hätte sich einen solchen Missbrauch der Erklärung vorstellen können, die zum Spielball linker Beglückungsfantasien geworden ist. Aber nicht nur deswegen ist die Deklaration als globale Verfassung unbrauchbar. Mit der Kairoer Erklärung der Menschenrechte und der Erklärung von Bangkok haben gleich zwei Kulturkreise verdeutlicht, dass es sich bei universellen Menschenrechten um eine rein westliche Vorstellung handelt. Wieder spielt der historische Kontext eine bedeutende Rolle. Ein Großteil der Welt war zum Zeitpunkt der Unterzeichnung kolonial aufgeteilt. Demografisch, kulturell und wirtschaftlich dominierten die USA und die westeuropäischen Staaten den Globus. Eine andere Zukunft als eine nach dem westlichen Vorbild galt als ausgeschlossen. ({1}) Das hat sich heute gewandelt. In den letzten 70 Jahren hat die UN ihre Ansprüche erweitert. Ideologisch ist die Welt jedoch seit Mitte der 90er-Jahre von den Zielen abgerückt. Darüber hinaus kennt die UN-Erklärung nur die Rechte geborener Menschen – eine Auffassung, die auch 1959 bei der Erklärung der Rechte der Kinder kaum verbessert wurde. Menschenrechte zu verteidigen und zu feiern, ist richtig. Sie nach 70 Jahren aber auch in ihrer Entwicklung kritisch zu beurteilen, ist Teil vorausschauender Politik. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Der nächste und letzte Redner in der Menschenrechtsdebatte ist Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Keine andere deutsche Stadt war so mit der Aufarbeitung unmenschlichen Verbrechens und millionenfacher Menschenrechtsverletzungen konfrontiert wie meine Heimatstadt Nürnberg. Degradiert von dem Wahn der Nationalsozialisten wurde Nürnberg zur Stadt der Reichs­parteitage, und durch die Ausrufung der Rassegesetze, der Nürnberger Gesetze, rückte Nürnberg weltweit in ein ganz abscheuliches Licht. 1945 begannen die Nürnberger Prozesse, zunächst gegen die Hauptkriegsverbrecher, dann zwölf Folgeprozesse gegen Ärzte, Juristen, Mitglieder der SS, der Polizei, Industrielle, Manager, militärische Führer und Regierungsvertreter. In seiner mehrstündigen Eröffnungsrede legte der Chefankläger Robert Jackson den Grundstein für ein modernes Völkerstrafrecht. Es war, wie er selbst sagte, eines der größten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat. Die Vernunft muss also über der Macht stehen. Das war auch der Grundgedanke der Gründerstaaten der Vereinten Nationen, als sie sich 1948 auf die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einigten. Heute, 70 Jahre später, stehen im Herzen meiner Stadt in der Straße der Menschenrechte Betonsäulen, auf denen die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eingemeißelt sind. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ So steht es auf der ersten Säule. Diese Säulen sind sowohl eine Anklage gegen die Verbrechen der Nationalsozialisten als auch eine zu Stein gewordene Mahnung, dass Menschenrechte auch heute noch in vielen Staaten der Erde massiv verletzt werden. Tag für Tag hören wir von Verbrechen und abscheulichen Menschenrechtsverletzungen. Frauenrechte werden missachtet. Minderheiten werden vertrieben. Andersdenkende werden verfolgt. Aktuell erreichen uns Bilder aus dem Jemen, die uns aufrütteln müssen. Wir haben in diesem Jahr im Plenum und in den Ausschüssen zahlreiche Diskussionen geführt, unter anderem über die Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren in China oder an den Rohingya in Myanmar und Bangladesch. Jeden Tag werden weltweit Menschenrechte mit Füßen getreten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das dürfen wir niemals hinnehmen, und das dürfen wir niemals akzeptieren. ({0}) Deutschland hat hier eine ganz besondere Verantwortung. Wir müssen die richtigen Schlüsse aus den Lehren der Vergangenheit ziehen. Das bedeutet, die Menschenrechte tagtäglich zu verteidigen. Wir tun das – das ist schon erwähnt worden – im Bundestag zum Beispiel mit dem Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“. Bitte erlauben Sie mir an dieser Stelle eine persönliche Bemerkung. Ich konnte mit meinem Kollegen aus Nürnberg, Michael Frieser, hier die persönliche Patenschaft für den Menschenrechtspreisträger 2009, Abdolfattah Soltani, übernehmen. Mit vereinten Kräften und übrigens auch mithilfe der Bundesregierung wurde er nach acht Jahren Haft im Iran endlich freigelassen. Danke an alle Beteiligten! ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist seit mehr als 70 Jahren nicht nur einer der größten Erfolge der Weltgemeinschaft, sondern eben auch eine Verpflichtung zum Schutz für alle Menschen. Doch der Staat alleine sieht eben nicht sofort alle Menschenrechtsverletzungen in der Welt, und deswegen ist es, glaube ich, auch wichtig, dass wir von dieser Stelle einen großen Dank richten an die zivilgesellschaftlichen Kräfte, an die Nichtregierungsorganisationen und an mutige Journalisten, die tagtäglich Menschenrechtsverletzungen aufspüren und sie publik machen. Danke für Ihr Engagement! ({2}) Aber der Dank gilt auch den Bürgerinnen und Bürgern, die sich täglich ehrenamtlich in unserem Land engagieren, zum Beispiel in der Kirche, in Obdachlosenheimen, in der Jugendarbeit. Sie leisten auch tatkräftige Mithilfe, die Würde des Menschen und die Menschenrechte zu schützen. Auch hier ein großes Dankeschön! ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen niemals müde werden, wenn es um die Menschenrechte geht. Es ist unsere Aufgabe, diese 70 Jahre alte Erklärung täglich mit neuem Leben zu erfüllen. Menschenrechte sind nämlich die Grundlage für Frieden. Menschenrechte sind die Grundlage für Wohlstand, die Grundlage für freies und selbstbestimmtes Leben. Menschenrechte sind vor allem eben universal und unteilbar. Lassen Sie uns gemeinschaftlich die Menschenrechte jeden Tag aufs Neue verteidigen, ({4}) und lassen Sie uns auch unsere Demokratie schützen gegen Radikale von rechts und von links. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sebastian Brehm. ({0}) – Sie haben sogar noch etwas übrig gelassen. Vielen herzlichen Dank. Aber bitte, bitte nicht Herrn Brand erzählen; sonst überzieht er nächstes Mal noch mehr. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/6455 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und an den Ausschuss Digitale Agenda überwiesen werden. Sie sind damit einverstanden. – Dann ist die Überweisung so beschlossen. Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/6456 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für Inneres und Heimat, den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, den Ausschuss für Wirtschaft und Energie, den Ausschuss für Arbeit und Soziales, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für Gesundheit und an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung überwiesen werden. Sie sind damit einverstanden. – Dann ist diese Überweisung so beschlossen. Der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/6457 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für Inneres und Heimat, den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union überwiesen werden. Auch damit sind Sie einverstanden. – Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.

Dr. Wiebke Esdar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist Weihnachtszeit, Zeit für kleine Aufmerksamkeiten, Zeit für Geschenke an die Liebsten. AfD und FDP wollen in dieser Woche mit ihrem Antrag bzw. Gesetzentwurf große Wohltaten für Reiche verteilen. Ich frage, ob es dafür auch an der Zeit ist. Da sagen wir ganz klar Nein. ({0}) Ich möchte das mit einem Rechenbeispiel verdeutlichen: Die durchschnittliche Vergütung für einen Vorstandsvorsitzenden eines deutschen DAX-Konzerns betrug im letzten Jahr 7,4 Millionen Euro. Nehmen wir dieses Jahreseinkommen und streichen den Soli komplett, so wie Sie es vorschlagen haben, dann spart der Herr Konzernboss 180 000 Euro Solidaritätszuschlag jedes Jahr. ({1}) Das ist Ihr Weg zu mehr Steuergerechtigkeit. Ich sage ganz klar: Unser Weg ist es nicht. ({2}) Ihr Ziel, Steuergeschenke an Topverdiener zu verteilen, lassen wir Ihnen und auch allen anderen Parteien in diesem Hause nicht durchgehen. ({3}) Darum ist es gut, dass die SPD regiert. ({4}) Diese Diskussion um weniger Steuern für Spitzenverdiener ist meines Erachtens hier fehl am Platz, und ich werde Ihnen auch darlegen, warum: Erstens. Viele sagen, in Zeiten von sprudelnden Steuereinnahmen gebiete es die Steuergerechtigkeit, die Menschen zu entlasten, die die höchsten Steuern zahlen, die Vermögenden, die Einkommensstarken. ({5}) Ich halte Ihnen an dieser Stelle eine gerade am letzten Freitag veröffentlichte Studie des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung entgegen, die besagt, dass die Einkommensstarken seit Ende der 90er-Jahre bereits massiv entlastet worden sind. Ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin das DIW: Der Solidaritätszuschlag wurde bei den Spitzenverdienenden seit 1998 schon zwei- bis dreimal abgeschafft. Dagegen müssen einkommensschwächere Menschen heute einen deutlich höheren Anteil ihres Einkommens für Steuern entrichten, als es damals der Fall war. Wir sagen: Das ist ungerecht. Darum stärken wir als SPD die Geringverdienenden und die Mittelschicht. ({6}) Zweitens fordern Sie, man müsse die deutschen Unternehmen von Steuern befreien, damit sie im globalen Wettbewerb bestehen können. Dabei zeigen doch die aktuellen wirtschaftlichen Kennzahlen, dass die Gewinne der deutschen Unternehmen unverändert hoch sind, weil wir in den letzten zwei Jahrzehnten bereits die Unternehmensteuer gesenkt, die Vermögensteuer abgeschafft und die Erbschaftsteuer bei Unternehmensübertragungen quasi beseitigt haben. ({7}) Darum brauchen die Unternehmen in unserem Land keine Steuersenkungen, schon gar nicht mit der Gießkanne, sondern eine gute Infrastruktur und gezielte Unterstützung, damit sie innovativ bleiben können. Da liegen die wahren Herausforderungen, meine Damen und Herren. ({8}) Und drittens meinen Sie, die Abschaffung des Soli und die damit verbundene Senkung der Einkommensteuer würde die Konsumnachfrage steigern. Das ist auch auf den ersten Blick nicht falsch, aber wie so oft lohnt es sich, ein zweites Mal genauer hinzusehen. Denn die guten, differenzierten Studien dazu zeigen sehr deutlich, dass eine Senkung der Einkommensteuer vor allem bei den Geringverdienenden und bei der Mittelschicht zu stärkerer Konsumnachfrage führt, bei den Spitzenverdienenden erhöhen Steuersenkungen vor allem die Sparquote. So ist es wirtschaftlich sinnvoll, Menschen mit einem eher geringeren Einkommen zu entlasten, mit dem Ziel, dass sich Arbeit wieder mehr lohnt. ({9}) Genau das, meine Damen und Herren, haben wir als SPD mit der Union im Koalitionsvertrag festgeschrieben: Den Soli werden wir bis 2021 für 90 Prozent der Menschen, die ihn heute zahlen, abschaffen. Im Gegenwert von 10 Milliarden Euro werden wir damit diejenigen entlasten, die es im Portemonnaie spürbar bemerken werden. ({10}) Ihr Konzept im vorgelegten Antrag, die Steuern per Gießkanne für die Reichen und Wohlhabenden zu senken, ({11}) wäre nichts anderes als ein Antrag gegen die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Mindestens 8 Milliarden Euro würden uns dann für Zukunftsinvestitionen in Bildung, Qualifizierung und Infrastruktur fehlen. ({12}) Meine Damen und Herren, unser Staat hat wirklich andere Herausforderungen zu bewältigen, als sich um milliardenschwere Steuersenkungen für Millionäre zu sorgen. ({13}) Herzlichen Dank. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Esdar. – Jetzt ist der nächste Redner dran, und zwar Stefan Keuter für die AfD-Fraktion. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit März 2018, also seit gut neun Monaten, berät der Deutsche Bundestag über die Anträge der FDP-Fraktion und der AfD-Fraktion zur Abschaffung des Solidaritätszuschlages. In dieser Zeit trägt eine Frau normalerweise ein Kind aus. Betrachten wir einmal die Schwangerschaft dieses Antrags. Am 15. März hatte ich an dieser Stelle zu unserem Antrag gesprochen und diesen erläutert. Das Plenum hatte die Überweisung in den Finanzausschuss beschlossen. In der zehnten bis zwölften Woche einer Schwangerschaft findet in der Regel eine große Vorsorgeuntersuchung statt, ein Ultraschallbild wird gefertigt, und der Frauenarzt ({0}) prüft die Gesundheit von Mutter und Kind auf Herz und Nieren. So war es auch hier: Gut drei Monate nach meiner Rede befasste sich der Finanzausschuss am 27. Juni in einer öffentlichen Anhörung mit namhaften Steuer- und Verfassungsexperten mit dem Thema Abschaffung des Solidaritätszuschlages. ({1}) Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor Hans-Jürgen Papier, führte hier noch mal sehr deutlich aus, dass die Erhebung des Solidaritätszuschlages von der Verfassung nicht mehr gedeckt sei. Der Solidaritätszuschlag darf nur zur Deckung eines wirklich bestehenden zusätzlichen Finanzbedarfes des Bundes erhoben werden. Professor Papier erläuterte, dass dieser Finanzbedarf spätestens mit dem Ablauf des Solidarpaktes II offenkundig und objektiv nicht mehr bestehen wird. Daher hat er hier verfassungsmäßige Bedenken, sollte der Solidaritätszuschlag weiter erhoben werden. – Voilà, volle AfD-Position. Der Koalitionsvertrag sieht nun eine Abschaffung des Solis zum Ende der Legislaturperiode vor – das ist in knapp drei Jahren –, aber nur für 90 Prozent der Steuerzahler. Die übrigen 10 Prozent zahlen weiterhin etwa die Hälfte des heutigen Soli-Aufkommens, welches inzwischen 18 Milliarden Euro jährlich beträgt. Dieses Vorhaben ist also bloße Augenwischerei. Eine echte, spürbare Entlastung der Steuerzahler findet zumindest quantitativ gar nicht statt, wenn es überhaupt dazu kommen sollte. Aber zurück zur Schwangerschaft. In den weiteren Monaten wächst und gedeiht das Kind im Bauche der Mutter. Auch wieder eine Parallele zu unserem Antrag: Es dauerte Monate, bis der Finanzausschuss eine Entscheidung traf. Man könnte dies auch zeitlich eingrenzen: bis nach den Landtagswahlen in Bayern und Hessen. Offensichtlich hatten die Koalitionspartner CDU, CSU und SPD überhaupt gar kein Interesse, dieses für sie heikle Thema im Wahlkampf thematisiert zu wissen. Es hieß immer, es gebe noch Beratungsbedarf. In fünf Sitzungen des Finanzausschusses im September und Oktober wurde das Thema nicht beraten. Erst Ende November trug die SPD diese Verschleppungstaktik nicht mehr mit; also bis zur letzten Sitzung vor dem CDU-Parteitag. – Meine Damen und Herren, so taktieren Altparteien. Dies hat mit guter Politik für unser Land nichts mehr zu tun. ({2}) Schauen wir uns einmal die Standpunkte an: Die SPD – wir haben ja gerade gehört, welche Position sie vertritt – will den Soli am liebsten gar nicht abschaffen. Sozis glauben ja grundsätzlich, dass der Staat mit dem Geld der Bürger besser wirtschaften kann als der Bürger selber. Die CDU/CSU hat das Geld schon verplant. Deshalb will sie den Soli erst zum Ende der Legislaturperiode schrittchenweise abschaffen. Nun hat aber der CDU-Parteitag mehrheitlich beschlossen, den Solidaritätszuschlag schon zum Ende der Wahlperiode im Jahr 2021 für alle Bürger abzuschaffen. Ob dies der Koalitionspartner mitmacht? Ich bin neugierig und gespannt, ob das so eintreten wird. Die AfD steht für eine sofortige Abschaffung des Solis. Die FDP möchte dies erst 2019 tun. Linke und Grüne wollen – wen wundert es? – am Soli festhalten. Unser Antrag auf sofortige Abschaffung des Solidaritätszuschlages wurde im Ausschuss abgelehnt. Ich befürchte also, dass dieser Antrag eine Totgeburt sein wird. Wir werden es ja gleich sehen. Wir stimmen hier gegen die Beschlussempfehlung des Ausschusses, um den Bürgern zu zeigen, dass wir diese verfassungswidrige Sondersteuer sofort abschaffen wollen. ({3}) Ich sage hier heute ganz klar: Der Soli ist überflüssig wie ein Kropf. Er ist verfassungswidrig. Geben wir den Bürgern zurück, was ihnen zusteht, und entlasten wir somit auch die Bürokratie, und das am besten sofort. Dann klappt es auch wieder mit dem Wähler, so wie bei der AfD. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Stefan Keuter. – Nächster Redner: Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen und Zuschauer auf den Tribünen hier! Zum vierten Mal in diesem Jahr diskutieren wir über Anträge von AfD und FDP zum Soli. Ein wenig kommt man sich vor wie in einer Zeitschleife. Ich habe Ihnen ja schon in der letzten Rede zu diesem Thema zugestanden, dass es Ihr gutes Recht in der Opposition ist, zu versuchen, die Regierung zu ärgern. ({0}) Ich muss aber zugeben: Ein bissel nervt es schon, wenn Sie hier alle paar Wochen mit dem gleichen Thema kommen. Die Mittel, die Sie nutzen, werden langsam stumpf. Sie wissen ja nur zu gut, dass die Fraktion der CDU/CSU sich festgelegt hat, die Erhebung des Solis schnellstmöglich zu beenden, und zwar für alle. ({1}) Am letzten Wochenende – wir haben es eben gehört – hat der CDU-Bundesparteitag in Hamburg folgenden Beschluss gefasst: Die CDU Deutschlands will den Solidaritätszuschlag bis 2021 vollständig abschaffen. Dabei halten wir am Ziel eines ausgeglichenen Haushalts … fest. ({2}) Klarer kann eine Position nicht sein. Dieser Beschluss, den wir dort gefasst haben, ist richtig. Der Solidaritätszuschlag wurde vor über 20 Jahren zunächst als unbefristete Ergänzungsabgabe auf die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer eingeführt. Die Befristung, die er in sich trägt, kommt aus seiner Begründung; denn der Beitrag diente zur Vollendung der deutschen Einheit. Und hier haben wir in den letzten 27 Jahren Erstaunliches geleistet. Das muss man an dieser Stelle auch mal sagen. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der neuen Länder hat sich in dieser Zeit mehr als verdoppelt. Das verfügbare Einkommen je Einwohner hat sich um das Zweieinhalbfache erhöht. Die Arbeitsmarktlage ist entspannt. Es kommen große Erfolge bei der Erneuerung und der Erweiterung der Infrastruktur, des Wohnungsmarktes und im Städtebau hinzu. Und wir haben auch eine tolle Verbesserung der Umweltsituation. Deshalb halten wir fest: Der Solidaritätszuschlag war wichtig; aber er hat auch sein Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte fortfahren. – Es ist eine steuerpolitisch logische Konsequenz, dass wir nach dem Auslaufen des Solidarpaktes II eben auch den Abbau des Solidaritätszuschlags angehen. Es geht hierbei gar nicht so sehr um Steuersenkungen, sondern das ist eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit. ({0}) Wie Sie wissen, wurde im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vereinbart, dass wir den Ausstieg aus dem Solidaritätszuschlag in Schritten vollziehen wollen, wobei wir im ersten Schritt bereits 90 Prozent derjenigen, die heute den Solidaritätszuschlag zahlen, zukünftig von dieser Zahlung befreien werden. 90 Prozent werden dann keinen Solidaritätszuschlag mehr zahlen. Ich glaube, das ist schon mal nicht schlecht. ({1}) Aber wir in der Union wünschen uns mehr. Wir möchten den Abbau des Solidaritätszuschlags für alle. Insbesondere wollen wir ihn nicht nur für die Einkommensteuerzahler, sondern auch für die Körperschaftsteuerzahler, also für die kleine Handwerks-GmbH, die beim aktuellen Vorhaben völlig durchs Raster fällt. ({2}) Darüber sprechen wir mit unserem Koalitionspartner. Aber eines ist klar: Wir haben einen Koalitionsvertrag, und an diesen Koalitionsvertrag halten wir uns. Da der eine oder andere in der Opposition das mit dem Koalitionsvertrag vielleicht noch nicht so ganz verstanden hat, möchte ich die beiden antragstellenden Fraktionen daran erinnern, was ein Vertrag per Definition ist: Ein Vertrag ist die rechtsgültige Abmachung zwischen zwei oder mehreren Parteien. ({3}) Dieser Vertrag, den wir geschlossen haben, könnte heute anders aussehen. Wenn Sie von der FDP sich vor einem Jahr nicht davongestohlen hätten, hätten wir heute einen anderen Koalitionsvertrag. ({4}) Aber: Verträge, die geschlossen sind, sind einzuhalten, und daran halten wir uns in der Union. ({5}) Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob es der FDP wirklich politisch nützt, wenn sie hier immer wieder lautstark indirekt die Union zum Vertragsbruch auffordert. Ich glaube, die Wählerinnen und Wähler verstehen ganz gut den Unterschied zwischen der Position einer Partei, der klaren Position der Union und der Notwendigkeit des Kompromisses in einer Regierungskoalition. Verlässlichkeit, meine Damen und Herren, ist ein Wert an sich in der Politik. ({6}) Deswegen ist für uns klar, dass wir weiter Gespräche führen, dass wir weiterverhandeln, jedenfalls nicht diese Verlässlichkeit infrage stellen, dass wir unsere Verlässlichkeit nicht wie Sie vor einem Jahr beschädigen, sondern klar vertragstreu bleiben. Unsere Position, die Position der Union ist klar: Wir wollen den vollständigen Abbau des Solidaritätszuschlags bis 2021 für alle. Wir wollen den Koalitionspartner überzeugen. Daran arbeiten wir unermüdlich weiter. Aber wir werden heute und auch in Zukunft keine Koalitionsverträge brechen, schon gar nicht in der Adventszeit. Ich will diesen Moment nutzen – weil das meine letzte Rede hier in diesem Jahr sein wird –, um allen jetzt schon ein gesegnetes und friedliches Weihnachtsfest zu wünschen. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Olav Gutting. – Nächster Redner: Christian Dürr für die FDP-Fraktion. ({0})

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU, Sie hatten am Wochenende einen sehr spannenden Bundesparteitag. ({0}) Mit seinem Spitzenpersonal entscheidet man über die politische Richtung. Wir haben davor großen Respekt – ich sage das in aller Klarheit – und wünschen Ihrer neuen Vorsitzenden, auch im Interesse des Landes, eine glückliche Hand. ({1}) Viel eindeutiger als die Wahl der Bundesvorsitzenden war allerdings der Beschluss, den der Kollege Gutting gerade angesprochen hat, nämlich zur Abschaffung des Solidaritätszuschlaggesetzes. Wir begrüßen den Beschluss des CDU-Bundesparteitags ausdrücklich. Er ist richtig. ({2}) Liebe Kollegen, Sie haben bereits heute die Möglichkeit, das, was Sie auf dem Bundesparteitag beschlossen haben, im Deutschen Bundestag zu billigen. Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie unserem vorliegenden Gesetzentwurf zu. ({3}) Herr Gutting, ich muss mich schon ein bisschen wundern, wenn ich jetzt höre, wie Sie sich hier vorne – vorsichtig formuliert – etwas gewunden haben. Sie haben gerade sieben Minuten Redezeit darauf verwendet, deutlich zu machen, dass die Freien Demokraten die richtige Position vertreten, dass es richtig ist, über den vorliegenden Gesetzentwurf abzustimmen und ihm zuzustimmen. Wenn es Ihnen um Glaubwürdigkeit geht, Herr Gutting, dann erwarte ich in der namentlichen Abstimmung eine Zustimmung der Kolleginnen und Kollegen der CDU Deutschlands, um das in aller Klarheit zu sagen. ({4}) Wer am Sonntag Parteitagsbeschlüsse fällt, wer sich am Sonntag vor den Augen der deutschen Öffentlichkeit dafür einsetzt, dass der Solidaritätszuschlag mit dem Ende des Solidarpaktes Ost ausläuft, wer das politisch beschließt, der muss im Bundestag politisch Taten folgen lassen. Der Soli gehört abgeschafft. Sie müssen zustimmen nach Ihrem Parteitagsbeschluss, Herr Kollege Gutting, liebe Kollegen der CDU. ({5}) Sie haben es vorhin gesagt: Damals in den 90er-Jahren war es ein Versprechen der CDU Deutschlands, dass der Soli abgeschafft wird, wenn die Solidarhilfen für Ostdeutschland auslaufen. Es war ein Versprechen von Helmut Kohl, der gesagt hat: Wir müssen den Soli abschaffen, wenn der Grund entfällt. – Der Grund entfällt Ende 2019. Deswegen darf der Soli am 1. Januar 2020 von den Menschen in Deutschland auch nicht mehr gezahlt werden, um das in aller Klarheit zu sagen. ({6}) Liebe Kollegen der CDU, das ist eine Frage des Anstands. Der Soli ist eine Sondereinkommensteuer des Bundes, die im Grundgesetz nicht vorgesehen ist. Er ist eine absolute Ausnahme. Der Soli ist nur gerechtfertigt, wenn es für ihn einen Grund gibt. Er ist juristisch – Sie haben es angedeutet, Herr Gutting – nicht mehr gerechtfertigt. Wer heute gegen den vorliegenden Gesetzentwurf der FDP stimmt, der ruft offen zum Rechtsbruch gegen die Verfassung Deutschlands auf, um das in aller Klarheit zu sagen. Das ist so. ({7}) Ich wundere mich fast, dass der Kollege Michelbach so ruhig bleibt; ({8}) eigentlich bin ich auf seine Zwischenrufe eingestellt. ({9}) Herr Kollege Gutting, Sie haben auf den November letzten Jahres Bezug genommen. Wir als Freie Demokraten erinnern uns sehr gut, mit welch belehrendem Ton Sie dieser Tage unterwegs sind und wie Sie sich im November letzten Jahres geäußert haben. Wir erinnern uns sehr gut an die Verhöhnung der Forderung der FDP durch Peter Altmaier und die Bundeskanzlerin, dass der Soli in dieser Wahlperiode wegfallen muss. Ich will Ihnen vorlesen, was damals vom geschätzten Kollegen Eckhardt Rehberg gesagt worden ist – Zitat –: „Der vollständige Abbau des Solidaritätszuschlags … ist für den Bundeshaushalt nicht finanzierbar“. Das war am 10. November 2017. Jetzt haben Sie die Entscheidung getroffen, dass der Soli weg muss. ({10}) Lassen Sie Ihren Worten heute Taten folgen. Das ist Ihre bürgerliche Pflicht. ({11}) Zum Schluss. Es gibt nur einen einzigen Grund, warum der Soli heute nicht abgeschafft werden kann, und zwar, weil Sie es eigentlich politisch nicht wollen. Vor einem Jahr haben Sie sich hinter den Haushaltszahlen des Bundes versteckt. Heute verstecken Sie sich hinter Ihrem Koalitionspartner. Meine Damen und Herren, Ihr Parteitagsbeschluss vom Sonntag bleibt, wenn Sie heute nicht zustimmen, pure Heuchelei, um das in aller Klarheit zu sagen. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Fabio De Masi. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich habe hier 160 Euro Steuergelder aus dem Geldautomaten der Sparkasse im Reichstagsgebäude. Warum Steuergelder? Wenn ein Abgeordneter wie Sie oder ich zum Geldautomaten geht, dann zieht er Steuergelder; denn die Menschen, die hier oben auf den Tribünen sitzen, zahlen unser Gehalt. Warum 160 Euro? Um 160 Euro würden Bundestagsabgeordnete, also Spitzenverdiener wie Sie und ich, Monat für Monat in der Spitze entlastet werden, wenn wir den Soli abschaffen. Das gilt für Unverheiratete ohne sonstige Abzüge. Leistung muss sich wieder lohnen. Eine Kellnerin oder ein Paketzusteller würde für 160 Euro zum Mindestlohn etwa zwei Tage schuften. Die Steuern sind dann noch nicht bezahlt. Sie hier müssen für dieses Geld einfach nur bei den Anträgen von AfD und FDP die Hand heben. Das ist bequem, aber unanständig. ({0}) Es ist ein alter Trick: Wenn man sich selbst aus der Staatskasse bedient, erklärt man dem Rest der Bevölkerung, das sei auch gut für sie. Wir sind in der Weihnachtszeit, da liest man sich gerne Märchen vor. Ich hingegen bin für Mut zur Wahrheit. Ein Faktencheck. Erstens. 40 Prozent der Steuerzahler zahlen keinen Soli, weil sie zu wenig verdienen. Der Soli wird von Ossis wie Wessis gezahlt, und er fließt nicht nur in den Osten, sondern auch nach Hamburg-Wilhelmsburg oder nach Duisburg-Marxloh; denn er hat im Haushalt keine Zweckbindung. Zweitens. Die einkommensstärksten 10 Prozent der Bevölkerung zahlen über 11 Milliarden Euro oder 62 Prozent des Soliaufkommens. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung trägt nur 0,3 Milliarden Euro oder 1,7 Prozent bei. Drittens. Eine vollständige Abschaffung des Soli ist daher nach Adam Riese eine Entlastung der Spitzenverdiener in diesem Land. ({1}) In den letzten 20 Jahren wurden die unteren 70 Prozent der Bevölkerung steuerlich belastet und die oberen 30 Prozent stärker entlastet. Es mag ja schlichte Gemüter geben, die meinen, die Wirtschaft läuft besser, wenn der Teufel sein Geschäft immer auf dem größten Haufen verrichtet. Mir leuchtet das nicht ein. Bei der FDP ist es konsistent; denn Sie sind die Partei der Besserverdiener. ({2}) Bei der AfD ist es einfach nur verlogen; denn Sie spielen den Staatsanwalt der kleinen Leute, dabei hängen Sie am Portemonnaie bzw. am Rockzipfel des Mövenpick-Spenders und Oligarchen Finck. ({3}) Die Mehrheit der Bevölkerung braucht aber Straßen, Brücken, Kitas oder Pflege. Bei einer vollständigen Abschaffung des Soli entgehen dem Bund jährlich bis zu 20 Milliarden Euro – Jahr für Jahr. Deutschland hat einen riesigen Investitionsstau, gerade auf dem Land, wo mancherorts kaum noch Busse oder Bahnen fahren. Die Kommunen brauchen unsere Unterstützung. Sie müssen also schon beantworten, wie Sie die ganze Asche wieder reinholen wollen. Wollen wir den Laden einfach dichtmachen oder demnächst die Mehrwertsteuer erhöhen? Die Mehrwertsteuer trifft die Kassiererin bei Penny, die kaum etwas sparen kann und fast ihr gesamtes Geld für Lebensmittel oder Miete ausgeben muss. Zur Ehrlichkeit gehört: Sie oder ich, wir fallen weich, weil wir einen geringeren Teil unseres Einkommens in den Supermarkt tragen. Es gibt gute Gründe, warum der Soli weiterhin verfassungsfest begründet werden kann. ({4}) Wenn Sie das anders sehen, dann gehen Sie eben nach Karlsruhe und lassen die dort ihren Job machen und entscheiden. ({5}) Meine Fraktion wird die Hand nicht dafür heben, dass wir uns selbst zu Weihnachten beschenken. ({6}) Tun Sie endlich etwas für die hart arbeitenden Menschen in diesem Land, die sich anstrengen, aber auf keinen grünen Zweig kommen. Bereichern Sie sich nicht selbst. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Lisa Paus ist die nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Solidebatte, die wir in diesem Jahr in diesem Hause schon zum vierten Mal führen, ist ein typisches Beispiel dafür, was in der politischen Debatte in Deutschland schiefläuft. Den Soli gibt es jetzt schon seit über 20 Jahren. Wenn wir uns die Verteilung der Steuerlast in Deutschland anschauen, muss man feststellen, dass im Jahr 2018 gerade die Menschen mit wenig Einkommen tatsächlich 5 Prozent mehr von ihrem Einkommen zum Gesamtsteueraufkommen beitragen als vor 20 Jahren. Und das macht auch die Mittelschicht – also die richtige, nicht die gefühlte von Friedrich Merz. ({0}) Der Bäckereifachverkäufer zahlt heute 2 Prozent mehr ins Gesamtsteueraufkommen ein als noch vor 20 Jahren. Und das, meine Damen und Herren, ist zutiefst ungerecht. ({1}) Aber woran liegt das? Bei diesen Menschen ist die Entlastung durch die rot-grüne Einkommensteuerreform von 1999 vor allem durch die Mehrwertsteuererhöhung der Großen Koalition von 2017 von 16 auf 19 Prozent eben mehr als aufgefressen worden; und seitdem hat sich für diese Menschen nichts verbessert. Und deshalb habe ich wirklich tiefstes Verständnis für jeden dieser Menschen, der deswegen auf uns, auf die Politik, sauer ist. Wir haben da ein Gerechtigkeitsproblem. Wir brauchen die Entlastung der unteren und mittleren Einkommen. ({2}) Aber jetzt wird es schräg; denn jetzt kommen FDP, AfD und Union und versprechen, genau das einzulösen, worauf die Leute warten, nämlich endlich die unteren und mittleren Einkommen zu entlasten, und zwar mit der Abschaffung des Soli. Nur, meine Damen und Herren, dieses Versprechen ist faul. Es ist schlicht nicht wahr! Es ist gelogen! ({3}) Denn diejenigen mit der höchsten Steuermehrbelastung gegenüber 1998 zahlen gar keinen Soli, sie haben also auch keinen Euro mehr im Portemonnaie, wenn er abgeschafft wird. ({4}) Ein Single zum Beispiel mit einem Monatsbrutto von 1 500 Euro oder eine Familie mit zwei Kindern mit einem Monatsbrutto von 4 300 Euro haben keinen einzigen Euro mehr, wenn wir, wie Sie es heute wollen, den Soli abschaffen. ({5}) Trotzdem nehme auch ich wahr: Die Abschaffung des Soli ist populär. Aber woher kommt das eigentlich? Weil der Soli seit 1999 so stark in die Einkommensteuer integriert ist, dass es auch verwirrende Beispiele gibt. Bei Singles wird er deutlich früher fällig als bei Familien mit Kindern; und so gibt es zum Beispiel auch den Bäckereifachverkäufer mit 2 100 brutto, der doch um 9 Euro pro Monat entlastet würde, wenn der Soli abgeschafft würde, und der vielleicht dafür ist, weil er es in der „Bild“-Zeitung gelesen hat. Das verstehe ich auch. Aber was Sie machen, ist trotzdem überhaupt nicht in Ordnung; denn Sie benutzen diesen Bäckereifachverkäufer. Sie veräppeln ihn. Sie nutzen seinen guten Glauben, um wiederum die Interessen der Topverdiener, der Friedrich Merze Deutschlands, oder der geheimen Großspender durchzusetzen. ({6}) Ja, Sie von AfD, FDP und Union wissen nämlich, was Sie tun. Sie wissen, dass von den 20 Milliarden Euro Solientlastung bei unserem Bäckereifachverkäufer und all denen, die so viel verdienen wie er, eben nur ganze 200 Millionen Euro landen, während über 11 Milliarden Euro an die Top 10 Prozent, an die Topverdiener in Deutschland gehen. ({7}) Das ist das Gegenteil einer gerechten Politik; und deswegen lehnen jedenfalls wir dies ab. ({8}) Wenn Sie damit konfrontiert werden, argumentieren Sie gerne, ja, das stimme zwar, aber das zeige ja nur, dass eben die Top 10 Prozent vorher so einen Riesenbeitrag zum Aufbau Ost geleistet hätten; aber auch das ist schlichtweg falsch. Denn tatsächlich tragen die Top 1 Prozent – nehmen wir eine noch kleinere Gruppe – heute sogar weniger zum Gesamtsteueraufkommen bei als vor 20 Jahren, und zwar um 4,8 Prozent. Deswegen formuliert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, dass der Soli in den letzten 20 Jahren bei den Spitzenverdienern sogar schon zweimal abgeschafft worden sei. Der Soli selbst lag für diese Steuerzahler all die Jahre zwar auch bei 5,5 Prozent, aber: Es wurde der Spitzensteuersatz von 53 auf 44,3 Prozent gesenkt, und das inklusive Soli. Die Unternehmensteuern wurden zweimal gesenkt, das letzte Mal noch einmal um 10 Prozent. Die Abgeltungsteuer wurde eingeführt; das erleichtert die Steuerlast für Kapitalerträge. Die Vermögensteuer wurde abgeschafft. Die Erbschaftsteuer auf Unternehmensübertragungen ist praktisch beseitigt. – All das hat dazu geführt, dass eben genau diese diesen Beitrag nicht geleistet haben. Auch deswegen lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. – Ginge es Ihnen wirklich um die unteren und mittleren Einkommen, dann würden Sie die Umsatzsteuererhöhung wieder zurücknehmen. Der „Soli“ besteht zwar seit über 20 Jahren als Name, und seine Abschaffung ist fällig. Aber er ist seit der Einkommensteuerreform 1999 faktisch ein genuiner Teil der Einkommensteuer.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, die Redezeit ist abgelaufen.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deswegen sollte er endlich vollständig in die Einkommensteuer integriert und damit abgeschafft werden, und dann sollten die unteren und mittleren Einkommen gezielt entlastet werden. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Lothar Binding das Wort. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich das vorhin richtig verstanden habe, hat der Kollege Dürr die CDU-Fraktion zum Vertragsbruch aufgerufen. ({0}) Das ist für eine Rechtsstaatspartei eine interessante Sache. Jetzt wundert mich auch nicht mehr, warum Sie Sorge hatten, mit der CDU/CSU einen Koalitionsvertrag zu schließen; denn Sie hätten diese gleichzeitig aufgefordert, diesen zu brechen. ({1}) Sie haben sich in die Falle zwischen „Appell folgen“ und „vertragstreu sein“ hineinbegeben. Es stellt sich die Frage, was schlimmer wäre. Das ist ein ganz schwieriges Terrain. Ich glaube, da muss man ein bisschen aufpassen. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kubicki?

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich trage geschlossen vor. – Ich will noch etwas sagen: Dahinter verbirgt sich aber noch ein Gedanke, den ich ganz gefährlich finde: Der CDU-Parteitag habe das beschlossen. – Natürlich, Parteitage beschließen, was Fraktionen hier machen, wenn die Partei und die Fraktion hier allein die Mehrheit hat. Aber Sie sind ja gar nicht für eine Partei hier – und das ist der Unterschied –, sondern von einer Partei. Jedenfalls ist das das Grundverständnis der SPD: Wir sind von einer Partei hier, aber für alle Bürger. ({0}) Deswegen zählen unsere Parteitage nur so viel, wie sich hier im Koalitionsvertrag wiederfindet. ({1}) Das ist eine in sich konsistente Politik; und das sind auch ein fairer Umgang und Vertragstreue. Und wenn Sie das mit dem Begriff der Heuchelei verbinden, dann müssen Sie das einmal genauer erklären. Seit 1995 gibt es einen Finanzierungsbedarf. Dieser ist auch begründet; das weiß jeder. Dieser wird durch den Soli gedeckt, und dieser Bedarf nimmt stetig ab. Deshalb wollen wir auch den Soli abschaffen, aber schrittweise. Und das ist auch verfassungsgemäß. ({2}) Und die Verfassungswidrigkeit stellt hier kein Redner fest, kein Gutachten und kein Antrag, sondern diese stellt das Bundesverfassungsgericht fest. Und darauf können Sie sich noch nicht berufen. ({3}) Und im Koalitionsvertrag – das haben wir schon gehört – – ({4}) – Ich habe gesagt: schrittweise. – Aber ihn für 90 Prozent im ersten Schritt abzuschaffen, ist schon ein ziemlich großer Schritt. ({5}) Er wird für 90 Prozent aller Solizahler abgeschafft; und die obersten 10 Prozent bezahlen das. ({6}) Nun sagen ja FDP und AfD, er solle vollständig abgeschafft werden, und sie begründen das damit, dass man den Armen, denjenigen mit kleinen und mittleren Einkommen, helfen wolle. Und jetzt frage ich, wie Sie auf diese Idee kommen. ({7}) Es wurde eben von Lisa Paus schon vorgetragen, dass die kleinen und mittleren Einkommen überhaupt keinen Soli bezahlen. ({8}) Die kleinen Einkommen bezahlen noch nicht einmal Einkommensteuer. Die kleinen Einkommen bezahlen also vorher nichts, und nach Ihrer großen Reform bezahlen sie wieder nichts, und deshalb haben sie davon nichts. Insofern ist das relativ einfach. ({9}) Und jetzt sagen Sie: Ja, aber wir wollen die mittleren Einkommen entlasten. – Dazu brauchen wir keinen Antrag; dass wir die mittleren Einkommen entlasten, steht in unserem Koalitionsvertrag. Denn die Bezieher mittlerer Einkommen sind sicher diejenigen, die innerhalb dieser 90-Prozent-Zone liegen. Oder wollen Sie sagen: Die obersten 10 Prozent sind schon die Mitte? – Also diese Mitte müssen Sie mir noch einmal erklären. Das ist jedenfalls nicht mein Verständnis von Mitte und daher für mich nicht ganz leicht zu verstehen. ({10}) Also insofern: Die Entlastung für die reichen Leute wäre riesig. Aber Sie haben vielleicht auch ein bisschen recht, weil das schon ab 70 000 Euro greift. Und es gibt Arbeitnehmer, die mit ihrem letzten, vorletzten oder drittletzten Euro schon in dieser Progressionszone beim Spitzensteuersatz liegen werden. Aber für die ist das gar nicht so schlimm, weil nämlich die Belastung, die dort beginnt, klein ist. ({11}) Aber – wir haben es schon gehört –: Wir als Abgeordnete profitieren davon sehr viel. Die Vorstände der DAX-Unternehmen profitieren davon sehr viel. Und ich finde, es ist in Ordnung, dafür zu kämpfen. ({12}) Aber sagen Sie dies. Sagen Sie: „Wir machen für 10 Prozent der Reichsten Politik.“ Dann finde ich das in Ordnung und sage: Ja, die FDP sagt die Wahrheit. – Was heute passiert ist, war nicht die Wahrheit. Das ist völlig klar. ({13}) Vorhin wurde noch gesagt, dass es mit den Anträgen so lange gedauert hätte. Das stimmt wirklich. Dafür gab es verschiedene Gründe. Ich will es einmal so sagen: Der erste Grund war natürlich die Bayern-Wahl. Aber es gibt noch einen viel wichtigeren Grund. ({14}) Der ganz wichtige Grund ist, dass wir überall nach einer Gegenfinanzierung gesucht haben. ({15}) Wir haben in allen Ecken und Enden gesucht und gefragt: Wer bezahlt diese 10 Milliarden eigentlich? In Ihren Anträgen sind wir nicht fündig geworden. ({16}) Mit solchen Anträgen können Sie sicher nicht auf Unterstützung hoffen. Vielen Dank, alles Gute und ein bisschen mehr Wahrheit. ({17})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Wolfgang Kubicki das Wort.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001235, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Binding, ich habe Ihrer Rede mit großer Begeisterung gelauscht. ({0}) Dabei sind mir einige Dinge aufgefallen, an welchen ich Sie gern teilhaben lassen möchte. Erste Anmerkung. Sie haben den Kollegen Dürr massiv angegriffen, er fordere die Union zum Vertragsbruch auf. Ich weiß gar nicht, ob Ihnen aufgefallen ist, dass die Union am Wochenende den Vertragsbruch beschlossen hat. ({1}) Denn sie hat beschlossen, dass bis zum Jahre 2021 der Solidaritätszuschlag vollständig abgebaut werden soll. ({2}) Also werfen Sie nicht Herrn Dürr etwas vor, was Sie eigentlich Ihrem Koalitionspartner vorwerfen müssten, der sich auf dem Parteitag als nicht vertragstreu erwiesen hat. ({3}) Zweite Anmerkung. Ich habe zur Kenntnis genommen, wie schnell die SPD dabei ist, ihre Vorsitzenden auszuwechseln; aber ich kann mich erinnern, dass im August 2017 Ihr damaliger Spitzenkandidat Martin Schulz öffentlich erklärt hat, dass die SPD bis zum Jahre 2021 den Solidaritätszuschlag vollständig abschaffen werde. ({4}) Nun kann man sich fragen: Führt der Austausch von Vorsitzenden dazu, dass man sich auf Aussagen der SPD nicht mehr verlassen kann? Stehen Sie nicht mehr dazu, oder war es eine Wählertäuschung im Jahre 2017? Dazu müssen Sie sich vielleicht auch verhalten. ({5}) Dritte Anmerkung. Ich halte es wirklich für logisch und auch nachvollziehbar, dass Menschen, die keine Steuern zahlen, von einer Steuerreform oder einer Absenkung von Steuern überhaupt nichts haben, weil das nur bei denen der Fall ist, die Steuern zahlen. Insofern ist der dauernde Hinweis darauf, dass die 40 Prozent, die keine Steuern zahlen, davon nicht betroffen wären, geradezu komisch. ({6}) Es ist jedenfalls kein Argument dafür, dass diejenigen, die Steuern zahlen und in der Vergangenheit belastet wurden, jetzt nicht entlastet werden müssen, nachdem ihnen das seit Jahrzehnten versprochen worden ist. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Binding, wenn Sie antworten wollen, haben Sie jetzt Gelegenheit.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielleicht ganz kurz. – Sie zitieren Martin Schulz, und da muss ich sagen, dass die halbe Wahrheit auch immer die halbe Lüge ist, weil ja die eine Hälfte dann fehlt. ({0}) Sie haben recht: Er hat den Vorschlag gemacht, den Solidaritätszuschlag vollständig abzuschaffen. Übrigens haben wir das auch in den Koalitionsverhandlungen vorgeschlagen. Sie können das nicht wissen – Ihre Koalitionsverhandlungen haben Sie abgebrochen, aber bei unseren war es so. ({1}) – Ja, da kann man sich auf die Schenkel klopfen. Das ist klar. ({2}) Ich bin sonst kein guter Bierzeltredner, aber heute scheint es zu gelingen. Martin Schulz hat auch gesagt, dass wir die Einkommensteuerstruktur, die Tarifkurve, ändern müssen, ({3}) dass wir den Spitzensteuersatz hochziehen müssen, später beginnen lassen müssen, dass wir den Steuersatz bei den unteren Einkommen absenken müssen. Das hätte den Effekt gehabt, dass wir die mittleren Einkommen entlasten und die hohen Einkommen – da haben Sie recht – etwas mehr belasten, weil wir der Meinung sind: Wenn jemand im Staat meint, man komme mit 12 000 Euro im Jahr aus, dann muss den anderen 10 000 Euro am Tag genügen. – Da kommen wir hin, wenn wir den Spitzensteuersatz – ich würde mal sagen: noch ein gutes Stück – nach oben ziehen. Wenn Sie diese Hälfte mitdenken, dürfen Sie sagen: Wir wollen den Soli vollständig abschaffen. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der FDP und der Antrag der AfD zur Abschaffung des Solidaritätszuschlags gleichen sich fast wie ein Ei dem anderen. ({0}) Beide beschränken sich darauf, die Abschaffung zu fordern, bleiben aber eine haushalterische Unterlegung schuldig. ({1}) Das, meine Damen und Herren, ist unredlich und unseriös. Das ist ein leicht durchschaubares Propagandamanöver der FDP und der AfD. Das ist die Situation. ({2}) Meine Damen und Herren, damit erweisen Sie dem politischen Ziel einer vollständigen Abschaffung des Soli eher einen Bärendienst. Tatsache ist: Es gibt einen Koalitionsvertrag, eine Vereinbarung zur Soliabschaffung.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Christian Dürr? ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, alle wollen abstimmen, aber Herr Dürr möchte noch mal deutlich machen, dass die FDP einen Schaufensterantrag gestellt hat. ({0})

