Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/18/2018

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Das Schicksal in unserer Hand“, so titelte „Der Spiegel“ zum Jahresbeginn, also in der Zeit der guten Vorsätze. Sage und schreibe 81 Prozent aller Deutschen schwören Silvester allem Ungesunden ab: Zigaretten, zu viel Alkohol, zu wenig Sport. Sie sind bester Absicht, gesünder zu leben. Diese Vorsätze halten – einen Tag, eine Woche? Für den Rest des Jahres gilt: Stress, wenig Sport, viele Kalorien. Diese Mischung macht dick. Und wer ist schuld? Die Gene, die Industrie, der Terminkalender und natürlich die Politik. Und nun „Der Spiegel“ – ich zitiere –: Den größten Anteil an seinem … Schicksal hat jeder selbst in der Hand. Keine bequeme Botschaft zum Jahresbeginn, aber wissenschaftlich belegt. Unsere Gesundheit wird nur zu 20 Prozent allein durch Gene bestimmt. Auf diese können wir keinen Einfluss nehmen, auf den großen Rest schon. Das Schlüsselwort heißt Epigenetik. Die Forschung belegt, was wir allzu gerne verdrängen: Mit Ernährung, Lebensstil, Umweltfaktoren können wir Mechanismen beeinflussen, die unsere Gene ein- und ausschalten, und zwar ein Leben lang. So bestimmen wir übrigens auch selbst, ob wir gesund sind oder an Übergewicht, Diabetes oder Herzinfarkt erkranken. Meine Damen und Herren, wir haben unser Schicksal in der Hand, jeden Tag: beim Einkauf, in der Kantine, bei der Entscheidung, zu joggen oder eine Zigarette anzuzünden. Damit beeinflussen wir übrigens das Leben unserer Kinder. In den ersten 1 000 Tagen werden Weichen für das spätere Leben gestellt. Fehlernährung, Alkohol in der Schwangerschaft gefährden das Kind. Die Ernährung ist ein zentraler Schlüssel. Die Auswahl ist gigantisch. Aus rund 170 000 Lebensmitteln können Verbraucher heute ihren Speiseplan zusammenstellen, und zwar bezahlbar. Heute Abend wird die Internationale Grüne Woche in Berlin eröffnet. Sie ist ein Schaufenster, was unsere Landwirte, Gärtner, Fischer, Bäcker, Fleischer, Hersteller und Händler jeden Tag leisten. Für unsere Fraktion, die CDU/CSU, sage ich an dieser Stelle: Respekt und Dank für diese Leistungen. ({0}) Aber Vielfalt bedeutet auch Herausforderung. Was ist die richtige Wahl für mich? Wie viel von was? Die Ernährung hat jede Leichtigkeit verloren. Wir erleben Fanatismus, Verunsicherung, Gleichgültigkeit. Jeder zweite Erwachsene ist übergewichtig. Gleichzeitig nehmen Mangel- und Fehlernährungen zu, vor allem im Alter. Dadurch steigen Risiken für Diabetes, Schlaganfall oder Muskelschwund. Der persönliche Leidensdruck ist groß, die Kosten explodieren, die Gesundheitszeitbombe tickt. Wir alle sind gefordert, meine Damen und Herren: jeder Einzelne von uns, die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Politik. Es gibt mehrere Optionen oder auch Denkschulen. Ernährung per Gesetz wäre die eine. Der Staat lenkt die Bürger bei der Entscheidung, was sie essen, durch Verbote, Strafsteuern, Ampeln. Mal alle Bedenken zur Seite geschoben – von der Bevormundung des Verbrauchers bis zu Fragen der unternehmerischen Freiheit –: Was soll besteuert werden, was verboten? Baguette ja, Vollkornbrot nein. Zucker ja, Süßstoff nein. Die entscheidende Frage ist doch am Ende: Was ist eigentlich gesund? Ich verstehe jeden Verbraucher, der sich hier einfachere Antworten wünscht, vielleicht auch durch eine Ampel. Es wäre so schön. Mir selbst geht es ja nicht anders. Aber Fakt ist: Diabetes kann nicht wegbesteuert werden. Durch Ampeln lassen sich komplexe Sachverhalte und Inhalte nicht darstellen; denn Ernährung ist komplex. Die erste Nachricht: Essen ist keine Krankheit. Die zweite Nachricht: Jeder Mensch hat andere Bedarfe. Kinder brauchen anderes als Ältere, Frauen weniger als Männer. Es gibt keine grundsätzlich guten oder schlechten Lebensmittel. Und es gibt leider keine Patentrezepte. Abnehmen unterliegt nicht den Gesetzen der Politik, sondern am Ende nur der Physik. Wer zu viel isst, nimmt zu, egal ob Kartoffelstampf, Schokolade oder Dinkelnudeln. So bestätigt es die Wissenschaft. Der Energiebilanz ist es am Ende egal, woher die Kalorien kommen. Aber Achtung: nur der. Dem Körper und der Gesundheit ist es ganz und gar nicht egal. Diese brauchen eine ausgewogene Mischung aller Nährstoffe. Leichter gesagt als getan. Trotz unzähliger Fernsehsendungen und Ratgeber sind viele Verbraucher heute zutiefst verunsichert, manche auch schlecht informiert. Schon heute kann sich jeder die Zutaten auf der Verpackung ansehen. Aber Hand aufs Herz: Wie oft lesen Sie diese? Bewusster essen, mehr Bewegung und Schlaf – das klingt verstaubt. Aber wer so lebt, wird gesund älter. Wie können wir das als Politik unterstützen? Veränderte Rezepturen können helfen. Deshalb hatten sich CDU/CSU und SPD auch in der letzten Wahlperiode gemeinsam für eine Reduktionsstrategie eingesetzt – in Kooperation mit Wirtschaft und Handel; denn es geht nur mit ihnen, nicht ohne sie. Innovationen brauchen Zeit. Der Bäcker, der Fleischer können dies nicht so leicht schultern wie ein Lebensmittelkonzern. Staatliche Rezepte führen zur Verdrängung der kleinen Betriebe, aber nicht zu mehr Gesundheit. Mehr Gesundheit geht nur mit Bildung, Information, Aufklärung, und zwar schon für die Kleinsten: in der Kita, in der Schule. Wir setzen deshalb auf Verhaltensprävention. Deswegen wissen wir: Wir brauchen dringend Ernährungsbildung. Ernährungsbildung muss zukünftig in die Kitas und Schulen gehören wie die Küchen und Fachkräfte. ({1}) Wir brauchen gesunde Angebote – dazu gehören übrigens Wasserspender in jeder Schule; sie sollten eine Selbstverständlichkeit sein –, verbindliche Qualitätsstandards bei der Gemeinschaftsverpflegung in Kindergärten, Schulen, Kantinen und Alten- und Pflegeheimen; denn dort essen inzwischen die meisten Menschen. Wir brauchen ein offeneres Auge, zum Beispiel bei Älteren, indem ihr Ernährungsstatus – sie haben häufig mit Mangel- und Fehlernährung zu tun – durch ein regelmäßiges Ernährungsscreening erfasst wird. Bestehende Kennzeichnungslücken müssen wir schließen. Wir setzen uns deshalb dafür ein, dass Lebensmittel mit tierischen Produkten entsprechend gekennzeichnet werden; denn es ist wichtig, dass der Verbraucher weiß, woher diese tierischen Produkte kommen. Wir müssen das Stillen fördern, wir brauchen Ernährungsberatung in der Schwangerschaft, und wir brauchen mehr Bewegung, von der Kita bis zum Altenheim. Wir brauchen mehr Schlaf, wir brauchen keinen Stress. Meine Damen und Herren, am Ende ist es ein Gesamtpaket. Ich glaube, jeder von Ihnen weiß, was er am Ende zu tun hätte, aber tut es dann doch nicht. Deshalb möchte ich Sie ermutigen. Jeder hat die Wahl; der Masterplan für ein gesundes Leben steht fest. Wir haben das Schicksal in unserer Hand. Gehen Sie achtsam damit um. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, habe ich zwei weitere Geburtstage von Kolleginnen – beide Bündnis 90/Die Grünen – zu vermelden, denen ich gerne die Glückwünsche des Hauses aussprechen möchte: Kollegin Dr. Bettina Hoffmann feiert heute ihren 58. Geburtstag, und die Kollegin Dr. Julia Verlinden feiert ihren 39. Geburtstag. Wir gratulieren beiden Kolleginnen herzlich dazu. ({0}) Falls heute weitere Geburtstagskinder anwesend sein sollten, bitte ich um Meldung noch vor Schluss der Plenar­sitzung. ({1}) Jetzt hat als nächste Rednerin die Kollegin Ursula Schulte von der SPD-Fraktion das Wort. ({2})