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Herr Kollege Michelbach, da Sie die Beratungen über den Bundeshaushalt 2019 sicherlich, wie wir alle hier, intensiv mitverfolgt haben, wissen Sie, dass die Freien Demokraten im Deutschen Bundestag über 300 Änderungsanträge gestellt haben und Ihnen gezeigt haben, dass im Bundeshaushalt 2019 die Möglichkeit besteht, die Bundesschuld um 19  Milliarden Euro zu reduzieren. Damit wäre der Soli bereits im kommenden Jahr locker finanziert. – ({0}) Erste Bemerkung, meine Damen und Herren. ({1}) Die zweite Bemerkung. ({2}) Herr Dr. Michelbach, nachdem jetzt die SPD erklärt hat, dass der Soli abgeschafft wird, nachdem Herr Gutting erklärt hat: „Der Soli muss weg“, erklären Sie gerade: Der Soli muss weg. – Hier sitzt eine Fraktion, die gleich einem Gesetzentwurf zustimmen wird – ihrem eigenen –, mit dem der Soli abgeschafft werden soll. Wie erklären wir den Menschen in Deutschland, dass heute nicht beschlossen wird, den Soli abzuschaffen, wenn doch vier Parteien und drei Fraktionen der Auffassung sind, dass er abgeschafft werden muss? Das hätte ich gerne gewusst. ({3})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dürr, unsere Steuerzahler wollen natürlich eine Entlastung. Sie wollen aber auch stabile haushaltspolitische Verhältnisse. ({0}) Ich kann Ihnen nicht verwehren, die Abschaffung des Soli zu fordern. Aber wo ist denn im Haushaltsausschuss Ihr Vorschlag zu Einsparungen? ({1}) Da können Sie doch mal deutlich machen, was die Lösung sein soll. Sie haben Haushaltskosmetik betrieben. Sie haben keine klaren Einsparungen benannt. ({2}) Deswegen ist das unseriös und entspricht letzten Endes nicht stabilen haushaltspolitischen Verhältnissen. ({3}) Ich bleibe dabei, dass Sie mit diesem Propagandamanöver der vollständigen Abschaffung des Soli eher einen Bärendienst erweisen. Tatsache ist: Es gibt einen Koalitionsvertrag, eine Vereinbarung zur Soliabschaffung. Danach soll die Belastung für 90  Prozent der Solizahler im ersten Schritt wegfallen. ({4}) Aber wir wollen nach dem ersten Schritt einen Zeitplan für den endgültigen Abbau festlegen. Unsere Parteitagsbeschlüsse sind hier ganz klar; sie sind ausdrücklich mit der Voraussetzung der Haushaltsdeckung verbunden. ({5}) Sie beantworten die Frage der Haushaltsdeckung nicht, meine Damen und Herren. Nur Forderungen aufzustellen, ohne für eine Haushaltsdeckung zu sorgen, ist einfach zu kurz gesprungen. Sie erweisen der Abschaffung des Soli einen Bärendienst, weil die Glaubwürdigkeit fehlt. Wir wollen keine Steuersenkungen ({6}) durch Steuererhöhungen. ({7}) Wir wollen keine Steuersenkung auf Pump, die – ohne Haushaltsdeckung -haushaltspolitisch fehlgeleitet wäre. Wir wollen letzten Endes die willkürliche Spaltung der Steuerzahler verhindern. Das ist nach meiner Ansicht aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten. Das ist das Problem, das wir mit der SPD beraten müssen: Die meisten Staatsrechtler und Verfassungsrechtler bestätigen inzwischen die Meinung, dass eine willkürliche Teilung – 90 Prozent bzw. 10 Prozent der Steuerzahler – ({8}) letzten Endes nicht verfassungskonform ist. Darüber werden wir reden, darüber werden wir beraten. ({9}) Unser Ziel ist, auch mit dem Koalitionspartner die Argumente auszutauschen und verfassungsrechtliche Fragen zu klären. Dafür sprechen gewichtige Gründe. Der Soli wurde 1991 erstmals eingeführt, um die Belastungen der deutschen Einheit zu finanzieren. Der Solidarpakt II für den Aufbau Ost endet mit dem Jahr 2019. Deswegen ist es auch eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit, nicht nur 90  Prozent der Steuerzahler zu entlasten bzw. verfassungsrechtlich zu prüfen, ob eine willkürliche Teilung überhaupt rechtskonform ist, meine Damen und Herren. ({10}) Ich glaube, wer soziale Gerechtigkeit mit Sozialneid verwechselt und deshalb die angeblichen Besserverdienenden schröpfen will, sollte sich gerade bei dieser Steuerfrage genau überlegen, wen er mit dem Festhalten am Soli tatsächlich trifft. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage? ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, danke schön. Jetzt will man endgültig abstimmen. – Es träfe nämlich nicht nur ein paar Superreiche; es träfe 5 Millionen Menschen in diesem Land. ({0}) Sie zahlen 50 Prozent des Soliaufkommens. ({1}) Das sind 10 Prozent der Steuerzahler; das sind keine Millionäre. ({2}) Es geht hier also nicht um eine Millionärsteuer. Es gibt nicht 10 Prozent Superreiche in Deutschland. Es träfe die fleißigen und aufstiegsorientierten, qualifizierten Arbeitnehmer und Angestellten, den Ingenieur, den Krankenhausarzt, den Handwerksmeister, den risikobereiten Selbstständigen, die mittelständischen Betriebe insgesamt. Das sind letzten Endes die 10 Prozent, die betroffen sind. ({3}) Das sind auch oft Arbeitgeber. Wenn ich diese Leute entlaste, dann werden sie auch mehr Beschäftigung und mehr Investitionen erzielen, meine Damen und Herren. ({4}) Deswegen wird ein Schuh daraus, dass wir die vollständige Abschaffung durchführen wollen. Wir schenken mit der Soliabschaffung unseren Menschen nichts. Wir geben der arbeitenden, qualifizierten Bevölkerung bzw. den Steuerzahlern einen persönlichen Freiraum. Sie wissen selbst am besten, mit ihrem Geld sinnvoll umzugehen. „Mehr Netto vom Brutto“ und „Leistung muss sich lohnen“, das muss ein Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit bleiben, meine Damen und Herren. Deshalb werden wir mit der SPD intensiv beraten, um eine ganzheitliche Solilösung, eine verfassungskonforme Lösung über die bisherige Formel des Koalitionsvertrages hinaus, hinzubekommen. Dazu gehört auch, dass wir selbstverständlich – und das betone ich noch mal – an der soliden Haushaltspolitik der schwarzen Null festhalten, also keine Soliabschaffung auf Pump. Wir werden auch nicht wegen der FDP und wegen der AfD schon gar nicht den Koalitionsvertrag brechen oder der Koalition untreu werden. ({5}) Das machen wir nicht. Eine gute Sachargumentation hat sich schon immer den Weg gebahnt. Wir werden unsere Argumente einbringen, und wir werden auch in der Zukunft gute Lösungen finden. Deshalb darf ich zur Soliabschaffung sagen: Friede sei mit euch. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Aufhebung des Solidaritätszuschlagsgesetzes von 1995. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/6406 und Drucksache 19/6440, den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/1038 abzulehnen. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktion der FDP namentlich ab. Ich möchte darauf hinweisen, dass mir mehrere Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vorliegen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die namentliche Abstimmung über den Gesetzentwurf auf Drucksache 19/1038. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksachen 19/6406 und 19/6440 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/1179 mit dem Titel „Antrag auf sofortige und uneingeschränkte Abschaffung des Solidaritätszuschlags“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Das sind die Grünen, FDP, Die Linke, CDU/CSU und die SPD. – Gegenprobe! – AfD. Enthaltungen? – Keine. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.

Not found (Unbekannt)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist die zweite Debatte zum Jahresbericht 2017. Inzwischen liegt eine Stellungnahme der Regierung vor. Wir haben sie am 17. Oktober im Verteidigungsausschuss diskutiert. Um mit dem Positiven zu beginnen: Manche meiner Beanstandungen haben zu erfreulicher Aktivität geführt. Ich kann nur dazu ermuntern, die Hinweise in den Berichten für Verbesserungen zu nutzen. Sie kommen ja oft von den besten Experten, die dieses Land in militärischen Fragen hat, nämlich von den Soldatinnen und Soldaten selbst. Das ist, wenn Sie so wollen, sehr preisgünstige Eins-a-Inhouseberatung. Ich freue mich, dass das Thema der persönlichen Ausstattung – Schutzwesten, Stiefel, Bekleidung, moderne Helme, Nachtsichtgeräte – jetzt ganz oben auf der Agenda des Ministeriums steht und dass das Parlament bereit ist, dafür jederzeit zusätzliche Mittel zu bewilligen. Ich freue mich auch, dass die Koalition einig ist, bis 2024 den Verteidigungsetat auf dann 1,5 Prozent des deutschen BIP anzuheben. ({0}) Das ist das Gute. Das Ärgerliche ist: Es geht immer noch viel zu langsam mit allen Beschaffungen. Liebe Frau Ministerin, lassen Sie sich bitte nicht weismachen, man könne im Jahr weltweit nur 6 000 bundeswehrtaugliche Schutzwesten kaufen. Dann brauchen Sie 30 Jahre, um 180 000 Soldatinnen und Soldaten einmal auszurüsten. Und jeder braucht ja seine eigene passende Weste, weil sie nun mal für die Schießausbildung zwingend vorgeschrieben ist. Wenn wir solche Basics nicht schneller hinbekommen, dann müssen wir auch nicht versuchen, Kampfflugzeuge der sechsten Generation in Auftrag zu geben, die schon in 20 Jahren fliegen sollen. Also, die Priorität ist richtig, aber jetzt bitte Dampf machen! Wir brauchen bessere Beschaffungsstrukturen. Immerhin sollen drei Paar neue Stiefel für jede und jeden bis 2020 vollständig ausgeliefert sein. Das ist okay. Weiter das Positive. Ich hatte letzte Woche Gelegenheit, nach Afghanistan zu fliegen – mit der Luftwaffe, unserer Luftwaffe, mit dem A400M. Hin und zurück. ({1}) Pünktlich ab, pünktlich an. Nonstop. Wenn ich Ihnen ein Geheimnis verraten darf: Das ist ein gutes Flugzeug, schnell, groß, modern. Wer hätte das gedacht nach alle den Jahren, nach all dem Ärger? Die Elbphilharmonie kann endlich fliegen. ({2}) Ein Teil der Soldaten, die mit uns zurückflogen, hatte im Übrigen auf eine amerikanische C17 gewartet, die nicht kam. Jetzt können wir selber fliegen. Herzlichen Glückwunsch, Luftwaffe! ({3}) Nebenbei: Als wir wieder in Wunstorf landeten, stand vor der Halle ein A400M, der wenige Minuten zuvor aus al-Asrak zurückgekommen war. Auch Gao wird inzwischen direkt von Deutschland aus angeflogen. So muss es sein. Wenn jetzt also mithilfe des LTG 62 und der Flugbereitschaft endlich ein stabiler Shuttlebetrieb von der Heimat in die Einsatzgebiete möglich wird, dann sollte das Gewürge mit den In- und Outflügen ein Ende haben. Schluss mit Flugausfällen und Verspätungen! Unsere Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien haben gute deutsche Planbarkeit verdient. ({4}) – Absolut! Das macht es noch eine Weile. Was dagegen schlecht und tendenziell immer schlechter funktioniert, ist die Luftbeweglichkeit in den Einsatzgebieten selbst, in Afghanistan und Mali. Angemietete Transporte in ungeschützten zivilen Hubschraubern und Flugzeugen bergen ein hohes Sicherheitsrisiko. Wir brauchen mehr eigene deutsche militärische Hubschrauber im Einsatz, aber ohne dass dann gleich zu Hause der ganze Ausbildungsbetrieb zusammenbricht. Die vorhandenen Kapazitäten reichen hinten und vorne nicht. Hier geht es nicht darum, irgendetwas neu zu erfinden, zu entwickeln oder zu zertifizieren, sondern einfach um mehr eigene Kapazitäten – jetzt, so schnell wie möglich. Gefreut habe ich mich darüber, dass das Heer meine Forderung aus dem letzten Jahresbericht aufgegriffen hat, in den Stäben der Verbände Dienstposten für eine Art Kümmerer einzurichten, also Stabsoffiziere mit langer Stehzeit am Standort, die sich um all das hauptamtlich kümmern, wofür der Verband selbst offiziell gar nicht zuständig ist: Infrastruktur, Kinderbetreuung, WLAN, Verkehrsanbindung. Denn all das ist existenziell für die Soldatinnen und Soldaten unserer Pendler- und Elternarmee. Insbesondere für die vielen viel zu langwierigen Baumaßnahmen dürfte diese Initiative ein bisschen Druck aufbauen. Das wird nun erst mal an einzelnen Standorten getestet. Andere militärische Org-Bereiche sollten sich zum Mittesten eingeladen fühlen. Dass Beschleunigung bei neuer Unterbringung möglich ist, zeigen die Beispiele in Wilhelmshaven für die Einsatzflottille 2, in Dresden bei der Heeresoffizierschule und in München an der Bundeswehruniversität. Fast-Track-Projekte für zusätzliche Bettenkapazitäten brauchen wir überall. Bettenmangel ist nicht attraktiv, wirklich nicht! Nutzen Sie die guten Beispiele! Gut war auch der Pilotversuch mit einer neuen sport­orientierten Grundausbildung, durchgeführt bei den Panzergrenadieren in Hagenow. ({5}) Damit hatte das Kommando Heer sehr schnell auf die im letzten Jahr zutage getretenen Überlastungserscheinungen bei der Ausbildung, insbesondere beim körperlich fordernden Gefechtsdienst im Gelände, reagiert. Es gab etliche Verletzte und einen Toten; das ist inakzeptabel. Das, was man an physischer Leistungsfähigkeit erwartet, darf man heute nicht mehr einfach voraussetzen, sondern man muss und kann die Leistungsfähigkeit trainieren. Das geschieht nun in den ersten Wochen der allgemeinen Grundausbildung. Dafür werden andere Ausbildungsinhalte gekürzt. Da aber auch etwa die umfassende Waffenausbildung zu den Essentials des Soldatenberufs gehört, muss man klären, wann und wo das systematisch nachgeholt werden kann. Das scheint mir bisher noch offen zu sein. Offen ist übrigens auch noch eine zu große Zahl von Dienstposten im Bereich PTBS-Betreuung und insgesamt im Sanitätsdienst, auch wenn es um die Basisversorgung geht. Anderes Thema. Ausgehend von dem seltsamen Fall Franco A., gibt es eine wachsende Sensibilität für Auffälligkeiten im Bereich Rechtsextremismus. ({6}) Mein Eindruck ist, dass viele Soldatinnen und Soldaten genau hinschauen, wenn extremistisches Denken und Handeln offenbar werden. Für viele Soldatinnen und Soldaten ist es wirklich eine Frage der Ehre, dass sie Naziparolen, Ausländerfeindlichkeit, Judenhass, übrigens auch Frauenfeindlichkeit in der Bundeswehr nicht dulden wollen. ({7}) Auch das gehört zur Inneren Führung, zum Maßstab für Richtig und Falsch, den jeder Soldat und jede Soldatin in sich tragen muss. Extremismus, Rassismus, Antisemitismus und Sexismus haben in der Bundeswehr nichts verloren. ({8}) Letztes Thema, das Zurruhesetzungsalter. Dieses Thema verursachte schon im vergangenen Jahr und zunehmend auch in diesem Jahr erhebliche Unruhe unter den Berufssoldaten. Was das Problem ist, kann, glaube ich, jeder nachvollziehen. Hier sollen rückwirkend die Bedingungen verändert werden, zu denen sich die Soldaten vor 10 oder 20 Jahren verpflichtet haben, den Dienst in der Bundeswehr zu ihrem Lebensberuf zu machen. Damit hängen Lebensplanungen zusammen. Viele von den Langgedienten fragen mich, warum es Anreize und Attraktivitätsprogramme immer nur für das neue Personal gibt und für sie, das Bestandspersonal, das alle Belastungen aus den erweiterten Aufgaben der Bundeswehr heute klaglos zu tragen hat, für sie, die erfahrenen Berufssoldaten, gibt es immer nur neue Zumutungen. So empfinden es viele. Ich möchte deshalb dazu raten, bei den Überlegungen zur Anhebung der besonderen Altersgrenzen so weit wie irgend möglich auf Freiwilligkeit zu setzen. Für neue Berufssoldaten können dann gerne neue Regeln gelten. Aber für die alten muss es Anreize geben, wenn sie länger dienen sollen. Erfinden Sie, liebe Frau Ministerin von der Leyen, für eine Übergangszeit doch so etwas wie den „Berufssoldaten-Flex“: flexible, freiwillige Zurruhesetzungsgrenzen mit Anreizsystem. Ich bin sicher, dass viele Berufssoldaten, von denen manche ja heute schon gern als Reservisten wiederkommen, darauf einsteigen würden. Alles in allem: Vieles ist in Bewegung. Die Balance zwischen Aufgaben und Mitteln ist aber längst noch nicht erreicht. Die Stimmung ist nach wie vor angespannt. Vieles geht zu langsam. Verzeihen Sie meine penetrante Ungeduld, aber es ist, glaube ich, mein Job, aufs Tempo zu drücken. ({9}) Ich danke unseren vielen Ansprechpartnern in der Truppe und im Ministerium, der politischen Leitung ebenso wie den engagierten Personalvertretungen und Verbänden und dem Verteidigungsausschuss. Die Zusammenarbeit war durchweg angenehm. Auch meinem Team im Amt des Wehrbeauftragten, ohne das sich die Fülle der Themen überhaupt nicht bewältigen ließe, sage ich: Vielen Dank. ({10})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 2017 hat einige positive Entwicklungen bei der Bundeswehr zu vermelden. So steigt der Frauenanteil kontinuierlich an. Zu loben ist auch die verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ein wichtiger Faktor für die Bundeswehr als moderner und attraktiver Arbeitgeber. Fortschritte gibt es ebenso bei der Soldatenarbeitszeitverordnung. So gibt es etwa einen Ausgleich für Dienste an Wochenenden. Mehrtägige Seefahrten werden künftig durchgängig als solche betrachtet, und ein finanzieller Ausgleich für Hafenaufenthalte in Fremd- und Auslandshäfen wird möglich. Wichtig ist auch, dass wir eine gestiegene Sensibilisierung bei Fällen von Rechtsextremismus, sexueller Belästigung und unangemessenem Führungsverhalten verzeichnen können. Fragen der Inneren Führung fanden 2017 große Beachtung. Somit beschäftigt sich der Bericht mit den Ereignissen in Pfullendorf, Illkirch, Sondershausen und Munster. Trotz dieser Einzelfälle dürfen wir den hervorragenden Dienst unserer Soldaten nicht unter Generalverdacht stellen. Die Bundeswehr hat kein Haltungsproblem! Darüber hinaus verweist der Bericht darauf, dass noch immer fehlende Ersatzteile oder langwierige Verfahren bei der Wartung für eine zu geringe materielle Einsatzbereitschaft sorgen. Deshalb bin ich sehr froh, dass der Wehretat im Bundeshaushalt für das Jahr 2019 mit 43 Milliarden Euro um gut 12 Prozent aufwachsen wird. Damit die Bundeswehr aber ein attraktiver Arbeitgeber bleiben kann, müssen auch die Kasernen auf Vordermann gebracht werden. ({0}) Das Sofortprogramm zur Sanierung von Kasernen im Umfang von circa 2 Milliarden Euro ist der richtige Weg, um große Neubau-, Umbau- und Erweiterungsmaßnahmen anzugehen. Geld alleine ist aber noch nicht die Lösung. Eine starke Bürokratisierung wird im Bericht ebenfalls angesprochen. Ein Korsett an Regeln und Vorschriften zieht Bauprojekte oftmals unnötig in die Länge. Ich möchte das mit einem Beispiel aus meinem eigenen Wahlkreis veranschaulichen. In der Niederauerbach-Kaserne in Zweibrücken muss die Truppenküche aufgrund von Schimmelbefall saniert werden. Aufgefallen waren die Mängel bereits im Jahr 2016. Aber erst im Herbst 2018 wurden die Bauarbeiten begonnen. Bis zur Fertigstellung einer Interimsküche im Jahr 2019 wird das Essen von außerhalb geliefert. Bis dann wiederum die neue Truppenküche in Betrieb genommen werden kann, sollen ganze zehn Jahre vergehen. Das den Soldaten vor Ort zu erklären, ist alles andere als leicht. Zwar muss man hier auch kritisch in Richtung Landesbauverwaltung blicken, aber Beispiele wie diese zeigen deutlich, dass noch viel Arbeit vor uns liegt. In der Umsetzung von Maßnahmen müssen wir besser und schneller werden. Deswegen begrüße ich, dass das BMVg bereits mit der Aufstockung der für das Bauprojektmanagement zuständigen Gruppen richtige Schritte unternimmt und Infrastrukturmaßnahmen effizienter strukturieren wird. Zusammenfassend stelle ich fest: Der Bericht des Wehrbeauftragten und mit ihm die Sorgen und Nöte der Soldaten stoßen nicht auf taube Ohren. Wir sind noch nicht am Ziel. Aber die zusätzlichen Haushaltsmittel sowie die Anstrengungen in der Bundeswehr, dem Ministerium und hier im Parlament weisen den Weg zu einer starken Bundeswehr und damit zu mehr Sicherheit in Deutschland und Europa. Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, lassen Sie mich Ihnen und Ihren Mitarbeitern auch im Namen der CDU/CSU-Fraktion für Ihre wichtige Tätigkeit und die Arbeit am Jahresbericht 2017 sehr herzlich danken. ({1}) Ich wünsche Ihnen sowie den Angehörigen der Bundeswehr und ihren Familien ein frohes Weihnachtsfest und ein gesundes neues Jahr 2019. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Berengar Elsner von Gronow. ({0})

Berengar Elsner von Gronow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004708, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte und geehrte Kollegen! Im jüngsten, dankenswerten Bericht des Wehrbeauftragten lesen wir, dass die Lücken bei Personal und Material teils noch größer geworden sind. Die Einsatzbereitschaft vieler Waffensysteme sei dramatisch niedrig. Die enorme personelle Unterbesetzung habe sich verstärkt. Viele Soldaten seien überbelastet und frustriert. Es existiert ein Übermaß an Zentralisierung und Bürokratisierung. Die Verregelung von allem und jedem durch Tausende von selbstgemachten Bundeswehrvorschriften erstickt das Prinzip des Führens mit Auftrag. Das Dokument ist leider ein vernichtendes Zeugnis für die jahrelange Amtsführung der Verteidigungsministerin Frau Dr. von der Leyen und ihre Reform der Bundeswehr. ({0}) Kurz: Die Streitkräfte sind eine Truppe des Mangels, ein Sanierungsfall. So weit zunächst zum Bericht des Wehrbeauftragten. Wie konnte es aber so weit kommen? Seit Jahrzehnten driftet die Gesellschaft nach links, ({1}) besonders augenfällig auch die einst konservative CDU seit Amtsantritt der Kanzlerin. Statt Vernunft und gesundem Menschenverstand wurde in allen Bereichen immer mehr Wunschdenken Grundlage des politischen Handelns in unserem Land. Das galt auch im Bereich der Verteidigung. Nach dem Ende des Kalten Krieges meinten Utopisten, es sei nun die Ära des Weltfriedens angebrochen. Wie unrealistisch das war, hätte man auch damals schon erkennen können. ({2}) Nun, Jahrzehnte später, ist aber endlich Schluss mit lustig. Das Ende der Spaßgesellschaft ist sicherheitspolitisch schon längst erreicht. Es mag unpopulär sein, aber es ist auch Aufgabe der Politik, den Bürgern unbequeme Wahrheiten nahezubringen. Die Zeiten des „Alles geht, nichts muss!“ sind vorbei. Joko und Klaas werden euch nicht schützen. Der Schutz seiner Bürger ist erste und vornehmste Pflicht des Staates. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, müssen endlich statt Ideologie und Utopie wieder Logik und Ratio Grundlage politischen Handelns in diesem Land sein. ({3}) Deutschland muss wieder eine eigene Position der Stärke erreichen, um nach innen wie nach außen selbstverteidigungs- und selbstbehauptungsfähig zu sein, um aber auch als Verhandlungs- und Bündnispartner in der Welt ernst genommen zu werden. Um nicht in Abhängigkeit von anderen Ländern oder Machtblöcken nur Anhängsel zu sein, muss Deutschland wieder vollumfänglich die Fähigkeiten aufbauen, um die eigene Landesverteidigung gewährleisten und seinen Beitrag im Rahmen der NATO problemlos liefern zu können. ({4}) Eine Eingliederung der deutschen Streitkräfte in eine EU-Armee lehnen wir ab und fordern vielmehr die Erfüllung der deutschen Zusagen in Wales, tatsächlich 2 Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben und den europäischen Teil der NATO zu stärken. Wenn jetzt vor allem die Linken in diesem Haus aufheulen, meine Damen und Herren, frage ich Sie, ob es wirklich zu viel verlangt ist von 1 Euro ganze 2 Cent für die Sicherheit unseres Landes auszugeben. – Ich denke nicht. ({5}) Aber mit Geld allein ist es natürlich nicht getan. Das hat man auch im Verteidigungsministerium erkannt und den schönen Marketingbegriff der Trendwenden eingeführt. Der Wehrbeauftragte stellt hierzu fest: Die eingeleiteten Trendwenden müssten deutlich mehr Fahrt aufnehmen. Eine politische Veränderungsabsicht bestehe zwar. Alle Maßnahmen würden aber viel zu langsam und unentschlossen verwirklicht. Es müsse endlich Tempo in die Reformen kommen. Gerade im Bereich des Personals ist das aber nicht so einfach. Obwohl unsere Soldaten treu und tapfer, hochmotiviert und engagiert dienen, sind sie häufig angesichts der vielen Aufgaben der Bundeswehr überlastet. Wir haben jetzt schon bei weitem nicht genug Soldaten, um allein die Planstellen zu besetzen. Es ist völlig fraglich, wo auf freiwilliger Basis die Soldaten herkommen sollen, um den geplanten Aufwuchs unserer Streitkräfte gewährleisten zu können. ({6}) Der bedauerlichen demografischen Entwicklung, dass es immer weniger junge Menschen in unserer Gesellschaft gibt, entgegenzustellen, man könne ja Ausländer in unseren Streitkräften dienen lassen, halten wir für verkehrt. Wie sollte jemand schlimmstenfalls das größte Opfer für eine Sache bringen, die nicht die seine ist? Nein, meine Damen und Herren, Söldner wollen wir nicht in der Bundeswehr. ({7}) Hier würde vielmehr eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht helfen, ergänzt um eine allgemeine Dienstpflicht, um es gerecht zu gestalten. In einer Umfrage wurde festgestellt, dass 74 Prozent der Finnen bereit wären, für ihre Heimat zu kämpfen, aber nur 18 Prozent der Deutschen. Das ist traurig; denn niemand kann erwarten, alles in Anspruch nehmen zu dürfen, ohne etwas dafür tun zu müssen. Wer in Freiheit und Sicherheit, Wohlstand und Demokratie leben möchte, muss auch bereit sein, diese Werte zu verteidigen. ({8}) Aber ich bin sicher, dass es möglich ist, auch den deutschen Bürger in einer unsicherer werdenden Welt von dieser Notwendigkeit zu überzeugen. ({9}) Dafür braucht es allerdings mehr als Material und Personal. Es braucht vor allen Dingen das Bewusstsein für die Notwendigkeit und den Willen zur Umsetzung. Beides vermisse ich in weiten Teilen der Regierung und der hier anwesenden Fraktionen. Meine Damen und Herren, es ist höchste Zeit! Sorgen Sie endlich dafür, dass Deutschland wieder glaubhaft und nachhaltig für die Freiheit, die Sicherheit und den Wohlstand seines Volkes sorgen kann, schlimmstenfalls auch militärisch. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege, für Ihre erste Rede. Sie haben die Redezeit vorbildlich eingehalten. Ich erteile das Wort dem Kollegen Josip Juratovic von der SPD-Fraktion. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich immer wieder, unabhängig vom Inhalt den Bericht des Wehrbeauftragten in den Händen zu halten; denn der Bericht ist Ausdruck dessen, was die Bundeswehr ausmacht. Sie ist eine Parlamentsarmee – vom Volk zum Schutze des Volkes –, und die Soldatinnen und Soldaten, die ihr angehören, haben das Recht, mit allem, was sie belastet oder wo sie Verbesserungsbedarf sehen, Gehör zu finden. Die Tatsache, dass über 2 500 Bundeswehrangehörige die Gelegenheit ergriffen haben, eine Eingabe beim Wehrbeauftragten zu machen, spricht für die Wichtigkeit dieser Funktion, aber auch ganz konkret für das Vertrauen, das sie der Person Hans-Peter Bartels entgegenbringen. ({0}) Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, im Namen der SPD-Fraktion unser Dank für Ihr Engagement und die wichtige Arbeit, die Sie und Ihr Team leisten! ({1}) Ihr Bericht, der ja schon im Februar dieses Jahres erschienen ist, offenbart zwei eklatante Baustellen: den deutlichen Verbesserungsbedarf bei der Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten sowie die dünne Personaldecke. Das fehlende Material ist ein absolutes No-Go. Über 180 000 Menschen verrichten ihren Dienst in der Bundeswehr. Sie tragen nicht nur die Last der Auslandseinsätze, sondern gleichrangig auch die der Bündnisverteidigung. Dafür müssen sie natürlich auch entsprechend gewappnet sein. Und da geht es nicht darum, aufzurüsten, liebe Kolleginnen und Kollegen, sondern es geht darum, unsere Soldatinnen und Soldaten so auszurüsten, dass sie bei der Verteidigung von Freiheit und Recht, von unserer Demokratie nicht unnötigerweise Kopf und Kragen riskieren, nur weil sie nicht die bestmögliche Ausstattung haben. ({2}) Ich rede dabei nicht nur von Großgeräten und Hauptwaffensystemen, sondern auch von Ersatzteilen und alltäglichen Gegenständen wie adäquate Bekleidung und Schlafsäcke. An vielem scheint es zu fehlen. Das zeigt auch dieser Bericht. Und genau aus diesem Grund haben wir im Haushalt für das kommende Jahr den Wehretat um 4 Milliarden Euro erhöht. Es geht dabei um die schnellstmögliche Besserstellung der Soldatinnen und Soldaten. Sie schützen uns, und wir sind ihrem Wohl verpflichtet; das ist die Gleichung. ({3}) Kolleginnen und Kollegen, die Weichen in Richtung schneller Beschaffung notwendiger Ausstattung sind also gestellt. Jetzt gilt meine Bitte der Verteidigungsministerin, in ihrem Haus darauf hinzuwirken, dass diese Gelder auch wirklich sinnvoll und zielführend genutzt werden. Denn bei der Beschaffung ist, wie wir ja wissen, das Geld nur ein Teil des Problems. Die strukturellen Schwierigkeiten in der Beschaffung sind das andere. Mein Appell geht also an Sie, Frau von der Leyen, die bereits begonnenen Anstrengungen im Hinblick auf bessere Planung zu verstetigen. Denn wenn es uns gelingt, die Bundeswehr für ihre Aufgaben anständig aufzustellen, bringt uns das im Zusammenhang mit dem benannten Personalproblem einen großen Schritt weiter. Das besteht konkret darin, dass nach wie vor über 20 000 Dienstposten für Unteroffiziere und Offiziere nicht besetzt sind. Und wer will schon seinen Dienst in einer Armee absolvieren, wenn er oder sie sich bei dieser mitunter sehr gefährlichen Tätigkeit nicht ausreichend geschützt fühlt? Tatsache ist doch, dass die Personalrekrutierung der Bundeswehr weniger auf werbewirksamen Maßnahmen fußt als vielmehr auf Mund-zu-Mund-Propaganda. Die meisten Soldatinnen und Soldaten kommen zur Bundeswehr, weil sie über Freunde, Verwandte, Nachbarn auf die Idee gekommen sind. Die Attraktivität der Bundeswehr als Freiwilligenarmee beruht somit auf der Zufriedenheit der Bundeswehrangehörigen, die schon da sind. Dafür müssen wir Sorge tragen, und da macht mir der Bericht des Generalleutnants Markus Laubenthal Hoffnung. Der Abteilungsleiter Führung Streitkräfte hat uns Verteidigungspolitikern diese Woche Bericht erstattet über die NATO-Übung „Trident Juncture“ in Norwegen. Die Bundeswehr stellte das zweitgrößte Kontingent an Soldaten bei der Großübung. Deutschland hatte als einziges Land eine ganze Brigade verlegt. Diese Zusammenarbeit auf internationaler Ebene ist eine anspruchsvolle Aufgabe, gerade wenn Truppen aus sehr vielen Nationen im größeren Maßstab zusammenwirken sollen. In Norwegen wurde dann auch der letzte Zweifel ausgeräumt über die Fähigkeit Deutschlands, auch auf militärischem Gebiet international bestehen zu können. Wenn man den Worten des Generalleutnants Glauben schenken darf, dann hat sich die Bundeswehr Respekt bei den anderen Militärs der NATO-Länder verschafft. Auch sein Fazit in Bezug auf die Ausstattung während des Manövers war überwiegend positiv. Er sprach von einer Vollausstattung bei der Übung von 100 Prozent. Auch Engpässe bei Schutzwesten, Zelten und dergleichen seien behoben. Am wichtigsten war mir aber das Schlusswort von Herrn Laubenthal, in dem er davon sprach, die Soldaten seien, aller Teufel im Detail zum Trotz, zufrieden gewesen. Und das zeigt mir, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Stichwort „Ausrüstung“. Lassen Sie mich abschließend noch etwas zum aktuellen Aufklärungsbedarf hinsichtlich strittiger Beraterverträge sagen. Ich habe hier mehrfach betont, wie zentral die optimale Ausstattung der Bundeswehr für den Schutz der Bundeswehrangehörigen ist. Um die zu gewährleisten, ist die Einhaltung von Regeln und Verfahren unabdingbar, und es ist schlimm, wenn der Eindruck entsteht, es sei gemauschelt oder begünstigt worden. ({5}) Von daher möchte ich mich auch mit dieser Bitte an die Verteidigungsministerin, wenden: Frau von der Leyen, klären Sie die Vergabe der Beraterverträge restlos auf. Es gibt da noch zu viele Fragezeichen, die das Vertrauen in das Verteidigungsministerium und damit letztlich in die Bundeswehr schädigen könnten. ({6}) Kolleginnen und Kollegen, ich möchte schließen mit meinem Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten, wo auch immer sie ihren Dienst tun für unsere Sicherheit und den Schutz unserer freiheitlichen Demokratie. Ihnen ein friedliches Weihnachtsfest und ein gesundes neues Jahr! Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Alexander Müller ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. ({0})