Ursula Schulte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004404, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren auf der Tribüne! Ich freue mich, dass wir heute über dieses so wichtige Thema „Gesunde Ernährung für ein gutes Leben“ miteinander sprechen. Der Zeitpunkt könnte wirklich nicht besser gewählt werden: Weihnachten liegt hinter uns, und die Fastenzeit steht unmittelbar bevor. Zudem öffnet die Internationale Grüne Woche mit ihren verführerischen Produkten ihre Pforten. Passend dazu hat Herr Minister Schmidt den Ernährungsreport 2018 vorgelegt. Wir haben also viele gute Gründe, uns darüber zu freuen, dass die Ernährungs- und Verbraucherpolitik endlich einmal wieder im Mittelpunkt des Interesses steht. Der Wunsch der Bürgerinnen und Bürger bei diesem Thema scheint eindeutig zu sein: Für die überwiegende Mehrheit der Befragten muss Essen schmecken und gesund sein. So steht es jedenfalls in der erwähnten Forsa-Studie. Liest man die Studie allerdings genauer, stößt man auf Hinweise, die diese Zahl durchaus infrage stellen; denn 49 Prozent der Befragten halten es für wichtig, dass Essen einfach und schnell zubereitet werden kann. Gleichzeitig offenbart die Studie, dass der Verzehr von Obst und Gemüse rückläufig ist. Das können wir ändern, indem wir zum Beispiel die Bundesländer davon überzeugen, am Schulobst- und -gemüseprogramm der EU teilzunehmen. Leider beteiligen sich nur neun Bundesländer daran. Das ist wirklich schade; denn Studien zeigen, dass durch dieses Programm der Verzehr von Obst und Gemüse erhöht werden kann. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Sozialdemokraten wollen die Menschen davon überzeugen, sich gesund zu ernähren. Wir wollen nicht mit Verboten und moralischer Entrüstung arbeiten. Wir werden keine Zuckerpolizei einführen. Von mir aus kann jeder stark gesüßte Produkte essen und literweise gesüßte Limonade trinken. Das liegt im Ermessen eines jeden Einzelnen. Aber wir wollen die Menschen unterstützen, die sich gesund ernähren. Dazu braucht es gesunde Produkte und auch einfache Hinweise auf gesunde Produkte. Stichwort ist hier die Lebensmittelampel, an der ich unbeirrt festhalte. ({1}) Darüber hinaus fehlt uns nach wie vor eine zielgenaue Umsetzung der Reduktionsstrategie. Diese haben wir 2015 – Frau Connemann hat es gesagt – gemeinsam beschlossen. Mit gesünderen Lebensmittelrezepturen sollte Verbrauchern eine ausgewogene Ernährung erleichtert und ein Beitrag zum Kampf gegen ernährungsbedingte Krankheiten geleistet werden. Zucker-, Fett- und Salzgehalt sollten dazu schrittweise verringert werden. Eine gute Reduktionsstrategie ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zu einer gesunden Ernährung – sie trägt letztlich auch dazu bei, Kosten zu reduzieren, die durch falsche Ernährungsmuster entstehen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Zahlen der Allgemeinen Ortskrankenkassen, die von einer jährlichen Belastung der Gesundheits- und Sozialsysteme in Höhe von 70 Milliarden Euro ausgehen. Dass Kosten durch gesündere Produkte gesenkt werden können, zeigt uns Großbritannien. Hier wurde der Salzgehalt in einigen Lebensmitteln reduziert. Die Folge war: Das Risiko der Bevölkerung für Schlaganfälle und Herzerkrankungen sank beträchtlich. Wir in Deutschland dagegen haben einen stetigen Anstieg der sogenannten Lebensstilkrankheiten zu verzeichnen. Leider musste meine Fraktion feststellen, dass das zuständige Ministerium die Umsetzung der Reduktionsstrategie, sagen wir einmal, mehr als zögerlich betreibt. Die im Mai und Juli 2017 vorgestellten Entwürfe sind meines Erachtens weichgespült. Es fehlen klare Zieldefinitionen zur Reduktion des Zucker-, Salz- und Fettgehalts, und es fehlt auch ein verbindlicher Zeitplan. Herr Minister, es wird Zeit, dass Sie endlich konkret werden. Legen Sie eine Strategie vor, die ihren Namen auch verdient. Ehrlich gesagt: Ihre Hinhaltetaktik nervt ein wenig, und das nicht nur bei diesem Thema. Aber wie sagten Sie so schön: So ist er halt, der Schmidt. Mit meiner Kritik an den vorgelegten Entwürfen stehe ich Gott sei Dank nicht alleine da. Die AOK, die Deutsche Diabetes Gesellschaft und die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten teilen meine Kritik und fordern den Minister auf, endlich zu reagieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Reduktionsstrategie ist für uns so etwas wie ein Paradigmenwechsel. Wir wollen nämlich nicht nur auf eine Verhaltensveränderung bei den Menschen setzen; wir sagen vielmehr deutlich, dass auch die Unternehmen für die Gesundheit der Menschen Verantwortung tragen. Mein Fazit lautet also: Gesunde Ernährung muss erleichtert werden, indem die angebotenen Produkte gesünder werden. Mit der Reduktionsstrategie ermuntern wir – man könnte auch sagen: zwingen wir – die Lebensmittelwirtschaft ein wenig, in diese Richtung zu gehen. Wir tun das, weil wir wissen: Freiwillig passiert da nicht allzu viel. Und weil das so ist, hat meine Fraktion in dieser Woche ein Positionspapier mit dem Titel „Gesunde Ernährung erleichtern“ beschlossen. Wir fordern bessere Lebensmittelrezepturen; denn uns liegt dieses Thema wirklich am Herzen. Die SPD-Bundestagsfraktion will verbindliche Ziele hinsichtlich der Festlegung der Reduktion des Zucker-, Salz- und Fettgehalts. Wir wollen Zielmarken für unterschiedliche Produktgruppen, die von unabhängigen Experten erarbeitet werden. Wir wollen einen verbindlichen Zeitplan zur Umsetzung der Ziele. Wir wollen eine gesetzliche Regelung für den Fall, dass sich Unternehmen nicht freiwillig an der nationalen Reduktionsstrategie beteiligen. Außerdem wollen wir eine wissenschaftliche Begleitung und eine transparente Evaluierung. Sehr geehrter Herr Minister, dass Sie in Ihrer Einleitung zum Ernährungsreport 2018 feststellen – ich zitiere –: „Wir müssen die Ernährungsbildung im Stundenplan fest verankern“, finde ich ausgesprochen löblich. Nur: Bei schönen Worten alleine darf es nicht bleiben. Ich wünsche mir, dass Bund und Länder Ernährungs- und Verbraucherbildung in Kindertagesstätten, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen einführen. Ich wünsche mir auch, dass Kinder und Jugendliche lebensnah den Ursprung des Essens und die Möglichkeiten der Zubereitung vermittelt bekommen. Das verstehe ich unter Ernährungs- und Verbraucherbildung. Damit diese Pläne schnell umgesetzt werden können, müssten wir das Kooperationsverbot kippen. Das wäre wirklich einmal eine mutige Entscheidung. ({2}) Wir Sozialdemokraten wären auf jeden Fall dazu bereit. Da ich sehe, dass meine Redezeit zu Ende geht, sage ich noch einmal, dass das Thema „Gesunde Ernährung“ ein wirklich wichtiges Thema ist und dass ich hoffe, dass dieses in etwaigen Koalitionsgesprächen eine gebührende Rolle spielt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Jetzt erteile ich der Kollegin Franziska Gminder von der AfD-Fraktion das Wort zu ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0})

Franziska Gminder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004728, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Gesunde Ernährung für ein gesundes Leben – hiermit wird ein höchst wichtiges Thema angesprochen. Wie sich ein Volk ernährt, hat Folgen für seine Gesundheit, physisch und auch psychisch. Das persönliche Wohlbefinden, das erreichbare Lebensalter, die Leistungsfähigkeit in Schule, Arbeit und Ruhestand hängen zentral davon ab, wie und vor allem was wir essen. Alle sprechen von gesunder Ernährung. Im Fernsehen jagt eine Kochsendung die andere. Zeitschriften propagieren zuhauf die nächsten Schlankheitskuren. Und der Effekt? Schwach. Immer mehr Arbeitnehmer müssen bedauerlicherweise für ein ausreichendes Auskommen an mehreren Arbeitsstellen arbeiten. Wo bleibt da die Zeit, für die Familie zu kochen? ({0}) Die Deutschen geben laut Statistischem Bundesamt rund 10 Prozent ihres Nettoeinkommens für Nahrungsmittel aus, bei unseren Nachbarn, den Franzosen, sind es 13,3 Prozent, also unter dem Strich 30 Prozent mehr. Legen die Franzosen mehr Wert auf gute Ernährung als die Deutschen? ({1}) Wo beginnt eigentlich gute Ernährung? ({2}) Nicht erst beim propagierten Apfel zum Frühstück. Gesunde Ernährung beginnt bereits auf dem Acker, bei der Aussaat. Gesunde Ernährung beginnt im Stall, bei der Aufzucht und Fütterung der Tiere. Nicht nur das Wie der Aufzucht und der Aussaat ist entscheidend, sondern auch, was aufgezogen und ausgesät wird. ({3}) Wir stellen fest: Der Trend geht zu immer leistungsfähigeren, größeren, geschmacksärmeren Rassen und Sorten, die immer mehr Pestizide, Herbizide und Antibiotika benötigen, weil sie immer anfälliger werden. Eine Verarmung der Varietäten schreitet fort. Wir müssen uns klarmachen, dass ein Verschwinden einer Spezies nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Denken wir doch an die bedrohten Bienen und den Rückgang der Insekten. Das sollte uns eine Warnung sein. Der kommerzielle Saatgutmarkt hat sich innerhalb der letzten 20 Jahre weltweit konzentriert. Die Top 10 der Saatgutkonzerne beherrschen 75 Prozent des globalen Saatgutmarktes. ({4}) Der freie Bauer, der früher mit seinem eigenen Saatgut sein Feld bestellen konnte, soll immer mehr zum abhängigen Angestellten dieser Konzerne werden. Wollen wir das? Die Alternative vertritt im Hinblick auf Diversität und Subsidiarität eine andere Position. Es ist sehr zu begrüßen, dass Landwirte in eigener Initiative alte Obstsorten wieder anpflanzen, dass alte Haustierrassen wie das Hällische Schwein und diverse Schaftierrassen wieder in größerem Stil weitergezüchtet werden. Wie können wir unsere Bauern schützen? Wir müssen sie stärken; denn von ihnen bekommen wir die regionalen, die frischen Produkte, die für unsere Gesundheit so wichtig sind. ({5}) Die Bauern sollten nicht zu Subventionsempfängern einer Brüsseler Institution degradiert werden. Sie müssen für ihre Produkte angemessene Preise erzielen, die ihnen ein gutes Auskommen ermöglichen. Das muss uns etwas wert sein. Dann würde auch das Höfesterben aufhören. ({6}) Außerdem fordert die Alternative für Deutschland ein Ende der Sanktionen gegen Russland, die besonders die deutschen Exporte von Milchprodukten haben zusammenbrechen lassen und verheerende finanzielle Einbußen für die Milchbauern zur Folge hatten. ({7}) Für die meisten Verbraucher haben regionale Lebensmittel einen hohen Stellenwert. In Umfragen wird bestätigt, dass sich bis zu 44 Prozent der Befragten auch bei höheren Kosten für eine gesunde Ernährung und regionale Lebensmittel entscheiden würden. Deswegen sollten wir in Hofläden einkaufen und den Bauern damit ein anderes Standbein finanzieller Art verschaffen. Es geht aber nicht nur um die regionale Versorgung. Es wäre schon ein Fortschritt, wenn mehr Produkte aus Deutschland kämen, statt um die ganze Welt zu reisen. Noch schlimmer ist es, wenn Lebensmittel Tausende Kilometer durch die EU gekarrt werden. Das Waschen von Karotten und Kartoffeln in Italien ist gang und gäbe; dann kommen sie zum Verkauf wieder zurück nach Deutschland. Das ist doch Wahnsinn. ({8}) Wir als Politiker müssen uns diesen Fehlentwicklungen entgegenstellen. Wer eine regionale, vielfältige, nachhaltige und eben gesunde Produktion von Nahrungsmitteln möchte, muss Landwirtschaft neu denken. Nehmen wir uns die Schweiz als Vorbild. Dort steht „Kauft Schweizer Fleisch“ im Fernsehen. Bei uns wäre eine solche Werbekampagne doch auch einmal empfehlenswert: für deutsches Fleisch, deutsche Milch und deutsches Gemüse. Oder gilt das als Nationalismus? ({9}) Wir haben in Deutschland 285 000 landwirtschaftliche Betriebe mit 935 000 Arbeitskräften. Wir haben 16 Millionen Hektar landwirtschaftlich genutzte Fläche; doch diese Zahl ist leider weiter rückläufig. Die Fläche wird jeden Tag geringer: Umnutzung als Verkehrswege, Zubetonierung für Industrie- und Wohnungsbau, riesige Solarfelder auf ursprünglichem Weide- und Ackerland, Energiepflanzen für die Biogasgewinnung verdrängen Nahrungsmittelpflanzen. Es nimmt kein Ende. Lasst uns gegensteuern. ({10}) Wer von Ihnen kennt noch die Ballade „Das Riesenspielzeug“ von Adelbert von Chamisso? Darin steht: ... denn wäre nicht der Bauer, so hättest du kein Brot. Das sollten wir beherzigen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Gero ­Hocker zu seiner ebenfalls ersten Rede im Bundestag. ({0})

Dr. Gero Clemens Hocker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland erzeugen weltweit die hochwertigsten Lebensmittel. Sie erfüllen dabei die allerhöchsten Umweltstandards in den Bereichen Biodiversität und Trinkwasserqualität und viele andere umweltpolitische Anforderungen. Etwa jeder siebte Erwerbstätige in Deutschland ist mittelbar oder unmittelbar im Agrarbereich tätig. Insbesondere in sogenannten strukturschwachen Regionen und in Krisenzeiten sind es häufig genug unsere mittelständischen, familiengeführten landwirtschaftlichen Betriebe, die Menschen einen sicheren Arbeitsplatz gewähren. Ich sage unumwunden: Ich bin stolz auf die Landwirte in Deutschland und die tollen Leistungen, die sie jahrein, jahraus für uns erbringen. ({0}) Trotzdem fühlen sich viele Landwirte gegenwärtig von der Politik ein Stück weit im Stich gelassen, vielleicht auch, weil sie das Gefühl haben, dass sie von einem Teil der Gesellschaft – häufig genug übrigens von dem Teil, der gerade nicht auf dem Land, sondern in den Städten wohnt – sozusagen als Buhmann für eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Herausforderungen, die wir eigentlich gemeinsam bewältigen müssten, abgestempelt werden: Boden-, Luft- und Gewässerreinhaltung, Tierschutz, MRSA, Artenvielfalt. Es ist leicht, mehr Fläche für Nutztiere zu fordern oder andere Standards erhöhen zu wollen. Wenn man aber gleichzeitig beim Discounter um die Ecke nur 99 Cent für eine Putenbrust ausgeben will, dann sind das zwei Punkte, die nicht zueinanderpassen. Wer höhere Standards fordert, muss auch bereit sein, einen höheren Preis für die entsprechenden Leistungen und Produkte zu bezahlen, meine Damen und Herren. ({1}) Meine Fraktion wird sich in den kommenden Jahren nicht an dem Bauern-Bashing, das immer mehr die Runde macht, beteiligen. Deswegen möchte ich auch nur ganz am Rande auf die, wie ich finde und wie wir finden, unsägliche Kampagne zu sprechen kommen, die es im letzten Jahr gegeben hat, als seitens des Umweltministeriums die „neuen Bauernregeln“ – die Branchenkenner werden sich erinnern – ausgegeben wurden. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sich jemals ein ganzer Berufszweig durch eine solche Kampagne derart gekränkt, diffamiert und dauerhaft in seiner Berufsehre verletzt gefühlt hat. Wer pauschal einen Berufszweig derart verunglimpft, der hat nie recht. Diese Kampagne seinerzeit ist unerträglich gewesen, meine Damen und Herren. ({2}) Natürlich gibt es schwarze Schafe. Die gibt es in jedem Beruf, und die gibt es damit – das liegt in der Natur der Sache – auch unter Landwirten. Es gibt Höfe, auf denen gegen Auflagen verstoßen wird, auf denen das Tierschutzgesetz nicht eingehalten wird, auf denen gegen das Düngerecht verstoßen wird und viele andere Dinge mehr. Gegen all diese Entwicklungen muss im Einzelfall mit aller Entschlossenheit vorgegangen werden. Aber man darf kein Pauschalurteil fällen und über einen gesamten Berufsstand den Stab brechen. Ich behaupte, dass 99 Prozent aller Betriebe nicht nur akribisch alle Auflagen einhalten, sondern auch ein ganz vitales Interesse daran haben, dass das Tierwohl geachtet wird und dass Umweltschutz eine große Rolle spielt. Verstöße Einzelner für alle zu einem Bewertungsmaßstab zu machen, kann nie richtig sein. Deswegen sollten wir uns von dieser Diffamierung verabschieden. ({3}) Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei Worte über das Sondierungspapier von CDU, CSU und SPD und über die Rolle der Landwirtschaft, die darin formuliert ist, verlieren. Ich hätte nicht gedacht, meine Damen und Herren, dass in einem Papier, an dem die CSU beteiligt ist, das Wort „Landwirtschaft“ erst auf Seite 23 von 28 zum ersten Mal Erwähnung findet, dass Sie tatsächlich glauben, auf einer knappen DIN-A4-Seite einen so komplexen Bereich abarbeiten zu können, und vor allem, dass Sie kein einziges Wort der Wertschätzung für die Hunderttausenden von Landwirten finden. ({4}) Aber Sie haben ja noch die Gelegenheit, zu verhandeln. Vielleicht werden Koalitionsgespräche geführt. Dann haben Sie die Möglichkeit nachzubessern. ({5}) Meine Damen und Herren, was mich bei diesem Papier besonders hat aufhorchen lassen, ist eine Formulierung, die ich mit Erlaubnis des Präsidenten gerne zitieren möchte. Da steht geschrieben: Der gesellschaftlich geforderte Wandel in der Landwirtschaft und die veränderten Erwartungen der Verbraucher bedürfen einer finanziellen Förderung – national wie europäisch. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist doch nicht die Aufgabe von Sondierungspartnern, zu definieren, was gesellschaftlich gewünscht und gefordert wird, sondern das definieren die 80 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland. ({6}) Ich nenne Ihnen eine Zahl als Beispiel: Im Jahr 2017 hat der Umsatz von mit dem Biokennzeichen gekennzeichneten Lebensmitteln gerade einmal 5,7 Prozent des Gesamtumsatzes ausgemacht. 95 Prozent der Lebensmittel sind auf andere Weise erzeugt worden. Hier von einem gesellschaftlichen Wunsch nach finanzieller Förderung für andere Produktionsweisen zu sprechen, geht an der Realität der Gegenwart komplett vorbei. ({7}) Ich glaube, wir merken auch bei dieser Debatte, dass wir in den nächsten Jahren beim Thema Landwirtschaft kontroverse Diskussionen führen werden. Ich glaube, das ist gut und auch eine Bereicherung für dieses Haus. Vielleicht können wir uns aber darauf verständigen, dass wir der Landwirtschaft über alle Fraktionsgrenzen hinweg wieder mehr Wertschätzung entgegenbringen, als das in den vergangenen vier Jahren der Fall gewesen ist. Ich darf das als eine der Aufgaben meiner Fraktion und derjenigen, die sich in meiner Fraktion mit diesem Thema beschäftigen, definieren. ({8}) Es ist eine ganz zentrale Herausforderung, der Landwirtschaft in diesem Hohen Hause wieder eine Stimme zu verleihen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Amira Mohamed Ali von der Fraktion Die Linke. Auch für sie ist es die erste Rede im Deutschen Bundestag. ({0})

Amira Mohamed Ali (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004823, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Am nächsten Samstag findet hier in Berlin eine Großdemonstration statt. Das Motto der Demonstration lautet: „Wir haben es satt! Der Agrarindustrie die Stirn bieten!“. ({0}) Viele Tausend Menschen werden erwartet. Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, diese Menschen werden gegen Ihre Politik demonstrieren, und das völlig zu Recht; denn die Große Koalition hat auch in diesem Bereich völlig versagt. ({1}) Deshalb werden die Linke und auch ich selbst an dieser Demonstration teilnehmen; denn für die Linke ist klar: In der Agrar- und Lebensmittelpolitik muss sich endlich und grundlegend etwas ändern. ({2}) Betrachten wir die Dinge, wie sie sind: Die vielen Lebensmittelskandale der letzten Jahre sind nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Wenige große Konzerne bauen ihre Marktmacht ungehindert aus und machen Milliardengewinne. Dabei geht es nicht um soziale und ökologische Verantwortung und auch nicht um gutes Essen, sondern allein um Profit – und das um jeden Preis: auf dem Rücken der Verbraucherinnen und Verbraucher, auf dem Rücken der Beschäftigten und der regionalen Landwirtschaft und auf Kosten der Natur. ({3}) Landwirtschaftliche Betriebe werden in den Ruin getrieben. Schlechte Löhne und zum Teil wirklich katastrophale Arbeitsbedingungen in der Produktion und im Handel: Es ist ein System der Ausbeutung. Wir haben steigende Antibiotikaresistenzen, ein Insektensterben, und die Gülle vergiftet unsere Böden und unser Grundwasser. Ich komme aus Niedersachsen, und dort hat man mancherorts das Gefühl, dass die Äcker keine Anbauflächen für Lebensmittel mehr sind, sondern Entsorgungsflächen für Gülle geworden sind. ({4}) Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, was Sie in Ihren schönen Reden vergessen, ist, dass gesunde Ernährung immer mehr vom Geldbeutel abhängt. ({5}) Ich sehe eine Entwicklung hin zu einer Zweiklassenernährung: ({6}) Bio für Besserverdienende und billige Fertigprodukte voller Zusatzstoffe und mit wenigen Nährstoffen für die Bezieher niedriger Einkommen. Die Folgen sind höhere Krankheitsrisiken und eine geringere Lebenserwartung. Arme Menschen sterben früher. Das ist wissenschaftlich erwiesen worden. Ihre Politik der sozialen Spaltung hat diese Entwicklung befeuert. Sie – und damit meine ich nicht nur Union und SPD, sondern auch die Grünen und die FDP, also die ganz große Koalition des Sozialabbaus – haben Hartz IV und die Ausweitung des Billiglohnsektors zu verantworten. Ich finde es zynisch, von gesunder Ernährung zu sprechen und diesen Zusammenhang dabei einfach auszublenden. ({7}) Aber lassen Sie uns auch darüber reden, was die Große Koalition in der Lebensmittelpolitik und beim Verbraucherschutz erreicht hat. Keine Angst, das dauert nicht lange; denn es ist eine Bilanz des Stillstands. Schärfere Kennzeichnungspflichten bei der Gentechnik? Fehlanzeige! Schärfere Kennzeichnungspflichten hinsichtlich Produktion und Herkunftsort? Fehlanzeige! Vom Tierschutz wage ich kaum anzufangen. Das Tierwohl-Label ist vor einem Jahr von der Großen Koalition vereinbart worden; auf der letzten Grünen Woche wurde es vorgestellt. Es ist immer noch nicht eingeführt. Wissen Sie, als Verbraucherschützerin bin ich natürlich für mehr Transparenz. Ich stehe einem Label grundsätzlich positiv gegenüber. Aber auch Fleisch mit Label steht weiter in Konkurrenz zum Billigfleisch, das unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen produziert wird – unter unsagbar belastenden Arbeitsbedingungen; auch das möchte ich einmal sagen. ({8}) Stellen Sie sich einmal vor, dass Sie den ganzen Tag Hühnerküken in den Schredder schicken müssen. Das Billigfleisch verdrängt im Export lokale Produktionen und macht diese damit kaputt, und es entsteht nicht zuletzt unter unerträglichem Tierleid. Ich sage: Das sollte es überhaupt nicht geben! ({9}) Wenn man die Klimaziele erreichen möchte, dann ist es zwingend notwendig, von dieser Intensivtierhaltung wegzukommen. Die von Verbraucherschützern seit langem geforderte Ampelkennzeichnung für die gesundheitsrelevanten Inhaltsstoffe lehnt der amtierende Bundesernährungsminister Schmidt ab. Warum, Herr Minister? Die Menschen wollen die Kennzeichnung. 80 Prozent aller Verbraucherinnen und Verbraucher wollen genauere Angaben über die Inhaltsstoffe ihrer Lebensmittel. Sie wollen wissen, ob die Produkte fair gehandelt wurden, ob sie gentechnikfrei sind, ob sie umweltschonend erzeugt wurden. 80 Prozent: Das ist eine Zahl aus dem Ernährungsreport 2018, den die Regierung selbst in Auftrag gegeben hat. Auch diese wird ignoriert. Die Menschen wollen die Agrar- und Ernährungswende! Sparen Sie sich die Symbolpolitik! Es muss gehandelt werden! ({10}) Aber danach sieht es nicht aus. Im Sondierungspapier für die Fortsetzung dieser Koalition taucht das Wort „Ernährung“ überhaupt nicht auf. Und der Verbraucherschutz wird mit wenigen schwammigen Sätzen abgespeist. Aber eines kann ich Ihnen versprechen: Die Linke wird Ihnen das nicht durchgehen lassen. ({11}) Die Linke hat ein klares Programm: verbraucherfreundliche Kennzeichnungspflichten, eine Reform des Lebensmittelrechts. Schluss damit, dass die Interessen der Unternehmen besser geschützt werden als die der Verbraucherinnen und Verbraucher! Schluss mit der Ausbeutung der Beschäftigten! ({12}) Wir fordern auch eine Reform des Kartellrechts, um die überwältigende, zerstörerische Marktmacht der großen Konzerne zurückzudrängen. Das würde auch den Landwirten und den Zulieferern helfen, die dem Diktat dieses Marktmonopols oft schutzlos ausgeliefert sind. Wir wollen eine Landwirtschaft der artgerechten Tierhaltung und der regionalen Ausrichtung. ({13}) Als Linke stehen wir für gesunde und bezahlbare Nahrungsmittel für alle. Gesunde Ernährung darf nicht vom Geldbeutel abhängen. Wir brauchen die Agrar- und Ernährungswende, und wir müssen sie mit einem sozialen Aufbruch verbinden. ({14}) Danke für die Aufmerksamkeit. ({15})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Dr. Anton Hofreiter. ({0})