Alexander Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004828, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht des Wehrbeauftragten startet mit den Worten – ich zitiere –: Alle aus den Vorjahren bekannten Probleme der Bundeswehr – die großen Lücken bei Personal und Material und die damit einhergehende übermäßige Belastung vieler Soldatinnen und Soldaten – bestanden im Berichtsjahr fort. Die Word-Vorlage, Herr Dr. Bartels, die durchgängig als Basis der Berichte der letzten Jahre dient, ist mittlerweile gut bekannt. Es ist aber wirklich enttäuschend, dass es notwendig ist, Jahr für Jahr die gleichen Probleme wieder benennen zu müssen. Dass unsere Soldatinnen und Soldaten, die für unsere Sicherheit einstehen, auch anständig mit Ausrüstung und Material versorgt werden müssen, ist nicht nur eine Frage der schlichten Notwendigkeit für die Verteidigungsfähigkeit. Nein, es ist auch eine Frage des Respekts für diejenigen, die für uns ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren. ({0}) Baumaßnahmen dauern von der Planung bis zur Fertigstellung regelmäßig länger als zehn Jahre. Das erfährt man bei jedem Besuch in unseren Kasernen. Entsprechend heruntergekommen sind viele Dienstgebäude und sanitäre Einrichtungen. Der freie Zugang zu schnellem Internet in unseren Kasernen soll erst 2022 gewährleistet sein. Oft hat man das Gefühl, dass es an der beabsichtigten Perfektion liegt, die erreicht werden soll, die die Prozesse dermaßen langwierig macht. Trauen wir uns doch zu, auch mit Abstrichen in der A-Note endlich die nötige Geschwindigkeit in die Ausstattung und Versorgung zu bringen. Das Motto von Mark Zuckerberg, dem Gründer von Facebook, ist „Done is better than perfect“. Frei übersetzt: Entscheidend ist, dass wir fertig werden. Das wäre doch mal ein Motto für das Bundesverteidigungsministerium. ({1}) Dass die persönliche Ausrüstung mit Schutzwesten und Helmen erst in 13 Jahren durchgängig für jeden Soldaten verfügbar ist, muss uns alle beunruhigen. Wir können nicht akzeptieren, dass es dermaßen lange dauern soll. Im Berichtsjahr flog zeitweise keine der nagelneuen A400M-Transportmaschinen, auch keines unserer U-Boote war einsatzfähig. ({2}) Am Geld kann es nicht liegen. Seit vier Jahren wächst das Budget des Verteidigungshaushalts spürbar an. Am guten Willen, die Lage zu verbessern, liegt es sicher auch nicht. Aber woran liegt es dann? Der Wehrbeauftragte kritisiert an vielen Stellen den hohen Grad an Bürokratismus, der sich überall in der Bundeswehr zeigt, der gute Ideen verhindert, der Kreativität hemmt und der gewiss auch für die extrem langen Beschaffungsprozesse sorgt. Die Bundeswehr benötigt eine Reduzierung dieser Bürokratie. Planungs- und Beschaffungsprozesse müssen verschlankt und beschleunigt werden. Die Chancen der Digitalisierung werden nur in Ansätzen in der Bundeswehr genutzt. Hier besteht enormes Potenzial für Modernisierung und Verbesserung. ({3}) Ich will abschließend eine besondere Wertschätzung für die Institution des Wehrbeauftragten aussprechen. Vor 30 Jahren, als junger Wehrpflichtiger, fühlte ich mich von Vorgesetzten unfair behandelt ({4}) und habe selbst zwei Eingaben beim damaligen Wehrbeauftragten eingereicht. ({5}) Ich bin seither mit dem nötigen Respekt behandelt worden, und ich konnte auch ein kleines bisschen zur Entbürokratisierung der Bundeswehr beitragen. Ein Schild mit aus meiner Sicht unnötigen Vorschriften, in der ­Boelcke-Kaserne in Koblenz, wurde nach meiner Initiative abgehängt. Solche Erfahrungen haben nicht nur meinen Dienst, sondern auch den Dienst vieler Soldatinnen und Soldaten verbessert. ({6}) Es zeigt uns vor allen Dingen auch, dass unsere Demokratie stets Institutionen bietet, die gefühltes Unrecht abstellen können. Diese Erfahrung hat letztlich auch dafür gesorgt, dass ich selbst aktiver Teilnehmer unserer Demokratie wurde. Ich wurde Kämpfer für die Freiheit und Freier Demokrat. Herr Dr. Bartels, wir danken Ihnen und Ihren Mitarbeitern für ihre wertvolle Arbeit. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Christine Buchholz. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Bartels! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wehrbeauftragten! 2017 gab es des Öfteren negative Schlagzeilen für die Bundeswehr. Ich gehe auf zwei Themen ein, die auch vom Wehrbeauftragten aufgegriffen wurden. Erstens. Die Bundeswehr hat ein Problem mit Rechtsextremismus. ({0}) Bevor sich hier irgendjemand aufregt: natürlich nicht die Bundeswehr als Ganzes. Ich gebe Herrn Bartels recht: Es gibt auch eine erhöhte Sensibilisierung bei diesem Themenbereich. Aber mir ist wichtig, zu sagen: Es geht nicht nur um Einzelfälle. 2017 flog das Netzwerk um Franco A. auf. Franco A. und seine Komplizen schafften Munition beiseite und erstellten Todeslisten, um Anschläge zu planen. Im vorliegenden Bericht des Wehrbeauftragten wird dieser Fall aufgegriffen, viele andere Fälle auch. Aber was lesen wir dazu in der Stellungnahme des Verteidigungsministeriums? Nichts! Kein Wort der Besorgnis, kein Wort über irgendeine Konsequenz. ({1}) Fakt ist: Wenn es um extreme Rechte in der Bundeswehr geht, sitzen Sie aus, Frau von der Leyen, schweigen und bagatellisieren Sie. ({2}) Dieses Nichtstun ist verantwortungslos und brandgefährlich. ({3}) Frau von der Leyen, Sie haben einiges getan, was richtig war, beispielsweise die Wehrmachtsdevotionalien aus den Kasernen verschwinden zu lassen, Kasernennamen zu ändern und auch den Traditionserlass zu überarbeiten, auch wenn es nicht in unserem Sinne war. Ich will eines deutlich sagen: Damit haben Sie gleichzeitig systematisch vom Kern des Problems des Rechtsextremismus abgelenkt, weil nämlich alle Maßnahmen am Hauptproblem vorbeigingen, nämlich der Existenz rechtsextremer Strukturen in und um die Bundeswehr. Diese Strukturen müssen rückhaltlos offengelegt und bekämpft werden. Das fordert Die Linke. ({4}) Stattdessen taucht auf einmal der Name Franco A. wieder auf: im Zusammenhang mit einer ominösen Schattenarmee von sogenannten Preppern, die Waffen horten und Todeslisten anlegen, um an einem Tag X loszuschlagen. Im Zentrum dieser Schattenarmee steht offenbar ein früherer KSK-Soldat. Und erneut waren es nicht das Ministerium, die Bundeswehr oder der MAD, die dieses Netz offenlegten, nein, es waren die Medien, beispielsweise die „taz“ oder der „Focus“. Schlimmer: Ein MAD-Mitarbeiter warnte vielmehr die mutmaßliche Schlüsselfigur dieser Schattenarmee vor einer bevorstehenden Razzia. Offenbar agiert der MAD ohne effektive Kontrolle. Wir sehen uns bestätigt: Die Linke fordert schon lange, dass der MAD aufgelöst wird. ({5}) Mir scheint, Frau von der Leyen handelt hier nicht, weil sie eines nicht will, nämlich dass ein Schatten auf ihre Bundeswehr fällt und vor allem auf ihr eigenes Ansehen. Dafür nimmt sie in Kauf, dass sich der braune Spuk weiter ausbreiten kann. Das ist gefährlich und unverantwortlich. ({6}) Zweitens verdeutlicht der Bericht des Wehrbeauftragten, wie sehr einzelne Soldatinnen und Soldaten unter dem System Bundeswehr leiden. ({7}) Die Zahl der auf dem Dienstweg angezeigten Vorfälle boomt. Dabei ging es unter anderem um sexuelle Übergriffe oder brutale Ausbildungsmethoden. Der Fall eines jungen Offiziersanwärters, der bei einem Gewaltmarsch in Munster zusammenbrach und später starb, ist mir, wie vielen von Ihnen, sehr nahe gegangen. Er starb infolge eines Gewaltmarsches bei extremer Hitze, bei dem auch fünf weitere Soldaten kollabierten. Ein halbes Jahr später brach bei einem anderen Gewaltmarsch in Pfullendorf erneut ein Soldat bewusstlos zusammen. Der Wehrbeauftragte schreibt, dass es zu klären bleibt, ob Schikane, Mängel in der Ausbildung oder das Versagen von Vorgesetzten vorliegen. Aber das BMVg bleibt in seinem Kommentar bei schwammigen Allgemeinplätzen. Ich sage: Damit werden Sie nicht nur dem Leid der Betroffenen nicht gerecht, es wird auch zukünftig keine dieser Fälle ausschließen. Wir sagen: Solche Ausbildungsmethoden müssen endlich ein Ende haben. ({8}) Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr! Noch ein Wort zum Schluss. ({9}) Ich bin der Meinung, dass nicht Jahr für Jahr weitere Milliarden einer Rüstungsindustrie und einer Beraterarmee in den Rachen geworfen werden sollen. Dafür steht Die Linke. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner ist Dr. Tobias Lindner, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Debatte über den Jahresbericht des Wehrbeauftragten ist natürlich Gelegenheit, Ihnen Dank zu sagen, Herr Wehrbeauftragter, aber natürlich auch Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ich will heute eine Gruppe nicht vergessen. Das sind die Soldatinnen und Soldaten, die Eingaben gemacht haben, die sich manchmal ein Herz fassen mussten, die vielleicht gezweifelt haben, ob ihre Eingabe etwas bringt. Ich will all jenen Soldatinnen und Soldaten – im Jahr 2017 gab es 2 500 Eingaben im Amt des Wehrbeauftragten – zurufen: Ihre Eingaben waren nicht sinnlos, weder in der Sache noch im Allgemeinen; denn sie helfen uns als Parlament, sie helfen diesem Deutschen Bundestag, ein ehrliches und ungeschöntes Bild über Ihre Lage zu bekommen. Dafür herzlichen Dank. ({0}) Darum geht es auch, meine Damen und Herren, wenn man den Bericht liest. Dieser Bericht schildert konkrete Fälle. Manche sagen Einzelfälle, ich spreche von konkreten Fällen. Bei diesen Fällen ist uns Grünen wichtig – ich glaube, auch vielen anderen Kolleginnen und Kollegen –, dass wir uns immer fragen müssen: Was ist die Struktur hinter dem Problem? Ein rechtsextremer Zwischenfall in der Bundeswehr ist natürlich schlimm – das Thema Franco A. ist angesprochen worden –, aber natürlich stellen wir uns die Frage: Haben wir strukturelle Probleme, und müssen sie aufgeklärt werden? Das beginnt beim Thema Prävention. Brauchen wir ein Umdenken in den Köpfen? Brauchen wir mehr politische Bildung? Brauchen wir mehr Fürsorge? Müssen wir junge Soldatinnen und Soldaten anhalten, sensibel zu sein und Eingaben zu machen? Es geht natürlich auch um die Frage: Funktionieren die Strukturen der Bundeswehr, wenn etwas schiefgegangen ist, liebe Kolleginnen und Kollegen? ({1}) Wir sehen in diesen Tagen bei einem anderen Thema, das heute nicht Gegenstand der Debatte ist, dass oftmals nicht der Fehler an sich, sondern der Umgang damit das große Problem ist. Genauso müssen wir uns der Themen Munster und Pfullendorf annehmen. Die Vorfälle bei körperlicher Ausbildung sind angesprochen worden. Wir müssen uns nicht nur die Fragen stellen: Passen unsere Ausbildungsstandards? Müssen wir sie vielleicht anpassen und verbessern? Ja, hier begrüße ich die Initiativen, die das Heer für ein neues Ausbildungskonzept ergriffen hat. Wir müssen uns auch die Fragen stellen: Warum sind diese Vorgänge so spät aufgefallen? Haben die Mechanismen der Aufklärung auf dem Dienst- und Disziplinarweg funktioniert? Was liegt im Argen, liebe Kolleginnen und Kollegen? ({2}) Ein letzter Punkt. Ich bin Ihnen, Herr Bartels, für die Offenheit sehr dankbar, mit der Sie sagen: Am Geld, an den Ressourcen mangelt es nicht. Natürlich muss man auch politisch die Frage stellen: Setzt das Ministerium hier die richtigen Prioritäten? Sie, Frau von der Leyen, haben Finanzmittel wie noch nie zur Verfügung. Sie schaffen es Jahr für Jahr nicht, diese Mittel, die dem Rüstungsbereich zur Verfügung stehen, so auszugeben, wie es Ihnen der Haushaltsplan aufgibt. Sie müssen im Haushaltsvollzug umschichten. Wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier fragen uns natürlich: Warum setzen Sie nicht eine größere Priorität, wenn es um persönliche Ausstattung geht, wenn es um Schutzwesten geht, wenn es um Helme geht, wenn es um den geschützten Transport in den Einsatzgebieten geht? Es herrscht in diesem Haus eine sehr große Einigkeit weit über die Koalition hinaus, den Soldatinnen und Soldaten, die wir, mit welchen Mehrheiten auch immer, in Auslandseinsätze schicken, Schutz und Fürsorge zukommen lassen. Meine Fraktion, ich, wir alle erwarten, dass in den kommenden Jahren darauf eine höhere Priorität gesetzt wird und nicht auf das x-te Rüstungsgroßvorhaben, bei dem am Ende die Sachen zu spät kommen oder sie nicht funktionieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) In diesem Sinn, Herr Wehrbeauftragter, meine Damen und Herren, danken wir Ihnen für diesen Bericht. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit, auch in den kommenden Jahren. Sie ist uns wichtig, sie ist uns Ansporn. Sie ist unsere Informationsquelle, die weit über das hi­nausgeht, was wir manchmal aus dem Ministerium erfahren. Dafür herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich erteile das Wort der Frau Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen. ({0})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Wehrbeauftragter, zunächst einmal herzlichen Dank an Sie und Ihr Team für die gute, konstruktive Zusammenarbeit. Da das heute die letzte Bundeswehrdebatte des Jahres ist, möchte ich schlicht und einfach die Gelegenheit nutzen, den 250 000 Männern und Frauen – ob Militär oder zivil – in unserer Bundeswehr zu danken für ihre Professionalität, für ihre Leidenschaft, für die Treue, mit der sie sich einsetzen. Das verdient unsere Anerkennung, unseren Respekt und unsere Hochachtung. ({0}) Ja, es ist richtig, vieles muss besser werden. Es geht aber auch schon vieles in die richtige Richtung, die Trendwenden greifen. Die Männer und Frauen, die ich gerade eben erwähnt habe – im Verteidigungsministerium, im BAAINBw, im Planungsamt, in den Teilstreitkräften, in den Verbänden und Organisationen –, sie alle arbeiten daran. Ich will einige Splitter heute einfach einmal nehmen, um zu zeigen, was sich bewegt: Wir haben allein im Heer in diesem Jahr einen Zulauf gehabt von über 50 Schützenpanzern Puma, 50 Füchsen mit Kampfwertsteigerung. Am Montag ist der erste Brückenlegepanzer Leguan aus der Fabrik gerollt. Wir erwarten ab dem Jahr 2019 – so geht es weiter – über 100 zusätzliche Kampfpanzer Leopard 2, wir werden 100 weitere in den modernsten Rüststand versetzen. Wir erhalten 100 neue Boxer und endlich – endlich, kann man wohl sagen – 6 000 neue Nachtsichtbrillen. Ja, Herr Wehrbeauftragter, die Luftwaffe hat in diesem Jahr ihren fünfundzwanzigsten A400M erhalten. Ich habe gerne gehört, wie Sie dieses Flugzeug gelobt haben. In der Tat, wenn es mal aus den Kinderkrankheiten raus ist, dann wird es das beste, modernste Transportflugzeug der Welt sein. Wir freuen uns darauf, wenn wir diesen Zustand erreicht haben. Wir brauchen mehr Hubschrauber im Einsatz, haben Sie gesagt, Herr Wehrbeauftragter. Dank ans Parlament, dass es gelungen ist, den Weg freizumachen, um den neuen Schweren Transporthubschrauber anzuschaffen. Das Gleiche gilt für die Marine, gute Nachrichten: Mit diesem Haushalt haben wir auch die Möglichkeit verabschiedet, die U-Boot-Kooperation mit Norwegen auf den Weg zu bringen und das MKS180. Ein Blick aufs Personal. Es ist gelungen, nachdem wir im Jahr 2016 den absoluten Tiefpunkt erreicht hatten – die kleinste Bundeswehr, die wir je hatten –, jetzt wieder anzusteigen auf 180 000. Auch hier gilt: Dank an diejenigen im BAPersBw, die das alles leisten, die für die Rekrutierung zuständig sind, die all die große Organisation und Logistik, die dahintersteht, bewältigen. Das ist eine besondere Leistung. Wir sind Ihnen von Herzen dankbar für diesen Einsatz. ({1}) Herr Wehrbeauftragter, Sie haben sich gefreut, dass die Kinderbetreuung inzwischen gut läuft. Es freut mich, dass Sie das würdigen. Denn Sie haben recht: Unsere Soldatinnen und Soldaten sind eben auch Väter und Mütter, und es ist richtig, dass sie Beruf/Dienst und Familie vereinbaren können. Wenn wir von ihnen erwarten, dass sie, wenn diese Parlamentsarmee in den Einsatz geschickt wird – und dazu sind sie bereit –, alles geben für unseren Frieden und unsere Sicherheit, dann ist es eine Selbstverständlichkeit und das Mindeste, dass wir sie hier, zu Hause, in der Heimat mindestens genauso behandeln wie andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dazu gehört selbstverständlich eine gute Vereinbarkeit von Dienst und Familie. ({2}) Herr Wehrbeauftragter, gerne nehme ich Ihre Mahnung auf, in die persönliche Ausstattung und Bekleidung zu investieren. 1,3 Milliarden Euro stehen dafür im Jahr 2019 zur Verfügung. Wir setzen die Modernisierung, die Sie zu Recht anmahnen, fort, indem wir bei der Digitalisierung verglichen mit dem Jahr 2018 einen 30-prozentigen Aufschlag draufsetzen. Wir bauen unsere Strukturen und Standorte auf. Ich habe mich gefreut, dass wir vor etwa einer Woche verkünden konnten, dass wir ein neues Panzerbataillon aufstellen, in Hardheim. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Herr Wehrbeauftragter, wenn ich einen letzten Punkt nehmen darf: Sie haben die Zurruhesetzung angesprochen. Ganz wichtig ist: Wir ändern das Gesetz nicht. Wer seinen Bescheid hat, kann sich auf Vertrauensschutz verlassen; das ist ganz, ganz wichtig. Das Gesetz, das bereits vor einigen Jahren verabschiedet worden ist, ist zu einer Zeit verabschiedet worden, als wir allgemein in Deutschland den Konsens hergestellt haben, dass behutsam, sukzessive über einen langen Zeitraum – ich glaube, es sind 15 bis 20 Jahre – der Arbeitsdurchschnitt wie der Altersdurchschnitt der Bevölkerung steigen soll. Das Gesetz für die Bundeswehr ist im großen Konsens verabschiedet worden. Wir werden an diesem Gesetz nichts ändern, sondern es genauso, wie die Buchstaben es hergeben, umsetzen. Herr Wehrbeauftragter, wenn ich das so sagen darf: Sie haben gesagt, Sie wollen mehr Tempo. – Machen Sie uns weiter Dampf; das tut uns gut. Ich wünsche Ihnen allen hier im Hohen Haus, aber vor allen Dingen den vielen, vielen Männern und Frauen im Verteidigungsministerium, in der Verwaltung, aber auch den Soldatinnen und Soldaten zu Hause und in den Einsätzen eine frohe Adventszeit und vor allen Dingen ein gesegnetes Weihnachten. Bleiben Sie behütet! ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Der nächste Redner: der Kollege Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Noch vor zwanzig, dreißig Jahren hätte eine Einschätzung wie „begrenzt einsatzbereit“ für unsere Parlamentsarmee eine handfeste Krise ausgelöst. So muss sich heute dieses Parlament am Zustand seiner Parlamentsarmee auch messen lassen. Trendwenden als langsamen Prozess zu begreifen und sich damit zufriedenzugeben, mag manchem Bürger in Uniform oft wie Hohn vorkommen. Unsere Soldaten verdienen sich international Respekt; hierzulande werden sie aber nach wie vor kaum gewürdigt. Material-, Personalmangel ist ein altbekanntes Problem und bleibt es wohl auch noch eine ganze Weile. 21 000 Dienstposten oberhalb der Mannschaftsebene sind vakant, einige Teilbereiche des Heeres mit weniger als 50 Prozent besetzt. Es war lange kein einziges deutsches U-Boot einsatzfähig. Und Einsätze mit Hubschraubern werden niemanden mehr überraschen, da man das Gelb des ADAC kilometerweit sehen kann. Der Bericht des Wehrbeauftragten machte deutlich, dass der Wehretat höchstens das Niveau halten kann. Nun wird investiert. Aber sich auf die Schulter zu klopfen, weil bis 2020 jeder Soldat neue Stiefel haben soll, zeigt im Grunde genommen den sehr traurigen Zustand exemplarisch auf. Ein Land wie Deutschland, das seit der Wiedervereinigung den Anspruch hat, mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen, muss sich eben auch am Zustand seiner Armee messen lassen. Dass jetzt einmal einer der A400M geflogen ist, freut mich in der Tat; denn es war schon wirklich traurig, dass wir für Truppenverlegungen bisher ständig auf die Amerikaner angewiesen waren – im Übrigen auf jene Amerikaner, die wir auch gerne verteufeln und deren 2-Prozent-Ziel einige hier für überflüssig halten, obwohl eine Anhebung des Etats auch in unserem eigenen Interesse läge. ({0}) An der Stelle noch einmal: 1,5 Prozent mögen gut sein, sind aber eben nicht 2 Prozent. Wenn der Wehrbeauftragte zu der Einsicht kommt, dass das Konzept „Train as you fight“ wegen Materialmangels Wunschdenken bleibt, dann ist das vielleicht bei Truppenübungen in der norddeutschen Ebene ärgerlich; im Wüstensand von Mali oder in den afghanischen Höhenzügen aber ist es mitunter tödlich. Ich appelliere daher an die Bundesregierung – wie ich das bei der ersten Debatte hierzu auch schon getan habe –, sich ihrer Fürsorgepflicht bewusst zu werden, besonders für unsere Streitkräfte im Ausland; denn sie verteidigen dort unsere Werte mit ihrem Leben. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: der Kollege Dr. Reinhard Brandl, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Wehrbeauftragter, mit Ihrem Bericht für das Jahr 2017 haben Sie der Bundeswehr 120 Seiten Hausaufgaben ins Heft geschrieben. Wir sind heute schon fast am Ende des Jahres 2018, wir stehen kurz vor Weihnachten. So habe ich Ihren Bericht für die Debatte heute unter dem Motto gelesen: Was ist denn umgesetzt worden? Jetzt habe ich dummerweise nur vier Minuten. Deswegen will ich drei Punkte herausgreifen, die uns im Bundestag in den letzten Wochen und Monaten auch beschäftigt haben. Das Erste, was ich herausgreifen möchte, ist der Bereich Beförderungen. Herr Wehrbeauftragter, Sie schreiben: Eingaben wegen nicht erfolgter Beförderung sind über die Jahre zum Dauerthema geworden. Erfüllen mehr Soldatinnen und Soldaten die Voraussetzungen für eine Beförderung, als Planstellen vorhanden sind, ist nach Vorliegen der Voraussetzungen eine sofortige Beförderung im Regelfall nicht möglich. Herr Wehrbeauftragter, ich melde Vollzug, wir haben es aufgenommen. Sie haben angemerkt, dass es besonders im Bereich der Hauptfeldwebel zum Beförderungsstau kommt. Mit dem Haushalt für 2019 haben wir über 1 000 zusätzliche Beförderungsstellen geschaffen, für den von Ihnen genannten Bereich 420. Den Punkt haben wir erledigt. Ich hoffe – hoffe –, dass er im Jahresbericht 2018, spätestens im Jahresbericht 2019 dann nicht mehr vorkommt, wir dahinter einen Haken setzen können. ({0}) Einen zweiten Punkt möchte ich herausgreifen. Ich tue das jetzt besonders deshalb, weil vor mir der Präsident des Reservistenverbandes, Herr Oswin Veith, sitzt. Ich zitiere wieder: So beklagten sich zu Beginn des Berichtsjahrs zahlreiche Reservisten beim Wehrbeauftragten, dass bereits geplante Dienstleistungen wegen des Verbrauchs der Reservistendiensttage abgelehnt worden seien. Diese Ablehnungen waren umso misslicher, als bereits private Vorkehrungen und Absprachen mit zivilen Arbeitgebern getroffen waren. Wir haben uns das zu Herzen genommen. Wir haben im Haushalt für 2019 die Veranschlagungsstärke der Reservisten deutlich erhöht. Wir wollen für alle Reservisten das Zeichen setzen: Wenn sie einen Dienst für unser Land tun wollen, dann soll es nicht am Haushalt scheitern. Ich hoffe, das wird im nächsten Jahr nicht wieder der Fall sein und der Punkt wird in den nächsten Jahresberichten des Wehrbeauftragten nicht mehr auftauchen. Auch daran können wir dann hoffentlich einen Haken setzen. ({1}) Der letzte Punkt. An verschiedenen Stellen – nicht nur in diesem Bericht, auch in den Vorgängerberichten – taucht immer wieder die Feldpostversorgung als Grund für Eingaben bei dem Wehrbeauftragten auf. Meine Damen und Herren, es ist gerade jetzt vor Weihnachten, wo wir viele Soldatinnen und Soldaten im Einsatz haben, wichtig und auch für das Wohlbefinden der Familien wichtig, dass, wenn die Familien den Soldaten etwas zu Weihnachten schicken wollen, das auch pünktlich zum Fest ankommt. Drei Wochen oder vier Wochen danach ist eigentlich zu spät. Die Bundeswehr hat da in einigen Bereichen Verbesserungen vorgenommen. Ich habe mich dieser Tage erkundigt und habe die Meldung bekommen: Alles, was pünktlich zur Frist im Feldpostamt in Pfung­stadt eingeht, kann auch pünktlich in die Einsatzgebiete verbracht werden. Wir können also hoffen, dass kein Soldat mehr zu Weihnachten nicht seine an ihn versandten Geschenke bekommt. Einem frohen Fest steht somit nichts entgegen. Auch daran kann die Bundeswehr einen Haken setzen. Ich hoffe, dass wir dieses leidige Thema bald los sind, dass die Feldpostversorgung in allen Einsatzgebieten funktioniert und die Soldaten in den Einsatzgebieten ein frohes Fest haben. ({2}) Wir sind jetzt am Ende des Jahres 2018. Wir erwarten bald Ihren Jahresbericht für 2019. Wir freuen uns darauf. Wir werden daraus auch wieder einige Punkte herausnehmen und umzusetzen versuchen – zum Wohle unserer Bundeswehr und unserer Soldatinnen und Soldaten. Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten und bedanke mich zum letzten Mal in diesem Jahr für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 19/5126 zum Jahresbericht 2017 des Wehrbeauftragten. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Jahresberichts auf Drucksache 19/700 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dann ist die Entschließung mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.

Michael Gerdes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004039, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Weite Teile des aktuellen Debattenpunktes erscheinen mir hier im Haus unstrittig, und das nicht nur, weil die EU-Verordnungen unmittelbar anzuwenden sind. Für Arbeitnehmer und Verbraucher geht es um Sicherheit beim Umgang mit technischen Geräten. Arbeitgeber sind in der Fürsorgepflicht, und auch ihnen helfen wir mit zertifizierten Produkten. Sie wollen für ihr Geld ordentliche Qualität. Einheitliche Standards helfen bei der Anwendung und erleichtern nicht zuletzt den grenzüberschreitenden Handel. Allein schon deshalb macht diese Verordnung durchaus Sinn. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn etwas unstrittig ist, heißt das aber noch lange nicht, dass es sich nicht lohnt, ein wenig darüber zu debattieren. Im Gegenteil, ich nutze die Chance, um ein paar Gedanken zum Thema „Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit“ loszuwerden, und dabei geht es nicht nur um Gasgeräte in der EU. Sie finden in den Verordnungen den Begriff „Persönliche Schutzausrüstung“. Den haben wir gerade auch im Bericht des Wehrbeauftragten mehrfach gehört; das gilt aber auch für andere Arbeitnehmer. Das klingt zunächst unscheinbar; aber es steckt Großes dahinter: Eine Schutz­ausrüstung kann Leben retten, Krankheiten vermeiden. Ohne persönliche Schutzausrüstung wären viele Berufe gefährlicher als nötig. ({0}) Gerne bemühe ich als Beispiel meine ursprüngliche Berufswelt: Für einen Bergmann sind Schutzkleidung und geprüfte technische Geräte unter Tage überlebensnotwendig: ({1}) EX-geprüfte Schutzgeräte im Bergbau, in der Schifffahrt oder in der chemischen Industrie verhindern schwere Explosionen. CE-geprüfte Sicherheitsschuhe verhindern Umknicken, Ausrutschen oder Stichverletzungen. CE-zertifizierte Kleidung schützt vor Kälte oder hohen Temperaturen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Arbeitsschutz in Deutschland hat sich bewährt, insbesondere wenn es um technische Hilfsmittel am Arbeitsplatz geht. Mittlerweile ist es in vielen Tätigkeitsbereichen gelungen, körperliche Schäden zurückzudrängen, auch wenn Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems, etwa im Rücken oder am Knie, noch immer ein großer Faktor bei den Berufskrankheiten sind. Ich wünsche mir auch für die unmittelbare Zukunft einen guten Arbeitsschutz. Das funktioniert aber nur, wenn wir darüber nachdenken, welche Arbeitsschutzmaßnahmen in der digitalisierten Arbeitswelt zu ergreifen sind. ({2}) All das, was ich zuvor als persönliche Schutzausrüstung benannt habe, etwa Schutzhelme, Kleidung oder Atemschutz, hilft beispielsweise nicht vor der Gefahr der ständigen Erreichbarkeit durch die heutigen Kommunikationsmittel. Moderne Berufe brauchen andere Schutzmaßnahmen, etwa das Abschalten von E-Mail-Servern ab einer bestimmten Uhrzeit. Hier muss ich im Übrigen mal sagen: Der heutige Tag hier im Plenum ist auch nicht arbeitnehmerfreundlich. Da denke ich nicht an uns Abgeordnete, sondern ich denke an den Saaldienst, an die Putzdienste, an die Garderobefrauen, die heute wieder mal länger arbeiten müssen, damit der Laden läuft. Danke dafür! ({3}) Aber, meine Damen und Herren, so geht es nicht wirklich. Wir haben auch gegenüber den Mitarbeitern eine Fürsorgepflicht. ({4}) Ein moderner Arbeitsschutz muss ganzheitlich sein. Er sollte nicht nur physische Gefahren erkennen, sondern auch psychischen Druck in die Gefährdungsbeurteilung einschließen. Im Koalitionsvertrag finden sich einige Hinweise zum Thema „gesunde Arbeitswelt“: Wir haben uns unter anderem darauf verständigt, das Berufskrankheitenrecht weiterzuentwickeln. Zudem wollen wir uns mit stressbedingten Erkrankungen am Arbeitsplatz auseinandersetzen. Aber hier ist noch sehr viel Luft nach oben. ({5}) Wir können beim betrieblichen Gesundheitsmanagement, das sich präventiv mit stressigen Bedingungen im Job auseinandersetzt, deutlich besser werden. In diesem Sinne herzlichen Dank und Glück auf! Ich wünsche uns allen frohe und besinnliche Weihnachten. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Norbert Kleinwächter, AfD-Fraktion. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin glücklich. Ich bin AfD-Abgeordneter, tätig vor allem im EU-Ausschuss, und normalerweise werde ich überflutet von Sachen, zu denen ich sage: Da hat die EU nichts zu suchen – Migration, Bildung, Verteidigungsthemen. Jetzt haben wir mal ein Durchführungsgesetz, zu dem ich sage: Ja, da hat die EU was zu suchen. Da ist es gut, dass es sie gibt. Es geht um die bekannte CE-Zertifizierung, also um die Zertifizierung von elektrischen Geräten daraufhin, dass sie sicher sind. Sie kennen das alles vom Toaster und von der Kaffeemaschine; die haben alle eine CE-Zertifizierung. Aber heute geht es um Gasgeräte und um die persönliche Schutzausrüstung. 2016 hat die EU zwei Verordnungen erneuert, und deswegen haben wir heute die Ehre, ein Durchführungsgesetz zu beschließen, womit wir ein paar Sachen regeln, zum Beispiel, welche Marktüberwachungsstelle nötig ist. Das ist eigentlich auch ein ganz vernünftiges System. Das wird national geregelt, national überwacht. Aber wenn einer Stelle was auffällt, dann telefoniert sie mit dem anderen in der Europäischen Union, und dann kann ein Produkt aus dem Verkehr gezogen oder gestoppt werden. Gleichzeitig haben wir heute die außergewöhnliche Ehre, ein paar Bußgeldvorschriften und Ordnungswidrigkeiten festzustellen. Deswegen werden wir gleich beschließen, dass ordnungswidrig handelt, wer „entgegen Artikel 16 in Verbindung mit Artikel 30 Absatz 5 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über die Vorschriften für die Akkreditierung und Marktüberwachung im Zusammenhang mit der Vermarktung von Produkten und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 339/93 des Rates (ABl. L 218 vom 13.8.2008, S. 30) eine Kennzeichnung, ein Zeichen oder eine Aufschrift“ auf einem Gerät oder einer Ausrüstung anbringt. ({0}) Für die, die das jetzt nicht verstanden haben: Da wird geregelt, dass man ein CE-Zeichen nur aufbringen darf, wenn man tatsächlich zertifiziert ist, und man darf nichts aufbringen, was so ähnlich aussieht. Ansonsten darf man aufbringen, was man will. – In Bezug auf direkte Verständlichkeit und sprachliche Klarheit arbeiten wir also noch ein bisschen! ({1}) Es wäre ja sehr schön, wenn das das Einzige wäre, wenn wir nur dieses Durchsetzungsgesetz hätten. Aber dann hat die Bundesregierung noch etwas in dieses Artikelgesetz mit reingeschmuggelt, zu dem ich sage: Die EU redet da gar nicht mit. Das ist gar kein EU-Thema. Es geht um ein paar kleine Änderungen im SGB IX und im SGB XII. ({2}) Warum brauchen wir die? Die brauchen wir einfach, weil die letzte Große Koalition es ein bisschen versäumt hat, Dinge gleich ordentlich einzupflegen. Da gab es ja den großen Wurf. Andrea Nahles wollte das große Bundesteilhabegesetz haben. Aber man hat halt ein paar Punkte vergessen, und die werden jetzt nachgeschoben. Das alles sind Dinge, über die man sagen kann: Ja, schlimm ist es nicht; es ist sinnvoll: die Klarstellung, dass Leistungserbringer – zum Beispiel Heime, die Pflegedienstleistungen für die Eingliederungshilfe oder so erbringen – zur Mitwirkung an der Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfung verpflichtet sind. Wir erweitern daneben die Straftatenkataloge. Es geht sozusagen um eine Unvereinbarkeit. Wenn man in einem gewissen Bereich was ausgefressen hat, dann darf man da nicht mehr arbeiten. Das erweitern wir, auch insgesamt okay. ({3}) Sehr wichtig ist natürlich die Aufhebung der Frist, bei der es darum geht, ob Kinder bei Pflegefamilien untergebracht werden können und dann Eingliederungshilfe bekommen. Es geht hier um schwerbehinderte Kinder. Da sagen wir: Natürlich ist das wichtig. Die Familie ist die Keimzelle, der Kern der Gesellschaft, und natürlich wollen auch wir, dass behinderte Kinder bei Pflegefamilien untergebracht werden. ({4}) Und wir verstehen sowieso nicht, warum es da eine Frist gab. Warum gab es sie? Weil ein großer Wurf von Andrea Nahles, von der SPD kommen sollte. Er kam aber nie. Jetzt schaffen wir die Frist ab, bevor die Regelung alternativ auslaufen würde. ({5}) Insofern ist das insgesamt in Ordnung. Es ist ja bald Weihnachten, und deswegen hat uns die FDP noch einen Entschließungsantrag unter den Weihnachtsbaum gelegt, bei dem sie dachte: Jetzt machen wir mal ein echtes Meisterwerk an Populismus. ({6}) Es gibt überhaupt keine Details, es gibt überhaupt keine konkreten Forderungen. Sie malen am Anfang wirklich schwarz: Selten waren die Erwartungen von Menschen mit Behinderungen ... so hoch ... Täglich wachsen nun die Zweifel. Die Zweifel bestehen ... Vielmehr bestehen Sorgen ... Es geht noch weiter: Andererseits bestehen Unklarheiten ... Diese Gemengelage führt zu vielen offenen Fragen und Problemstellungen mit wachsender Verunsicherung bei Betroffenen ... Was ich wirklich lustig finde: Sie erwarten, dass die Bundesregierung in dem Gesetzentwurf, den wir in ein paar Minuten, nachdem ich geredet habe, beschließen, noch Änderungen vornimmt. Außerdem erwarten Sie bis zum 1. Januar 2019 Klarstellungen im Bundesteilhabegesetz. Innerhalb von zweieinhalb Wochen solche Klarstellungen in irgendeinem Gesetz zu erarbeiten: Das ist wirklich eine überdurchschnittliche Anforderung und wäre eine überdurchschnittliche Arbeitsleistung. ({7}) Und mal ganz ehrlich: Glauben Sie, dass diese Bundesregierung eine überdurchschnittliche Leistung erbringt? Ich glaube das nicht. ({8}) Insofern bleibt mir nur noch übrig, Ihnen allen frohe Advents- und Weihnachtstage zu wünschen und zu wünschen, dass Ihre Geräte im Betrieb technisch tatsächlich beweisen, dass sie ihre CE-Zertifizierung wohlverdient haben. Herzlichen Dank, auf Wiedersehen. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: der Kollege Wilfried Oellers, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute beraten wir in der Tat einen Gesetzentwurf mit zwei sehr unterschiedlichen Themenbereichen. Zum einen geht es um die Umsetzung einer europäischen Verordnung zur Bereitstellung von Produkten auf dem Markt – insbesondere für persönliche Schutzausrüstungen – in nationales Recht. Der Kollege Michael Gerdes ist ja schon ausführlich darauf eingegangen. Auf diese Ausführungen möchte ich verweisen. Als Behindertenbeauftragter unserer Fraktion möchte ich mein Augenmerk insbesondere auf den zweiten großen Teil richten, und zwar geht es da um Lückenschließungen in den Sozialgesetzbüchern IX und XII. Was heißt das im Konkreten? Vor allem wollen wir mit den Veränderungen dafür sorgen, dass Pflegefamilien weiterhin Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten können. Warum ist das wichtig? Sie sorgen sich um behinderte Kinder und Jugendliche und geben ihnen ein familiäres Umfeld, sodass sie nicht in stationären Behinderteneinrichtungen aufgenommen werden müssen. Und, ja, in der letzten Legislaturperiode war eigentlich vorgesehen, noch eine Änderung im Sozialgesetzbuch VIII vorzunehmen, insbesondere, um eine Fristverlängerung bzw. Leistungen entsprechend aufzunehmen. Dazu kam es leider nicht, sodass wir diese Regelung mit dem heutigen Gesetzentwurf entfristen müssen, weil die Frist nur noch bis zum 31. Dezember dieses Jahres läuft. Wenn wir diese Entfristung nicht vornehmen würden, würden die genannten Familien ab dem 1. Januar 2019 keine Leistungen mehr beziehen können. Mit der Entfristung wollen wir Rechtssicherheit für diese Familien und insbesondere für die Kinder und Jugendlichen schaffen. Weitere Änderungen werden wir vornehmen, indem wir zum Beispiel Prüfrechte für die Träger der Sozialhilfe konkretisieren und weiterentwickeln, damit die Qualität der Leistungen nicht nur, wie bisher, vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen, sondern auch von den Leistungsträgern überprüft wird. Das sind – das muss man betonen – anlassbezogene Prüfungen, und es sollen auch keine Doppelprüfungen stattfinden. Daher möchte ich sofort der Kritik entgegenwirken, dass es hier vielleicht zu Doppelprüfungen und zu Mehraufwand kommen könnte. Darüber hinaus werden die Erbringer der Leistungen – bei Eingliederungshilfe und Pflegeleistungen – verpflichtet, Auskünfte und Unterlagen für Qualitätsprüfungen vorzulegen. Der Datenaustausch zwischen den Behörden, der Heimaufsicht und den Einrichtungen wird verbessert und soll insbesondere auch anonymisiert sein, sodass wir da auch keine datenschutzrechtlichen Schwierigkeiten haben. Dies dient insbesondere der Transparenz für die Betroffenen, die Angehörigen, aber auch für die Pflegeeinrichtungen, sodass hier eine bestmögliche Überprüfung erfolgen kann. Ein ganz wichtiger Punkt zum Schluss ist, dass der Straftatenkatalog bei dem erweiterten Führungszeugnis um die Straftaten „Sexuelle Belästigung“, „Sexuelle Straftaten aus Gruppen“ und „Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen“ erweitert wird. Damit wollen wir verhindern, dass Personen, die wegen solcher Straftaten bereits verurteilt worden sind, von Leistungserbringern beschäftigt werden oder sich ehrenamtlich in die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen begeben können. Es ist uns wichtig, dass die Menschen mit einer Beeinträchtigung den höchstmöglichen Schutz für ihren persönlichen Lebensbereich bekommen, und hier müssen wir präventiv tätig werden. Es geht jetzt um erste weitere Änderungen von Gesetzen. Das Bundesteilhabegesetz ist eben schon angesprochen worden. Das war ein erster großer Schritt, den wir gemacht haben. Dieses Bundesteilhabegesetz erhebt sicherlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern muss ständig weiterentwickelt werden. Das beobachten wir. Hier werden wir mit den Betroffenen, Angehörigen und Verbänden einen intensiven Austausch führen, um so das Gesetz in den nächsten Schritten zu evaluieren und zu verbessern. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es bleibt mir nur noch, Ihnen ein frohes, besinnliches und gesegnetes Weihnachtsfest zu wünschen. Kommen Sie ein paar Tage zur Ruhe, schöpfen Sie Kraft für das Jahr 2019, für das ich Ihnen alles erdenklich Gute wünsche. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Jens Beeck ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. ({0})

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Staatssekretärin Griese, wieder einmal ein Gesetzentwurf, mit dem dem Deutschen Bundestag teilhabepolitische Themen zusammen mit anderen Themen, die noch abzuarbeiten sind, in einem gemeinsamen Paket vorgelegt werden. Dieses Mal geht es zum einen um die CE-Kennzeichnung von Gasgeräten und persönlichen Schutzausrüstungen, Regelungen, an denen in der Sache nichts zu kritisieren ist. Dennoch fällt langsam auf: Wenn es um Politik für Menschen mit Einschränkungen geht, dann hat es diese Großen Koalition bisher nicht geschafft, auch nur eine einzige separate nationale Vorlage in dieses Plenum einzuführen. ({0}) Das unterscheidet Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, übrigens von der Fraktion der Linken, von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und von der Fraktion der Freien Demokraten. ({1}) Heute liegen uns dennoch wichtige Regelungen vor. Hervorzuheben ist dabei, dass auch im Jahr 2019 Kinder unter Vermeidung des Aufenthalts in vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe in Pflegefamilien versorgt werden können. Auch die Regelungen zum erweiterten Führungszeugnis und zur Auskunft von Kostenträgern im Bereich der Sozialgesetzbücher IX und XII sind richtig, insbesondere dann, wenn sie nicht zu Doppelprüfungen führen. ({2}) – Ja. Und deswegen, Frau Hiller-Ohm, sage ich jetzt auch: Im Ergebnis werden die Freien Demokraten an dieser Stelle heute einmal mehr Ihrem Gesetzesvorhaben zustimmen. So ist das. ({3}) – Warten Sie, es kommt noch was. ({4}) Wir haben dennoch einen Entschließungsantrag vorgelegt, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil das Problem Ihrer Politik im Bereich der Menschen mit Behinderungen nicht das ist, was Sie vorlegen, sondern das, was Sie eben nicht vorlegen. Das ist das Problem. ({5}) Es wäre in diesem Gesetzentwurf problemlos möglich und auch notwendig gewesen, Frau Staatssekretärin, bereits für Klarstellungen, Herr Kollege Oellers, beim Bundesteilhabegesetz zu sorgen, mindestens doch in dem Maße, wie die AG Personenzentrierung im Bundesministerium die Nachschärfungsbedarfe, Frau Kollegin Glöckner, bereits deutlich und klar definiert hat. Das wäre möglich gewesen: Abgrenzung der Fachleistungen der Eingliederungshilfe zu existenzsichernden Leistungen, Schnittstelle der Eingliederungshilfe zur Pflege insbesondere im stationären Bereich, wenn jetzt die neuen Wohnformen kommen, und Schutz der ehrenamtlichen Betreuer und der Angehörigen vor den Haftungsrisiken, die am 1. Januar 2020 auf sie zukommen, wenn die Vertragsfreiheit zu großen Haftungsrisiken führen kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Teilhabepolitik in diesem Tempo kann nur zu weiteren Schnellschüssen ohne hinreichende Beteiligung der Betroffenen führen, und das sollten wir im Interesse der Betroffenen, im Interesse unseres Sozial- und Rechtsstaats gemeinsam verhindern. ({6}) An einer anderen Stelle ist das schon misslungen. Denn die rund 85 000 Betroffenen hatten bereits zur Wahl des Europäischen Parlaments im nächsten Jahr darauf gehofft, die volle Wiedererlangung ihrer Bürgerrechte zu erhalten. Die FDP-Fraktion hat bereits im Sommer dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt, die Einschränkung des Wahlrechts wegen Vollbetreuung aufzuheben. Wir sind der Auffassung, dass nur die vollständige Streichung der Nummer 2 des § 13 Bundeswahlgesetz der menschenrechtlichen Voraussetzung an dieser Stelle entspricht, aus unserer Sicht im Übrigen auch die Streichung der Nummer 3 des § 13 Bundeswahlgesetz. Diese Europawahl 2019 ist aber wohl nicht mehr zu erreichen. Das ist schon jetzt eine verpasste Chance im Bereich der Politik. ({7}) Es bleibt zu hoffen, dass dieser Bundestag wenigstens in der Sache die Kraft findet, selbst zu einer Überwindung dieser grundrechtsverletzenden Wahlrechtsausschlüsse zu kommen, um dazu nicht durch das Bundesverfassungsgericht gezwungen zu werden. Sofern es dazu in einem der beteiligten Ministerien, im federführenden Ministerium, offenbar eine, wie ich finde, sehr wenig nachvollziehbare Zurückhaltung gibt, gilt heute wie damals der Satz der früheren Kollegin Anke Fuchs: Der Bundestag darf sich nicht dem Regierungswillen unterwerfen; er muss sich auch seiner sozialstaatlichen Tradition bewusst sein. – Das gilt an der Stelle der Wahlrechtsausschlüsse in besonderer Weise. Kolleginnen und Kollegen – ich komme zum Ende, Herr Präsident –, wir müssen gemeinsam an dieser Stelle zu Ergebnissen kommen und gemeinsam arbeiten für eine Welt, in der Teilhabe für alle Menschen möglichst frei möglich ist. Das wäre auch ein guter Weihnachtswunsch, den ich für uns alle habe. In diesem Sinne: Lassen Sie uns gemeinsam in 2019 daran arbeiten. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: der Kollege Sören Pellmann, Fraktion Die Linke. ({0})