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege von der FDP, ich gebe Ihnen ja recht, dass das Sondierungspapier der sich vielleicht bildenden Großen Koalition etwas dünn geraten ist. Es stimmt auch, dass das Sondierungspapier einer möglichen Jamaika-Koalition, auf das wir uns im Bereich Landwirtschaft geeinigt hatten, deutlich besser gewesen wäre. Aber warum beklagen Sie sich denn hier darüber? Sie hätten das alles mit uns gemeinsam haben können, wenn Ihr Parteivorsitzender nicht zu feige zum Regieren gewesen wäre. ({0}) Wissen Sie, in welchem Moment Ihr Parteivorsitzender davongelaufen ist? Er ist in dem Moment davongelaufen, als er die Komplettabschaffung des Solis bekommen hatte, ({1}) die Abschaffung der anlasslosen Vorratsspeicherung und das Digitalpaket. Da ist er davongelaufen. Also bitte! Wenn Sie etwas zu kritisieren haben, dann kritisieren Sie erst einmal Ihren eigenen Vorsitzenden, und fassen Sie sich an die eigene Nase. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich mir das Sondierungspapier der sich vielleicht bildenden Großen Koalition anschaue, dann verstehe ich bestimmte Dinge nicht. Wieso haben Sie von der CDU/CSU die Punkte, die wir gemeinsam erarbeitet haben – wir hatten den Eindruck, dass Sie hier wirklich gelernt und diese unterstützt haben –, so schnell vergessen, als Sie mit der SPD an einem Tisch saßen? Wir hatten doch eine verpflichtende Haltungskennzeichnung vereinbart und nicht ein solches Wischiwaschi, wie es jetzt in Ihrem Papier steht. ({3}) Wir hatten uns doch auf ein Programm zur Reduktion aller Pestizide verständigt, nicht nur der glyphosathaltigen Pestizide. ({4}) Warum haben Sie all das so schnell vergessen? Ist es vielleicht so, dass man Sie von der Union einfach nicht allein lassen kann, wenn es um solche Fragen geht, ({5}) dass Sie, wenn die Grünen nicht auf Sie aufpassen, bei Ökologie, Tierschutz und all diesen wichtigen Fragen sofort ausbüxen? Auch beim Thema Klimaschutz haben Sie das eindrücklich bewiesen. Jetzt zur SPD. Die SPD hatte viele dieser Themen vorbildlich in ihrem Wahlprogramm stehen. ({6}) Deshalb frage ich mich ehrlich gesagt schon: Wieso haben Sie, die Sie immerhin noch 20 Prozent der Stimmen erhalten haben, so viel weniger durchgesetzt als wir mit unseren 8 Prozent, zumal wir mit CDU/CSU und FDP verhandeln mussten? ({7}) Liegt das daran, dass diese Punkte bei der SPD sozusagen nur im Schaufenster, also nur im Wahlprogramm stehen, ({8}) dass Sie sich aber in den Verhandlungen, wenn es hart auf hart kommt, für all diese wichtigen Fragen zur Ökologie, zum Tierschutz und – angesichts des Höfesterbens – zum Erhalt der bäuerlichen Landwirtschaft überhaupt nicht mehr interessieren? Ist das vielleicht die Ursache? ({9}) Was ist jetzt notwendig? Notwendig ist nicht, dass in einer politischen Debatte anlässlich der Eröffnung der Grünen Woche vonseiten der SPD und der CDU/CSU ein bisschen Ernährungsberatung gemacht wird. Ich glaube, Ernährungsberatung ist nicht die Hauptaufgabe des Deutschen Bundestages, auch in einer Debatte über Ernährung und Landwirtschaft nicht, sondern unsere Hauptaufgabe ist es, Gesetze zu machen, und nicht, den Leuten zu sagen, wie sie zu essen haben. Aber das nur am Rande. ({10}) Was ist also notwendig? Notwendig wäre, ein echtes Reduktionsprogramm für alle Pestizide aufzulegen. Notwendig wäre die Einführung einer klaren Haltungskennzeichnung. Notwendig wäre, die Vergabe der Gelder so zu gestalten, dass das Höfesterben nicht einfach weitergeht. Es hilft nicht, wenn sich die jetzige Politik lippenhaft zur Landwirtschaft bekennt; die Rahmenbedingungen sind es, die den Bäuerinnen und Bauern das Leben schwer machen. Diese Rahmenbedingungen müssen wir ändern. Wenn man zum Beispiel einen Großteil des Geldes einfach nach der Größe der Fläche vergibt, dann führt das höchstens dazu, dass die Pachtpreise steigen. Deshalb muss man das Geld nach qualitativen Kriterien vergeben, nach Ideen, wie wir sie in unserem Sondierungspapier festgehalten haben. ({11}) Man könnte sich wirklich ärgern, wenn man sich die jetzigen Ergebnisse anschaut und diese mit dem vergleicht, was im Sondierungspapier der Jamaika-Sondierer stand. Da stand: Ställe der Zukunft, klimaschutzangepasste Produktion, Erhalt der Kulturlandschaft und der biologischen Vielfalt, gesunde Ernährung, Technologisierung und Digitalisierung sowie Präzisierungslandwirtschaft einsetzen. Mensch, wir waren doch schon einmal so weit! Wenn sich die SPD schon nicht traut, dann traut wenigstens ihr von der CDU/CSU euch, das, worauf wir uns schon geeinigt haben, umzusetzen, wenn schon die FDP davongelaufen ist! Für uns ist am Ende nicht entscheidend, dass wir nicht die Posten haben, ({12}) sondern für uns ist entscheidend, dass endlich inhaltlich sinnvolle Politik gemacht wird. ({13}) Darauf kommt es an. Deshalb mein Appell an die CDU/CSU und die SPD, wenn Sie wirklich eine Regierung bilden sollten: Ändern Sie die Politik, und schauen Sie sich die Papiere an, die wir gemeinsam erarbeitet haben. Darin finden Sie viel Gutes. Vielen Dank. ({14})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Lieber Kollege Hofreiter, ich erlaube mir die Feststellung, dass es sich hier nicht um eine Ernährungsberatung handelt, sondern um eine vereinbarte Debatte der Fraktionen des Deutschen Bundestages. ({0}) Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth. ({1})

Dr. Maria Flachsbarth (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003527

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Immer mehr Menschen beschäftigen sich mit Ernährung. Das ist seit Jahren ein stabiler Trend, der sich mit Sicherheit auch im Jahr 2018 fortsetzen wird. Lieber Herr Kollege Hofreiter, die Menschen wollen von uns keine Ernährungsberatung, sondern eine konsistente Ernährungspolitik, und genau das haben wir zu leisten. Ernährung wird immer individueller, und Verbraucherinnen und Verbraucher wünschen sich immer mehr eindeutige und verlässliche Informationen über ihre Lebensmittel. Die Ernährungsweisen werden immer vielfältiger, nicht nur mit Blick auf Vorlieben und Geschmack, sondern auch hinsichtlich der Lebenseinstellung und des Wertegerüsts. Für all diese Bedürfnisse – bei Allergien und Unverträglichkeiten sind es Notwendigkeiten – liefert unsere heimische Land- und Ernährungswirtschaft ein ebenso vielfältiges wie qualitativ hochwertiges Angebot. Noch ein Trend ist zu beobachten. Nach Zeiten großer Entfremdung rücken Landwirtschaft und Konsumenten nun stellenweise wieder zusammen. Denn die Menschen möchten nicht nur die Pflichtangaben auf einer Verpackung lesen, sie möchten auch wissen: Wo genau kommt das Lebensmittel eigentlich her, und wie wird es produziert? Unter welchen Haltungsbedingungen hat das Schwein oder die Pute gelebt, von dem oder der ich gerade ein Schnitzel kaufe? Der Weg zwischen Stall und Teller wird wieder kürzer. Auch deshalb ist es sinnvoll und zukunftsweisend, Agrar- und Ernährungspolitik und den gesundheitlichen Verbraucherschutz gemeinsam zu betrachten. Alle drei Politikbereiche sind Teile einer Wertschöpfungskette. Alle drei Politikbereiche gestalten wir deshalb aus einem Guss. Wir schlagen damit drei Fliegen mit einer Klappe: Wir stärken die Land- und Ernährungswirtschaft. Wir sorgen für ein vielfältiges, nachhaltiges und transparentes Lebensmittelangebot für Verbraucherinnen und Verbraucher, und wir geben darüber hinaus Impulse für lebendige ländliche Regionen. Deshalb ist es sinnvoll und zukunftsweisend, Agrar- und Ernährungspolitik, den gesundheitlichen Verbraucherschutz und die Politik für den ländlichen Raum auch zukünftig in einem Ressort zu vereinen, nämlich in einem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Ich sagte es schon: Im Hinblick auf die sich wandelnden Gewohnheiten und Verbrauchererwartungen werden wir in der Agrarpolitik künftig die Ernährungsbelange noch stärker in den Fokus nehmen müssen. Wenn die EU-Kommission für ihre Pressemitteilung zur Zukunft der gemeinsamen Agrarpolitik die Überschrift „Ernährung und Landwirtschaft der Zukunft“ gewählt hat, so ist das eine Zielformulierung, der wir uns nur anschließen können. Hier liegt die große Chance für die Landwirtschaft. Landwirtschaftliche Erzeugnisse werden aufgewertet. Es eröffnen sich nachhaltige und innovative Marktchancen. Regionale Vertriebswege und enge Kundenbindung tragen dazu bei, die Wertschätzung für landwirtschaftliche Produkte und die Landwirtschaft selbst zu steigern und auch den bewussteren Umgang mit Lebensmitteln zu fördern. Ganz nebenbei stehen wir mit diesen Produkten aus einem wettbewerbsstarken und verbraucherorientierten Markt auch noch künftig beim Export in Länder mit hoher Kaufkraft gut da. Lassen Sie mich konkrete Beispiele geben. Glaubt man der Marktforschung, werden eiweißreiche Hülsenfrüchte bei Verbraucherinnen und Verbrauchern immer beliebter. Diese ernährungsphysiologisch vorteilhaften Pflanzen verbessern zugleich beim Anbau den Boden, sparen Stickstoffdünger und erhöhen die Biodiversität. Es lohnt sich deshalb bei agrarpolitischen Entscheidungen, diese Vorlieben im Ernährungsverhalten der Bevölkerung mitzudenken. Damit haben wir schon gute Erfahrungen gemacht, etwa bei der Zusammenführung der bisherigen EU-Programme für Schulobst und Schulmilch – liebe Frau Kollegin Schulte, nicht nur 9, sondern 15 Bundesländer beteiligen sich inzwischen daran –; das entspricht dem Ernährungsbedarf der Kinder, aber darüber hinaus auch den pädagogischen Begleitmaßnahmen, die notwendig sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das haben wir schon gehört: Eine unausgewogene Ernährung kann ernsthafte gesundheitliche Probleme verursachen. Adipositas ist der große Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Typ-2-Diabetes. Diese Erkrankungen verursachen nicht nur individuelles Leid, sondern auch gesamtgesellschaftliche Schäden. Eine Land- und Ernährungswirtschaft aus einem Guss kann dem jedoch entgegenwirken. In diesem Sinne haben wir im vergangenen Jahr zwei neue Einrichtungen eröffnet, nämlich das Bundesinformationszentrum Landwirtschaft als zentralen Informationsdienstleister für Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischerei und Gartenbau und das Bundeszentrum für Ernährung als zentrale Stimme für alterstaugliche, wissenschaftsbasierte Ernährungsempfehlungen rund um gesundes Aufwachsen, ausgewogene Ernährung und die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Landwirtschafts- und Ernährungspolitik aus einem Guss nimmt Verbraucherinnen und Verbraucher ernst, die nach den Bedingungen, unter denen Lebensmittel produziert werden, fragen. Gerade wenn es um die Haltung unserer Nutztiere geht, erleben wir in diesen Tagen wieder besonders kritische Nachfragen. Deshalb steht die diesjährige internationale Agrarministerkonferenz im Rahmen der Internationalen Grünen Woche, das Global Forum for Food and Agriculture, unter dem Titel „Die Zukunft der tierischen Erzeugung gestalten – nachhaltig, verantwortungsbewusst und leistungsfähig“. Von nun an werden auf Einladung von Bundeslandwirtschaftsminister ­Christian Schmidt rund 70 Agrarministerinnen und Agrarminister darüber beraten genauso wie über die Möglichkeit, den Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung auf das absolut unerlässliche Maß zu reduzieren. Ich werte es als großen Erfolg, dass der Bundeslandwirtschaftsminister und der Bundesgesundheitsminister im Rahmen der deutschen G-20-Präsidentschaft gemeinsam den Startschuss für einen auf Dauer angelegten engen und grenzüberschreitenden Fachaustausch zwischen Human- und Veterinärmedizin im Sinne des One-Health-Ansatzes gegeben haben, um Antibiotikaresistenzen wirksam zu begegnen. Klar ist aber auch: Der Umbau der Tierhaltung geht nicht von heute auf morgen, und er geht nur mit und nicht gegen die Tierhalter. Mit der Initiative „Eine Frage der Haltung. Neue Wege zu mehr Tierwohl“ von Bundesminister Schmidt sind wir 2014 gestartet. Wir haben sichtbare Verbesserungen erreicht. So wurden nichtkurative Eingriffe bei Nutztieren weiter zurückgedrängt. Auf das Schnabelkürzen bei Legehennen wird inzwischen verzichtet. Das Töten von Eintagsküken steht vor dem Aus. Wir bleiben dran. Denn der BMEL-Ernährungsreport 2018 zeigt uns: 47 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher sind auf jeden Fall und 43 Prozent eher bereit, mehr Geld für Fleisch mit einem staatlichen Tierwohllabel auszugeben; zusammen sind das 90 Prozent. Deswegen hat das Tierwohllabel weiterhin Priorität auf der BMEL-Agenda für das Wohl der Tiere, eine gerechte Vermarktung und transparente Verbraucherinformationen. Landwirtschafts- und Ernährungspolitik aus einem Guss, das ist der Maßstab, an dem wir uns messen lassen müssen und messen lassen wollen. Alle Seiten können davon nur profitieren: Landwirtinnen und Landwirte, Verbraucherinnen und Verbraucher sowie nicht zuletzt Tiere und Umwelt. Vielen Dank. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als nächster Redner hat das Wort Dr. Edgar Franke für die Fraktion der SPD. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine gesunde und ausgewogene Ernährung ist so etwas wie ein Programmsatz der Gesundheitspolitiker der SPD. Lieber Toni Hofreiter, das ist mehr als Ernährungsberatung. ({0}) Ich hatte bei Ihrer Rede den Eindruck, dass Sie traurig sind, weil Sie nicht regieren können. Das ist nun einmal so. Wir alle, auch ich, konsumieren oft – ohne groß darüber nachzudenken – viele ungesunde Lebensmittel. Wir nehmen zum Beispiel zu viel Fast Food zu uns. Ich selber kann es nur schwer verbergen: Auch ich bin ein Genussmensch. Genauso wie viele andere greife ich gerne zu Süßigkeiten oder – auch auf der Grünen Woche – zu der guten Ahle Wurscht, einer nordhessischen Spezialität, die Staatsminister Michael Roth sicherlich kennt. ({1}) – Wie ich höre, kennt er sie zumindest, obwohl er Vegetarier ist. Gutes Essen ist für mich Genuss und Lebensfreude; das sollten wir uns gerade in der Grünen Woche nicht nehmen lassen. Aber, wie jeder Gesundheitspolitiker und jeder Hausarzt sagt, die Dosis macht das Gift. So sind, wie eben kurz beschrieben wurde, extremes Übergewicht, also Adipositas, ernährungsbedingte Krankheiten und vor allen Dingen Diabetes oft die Folge falscher Ernährung. Gerade Diabetes ist eine Volkskrankheit. Knapp 7 Millionen Menschen sind in Deutschland betroffen. Das Robert-Koch-Institut geht sogar von einer Dunkelziffer von über 1 Million aus. Wir müssen handeln; denn ernährungsbedingte Krankheiten belasten unser Gesundheits- und Sozialsystem jährlich mit 70 Milliarden Euro. Deswegen haben wir in der Großen Koalition einiges auf den Weg gebracht, unter anderem 2015 das Präventionsgesetz. Zehn Jahre haben andere Koalitionen das vergeblich versucht. Wir haben die Ausgaben für die Prävention erhöht, und zwar von 3 Euro auf 7 Euro pro Versicherten und Jahr. Wir geben seit 2016 über 500 Millionen Euro für Früherkennung und Präventionsberatung aus. Daran müssen wir alle weiterarbeiten. Aus Sicht der Sozialdemokraten brauchen wir einen nationalen Aktionsplan mit den Schwerpunkten Ernährung, Bewegung und Stressbewältigung. Um es auf den Punkt zu bringen: Das Ziel sozialdemokratischer Gesundheitspolitik ist immer gewesen, gerade diejenigen zu erreichen, die aufgrund ihrer Lebensumstände Gesundheit und Vorsorge nicht in den Mittelpunkt ihrer Lebensentwürfe stellen. Gesunde Ernährung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Ich will hier nur ein paar Punkte nennen, die uns wichtig sind. Wir müssen in Kitas, in Betrieben, in Schulen darauf hinweisen, wie wichtig zucker- und fettarme Ernährung ist. Wir müssen darauf hinweisen, wie wichtig Sport und Bewegung sind, gerade für Kinder. Wir sollten ein Ampelsystem in Betracht ziehen. Es ist sicherlich richtig: Man kann Lebensmittel so ohne Weiteres nicht beurteilen. Aber gerade bei Lebensmitteln mit viel zugesetztem Zucker, Salz oder Fett könnte die Kennzeichnung Rot schon als Orientierung dienen. Man sollte eins nicht machen – auch das muss ich sagen –: Man soll den Leuten nicht die Currywurst vermiesen. Man soll den Leuten die Süßigkeiten nicht vermiesen. Aber wir brauchen eine Orientierung für die Verbraucher, und