Sören Pellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn die aktuelle Regierung Gesetze zur Behindertenpolitik einbringt, erinnert mich das an ein Klischee, und zwar an das Klischee von wiederkehrenden Weihnachtsfeiern bei den Schwiegereltern. Man schaut andauernd auf die Uhr und hofft, dass das Ganze bald vorbei ist. ({0}) Meist gibt es noch nett verpackte Geschenke, bei denen zu hoffen ist, dass es nicht die Überbleibsel vom letzten Schrottwichteln sind. Genau dieses Gefühl hatte ich Anfang November, als ich diesen Gesetzentwurf in die Hände bekam. Bereits auf Seite 1 blickte ich fasziniert auf dieses Papier. Ich war erstaunt, welche Dinge alle angeblich miteinander zu tun haben sollen. Das Kabinett schafft es, Begriffe wie „persönliche Schutzausrüstung“, „Gasverbrauchseinrichtungsverordnung“, „Pflegeeinrichtungen“ sowie das IX. und XII. Sozialgesetzbuch auf einer Seite in den Entwurf zu mischen. Das zeigt eines ganz deutlich: wie ignorant die Regierung mit den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen umgeht. Das darf so nicht weitergehen. ({1}) Notwendige Veränderungen werden erneut einfach nur an andere Sachverhalte drangehangen. Aber schauen wir mal konkret, was im Paket sonst noch drinsteckt: Da findet sich zum einen die Aufhebung der Befristung der Leistungsgewährung der Eingliederungshilfe für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen in einer Pflegefamilie. Ebenso ist eine Rechtsgrundlage zum Austausch von Sozialdaten bei der Zusammenarbeit zwischen Trägern der Sozialhilfe, Trägern der Eingliederungshilfe und der Heimaufsicht enthalten. Gleichzeitig wird klargestellt, dass die Leistungserbringer zur Mitwirkung bei der Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfung verpflichtet sind. Ein paar nett klingende Worte! Zu einer echten Bescherung unterm Weihnachtsbaum gehört nach Ansicht der Linken aber wesentlich mehr. Viel zu zahlreich sind die Diskriminierungen, die Menschen mit Behinderungen weiterhin ertragen müssen. Hier wird keine Abhilfe geschaffen. Wenn das SGB IX schon angefasst, bearbeitet und verändert wird, dann hätten wesentlich mehr Änderungen und vor allem auch Verbesserungen vorgenommen werden müssen. Aktuell ist Teilhabe nach Auffassung der Linken nach wie vor viel zu oft unter Kostenvorbehalt gestellt. Besonders deutlich wird das bei den Assistenzleistungen. Menschen, die ein funktionierendes Arbeitgebermodell leben, werden leider immer noch zu oft gezwungen, genau dieses aufzugeben. Gegen ihren Willen sollen sie wieder ins Heim, oder ihnen wird der Bedarf so gekürzt, dass ein selbstbestimmtes Leben nicht mehr möglich ist. Menschen mit Behinderungen, die beispielsweise in einer Wohngemeinschaft leben, können auch gegen ihren Willen zu einer gemeinschaftlichen Leistungserbringung genötigt werden. Die Linksfraktion wurde diese Woche erst von einem Mann im Hospiz kontaktiert, der Assistenz beantragt hat. Er möchte noch gelegentlich Freunde treffen oder die Natur genießen können. Das Ergebnis: Sein Antrag wurde abgelehnt. Das ist die Realität, und das ist kein Einzelfall. Hier ist Teilhabe klar vom Geldbeutel abhängig. Das Bundesteilhabegesetz ist und bleibt deshalb nur ein Spargesetz. Wie sieht die behindertenpolitische Bilanz des Jahres 2018 denn nun aus? Nach unserer Auffassung eher düster. Die Verpflichtung zur Barrierefreiheit der Privatwirtschaft – Die Linke hatte dazu einen Antrag hier ins Parlament eingebracht – wurde blockiert. Eine größere Anzahl von in barrierefreie Formate übersetzter Literatur nach dem Marrakesch-Vertrag wurde verhindert. Die Probleme des Bundesteilhabegesetzes wurden ausgeblendet. Die Aufhebung der Wahlrechtsausschlüsse – trotz Zusage im Koalitionsvertrag – ist immer noch nicht vorgenommen worden. Hier muss endlich geliefert werden. Dazu liegen Vorschläge von FDP, Grünen und Linken auf dem Tisch. Handeln Sie jetzt! ({2}) Der Weihnachtsmann müsste folglich eher mit der Rute als mit Geschenken bei den Verantwortlichen vorbeischauen. ({3}) Die Linke wird daher im nächsten Jahr weiter für die Rechte von Menschen mit Behinderungen kämpfen. Betroffene müssen endlich inklusiv leben können. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns frohe Weihnachten. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Corinna Rüffer ist die nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Einen schönen guten Abend an alle anderen! Ich glaube, alle hatten jetzt Weihnachtsassoziationen, ich natürlich auch. Ich hatte so ein bisschen Hoffnung, ehrlich gesagt. Sie haben ja die Änderungen im SGB IX und im SGB XII hinter den Regelungen zu den Gasgeräten versteckt. Da dachte ich: Vielleicht möchte die Bundesregierung uns ein kleines Geschenk an Weihnachten machen und uns damit überraschen, dass sie jetzt endlich tatkräftig die UN-BRK umsetzen möchte. Aber ich habe mich getäuscht. Das war eigentlich auch nicht anders zu erwarten. Wir haben hier so einen ganz kleinteiligen Gesetzentwurf vor uns liegen, der natürlich notwendig ist und dem wir am Ende auch zustimmen werden. Aber eigentlich geht es doch um etwas Größeres, nämlich, wie gesagt, darum, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen und endlich das zu machen, was angekündigt war: das Bundesteilhabegesetz zu ändern und an wesentlichen Stellen fortzuentwickeln. Nach dem Gesetz ist vor dem Gesetz, und das, was Sie hier vorlegen, entspricht dem eigenen Anspruch natürlich nicht. ({0}) Ich möchte das einmal an einem Beispiel deutlich machen: Wir haben es hier mit dem erweiterten Führungszeugnis zu tun, das Voraussetzung dafür ist, in Einrichtungen der Behindertenhilfe zu arbeiten. Es ist auch völlig richtig, dass dieses Führungszeugnis um diese zwei Straftatbestände ergänzt wird. ({1}) Aber wir müssen uns schon mal vor Augen führen, was hier eigentlich los ist: dass Gewaltschutz natürlich ein riesiges Thema ist im Zusammenhang mit Menschen und Behinderungen, dass wir ein Konzept brauchen, eine Strategie brauchen, um diese Gewalt endlich zu beenden. ({2}) Ich möchte diejenigen, die in der letzten Legislatur schon hier im Deutschen Bundestag waren, an etwas erinnern: Das Team Wallraff hat auf RTL eine ganz populäre Sendung gebracht – die haben viele, viele Menschen gesehen –, in der es darum ging, wie Menschen in Werkstätten und Wohnheimen entwürdigt und geschlagen wurden. Damals hat die Staatsanwaltschaft gegen Träger wie die Lebenshilfe und andere ermittelt. Das ist ein Beleg dafür, dass hier Gewalt stattfindet und dass wir es mit einem strukturellen Problem zu tun haben und nicht mit Einzelfällen. ({3}) Ich will Ihnen mal was sagen, liebe Bundesregierung: Das wissen wir spätestens seit 2011. Damals haben Sie selber ein Gutachten in Auftrag gegeben, das sich mit – ich lese den Titel vor – „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen“ auseinandergesetzt hat. Sieben Jahre sind seitdem vergangen. Was hat dieses Gutachten zutage gebracht? Dass Frauen, die behindert sind, in ihrem Leben zwei- bis dreimal häufiger als alle anderen Frauen von sexueller Gewalt nicht bedroht, sondern betroffen sind – zwei- bis dreimal so häufig. Das sind oft Frauen, die in Einrichtungen leben, die wir immer als beschützende Einrichtungen bezeichnen. Jetzt stellen wir fest, dass diese Einrichtungen nicht schützen, sondern oft das Gegenteil tun. Die Bundesregierung ist gefordert, endlich eine Strategie vorzulegen. ({4}) Ich warte seit Jahren darauf, dass hier wirklich etwas kommt und nicht nur gekleckert wird. Ein zweites Beispiel, um unseren Blick zu weiten und zu verstehen, worüber wir hier eigentlich reden – ich glaube, das tut uns gut –: Wir haben es gerade mit einem jungen Mann zu tun, 31 Jahre alt, der 25 Jahre lang in Einrichtungen gelebt und sich vor sechs Jahren aus einer Einrichtung herausgekämpft hat; er hat mit Assistenz gelebt. Was ist dann passiert? 2015 hat die Behörde angefangen, ihm sukzessive das Geld zu streichen. Heute bekommt er kein Geld mehr, obwohl das Bundesverfassungsgericht zu seinen Gunsten entschieden hat, drei Eilverfahren hinter uns liegen und sogar gegen eine Behörde zwangsvollstreckt wurde. Das hilft ihm alles nichts. Dieser Mann hat riesige Schulden; ihm hilft kein Mensch. Es entsteht gerade eine Bewegung, und ich möchte, dass wir heute von hier aus versprechen, dass dieser Mensch nie wieder in eine Einrichtung der Behindertenhilfe zurück muss und so leben kann, wie jeder andere auch, inklusiv, mit wem er möchte und mit der Unterstützung, die er braucht. Das bedeutet, dass wir Nachbesserungen im Bundesteilhabegesetz brauchen. Wir hätten das klar formulieren können. Wir wussten, dass solche Fälle vor uns liegen. Es ist jetzt Zeit. Ich wünsche mir etwas zu Weihnachten, nämlich dass wir im nächsten Jahr an den zentralen Stellen dieses Gesetzes so nachbessern, dass Teilhabe in diesem Land endlich Realität wird und nicht eine blöde Weihnachtsgeschichte bleibt. Danke. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, liebe Kollegin Corinna Rüffer. – Schönen Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir an Sie. Nächste Rednerin: Angelika Glöckner für die SPD-Fraktion. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach Brückenteilzeit, Teilhabechancengesetz, Rentenpaket I und, und, und beschließen wir heute ein weiteres wichtiges soziales Paket. Wir reden über kleine Änderungen, das ist wahr, wahr ist aber auch: mit großen Wirkungen. Ich möchte die Änderungen beleuchten. Als Erstes erhöhen wir den Schutz für pflegebedürftige Menschen in Einrichtungen. Wer als Pflegefachkraft in Einrichtungen arbeiten will, darf künftig keinen Eintrag im Führungszeugnis wegen sexueller Belästigung aufweisen. Meldungen über Misshandlungen oder Missbrauch bei pflegebedürftigen Menschen hören wir immer wieder, und es erschüttert uns immer wieder. Vor allem können sich Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen gepflegt werden, überhaupt nicht zur Wehr setzen und bedürfen eines besonderen Schutzes. Diesem Schutz werden wir gerecht. Deshalb ist diese Regelung ein ganz wichtiger und notwendiger Schritt. ({0}) Als Zweites verlängern wir die Eingliederungshilfe über das Jahr 2018 hinaus für Familien, die Kinder oder Jugendliche mit Behinderungen in Vollzeit zu Hause pflegen und dadurch den Aufenthalt in einer Einrichtung vermeiden oder beenden. Damit schaffen wir auch Rechts- und Planungssicherheit für diese Pflegefamilien und ihre Pflegekinder. Zu guter Letzt beschließen wir ein anlassbezogenes Prüfrecht für die Träger der Sozialhilfe und Eingliederungshilfe. Als örtliche Träger der Sozialhilfe gewähren die Städte und Landkreise mit finanzieller Unterstützung der Länder jährlich 4 Milliarden Euro Hilfe zur Pflege. Bisher tun sie das, ohne dass es ihnen möglich ist, ein Prüfrecht dahin gehend auszuüben, ob die Gelder in den Einrichtungen ordnungsgemäß verwendet werden. Dieses Recht haben bisher – das wurde gesagt – nur Pflegekassen für die Leistungsgewährung ihrer Versicherten. Das wollen wir ändern. Deshalb beschließen wir heute auch für die Sozialhilfeträger ein Prüfrecht. Gleichzeitig bedeutet das, dass bei Menschen, die vollständig oder teilweise vom Sozialhilfeträger Hilfe zur Pflege erhalten, geprüft werden kann, ob das Geld auch vereinbarungsgemäß verswendet wird. Wir folgen damit der ausdrücklichen Empfehlung der Länder, die sich aufgrund etlicher Abrechnungsskandale dafür ausgesprochen haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Forderung zu unterstützen, muss doch auch unser Anspruch sein; ({1}) denn nicht zuletzt handelt es sich um Steuergelder. Wir als SPD-Fraktion sorgen dafür, dass die Hilfe genau dort ankommt, wo wir es wollen, nämlich bei den Menschen vor Ort. ({2}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie beantragen, der Bundestag solle die Bundesregierung auffordern, sicherzustellen, dass dieses erweiterte Prüfrecht nicht zu Doppelprüfungen und Parallelstrukturen führt. Ihre Sorge halte ich für relativ unbegründet. Ich fasse gern noch einmal zusammen: Diese Prüfungen durch die Sozialhilfeträger sind nur anlassbezogen möglich, und sie sind auch nur möglich, soweit keine anderen Sozialleistungsträger oder Stellen, die sie beauftragt haben, Prüfungen vorgenommen haben. Wenn eine andere Stelle diese Prüfung vorgenommen hat, dann muss diese Einrichtung die Prüfungsergebnisse gegenüber dem Sozialhilfeträger offenlegen; das macht eine doppelte Prüfung entbehrlich. Und genau diesen vierten Punkt haben wir auch geregelt. Sie sehen: Die Bundesregierung unter der Federführung des Bundesministers Hubertus Heil und der Staatssekretärin Kerstin Griese hat an alles gedacht; sie haben ihre Hausaufgaben gemacht. ({3}) Ich danke dem Bundesarbeitsminister und der Staatssekretärin für die gute Zusammenarbeit und die Ausarbeitung dieses Gesetzentwurfes. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen eine frohe Weihnachtszeit und alles Gute. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Angelika Glöckner. – Nächster Redner: Marc Biadacz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marc Biadacz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004673, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf mit einem – ja, das muss man schon sagen – sehr sperrigen Namen. Dahinter verbergen sich zwei Bereiche, in denen der Gesetzgeber, also wir, aktiv werden muss. Der erste Bereich – jetzt komme ich zu dem sperrigen Teil – ist eine Umsetzung von zwei EU-Verordnungen in deutsches Recht: erstens die Vermarktung von Gasgeräten, also Kochplatten und Gasherden, zweitens die Vermarktung von persönlichen Schutzausrüstungen. Dies bedeutet Verbesserungen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes der Bürgerinnen und Bürger. Deshalb sind diese Durchführungsbestimmungen notwendig. Also sollten wir heute hier pragmatisch handeln und diesen Gesetzentwurf beschließen. Der zweite Bereich regelt wichtige Änderungen in den Sozialgesetzbüchern IX und XII. Einen Punkt hier herauszugreifen, ist gerade für uns Sozialpolitiker ungemein wichtig: die Unterstützung von Pflegeeltern, die Kinder und Jugendliche mit Behinderungen betreuen und erziehen. Wir sind uns alle, glaube ich, einig: Inklusion beginnt am Anfang des Lebens. ({0}) Alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland sollten die Möglichkeit haben, in einer Familie aufzuwachsen, auch Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, die nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können. Sie alle brauchen besondere Zuwendung und Liebe, um ihre Persönlichkeit zu entfalten; das erfüllen Pflegefamilien. Deswegen möchte ich an dieser Stelle und zu dieser späten Stunde allen Pflegeeltern und -geschwistern ein herzliches Dankeschön sagen für ihre Arbeit. ({1}) Als Gesetzgeber, meine Damen und Herren, sind wir jetzt in der Pflicht, für gute Rahmenbedingungen zu sorgen, um Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen ein inklusives Aufwachsen und eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Diesen zwei Anliegen wird der Gesetzentwurf gerecht: Erstens. Wir unterstützen Pflegefamilien weiterhin mit Leistungen der Eingliederungshilfe. Zweitens. Wir sorgen dafür, dass keine Gesetzeslücke entsteht; denn die bisherige Regelung ist bis Ende 2018 befristet. Der vorliegende Gesetzentwurf schafft somit Abhilfe. Diese Befristung wird nun aufgehoben. Damit werden Pflegefamilien auch 2019 mit Leistungen der Eingliederungshilfe unterstützt, bis dann im Jahr 2020 die dritte Reformstufe des Bundesteilhabegesetzes in Kraft tritt. Das zeigt: Wir lassen niemanden hängen. Wir fördern das Aufwachsen im familiären Umfeld. ({2}) Die Änderungen in den Sozialgesetzbüchern IX und XII, die wir heute beraten und beschließen werden, bekräftigen unseren Weg in der Behindertenpolitik, den wir mit dem Bundesteilhabegesetz in der letzten Legislaturperiode eingeschlagen haben. Lieber Herr Beeck, ich weiß, da waren Sie mit der FDP im Sabbatical. Deswegen haben Sie vielleicht vergessen, dass die Bundesregierung hier mit Blick auf Teilhabe in der Gesellschaft einen großen Beitrag geleistet hat. ({3}) Das muss mal gesagt werden, bei aller Kritik und allen Modifizierungen, die wir noch vornehmen müssen: In der letzten Legislaturperiode haben wir hier viel geleistet. Jetzt wollen wir ein weiteres Zeichen für Inklusion und Teilhabe in unserem Land setzen. Ich freue mich, dass wir heute einen weiteren kleinen Schritt in diese Richtung machen. Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten. – Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Marc Biadacz. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Peter Aumer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, auch Pragmatismus gehört zum Regierungshandeln. Der heute vorliegende Gesetzentwurf zeigt, dass die Bundesregierung, getragen von CDU, CSU und SPD, pragmatische Politik macht. Wenn es Regelungslücken gibt, dann gehören sie geschlossen, und das schnellstmöglich. Meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken, ich glaube, das muss man anerkennen. Und wenn man merkt, dass es bei der Eingliederungshilfe Regelungsbedarf gibt, dann ist es, glaube ich, sinnvoll, das zeitnah zu regeln, damit keine Versorgungslücken für die Menschen entstehen. Das ist ein richtiger Ansatz. Insofern sind wir hier auf dem richtigen Weg. ({0}) – Ja, aber es eilt. Zum 31. Dezember läuft die Frist aus. Deswegen haben wir heute einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vielleicht nicht zusammenpasst, aber durchaus Wirkung entfalten wird. Sehr geehrter Herr Beeck, zu dem, was Sie in Ihrer Rede gesagt haben, und zum großen Kompass der FDP in der Behindertenpolitik muss man, glaube ich, sagen: Das, was die Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode mit dem Bundesteilhabegesetz auf den Weg gebracht hat, ist sozialpolitisch ein ganz wesentlicher Meilenstein. Ich glaube, man sollte zumindest einen kleinen Blick auf das werfen, was hier geleistet worden ist; denn das wird, wie mein Kollege Marc Biadacz zuvor gesagt hat, in Zukunft Wirkung entfalten. Sich das einmal vor Augen zu führen, gehört zu einer ehrlichen und glaubwürdigen Politik dazu. ({1}) Wenn man Ihren Antrag liest, stellt man fest – ich habe mir die Stellungnahme der Wohlfahrtsverbände angeschaut –, dass Sie eins zu eins das fordern, was die Wohlfahrtsverbände gefordert haben. Dass das von einer sehr intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema zeugt, glaube ich nicht wirklich. Wenn Sie uns vorhalten, wir würden die behinderten Menschen nicht in den Fokus unserer Politik stellen, sind Sie nicht ehrlich. Ich bitte Sie, sich die einzelnen Punkte, die in diesem Gesetzentwurf stehen, anzuschauen. Hier wird geregelt, was geregelt werden muss. Der Meilenstein war das Bundesteilhabegesetz. Das entfaltet nun seine Wirkung. Ich war in der letzten Woche in meinem Wahlkreis bei der Eröffnung einer ergänzenden und unabhängigen Teilhabeberatungsstelle, die für Stadt und Landkreis Regensburg zuständig ist. Hier merkt man zum ersten Mal die Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes sehr deutlich: Die Menschen werden nach dem Peer-Ansatz eingestellt; auch zwei Menschen mit Behinderungen arbeiten dort und beraten Menschen mit Behinderungen. Ich glaube, hieran merkt man sehr konkret, dass die Bundesregierung und wir als CDU/CSU sehr deutliche Akzente setzen. Das ist auch gut so. Das Bundesteilhabegesetz wird seine Wirkung entfalten. Die FDP kann vielleicht bei den einzelnen Punkten, die hier geregelt werden, ansetzen, beispielsweise den anlassbezogenen Prüfungen bei den Sozialhilfeträgern. Wir haben geschaut, dass bei diesen Prüfungen keine Doppelprüfungen stattfinden, dass nicht ein Mehr an Bürokratie aufgebaut wird. Hier könnte die FDP vielleicht einen wesentlichen Beitrag leisten. Aber darauf sind Sie leider nicht eingegangen. Zu all den anderen Punkten, die geregelt werden: Die Regelungslücke bei den Pflegekindern und den Pflegefamilien, die ich vorhin schon angesprochen habe, zu schließen, ist ein ganz wesentlicher Faktor. Die anlassbezogenen Prüfungen sind angesprochen worden. Dass man Datenaustausch und Datenschutz bei den Trägern einführt, ist auch ein wesentlicher Punkt. Für uns war es ganz wichtig, das noch in diesem Jahr zu beschließen. Das hat nichts damit zu tun, dass die Behindertenpolitik nur ein kleiner Ansatz ist, der immer irgendwo mit drangehängt wird, sondern für uns ist die Behindertenpolitik ganz wesentlich und steht im Fokus. Ich glaube, da brauchen wir keine Nachhilfe von der FDP. ({2}) Wir sind da auf dem richtigen Weg. Mit Wilfried Oellers haben wir auch jemanden, der das in den Fokus seiner Arbeit stellt. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Peter Aumer. – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Durchführung von Verordnungen der Europäischen Union zur Bereitstellung von Produkten auf dem Markt und zur Änderung des Neunten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/6465, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/5456 in der Ausschussfassung anzunehmen. – Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU, FDP und AfD. Die Linke hat sich enthalten. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen AfD, FDP, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD bei Enthaltung der Linken. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/6468. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat die Fraktion der FDP. Dagegengestimmt haben die SPD-, die CDU/CSU- und die AfD-Fraktion. Enthaltungen gab es von den Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.

Metin Hakverdi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004289, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Schick, zum Jahresende werden Sie Ihr Mandat niederlegen und das Parlament verlassen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich bei Ihnen für die Zusammenarbeit im Finanzausschuss bedanken. Herr Schick, wir waren nicht immer einer Meinung. Das ist so, das ist auch richtig so. Vielleicht ist es auch ein Unterschied, ob man Mitglied einer regierungstragenden Fraktion ist oder in der Opposition. ({0}) Schade ist sicherlich, dass Sie nicht in den Genuss der Regierungsverantwortung gekommen sind. Das tut mir für Sie persönlich leid. Dafür sind aber weder Sie noch Ihre Fraktion verantwortlich, sondern das hat Ihnen die FDP eingebrockt. ({1}) Jetzt erklärt uns die FDP von der Oppositionsbank aus, wie die Finanzwelt zu retten ist. Trotz der unterschiedlichen Aufgaben habe ich den Austausch mit Ihnen immer geschätzt. Aber jetzt genug der Gemeinsamkeiten. Kommen wir zu Ihrem Antrag. An Ihrem Antrag erkennt man wie im Lehrbuch, wie sich Regierungs- und Oppositionsarbeit unterscheiden. In Ihrem Antrag fordern Sie nicht weniger als eine – meine Wortwahl – Finanzrevolution. Aber – und das wissen Sie auch – man kann die Finanzarchitektur eines Landes nicht auf der grünen Wiese planen; Bauen auf der grünen Wiese wollen Sie als Grüner wahrscheinlich sowieso nicht. Als überzeugter Europäer wissen Sie auch, dass wir gut beraten sind, solche Veränderungen immer in enger Abstimmung mit unseren europäischen Partnern voranzutreiben. Daher können wir Ihrem Antrag heute nicht zustimmen. Ich weiß aber, dass Ihnen das von Anfang an klar war. Daher begreife ich Ihren Antrag als Appell. Und Ihren Appell, eine Finanzwende anzupacken, finde ich richtig. In Ihrem Antrag formulieren Sie, dass sich das Zeitfenster für Reformen angesichts des wachsenden Populismus zu schließen beginnt. Dazu zwei Bemerkungen. Erstens. Das Zeitfenster für gute politische Entscheidungen schließt sich nie. Wir haben keine Angst vor Populisten. ({2}) Sie werden die Menschen mit Irrungen und Wirrungen zu verführen versuchen; wir aber werden mit der Wahrheit kontern, und zwar gemeinsam. Zweitens – und aus meiner Sicht ist das genauso wichtig –: Wir dürfen in der finanzpolitischen Debatte nicht diejenigen aus den Augen verlieren, die eine Schuld an der Finanzkrise tragen. Die Marktgläubigkeit, der neoliberale Glaube an die Deregulierung, versucht in der politischen Debatte auch hier im Hause wieder Fuß zu fassen. Die Kolleginnen und Kollegen von der FDP wollen auch eine Wende, aber eine ganz andere Wende. Sie haben das hier bereits mit mehreren Anträgen klargemacht. Sie wollen wieder mehr Spielraum für Zocker, weniger Regulierung und eine Entfesselung der Marktkräfte. Der Markt wird es schon richten, glauben Sie. So ein neoliberaler Glaube darf in diesem Hause nie wieder die Meinungsführerschaft übernehmen. Dafür kämpfen wir. Daran arbeitet die SPD. ({3}) Uns ist es mit der Stabilisierung des Euro-Raums ernst, liebe Kolleginnen und Kollegen. Auf dem Dezember-Gipfel des Ecofin sind wichtige Entscheidungen getroffen worden. Dazu gehört – das wissen Sie – die Weiterentwicklung des ESM, dazu gehört, dass die den Mitgliedstaaten zur Verfügung stehenden vorsorglichen Kreditlinien effektiv genutzt werden können, und dazu gehört der Backstop für den Bankenabwicklungsfonds. Aber damit nicht genug. Auch bei der Finanztransaktionsteuer sind wir ein großes Stück weitergekommen. Unser Finanzminister Scholz bringt mit seinem französischen Kollegen eine Lösung auf den Weg, die die Chance hat, mehrheitsfähig zu werden. Herr Schäuble hatte den Stillstand moderiert, Olaf Scholz schafft es trotz vieler unterschiedlicher Positionen in den Mitgliedstaaten, Fortschritte zu verhandeln. ({4}) Wenn es gelingt, dass wir weitere europäische Partner dafür gewinnen, so wird die Finanztransaktionsteuer einen Beitrag zur Finanzierung des EU-Haushaltes leisten können. Ich weiß, dass das vielen nicht reicht. Ich weiß, dass sich viele mehr vorstellen können. Ich weiß das; auch ich gehöre zu diesen vielen. Auch ich würde gerne an dieser Stelle die Revolution ausrufen. Wer aber europäisch denkt und für Europa ist, der nimmt seine europäischen Partner mit und verzichtet auf Unilateralismus. Kolleginnen und Kollegen, es ist kein Geheimnis, dass die SPD der europapolitische Motor dieser Koalition ist. Das ist gut so, und das bleibt auch so. ({5}) Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Metin Hakverdi. – Nächster Redner: Dr. Bruno Hollnagel für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Bruno Hollnagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004760, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Leider müssen wir feststellen, dass die Anträge der Grünen und der Linken ein tiefgreifendes Verständnis von den eigentlichen Problemen nicht erkennen lassen. So kann es nicht verwundern, dass keine wirklichen Lösungen angeboten werden. Bestenfalls laborieren Sie mit Ihren Vorschlägen an Symptomen herum. Erlauben Sie mir deswegen, zu erläutern, welche drei Ursachen meines Erachtens für die Subprime-Krise maßgeblich waren. Der erste Grund war der Bruch des Verursacherprinzips. In diesem Sinne erinnere ich daran, dass die politische Absicht der amerikanischen Regierung war, auch weniger vermögenden Menschen Immobilieneigentum zu ermöglichen. Das geschah dadurch, dass halbstaatliche Unternehmen wie Fannie Mae oder Freddie Mac staatlich garantierte Anleihen herausgaben. Dieses so eingenommene Geld wurde als Eigenkapital eingesetzt, sodass im Endeffekt der Käufer eine Immobilie ohne Eigenkapital erwerben konnte. ({0}) Das heißt konkret: Der Verursacher, der Hauskäufer, haftete nicht für die Immobilie. Das wurde dadurch deutlich, dass er im Zweifelsfall einfach die Schlüssel an die Hypothekenbank schicken, nach Hause gehen und sich eine andere Immobilie, eine andere Niederlassung suchen konnte. Die Sache war für ihn erledigt. Der zweite Grund für die Probleme war die Unterbewertung der Risiken. Sie waren die Folge künstlich gedrückter Zinsen. Ja, Niedrigzinsen hatten seinerzeit geholfen, die Krise zu bewältigen. Die Niedrigzinsen führten aber auch dazu, dass unangemessene Kreditaufblähung erfolgte. Zudem waren die Zinserträge in Relation zu den Risiken viel zu gering. Beides führte dazu, dass die Kredite aufgeblasen und dadurch eine künstliche Konjunktur angeheizt wurde. Hinzu kam, dass die Preise laufend stiegen und das Risikobewusstsein dadurch sank. Das heißt, die ungedeckten Risiken stiegen. Die Fehlbewertung der Risiken führte zu einer Kapitalfehllenkung. Die Fehleinschätzung der Risiken wurde durch den dritten Grund für die Krise noch verstärkt: die Intransparenz. Hypotheken wurden zu speziellen Wertpapieren, indem sie gebündelt, verbrieft und tranchiert wurden. Die Wertpapierkäufer konnten das Risiko nicht sachgerecht abschätzen. Sie zahlten deswegen überhöhte Preise für diese Wertpapiere. Am Ende kam das, was kommen musste: die Subprime-Krise. Daraus folgte die Bankenkrise, und da viele Banken „too big to fail“ waren, mussten die Staaten eingreifen. Es kam zur Staatenkrise, weil die Staaten selbst schon überschuldet waren. ({1}) Dann hat die EU-Kommission vollkommen zu Recht gesagt: Wir müssen dem auf den Grund gehen, und die Liikanen-Gruppe wurde beauftragt, Lösungen zu finden. Diese hat zwar Lösungen gefunden, aber sie wurden nie umgesetzt. Das Fatale an der heutigen Situation ist, dass es Parallelen zur Subprime-Krise gibt, und zwar wiederum durch zu niedrige Zinsen und wiederum dadurch, dass keine risikoadäquate Bewertung von Krediten und Anleihen erfolgte. Das sehen Sie an den griechischen Staatsanleihen, die angeblich nicht ausfallen können und deswegen bei der Zentralbank zu 100 Prozent beliehen werden können. Sie sehen das an den Haftungsgemeinschaften, die faktisch einen Bruch des Verursacherprinzips darstellen; denn wenn alle verantwortlich sind, fühlt sich keiner verantwortlich. ({2}) Es gibt auch neue Risiken – durch die Zombiekredite. Das sind Kredite, die nur deswegen nicht notleidend werden, weil die Zinsen so niedrig sind. Die Strukturmängel sind aber so massiv, dass sie, sobald die Zinsen etwas steigen, sofort sichtbar werden. Das werden wir an den Zombiekrediten sehen, die genau dieses Problem haben werden. Sie können jetzt gar nicht ausfallen; denn ein Kredit kann nur ausfallen, wenn keine Zinsen mehr gezahlt oder die Tilgung nicht mehr bedient werden kann. Wenn die Zinsen aber null sind, können sie per se nicht ausfallen. Das heißt, das, was die Kommission uns vorgaukelt, dass die anderen Loans absolut sicher seien, ist schlicht und einfach falsch, einfach aus dem Grunde, weil sie gar nicht ausfallen können, weil wir Nullzinsen haben. ({3}) Die Lösung der Linken und der Grünen – damit komme ich zum Ende –, mit Mindestlohn, öffentlichen Investitionen, Finanztransaktionsteuer oder Millionärsteuer ändern an den Ursachen gar nichts. Sie heilen sie nicht. Sie sind einfach ungeeignet. Deswegen lehnen wir den Antrag ab. Danke. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Nächste Rednerin: Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Insbesondere Herr Dr. Hollnagel, Sie haben in Ihrer Rede das getan, was die AfD immer macht. Sie haben vier Minuten lang die Probleme dargestellt, aber nicht mit einem Wort gesagt, wie diese Probleme auch in den Griff zu bekommen wären. Dass wir da auf einem guten Weg sind, sagt Joachim Wuermeling, der nämlich bei der Vorstellung der Veröffentlichung der Stresstests in der letzten Woche gesagt hat – ich zitiere mit Genehmigung der Präsidentin –: Die europäischen und deutschen Banken sind selbst in einem dramatischen Abschwung widerstandsfähig. ({0}) Ich weiß, dass Sie das nicht hören wollen, weil Sie natürlich lieber Probleme schildern, aber tatsächlich haben wir in den vergangenen zehn Jahren erheblich an diesen Problemen gearbeitet. Mittlerweile bezweifeln nicht einmal mehr die Betroffenen, dass diese Regulierung notwendig war. ({1}) Wir haben damit begonnen, das Eigenkapital in den Banken zu verstärken; denn Banken mit höherem Eigenkapital sind natürlich nicht so anfällig gegen Risiken. Der Ausschuss für Finanzstabilität bestätigt, dass die Banken, die eigentlich 2019  10,5 Prozent Eigenkapital haben müssten, in Europa im Durchschnitt bei über 14 Prozent liegen. Wir haben weitergemacht mit Risikoreduzierungen; Sie haben die ausfallgefährdeten Kredite angesprochen. Wir sind in Bezug auf die Risiken in den Bankbilanzen einen wesentlichen Schritt weitergekommen, indem wir nämlich bei neu ausfallgefährdeten Krediten eine Rückstellung bilden lassen und diese auch mit Eigenkapital untersetzen. Das hat auch schon dazu geführt, dass die Kredite im Durchschnitt geringer geworden sind. Trotzdem haben die Finanzminister beim Ecofin in der letzten Woche besprochen, dass diese ausfallgefährdeten Kredite weiter reduziert werden müssen. Auch das ist mehr Sicherheit in den Bankbilanzen. ({2}) Wir müssen mit dem Insolvenzrecht weitermachen; denn auch die übriggebliebenen Non-performing Loans – so heißen die ausfallgefährdeten Kredite – müssen noch weiter reduziert werden. Auch das haben die Finanzminister besprochen. Da hoffe ich noch auf ein Ergebnis im nächsten Jahr. Da sind wir noch nicht ganz so gut wie in den anderen Punkten, aber als Problem ist dies erkannt. Wir sind auf dem Weg, dieses Problem zu lösen. ({3}) Endlich, nach langer Zeit, werden auch die Staatsschulden in den Fokus genommen. Ab 2022 sollen Staatsanleihen durch sogenannte Single-Limb Collective Action Clauses restrukturierbar werden. Das heißt, ich kann innerhalb eines Verfahrens alle Staatsanleihen einheitlich restrukturieren, und das macht im Falle einer Schwierigkeit einer Bank oder eines Staates die Verwertung dieser Anlagen wesentlich leichter. Das ist ja auch eine Anregung aus dem Antrag der Grünen. Das ist auf dem Weg. Ich hoffe, dass das Europäische Parlament dieses Verfahren jetzt auch unterstützt und durchsetzt. Auch da sind wir einen Schritt weiter. Ich gebe zu, der heutige Tag passt gut zur Debatte. Die EZB hat heute verkündet, dass sie ihre Anleihenkäufe Ende des Jahres beendet. Das zeigt deutlich, dass auch die EZB in diesem Jahr Fortschritte nach der Krise sieht. Ich hoffe auch, dass die Zinsen im nächsten Jahr wieder ansteigen werden. Bei der Bankenunion sind wir eigentlich bis auf den Common Backstop am Ziel. Wir haben die gemeinsame Aufsicht. Wir haben den gemeinsamen Abwicklungsmechanismus. Wir haben die direkte Bankenrekapitalisierung. Wir haben seit dem Ecofin auch die Verabredung, dass, wenn der Bankenabwicklungsfonds nicht ausreicht, aus dem ESM Mittel kreditweise zur Verfügung gestellt werden. Das alles steht unter der Überschrift: Steuerpflichtige bzw. steuerzahlende Bürger sollen für Krisenbanken nicht mehr bezahlen, sondern die Banken selbst sollen diese Kosten restrukturieren. ({4}) Es bleiben noch Themen offen; das will ich gar nicht verhehlen. Wir müssen in der Europäischen Union das Beihilferecht an die Bankenunion anpassen; denn leider ist es auch heute noch möglich, dass Banken, die nicht europäisch beaufsichtigt werden, durch nationale Steuern gerettet werden können. Das wollen wir nicht. Wir müssen das Beihilferecht anpassen. Das werden wir tun. Auch da sind wir auf einem guten Weg. Unter der Krise gelitten haben auch Verbraucher. Auch da haben wir über mehrere Gesetze sichergestellt, dass Verbraucher mehr vor den Problemen geschützt sind. Wir haben über die Geeignetheitsprüfung festgestellt, dass derjenige, der Verbrauchern Anleihen anbietet, klären muss, ob der Verbraucher vor ihm tatsächlich geeignet ist, diese Anlage zu kaufen. Wir haben über Warnhinweise bei Finanzprodukten sichergestellt, dass der Kunde genau weiß, was er tut, und wir haben über Kostentransparenz für Verbraucherinnen und Verbraucher mehr Informationen sichergestellt. Der gut informierte Verbraucher geht weniger Risiken ein. Das haben wir klargestellt. ({5}) Aber der Verbraucher, der mit diesen Informationen noch nicht zurechtkommt, kann sich über Finanzmarktwächter, die bei den Verbraucherzentralen angesiedelt sind, ebenfalls zusätzliche Informationen holen. Auch das haben wir dargestellt. Als Allerletztes: Selbst die BaFin hat die Zuständigkeit für den Verbraucherschutz bekommen, sodass auch hier Verbraucherinnen und Verbraucher sicher sein können, dass sie mit ihren Problemen und Sorgen gut aufgehoben sind. ({6}) Dieser Teil aus dem Antrag der Linken, die Verbraucherinnen und Verbraucher besser zu schützen, ist also auch längst auf dem Weg bzw. von uns in den letzten Jahren beschlossen worden. Auch hier brauchten wir die Anregung nicht. Aber es gibt auch neue Risiken, und da, Herr Dr. Hollnagel, haben Sie völlig recht: Wir müssen jetzt nicht nur sehen, dass wir die Risiken aus der Finanzkrise von vor zehn Jahren in den Griff bekommen, sondern es drohen auch neue Krisen. Das könnte zum Beispiel im Bereich der Immobilien sein. Daher fand ich es im Antrag der Grünen ein wenig unglücklich, dass Sie die Bundesbank zwar zitiert haben hinsichtlich der Frage, dass die Kosten bei Grundstückspreisen gestiegen sind, aber den eigentlichen Satz aus dem Bundesbankstabilitätsbericht 2018 nicht zitiert haben, der nämlich besagt – ich zitiere –: Insgesamt deuten die verfügbaren Daten zur Preisentwicklung, Kreditvergabe und privaten Verschuldungen derzeit nicht auf einen substanziell erhöhten Aufbau von Finanzstabilitätsrisiken aus dem Neugeschäft mit Wohnimmobilienfinanzierungen hin. Also, es gibt die Blase ganz offensichtlich nicht, jedenfalls nicht mit einer Auswirkung auf Finanzkredite. Trotzdem haben wir auch hier schon Vorsorge getroffen. Wir haben mit dem Finanzaufsichtsrechtergänzungsgesetz der BaFin zusätzliche Möglichkeiten an die Hand gegeben, auch Immobilienkredite zu regulieren, und die Wohnimmobilienkreditrichtlinie, die wir umgesetzt haben, führt dazu, dass die Banken sehr genau nachschauen müssen, an wen sie Immobilienkredite vergeben. Insgesamt: Zehn Jahre nach der Krise haben wir an vielen Punkten an den Stellen, wo die Krise ausgebrochen ist, Regulierungen eingeführt. Die Finanzmärkte sind sicher geworden. Trotzdem wissen wir: Wir sind aufmerksam, wo neue Probleme auftauchen. Ich nenne nur das Stichwort „Cyberkriminalität“. Wir werden uns regelmäßig weiter mit diesen Themen befassen. Bankensicherheit, Finanzmarktsicherheit ist für einen Sozialstaat immanent wichtig. Das behalten wir im Auge. Wir werden hier konsequent weiter vorgehen. Dabei mitzumachen, lade ich Sie herzlich ein. Danke. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Antje Tillmann. – Nächster Redner: Dr. Florian Toncar für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass das gut ist, dass wir nach zehn Jahren Finanzkrise heute noch einmal ihre Ursachen und Konsequenzen diskutieren. Die Ursachen sind vielfältig: ein unzureichendes Risikomanagement aufseiten der Banken, falsche Anreizsysteme, zum Beispiel auch bei der Vergütung, viele Fehler im Bereich der Regulierung, zu wenig Kapital, Intransparenz in vielen Bereichen, zum Beispiel bei Verbriefungen, und eine Aufsicht, die 2008 überfordert war, weil sie mit der Internationalisierung und auch der Computerisierung der ganzen Branche nicht Schritt gehalten hat. Auch hatten wir nach dem 11. September ungesunde politische Eingriffe im amerikanischen Rechtsraum, den Versuch der Notenbank, mit billigem Geld die Wirtschaft wieder zu stimulieren, den Versuch der Politik, über staatliche Banken wie Fannie Mae und Freddie Mac Sozialpolitik zu betreiben und letzten Endes unabhängig von der Zahlungskraft der einzelnen Schuldner Kredite unters Volk zu bringen. Das waren politische Eingriffe, die diese Krise mit ermöglicht haben. In Deutschland übrigens waren es staatliche Landesbanken, die sich unter staatlicher Abschirmung mit Geld vollgesogen und dann genau diese faulen verbrieften amerikanischen Immobilienkredite gekauft haben, weil sie nicht wussten, wohin mit dem Geld, und es nachher in Produkte investiert haben, von denen sie nichts, aber auch gar nichts verstanden haben. – Diese Ursachen, alle zusammen betrachtet, haben diese fatale Krise bewirkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Folge waren beispiellose Bankenrettungen und ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland um 4,5 Prozent. Man muss eines ganz klar sagen: Bankenrettung, die Rettung von Unternehmen überhaupt durch den Steuerzahler, ist per se ein Vergehen gegen die soziale Marktwirtschaft. Es steht mit der sozialen Marktwirtschaft in keiner Weise im Einklang, wenn so etwas möglich und nötig ist. ({0}) Deswegen will ich – das geht gerade an die Adresse der Sozialdemokraten, Herr Kollege Hakverdi – an eines erinnern: Die Banken wurden von Frau Merkel und Herrn Steinbrück gerettet. Die schwarz-gelbe Koalition hat 2010 in Deutschland ein Restrukturierungsgesetz beschlossen, das möglich machen sollte, dass die Aktionäre haften. Es wurde später Vorbild für eine europäische Regelung. Jetzt sind es wieder Sozialdemokraten und auch Christdemokraten, die über einen sogenannten Backstop in Europa eine Kreditlinie aus Steuergeld in den Bankenrestrukturierungsfonds einführen wollen. ({1}) Sie müssen erst einmal diese Themen angehen, bevor Sie uns Belehrungen darüber erteilen, wie man richtig mit Bankenkrisen umgeht. ({2}) Wir wollen die Steuerzahler schonen, und Sie wollen sie gerade wieder in die Haftung hineinnehmen. Es ist doch völlig paradox, was Sie hier vorschlagen. ({3}) Ein Gedanke: Nicht immer bringt mehr Regulierung bei den Banken auch mehr Finanzstabilität. Ein gutes Beispiel dafür ist, was die Grünen fordern, nämlich eine Eigenkapitalquote für Banken von verpflichtend 10 Prozent. Herr Kollege Schick von den Grünen, Sie kommen aus Mannheim. Ich habe mir mal die Bilanz Ihrer Sparkasse Rhein Neckar Nord und Ihrer Volksbank angeschaut. Die müssten, um Ihre Forderung zu erfüllen, 50 Prozent mehr Eigenkapital aufnehmen oder 50 Prozent weniger Kredite vergeben, und die sind noch gut aufgestellt, was die Verschuldungsquote angeht. Es kann doch nicht ernsthaft Ihr Vorschlag sein, dass die Häuslebauer, dass der Mittelstand in Mannheim, im Rhein-Neckar-Raum plötzlich Not hat, Kredite zu bekommen, weil sie die Leverage Ratio einhalten müssen. Das ist doch die völlig falsche Konsequenz aus der Krise, die Sie uns da vorschlagen. ({4}) Im Übrigen hätte der Vorschlag auch zur Folge, dass ganz unterschiedliche Risiken plötzlich regulatorisch gleichbehandelt werden. Das spekulative Investment würde wegen der Leverage Ratio den gleichen Kapitaleinsatz erfordern wie ein sehr sicheres Investment. Sie würden also, vergleichend betrachtet, das spekulative Investment sogar attraktiver und lukrativer machen. Das ist, glaube ich, der falsche Weg. Wir brauchen eine Kapitalausstattung der Banken, die sich am Risiko orientiert und nicht alle Risiken gleichbehandelt. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns klar machen – das soll mein Schlussgedanke sein –: Regulierungskosten treffen am Ende immer die Verbraucher, und hohe Regulierungskosten fördern übrigens auch die Konzentration, fördern gerade, dass es größere Banken gibt. Wir sollten nicht durch zu viel Regulierung größere Banken immer größer machen, sondern wir sollten gucken, dass auch kleine und mittelgroße Banken durch faire Regulierung, durch für sie angemessene, proportionale Regulierung eine Chance haben, durch guten Service für ihre Kunden am Markt zu bestehen. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Toncar. – Nächster Redner in der Debatte: Jörg Cezanne für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zehn Jahre nach Lehman Brothers – ist die Gefahr gebannt? Wenn man sich die Ergebnisse der Anhörung im Finanzausschuss vom Montag anschaut, dann muss man sagen: nein. Es ist viel passiert – das stimmt –, aber im Wesentlichen handelt es sich dabei – so würde ich es jetzt formulieren – um einen mikroökonomischen Reparaturbetrieb statt einen notwendigen Systemwechsel. ({0}) Ja, die Finanzwende, wie die Grünen es nennen, wird gebraucht, wegen mir, Herr Hakverdi, auch gerne die Finanzrevolution – da bin ich nicht so. Ich möchte aber kurz versuchen, aufzuzeigen, woran es hängt. Erstens. Es ist nicht gelungen, die Entkopplung des Finanzsektors von der Realwirtschaft auch nur zu stoppen. 2008 betrug im Euro-Raum das Volumen des Finanzsektors nach Angaben der Europäischen Zentralbank 530 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. 2017 war es auf 640 Prozent angestiegen. Das erzeugt Instabilitäten; das kann so nicht weitergehen. ({1}) Zweiter Punkt. Das Vermögen der Schattenbanken – oder das, was man unter diesem unklaren Begriff zusammenfasst – ist noch viel stärker angestiegen. Dieses Vermögen bewegte sich bis 2008 bei ungefähr 30 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung der europäischen Staaten und des Euro-Raums im Ganzen. 2017 war es auf 150 Prozent angewachsen. In der Anhörung wurde auf die negativen Folgen einer Verknüpfung der Schwierigkeiten der Schattenbanken mit jenen des normalen Bankensektors hingewiesen. Hier ist bei weitem nicht genug geschehen. Drittens. Zu groß, um ordentlich abgewickelt werden zu können – dieses Problem bleibt ungelöst. Die EU-Trennbankenverordnung ist gescheitert. Ein Umbau des Bankensektors steht aus unserer Sicht nach wie vor dringend an. Es geht um höhere Eigenkapitalanforderungen. In der Anhörung – Sie waren ja dabei – wurde ja auch auf die Leverage Ratio von 10 Prozent hingewiesen. Das ist nach wie vor absolut dringend. Punkt vier. Der Derivatehandel wurde nicht begrenzt. Die Derivate, jene Verbriefungen und was es dort alles gegeben hat – aus anderen Finanzprodukten abgeleitete und umgefriemelte Finanzprodukte –, werden jetzt über zentrale Gegenparteien abgewickelt. Das ist insofern schon besser, weil dann nicht gleich alles zusammenbricht. Aber mit den zentralen Gegenparteien sind zusätzliche systemrelevante Institutionen entstanden, die jetzt auch noch zusätzlich abgesichert werden müssen. Ein Finanz-TÜV, der erst mal prüft, ob man diese Produkte überhaupt braucht, ob es sich hier nicht um gesellschaftlich nutzlose Finanzaktivitäten handelt, wie wir ihn vorschlagen, hätte dem entgegenwirken können. ({2}) Punkt fünf. Die Finanztransaktionsteuer ist nicht da, und sie wird auch nicht kommen. Die Schrumpfsteuer, die Herr Scholz jetzt verhandelt und die er einführen will, wird an den wesentlichen Grundsätzen nichts ändern. Eine Finanztransaktionsteuer, die Derivate nicht einschließt, ist keine Finanztransaktionsteuer. Allein das Volumen – Sie kennen die Zahlen doch selbst – ist hier ein völlig anderes: Die Finanztransaktionsteuer auf europäischer Ebene hätte 55 Milliarden Euro Einnahmen im Jahr erbracht. Wenn es gut läuft, wird diese Schrumpfsteuer vielleicht 5 Milliarden Euro in den Euro-Haushalt spülen. Letzter Gedanke. Blinde Flecken der Finanzmarktregulierung bestehen nach wie vor. Wir sind bei einer Begrenzung der wachsenden Vermögensungleichheit überhaupt nicht weitergekommen. Wir haben nach wie vor Schwierigkeiten bei den sozialen Sicherungssystemen, die in der Krise so wertvolle Stabilisatoren gewesen sind. Deshalb ist es dringend notwendig, dass die Finanzwende eingeleitet wird. Ich danke Ihnen. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jörg Cezanne. – Jetzt kommt die letzte Rede im Deutschen Bundestag – zumindest in der 19. Wahlperiode, man kann ja nie wissen – von Dr. Gerhard Schick, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 2007 treibt mich die Sorge um, dass aus der Weltfinanzkrise unserer Zeit eine ähnliche Menschheitskatastrophe entstehen könnte wie aus der Weltfinanzkrise ab 1929. Diese Sorge ist in den letzten zehn Jahren ständig gewachsen, besonders seit die Finanzkrise in Europa national aufgeladen wurde: Deutsche gegen Griechen, Nordeuropäer gegen Südeuropäer. – Das führt zu nichts Gutem. Uns allen in Europa wird es nur gut gehen, wenn wir miteinander die gemeinsamen Probleme lösen, nicht, wenn wir uns gegeneinander stellen. ({0}) Diese Sorge ist auch deswegen in den letzten zehn Jahren ständig gewachsen, weil wir einfach den Krisenmodus am Finanzmarkt noch nicht verlassen haben. Die EZB steigt jetzt langsam aus den härtesten Kriseninterventionsmaßnahmen aus. Aber wenn man sich den Zustand der deutschen Banken anschaut – Commerzbank, Deutsche Bank; wir sind dabei, die Rettung der Nord/LB zu diskutieren, die mit dem Schiffsportfolio Probleme hatte –, wird deutlich: Wir müssen endlich aus dem Krisenmodus herauskommen, sonst wird es auch politisch und demokratisch schwierig. ({1}) Es kann aber auch nur eine Mindestanforderung sein, dass der Finanzsektor endlich aufhört, gigantische Probleme, wie zum Beispiel explodierende Mietpreise, zu produzieren. Ziel muss doch ein Finanzsektor sein, der Krisen vermeiden hilft, etwa die Klimakrise. Doch das geht nur mit einer Finanzwende, hin zu einer Branche, in der es nicht nur darum geht, Geld mit Geld zu verdienen, sondern ökologische und soziale Wirkungen von Investitionen berücksichtigt werden. ({2}) Viele meinen ja, Finanzpolitik sei trocken; aber das ist falsch. Hinter all den Finanzgesetzen, die wir hier diskutieren, stehen menschliche Schicksale. Schlechte Regeln am Finanzmarkt führen zu den Tausend kleinen Finanzkrisen, wenn Anlegerinnen und Anleger Opfer von Lug und Betrug werden. Bei den Pensionskassen und Lebensversicherungen geht es nicht um ein bisschen Technik, sondern darum, ob sich die Menschen auf die Altersvorsorge verlassen können und ob es in der Krise fair zugeht. Das ist leider nicht der Fall: Wenn einerseits Gewinne in Rekordhöhe ausgeschüttet werden, aber die Kunden auf der anderen Seite immer weniger als erwartet bekommen, stimmt etwas nicht. Es braucht angesichts der Probleme in der Lebensversicherung durch die Niedrigzinsphase endlich eine faire Lastenteilung. ({3}) Ich habe Sie in den letzten Jahren genervt mit Themen wie den Zinsspekulationen der Kommunen, mit Cum/Ex, Cum/Cum und zuletzt Cum-Fake. Manchmal habe ich hören müssen: Herr Schick, haben Sie nicht einmal leichtere Themen? – Aber bei diesen Themen geht es um die Frage, ob sich die Bürgerinnen und Bürger darauf verlassen können, dass mit ihrem Steuergeld nicht spekuliert wird und dass es nicht an Betrüger abfließt. Deswegen bin ich da so hartnäckig. Wenn wir diese Frage nicht eindeutig mit Ja beantworten können, verspielen wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Wir können diese Frage leider – Stand heute – nicht mit Ja beantworten. Es gibt in Deutschland nicht flächendeckend ein klares Spekulationsverbot bei den Kommunen und Bundesländern. Und wir müssen den Staat endlich mit den Finanzprofis auf Augenhöhe bringen, damit an dieser Stelle kein weiteres Steuergeld verloren geht. ({4}) Warum konnte bisher vieles nicht umgesetzt werden? Die Antwort ist: Die Macht der Finanzbranche ist ungebrochen. Auf der einen Seite stehen Hunderte gut bezahlte Lobbyisten, auf der anderen Seite einzelne unabhängige Experten. Die Ergebnisse der Finanzmarktpolitik sind häufig schief, weil die politische Ebene durch die große Macht der Finanzlobby schief ist. Aber es ist – das muss man auch sagen – nicht die Schuld der Finanzindustrie, wenn ihre Vorschläge teilweise wortgleich in den Gesetzestext übernommen wurden. Das hätte dieses Haus verhindern müssen. Wir brauchen endlich klare Regeln gegen Lobbyismus und ein verbindliches Lobbyregister. ({5}) Wenn ich zum Schluss noch ein paar persönliche Worte anfügen darf: Ich war sicher manchmal anstrengend. Aber das muss man als Oppositionspolitiker auch sein. Ich hoffe, ich habe es trotzdem fair und faktenbezogen gemacht. Das soll sich auch nicht ändern: Ich werde auch in Zukunft bei diesen Themen anstrengend sein. Im Dienste der Finanzwende werden wir ein starkes Gegengewicht zur Finanzlobby aufbauen, damit der Finanzmarkt endlich wieder den Menschen dient. Bei aller Kritik an Verfahren und Ergebnissen, die ich gerade gesagt habe: Ich verlasse dieses Haus als begeisterter Parlamentarier. Es ist eine große Ehre, an diesem Pult reden zu dürfen. Es ist eine enorme Verantwortung und Herausforderung, wirklich für die gute Zukunft aller Menschen in unserem Land zu arbeiten. Ich möchte Danke sagen für viel tatkräftige Unterstützung kundiger Menschen aus der Finanzbranche, aus der Wissenschaft, aus der Aufsicht und den Ministerien, aus meinem Team, aus euren und Ihren Teams. Ich danke Ihnen allen für die gute Zusammenarbeit und für die Menschlichkeit jenseits unseres demokratischen Streits ganz besonders. Danke schön. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank, lieber Gerhard Schick. Ich glaube, im Namen von vielen Kolleginnen und Kollegen hier im Haus weit über die Fraktionsgrenzen hinaus darf ich Ihnen, darf ich dir einen erfolgreichen Neustart im zivilgesellschaftlichen Engagement und im zivilgesellschaftlichen kämpferischen Leben wünschen. Ich bin mir sehr sicher, dass Sie uns weiterhin treu verbunden bleiben mit konstruktiver, sachlicher, profunder Kritik und harten Anforderungen an unser Parlament. Lassen Sie mich jetzt auch persönlich Danke sagen. Er ist ein Mensch, der es immer wieder geschafft hat, mir unendlich komplexe und schwierig zu verstehende ({0}) – da lachen Sie; ich finde es wirklich komplex und schwierig – Zusammenhänge verständlich zu machen. Dafür bin ich ihm von Herzen dankbar. Vielen, vielen Dank und alles Gute, lieber Gerhard Schick. ({1}) Nächster Redner: Lothar Binding für die SPD-Fraktion. ({2})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich den Titel des Antrags lese – „Finanzwende anpacken – Den nächsten Crash verhindern“ – finde ich, es ist ein totaler Zufall, dass der Titel genauso heißt wie der künftige Arbeitgeber von Gerhard Schick. Das ist eine besonders interessante Kombination, und das fällt auch noch mit seiner letzten Rede zusammen. So viel Zufall auf einen Schlag: Das ist schon Wahnsinn. ({0}) Allerdings muss man sagen: Der Titel „Den nächsten Crash verhindern“ ist tückisch; denn das suggeriert ein bisschen, als ob das möglich wäre. Wir hatten eine Anhörung zu diesem Thema, und jeder von uns weiß: Es ist sehr gefährlich, zu glauben, man könnte Crashs in der Zukunft verhindern. Das Schlimme ist ja: Sie kommen immer von einer anderen Ecke, und wenn ich glaube, nach allen Seiten alles geregelt zu haben, dann kommt er von oben. ({1}) Es ist also richtig schwierig, das so dichtzumachen, wie wir es gerne möchten. Es ist nicht so leicht. Florian Toncar hat uns schon ein bisschen was erklärt. Er war ja lange bei Freshfields. Nun muss man sagen – da unterscheide ich mich von Gerhard –: Die Krise ist auch von Fachleuten gemacht, und zwar eher von Fachleuten als von Laien. Denn zu den Produkten, die da explodiert sind, muss man sagen: Auf so eine Idee wären Laien gar nicht gekommen. Die Krise ist von Fachleuten gemacht. ({2}) – Nein, das ist vor der Krise. Die nächste kommt bestimmt. Sie haben nur eine Krise im Kopf, aber ich bin sozusagen auf der Zeitachse des Kontinuums. Alles völlig klar. ({3}) – Nein, nein, das ist klar, wenn man nur kurze Abschnitte im Kopf hat. ({4}) Wir haben institutionell sehr viel geregelt. Wir haben Eigenkapitalanforderungen gestellt. Wir haben richtig viel gemacht. Wir haben Aufsichtsregime, Einlagensicherungssysteme und Rettungsschirme neu geschaffen. Ich finde, wir haben wirklich viel gemacht. Gucken Sie sich die Gesetze mal an! Das ist richtig viel. Ich weiß nicht, was das in Zentimetern wäre. Es ist richtig viel. Die Widerstandsfähigkeit im Bankensektor ist sehr hoch geworden. Der Schlüsselbegriff ist natürlich Eigenkapital. Und doch: Wir hatten heute Morgen mit den Auslandsbanken ein Gespräch. Da wurde zwar bestätigt, dass vieles sicherer geworden ist. Man muss aber auch sagen: Die risikogewichtete Eigenkapitalunterlegung hat eine Tücke, nämlich dass wir nach der Krise interessanterweise sieben oder acht Jahre Wachstumsphase haben, und in einer Wachstumsphase ist die Tendenz, die Risiken zu unterschätzen, extrem hoch. Wenn man dann risikoadjustiertes Eigenkapital hat, dann ist das eben zu niedrig. Deshalb müssen wir zu ungewichteter Unterlegung kommen, und deshalb ist die Leverage Ratio etwas ganz Wichtiges. Über die Zahl – ob 10 oder 5 Prozent – kann man streiten, aber dass wir sie in einer neuen Dimension brauchen, ist völlig klar. Auch dass wir über Einlagensicherung erst reden, wenn die notleidenden Kredite – das hat Antje Tillmann vorgetragen – in ganz Europa und in den einzelnen Ländern auf einem entsprechenden Niveau sind, ist völlig klar, und auch, dass wir die extrem starke Konzentration in den Banken auf heimische Staatsanleihen absenken müssen. All das ist völlig klar. Jetzt sehe ich gerade: Ich habe nur noch 42 Sekunden Redezeit. Dann lege ich mein Manuskript zur Seite, um noch etwas anderes zu sagen. Gerhard Schick, wir danken dir für viele wirklich gute Erklärungen. Meine ganz persönliche Feststellung ist – das muss ich mit ein bisschen Verwunderung und Bewunderung sagen –: Du hast es immer ohne Zollstock geschafft. ({5}) Aber, Gerhard, man weiß nie, was die Zukunft bringt. Könntest du mit Erlaubnis der Präsidentin kurz zum Rednerpult kommen? – Denn du weißt nie, was in der Zukunft kommt, und einen solchen Zollstock „Für Gute Arbeit“ von der SPD kann man immer gut gebrauchen. ({6}) Schönen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank, Lothar Binding. – Letzter Redner in der Debatte: Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sprechen über das Thema „Zehn Jahre nach der Finanzmarktkrise“. ({0}) Der Hans Michelbach ist schon ganz neidisch auf den Zollstock. Er möchte, glaube ich, auch einen haben. ({1}) Nach der heutigen Rede hat er es eigentlich verdient, lieber Kollege Binding. Wenn man sich die Anträge anschaut, sieht man, was alles hineininterpretiert wird. Der Kollege von den Linken hat es auch gesagt: Man will eigentlich einen Systemwechsel. – Man macht ein ganzes Potpourri von Themen auf, vom Mindestlohn über einen Finanz-TÜV, und man will zukünftig gesellschaftliche Ziele abklopfen. Letztendlich geht es bei den Anträgen gar nicht so sehr um die Lehren aus der Finanzmarktkrise, sondern eigentlich darum: Wie kann ich ein anderes Gesellschaftsmodell entwickeln? Das ist ja ein legitimer Ansatz, aber man muss es dann auch entsprechend benennen dürfen. Wir hatten nach der Finanzkrise die Situation, dass sehr viel auf nationaler Ebene gemacht wurde, sowohl im Bereich der Regulierung als auch der Aufsicht. Darum wurde ein großartiger Systemwechsel vollzogen, durch den wir eine europäische Gesetzgebung und eine europäische Aufsicht haben. Weil ich nachher meine Rede dazu zu Protokoll geben werde, möchte ich einen Schluss daraus hier anführen: Die europäische Aufsicht ist ein Garant dafür, dass zukünftig die Märkte transparent werden, dass die Märkte verstanden werden. Der Antrag der AfD zu dem später zu behandelnden Tagesordnungspunkt dazu, in dem gesagt wird: „Wir wollen keine europäische Aufsicht“, bezweckt genau das Gegenteil. Es erhöht die Risiken; es macht die Kapitalmärkte unsicherer. ({2}) Es wird letztendlich zulasten des Steuerzahlers gehen. Letztendlich landet man damit im Nirwana. Das zeigt Ihre Kompetenz in dem Bereich. ({3}) Wir haben hier in Europa und national konsequent an diesem Thema gearbeitet. Die Bundesregierung, insbesondere Wolfgang Schäuble, und die CDU/CSU sind es gewesen, die hier für Stabilität gesorgt haben. Die Eigenkapitalausstattung wurde angesprochen. Die europäische Bankenaufsicht, der europäische Abwicklungsmechanismus, der ESM – alles ist in Angriff genommen worden. Ein Punkt, der mir besonders wichtig ist: Europäische Vorgaben, die verabredet werden, europäische Regeln müssen letztendlich eingehalten werden. Da gilt es, noch sehr stark nachzusteuern. ({4}) Meine Damen und Herren, Stichwort „Europa“. Herr Dr. Schick, auch wenn wir inhaltlich sehr viel Trennendes haben – inhaltlich, nicht menschlich –, haben wir eines gemeinsam – das haben, glaube ich, die meisten Fraktionen hier –: die Sorge um Europa. Ihre Eingangsanalyse zur möglichen Entwicklung Europas teile ich. Ich teile nicht unbedingt den Weg. Wir müssen schon darüber nachdenken, dass es momentan die Währungsunion und die Wirtschaft sind, die die europäischen Staaten gegeneinander aufbringen. Wir dürfen das Maß der Solidarität der Staaten, der Bevölkerung auf der einen Seite letztendlich nicht der Eigenverantwortung der Staaten auf der anderen Seite opfern. Wir müssen dafür sorgen, dass die Staaten, die stark sind, solidarisch bleiben, aber die anderen Staaten ihre Hausaufgaben machen. Wenn wir das trennen, werden die Völker Europas nicht beisammenbleiben, sondern sie werden noch mehr auseinandergehen. In der Analyse sind wir gleich; ich glaube, wenn wir gemeinsam weiterhin kräftig darüber diskutieren, werden wir auch einen gemeinsamen Weg finden. Neben dem Immer-nach-hinten-Schauen – was war vor zehn Jahren, und was ist gekommen? – müssen wir auch nach vorne schauen. Kurzfristig wird die große Herausforderung für die Finanzmärkte und die Wirtschaft sein: „Was bedeutet es, wenn der Brexit kommt?“, ohne jetzt genau einschätzen zu können, was es bedeutet. Die Small Banking Box. Ziel der Regulierung ist es, dass die großen Banken risikoadäquat reguliert werden und auch die kleinen Banken risikoadäquat reguliert werden. Die Krisen sind nicht von den Kleinen, von den Raiffeisenbanken, von den Sparkassen, ausgegangen, sondern von den Großen. Dazu brauchen wir auf europäischer Ebene entsprechende Vorgaben zur Proportionalität, die auch den Strukturen in den Mitgliedstaaten gerecht werden. ({5}) Wir brauchen eine intensive Auseinandersetzung mit der Digitalisierung – auf europäischer Ebene, auf nationaler Ebene. Stichwort „Aufseher“: Was bedeutet es, wenn zukünftig Algorithmen dazu führen, dass die automatischen Maßnahmen kumuliert werden? Führt das nicht zur Verschärfung der Risiken? Hier ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema auf parlamentarischer Seite notwendig. Der Kollege Binding hat gerade treffend gesagt: Man schaut nach links, man schaut nach rechts; das Problem kommt von oben. – Ist es richtig, dass wir weiterhin den Weg gehen, jedes Problem und jedes Risiko ins Gesetz zu schreiben? Oder wäre es nicht sinnvoller, auch mal darüber nachzudenken, nach Prinzipien, nach Grundsätzen zu arbeiten, um dann, wenn es notwendig ist, dem Aufseher unter parlamentarischer Kontrolle die Möglichkeit zu geben, schnell zu reagieren, statt vorher alles in Gesetzesform zu gießen? ({6}) Lassen Sie mich abschließend sagen: Herr Schick – ich gehe davon aus: wir werden uns, darauf freue ich mich schon, öfters sehen –, Sie haben ja das Thema „Green Bonds“, nachhaltige Entwicklung, angesprochen. Lassen Sie mich erst mal sagen: Man kann zum Thema Lobbyismus stehen, wie man will; man kann es kritisch oder weniger kritisch sehen. Wir hatten diese Woche ein Frühstück, wo zum Beispiel auch der WWF war. Ich glaube nicht, dass das eine Lobbyorganisation ist, die besonders schwach ist. Von daher sollten wir festhalten: In dem Bereich gibt es einigermaßen Waffengleichheit. Die einen mögen halt die Ziele des einen lieber als die des anderen. Meine Damen und Herren, beim ganzen Thema „nachhaltige Finanzierung“ brauchen wir eine Orientierung an der Stabilität der Finanzmärkte. Was nicht geht, ist, dass man über nachhaltige Finanzierung im grünen Bereich oder im sozialen Bereich Gesellschaftspolitik innerhalb der Kapitalmarktregulierung abbildet. Das schwächt die Kapitalmarktregulierung und bringt eine solche Bürokratie, dass die Finanzmärkte und die Finanzindustrie am Schluss sagen werden: MiFID war das letzte Deregulierungspaket der Kommission. Besten Dank. Und, Herr Schick: Alles Gute! Auf ein baldiges Wiedersehen! ({7})