das ist auch im Interesse der Menschen. ({2}) Ich bin als Gesundheitspolitiker ausdrücklich auch für eine Harmonisierung der Mehrwertsteuersätze. ({3}) Angesichts der Tatsache, dass Mehrwertsteuersätze teilweise willkürlich festgelegt werden, sollten wir ins Auge fassen, gerade gesundheitsförderliche Lebensmittel mit einem geringeren Mehrwertsteuersatz zu belegen. Es gibt jetzt eine Studie der Uni Hamburg – sie ist ganz neu –, die aufzeigt, dass eine Steuerung des Gesundheitsverhaltens möglich ist, wenn man gesunde Lebensmittel billiger macht. Wir müssen auch – das hat aus Sicht der Landwirtschaftspolitiker der SPD absolute Priorität – eine nationale Strategie zur Reduktion von Zucker, Salz und Fetten in Fertigprodukten auf den Weg bringen. Das geht sicherlich nur im Dialog mit der Lebensmittelindustrie. Wir brauchen Anreize dafür, dass Produkte kalorien-, salz- und zuckerärmer angeboten werden. Ich glaube, das ist ganz wichtig. ({4}) Wir brauchen eine zielgerichtete Zusammenarbeit aller Akteure. Es ist jedenfalls für uns als SPD eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, allen Menschen unabhängig von Herkunft, Bildung und Einkommen eine Chance auf ein gutes, auf ein gesundes Leben und auf eine gesunde Ernährung zu geben. Dazu gehört vieles von dem, was ich eben angedeutet habe. Danke schön. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als nächsten Redner rufe ich Dr. Axel Gehrke auf, der für die AfD heute seine erste Rede im Deutschen Bundestag halten wird. ({0})

Prof. Dr. Axel Gehrke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004725, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Besucher auf der Tribüne! Was wir bisher gehört haben, klingt gefährlich: Industrienahrung, Gentechnik, Pestizide und Antibiotikarückstände, ja, selbst Zucker und Salz, wie wir eben gehört haben – es scheint wieder einmal, dass wir dem Ende nahe sind. ({0}) In meinen langen Berufsjahren als Arzt habe ich viele Ökopaniken erlebt, die meine Patienten in Angst und Schrecken versetzt haben, Frau Kollegin. ({1}) Ich erinnere nur an das Waldsterben und an das Ozonloch, bei dem wir knapp der Vernichtung entgangen sind. ({2}) Den Wald, Frau Göring-Eckardt, gibt es auch heute noch und das Ozonloch auch. ({3}) Aber der Farbige hat seine Schuldigkeit getan; der Farbige kann gehen. ({4}) So ist es auch mit allem, was angeblich gesund und ungesund ist: Steinzeitdiät, Hollywood-Diät, Eier-Diät, Hay’sche Trennkost, Low Carb, vegetarisch, vegan und was es alles noch so gibt. Meine Damen und Herren, keine dieser Ernährungsformen hat auch nur annähernd validiert zeigen können, dass sie langfristig irgendwelche Vorteile hat gegenüber einer ganz normalen Mischkost, wie wir sie seit Jahrtausenden zu uns nehmen: ({5}) schlicht und ergreifend Obst, Gemüse, Kohlenhydrate und Proteine. Wir sollten genau so essen, wie es uns gerade schmeckt. Meine Damen und Herren, hören Sie auf, die Menschen zu verunsichern! Natürlich gibt es ernährungsbedingte Erkrankungen. Natürlich müssen diese auch behandelt werden. Natürlich gibt es auch Diäten, die helfen. Aber es geht doch hier um etwas ganz anderes. Es geht hier um den ganz normalen Menschen, dem Sie nicht immer wieder ein schlechtes Gewissen einreden müssen, wenn er so isst, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. ({6}) Das ist Zwangsbeglückung, und das lehnen wir ab. ({7}) Ich gebe Ihnen einmal ein Beispiel: Es ist doch absurd, die Zuckersteuer einzuführen und dann die völlig übersüßten Produkte in den Regalen zu lassen. Es wird doch sowieso alles wieder teurer; das fällt den Menschen doch gar nicht auf; und so soll es wahrscheinlich auch sein. – Nein, meine Damen und Herren, wenn ein Lebensmittel die rote Banderole mit der Aufschrift „Dieses Lebensmittel ist für Kinder ungeeignet“ trägt, dann möchte ich die Mutter sehen, die dieses Produkt aus dem Regal holt ({8}) Meine Damen und Herren, die Gefahr liegt doch ganz woanders: Die meisten Menschen haben heute eine sitzende Tätigkeit, und wenn die Arbeit endlich erledigt ist, geht es nicht etwa nach Hause, sondern schnurstracks zur zweiten Arbeitsstelle, meistens für noch einmal vier Stunden. Ich sage Ihnen: Diese Gejagten Ihrer bisherigen Regierung setzen sich abends erschöpft auf das Sofa, trinken zwei Bier und pfeifen auf alle Ihre Regeln für gesunde Ernährung. Recht haben sie. ({9}) Ich gebe Ihnen ein zweites Beispiel: Begleiten Sie doch einmal eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern beim Einkauf. Wenn Sie ihr etwas von Bio erzählen, ernten Sie bestenfalls ein müdes Lächeln. 25 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind von Armut betroffen bzw. gefährdet. Der Anteil der prekären Arbeitsverhältnisse liegt bei 40 Prozent. Und Sie schwadronieren hier von „Gesunder Ernährung für ein gutes Leben“. ({10}) Nein, Frau Connemann, wir haben unser Schicksal nicht in der Hand. Sie und Sie alle, die Sie hier sitzen, haben es in der Hand. ({11}) Deutlich bessere Löhne in verlässlicher Vollzeitarbeit würden den Zweitjob überflüssig machen. Das wäre ein wahrhaft gesundes Ziel für ein gutes Leben, wie Sie es ja angeblich erreichen wollen. Nein, meine Damen und Herren, diese Ökopaniken lassen wir Ihnen nicht mehr durchgehen, sondern werden sie brandmarken, wo immer wir können. Vielen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Lieber Herr Dr. Gehrke, Sie haben bei Ihrer ersten Rede Ihre Schuldigkeit getan; aber mit Ihrer Hautfarbe hat das rein gar nichts zu tun. ({0}) Als nächsten Redner rufe ich den Abgeordneten Alois Rainer für die CDU/CSU-Fraktion auf. ({1})

Alois Rainer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine gesunde und ausgewogene Ernährung ist die Grundlage für ein gutes Leben. Wie richtig ist diese Aussage! Wir nehmen die Eröffnung der Internationalen Grünen Woche traditionell hier im Hohen Haus zum Anlass für eine Debatte, um über die aktuellen Entwicklungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsbranche zu sprechen. So sprechen wir hier zum Beispiel auch über die neuesten Erkenntnisse des Ernährungsreports 2018 des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, der aussagt, dass sich die Ernährungsgewohnheiten der Menschen in Deutschland verändern. Der Verbraucher interessiert sich mehr denn je für die Herkunft, die Herstellung und die Zusammensetzung der Lebensmittel. So heißt es dort auch, dass der überwiegende Teil, nämlich circa 63 Prozent, der Verbraucher bewusst einkauft. Der Verbraucher ist bereit, mehr für die Qualität der Lebensmittel zu bezahlen. Sie haben den Verbraucherschutz angesprochen, und ich kann Ihnen nur bestätigen, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass es selbstverständlich unsere Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass der Verbraucher ausreichend informiert wird. Die Sicherheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist richtig und wichtig und muss zu jeder Zeit gewährleistet sein. ({0}) Aber lassen Sie mich dazu auch sagen, dass wir in Deutschland im weltweiten Vergleich schon jetzt die höchsten Sicherheitsstandards und die strengsten Gesetze im Ernährungsbereich haben. Selbstverständlich gibt es Punkte, über die wir weiter konstruktiv diskutieren müssen – keine Frage –, auch mit Unterstützung der Wissenschaft. In vielen Regionen können wir Lebensmittel direkt vor der Haustür produzieren und dementsprechend auch erwerben. Liebe Frau Kollegin Gminder, mir ist es als Lebensmittelproduzent schon ganz recht, dass wir regional einkaufen – es soll so viel wie möglich regional eingekauft werden –; auf der anderen Seite muss es uns in unserem Land aber auch erlaubt sein, für Produkte aus anderen Ländern Werbung zu machen und Produkte aus anderen Ländern zu uns zu nehmen, weil auch wir unsere Produkte in anderen Ländern verkaufen wollen. ({1}) Der Trend zu Regionalität und Nachhaltigkeit hält an. Das öffentliche Interesse für die Landwirtschaft und die Ernährungswirtschaft ist in den letzten Jahren enorm gewachsen. Wenn die Menschen