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher! Die „Stellung einer Person innerhalb der Rechtsordnung“ – daraus ergibt sich laut § 1 Personenstandsgesetz das staatliche Interesse, überhaupt ein Personenstandsregister zu führen: Wann ist jemand geboren, verstorben? Wann hat jemand geheiratet, den Namen gewechselt? Dem Personenstandsregister kommt als einzigem Register Beweiswert im Rechtsverkehr zu. Aus der Notwendigkeit eines validen Personenstandsregisters ergibt sich die verfassungsrechtliche Berechtigung, mit der Erhebung gewissermaßen in die Freiheitsrechte jedes Einzelnen einzugreifen. Das Bundesverfassungsgericht hat bei einer Frage allerdings Handlungsbedarf gesehen, nämlich bei der Frage des Geschlechtseintrages intersexueller Menschen, denen bislang neben den Einträgen „männlich“ und „weiblich“ jedenfalls keine positive dritte Möglichkeit zur Verfügung stand. Diese Frage gehen wir mit diesem Gesetz in der bis zum 31. Dezember gesetzten Frist an. Zukünftig wird bei Vorliegen einer sogenannten Variante der Geschlechtsentwicklung der Eintrag „divers“ gewählt werden können. Auch dieser Begriff erfüllt nicht alle Erwartungen. Die weitestgehende Forderung war, 20 Zeichen zur eigenen Bezeichnung der sogenannten geschlechtlichen Identität freizugeben. Aber das staatliche Interesse, Personenstandsregister mit Beweiswert zu führen, lässt eben keine subjektive Komponente oder Selbsteinschätzung zu – und das nicht um Betroffene zu ärgern oder zu diskriminieren, sondern auch und insbesondere um Betroffene zu schützen. ({0}) Das Personenstandsgesetz ist kein Schutzgesetz. Der Eintrag ist nicht mal – wir haben es in der Anhörung gehört – konstitutiv, sondern rein deklaratorisch. Es ist formelles Registerrecht und bedeutend in jeder Frage, bei der es auf ein Geschlecht ankommt: bei der Frauenförderung, bei Gesetzen zur allgemeinen Gleichbehandlung, bei familienrechtlichen Fragen und, und, und. Ließe man subjektive Empfindungen, wie es in den Beratungen gefordert wurde, über das rechtliche Geschlecht entscheiden, hätten wir damit handstreichartig das zweifellos reformbedürftige TSG obsolet gemacht. ({1}) Aber die Befürworter dieser Idee vergessen meines Erachtens zwei Dinge: Zum Ersten wäre das materiell-rechtliche Schutzgesetz TSG damit nicht aus der Welt, sondern Standesbeamte müssten sich zwischen zwei gleichen gesetzlichen Regelungsrahmen entscheiden – unzulässig und wohl auch praktisch unmöglich. Zweitens. Die Rechtsfolgen einer solch übereilten TSG-Reform wären für die Betroffenen meines Erachtens fatal. In den formellen Personenstandsgesetzen gibt es nämlich kein Offenbarungsverbot. Dürften Behörden dann in Zukunft über Geschlechts- oder Namensänderungen Auskunft geben? Drittens. Griffe eine Änderung des Geschlechts rechtlich ex nunc, also ab jetzt, oder ex tunc, also rückwirkend? Auch das ist nicht geklärt. Das PStG sagt dazu nichts. Und viertens. In Anbetracht des zu erwartenden Beschlusses der WHA: Was ist eigentlich mit der Kostenübernahme bei geschlechtsverändernden Operationen und Folgebehandlungen? Auch das ist nicht geklärt. Das PStG kann das ebenfalls nicht beantworten. All diese Fragen verbieten einen Schnellschuss und eben auch eine Öffnung in Richtung subjektiver Identität. Es braucht einen Personenstandseintrag mit Beweiskraft. Für die Änderung braucht es unseres Erachtens objektive Kriterien, und das ist nach dem vorgesehenen § 45b Absatz 3 PStG die ärztliche Bescheinigung. Diese muss nicht neu sein. Sie muss keine Diagnose enthalten, und sie dürfte in den allermeisten Fällen – das hat die Anhörung ergeben – bereits vorliegen. Auch Ausnahmefälle haben wir geregelt, nämlich für zwei spezifische Konstellationen. Erstens. Eine Variante der Geschlechtsentwicklung ist wegen medizinischer Behandlung nicht mehr nachweisbar, oder – zweitens – es liegt keine ärztliche Bescheinigung vor, aber ein erneuter Arztbesuch wäre so belastend, dass er wegen der Gefahr der Retraumatisierung unzumutbar wäre.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Sven Lehmann?

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Das Thema ist so komplex und die Zeit knapp. Ich würde gerne im Zusammenhang reden.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Also nein.

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In diesen beiden Fällen kann eine eidesstattliche Versicherung abgegeben werden: wenn eine Variante der Geschlechtsentwicklung vorliegt und deshalb eine Behandlung erfolgt ist oder aufgrund traumatisierender Vorbehandlung eine neuerliche Untersuchung nicht zuzumuten ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Niederlanden hat kürzlich ein Mann gegen sein rechtliches Alter von 69 Jahren geklagt. ({0}) Er fühlte sich benachteiligt und diskriminiert. Sein Arzt hatte ihm ein biologisches Alter von 45 Jahren attestiert. ({1}) Vor wenigen Tagen gab es das Urteil dazu, das besagt: Sein Geburtsdatum zu ändern, würde bedeuten, 20 Jahre in den standesamtlichen Registern auszulöschen. Das hätte unerwünschte rechtliche und gesellschaftliche Folgen. Meine Damen und Herren, wo es Benachteiligung und Diskriminierung gibt, gehören sie schnellstmöglich abgeschafft, aber ein formelles Personenstandsrecht ist mangels materieller Außenwirkung nicht geeignet, jede subjektiv empfundene Benachteiligung zu beseitigen. Ein Staat, der das suggerieren würde, würde sich meines Erachtens verheben. Wir als Union nehmen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, auch die Sorgen und Nöte der betroffenen Menschen und die staatlichen Interessen an einem validen Personenstand sehr ernst. Die Abwägung der drei Pole lässt mich zu dem Schluss kommen, für den Gesetzentwurf entschieden zu werben. Abschließend möchte ich Danke sagen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BMI, die wirklich mit großer Fachkunde und Geduld bei Fragen mit Antworten jederzeit zur Verfügung standen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Henrichmann. – Ich will zur Erklärung sagen: Es gab gerade den Wunsch nach einer Kurzintervention. Wir hatten im Präsidium – ich glaube, Frau Pau hat heute schon darauf hingewiesen – gesagt, dass wir angesichts der fortgeschrittenen Zeit und der langen Tagesordnung, die wir noch vor uns haben, heute keine Kurzinterventionen mehr zulassen. Ich hoffe, Sie verstehen das. ({0}) Nächste Rednerin: Beatrix von Storch. ({1})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, der Gesetzgeber sollte bis zum 31. Dezember dieses Jahres eine Regelung für die Eintragung Intersexueller in das Personenstandsregister schaffen; so das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Verglichen mit der handwerklichen Qualität vorheriger Urteile ist dieser Beschluss erschreckend dürftig. Er zeugt von der zunehmenden Politisierung des Gerichts. ({0}) Wenn nämlich ein Richter eher ein Aktivist als ein Jurist ist, dann wird es problematisch. ({1}) Das Urteil trägt erkennbar die Handschrift von Richterin Susanne Baer und ihrer genderpolitischen Agenda. ({2}) Susanne Baer ist bekannte und bekennende Aktivistin auf den Gebieten Gender, Feminismus und LSBTTIQ. Ganz klar, man kann in einem freien Land LSBTTIQ-Aktivist sein, aber – damit wir uns an dieser Stelle nicht missverstehen – es fragt sich, ob ein solcher LSBTTIQ-Aktivist ein Amt ausüben kann, zu dessen Wesen die Neutralität gehört. An Neutralität und Objektivität fehlt es diesem Urteil vollständig. ({3}) Das Gericht erfindet einfach eine neue Definition von Intersexualität. ({4}) Ich zitiere: Intersexuell sind Personen, „deren Geschlechtsentwicklung gegenüber einer weiblichen oder männlichen Geschlechtsentwicklung Varianten aufweist und die sich selbst dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen“. Ich wiederhole: die sich selbst weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zuordnen. ({5}) Mit einem Satz aus der Feder einer Verfassungsrichterin wird die Bestimmung des Geschlechts von seiner naturwissenschaftlichen Grundlage gelöst. ({6}) Ein objektiv bestimmbarer Sachverhalt wird zu einer Sache der persönlichen Befindlichkeit. Das ist der Sieg des Irrationalismus über die Vernunft. ({7}) Ganz vorn dabei ist natürlich die Familienministerin Giffey. Sie will das Transsexuellengesetz ersetzen; das wird die Union demnächst auch noch mitmachen. Frau Giffey ist jetzt schon der Ansicht, dass Sachgutachten über die geschlechtliche Identität von Menschen, wie bisher vorgesehen, einfach nicht mehr zeitgemäß sind. ({8}) Das ist das Ziel linker Genderideologen. Sie wollen das Geschlecht dekonstruieren, genauso wie sie Familien dekonstruieren oder – man kann auch sagen: – zersetzen wollen. Medizin und Wissenschaft sind Ihnen im Weg. Deshalb treiben Sie die Zerstörung der objektiven Wissenschaft voran. Sie wollen totale Subjektivierung. ({9}) Die Geschlechtszugehörigkeit ist seit Bestehen der Menschheit ein objektives Faktum – so wie Alter und Körpergröße auch. Nun soll das Geschlecht zu einer Frage des subjektiven Empfindens, der Wahl und letztlich der Beliebigkeit werden, umdefiniert werden – nach dem Bundesverfassungsgericht. ({10}) Wie um das zu belegen, fordert die vereinigte Linke in diesem Haus natürlich vehement, auch noch den letzten Ansatz kleinster objektiver Anhaltspunkte aus diesem Gesetz zu streichen, nämlich die Attestpflicht für die Änderung des Registereintrages. Tatsächlich knickt die CDU/CSU wieder ein; denn nach dem letzten Änderungsantrag der Koalition wird kein aktuelles Attest mehr verlangt. Wenn die Betroffenen kein Attest vorlegen wollen, weil das unzumutbar sei, ({11}) dann reicht eine eidesstaatliche Versicherung. Die Beibringung eines Attestes sei unzumutbar. ({12}) Aber wer drei Tage arbeitsunfähig erkrankt ist, muss natürlich ein Attest vorlegen. Selbstverständlich muss er das. Oder wollen Sie das auch noch abschaffen? ({13}) Für sehr viele andere Zwecke werden in Deutschland von Behörden und Gerichten amtsärztliche Gutachten verlangt. Fragen Sie mal einen Arbeitnehmer, ob er auf einer Gefühlsgrundlage in die Frühverrentung gehen kann oder ob er ein amtsärztliches Gutachten vorlegen muss. Das ist der Fall. ({14}) Recht braucht Objektivität. Unsere Gesetze müssen auf gesicherten Tatsachen basieren. Wir fordern nicht nur einen kleinen blauen Zettel, sondern ein ausführliches amtsärztliches Gutachten als Voraussetzung für den Antrag. Wir wollen Objektivität im Verfahren. Geschlecht ist objektiv. Das hat mit Biologie und Natur zu tun und nicht mit Gefühlen. ({15}) Wir wollen auch nicht, dass der positive Eintrag „divers“ heißt, sondern „inter“; denn es gibt nur zwei naturwissenschaftliche Geschlechter. ({16}) Und wenn man diesen nicht zugordnet werden kann, dann ist man zwischen den Geschlechtern und nicht irgendwie was anderes und etwas Diverses. Deswegen sagen wir zu Ihrem Gendergesetz vielen Dank, aber Nein. ({17})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Rednerin: Elisabeth Kaiser für die SPD-Fraktion. ({0})

Elisabeth Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 70 Jahren wurde in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet. Erstmals definierte die Weltgemeinschaft in 30 Artikeln individuelle, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Diese Erklärung wirkte sich auch vorbildlich auf unsere Grundgesetzartikel aus und lebt in der deutschen Rechtsprechung weiter, und das ist gut so. ({0}) So urteilte das Bundesverfassungsgericht am 10. Oktober 2017, dass unser bestehendes Personenstandsrecht verfassungswidrig ist; denn es fehlt die Möglichkeit der Eintragung einer weiteren Option ins Geburtenregister für Menschen, die weder männlichen noch weiblichen Geschlechts sind und sich selbst dauerhaft einem weiteren Geschlecht zuordnen. Den Menschen, die sich in ihrer geschlechtlichen Identität nicht in ein binäres System pressen lassen, tragen wir nun mit der Neuregelung des Personenstandsrechts Rechnung. Dieses Urteil hätte es aber ohne Lucie Veith und die Menschen, die ihr beistehen, nicht gegeben. ({1}) Sie hat sich unermüdlich und trotz aller politischen, juristischen und gesellschaftlichen Widerstände durch die Instanzen gekämpft. Ihr Kampf wurde zur Aufgabe einer ganzen Community, die den nötigen Druck erzeugen konnte, um das Thema „sexuelle Selbstbestimmung“ auf die bundespolitische Agenda zu heben und damit in die öffentliche Debatte zu tragen. „Respekt!“, kann ich da nur sagen. ({2}) Wir als Gesetzgeber waren nun in der Pflicht, zu handeln. Bis zum 31. Dezember 2018 war es an uns, die Verfassungskonformität wiederherzustellen. Nach einem Jahr legen wir Ihnen mit dem Gesetzentwurf das Ergebnis einer intensiven und, ja, auch kontrovers geführten politischen Debatte zur Abstimmung vor. Auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass der Gesetzentwurf des Innenministeriums umfassender ausgefallen wäre, bin ich doch der Auffassung, dass die Politik mit dem vorliegenden Gesetz der gesellschaftlichen Debatte um einiges voraus ist. Dennoch kann die Verabschiedung des Gesetzes heute auch nur ein Anfang sein. Unsere Politik orientiert sich nach wie vor an dem Ziel, die Gesetzgebung zukünftig vor allem an der Selbstbestimmung und Selbstwahrnehmung der Menschen auszugestalten. ({3}) Die politische und gesellschaftliche Diskussion, ob es überhaupt ein Personenstandsrecht in dieser Form braucht, darf heute nicht enden, sondern muss weiter geführt werden; denn nur so können wir dem Diskriminierungsverbot des Artikels 3 Grundgesetz vollends entsprechen und den betroffenen Menschen Respekt für einen langen, schwierigen Weg durch eine binärgeschlechtlich geprägte Gesellschaft, durch Arztpraxen und psychologische Gutachten erweisen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte der Bundesregierung an dieser Stelle heute aber auch dafür danken, dass sie so schnell nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil einen Gesetzentwurf zur dritten Option vorgelegt hat. ({4}) Mein Dank gilt auch den Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion, der Koalitionsfraktion sowie den Kolleginnen und Kollegen der FDP, der Linken und der Grünen für die gute Zusammenarbeit. ({5}) Besonders hilfreich und konstruktiv waren bei den Beratungen die Stellungnahmen der Sachverständigen und Interessenverbände. 42 143 Unterschriften hat die Bundesvereinigung Trans* für die Kampagne „Gleiches Recht für jedes Geschlecht!“ gesammelt. 42 143 Unterschriften wiegen schwer. Durch Aktionen wie diese, aber auch und vor allem durch unseren fachlichen Austausch haben sie es uns ermöglicht, über den Tellerrand einer geschlechtlich binär strukturierten Gesellschaft zu blicken und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf dieses wichtige Thema zu lenken. Die Sachverständigenanhörung am 26. November 2018 – das hat auch der Parlamentarische Staatssekretär Professor Dr. Günter Krings gestern abschließend bei den Beratungen im Innenausschuss gesagt – war gekennzeichnet durch die Offenheit und Unvoreingenommenheit aller Beteiligten. Dadurch war es uns möglich, im Austausch mit der Union doch noch zu wesentlichen Änderungen am Gesetzentwurf zu gelangen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen die Neuerungen noch mal kurz vorstellen: Mit den Änderungen im Personenstandsrecht ermöglicht der Gesetzgeber nun, dass Menschen die Möglichkeit haben, neben „männlich“, „weiblich“ oder „offenlassen“ die dritte Option „divers“ zu wählen. Wichtig war uns, dass intergeschlechtliche Menschen nicht gezwungen sind, die dritte Option zu wählen oder eine Eintragung offenzulassen; denn das hätte die Gefahr eines Zwangsoutings bedeutet. Ich bin froh, dass wir uns da mit der Union auf eine Kann-Regelung einigen konnten. Eltern sind dadurch nicht auf die Angabe „divers“ beschränkt, sondern können auch „weiblich“ oder „männlich“ als Geschlecht eintragen lassen. Sie können also frei entscheiden, welche Option sie für ihr Kind wählen. Eine weitere wesentliche Neuerung des Gesetzes besteht darin, dass intergeschlechtliche Menschen zukünftig nach Vollendung des 14. Lebensjahres die Möglichkeit haben, die Zuordnung im Geburtenregister und auch den Vornamen selbst zu bestimmen. Vor allem für Menschen, die schon im frühen Alter einem Geschlecht zugeordnet worden sind und über Jahre praktisch im falschen Geschlecht leben mussten, ist das von Bedeutung. Die Änderung soll zukünftig niedrigschwellig mit Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung möglich sein. Die SPD konnte schließlich durchsetzen, dass es nicht in allen Fällen eines solchen ärztlichen Attestes bedarf, sondern eine eidesstattliche Versicherung der betreffenden Person ausreicht. Diese Regelung gilt in Fällen, in denen aufgrund einer früheren medizinischen Behandlung die Vorlage eines ärztlichen Attestes faktisch nicht möglich ist oder eine erneute Untersuchung eine unzumutbare Härte darstellen würde. Uns als SPD war das in den Verhandlungen besonders wichtig; denn die ursprünglich vorgesehene starre Attestpflicht hätte für die Betroffenen zu erheblichen persönlichen Belastungen geführt, ({6}) Belastungen, die völlig unverhältnismäßig erscheinen. ({7}) Auch hier waren die Stellungnahmen wie zum Beispiel des Deutschen Instituts für Menschenrechte einschlägig, und auch das Bundesverfassungsgerichtsurteil ist hier ganz klar. Danach soll jeder Mensch sich nach seiner nachhaltig selbstempfundenen Geschlechtlichkeit einem Personenstand zuordnen können.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Elisabeth Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte gern fortfahren.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut.

Elisabeth Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die individuelle Zuordnung hängt also nicht von der körperlichen Konstitution einer Person ab. Vor diesem Hintergrund hätten wir eine einfache persönliche Erklärung als ausreichend empfunden. Dennoch stellt das Ergebnis im Gesetzentwurf nach unserer Auffassung eine Verbesserung für die Betroffenen dar. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hatte es bereits angedeutet: Die Änderung des Personenstandsrecht ist nur ein erster Schritt im Rahmen eines umfassenden Reformprojektes. Deshalb möchte ich für die SPD-Bundestagsfraktion abschließend festhalten, dass unverzüglich eine Reform des Transsexuellengesetzes nötig ist, um wirklich gegen die Diskriminierung von intergeschlechtlichen und transsexuellen Menschen vorzugehen. Diverse Bundesverfassungsgerichtsurteile haben ja auch schon deutlich gemacht, wie reformbedürftig das TSG ist; denn einzelne Passagen sind ja bereits verfassungswidrig. Deshalb besteht dringend Handlungsbedarf. Keine Zeit verlieren dürfen wir zudem bei der Frage von geschlechtsangleichenden Operationen an Minderjährigen. ({1}) Es muss schleunigst ein gesetzliches Verbot jeglicher geschlechtsangleichender Behandlungen von Minderjährigen auf den Weg gebracht werden, sofern diese nicht lebenserhaltende Maßnahmen darstellen. ({2}) Denn es darf nicht länger sein, dass Menschen ihr Leben lang unter körperlichen und seelischen Schmerzen leiden müssen, weil in ihrer frühen Kindheit aufgrund von sozialem Druck voreilige Entscheidungen gefällt wurden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, schließen möchte ich noch einmal mit einem Blick auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Auch bei der Frage der sexuellen Selbstbestimmung muss ihnen noch stärkere Geltung verschafft werden; denn: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Elisabeth Kaiser. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Dr. Jens Brandenburg. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind Anna. Sie kamen als intergeschlechtliches Kind zur Welt, waren also weder eindeutig männlich noch eindeutig weiblich. Die Ärzte haben Ihren Eltern damals dringend zu einer geschlechtsangleichenden Operation geraten, hin zum weiblichen Geschlecht, weil das medizinisch damals einfacher durchzuführen war. Ihre Eltern waren mit der Situation völlig überfordert; sie hatten ja auch keine wirkliche Beratung damals. Sie haben damals einen Teil ihres Körpers unwiederbringlich verloren. Als Kind haben Sie viele Medikamente genommen. Sie waren häufig im Krankenhaus, ohne wirklich zu wissen, warum. Als besonders belastende, schmerzhafte Erfahrung bleibt Ihnen der Vaginaldehner in Erinnerung. Diesen haben die Ärzte den Eltern damals mitgegeben, damit Ihr weibliches Genital die äußere Erscheinungsform, die gewünscht ist, erhält. Diesen Fremdkörper, den Sie täglich im eigenen Körper gespürt haben, haben Sie als Kind damals zutiefst verachtet. Schon früh wurden Sie in der Schule häufig gefragt: Sag mal, bist du ein Junge oder bist du ein Mädchen? – Im Inneren wussten Sie, Sie sind irgendwie beides und gleichzeitig weder das eine noch das andere wirklich. Die Pubertät kam, der Körper hat sich stark verändert, auch anders als teilweise erwartet. Sie sind nie zu Dates gegangen, aus Angst, abgelehnt und bloßgestellt zu werden. Erst später lernten Sie den Begriff der Intergeschlechtlichkeit kennen, haben Gleichgesinnte kennengelernt und so im Austausch auch Ihr eigenes Selbstbewusstsein gestärkt. Und doch zucken Sie immer noch zusammen, wenn Sie mit Frau Müller angesprochen werden. Sie ignorieren die fragenden Blicke auf der Damentoilette. Erst kürzlich hat ein Kind Sie gefragt: Bist du ein Mann? – Die Mutter hat das eigene Kind etwas beschämt zurückgezogen. Sie wissen nicht wirklich, ob Sie das gut oder schlecht finden sollen; denn Kinder verstehen solche Dinge normalerweise recht gut. Nicht der intergeschlechtliche Mensch ist krank, sondern die Situation, in der er sich befindet. ({0}) Warum trauen Sie, liebe Große Koalition, Menschen wie Anna nicht zu, selbst über ihr eigenes Geschlecht zu entscheiden? Ein Leben lang waren sie in ihrer Geschlechtlichkeit fremdbestimmt und stigmatisiert. Nun garantiert das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe diesen Menschen endlich eine staatliche Anerkennung ihrer eigenen geschlechtlichen Identität. ({1}) Ihnen fällt in der Koalition nichts Besseres ein, als die Frage des Geschlechts erneut zu reduzieren auf rein körperliche Merkmale und diesen Menschen abzuverlangen, auf dem Standesamt ein ärztliches Attest vorlegen zu müssen. ({2}) – Sie werden es auch heute nicht mehr verstehen. Die Hoffnung habe ich aufgegeben. ({3}) – Das haben wir gemerkt. Aber mit der Großen Koalition ist noch ein sachlicher Diskurs möglich. Wovor fürchten Sie sich eigentlich? Dass diese Menschen alle drei Monate ihre Geburtsurkunde ändern wollen? So schnell finden Sie auch beim Standesamt in Berlin keinen Termin. ({4}) Sieben von acht Sachverständigen haben in der Anhörung Ihren Gesetzentwurf deutlich kritisiert. Auch die eidesstattliche Versicherung macht das nicht wirklich besser. Wie man mit einer eidesstattlichen Versicherung ein subjektives Werturteil wie eine Unzumutbarkeit einer Untersuchung überhaupt darlegen und beweisen soll, bleibt mir ein juristisches Rätsel. Sie stellt so hohe Anforderungen an die Betroffenen, dass sie keine Entlastung, sondern eher ein besonders hohes Rechtsrisiko ist, von dem abzuraten wäre. Ihr miserabler Gesetzentwurf ist nur eine Minimallösung dessen, was uns das Bundesverfassungsgericht ohnehin aufgetragen hat, stattdessen kein Respekt vor persönlicher Selbstbestimmung, auch nicht vor geschlechtlicher Vielfalt, im Gegenteil, reine Schikane trans- und intergeschlechtlicher Menschen. Dieses Misstrauen haben die Menschen nicht verdient. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Brandenburg. – Nächste Rednerin: Doris Achelwilm für die Fraktion Die Linke. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Anwesende! Hinter dem Gesetzentwurf zur dritten Option und den dazu vorliegenden Anträgen liegt ein langer Weg. Am Ziel sind wir deswegen noch lange nicht. Nun sind wir von der Großen Koalition durchaus sehr kurze Sprünge gewohnt, aber nach all den gemeinsamen Debatten und Erkenntnisgewinnen ist es schon sehr enttäuschend, dass die Einsicht in Notwendigkeiten in der jetzigen Beschlussvorlage so überaus knapp ausfällt. Die leidige Attestpflicht bleibt. Die dritte Option ist nur unter eng gefassten Auflagen wählbar. Wichtige Begleitumstände wie die Umsetzung des OP-Verbots an intergeschlechtlichen Kindern waren im Gesetzgebungskaro nicht verhandelbar. Dabei steht dieses Vorhaben im Koalitionsvertrag. Mit unserem Entschließungsantrag haben wir uns erlaubt, solche Aufgaben im Rahmen dieses sehr formellen Gesetzgebungsverfahrens mitzudenken. Noch einmal zur Erinnerung, was war. Das Bundesverfassungsgericht hat im Oktober 2017 festgestellt, dass es nicht verfassungsgemäß ist, wenn das Personenstandsrecht trotz anderer Realitäten nur weiblich und männlich als Geschlechterkategorie bereithält. Es geht also um das persönliche und menschenrechtliche Thema, dass mein tatsächliches Geschlecht, meine sogenannte Geschlechtsidentität möglicherweise nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, welches mit meiner Geburt in amtliche Dokumente geschrieben wurde. Geschlecht ist ein breites Spektrum, hat der Kinder- und Jugendpsychiater Bernd Meyenburg kürzlich in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ gesagt. Diesem Umstand muss der Staat anders als bisher Rechnung tragen, entweder durch die allgemeine Abschaffung der Geschlechterregistrierung oder durch die Schaffung einer positiven Sammelkategorie jenseits von männlich oder weiblich, der dritten Option. Dass das Verfassungsgericht diese Aufgabe so klar benannt und mit Frist zum Jahresende 2018 dem Gesetzgeber anvertraut hat, war ein enormer Durchbruch. Doch der hier entstandene Gesetzentwurf weist viele Hoffnungen wieder in enge Schranken, was äußerst bedauerlich ist; denn niemandem soll etwas weggenommen werden. Wer mit seinem bei Geburt festgestellten Geschlecht einverstanden ist, darf es natürlich bleiben. Aber auch alle anderen sollten über ihr Geschlecht selbstbestimmt entscheiden dürfen. ({0}) Das schwerwiegendste Problem für uns ist, dass man weiterhin faktisch ein Attest braucht, um die dritte Option „divers“ in Anspruch zu nehmen. Das Gesetz bleibt auf Intergeschlechtlichkeit beschränkt, obwohl mehr möglich wäre. Dass medizinische Definitionsmacht über persönliche Geschlechteranliegen gestellt wird, setzt sich leider fort. Wir begrüßen, dass die ursprüngliche Vorgabe für intergeschlechtliche Kinder, automatisch „divers“ einzutragen, in letzter Minute zu einer Kannregelung wurde. Hier hat die Sachverständigenanhörung ausnahmsweise gewirkt. Ansonsten bleibt das Ergebnis der Bundesregierung weitgehend unsensibel und handwerklich unzureichend. ({1}) Wir kritisieren, dass Menschen mit eindeutigen Körpermerkmalen, aber anderer Geschlechtsidentität nach wie vor auf das Transsexuellengesetz und seine Gutachteritis verwiesen werden, wenn sie ihre Geschlechtsangaben ändern wollen. Diese Gesetzgeberangst vor Kontrollverlust spricht aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts genau nicht, ganz im Gegenteil. Was soll Schlimmes passieren, wenn Menschen ab einem gewissen Alter über ihren Geschlechtseintrag durch Selbstaussage auf dem Standesamt entscheiden können? Unter die Fortsetzung von geschlechtlicher Diskriminierung gehört ein Schlussstrich. Die gängige Praxis, dass sich Betroffene mehrfach von Ärzten begutachten lassen mussten, hat genug Leid verursacht und auch unnötig Geld gekostet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Tatsache, dass Geschlecht aufgezwungen und wandelbar sein kann und selbstbestimmt sein muss, umfassend zur Kenntnis nehmen und Geschlechtervielfalt ins Recht setzen. Weil die Aufgabe, die zu erfüllen war, aus unserer Sicht wenig umgesetzt wurde, lehnen wir den Gesetzentwurf ab. Wir wollen Geschlechtervielfalt unter anderen Voraussetzungen umgesetzt sehen und werden uns dafür weiter einsetzen. ({2}) Ich komme zum Schluss. Ich danke allen Aktivistinnen und Aktivisten, den Expertinnen und Experten aus Recht und Wissenschaft, den Verbänden trans- und intergeschlechtlicher Menschen für all die Energie und Erfahrung, die sie in Arbeitsgruppen, Anhörungen und Fachgesprächen, unglaublich offensiven Medienberichten und anderen Aktionen eingebracht haben. Es war nicht umsonst. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Doris Achelwilm. – Nächster Redner: Sven Lehmann für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Abgeordnete! Ich gebe zu: Es ist schwierig, Dinge nachzuempfinden, die man selbst nicht erlebt hat. Aber nur, weil sich etwas außerhalb der eigenen Realität abspielt, bedeutet dies nicht, dass es nicht trotzdem ein gleichwertiger Teil der Realität ist. ({0}) Genauso ist es mit dem Geschlecht. Die Spezies Mensch besteht aus mehr als aus Mann und Frau. Sie besteht aus geschlechtlicher Vielfalt. Dass diese Realität nun endlich auch in deutsches Personenstandsrecht umgesetzt wird, ist ein sehr wichtiger und richtiger Schritt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Dabei spielt es übrigens keine Rolle, ob dies auf hunderttausend oder nur auf einen Menschen zutrifft. Alle Menschen haben das Recht auf Anerkennung ihrer Persönlichkeit und auf Schutz vor Diskriminierung. Das Bundesverfassungsgericht hat das unmissverständlich deutlich gemacht. ({2}) Aber: Zur Umsetzung dieses Urteils bräuchte es einen Gesetzentwurf, der den Vorgaben des Verfassungsgerichts entspricht, und das ist mit diesem Gesetzentwurf schlichtweg leider nicht der Fall. Wenn der Bundestag das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung weiterhin ignoriert und stattdessen versucht, Menschen durch ein diskriminierendes Verfahren zu schleusen, dann können wir diesem Gesetzentwurf heute leider nicht zustimmen. ({3}) Der Entwurf sagt nämlich nicht, es gibt künftig die Option „divers“ und jeder, der das für sich entscheidet, darf diese Option wählen. Nein, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird ein ärztliches Attest verlangt oder in Ausnahmefällen eine eidesstattliche Erklärung. Das ist einfach komplett absurd. Niemand kann über sein Geschlecht besser Auskunft geben als jeder Mensch selber. Eine Fremdbestimmung mittels Attest hat in diesem Gesetz nichts zu suchen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Denn damit pathologisieren und bevormunden Sie intersexuelle Menschen, Sie begegnen Menschen, die diesen Eintrag wählen wollen, mit Misstrauen. Es ist übrigens unübersehbar, dass dieser Entwurf aus dem Hause Seehofer stammt. Er errichtet so etwas wie eine Grenzkontrolle, die verhindern soll, dass Menschen, die aus Sicht der Großen Koalition nicht das Recht dazu haben, unkontrolliert aus dem binären Geschlechtersystem ausbrechen. Ich frage Sie: Was würden Sie eigentlich verlieren, wenn Sie allen Menschen, die erklären, dass sie sich als divers eintragen lassen wollen, weil das nun mal ihrer geschlechtlichen Identität entspricht, dies auch zugestehen? Ich sage Ihnen, das würde die Weltordnung nicht ins Wanken bringen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Wir Grüne stellen deswegen heute verschiedene Änderungsanträge und einen Entschließungsantrag zur Abstimmung. Wir fordern einen selbstbestimmten Geschlechtseintrag ohne Attestpflicht. ({6}) Wir fordern, dass das Transsexuellengesetz endlich abgeschafft und durch ein modernes Gesetz zur Selbstbestimmung und zur Anerkennung der Geschlechtervielfalt ersetzt wird. ({7}) Wir fordern, dass Operationen und Hormonbehandlungen an Säuglingen, die nicht medizinisch notwendig sind, endlich verboten werden. ({8}) Und wir fordern, dass intersexuelle und transsexuelle Menschen, denen Leid zugefügt wurde, dafür entschädigt werden; denn der Staat hat sich mit seiner Gesetzgebung schuldig gemacht. ({9}) Transsexuelle mussten sich bis 2011 einer operativen Angleichung ihrer Genitalien unterziehen; nur so durften sie ihre falsche Geschlechtszuordnung korrigieren. Der Staat ist seiner Schutzpflicht auch gegenüber intersexuellen Menschen nicht nachgekommen. ({10}) Bis heute leiden viele von ihnen darunter, dass sie sich im Kindesalter mehrfach unumkehrbaren Operationen unterziehen mussten. Liebe Abgeordnete des Bundestages, ich finde, es ist an der Zeit, dass wir uns bei diesen Menschen entschuldigen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sven Lehmann. – Der nächste Redner: Michael Kuffer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Das Thema, mit dem wir uns heute befassen, braucht eine nüchterne und eine faktengeleitete Betrachtung; das sind wir den Menschen, die von dieser Regelung erfasst werden, schuldig. Um eines gleich vorweg zu klären: Wir handeln damit nicht gegen die Interessen dieser Menschen, sondern im besten Sinne für ihre Interessen. ({0}) Es kommt mir schon darauf an, eine klare Unterscheidung zu treffen zwischen den Menschen, für die es dieser Gesetzesänderung bedarf, und den Menschen, die aus guten Gründen nicht von dieser Gesetzesänderung erfasst werden bzw. erfasst werden sollen. Die vorliegende Änderung, liebe Kolleginnen und Kollegen, widmet sich Menschen, die mit, wie es in der Fachsprache heißt, Varianten der Geschlechtsentwicklung geboren sind und somit biologisch betrachtet weder eindeutig dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordenbar sind; diese Menschen werden als intersexuell bezeichnet. Es ist wichtig, dass wir diese Menschen rechtlich und auch sprachlich in der Debatte klar von Menschen unterscheiden, die biologisch eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen sind, sich aber psychologisch, aufgrund ihrer Geschlechtsidentität, dem anderen Geschlecht zurechnen. Ohne jede Diskriminierung, bei allem Verständnis für beide Phänomene: Wir müssen diese Menschen, die als transsexuell bezeichnet werden, klar und eindeutig von denjenigen unterscheiden, die wir als intersexuell bezeichnen. ({1}) Wir schaffen mit dem vorliegenden Entwurf in § 22 Absatz 3 Personenstandsgesetz die Möglichkeit, bei der Beurkundung der Geburt eines Neugeborenen neben den Angaben „weiblich“ und „männlich“ oder der Eintragung des Personenstandsfalls ohne eine solche Angabe auch die Bezeichnung „divers“ zu wählen, wenn eine Zuordnung zu einem der beiden Geschlechter nicht möglich ist. Grundlage hierfür muss eine ärztliche Bescheinigung sein, die belegt, dass die entsprechende Person über Varianten der Geschlechtsentwicklung verfügt. Auch die bisherige Rechtslage in § 22 Absatz 3 – darauf will ich Sie hinweisen – sah bereits vor, dass für den Fall, dass nach der Geburt das Geschlecht biologisch nicht eindeutig festgestellt werden kann, eine Eintragung ohne Angabe erfolgt. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017 passen wir diese Regelung nun unter anderem dahin gehend an, dass eine positive Eintragung – mit „divers“ – erfolgen kann. Aber ich bitte Sie wirklich noch einmal eindringlich – das sage ich insbesondere nach Ihrer Rede, Herr Kollege Lehmann –, nicht in einer undifferenzierten Betrachtung alles miteinander zu vermischen. Ich sage Ihnen auch: Die Umstände intersexueller Menschen sind besonders, und deren Ernsthaftigkeit verträgt sich nicht damit, dass wir diesen speziellen Fall mit anderen Fallgruppen vermischen. Deshalb bitte ich Sie wirklich noch einmal um eine klare Unterscheidung. Wir stehen als Unionsfraktion zu dieser gesetzlichen Neuregelung – aber eben in der Form, wie wir sie heute vorlegen. ({2}) Dass diese Debatte Versachlichung dringend benötigt, haben die hitzigen Debatten im parlamentarischen Verfahren gezeigt. Ich beneide die Berichterstatter nicht und habe jeden Respekt, lieber Kollege Henrichmann, mit welcher Sachlichkeit ihr das jetzt zum Abschluss bringen konntet. Als Gesetzgeber sind wir verpflichtet, die Validität des Personenstandsregisters zu gewährleisten. Hier geht es um nicht weniger als einen Kern unserer Rechtsordnung. Hierfür steht die CDU/CSU aus voller Überzeugung ein. Das Personenstandsregister genießt gerichtlichen Beweiswert. Hier darf und wird es mit uns zu keiner Aufweichung kommen. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Kuffer. – Nächste Rednerin: Dr. Frauke Petry.

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Gender-Mainstreaming, Frühsexualisierung, Ehe für alle, heute so etwas wie das dritte Geschlecht – Themen und Phänomene, die wir noch vor ein paar Jahren nicht kannten, ({0}) welche die Bundesregierung seit Jahren fördert. Dass gesellschaftliche Veränderungen vonseiten des linken Randes vorangetrieben werden, ist kein Geheimnis mehr. Dass aber ausgerechnet eine christdemokratische Partei sich dafür einsetzt, die Schöpfung der beiden Geschlechter als Mann und Frau de facto zu untergraben, das verwundert. ({1}) – Hören Sie auf, sich aufzuregen, und hören Sie zu! Um eines klarzustellen: Intersexuelle existieren, sie haben auch jahrzehntelang zweifellos unter medizinischen Eingriffen gelitten. Der Unterschied aber zum heutigen Antrag: Die alte preußische Gesetzgebung zum Eintrag „Zwitter“ oder der heutige Begriff „intersexuell“ beschränkt den Personenkreis auf genau jene rund 100 000 Menschen in Deutschland, auf die der Mangel des bisherigen Geburtenregisters tatsächlich zutrifft. Der Vorschlag aber, eine Kategorie „divers“ einzuführen, schießt deutlich über das Ziel hinaus. Vielleicht hätte die Union rechtzeitig ins SPD-Parteiprogramm schauen sollen: Nicht nur die Rechte von Intersexuellen, sondern auch von Transsexuellen sollen weiter gestärkt werden. ({2}) Intersexualität ist Biologie, Transsexualität Psychologie. Unter dem Deckmantel „divers“ tarnt sich daher der nächste Schritt. Diese Strategie der Ideologen, mit kleinen Schritte vorzugehen, kennen wir. So etwas hält man nicht durch Zurückweichen, sondern nur durch klares Zurückweisen zurück. Das hat die Union offenbar nicht verstanden. Was auf uns in den nächsten Jahren zukommt, können Sie dem Antragspapier der Linken entnehmen. Gestern die eingetragene Lebenspartnerschaft, heute die Ehe für alle, morgen Polyamorie und Polygamie. Gestern eine Auslassung im Geburtenregister, heute „divers“, morgen die Einführung von bis zu sechzig Geschlechtern, je nach Gefühl. Der Eintrag einer Kategorie „divers“ ist damit die Büchse der Gender-Pandora und zeigt deutlich, welche Prioritäten in Karlsruhe und offenbar auch in Teilen dieses Parlamentes gelten: Der Streit um die Belange ({3}) von einigen Tausenden hat mehr Gewicht als die Sorge von Millionen Vätern oder Müttern. Liebe CDU, wären Sie im Innenausschuss standhaft geblieben, ({4}) hätte man diesem Entwurf zustimmen können – so identifiziere ich mich heute in diesem Fall als eine diesen Entwurf ablehnende heterosexuelle Frau. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Letzte Rednerin in dieser Debatte: Bettina Wiesmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir regeln heute die Eintragung einer Variante der Geschlechtsentwicklung, also von Intersexuellen, in das Geburtenregister – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ich möchte gleich vorneweg betonen, dass ich dies als den ersten von zwei zusammengehörigen Schritten betrachte, um intersexuellen und transsexuellen Menschen ein würdiges, selbstverständliches und respektiertes Dasein in unserer Gesellschaft – und zwar in der Mitte dieser Gesellschaft – zu ermöglichen. ({0}) Eine umfassende Reform der materiellen gesetzlichen Regelungen, zum Beispiel das schon angesprochene Verbot geschlechtsverändernder Operationen im Kindesalter, das wir anstreben, steht aus und für 2019 an. Es ist nicht redlich – wie es viele Oppositionsredner heute und auch schon im Ausschuss getan haben –, den vorliegenden ersten Schritt als ambitionslos oder irgendwie beschränkt zu kritisieren. Wir bekennen uns ausdrücklich dazu, dass diese größere Reform jetzt kommen muss. Aber auch das Gesetz, das wir heute beschließen, bringt echte Fortschritte für die Betroffenen. ({1}) – Wir haben auch nächstes Jahr noch viele Chancen. Was sind diese Fortschritte? Erstens. Intersexuelle Kinder und ihre Familien werden entlastet. Kinder sollen gut aufwachsen und in ihren Familien den besonderen Schutz erfahren, den ihnen sonst keiner bieten kann. Durch das Gesetz geben wir Eltern die Sicherheit, dass ihr Kind genauso normal ist wie andere, auch wenn es nicht männlich oder weiblich ist. Intersexuelle Kinder wachsen künftig nicht mehr im Gefühl einer Differenz zwischen der auch noch schriftlich attestierten Außenwahrnehmung und dem eigenen, oft längere Zeit unklaren Empfinden auf. Die Kategorie „divers“ legitimiert den Prozess der Identitätsgewinnung auch in geschlechtlicher Hinsicht. Übrigens: Diesen Selbstwerdungsprozess gestehen wir unseren heranwachsenden Kindern auch in anderer Hinsicht zu. Weitere Entlastung: Eltern sollen nicht für ihr Kind entscheiden, wofür sie beim besten Willen doch keine zuverlässige Grundlage haben können. Deshalb schlagen wir die jetzt auch noch mal verbesserte Formulierung „Kann … ‚divers’ …eingetragen werden“ vor. Eltern haben die Möglichkeit, dem Kind eine Geschlechtsidentität zu geben, die sein Leben zunächst bestimmen soll, sie müssen es aber nicht – denn das Leben ist bunt, und dafür kann es auch gute Gründe geben. Später kann sich das Kind, wenn sich seine Variante ausprägt, gegebenenfalls einem anderen als dem bisher eingetragenen Geschlecht zuordnen und dies dann eben eintragen lassen. Es ist eine gute Lösung in diesem Punkt. ({2}) Zweitens. Die Nachweispflicht wird angemessen gestaltet; dazu ist schon vieles gesagt worden. Das Gesetz sieht – so wie es übrigens das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch vorgibt – einen Nachweis des Sachverhalts vor. Bei den intersexuellen Personen, über die wir hier heute reden, liegt dieser Nachweis in der Regel vor – das hat Herr Henrichmann auch schon ausgeführt –; denn junge Menschen sind in unserem Gesundheitssystem heute hervorragend begleitet und zumeist schon sehr früh in dieser Eigenschaft identifiziert. Etwas anderes ist es aber bei Menschen, deren geschlechtliche Variante unterdrückt oder medizinisch beseitig worden ist. Und auch für diese muss es eine ihre Würde wahrende Form der Erklärung ihres Geschlechts für das Standesamt geben, die aber zugleich dem Anspruch einer validen Personenstandsbestimmung entspricht. Ich bin überzeugt, dass die Formulierung in Punkt zwei der Beschlussempfehlung diesem vollauf Rechnung trägt. Sie besagt – das ist schon erwähnt worden; ich erwähne es dennoch noch mal –: In den meisten Fällen gibt es die Bescheinigung, und der Eintrag wird geändert. Oder: In begründeten Ausnahmefällen, die tatsächlich Härtefälle sind, genügt die eidesstattliche Versicherung. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich festhalten: Es ist ein guter Kompromiss. Den Geschlechtseintrag ins Geburtenregister brauchen wir. Es ist die einzige rechtlich valide Bestimmung, auf der eine Vielzahl von Regelungen und Ansprüchen basiert in vielen Bereichen unserer Gesetzgebung. Er muss glaubhaft sein, und er muss ernsthaft vorgenommen werden. Aber zugleich müssen wir die ohnehin spezielle und oft belastende Lebenssituation intersexueller Menschen in angemessener Weise berücksichtigen. Das tun wir hiermit, und deshalb ist auch dieser Punkt eine gute Lösung. ({3}) Ich möchte noch einen Kritikpunkt, einen Satz erwähnen, der hier angesprochen worden ist: Es würden ja nicht alle intersexuellen Menschen berücksichtigt. – Und es ist richtig: Es gibt Varianten der Geschlechtsidentität, die unabhängig von einer Variante der Geschlechtsentwicklung bestehen. Sie werden von diesem Gesetz nicht abgedeckt. Aber auch für diese Menschen muss eine Regelung gefunden werden. Dies kann das alte Transsexuellengesetz nicht leisten, und deshalb werden wir es reformieren. Wir werden den zweiten Schritt –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, jetzt sind Sie deutlich über der Zeit.

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– zur Gleichberechtigung von Menschen jenseits der binären Geschlechtlichkeit gehen – eine Aufgabe für das nächste Jahr. Jetzt bleibt mir noch die Aufgabe, Ihnen ein frohes Weihnachtsfest zu wünschen. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Wiesmann. – Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben. Der Ausschuss für Inneres und Heimat empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/6467, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 19/4669 und 19/5422 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen drei Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen werden. Wir beginnen mit dem Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/6476. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt haben die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegengestimmt haben die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, FDP und AfD. Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/6477. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen, der Linken und der Fraktion der FDP. Dagegengestimmt haben die Fraktionen von SPD, CDU/CSU und AfD. Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/6478. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Zugestimmt haben die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken. Dagegengestimmt haben die Fraktionen von SPD, CDU/CSU und AfD. Enthalten hat sich die Fraktion der FDP. Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD, bei Gegenstimmen von der Linken und der AfD und bei Enthaltung von FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung der Fraktionen von SPD und CDU/CSU, bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und der AfD und bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP. Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/6479 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Zugestimmt haben die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken. Dagegengestimmt haben die Fraktionen von SPD, CDU/CSU und AfD. Enthalten hat sich die Fraktion der FDP. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat auf Drucksache 19/6467 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/4828 mit dem Titel „Selbstbestimmung, Gleichbehandlung, körperliche Unversehrtheit – Die Grund- und Menschenrechte zur geschlechtlichen Vielfalt gewährleisten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Für die Beschlussempfehlung haben die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, FDP und AfD gestimmt. Gegen die Beschlussempfehlung haben die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. – Vielen Dank. Das war die Abstimmung.

Dr. Bruno Hollnagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004760, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man hatte uns gesagt, der Euro sei wichtig; denn er werde Wohlstand bringen. Aber wir hatten Wohlstand. ({0}) Man sagte, wir bräuchten den Euro, weil er Frieden bringen werde. Doch wir hatten Frieden. Man sagte, der Euro sei wichtig für uns, weil er eine stabile Währung sein werde. Wir hatten die stabilste Währung der Welt. ({1}) Die Eingangsvoraussetzung für den Euro war die Einhaltung der Konvergenzkriterien. Inflationsrate, Neuverschuldung und Schuldenstand sollten bestimmte Grenzen nicht überschreiten. Kaum ein Land hatte die Konvergenzkriterien eingehalten. Damals machte der Ausdruck „kreative Buchführung“ die Runde. Mit solchen Tricks hatten sich Länder, unter anderem auch Griechenland, in den Euro hineingelogen. ({2}) Auch der Stabilitäts- und Wachstumspakt sollte die Gemüter beruhigen. Auch er wurde in der Folge unzählige Male gebrochen – ohne Folgen für die Schuldigen. Die Missachtung der Stabilitätskriterien wurde zur Regel. Es musste endlich Schluss sein mit den Vertragsbrüchen. Dieser Wunsch wurde leider nicht erfüllt. In der Folge wurde der Euro immer wieder gerettet, nach dem Motto „Koste es, was es wolle“, und die Euro-Rettung hat uns sehr viel gekostet, und sie wird uns noch mehr kosten. ({3}) Es ist unbedingt eine rote Linie einzuziehen, die die Kosten begrenzt. Ein Ende mit Schrecken wäre besser als ein Schrecken ohne Ende. ({4}) Man beschwichtigte uns mit der No-bailout-Klausel. Wir könnten ganz beruhigt sein, kein Land werde für ein anderes haften müssen – auch nicht für deren Anleihen. Mich interessiert, was Fakt ist. Fakt ist: Wir werden entgegen der No-bailout-Klausel für andere haften, zum Beispiel für die Anleihenkäufe der EZB. Alleine daraus erwächst uns eine Haftung von 600 Milliarden Euro. Die Gemeinschaftshaftung der verschiedensten Art erleben wir bei der Bankenunion, bei den Rettungsschirmen, bei dem Europäischen Stabilitätsmechanismus. ({5}) Der ESM kann bis auf 2,5 Billionen Euro gehebelt werden. Alleine für Deutschland würde das eine Haftungssumme von 670 Milliarden Euro bedeuten. ({6}) Und nun kommt der liebe Draghi und will eine sogenannte ERL als Überbrückungskredit ins Spiel bringen. Danach würden die Zentralbanken eine Summe von mehreren Billionen Euro schulden. Sie wissen, die Zentralbanken haften und die entsprechenden Länder haften für die Zentralbanken. ({7}) Wenn wir nur von 2 Billionen Euro ausgehen würden, würde das bedeuten, dass wir in Deutschland für weitere 500 Milliarden Euro haften müssten. Rechnen wir nur diese Haftungen, die ich gerade genannt habe, zusammen und die Schulden Deutschlands dazu, dann würde das pro Bürger in diesem Land 46 000 Euro ausmachen. Das ist unverantwortlich. ({8}) Diese Haftungen gefährden die Zukunft unseres Landes, unserer Kinder und unserer Enkel. Wir brauchen rote Linien, die diese Haftungen begrenzen. Kommen wir kurz zur EZB. Sie ist das Aufsichtsinstitut für Banken. Nun sollte jemand, der eine Aufsicht ausübt, unabhängig sein. Ist die EZB unabhängig? Nein, sie ist nicht unabhängig; denn sie ist Geldgeber. Sie ist befangen, und wer befangen ist, kann eine Aufsicht nicht neutral durchführen. Deswegen lehnen wir die Aufsicht der EZB über die Banken ab. ({9}) Man hört, dass Deutschland unter Beobachtung gestellt werden soll. ({10}) Deutschland, so sagen Ökonomen, störe das Gleichgewicht Europas. Die Handelsüberschüsse Deutschlands müssten abgebaut werden. Im Klartext: Deutschland soll an Wettbewerbsstärke verlieren, also an Wohlstand. Es soll der Ast abgesägt werden, auf dem wir alle sitzen, und wenn wir runterfallen, dann brechen wir uns die Knochen. ({11}) Das alles ist unverständlich, und es muss hier eindeutig ein Schlussstrich gezogen werden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

So ist es, Herr Kollege Dr. Hollnagel. Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Bruno Hollnagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004760, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich sehe gerade, meine Redezeit ist zu Ende. Ich bedanke mich recht herzlich. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Die Kollegen Alexander Radwan, CDU/CSU-Fraktion, und Frank Schäffler, FDP-Fraktion, haben in vorbildlicher Weise ihre Reden zu Protokoll gegeben. ({0}) Nach dieser Eingangsbemerkung erteile ich nun dem Kollegen Metin Hakverdi von der SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Metin Hakverdi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004289, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzkrise 2008 hat die Steuerzahler weltweit viel Geld gekostet. Der Ökonom Martin ­Hellwig spricht von über 70 Milliarden Euro allein für die deutschen Steuerzahler. Als wäre das nicht genug, gab es zudem einen massiven Verlust an Vertrauen in die demokratischen Institutionen. Jenen, die damals vor der Krise warnten, wurde das neoliberale Märchen von den Selbstheilungskräften des Marktes erzählt. In Wirklichkeit wurde das marktwirtschaftliche Prinzip, dass Risiko und Haftung in eine Hand gehören, während der Finanzkrise außer Kraft gesetzt. Gewinne wurden privatisiert, und Verluste wurden sozialisiert. Teile der Finanzelite hielten sich nicht an die Spielregeln. Sie zockten mit dem Geld der Sparer. Auch deshalb gewannen populistische Kräfte an Zulauf. Mit diesem Antrag möchte die AfD sämtliche Fortschritte und Lehren, die wir aus der letzten Krise gezogen haben, rückgängig machen. ({0}) Damit verrät die AfD die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in unserem Land. ({1}) Man könnte meinen, die Populisten verfolgen eine perfide Strategie. Kann es sein, dass die AfD hofft, die nächste Krise werde ihr weiteren Zulauf bringen? Und kann es sein, dass sie deshalb absichtlich die Bankenunion abschaffen will, damit die nächste Krise wahrscheinlicher wird? ({2}) Egal warum Sie das wollen – ob absichtlich oder aus Unvermögen –: Es ist in der Sache falsch. ({3}) Es macht unsere Banken und damit unsere Wirtschaft anfälliger für Krisen. In Wirklichkeit ist die Bankenunion nicht das Problem, sondern Teil der Lösung. In Wirklichkeit ist Europa nicht das Problem, sondern Teil der Lösung. Globale Finanzmärkte – das ist die wichtigste Erkenntnis – lassen sich eben nicht allein durch nationale Politik regulieren. Diese nationalistische Haltung könnte die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes am Ende sehr, sehr teuer zu stehen kommen. ({4}) In Wirklichkeit ist durch die Bankenunion die Wahrscheinlichkeit geringer, dass der Staat zukünftig bei Bankenschieflagen mit Steuergeld einspringen muss. Wir haben mit der Bankenunion wichtige Lehren aus der Krise gezogen: die gemeinsame europäische Aufsicht über große Banken und ein einheitlicher Abwicklungsmechanismus. Das sind Krisenmechanismen, die uns nützen. Das Prinzip, dass Gläubiger und nicht die Steuerzahler haften, gilt jetzt mehr als vor der Krise. In der öffentlichen Anhörung des Finanzausschusses am Montag sprach ein Experte an dieser Stelle gar von einer kleinen Revolution. Endlich sollen Risiko und Haftung in einer Hand liegen. Diejenigen, die an den Finanzmärkten hohe Risiken eingehen, sollen auch zahlen, wenn es schiefgeht. Das möchte die AfD rückabwickeln. Unglaublich! ({5}) Um die Bankenunion weiter voranzubringen und damit im Interesse der Sparer sicherer zu machen, arbeiten wir nun auch an einer europäischen Einlagensicherung. Dafür gilt es zunächst Risiken in den Bankbilanzen in ganz Europa abzubauen; das ist klar. ({6}) Die Europäische Kommission hat Maßnahmen und Instrumente vorgelegt, die den Abbau dieser notleidenden Kredite unterstützen sollen. Kolleginnen und Kollegen, wir sind auf einem guten Weg. Wir müssen weiter daran arbeiten, dass wir auf zukünftige Krisen besser vorbereitet sind. Das kann man nur mit Europa und nicht gegen Europa. ({7}) Ich möchte dem Bundesfinanzminister Olaf Scholz ausdrücklich für die Fortschritte auf dem letzten Ecofin-Gipfel danken. Das jetzt vereinbarte Bankenpaket enthält strengere Kapitalvorschriften für Banken. Vor der Krise lag die Höhe des haftenden Eigenkapitals bei manchen Banken bei nicht mal 2 Prozent. Heute müssen große Banken 8 Prozent Eigenkapital vorhalten. Das ist ein Meilenstein. Auch das war nur gemeinsam in Europa möglich. Mit der Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus wird die Bankenunion zusätzlich gestärkt. Der Europäische Stabilitätsmechanismus soll die Funktion der Letztsicherung für den europäischen Bankenabwicklungsfonds übernehmen. Auch das wird die Banken Europas vor zukünftigen Krisen sicherer machen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sehen in der Finanzmarktregulierung eine Daueraufgabe. Diese Aufgabe packen wir Schritt für Schritt gemeinsam mit unseren europäischen Partnern an. Eine Rückkehr in das nationalistische Schneckenhaus ist für die Herausforderungen von morgen keine Lösung. Der Antrag der AfD ist daher abzulehnen. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hakverdi. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Jörg Cezanne, Fraktion Die Linke. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Damen und Herren von der AfD, Ihre Position strotzt vor Widersprüchen. Einerseits wollen Sie sich aus der europäischen Kooperation zurückziehen und diese am besten gleich ganz abwickeln. ({0}) Andererseits wollen Sie die deutschen Stimmrechte in der Europäischen Zentralbank erhöhen. Sie wollen weniger für Europa bezahlen, dafür aber mehr in Europa zu sagen haben. Eine solche Haltung ist nicht nur widersprüchlich, sondern auch politisch vollständig naiv. ({1}) Eine Lehre aus der Finanzmarktkrise ist, dass die Bankenaufsicht europaweit durchgeführt werden muss, wenn die Banken sowohl im globalen Finanzsystem als auch in der gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion wirkungsvoll reguliert werden sollen. Der eingerichtete Abwicklungsmechanismus ist ein Schritt in die richtige Richtung. Für systemrelevante Großbanken reicht er allerdings nicht aus. Hier hilft auch die Letztsicherung nicht. Diese Großbanken müssen aufgespalten werden. Das Kredit- und Einlagengeschäft muss vom spekulativen und risikoreichen Investmentbanking getrennt werden. ({2}) Eine europäische Einlagensicherung halten wir grundsätzlich für sinnvoll. Dabei muss aber sichergestellt werden, dass diese nur für Banken mit vergleichbarem Risikoprofil und Geschäftsmodell wirkt. Es darf nicht geschehen, dass deutsche Sparkassen für französische Großbanken oder spanische Genossenschaftsbanken für die Deutsche Bank haften. Die Ansiedlung der europäischen Bankenaufsicht bei der Europäischen Zentralbank ist tatsächlich unglücklich. Wegen der verschiedenen Aufgaben kommt es zu einem andauernden Konflikt zwischen den unterschiedlichen Rollen, die die EZB erfüllen muss. Man müsste diese Bankenaufsicht also in einer eigenen Behörde bündeln. Dazu wären die EU-Verträge zu ändern. Der nächste Widerspruch, den die AfD klären muss, ist, wie sie das ihren rechtsextremen Freunden in Ungarn, Österreich und Polen beibringen will, die dann einer solchen Vertragsänderung zustimmen müssten. ({3}) Noch wichtiger als die verschiedenen Einzelmaßnahmen, die unter dem Namen „Bankenunion“ zusammengefasst werden, wäre es aus unserer Sicht allerdings, die ökonomisch widersinnige Kürzungspolitik zu beenden, die den Krisenländern im Süden Europas aufgezwungen wurde. Das portugiesische Wirtschaftswunder, über das jetzt berichtet wird, zeigt ja, dass mit höheren Mindestlöhnen und Renten sowie mehr öffentlichen Investitionen eine schnellere Überwindung der Krise möglich ist. Das wäre auch ein guter Weg für andere Länder. ({4}) Ein solcher Kurs würde es nämlich auch den Banken in Zypern oder Griechenland und deren überschuldeten Kreditnehmern ermöglichen, durch wirtschaftliches Wachstum aus notleidenden Krediten herauszuwachsen statt sich, die heimische Bevölkerung und die jeweilige Wirtschaft zu Tode zu sanieren. Ein fruchtbares und friedliches Europa kann nur ein Europa der Solidarität sein. Das ist im Rahmen der bestehenden Verträge nur begrenzt möglich. Deshalb wollen wir die EU neu begründen. Wir wollen nicht nur eine Wirtschafts- und Währungsunion, sondern auch eine Sozialunion, eine Union der guten Arbeit und eine Union des Friedens haben. Die AfD hat dazu nichts beizutragen. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Cezanne. – Wir bedanken uns jetzt bei der grünen Kollegin Anja Hajduk, die ihre Rede ebenfalls zu Protokoll gegeben hat. ({0}) Ich rufe jetzt den Kollegen Sepp Müller, CDU/CSU-Fraktion, auf. ({1})

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Uns liegt heute ein 18-seitiger Antrag der AfD-Fraktion vor, in dem sie 17 Seiten Geschichte erzählt und 1 Seite mit knackigen Forderungen an die Bundesregierung formuliert. ({0}) Man erkennt auch daran den Geist der AfD, der in diesem Hause weht und mit dem sie auch mit wehenden Fahnen in den Europawahlkampf geht. Ich zitiere aus dem letzten Punkt dieses Antrags: „... Ausstieg aus der Beteiligung am ESM, Verhinderung der Einführung des … EWF …“ Sie meinen damit sicherlich die Letztsicherung, die geplant ist. Was heißt das für Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren? Was ist die Konsequenz am Ende des Abends? Erstens. Die AfD möchte mehr Steuermittel zur Bankenrettung zur Verfügung stellen. Das wollen wir als Große Koalition nicht. Die Banken haben die Krise selber heraufbeschworen, und sie müssen am Ende selber haften. Wenn Sie Steuerzahler dafür haftbar machen wollen, dann müssen Sie die AfD wählen. Wenn Sie wollen, dass die Banken dafür haften, dann wählen Sie die Große Koalition. ({1}) Zweitens. Die AfD lehnt Europa in ihrem Antrag eindeutig ab. Das hat sie in den sieben Punkten des Antrags ganz klar gemacht. Die Kollegen haben das vorher gesagt: Man wolle austreten aus den europäischen Institutionen. Wir sagen: Wir wollen Europa einen – und das auch mit einer Bankenunion. Ja, liebe Kollegen der AfD, es ist manchmal einfach, Nein zu sagen. Schwieriger ist es, Ja zu sagen. Deswegen sagen wir als CDU/CSU-Fraktion Ja zu Europa. Wir sagen als CDU/CSU-Fraktion Ja zur Bankenunion, und wir sagen mit unserem Spitzenkandidaten im nächsten Europawahlkampf, Manfred Weber: Ja, das ist der richtige Weg. Wir wollen Europa einen und nicht, wie Sie, spalten. ({2}) Was bedeutet Bankenunion eigentlich? Nach der Finanzkrise, die die Banken in den Nationalstaaten erreicht hatte, hat sich Europa auf den Weg gemacht, einheitliche Regeln festzulegen. Beispielsweise sind die Einlagen von Kleinsparern bis zu 100 000 Euro europaweit einheitlich gesichert. Das ist ein richtiger Weg. Für die größeren Banken hat man die gemeinsame Aufsicht entwickelt. Das heißt, innerhalb von Europa betrachtet man die Banken einheitlich mit einem Auge, und man spricht diesbezüglich eine Sprache. Das hat zur Folge: Wenn eine Bank in Schieflage gerät, dann wird sie europaweit gemeinsam von den Großbanken abgewickelt. Das ist der richtige Weg: nicht mit 28 unterschiedlichen Augen auf die Banken schauen, sondern mit einem Auge, das reguliert, das die Richtlinien festlegt und das notfalls auch abwickelt. Das ist Bankenunion, und das ist auch der richtige Weg. ({3}) Wir haben in der Bankenunion weiterhin festgelegt, dass das Eigenkapital der Banken steigen soll. Warum ist das so wichtig? Wenn Kredite in Schieflage geraten, dann werden diese Kredite abgeschrieben. Gegen was werden sie abgeschrieben? Gegen das Eigenkapital der Banken! Wir wussten in den letzten Jahren, dass die Banken zu wenig kapitalisiert waren, und sie sind es in großen Teilen auch immer noch. Deswegen haben wir gesagt: Wir müssen die Banken in Europa dazu befähigen, mit ihrem Eigenkapital die Risiken selber zu bewältigen, wenn die nächste Krise kommt. Daher ist es richtig, dass wir gesagt haben: mindestens 8 Prozent des Eigenkapitals, wenn nicht sogar mehr. Das ist der richtige Weg; denn wir sagen nicht Nein, sondern wir sagen Ja zu Europa. Wir gehen die Probleme als Große Koalition an, und das ist der richtige Weg. ({4}) Wir haben auch gesagt: Wir wollen zukünftig keine Steuermittel einsetzen, um Großbanken zu retten; denn die Großbanken sind selber Verursacher der Krise gewesen, und sie müssen zukünftig auch selbst aus der Krise lernen und einen Fonds anlegen, den SRF. Diesen Fonds füllen die Großbanken europaweit auf. Wenn das Eigenkapital nicht ausreicht, dann wird der von den Großbanken gefüllte Fonds genutzt, um eine in Schieflage geratene Bank zu retten – nicht mit Steuermitteln, sondern mit dem Geld, welches die Banken selber erwirtschaftet, aber nicht an ihre Aktionäre zurückgegeben, sondern in den Sicherungsfonds eingezahlt haben. Denn wir wollen keine Steuermittel einsetzen, sondern wir als Große Koalition sagen: Diejenigen, die die Krise verursacht haben, sollen selber dafür haften – und nicht der deutsche Steuerzahler. ({5}) Jetzt geht es darum, die Bankenunion weiterzuentwickeln. Ja, die Kollegen haben zu Recht gesagt: Wir haben mittlerweile solch große Institute, dass die Eigenkapitalregelungen und der Abwicklungsmechanismus über den Fonds nicht mehr ausreichen könnten. Deswegen wollen wir die Letztsicherung. Die Letztsicherung über den ESM bedeutet: Wenn das Eigenkapital und der von den Banken selbst gefüllte Fonds nicht ausreichen sollten, dann wird der ESM dem Fonds einen Kredit von bis zu 60 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, um die Banken zu retten. Jetzt sagt die AfD, das seien Steuermittel. Ja, es ist richtig: Es sind in großen Teilen Steuermittel, die im ESM sind. Da haben Sie vollkommen recht. Nur dürfen Sie sich da nicht unehrlich machen, sondern müssen ganz ehrlich sein und sagen: Diese Letztsicherung ist ein Kredit, der nach den Regeln, die beschlossen wurden, innerhalb von drei, maximal fünf Jahren zurückgezahlt werden soll. Das ist die Ehrlichkeit: Das Geld wird wieder zurückgezahlt. Es ist genauso, wie wenn man von der Bürgschaftsbank bzw. der Investitionsbank Sachsen-Anhalt Geld bekommt und es zurückzahlt; auch da handelt es sich am Anfang um Steuermittel, um die Wirtschaft zu unterstützen, aber das Geld fließt zurück. ({6}) – Herr Gauland, ich weiß, dass die Wahrheit in Ihren Augen manchmal wehtut; das ist ganz klar. Denn Fake News helfen nicht; vielmehr tut die Wahrheit hier manchmal auch weh. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bei Ihnen jetzt auch, Herr Kollege Müller, weil Ihre Redezeit zu Ende ist. Kommen Sie zum Schluss, bitte.

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine Bitte haben wir als CDU/CSU-Fraktion noch an die Regierung – insbesondere in Richtung Olaf Scholz –: Der Gesetzgeber, das Parlament, sitzt auf der vor mir liegenden Seite des Hauses, Frau Staatssekretärin. Das sollte auch Ihr Minister nicht vergessen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Müller, ein letzter Satz!

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir brauchen kein Grundgesetz 2.0 und kein Osterpaket, sondern nehmen Sie uns mit; dann haben Sie uns auch an Ihrer Seite. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Mit diesen doch kraftvollen Worten schließe ich die Aussprache, nachdem die Kollegin Sarah Ryglewski ihre Rede dankenswerterweise ebenfalls zu Protokoll gegeben hat. ({0}) – Man erhält manchmal mehr Beifall, wenn man nicht redet, als wenn man redet. ({1}) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/6418 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist erkennbar der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen.

Steffen Bilger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004011

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über wenige Themen wird in Deutschland zurzeit so engagiert diskutiert wie über die Versorgung mit digitaler Infrastruktur. Und das ist auch gut so; denn mit dem bislang in unserem Land Erreichten sind wir nicht zufrieden, und wir dürfen uns ohnehin in diesem Bereich niemals ausruhen, sondern wir brauchen jetzt und in Zukunft alle Anstrengungen, um unserem Anspruch als führende Industrienation gerecht zu werden, und diesem Ziel fühlen wir uns als Bundesregierung und als Koalition verpflichtet. Trotz aller bisherigen Anstrengungen liegt noch ein weiter Weg vor uns, bis Glasfaser in jede Wohnung und jeden Betrieb verlegt ist und ein gut ausgebautes 5G-Netz unsere Mobilität revolutionieren kann. Egal ob privatwirtschaftlich, im Rahmen der Förderprogramme von Bund und Ländern oder als Universaldienstleistung: Jetzt müssen landauf, landab in einem bislang noch nie dagewesenen Umfang Glasfasernetze gebaut werden. Hierfür müssen die bestehenden Tiefbaukapazitäten ausgebaut und bestmöglich eingesetzt werden, mit Verfahrenserleichterungen für Genehmigungsbehörden und Netzbetreiber – wir haben ja schon einiges dafür unternommen –, mit innovativen Verlegemethoden und so viel Synergienutzung, wie nur irgendwie möglich. Bereits 2016 haben wir mit dem DigiNetz-Gesetz gemeinsam dafür gesorgt, dass alle Baustellen der öffentlichen Hand auf potenzielle Eignung für den Breitbandausbau geprüft und Baustellen koordiniert für den Glasfaserausbau mit genutzt werden. Die spartenübergreifende Mitverlegung von Breitbandnetzen bei Baumaßnahmen, zum Beispiel für Wasser, Abwasser, Strom oder Gas, hat sich in der Vergangenheit vielfach bewährt. ({0}) Nun erleben wir aber eine öffentliche Diskussion zur Mitverlegung, die doch für große Verunsicherung sorgt. Während wir an dieser Stelle zumeist über weiße Flecken diskutieren, die niemand versorgen kann oder will, diskutiert der Markt derzeit über die Gefahr eines strategischen Überbaus, also über die parallele Verlegung von Glasfaser in Gebieten, die mit einem Netz gar nicht wirtschaftlich zu erschließen sind. Dort, wo zuvor niemand mit einer Mitverlegung gerechnet hatte, weil eine doppelte Verlegung wirtschaftlich unsinnig wäre, traut sich nun niemand mehr, auszubauen, weil Wettbewerber, eigene Verluste in Kauf nehmend, einen Anspruch auf Mitverlegung geltend machen könnten. Auch diesen theoretischen Fall haben wir 2016 bereits bedacht, und wir haben die Mitverlegung auf zumutbare Anträge beschränkt. Die Debatte darüber, was zumutbar ist, dauert angesichts unserer notwendigen Beschleunigungsabsicht aber bereits zu lange. Um die klaren Investitionsanreize der Regelung zu bewahren, wollen wir daher mit der vorliegenden Gesetzesänderung die Grenzen der Zumutbarkeit der Mitverlegung klarstellen und die Ausbaudiskussion versachlichen. Was heißt das im Einzelnen? Aufgrund europarechtlicher Vorgaben erstreckt sich die Koordinierungspflicht auf öffentlich mitfinanzierte Baustellen für Telekommunikationsnetze. In diesem Fall senkt eine gemeinsame Verlegung zwar ebenfalls die Kosten aller Beteiligten, zugleich werden hierdurch aber auch die potenziellen Kunden aufgeteilt und damit die Einnahmeerwartungen gesenkt. Insbesondere in Fördergebieten, in denen eine Markterkundung ergeben hat, dass bereits ein Breitbandnetz nicht wirtschaftlich gebaut und betrieben werden kann, führt diese Verunsicherung zu einer Investitionszurückhaltung, die die gesetzgeberische Intention der Beschleunigung des flächendeckenden Breitbandausbaus konterkariert. Der durch den vorliegenden Gesetzentwurf einzufügende Satz stellt klar, dass Anträge insbesondere dann unzumutbar sein können, wenn durch die zu koordinierenden Bauarbeiten ein geplantes, öffentlich gefördertes Glasfasernetz, das einen diskriminierungsfreien offenen Netzzugang zur Verfügung stellt, überbaut würde. Der Gesetzentwurf sucht dabei einen unionsrechtlich – das muss man natürlich auch beachten – und ordnungspolitisch ausgewogenen Kompromiss, und ich denke, diesen ausgewogenen Kompromiss haben wir nun tatsächlich gefunden. ({1}) Wichtig ist, zu betonen: Die auf Einzelfälle begrenzte Ablehnung der Baustellenkoordinierung für Wettbewerber bedeutet keine Absage an eine wettbewerbliche Erschließung; denn die Landes- und Bundesförderung für den Breitbandausbau beinhaltet aufgrund europäischer Vorgaben ohnehin Open-Access-Vorgaben für die spätere wettbewerbliche Erschließung, also Vorgaben für einen wettbewerbsoffenen Netzzugang. Meine Damen und Herren, dankenswerterweise haben mir CDU/CSU und SPD so viel Vertrauen entgegengebracht, dass ich als einziger Redner für die Koalition in dieser Debatte reden darf. Leider wurde mir allerdings nicht die gesamte Redezeit der anderen Kollegen übertragen. Deswegen muss ich zum Schluss kommen. ({2}) Ich will abschließend herzlich danksagen an die Mitglieder des Bundesrats und des Bundestags, die sich bereits mit Positionierungen zu unserem Vorhaben eingebracht haben. ({3}) Wir haben bisher viel Unterstützung für unser Ziel und durchaus auch für unseren Lösungsansatz erfahren. Ich freue mich auf die weitere Debatte. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Da ja kein weiterer Redner der Koalition spricht, hätte ich Ihnen auch keine Überschreitung der Redezeit insofern gutschreiben können, als ich sie woanders hätte abziehen können. Also hätte ich Sie jetzt auch bremsen müssen. Als Nächster spricht zu uns der Kollege Uwe Kamann, AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Kamann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004772, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Sehr verehrte Bürger, die noch wach sind! Wieder wird ein seit kurzem bestehendes Gesetz angepasst – wieder ein Gesetz, das wie viele andere Gesetzestexte ohne die nötige Weitsicht verabschiedet wurde. Dabei scheint es der Regierung auch vollkommen egal zu sein, ob dieses Gesetz seinen Zweck erfüllt oder ob daraus gravierende Nachteile für den Großteil der Betroffenen entstehen. Sie hätten wissen müssen, dass das bisherige Gesetz von den großen Telekommunikationskonzernen viel zu oft missbraucht wird. Erst weigern sich die Konzerne, Glasfaserleitungen, die wirtschaftlich unrentabel sind, zu verlegen, dann lässt man Gemeinden, Kommunen, städtische Tochtergesellschaften langwierige Genehmigungsverfahren durchführen, um anschließend schön Huckepack seine eigenen Leitungen kostengünstig in die vorhandenen Rohre zu verlegen. Das nennen Sie allen Ernstes Infrastrukturwettbewerb. Wir nennen das Lobbyismus pur. Der Entwurf des BMVI hatte noch annähernd einen Lösungsansatz in der Beschreibung, in welchen Fällen Anträge auf Überbauung unzumutbar sind. Aber selbst dieser Entwurf wird von Ihnen, liebe Kollegen, von einer Feststellung in eine unscharfe Formulierung geändert. Haben Sie die Formulierung aufgeweicht, weil die Herren von der Deutschen Telekom hier interveniert haben, oder ist das eine nachträgliche Mitgift an das neue Aufsichtsratsmitglied der Telekom Stiftung? ({0}) Ihre Änderungen schaffen mehr Unklarheiten und Rechtsunsicherheiten statt der erforderlichen Klarheit. Wir benötigen keinen solchen Infrastrukturwettbewerb, um echten Wettbewerb zu fördern. Was wir dagegen dringend benötigen, sind klare Zielsetzungen für den Ausbau ohne Hintertürchen. Man stelle sich vor: Bei jeder Tiefbaumaßnahme in Deutschland würden statt einer einzigen mehrere Stromleitungen verlegt werden. Zu Recht würde man sich fragen: Was soll das? Deutschlands Stromanbieter kommen mit einer Leitung klar. Der Strom, sogar der grüne, fließt durch eine einzige Leitung. Jetzt stellt man sich zu Recht die Frage, warum das beim Glasfasernetz nicht auch gehen soll. Fördern Sie einen schnellen, effizienten und flächendeckenden Ausbau mit nur einem einzigen Netz. Auf diesem Netz kann dann Wettbewerb stattfinden in einer Form, die wirtschaftlich und ökonomisch für alle Seiten, sowohl für die Bürger als auch für die Unternehmen, von Vorteil ist. ({1}) Die Unternehmen müssten den Ausbau nicht allein finanzieren, und die Kosten für die Infrastruktur würden erheblich geringer ausfallen. Wir brauchen endlich verantwortungsvolles und zielgerichtetes Handeln, damit wir in diesem Land nicht noch weiter den Anschluss verlieren. Deshalb werden wir dieser weichgespülten Änderung nicht zustimmen. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kamann. – Der Kollege Gustav Herzog, SPD-Fraktion, hat vorbildlicherweise seine Rede zu Protokoll gegeben. ({0}) Deshalb rufe ich als nächsten Redner den Kollegen Mario Mieruch, fraktionslos, auf. Ist Herr Kollege Mieruch im Saal? – Das ist erkennbar nicht der Fall. Das ist schade für ihn und für uns, dass wir seine Ausführungen nicht hören können. Dann spricht zu uns nunmehr die Kollegin Daniela Kluckert, FDP-Fraktion. ({1})

Daniela Kluckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004784, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Herr Präsident, jetzt haben ja so viele ihre Reden zu Protokoll gegeben. Jetzt habe ich ganz viel Redezeit. – Nein? Okay.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie können Ihre Rede auch zu Protokoll geben, Frau Kollegin. ({0})

Daniela Kluckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004784, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn wir die Begriffe „schnelles Internet“ und „Digitalisierung in Deutschland“ sagen, dann müssen wir leider auch immer noch die Begriffe „langsames Internet“ und „Funkloch“ dazudenken. Denn hier hängt die Realität im Netzausbau den Versprechungen der Regierung massiv hinterher. Und wissen Sie, meine Damen und Herren, wir reden hier fast wöchentlich darüber, wie der Politikverdruss in Deutschland um sich greift. Leere Versprechungen, Versprechungen, die über Jahre nicht gehalten werden – genau das ist nämlich das Gras, auf dem die Populisten wachsen. Die Auswirkungen der leeren Versprechungen sehen wir bei der digitalen Infrastruktur. Hier nimmt Deutschland einen hinteren Platz ein. Sie, die Regierung, versprechen in Ihren Werbekampagnen, Prospekten und Reden – und auch heute wieder, Herr Bilger –, dass Dinge wie autonomes Fahren und E-Health ganz bald kommen. Aber die technische Basis für eine Gigabitgesellschaft zu organisieren, gelingt Ihnen seit Jahren nicht. ({0}) Die Digitalpolitik der schwarz-roten Regierung ist seit langem ein Stückwerk aus politischen Maßnahmen, das dem Flickenteppich, den wir in Deutschland bei der Versorgung mit Highspeed-Internet haben, sehr ähnelt. Um beim Netzausbau endlich voranzukommen, drängen wir, die FDP, auf drei Themen, die wir in unseren Antrag geschrieben haben: dass erstens beim Netzausbau das Mobilfunknetz mit dem Glasfasernetz für den Breitbandausbau zusammengedacht und beides auch als Einheit aufgebaut werden muss – denn ohne Glasfaser gibt es keinen Mobilfunk – und dass zweitens die Beschleunigung des Netzausbaus eben nur durch Entbürokratisierung und eine echte Vereinfachung beim konkreten physischen Ausbau der Leitungen gelingt. Drittens bitten wir Sie: Nutzen Sie endlich auch die marktwirtschaftlichen Mechanismen, die auch auf diesem Markt funktionieren. Dafür müssen Sie die Nutzerunternehmen einbinden. Wie das praktisch umgesetzt werden kann, haben wir als FDP-Fraktion diverse Vorschläge unterbreitet, für deren Unterstützung ich hier mit dem Verweis auf unseren Antrag werben möchte. Meine Damen und Herren, stimmen Sie dem Antrag in der jetzigen Fassung zu, oder nutzen Sie auch gerne seine Inhalte. Hauptsache, der Netzausbau nimmt endlich sinnvoll Fahrt auf. ({1}) Und nur wenn wir diese drei Dinge auch beherzigen, dann schaffen wir es, dass Begriffe wie „autonomes Fahren“ und „E-Health“ die Begriffe „Funkloch“ und „Übertragungsabbruch“ vollständig ersetzen. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Kluckert. – Die Kollegin Anke Domscheit-Berg, die ich in besonderer Weise erwähnen möchte, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben. ({0}) Die Kollegin Margit Stumpp, Bündnis 90/Die Grünen, die in gleicher Weise lobend erwähnt wird, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben, und der Kollege Ulrich Lange, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede ebenfalls zu Protokoll gegeben. ({1}) Ich beende die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/6336, 19/6437 und 19/6398 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe und höre, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Nicole Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit gut einem Jahr diskutieren wir im Rahmen der #MeToo-Debatte über Sexismus. Es geht um Grenzen, Respekt und Würde. Es geht auch darum, dass wir Frauen selbst über unseren Körper bestimmen und entscheiden. Ich stehe hier als junge Frau vor Ihnen, und glauben Sie mir: Wir können selbst über uns, unser Leben und vor allem unseren Körper bestimmen, ({0}) insbesondere auch in der sensiblen Frage einer Schwangerschaft. Was wir aber dazu brauchen, ist die Möglichkeit, uns sachlich, neutral zu informieren: Wo kann medizinisch kompetent ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen werden? Darum geht es. Wenn ich als Frau vor der Entscheidung stehe, ein Kind zu behalten oder nicht, dann ist das höchst emotional und eine absolute Ausnahmesituation. Und ich will nicht, dass Frauen und Ärzte verunsichert werden durch eine unklare Gesetzeslage. ({1}) Was ich mir stattdessen in so einer Situation wünsche, sind Unterstützung, Aufklärung, gute Beratung und Begleitung. Genau das müssen wir ermöglichen: schnell, niedrigschwellig und medizinisch kompetent. ({2}) Deshalb wollen wir den § 219a abschaffen. Wir dürfen die Frauen nicht länger in dieser Situation alleinlassen und kriminalisieren, auch die Ärzte nicht. ({3}) Das Urteil aus Gießen führt uns vor Augen, dass die Gesetzeslage schlichtweg nicht mehr zeitgemäß ist. An uns liegt es nun, die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, dass Ärzte auf ihren Webseiten die Informationen zur Verfügung stellen können und dass wir Frauen selbstbestimmt und frei entscheiden können. Im bestehenden System geht das nicht. Es mangelt an Transparenz. Es mangelt an aktuellen Listen mit den Einrichtungen, die solche Eingriffe vornehmen, und es mangelt an Ärzten. In meiner Heimatregion Niederbayern gibt es genau einen einzigen Arzt. Dieser ist 70 Jahre alt und eigentlich schon längst im Ruhestand. Der Nächste ist 120 Kilometer weit weg. Das, meine Damen und Herren, darf nicht der Normalzustand sein. ({4}) Worauf ich aber in dieser Sache ausdrücklich hinweisen möchte und was ich auch klarstellen möchte, weil es so gerne von verschiedenen Parteien vermischt wird – das war auch in der öffentlichen Anhörung zu erkennen –: Wir sprechen eindeutig nur über den § 219a und nur darüber und nicht über § 218 ff. ({5}) Der dort gefundene Kompromiss ist das Ergebnis von langen gesellschaftlichen Diskussionen. Er bleibt davon unberührt. Genauso wenig sprechen wir von unangemessener Werbung. Sie ist und bleibt verboten, und das ist auch gut so, meine Damen und Herren. ({6}) Wir sprechen heute über die Zukunft von § 219a. Seit Februar liegen dazu mehrere Gesetzentwürfe vor. Die Bundesregierung hat uns versprochen, dass es schnell einen Vorschlag geben wird. Ewig ist nichts passiert. Kurz vor knapp gestern Abend die vermeintlich große Einigung! Und nun werden wir wieder vertröstet. Werden Sie endlich mal konkret! Wir brauchen Klarheit, und zwar jetzt! ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Nicole Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

§ 219a muss weg. Das fordern wir heute. Liebe SPD, gehen Sie mit gutem Beispiel voran, und stimmen Sie heute mit uns für unseren Antrag für die Abschaffung des § 219a. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Ingmar Jung, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingmar Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP! Frau Bauer, ich bin Ihnen zunächst dankbar, dass Sie klargestellt haben, dass es für Sie hier nur um § 219a und nicht um § 218 und § 218 ff geht. Ich gebe zu: Ich nehme Ihnen das ab. Aber wir hatten heute schon eine Debatte, bei der wir feststellen mussten, dass es großen Teilen dieses Hauses eben nicht nur um § 219a geht, ({0}) sondern um das gesamte Schutzkonzept, das Sie eben hervorgehoben haben. Das zu schützen, ist auch unsere Aufgabe. ({1}) Ich kann der FDP auch nicht vollständig abnehmen, dass es heute Abend um die Sache geht und um die Streichung des § 219a. Wir haben im Geschäftsgang noch einen Gesetzentwurf der FDP, der den § 219a gestalten will. Jetzt soll der Paragraf abgeschafft werden, und die FDP tut so, als hätte sie uns damals ja nur einen Kompromiss vorlegen wollen und wäre schon immer für die Streichung gewesen. ({2}) Wenn es Ihnen tatsächlich um den Kompromiss gegangen wäre, wenn Sie tatsächlich schon damals den § 219a hätten abschaffen wollen, dann frage ich mich, wie es zu Ihrer Begründung kommt. Ich möchte kurz, Herr Präsident, aus dem Gesetzentwurf zitieren: Angesichts des hohen Wertes ungeborenen Lebens und der hohen Sensibilität breiter Teile der Bevölkerung, die Schwangerschaftsabbrüche moralisch kritisch sehen, sowie der Vergleichbarkeit anderer Fälle strafbarer Werbung ist eine strafrechtliche Sanktionierung weiterhin angemessen. So die FDP in der Debatte noch vor zwei Monaten! Heute sind Sie plötzlich für die Abschaffung. Meine Damen und Herren, Sie versuchen – das ist legitim –, einen Konflikt, der zwischen den Regierungsfraktionen in den Auffassungen besteht – das ist ja gar keine Frage –, auszunutzen; aber Sie missbrauchen dieses wichtige Thema dafür, und das ist nicht angemessen. ({3}) Und Sie konnten natürlich, als Sie diesen Antrag gestellt haben, noch nicht wissen, dass es eine Vereinbarung zwischen den Ministerinnen und Ministern gibt, die von den Regierungsfraktionen beauftragt waren. Lassen Sie mich wenigstens kurz darstellen, was da gestern Abend vereinbart wurde.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Marco Buschmann?

Ingmar Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Jung, eingedenk der schweren Vorwürfe, die Sie der FDP-Fraktion machen, frage ich: Ist Ihnen bewusst, dass wir von Anfang an eine Beschlusslage hatten und Ihnen auch ein Angebot gemacht haben, dass wir Ihnen die Hand ausgestreckt haben für einen möglichst breiten Kompromiss, dass Sie aber in die Hand gebissen haben, die wir Ihnen entgegengestreckt haben, ({0}) und dass wir – weil Sie in diese Hand gebissen haben – jetzt auf die Position, die wir von Anfang an für diesen Fall in Aussicht gestellt haben, zurückgehen? Oder haben Sie es möglicherweise verpasst, sich auf Ihre Rede entsprechend vorzubereiten? ({1})

Ingmar Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Buschmann, wenn Sie eben genau zugehört hätten, dann hätten Sie gehört, dass ich sogar gesagt habe, dass ich Ihr Verhalten legitim finde. Sie hätten nur nicht verschleiern sollen, worum es Ihnen heute Abend geht. Sie haben einen Vorschlag gemacht, der für uns nicht tragfähig war, weil er nicht einen angemessenen Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen geschaffen hat. Deswegen haben wir diesem Vorschlag bisher nicht zugestimmt, und deswegen werden wir jetzt den besseren Vorschlag verfolgen, den die Ministerinnen und Minister unterbreitet haben. Das müssen Sie uns zugestehen. Dafür muss man in keine Hände beißen, bei allem Respekt. ({0}) Meine Damen und Herrn, lassen Sie mich wenigstens kurz zusammenfassen, was uns da gestern Abend vorgelegt wurde. Sie haben gesehen, dass mehrere Punkte vereinbart wurden – ich versuche, das so kurz wie möglich zu machen –: Dazu gehören die Fortsetzung der Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten auf der einen Seite – das gehört eben auch dazu – sowie der Schutz des ungeborenen Lebens durch Prävention, Aufklärung, Beratung und Hilfe auf der anderen Seite. Das ist etwas, was wir schon jetzt haben; aber es ist wichtig, das festzustellen. Vorgeschlagen wird die gesetzliche Verankerung des staatlichen Informationsauftrages, dass die Bundesärztekammer und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung alle Kontaktinformationen zur Verfügung stellen können. Dann ist vereinbart, dass Qualifizierungsmaßnahmen für Ärztinnen und Ärzte durchgeführt werden. Und § 219a StGB – jetzt komme ich zum Knackpunkt – soll dahin gehend geändert werden, dass es demjenigen, der einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen möchte, zum einen erlaubt ist, die Information zu geben, dass er diesen Eingriff vornimmt, und es ihm zum anderen erlaubt ist, auf die Kontaktinformationen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der Bundesärztekammer zu verweisen. Drittens. Neben diesem Informationsrecht, das wir in dieser Einigung zugestehen, bleibt aber die darüber hinausgehende Werbung verboten. Das ist ein Punkt, der uns natürlich nicht ganz unwichtig ist. Ich sage Ihnen ganz offen: Auch der Kompromiss, gerade der letzte Punkt, ist für uns in der CDU/CSU-Fraktion schwierig; das wissen Sie. Ich sage aber auch, warum. Weil für uns natürlich eine Aufweichung des § 219a StGB aus vielen Gründen, über die wir hier schon mehrmals miteinander diskutiert haben, extrem schwierig ist. Aber ich werde dafür werben, dass wir diesen Vorschlag, diesen Kompromiss am Ende umsetzen, weil ich weiß, dass es für die Kolleginnen und Kollegen der SPD an der Stelle genauso schwierig ist, diese Vereinbarung so zu treffen. – Deshalb bin ich Ihnen sehr dankbar, dass wir an der Stelle zusammengefunden haben. Ich hoffe, dass wir den Kompromiss am Ende auch so umsetzen werden. ({1}) Ich will noch einmal deutlich machen, warum wir an der Stelle so dogmatisch sind. ({2}) Wir haben eben vom Selbstbestimmungsrecht der Frau geredet. Frau Bauer, das ist ein hohes Rechtsgut, gar keine Frage; aber wir sind hier in einer Situation, in der wir widerstreitende Grundrechtsgüter haben. An dieser Stelle muss man zu einer vernünftigen Abwägung kommen, und das Bundesverfassungsgericht – nicht nur das – hat uns deutlich gemacht: Es gibt den Schutz des ungeborenen Lebens mit Grundrechtscharakter, und aufgrund des Untermaßverbotes gibt es auch eine staatliche Schutzpflicht für das ungeborene Leben gegen den Eingriff Dritter. Das dürfen wir an der Stelle nicht völlig vernachlässigen. ({3}) Bedenken Sie noch eines: Die Abwägung ist so problematisch, weil man das Schutzrecht, das Rechtsgut des ungeborenen Lebens, in einer Abwägung eben nicht einschränken kann. Sie können es nur gewähren oder nicht gewähren. Wenn Sie den Schwangerschaftsabbruch für zulässig erklären, wofür es in bestimmten Fällen Gründe gibt, dann führt das zum Totalverlust des Rechtsguts. ({4}) Das kann in Einzelfällen zulässig sein. Aber genau deshalb – das ist für uns klar – muss es ein absoluter Ausnahmefall bleiben. Deshalb sind wir an der Stelle so dogmatisch. Deshalb halten wir auch die Werbung durch die, die das vornehmen, für problematisch. Da werden wir auch in Zukunft so strikt bleiben. Ich hoffe, wir kommen da noch näher zusammen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Jung. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Jens Maier, AfD-Fraktion. ({0})

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liberal ist im liberalen Sinne nicht nur liberal, möchte man mit Loriot sagen, wenn man nun den zweiten Antrag der FDP-Fraktion zum Thema § 219a StGB sieht. ({0}) Es ist schon erstaunlich, mit welcher moralischen Beweglichkeit die Liberalen unterwegs sind. Hat man im ersten Antrag, ({1}) der nach seiner Überweisung noch im Rechtsausschuss schwebt und dort gestern wieder von der Tagesordnung genommen wurde, noch eine Beibehaltung des § 219a StGB in geänderter Form gefordert, will man ihn nun ganz streichen und schlägt sich damit vollständig auf die Seite der Links-Grünen, die das ja auch wollen. ({2}) – Ja, das ist schlimm. Hier hat die FDP-Fraktion nun endgültig die Maske fallen gelassen. ({3}) Wenn es darum geht, die eigene Klientel zu bedienen, dann gibt es bei den Liberalen keine Schamgrenze. In der Vergangenheit scheute man nicht davor zurück, Steuer­erleichterungen für die Inhaber von Privatflugzeugen durchzusetzen und diese Leute zu bedienen. Nun hat man eine neue Klientel entdeckt: die Abtreibungsärzte bzw. die Abtreibungsindustrie. Denen will man helfen, die will man vor Strafanzeigen schützen. Toll! ({4}) Bei dieser Hilfsaktion blickt man nur auf das Kleine, aber das Big Picture wird ausgeblendet, nämlich die Frage, was dabei schlussendlich herauskommt. Die Streichung des § 219a StGB ist nämlich der Einstieg in den Ausstieg, in den Ausstieg aus dem Schutz des ungeborenen Lebens. ({5}) Wie die Jusos über den Schutz des ungeborenen Lebens denken, wurde auf ihrem Bundeskongress Anfang des Monats unverhohlen ausgesprochen und mit großer Mehrheit beschlossen: Streichung des § 218 StGB, was Abbrüche bis in den neunten Monat hinein erlauben würde. ({6}) Dazu hat sich die AfD-Fraktion heute in der Aktuellen Stunde schon ausführlich und eindeutig geäußert. Auch Cornelia Möhring von den Linken, die wir heute Nachmittag in der Aktuellen Stunde schon erleben durften, hat sich in der Laudatio – Laudatio! – zur Preisverleihung des Clara-Zetkin-Preises an Frau Kristina Hänel – das ist die Ärztin, die alles ins Rollen gebracht hat – deutlich geäußert. Zitat: Zurzeit kämpfen wir gemeinsam darum, dass der § 219a StGB gestrichen wird. Und eines steht jetzt schon fest: Er wird in der jetzigen Form nicht mehr lange im Strafgesetzbuch stehen. Wir wollen, dass das Thema Schwangerschaft irgendwann ganz aus dem Strafgesetzbuch verschwindet. Das ist das, was Sie wollen. ({7}) Wie wir sehen, soll hier nach der Salamitaktik eins nach dem anderen kommen: erst die Abschaffung des § 219a StGB und dann irgendwann die Abschaffung des § 218 StGB. ({8}) Wenn wir nun den Kompromiss der Großen Koalition betrachten, der gestern vorgestellt wurde, dann fällt vor allem eins auf: Die CDU knickt wieder ein und macht einen weiteren Schritt nach links, in Richtung SPD. ({9}) Die CDU gefährdet damit mittelfristig – weil die Diskussion nicht abreißen wird – den Schutz des ungeborenen Lebens, und das unnötigerweise. ({10}) Es gibt keine nennenswerte Anzahl von Verurteilungen gemäß § 219a StGB, was darauf hindeutet, dass die Ärzte sehr wohl in der Lage sind, mit dieser Vorschrift umzugehen. 2016 hat es eine Verurteilung gegeben. Es existiert auch kein Informationsdefizit bei Frauen, die einen Abtreibungsarzt suchen, wie immer behauptet wird, wie vorhin schon wieder von Ihnen behauptet wurde. ({11}) Wäre es anders, dann wäre es seit 1993 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes nicht zu über 2,7 Millionen Abtreibungen gekommen. Gegenwärtig gibt es 100 000 Abtreibungen auf 700 000 Geburten. Das sind 100 000 Abtreibungen zu viel, meine Damen und Herren. ({12}) Hier wäre es für die CDU dringend geboten, einmal Haltung zu zeigen und nicht wieder des blanken Machterhalts wegen vor den Linken auf die Knie zu gehen. Meine Damen und Herren von der Union, wofür steht das C in Ihrem Namen? Für den Halbmond, oder wofür? ({13}) Für uns von der AfD ist der Schutz des ungeborenen Lebens nicht verhandelbar. Wir lehnen daher jeden Eingriff in das Gesamtkonzept des Schutzes ungeborenen Lebens ab. Vielen Dank. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat für die SPD-Fraktion der Kollege Johannes Fechner das Wort. ({0})

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Gast auf der Tribüne! Die SPD-Fraktion hat eine glasklare Haltung: Wir wollen für Ärztinnen und Ärzte Rechtssicherheit, wir wollen keinen strafrechtlichen Druck, und wir wollen, dass sich Frauen in schwieriger Situation einfach informieren können. Das ist unsere glasklare Position. Deshalb sind wir der Meinung, dass § 219a StGB eigentlich abgeschafft werden müsste, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Aber anders als die FDP, die den vorliegenden Antrag eingebracht hat, haben wir uns nicht vor der Regierungsverantwortung gedrückt, ({1}) sondern wir sind eine Koalition eingegangen, und das bedeutet eben, dass man manchmal Kompromisse machen muss. Jetzt wollen wir einen Kompromiss machen, weil wir zeitnah dafür sorgen wollen, ({2}) dass sich die Frauen einfacher informieren können und die Ärzte rechtssicher Informationen weitergeben können. Das ist unser Ziel, und deswegen sind wir kompromissbereit. ({3}) Nun gibt es das Papier der Bundesregierung. Und ja, ich hätte mir auch gewünscht, dass dort konkreter beschrieben ist, wie denn nun § 219a StGB aus Sicht der Bundesregierung geändert werden soll. Aber immerhin ist jetzt klargestellt vonseiten der Bundesregierung, dass der Tatbestand des § 219a StGB geändert wird. Das hat die Union bisher immer abgelehnt. Deswegen ist das jetzt ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Für die SPD ist klar: Ärztinnen und Ärzte müssen rechtssicher informieren können über Schwangerschaftsabbrüche. Deswegen wird die SPD-Fraktion keinem Kompromiss zustimmen, der § 219a StGB nicht so abändert, dass Ärztinnen und Ärzte sachliche Informationen über Schwangerschaftsabbrüche weitergeben können. Das ist unsere ganz klare Position. ({4}) Dass staatliche Stellen nach dem Papier der Bundesregierung informieren sollen, das ist gut; aber das alleine reicht eben nicht. Zu Recht heißt es deshalb in dem Papier, dass auch staatliche Einrichtungen informieren können. Sie sollen also auch informieren, also zusätzlich zu den Informationen, die die Ärzte selbst geben dürfen. ({5}) Gerade weil es immer mehr Strafanzeigen gegen Ärztinnen und Ärzte gibt, ist es gut, dass das Gesetzgebungsverfahren jetzt in Gang kommt. Es ist höchste Zeit. Wir erwarten sehr gespannt den Gesetzentwurf mit den Detailregelungen für Januar 2019. ({6}) Liebe Kollegen von der FDP, vor wenigen Monaten waren Sie noch gegen die Streichung und haben stattdessen einen Antrag auf Tatbestandsreduzierung, also auf Beibehaltung des § 219a StGB, gestellt. ({7}) Gerade einmal zehn Monate nachdem Sie diese Position vertreten haben, ändern Sie Ihre Meinung und vertreten plötzlich eine neue Position. ({8}) Dabei haben Sie sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, einen eigenen Gesetzentwurf zu formulieren, sondern Sie bitten die Bundesregierung, einen Gesetzentwurf vorzulegen. (Stephan Thomae [FDP]: Gibt es denn von Ihnen einen dazu? Ich finde, das ist eine schwache Leistung. Das werden wir so auch nicht unterstützen. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Vorschrift des § 219a StGB wurde im Mai 1933 eingeführt. Ich möchte das ausdrücklich sagen, damit auch die geistige Herkunft dieses Paragrafen hier einmal genannt ist. ({10}) Diese Vorschrift ist also viele Jahrzehnte alt. In der Bundesrepublik hat die FDP nicht weniger als sieben Justizminister und eine Justizministerin gestellt und 30 Jahre lang das Justizministerium geführt. Kein einziger dieser Justizminister hat in diesen 30 Jahren auch nur irgendeinen Versuch unternommen, diese Vorschrift zu streichen oder zu reformieren. Aber jetzt, kurz bevor die Regierung einen eigenen Entwurf vorlegt, kommen Sie mit dem Thema um die Ecke. Ich finde, das ist ein Stück weit scheinheilig und dem Ernst des Themas nicht angemessen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({11}) Die Position der SPD ist klar: Wir wollen, dass Ärztinnen und Ärzte über Schwangerschaftsabbrüche sachlich informieren können und dass sie das mit Rechtssicherheit und vor allem ohne strafrechtlichen Druck tun können. Dafür engagieren wir uns. ({12}) Deshalb werden wir keine faulen Kompromisse schließen, die den § 219a StGB nicht ändern und es Ärzten weiterhin verbieten, sachlich über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren. Diesen heutigen Zustand wird die SPD beenden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Vielen Dank. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Schönen Dank, Dr. Johannes Fechner. – Als Nächstes spricht zu uns die Kollegin Cornelia Möhring, Fraktion Die Linke. ({0})

Cornelia Möhring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004111, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren jetzt schon seit über einem Jahr über die notwendige Streichung des § 219a StGB. Ein kleiner Rückblick: Die Linke legt hier zeitgleich mit dem ersten Prozess gegen Kristina Hänel einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Die Grünen ziehen blitzschnell nach, die SPD auch. Die SPD blockiert sich dann aber ebenso blitzschnell und lässt sich seitdem von der Union am Nasenring durch die Manege führen. ({0}) Die FDP hat erkannt, dass sich die Union eh nicht bewegen wird, und legt sich heute mit ihrem Antrag auf eine Streichung fest. Das begrüße ich sehr. ({1}) Zwischendrin gab es zahlreiche Fachgespräche, Anhörungen, Debatten hier im Plenum und eine unglaublich breit getragene Unterstützung der Forderung nach Streichung des § 219a StGB von sehr vielen Verbänden und der Zivilgesellschaft. ({2}) Die Mehrheit der Bevölkerung sieht das genauso wie wir, und morgen wird im Bundesrat wahrscheinlich auch entsprechend über die Gesetzesanträge der Länder abgestimmt. Aber nicht nur das: Es gibt leider auch viele neue Anzeigen und weitere Prozesse. Die Informationsfreiheit von Frauen wird immer noch nicht gesichert, und die Versorgungslage verschlechtert sich zunehmend. Weltweit organisierte Gruppen, deren Ziel es ist, Frauen den legalen Abbruch faktisch nicht mehr zu ermöglichen, werden immer dreister, frecher, übergriffiger und, ja, auch gewalttätiger. Mit Gehsteigbelästigungen werden Frauen beschimpft, und Ärztinnen und Ärzte werden durch Anzeigen schikaniert, eingeschüchtert und kriminalisiert. Mein Fazit und das der Linken ist da ganz klar: So darf es nicht weitergehen. ({3}) Ich muss ganz ehrlich sagen: Vor diesem Hintergrund kann ich über die gestern vorgestellten Eckpunkte nur noch fassungslos den Kopf schütteln. Ich finde, das, was der Kollege Jung und der Kollege Fechner hier gesagt haben, ging ziemlich weit auseinander. Der § 219a soll bestehen bleiben. Dabei wissen wir alle, dass er eine völlig veraltete Norm ist und dass es in einer digitalisierten Informationsgesellschaft geradezu anachronistisch ist, wenn sich Frauen nicht in kurzer Zeit selber im Internet informieren dürfen. Offensichtlich sollen Ärztinnen und Ärzte für weiter gehende Informationen auf staatliche Stellen verweisen. Das heißt doch, dass die Fachleute immer noch nicht auch über diese fachlichen Fragen informieren dürfen. Das kann nicht sein. ({4}) Sie wollen unbedingt das Werbeverbot beibehalten. Dabei ist ein Werbeverbot im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen unsinnig. Keine Ärztin und kein Arzt will dafür werben. Sie können damit wahrlich auch nicht reich werden, und Frauen würden sich dafür auch nicht werben lassen. Im Übrigen noch eine Anmerkung zur Debatte: Frauen treiben nicht ab, weil sie dafür Infos bekommen. ({5}) Hier sei mir doch mal eine Frage an die Union erlaubt: Wann ist die Union eigentlich gegen Werbeverbote? Ich habe gerade gehört, beim Tabak. ({6}) In dem Zusammenhang hat der Herr Kauder gesagt – ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis –, der „mündige Bürger“ habe „das Recht, sich frei eine Meinung zu bilden“. Hört! Hört! Mich würde schon interessieren, wie viel ihr Bundesparteitagssponsor Philip Morris hingelegt hat. ({7}) Einen Beleg für Ihr anderes Argument, dass die Abbruchzahlen in den Ländern hochgehen, in denen es kein Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche gibt, werden Sie mit Sicherheit auch nicht liefern können; denn das Gegenteil ist der Fall. Ungewollte Schwangerschaften lassen sich übrigens immer noch am besten dadurch verhindern, dass man aufklärt und verhütet und indem Verhütung und Aufklärung für alle zugänglich sind. ({8}) Sollte dieser sogenannte Kompromiss nicht daran gemessen werden – Johannes Fechner hat das eben noch mal gesagt –, ob die Informationsfreiheit von Frauen gewährleistet wird und es keinen weiteren Fall Hänel mehr geben kann? Das ist in diesem Falle aber nicht so. Die Webseite von Kristina Hänel würde immer noch strafrechtlich verfolgt. Beide Punkte sind nicht gewährleistet. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, ich finde, ehrlich gestanden: Nehmt euch ein Beispiel an den Niedersachsen! Gebt die Abstimmung frei! Befreit euch aus der Zwangsumarmung mit der Union! Gemeinsam können wir den § 219a noch abschaffen. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Möhring. – Als Nächstes spricht zu uns die Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh, dass die FDP uns heute noch mal Gelegenheit gibt, über das zu reden, worum es beim § 219a StGB eigentlich geht, nämlich um das Strafrecht. Der ministerielle Text von gestern Abend ging leider völlig am Thema vorbei. Entweder man will Informationen durch Ärztinnen und Ärzte bestrafen oder eben nicht. Beides kann man nicht nebeneinander ins Gesetz schreiben. ({0}) Spätestens mit der Entscheidung des Berufungsgerichts in Sachen Hänel ist klar geworden: Bei dieser Verurteilung handelt es sich nicht um ein Fehlurteil, sondern es geht um ein fehlerhaftes Gesetz. Die Rechtsprechung ist an Recht und Gesetz gebunden. Das kann man auch durch politische Nebenabsprachen nicht ändern. Die entsprechenden Gesetzesvorschläge liegen vor und wurden bereits zu Jahresbeginn in den Bundestag eingebracht – auch der Entwurf der SPD. Wir hatten eine Expertenanhörung, in der viele Experten die Abschaffung dieser Strafrechtsnorm nicht nur für sinnvoll, sondern auch für verfassungsrechtlich geboten hielten. Ich zitiere noch einmal das Bundesverfassungsgericht: Wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es dem Arzt auch ohne negative Folgen ... möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienste in Anspruch nehmen können. ({1}) Nichts anderes hat Frau Hänel gemacht, und dafür musste das Gericht sie nach § 219a verurteilen. Leider wurden seit Juli die überwiesenen Gesetzentwürfe im Rechtsausschuss von Union und SPD immer wieder von der Tagesordnung gestimmt, zuletzt gerade erst gestern. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Ihre Argumentation gegen die Abschaffung dieser Strafnorm ist inhaltlich nicht konsistent. Sie behaupten, es gehe bei den Strafnormen zum Schwangerschaftsabbruch um eine Gesamtkonstruktion, die zusammenbrechen werde, wenn man einen einzigen Baustein verändere. Das Gegenteil davon ist vielmehr richtig. Der § 219a ist schon deshalb keine tragende Säule des Kompromisses von 1993, ({3}) weil er bereits vor dieser Zeit identisch so existierte und bei der Neuregelung schlicht vergessen worden ist. ({4}) Das zeigt sich schon daran, dass der § 219a nach wie vor nicht zwischen rechtmäßigen und rechtswidrigen Abtreibungen differenziert. Außerdem geht es hier gerade nicht darum, den befriedeten Konflikt um den § 218 wieder aufzumachen, wie Sie es uns ständig unterstellen. Wenn Sie beim § 219a StGB jetzt allerdings nicht handeln und immer mehr angeklagte Ärztinnen und Ärzte verurteilt werden, dann sind Sie es, die diesen Konflikt unnötigerweise eskalieren. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Motschmann aus der CDU-Fraktion?

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wer?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Motschmann.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie können dann auch noch länger reden.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte sehr.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bitte, Frau Kollegin Motschmann.

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, es gibt in Deutschland 100 000 Abtreibungen im Jahr. Offenbar sind 100 000 Frauen an die nötigen Informationen gekommen. Für wie blöd halten Sie eigentlich die Frauen, dass Sie annehmen, dass sie aufgrund der derzeitigen Rechtsprechung nicht an die notwendigen Informationen kommen? Das ist so leicht und so unkompliziert. ({0}) Ich habe noch nicht eine Frau getroffen, die abtreiben wollte und nicht die nötigen Informationen bekommen hat. ({1}) Erklären Sie mir also bitte mal, warum Sie hier an diesem Gesetz was ändern wollen. ({2})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für diese Frage. – Das ergibt sich ja gerade aus dem Urteil gegen die Frau Hänel; denn die aktuelle Lage führt dazu, dass Ärztinnen und Ärzte genau wegen dieser Situation zu Freiheitsstrafen und Geldstrafen verurteilt werden, und das kann ja wohl nicht sein. – Damit ist Ihre Frage beantwortet. ({0}) Ich hatte Ihnen gerade gesagt, dass Sie es letztlich sind, die den Konflikt eskalieren, wenn Sie bei § 219a nicht handeln; denn die sogenannten Lebensschützer stehen schon bereit, die alten Gräben wieder aufzureißen, wie wir das heute an der Aktuellen Stunde der AfD ja auch sehen konnten. Diese nutzen die Defizite des Gesetzes nämlich, um flächendeckend Strafanzeigen zu erstatten, und das trifft vor allem die Ärztinnen und Ärzte, die letztlich den Kompromiss von 1993 praktisch umsetzen und die Durchführung legaler Abbrüche sicherstellen. ({1}) Nur die Streichung dieses Straftatbestandes kann verhindern, dass wir in den kommenden Monaten eine Verurteilung nach der anderen erleben müssen. ({2}) Die FDP wollte Ihnen mit einem Entwurf, der nur teilweise Streichungen enthielt, sogar noch Brücken bauen. Aber auch diesen Weg sind Sie nicht mitgegangen. Ich bin froh, dass die FDP deshalb mit dem heutigen Antrag nun auch die Streichung des gesamten Tatbestandes fordert. Dieser Antrag findet unsere volle Zustimmung. ({3}) Nun zur SPD. Wenn Sie noch einen Funken Glaubwürdigkeit verteidigen wollen, dann lassen Sie uns in der nächsten Ausschusssitzung über unsere Gesetzentwürfe debattieren. Wir wären nach wie vor bereit, dem Entwurf der SPD zuzustimmen. Das, was Ihre Ministerinnen gestern Abend aufgeschrieben haben, ist rechtsstaatlich gesehen grober Unfug, und gerade die Justizministerin müsste das eigentlich wissen. ({4}) Ein überschießender, teilweise verfassungswidriger Straftatbestand wird durch eine Ergänzung nicht geheilt. Gerade im Strafrecht, dem schärfsten Schwert des Rechtsstaates gegen seine Bürger, gelten der Bestimmtheitsgrundsatz und das Gebot der Rechtsklarheit. Stehen Sie zu Ihrem bisherigen Gesetzentwurf, und lassen Sie uns den hier im Januar 2019 mit einer klaren Mehrheit aus FDP, SPD, Grünen und Linken verabschieden!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Würden Sie bitte zum Schluss kommen, Frau Kollegin!

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es mag sein, dass Ihre Koalition dann am Ende ist; aber die SPD hätte im Abgang noch einmal Rückgrat bewiesen und einen unhaltbaren Zustand beseitigt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die betroffenen Ärztinnen, Ärzte und Frauen würden es Ihnen danken. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Keul. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte die Debatte noch einmal grundrechtlich einordnen, weil es um Werte und Grundrechte geht. Auf der einen Seite steht das Recht der Frau auf Selbstbestimmung – ohne jede Frage –, und auf der anderen Seite steht das Recht des ungeborenen Kindes auf Schutz und Würde. ({0}) Dieser Grundrechtskonflikt wurde nach einem langen Ringen über 40 Jahre hinweg durch eine liberale Fristenlösung, ergänzt um die Pflicht zur Beratung, beendet. Die jetzige Rechtslage besagt, dass die Frau frei ist in ihrer Entscheidung und mit ihrem Gewissen ausmachen muss, wie sie den Konflikt löst. ({1}) Aus der verfassungsrechtlichen Pflicht zum Lebensschutz und zur Bewahrung der Würde des ungeborenen Lebens erwächst aber die Pflicht zur Beratung. Das ist die aktuelle Rechtslage. Aus dieser Rechtslage ergibt sich letztlich auch ein Schutzkonzept, ({2}) und das Werbeverbot ist Teil dieses Schutzkonzeptes. ({3}) Der Gesetzgeber darf sich doch nicht widersprüchlich verhalten. ({4}) Auf der einen Seite verlangt der Gesetzgeber eine auf Lebensschutz ausgerichtete Beratung. Wie würde der Gesetzgeber die auf Lebensschutz ausgerichtete Beratung denn sicherstellen, wenn er auf der anderen Seite Werbung für Abbrüche erlauben würde? Das passt nicht zusammen, und deswegen gehört der § 219a StGB zum Schutzkonzept. ({5}) Meine Damen und Herren von der FDP, die verfassungsrechtliche Einordnung verbietet auch, dass Sie hier einen Antrag zur Abstimmung stellen, der einzig und allein taktisch motiviert scheint. Im Gesetzentwurf vom 20. Februar dieses Jahres haben Sie die verfassungsrechtliche Einordnung noch richtig vorgenommen. Ich zitiere aus Ihrem Gesetzentwurf: Angesichts der hohen Bedeutung des ungeborenen Lebens erscheint jedoch eine strafrechtliche Reaktion ... – gemeint ist § 219a – insgesamt angezeigt. ({6}) Sie führen darin weiter aus: Es wäre möglich, den Straftatbestand des § 219a StGB vollständig zu streichen. Dies wird jedoch nicht dem staatlichen Schutzauftrag für das ungeborene Leben gerecht ... Sie zitieren dann auch noch die Fundstelle für das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Sie waren im Februar also bereits klüger. ({7}) Deswegen machen wir noch mal darauf aufmerksam, dass für die Union eine Abschaffung des § 219a nicht infrage kommt. Wir machen aber auch deutlich, dass wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner Unwägbarkeiten und Informationsdefizite beseitigen wollen. Wir wollen, dass die Bundesärztekammer und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung besser informieren können, und wir wollen auch, dass die Ärzte ihrer Verantwortung gerecht werden können, sodass die Information, wenn Ärzte informieren, nicht unter Strafrechtsvorbehalt steht. Das wollen wir im Jahr 2019 gemeinsam entwickeln, und das wollen die beiden Fraktionen der Großen Koalition auch in Gesetzesform gießen. Aber klar sein muss auch: Ein Schwangerschaftsabbruch ist kein medizinischer Eingriff wie jeder andere. Wir wollen nicht, dass für Schwangerschaftsabbrüche geworben wird. Ein Schwangerschaftsabbruch ist kein normaler Eingriff; es ist nicht etwas wie Zähnebleichen oder was anderes. Es geht um den Schutz des menschlichen Lebens, und da haben wir einen verfassungsrechtlichen Auftrag. ({8}) Ich bin mir sicher, dass wir dieser verfassungsrechtlichen Pflicht gemeinsam Rechnung tragen werden. Wir werden Informationen dort, wo sie geboten und verfassungsrechtlich zulässig sind, auf alle Fälle verbessern. Wir werden aber insgesamt an diesem Konzept nichts ändern. Das Konzept heißt ganz klar, dass es eine Pflicht zur Beratung gibt. Diese Beratung hat den Sinn und Zweck, sich für das Leben zu entscheiden. Wenn sich jemand nicht für das Leben entscheiden kann, ist es eine Gewissensfrage, und dann muss eine Frau auch Zugang zu einem Arzt und zu Informationen haben. Aber dieses Gesamtkonstrukt, das eben auch ein Werbeverbot beinhaltet, werden wir nicht zur Disposition stellen. ({9}) Wir werden eine kluge Fortentwicklung vornehmen; aber wir werden im Sinne des lang erarbeiteten Kompromisses und im Sinne des Lebensschutzes nicht darauf verzichten können, dass dieses Konstrukt insgesamt beibehalten wird. Lassen Sie uns gemeinsam an einer klugen Lösung arbeiten. Herzlichen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Ullrich, herzlichen Dank. – Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt spricht zu uns die Kollegin Gülistan Yüksel, SPD-Fraktion. ({0})

Gülistan Yüksel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004448, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren vor den Bildschirmen! Auf der Besuchertribüne befindet sich immerhin eine Dame: Guten Abend! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Mann, der Dr. Kristina Hänel aus Gießen anzeigte, erzählte in einem Interview mit der „taz“ freimütig – ich zitiere –: Ich überlege mir: Wo würden schwangere Frauen im Internet suchen? Also auf Seiten von Arztpraxen. Ich gucke dann, ob ich auf Seiten stoße, auf denen angegeben ist, dass Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden. Wenn das der Fall ist, dann erstatte ich online Strafanzeige. Diese Kaltherzigkeit halte ich für unerträglich. ({0}) Alle, die auch nur etwas Empathie haben, müssen darüber empört sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Eine ungewollte Schwangerschaft lässt Frauen verzweifeln und bringt sie in eine sehr belastende Ausnahmesituation. In dieser Ausnahmesituation dürfen wir sie als Gesellschaft und Politik nicht alleinelassen. ({1}) Dr. Hänel hat auf ihrer Internetseite sachlich über die von ihr selbstverständlich legal durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche informiert und ist infolgedessen zu einer Geldstrafe von 6 000 Euro verurteilt worden. Das kann nicht sein. Für uns als Gesetzgeber heißt dies: Wir müssen handeln; denn leider sorgt die gegenwärtige Rechtslage dafür, dass sich viele Ärztinnen und Ärzte unter Druck gesetzt fühlen und nicht offen und sachgemäß informieren dürfen. Wir wollen dies aber ermöglichen. ({2}) Bisher laufen Frauen Gefahr, auf zwielichtigen Webseiten von fundamentalistischen, selbsternannten Lebensschützern zu landen. Statt sachlicher Informationen im Interesse der Frauen steht hier die Missionierung für die eigene rückwärtsgewandte Ideologie im Vordergrund. ({3}) So werden ungewollt schwangere Frauen massiv unter Druck gesetzt. Die Verfechter des § 219a stellen auch in den Raum, man würde mit der Streichung Tür und Tor für reißerische Werbung öffnen. Das ist doch absurd. ({4}) Wer so etwas unterstellt, hat sich noch nie ernsthaft in die Gefühlswelt einer verunsicherten, ungewollt schwangeren Frau hineinversetzt und meint, dass Frauen nicht selbstständig verantwortlich entscheiden können. ({5}) Frauen müssen die Möglichkeit haben, sich sachlich und offen zu erkundigen; denn durch das bestehende Informationsverbot werden Frauen, die sich ohnehin in einer schwierigen Situation befinden, in weitere Nöte gebracht. Sie erfahren nicht die Unterstützung, die sie brauchen und die ihnen zusteht. Wir müssen deshalb den strafrechtlichen Druck auf Ärztinnen und Ärzte abbauen und so Rechtssicherheit schaffen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Jahr feiern wir die Einführung des Frauenwahlrechts vor 100 Jahren und damit einen großen und wichtigen Schritt in Richtung Gleichberechtigung von Mann und Frau. Zur Gleichberechtigung gehört auch die Selbstbestimmung der Frau. Eine Änderung des Gesetzes ist daher dringend notwendig. ({7}) Lassen Sie mich kurz eine Bemerkung zu dem ganzen Verfahren machen, das hoffentlich bald ein tragfähiges Ende findet: Die Entscheidungsfindung mit unserem Koalitionspartner gestaltete sich leider sehr schwierig. Deshalb hatten wir uns darauf verständigt, dass die Bundesregierung einen Kompromissvorschlag zu § 219a erarbeiten soll. Dieser Vorschlag liegt uns nun seit gestern Abend vor. Wir werden den Gesetzestext kritisch prüfen, beraten und dann unsere Entscheidung treffen. Für uns stehen die Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte und Informationsmöglichkeiten für ungewollt schwangere Frauen im Mittelpunkt. Ich appelliere an unseren Koalitionspartner, sich hierzu Gedanken zu machen und die Entscheidung im nächsten Januar freizugeben. ({8}) Ihre Blockadehaltung hilft keiner einzigen Frau und auch nicht den Ärztinnen und Ärzten.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Gülistan Yüksel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004448, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde es begrüßen, wenn wir bei diesem sehr emotionalen Thema im Sinne der Ärztinnen und Ärzte und der betroffenen Frauen eine große Mehrheit hier im Parlament finden würden. Jetzt aber wünsche ich Ihnen allen erholsame Festtage und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zum Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/6425 mit dem Titel „§ 219a StGB unverzüglich streichen – Informationen über Schwangerschaftsabbrüche zulassen“. Die Fraktion der FDP wünscht Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Überweisung an den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragte Ausschussüberweisung? – ({0}) Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Damit ist die Überweisung mit den Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses so beschlossen. ({1}) Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksache 19/6425 nicht in der Sache ab. Damit entfällt auch die von der Fraktion der AfD beantragte namentliche Abstimmung.

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Schönen guten Morgen, sehr geehrte Damen und Herren! Wir stehen kurz vor der einseitigen Aufkündigung des INF-Vertrages seitens der Vereinigten Staaten. Der INF-Vertrag umfasst die vollständige Abrüstung und das Verbot nuklear bestückbarer ballistischer Raketen und Marschflugkörper mittlerer Reichweite. Diese einseitige Aufkündigung durch die USA reiht sich ein in eine Reihe weiterer einseitiger Vertragskündigungen der letzten anderthalb Jahrzehnte: des ABM-Vertrages im Jahre 2002, kürzlich des Iran-Nukleardeals, kürzlich des Pariser Klimaabkommens und die Verweigerung der Ratifikation des AKSE-Vertrages seitens der NATO-Staaten. Sehr geehrte Damen und Herren, wir beobachten eine zunehmende bedrohliche Entrechtlichung der internationalen Politik, und nun soll es auch noch dem INF-Vertrag an den Kragen gehen. ({0}) Die USA und Russland werfen sich gegenseitig einen Vertragsbruch vor. Angeblich lägen den Amerikanern wieder Beweise vor, und die europäischen NATO-Mitgliedstaaten inklusive der Bundesregierung verfügen selbst über keine eigenen Erkenntnisse, unterstützen aber ganz kenntnisfrei die US-Version der Geschichte und stigmatisieren ebenso kenntnisfrei die russische Version. Das ist das Ergebnis des NATO-Außenministertreffens vor wenigen Wochen. Ich finde das Verhalten der Europäer und auch der Bundesregierung angesichts der gemachten Erfahrungen mit den Erkenntnissen US-amerikanischer Nachrichtendienste – Beispiel: Irak 2003 – sehr befremdlich. ({1}) Sehr geehrte Damen und Herren, wir MdBs können nicht über gesicherte Erkenntnisse verfügen, auch die USA nicht. Wir können es deshalb nicht, weil Ferndiagnosen wie Satellitenaufklärung einfach nicht ausreichend sind. Was wir brauchen, sind Vor-Ort-Inspektionen. Nur die können Leistungsparameter und Leistungsfähigkeiten bei Raketen, Marschflugkörpern und Startersystemen überhaupt klären. ({2}) Aber genau das findet nicht statt. Es entsteht der Eindruck, dass beide Seiten, weder die USA noch die Russische Föderation, kein Interesse daran haben, den INF-Vertrag fortzusetzen. Sie, beide Seiten, kämpfen vielmehr um die Propagandahoheit in Bezug darauf, wer vor der Weltöffentlichkeit als Vertragsbrecher dastehen könnte. Warum eine Wiederbelebung des INF-Vertrages und des INF-Verifikationsregimes nicht möglich sein soll, erschließt sich mir nicht. Der Vertrag kann und muss reaktiviert werden, und er muss den aktuellen Herausforderungen angepasst werden – nämlich Verifikation bei vermuteten Vertragsverletzungen. ({3}) Ich glaube, die Europäer müssten ein Interesse daran haben, in diesem Konflikt eine Vermittlerrolle zu spielen. ({4}) Umso erschreckender finde ich, dass die europäischen NATO-Staaten wieder mal blindlings den Amerikanern folgen. Damit haben sich die Europäer, insbesondere auch die Bundesregierung, als neutrale Vermittler in diesem Konflikt erneut ins Abseits geschossen. ({5}) Diese Nibelungentreue gegenüber den USA und auch Trump wird sich rächen, nämlich dann, wenn die USA die Aufstellung nuklearer Mittelstreckenträgersysteme in Europa und in Deutschland fordern werden. Wer A sagt, wird irgendwann genötigt, auch B sagen zu müssen. Die Bundesregierung wird von uns aufgefordert, unmissverständlich klarzumachen, dass auf deutschem Staatsgebiet nie wieder Mittelstreckenraketen oder Marsch­flugkörper stationiert werden. ({6}) Wir sind uns sicher, dass die Menschen in diesem Land eine Stationierung auch nicht akzeptieren werden. Die Linke wird sich sämtlichen Protesten, die sich gegen eine Stationierung aussprechen, vorbehaltlos anschließen und dabei an vorderster Front mitwirken. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Neu. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Armin-Paulus Hampel, AfD-Fraktion. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe beide Gäste auf der Zuschauertribüne! Man muss betreffend des INF-Vertrages doch ein paar alte historische Zähne ziehen, die ja immer wieder gerne angeführt werden, nämlich zum Beispiel, dass es damals angeblich die Friedensbewegung war, die das Ergebnis des INF-Vertrages erst möglich gemacht hat. Das Gegenteil war der Fall, und das wissen Sie auch alle. Es war der mutige SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt, den Sie gestürzt haben ({0}) der sich damals vehement dafür eingesetzt hat, dass nicht nur auf Augenhöhe verhandelt, sondern im Zweifelsfall auch nachgerüstet wird, und das war damals, in den 80er-Jahren, richtig so. ({1}) Kein Mensch möchte in Europa wieder Mittelstrecken stationiert haben, wie es damals die Sowjets mit der SS-20 und der SS-22 in Osteuropa gemacht haben; keiner möchte das. Wir erkennen aber auch – und das ist schon längst Thema in den Diskussionen, auch in unseren Ausschüssen, gewesen –, dass es hier nicht um Europa geht, sondern dass beide Mächte, Russland und Amerika, mit sorgenvollem Blick auf die Entwicklung in China, in Indien, in Pakistan und in anderen Ländern gucken, weil sie durch den Vertrag dazu verpflichtet sind, keine dieser Mittelstreckenraketen aufzubauen, während andere das theoretisch könnten; sie tun es ja auch. Also muss es doch in unserem Interesse sein, dass wir über den amerikanisch-russischen Horizont hinausblicken, und dazu ergibt sich für uns im nächsten Jahr die Möglichkeit, wenn Deutschland Mitglied im UN-Sicherheitsrat ist. Wir haben dann sogar abwechselnd mit Frankreich den Vorsitz dort, und dann müsste man doch aus deutscher und auch aus europäischer Perspektive einen Vorschlag, der vielleicht schwierig zu vermitteln, aber zumindest den Versuch wert ist, machen und sagen: Wir wollen nicht nur eine Vereinbarung zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, sondern wir wollen einen weltweiten Bann von Mittelstreckenraketen erreichen. Das wäre ein neuer Ansatz zur weltweiten Nichtanerkennung und vor allem zur Nichtstationierung von Mittelstreckenraketen. Es wäre ein guter Ansatz. Er wäre schwer durchzusetzen – da gebe ich Ihnen recht –; China würde sich dem wahrscheinlich nicht anschließen wollen. ({2}) Aber wenn es möglich wäre, dann wäre es doch ein erfolgreicher Schritt. Wenn das nicht möglich wäre, dann sollten wir uns auf Europa konzentrieren. ({3}) Wenn unsere amerikanischen Freunde uns in diesem Sinne nicht folgen wollten, dann müsste es dennoch in unserem Interesse sein, dass diese Raketen auf europäischem Boden nicht stationiert werden, weil sie mit einer Reichweite von 500 bis 5 000 Kilometern unser Territorium in Deutschland und Europa unmittelbar betreffen. Dann müssten wir unseren amerikanischen Freunden klarmachen, dass wir aus einer europäischen Perspektive heraus vielleicht mit den Russen verhandeln, um einen INF-Vertrag zwischen Europa und Russland hinzubekommen, wenn es zwischen den USA und Russland nicht möglich ist. ({4}) Weil das so ist, müsste es doch auch unsere Intention sein, mit Argumenten zu kommen, die die Russen verstehen. Ich gebe ja vielen Kritikern Russlands recht, wenn es heißt, dass die Russen nur auf Augenhöhe verhandeln. Also müsste man im Sinne eines erfolgreichen Verhandelns heute auch so konsequent sein wie damals bei dem INF-Vertrag, als wir mit dem Doppelbeschluss klar gesagt haben: Wenn die SS-20 und SS-22 nicht aus Osteuropa verschwinden, rüstet der Westen mit Pershing-Raketen nach. – Erst dann – erinnern Sie sich bitte alle – hat die Sowjetunion damals reagiert. Wir müssten also heute auch so konsequent sein und als Europäer – wenn es uns gelingt; vielleicht zusammen mit der Trump-Adminis­tration – den Russen anbieten: Wenn ihr die Mittelstreckenraketen wieder verschwinden lasst, dann werden wir keine in Europa aufbauen. – ({5}) Der INF-Vertrag hat damals funktioniert. Warum sollte er heute nicht noch mal funktionieren? ({6}) – Mit den Mittelstreckenraketen. Genau, Frau Kollegin. – Es müsste doch die Initiative der Deutschen sein, und es müsste doch in unserem europäischen Interesse sein, unseren amerikanischen wie unseren russischen Freunden zu sagen: Wir wollen es nicht in Europa haben. – Herr Hardt, Sie gucken mich so kritisch an. – ({7}) Ist es nicht unser gemeinsames Interesse? Wir müssten es durchsetzen wollen; aber diese Intention erkenne ich nirgendwo. Ich erkenne immer nur eine Verurteilung Russlands: Die haben noch die Iskander-Raketen, und deswegen müssen wir sofort mit schwerstem Kaliber dagegen vorgehen. Nein, überzeugen wir unsere amerikanischen Freunde, und schaffen wir vor allen Dingen eine europäische Perspektive. Gehen wir nach Moskau, verhandeln wir mit den Russen auf Augenhöhe, und sagen wir ihnen: Wir wollen, wenn die Amerikaner nicht mitmachen können, eine europäisch-russische Vereinbarung. – Wir können es, und im Interesse unserer Völker wollen wir es auch. Danke schön, meine Damen und Herren. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Roderich Kiesewetter, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kameramann und liebe Journalisten! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal freue ich mich, dass um diese Zeit, bei diesem für unsere Sicherheit so wichtigen Thema die Besetzung überdurchschnittlich ist. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen am frühen 14. Dezember, an dem die letzte Sitzung in diesem Jahr stattfindet. ({0}) Im Übrigen ist der 13. Dezember auch ein historischer Tag – ich will meine acht Minuten nutzen, um es anzusprechen –: Heute vor genau 116 Jahren fand die längste Rede in diesem Gebäude statt, die längste überhaupt in einem deutschen Parlament: acht Stunden. ({1}) Ich versuche, meine Punkte in acht Minuten rüberzubringen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir haben hier einen sehr einseitigen Antrag. Mir geht es hier nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, sehr nüchtern zu analysieren. Ich möchte aus dem Antrag der Linken drei Punkte herausgreifen, an denen er erhebliche Schwächen hat. Erstens. Gemäß Antrag sollen die USA dazu aufgefordert werden, zum INF-Vertrag zurückzukehren; die Ankündigung, ihn möglicherweise aufzukündigen, sei sicherheitspolitisch kontraproduktiv. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, verkennt Ursache und Wirkung. Warum haben denn die USA die Aufkündigung vorgenommen? Sie haben sie vorgenommen, weil die USA seit 2014 über 30-mal versucht haben, mit den Russen in ein strategisches Gespräch über den Erhalt des INF zu kommen, und die Russen jedes Mal, 30-mal, das Gespräch abgelehnt haben. ({2}) Seit dem Jahr 2007 – mit der Erklärung von Putin und Lawrow bei der Münchner Sicherheitskonferenz – ist klar, dass die Amerikaner den INF-Vertrag – Entschuldigung! –, die Russen den INF-Vertrag ({3}) als ausgehöhlt betrachten. Sie haben seinerzeit klargemacht, dass die Art und Weise, wie der INF-Vertrag verfasst ist, in einer Zeit der multilateralen Bedrohungen nicht mehr passt. Aber die Zeit haben sie eben nicht genutzt, um Gespräche zu führen und um zu versuchen, den Vertrag zu erhalten, sondern die Russen haben, wie sie im Frühjahr dieses Jahres eingeräumt haben – zumindest haben sie im Februar nicht widersprochen –, die Zeit genutzt, um ein neues System mit einer Reichweite über 2 000 Kilometern zu entwickeln, das bereits getestet ist und sich in der Einführung befindet. Meine Damen und Herren, die Russen haben den Vertrag gebrochen, und die Amerikaner haben es offengelegt – nicht umgekehrt. Das gehört zur Wahrheit dazu. ({4}) Die zweite Schwäche Ihres Antrags, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ist eine noch viel schwierigere: Sie fordern, einfach den Verifikationsmechanismus des INF-Vertrags fortzusetzen. Wie Sie eigentlich wissen müssten, ist in den Jahren 1988 bis 2001, über 13 Jahre hinweg, in zehn Staaten eine Abrüstung der Mittelstreckenraketen erfolgt, und das mit Transparenz und Überprüfung. Nach Abschluss, 2001, wurden auch die Überprüfungs- und Verifikationsmechanismen abgeschafft, weil man sich vertraut hat und weil man diese Systeme abgelöst hat. Seit 2001 sind diese Waffensysteme quasi aus Europa verschwunden. Erst mit der Aufklärung, die in diesem Jahr stattfand, hat man festgestellt, dass Russland diesen Vertrag in den letzten Jahren gebrochen hat. Der dritte Schwachpunkt Ihres Antrags ist etwas, wo die AfD Ihnen auf den Leim gegangen ist: Es ist die Hoffnung auf einen europäischen Sonderweg gemeinsam mit Russland. Sie fordern nämlich, die nukleare Teilhabe aufzugeben. ({5}) Mit der nuklearen Teilhabe erreichen wir aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Länder wie Polen nicht wollen, dass die NATO-Russland-Grundakte gebrochen wird, und dass Länder wie Polen nicht verlangen, Nuklearwaffen auf ihrem Territorium zu stationieren. Wir erreichen mit der nuklearen Teilhabe, die in Europa von den Niederlanden, Belgien, Deutschland, Italien und der Türkei geleistet wird, dass die Proliferation von Nuklearwaffen in Europa verhindert wird. Das ist ein Mehrwert, den wir nicht vergessen dürfen. Darüber hinaus bedeutet es, dass wir die Amerikaner dazu verpflichten, auf europäischem Boden nukleare Schutzgarantien zu übernehmen; denn es handelt sich um US-Nuklearwaffen. Deshalb ist ein Sonderweg Europas mit Russland schlichtweg falsch, ({6}) weil er Zonen unterschiedlicher Sicherheit schafft und die Amerikaner von Europa abkoppelt. Wir als CDU/CSU stehen nicht hinter solch einem Vorschlag. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte die letzten Minuten meiner Redezeit darauf verwenden, Wege aufzuzeigen, wie man diesem Dilemma entkommen kann. Zunächst einmal brauchen wir mehr Transparenz und Verhandlungen. Es ist ein Verdienst der Bundesrepublik Deutschland, dass erreicht wurde, dass die Amerikaner den Vertrag eben nicht aufgekündigt haben, sondern dass wir jetzt ein 60-tägiges Moratorium haben. Diese zwei Monate müssen wir nutzen, um zu verhandeln, um auf Augenhöhe, wie es mein Vorredner sagte, mit Russland ins Benehmen zu kommen. Das bedeutet aber auch – das ist die vierte Schwäche Ihres Antrags –, dass wir nichts von vornherein ausschließen sollten. ({8}) Ich bin kein Befürworter einer Nachrüstungsdebatte; aber ich bin dafür, dass wir alles erwägen und überlegen. Wenn Russland nicht bereit ist, diese Systeme abzuschaffen, sollten wir Russland dazu bringen, diese Systeme jenseits des Urals zu stationieren, um seiner Sicherheitsperzeption an der Süd- und Südostflanke nachzukommen. Wenn wir das aber erreichen wollen, müssen wir das aushandeln. Wir brauchen ein vertrauensbildendes System, mit dem auch die russischen Systeme beobachtet und verifiziert werden können. Umgekehrt sollten wir zulassen, dass hinsichtlich der Systeme der Raketenabwehr, die die USA in Rumänien stationiert haben, geprüft wird, inwieweit Transparenzmaßnahmen zulässig sind. Ein weiterer Schritt, der erforderlich ist, ist die Wiederbelebung des NATO-Russland-Rats, um auf dieser Ebene in den unmittelbaren militärischen Dialog zu treten. ({9}) Denn nach Abfeuern einer Rakete – darüber müssen wir uns im Klaren sein – kann man in der knappen Zeit nicht feststellen, ob es ein Test oder ein Abschuss ist. Ferner kann man nicht feststellen, ob es sich um eine nukleare oder konventionelle Rakete handelt. Deswegen ist es so wichtig, nicht nur das rote Telefon auf höchster politischer Ebene zu haben, sondern auf militärischer Ebene vertrauensbildende Maßnahmen, Kontakte und ständige Kommunikation zu ermöglichen. ({10}) Ein Letztes. Die Lage ist ernst. Wir sollten uns auch darauf einstellen, dass dieser Vertrag nicht fortgesetzt wird. Wenn er scheitert, müssen wir dafür sorgen, ({11}) dass an seine Stelle vertrauensbildende Maßnahmen und Sicherheitsgarantien treten, und unserer Öffentlichkeit deutlich machen, was denn das Interesse der USA und Russlands an einer möglichen Aufhebung dieses Vertrages ist: Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich Staaten wie China, Pakistan, Indien und Iran Mittelstreckenraketen nuklearer Art zugelegt, die nicht unter das INF-System fallen. Die Ausverhandlung eines globalen Vertrages, der von anderen mitgetragen wird, dauert viele Jahre. Um solche Verhandlungen zu ermöglichen, brauchen wir in der Zwischenzeit vertrauensbildende Maßnahmen, einen Dialog. Es ist auch die Aufgabe der Bundesrepublik und der Europäischen Union, zu erreichen, dass andere Staaten die sicherheitspolitischen Bedenken nicht nur teilen, sondern auch bereit sind, daran mitzuwirken, dass wir ein globales Regime der Rüstungskontrolle bekommen. ({12}) Wenn uns das gelingt – da haben sich Deutschland und Frankreich, die im März und im April 2019 den Vorsitz im Sicherheitsrat haben, einiges vorgenommen –, haben wir den Frieden sicherer gemacht. ({13}) Das gelingt aber nicht mit einem Antrag der Linken, die die Schuld einseitig den Amerikanern zuweist und gar unsere nukleare Teilhabe aufgeben will. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Kiesewetter, das Präsidium ist auch zu dieser Tageszeit noch hellwach. Wir haben Ihre Ankündigung, keine acht Stunden reden zu wollen, interessiert zur Kenntnis genommen. Ich kann Ihnen sicher sagen, das hätten wir auch gar nicht zugelassen. Sie haben aber die acht Minuten durchaus ausgeschöpft. Die Kollegen Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion, Ulrich Lechte, FDP-Fraktion, Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen, Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion, und Dr. Fritz Felgentreu, SPD-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben, ({0}) sodass ich die Aussprache jetzt schließen kann. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/6422 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe und höre, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 70 Prozent der Medizinstudierenden sind heute Frauen, 46 Prozent der niedergelassenen Ärzteschaft sind heute weiblich, und natürlich sind die Hälfte der Versicherten Patientinnen. Aber in den Entscheidungsgremien des Gesundheitswesens kommen auf eine Frau neun Männer. Das kann so nicht bleiben. ({0}) Zwei von drei Beschäftigten der gesetzlichen Krankenkassen sind weiblich. Sie können ja mal überlegen, mit welchem Anteil die Frauen in den Vorständen vertreten sind. Sie liegen zwischen 0 und 21 Prozent. Da stimmt doch was nicht. ({1}) Die Expertise, die Erfahrung von Frauen kommt in den Entscheidungsgremien des Gesundheitswesens kaum vor. Das macht doch keinen Sinn. In meiner Heimatstadt Bremen sind im Vorstand der Ärztekammer drei Frauen und zwei Männer. Ich finde, das ist ja schon mal was. ({2}) Trübe Sicht herrscht allerdings bei den Kassenärztlichen Vereinigungen: Die Mehrheit hat kein einziges weibliches Mitglied im Vorstand. ({3}) Die gläserne Decke ist im Gesundheitswesen genauso dick wie in DAX-Konzernen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist doch nicht nur ungerecht – es ist vor allem unklug. Wir wissen, dass es einen erheblichen Unterschied macht, ob Frauen mitentscheiden. ({4}) Ohne Quote geht es offensichtlich nicht. Damit endlich die Kompetenz von Frauen nicht mehr so oft verloren geht, brauchen wir die Quote. ({5}) Sie führt zu besseren Ergebnissen, nicht nur, weil gemischte Teams erfolgreicher arbeiten. Gerade im Gesundheitswesen ist die Perspektive für Frauen so entscheidend. Nehmen Sie den jüngsten Medizinprodukteskandal. Frauen sind von fehlerhaften Medizinprodukten besonders häufig betroffen. Warum ist das so? Weil die Prothesen und die Implantate in der Regel an Männern getestet werden, im Übrigen genau wie Medikamente. ({6}) Ich habe mich schon oft gefragt, ob die Situation der Hebammen, ob die Ausstattung in den Kreißsälen vielleicht besser wäre, wenn Männer Kinder bekämen oder wenn eben mehr Frauen im Gesundheitswesen mitentscheiden würden. ({7}) Superspannend ist eine Studie der Universität von Minnesota, die an 580 000 Herzpatienten und -patientinnen – über eine halbe Million – durchgeführt wurde. Das Ergebnis ist: Wenn Frauen von Frauen behandelt werden, haben sie eine deutlich höhere Überlebenschance, als wenn sie einen männlichen Arzt haben. Ja, manche Männer erleben die Quote als Bedrohung. ({8}) Viele Männer aber wissen, dass die Frauenquote gerade keine Drohung ist, sondern ein Versprechen – ein Versprechen für mehr Gerechtigkeit, für mehr Gleichberechtigung, und das kommt uns allen zugute: Frauen, Männern – allen. ({9}) Auch viele Männer wünschen sich mehr Zeit für Fürsorge, mehr Zeit für Familie. Das geht, wenn wir alle Lebensbereiche besser und gerechter aufteilen. Das ist schöner, und die Ergebnisse sind besser. ({10}) Wir wissen: 70 Prozent der Abgeordneten in diesem Deutschen Bundestag sind Männer. Ich bin gespannt, wie viele von ihnen realisieren, dass das Aufbrechen verkrusteter Rollenbilder allen mehr Freiheit bringt. ({11}) Unsere Bundeskanzlerin hat es kürzlich gesagt – ich zitiere sie –: „… das Ziel muss Parität sein, Parität überall“ – ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

ob in der Politik, in der Wirtschaft, in der Verwaltung. Recht hat sie. ({0}) Ich ergänze: auch im Gesundheitswesen. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Dr. Kirsten Kappert-Gonther. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Rudolf Henke, CDU/CSU-Fraktion. ({0}) Bis Sie hier sind, kann ich darauf verweisen, dass die verbliebenen Vertreter der Bundesregierung darauf hingewiesen haben, dass sie ausschließlich Frauen sind. ({1}) Herr Kollege, Sie haben das Wort.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Um eins vorwegzusagen: Die eigentliche Intention des Antrages, die Erhöhung des Anteils von Frauen in den Gremien der gesundheitlichen Selbstverwaltung, wird von uns vollständig und vollumfänglich unterstützt. Ich halte das für richtig, übrigens nicht nur in Bezug auf Gremien der gesundheitlichen Selbstverwaltung, sondern auch in Bezug auf alle anderen Gremien außerhalb des Gesundheitswesens. ({0}) Wenn der Anteil von Frauen dort höher wäre, dann wäre das gut. Ich schließe auch den Deutschen Bundestag ausdrücklich darin ein. Ich selbst bin Vater von vier Töchtern. Ich bin schon deswegen habituell feministisch unterwegs, weil ich will, dass die Chancen der jungen Frauen besser werden. Zum Thema Quote – das ist ja der technische Teil Ihres Antrags, nicht der intentionale Anteil – würde ich mal sagen: ({1}) Bei uns in der Fraktion gibt es Befürworter von Quotenlösungen – männlich wie weiblich –, und es gibt Gegner von Quotenlösungen – männlich wie weiblich. Ich glaube aber, dass bei der Frage der Quoten ferner zu berücksichtigen ist, dass wir dabei häufig auch über Wahlämter und über Ämter reden, die aus geheimen Wahlen hervorgehen. ({2}) Da ist es natürlich relativ schwierig mit dem Verordnen einer Quote. Denn überall da, wo Urwahl herrscht, kann man die Berechtigung des einen Menschen, zu kandidieren und sich um Mehrheiten zu bemühen, nicht automatisch davon abhängig machen, dass es ein Geschlechtspendant gibt, das sich ebenfalls zur Wahl stellt. ({3}) – Ja, ich bin sehr dafür. – Deswegen glaube ich, dass die Werbung nottut, um die Akteure in der Selbstverwaltung aufzufordern, eigene Konzepte zu verfolgen und Selbstverpflichtungen einzugehen, um mehr Frauen für diese Aufgaben zu gewinnen. Im Übrigen sei mir der Hinweis gestattet, dass wir im kommenden Sommer mit einer Regelung für die Aktiengesellschaften – ausgehend von keiner Quote über eine Flexiquote sind wir zu einer festen Quote gekommen – Erfahrungen sammeln und einen Bericht bekommen werden. Anhand dessen können wir beurteilen: Wie weit sind wir mit der Regelung von festen Quoten gekommen? Ich stelle fest: Auch zu den Zeiten, als die Grünen die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen mit gestellt haben und eine grüne Gesundheitsministerin amtiert hat, hat sich jedenfalls im Heilberufsgesetz in Nordrhein-Westfalen keine Quotenregelung eingestellt. Das nur mal als Hinweis darauf, dass es nicht immer nur die aus den anderen Parteien sind, die an der Stelle nicht handeln, sondern dass es durchaus auch Grüne sind, ({4}) die an der Stelle vielleicht nicht der vollen Konsequenz Ihres Antrages folgen. Ich will das nur sagen. Trotzdem ist der wichtigere Punkt der: Gibt es Beispiele dafür, wie man handeln kann, um die Situation zu verbessern? ({5}) Sie wissen ja, dass ich auch im Marburger Bund tätig bin. Wir haben dort nach langen Widerständen und langer Diskussion 2016 für den Bundesvorstand eine Regelung eingeführt, die besagt: Von neun Positionen sind drei von Frauen zu besetzen, drei von Männern zu besetzen und drei weitere Positionen zu besetzen. Das hat natürlich eine Ermutigung für Frauen zum Engagement zur Folge. Diese Ermutigung wirkt sich jetzt, nachdem wir es auf der Bundesebene gemacht haben, auch in zunehmenden Bewerbungen von Frauen für Ämter auf den Landesverbandsebenen und in den Regionalgliederungen aus. Ich nenne ein zweites Beispiel. Wir haben in der Ärztekammer, in der ich engagiert bin, von vielen jungen Frauen, speziell von jungen Frauen in der ärztlichen Weiterbildung, gehört: Es fällt uns sehr schwer, eure stundenlangen Dauersitzungen zu ertragen. ({6}) Wenn ihr mit uns einen Ausschuss besetzen wollt und dann Ausschusssitzungen mit offenem Ende organisiert, dann bringt uns das nicht nur in die Schwierigkeit: „Wie kommen wir am Arbeitsplatz zurecht? Wie kriegen wir das mit unserer Abwesenheit vom Arbeitsplatz hin?“, ({7}) sondern stellt uns auch vor die Frage: Wie organisieren wir es in Bezug auf Familienleben und Kinder? ({8}) An der Stelle kann man Hindernisse überwinden, indem man zum Beispiel sagt: Wir schaffen für bestimmte Zeiten die Möglichkeit einer Stellvertreterinregelung. ({9}) Das heißt: Die Frau, die in ein Gremium berufen wird, hat die Möglichkeit, zu sagen: Ich benenne eine Stellvertreterin, die mich für drei, vier Monate ersetzt. Ein zweites Beispiel. Wir haben überlegt: Können wir nicht denen, die in der Betreuung von Kindern oder in der Betreuung von pflegebedürftigen Angehörigen sind – nicht nur Frauen betreffend, sondern auch junge Ärzte, Männer, betreffend –, helfen, indem wir zum Beispiel die Zusatzkosten, die durch die Betreuung durch Babysitter oder durch Pflegekräfte entstehen, ersetzen? Und in der Tat: Seitdem wir das tun, sind die Bedenken geringer geworden. Ein weiterer Weg ist der, dass man in der Organisation des Ablaufs der Gremienarbeit dafür sorgt, dass man das Ende von Gremiensitzungen fest kalkulieren kann. Schließlich kann man insgesamt dadurch, dass man Wertschätzung für ehrenamtliches Engagement dokumentiert, dass man bei Beratungstagen junge Ärztinnen und Ärzte dafür wirbt, sich in Gremien zu engagieren, ebenfalls die Motivationslage verändern, weil man ausstrahlt, dass Wertschätzung für beide Geschlechter in gleicher Weise vorhanden ist. Ich glaube, das sind mögliche Wege. Wenn man sich anguckt, wo das besonders aktiv betrieben wird – ich nenne mal die Ärztekammer Schleswig-Holstein –, dann stellen Sie fest, dass Sie dort eine völlig der Geschlechtsverteilung innerhalb der Ärzteschaft entsprechende Zusammensetzung der Kammerversammlung haben. Wenn Sie sich die gerade zu Ende gegangenen Wahlen in der Ärztekammer in Hamburg angucken, stellen Sie fest, dass es heute in Hamburg eine Fifty-fifty-Besetzung zwischen Männern und Frauen in der Kammerversammlung gibt. ({10}) Also, Sie können etwas erreichen, wenn Sie sich entsprechend engagieren. Das ist jedenfalls ein Weg, der auch dort möglich ist, wo Sie mit gesetzlichen Regelungen und Quotierungen nicht weiterkommen. Wir werden den Antrag ja in die Ausschüsse überweisen, und dann werden wir uns im Einzelnen mit den Möglichkeiten befassen. Ich bin für meine Fraktion ein bisschen skeptisch, ob wir schon so weit sind, dem Antrag auf Quotierung zu folgen. Aber das werden wir dann in der Diskussion sehen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für den Hinweis. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Henke. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Detlev Spangenberg, AfD-Fraktion. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Mehr Frauen in Führungspositionen zur Organisation des Gesundheitswesens“. Also, ich sehe den Antrag so: Er ist ja an und für sich so eine Art Stellvertreterantrag generell für die Quotenregelung, die jetzt mal auf einen Bereich rübergeschoben wird. ({0}) Ich erkenne das erst mal als gesellschaftlichen Unsinn, was Sie hier vortragen; das sage ich in aller Deutlichkeit. Und ich muss Ihnen einfach sagen: Sie müssen das einfach mal mit Arbeit probieren. Die Männer, die in diesen Positionen sind, haben sich dort hochgearbeitet, mit ungeheurer Energie. ({1}) Wenn Sie das Gleiche tun, würden Sie das auch schaffen. Das ist einfach mit Arbeit verbunden; so einfach ist das. ({2}) Sie werden doch sowieso schon immer durch alle Instanzen durchgehoben, meine Damen. Ich will Ihnen jetzt mal beweisen, wie das normalerweise in der Gesellschaft läuft. Und da spreche ich auch noch mal die Männer an, die da in ihrer bewundernswerten Ritterlichkeit diesen ganzen Blödsinn hier mittragen, meine Damen und Herren. ({3}) Also, fangen wir mal hier an. Grundgesetz, da haben wir schon den ersten Verstoß, meine Damen. Grundgesetz, kennen Sie ja: Artikel 3. Da steht eindeutig drin: Es soll niemand benachteiligt, aber auch keiner bevorzugt werden. Und Sie werden schon zweimal bevorzugt: Sie haben eine Gleichstellungsbeauftragte und eine Frauenbeauftragte, die Sie immer in die Ämter reinheben. ({4}) Das ist schon mal die erste Sache. ({5}) Dann geht es weiter: Förderungsprogramme für Frauen und Mädchen ohne Ende. Für Jungen, für Männer, gibt es nicht ein einziges Förderprogramm – nur für Frauen. Da kann ich Ihnen so eine Latte aufzählen. Dazu haben wir die Zeit nicht; aber das können wir noch machen. ({6}) Aber jetzt mache ich mal eine kleine Kurve, und jetzt gehen wir mal auf die Genderdiskussion ein. Was wollen Sie eigentlich? Angeblich keine Geschlechter mehr; dann brauchen Sie den Antrag nicht. Oder wollen Sie 50 Geschlechter; dann reicht der Antrag nicht. Sie müssen sich entscheiden, was Sie wollen. Also, in irgendeine Richtung müssen Sie gehen, meine Damen. ({7}) Jetzt sagen Sie, die Interessen von Frauen werden nicht gewahrt. Lächerlicher geht es gar nicht. Sie meinen also, wenn in der Führungsetage in einem Unternehmen eine Frau sitzt, in der Finanzabteilung oder irgendwie im Gesundheitswesen, entscheidet die anders als ein Mann. Keine Bohne! Die entscheidet genauso. Das sind fachbezogene Entscheidungen. Diesen Unternehmen ist vollkommen egal, ob eine Frau oder ein Mann da sitzt. Wieder vollkommener Blödsinn, was Sie hier vortragen, meine Damen und Herren. ({8}) Es geht ja weiter. Die Quotenregelung wollen Sie auch nur bei angenehmen Tätigkeiten. Ich würde Sie gern mal mitnehmen zu einer Arbeit, bei der Sie das erste Mal arbeiten lernen. ({9}) Passen Sie mal auf! Dazu würde ich Sie gern mal mitnehmen, dann kann ich Ihnen das mal zeigen. Passen Sie mal auf! Gehen Sie mal in den Straßenbau: Quotenregelung im Straßenbau? Keine. Dachdecker? Keine Quotenregelung. Fliesenleger? Keine Quotenregelung. Baggerfahrer? Keine Quotenregelung. Es ist anstrengend, dabei wird man nass, dabei holt man sich blaue Flecken, es ist ungemütlich, da muss man im Winter raus auf die Straße. In diesem Bereich brauchen Sie keine Quotenregelung, oder? Das ist nicht angenehm; kann ich mir gut vorstellen. Ich will Ihnen mal die Verteilung nennen, die wir hier haben. ({10}) – Hören Sie mir erst mal zu. Sie können sich dann aufregen. – ({11}) Der öffentliche Dienst ist einer der begehrtesten Arbeitsplätze. Wen finden wir dort? Natürlich die Frauen. Jetzt zähle ich es Ihnen mal auf: Bei den Grundschulen 89 Prozent, Hauptschulen 65 Prozent, Berufsschulen 58 Prozent, Realschulen 65 Prozent, Gymnasium auch 60 Prozent; Hochschulabsolventen, Abiturienten weiblich über 50 Prozent. Wissen Sie, die Eigenschaften von Frauen werden immer so dargestellt: „führungsstark“, „Durchsetzungsvermögen“, „schmerzunempfindlicher“; in jeder Beziehung werden Superlative ohne Ende genannt. – Aber sie kommen einfach nicht hoch. Woran liegt denn das? ({12}) Vielleicht liegt es daran, dass sie zu wenig Energie aufbringen. Das könnte doch sein. Also, meine Damen, jetzt habe ich noch ein schönes Beispiel zum Gleichstellungsgesetz von 2016. Ein bekanntes Unternehmen konnte eine Stelle nicht besetzen. Da wurde dann per Gerichtsurteil eine Frau in den Aufsichtsrat gesetzt. Die Leistung dieser Frau, die dort reingesetzt wurde, möchte ich gerne mal beurteilen; das können Sie mir glauben. Dabei muss was Tolles rauskommen. ({13}) Ja, meine Damen und Herren, jetzt gehen wir mal weiter in der Statistik. Ich will Ihnen mal was erzählen: Ich habe hier zum Beispiel eine Bilanz von tödlichen Unfällen und von nichttödlichen Unfällen, die in einer großen Schar angefallen sind. 3,2 Millionen Unfälle, davon zwei Drittel Männer. ({14}) Haben Sie sich damit schon mal beschäftigt? Interessiert Sie nicht. Bei den tödlichen Arbeitsunfällen – 3 900 pro Jahr – haben wir zu 95 Prozent Männer. Das ist auch klar und interessant. Darüber können Sie sich totlachen; ist ja auch klar. Die Lebenserwartung der Männer ist um fünf Jahre geringer als die von Frauen. Schon mal was davon gehört? Wenn das jetzt anders wäre, dann hätten Sie doch schon eine Gleichstellungsbeauftragte für die Anhebung der Lebenszeit, oder nicht? Garantiert! Förderung von Frauen und Männern: uninteressant. Dann haben wir noch zwei Fernsehprogramme nur für Frauen. „ML Mona Lisa“ und „Frau tv“. Sie werden vom ZDF und vom WDR finanziert, weil Frauen ja was Besonderes sind bei uns. Sie kommen ja sonst nicht vorwärts. Jetzt kann ich Ihnen auch noch ein schönes Beispiel nennen, wenn ich die Zeit noch habe.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, die Zeit haben Sie leider nicht mehr.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Die habe ich nicht mehr? – Gut, schade. ({0}) Ich hätte Ihnen noch was Schönes erzählt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich habe hier nur Wasser.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Also, Schlusswort: Strengen Sie sich mehr an; dann kommen Sie auch in die Positionen rein. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann sicher sagen, dass vom Parlamentsdienst nur Wasser ausgeschenkt wird. ({0}) Die Kolleginnen Hilde Mattheis, SPD-Fraktion, Christine Aschenberg-Dugnus, FDP-Fraktion, Doris Achelwilm, Die Linke, und Emmi Zeulner von der CDU/CSU-Fraktion haben ihre Reden zu Protokoll gegeben, was ich begrüße. ({1}) – Ich darf Ihnen mitteilen: Meine Erklärungen sind nicht Gegenstand von Erörterungen, auch nicht von Ihnen. Ich weise darauf hin, dass das eine Fragestellung ist, die mit einem Ordnungsruf belegt werden kann. ({2}) Aber da wir jetzt hier am Ende sind, will ich mal gnädig mit Ihnen sein. ({3}) – Mit Ihnen bin ich am Ende; das muss jetzt reichen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/4855 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. ({4}) – Sie sind nicht damit einverstanden? ({5}) – Herr Baumann, die AfD-Fraktion ist nicht damit einverstanden und wünscht Abstimmung in der Sache? ({6}) – Gut, dann werden wir darüber abstimmen. Die AfD wünscht Abstimmung in der Sache. Zunächst einmal muss über die Ausschussüberweisung abgestimmt werden. Wer für die Ausschussüberweisung ist, den bitte ich um das Handzeichen. ({7}) – Das können Sie gar nicht anfechten, sondern das kann nur durch das Präsidium festgestellt werden. Wir finden, dass das Haus beschlussfähig ist. Gibt es andere Auffassungen? – Das ist nicht der Fall. ({8}) Wer ist gegen die Ausschussüberweisung? ({9}) – Das können Sie gerne machen. – Die AfD-Fraktion zweifelt die Beschlussfähigkeit in dieser Frage an. ({10}) Ich lese dazu zunächst – – ({11}) – Alle Zwischenrufe werden im Protokoll vermerkt, Herr Baumann, und wenn da etwas gewesen sein sollte – das werde ich ja feststellen –, was die Würde des Hauses berührt, dann werde ich eine entsprechende Ordnungsmaßnahme ergreifen. Die behalte ich mir ausdrücklich vor. ({12}) – Frau von Storch, was ich höre und nicht höre, entscheide ich immer noch selbst und nicht Sie. ({13}) – Sie haben gerade die Feststellung der Beschlussfähigkeit gerügt, und jetzt will ich versuchen, Ihnen zu erklären, wie die Feststellung der Beschlussfähigkeit erfolgt. § 45 Absatz 2 unserer Geschäftsordnung lautet wie folgt: Wird vor Beginn einer Abstimmung die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder von einem anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestags bezweifelt und auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht oder wird die Beschlussfähigkeit vom Sitzungsvorstand im Einvernehmen mit den Fraktionen bezweifelt, so ist in Verbindung mit der Abstimmung die Beschlussfähigkeit durch Zählung der Stimmen nach § 51, im Laufe einer Kernzeit-Debatte im Verfahren nach § 52 festzustellen. Der Präsident kann die Abstimmung auf kurze Zeit aussetzen. ({14}) – Sie können machen, was Sie wollen. Ich stelle fest, dass die Beschlussunfähigkeit nicht vor Beginn der Abstimmung gerügt worden ist, sondern während der Abstimmung, ({15}) weshalb ich die Abstimmung jetzt wiederhole. Wer für die Überweisung an die Ausschüsse ist, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Ich stelle fest, dass gegen die Stimmen der AfD-Fraktion mit den Stimmen aller anderen Fraktionen die Überweisung an die Ausschüsse beschlossen ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 14. Dezember 2018, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 1.04 Uhr)