verstehen, wie produziert wird, wachsen auch die Anerkennung und das Verständnis, damit die Wertschätzung und gleichzeitig auch die Wertschöpfung. Ziel ist es, dem Verbraucher durch eine ausreichende Transparenz in der gesamten Lebensmittelkette eine eigenverantwortliche und sachkundige Entscheidung zu ermöglichen. Gesundes Essen ist Genuss, und eine ausgewogene Ernährung ist das beste Rezept für eine gute Gesundheit. Meine Damen und Herren, die Grundlagen für eine gesunde Ernährung werden in der Landwirtschaft gelegt. Unsere Land-, Forst- und auch Fischereiwirtschaft sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft und berühren uns alle in unserem täglichen Leben. Sie schaffen unsere Lebensgrundlagen. Um die natürlichen Produktionsgrundlagen für die Landwirtschaft zu bewahren, müssen wir unsere natürlichen Ressourcen nachhaltig nutzen und erhalten. Daher ist es mir ein besonderes Anliegen, dass nicht gegen die Land- und Ernährungswirtschaft gearbeitet wird, sondern mit ihnen zusammen. Ich sehe unsere Aufgabe darin, die Landwirtschaft in Deutschland zu unterstützen. Wir müssen die Weichen stellen, damit Landwirtschaft auch noch in vielen Jahren interessant ist. ({2}) Das heißt unter anderem, dass wir den Landwirten die Möglichkeit geben müssen, im Stall und auf den Feldern zu arbeiten. Wir dürfen sie nicht durch mehr und zum Teil auch unnötige Bürokratie an die Büros fesseln. Wir brauchen eine selbstbewusste und nachhaltige sowie vor allem eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft. Lassen Sie mich abschließend noch einen Dank aussprechen. Ein besonderer Dank geht an alle diejenigen, die dafür sorgen, dass die Land- und Ernährungswirtschaft in Deutschland gute Sparten in unserem Land sind. Lassen Sie uns mit denen zusammen weiter für gute Ernährung für unsere Menschen in unserem wunderbaren Land sorgen! Vielen herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Letzter Redner in dieser Debatte ist Johann Saathoff für die Fraktion der SPD. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so ging: In den letzten Wochen ging mir die Debatte darüber, wer wohl den größeren Knopf hat, ziemlich auf den Geist. ({0}) Heute haben wir eine Debatte darüber erlebt, wer die bessere Sondierung gemacht hat. Ich kann noch nachvollziehen, dass man darüber streiten kann, weil der eine oder andere auch Verlustängste hat, aber man muss sich einmal angucken, was das ist: Sondierungsergebnisse und Koalitionsvertrag – dazwischen besteht ein Unterschied. Sondierungsergebnisse miteinander vergleichen zu wollen, ist, wie Pakete miteinander vergleichen zu wollen, ohne die Inhalte tatsächlich zu kennen. Seien Sie gewiss: Unser Koalitionsvertragsergebnis wird Sie beeindrucken! ({1}) Es ist die Zeit der Grünen Woche; das wissen wir alle miteinander. Deswegen debattieren wir heute über gesunde Ernährung und weniger über die Vergleichbarkeit von Sondierungsergebnissen. Es ist letzten Endes mit der Grünen Woche auch die Diskussion über Essen und Trinken verbunden. Heute haben wir die gesunde Ernährung im Fokus. Ich möchte an dieser Stelle sagen, dass Essen mehr ist als lediglich die Aufnahme von Nahrung. Gemeinsame Mahlzeiten stärken nämlich die Bindungen in der Familie, und das ist gar nicht hoch genug zu schätzen. Essen sollte ausgewogen sein, sollte regional oder auch einmal international sein, sollte saisonal sein und – als Berichterstatter für Fischerei muss ich das an dieser Stelle natürlich einfließen lassen – auch regelmäßig aus Fisch bestehen. ({2}) Essen ist also etwas sehr, sehr Wertvolles, aber das wird nicht mehr überall so gesehen. Ich rate, dazu einmal einen Blick in die Schulen zu werfen; da läuft nämlich einiges schief. Keine Angst, ich will an dieser Stelle kein neues Schulfach fordern; denn da gäbe es noch mindestens zehn weitere, die man fordern könnte. Aber es sollte möglich sein, in ein pädagogisches Konzept auch ein gemeinsames Schulessenerlebnis aufzunehmen – wenigstens für die Kinder, die das Zuhause nicht mehr erleben dürfen. Als Bürgermeister meiner Heimatgemeinde Krummhörn habe ich damals versucht, eine Mensa einzurichten. Wir haben in einer Umfrage unter den Schülern danach gefragt, wie viele der Kinder vor der Schule eigentlich gefrühstückt haben. Die Hälfte! Das heißt, die andere Hälfte hat vor der Schule nicht gefrühstückt. Das ist die Situation. Das ist sozusagen der Rahmen, auf den wir auch öffentliche Infrastruktur aufsetzen müssen. Ich erspare Ihnen jetzt die Antwort, die wir auf die Frage bekommen haben, wie viele Schüler eigentlich ihre Eltern vor der Schule gesehen haben. Das lasse ich an dieser Stelle einmal außen vor. Es ist ein Problem, wenn sich Menschen – vor allem Kinder – überwiegend von Fett und Zucker ernähren. Damit bekommen sie so viel Energie, dass sie zum einen kaum zu bändigen sind und zum anderen, wenn der Zuckerspiegel anschließend sinkt, buchstäblich in ein Loch fallen. Mitarbeiten bzw. die aktive Teilnahme am Unterricht – das ist auch Arbeit – ist so nicht möglich. Es gibt Konzentrationsschwächen, Fettleibigkeit, schlechte Zähne. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie viele Medikamente man einsparen könnte, wenn man sich gesund ernähren würde. ({3}) Das eine ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie man dem Körper durch richtige Ernährung Energie zuführt. Das andere ist, wie diese Energie wieder abgerufen wird. Dies geschieht nicht durch Smartphones und Spielekonsolen, die vielleicht die Auge-Hand-Koordination verbessern, sondern durch Bewegung – und zwar draußen –, durch mehr Sportunterricht, durch Sport in den Vereinen. Das ist so unglaublich wichtig und gehört zur Ernährung dazu. ({4}) Wir Eltern, wir Erwachsenen sollten das vorleben, das ist nämlich nicht nur gut für uns – „De Buur löppt alltied in sein Vaders Schluurn“, sagen wir in Ostfriesland –, sondern ist auch gut für die Kinder, weil sie es nachmachen. Bewegungsmangel und falsche Ernährung sind kein Problem bestimmter Gruppen, sondern eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. Eine wichtige Maßnahme wäre die Kennzeichnung; denn Fett und Zucker sind in Lebensmitteln oft versteckt. Versuchen Sie, sich einen Tag ohne Industriezucker zu ernähren. Das ist ohne Diplom für Ökotrophologie quasi nicht machbar. ({5}) Wenn auf einem Joghurt „30 % weniger Zucker“ steht, dann weiß ich immer noch nicht, ob er zu viel Zucker für mich hat oder nicht. Die USA, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind sicher kein gutes Vorbild für gesunde Ernährung, aber ein Beispiel für eine Kennzeichnung, die man auch verstehen kann, sind sie allemal. Wir brauchen eine vernünftige Ampel, eine vernünftige Kennzeichnung. Die Lebensmittelindustrie in den USA – das darf ich an dieser Stelle sagen – ist durch die Kennzeichnung nicht zusammengebrochen, und die Verbraucher, Frau Staatssekretärin, sind auch nicht überfordert. ({6}) Die Kennzeichnung ist kein Garant für gesunde Ernährung, aber dringend notwendig und eine leicht zu realisierende Hilfe auf dem Weg zu einer gesunden Ernährung. Auf der Grünen Woche, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird viel gegessen und getrunken. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass dies künftig noch ein bisschen bewusster und genussvoller geschehen kann. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Damit schließe ich die Aussprache, meine Damen und Herren.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Da wird der jüdische Inhaber eines Restaurants in Berlin hart attackiert und beschimpft und ihm der Tod angedroht. Da trauen sich Juden in Berlin nicht mehr auf die Straße und sich als Juden zu erkennen zu geben. Nach einer jüngsten Studie haben immer mehr jüdische Menschen in unserem Land große Sorge über diese Entwicklung. Ein viel zu großer Anteil von ihnen trägt sich mit dem Gedanken, vielleicht doch Deutschland wieder zu verlassen. Vor dem Hintergrund der Schoah und der Ermordung von über 6 Millionen Juden im Dritten Reich tragen wir in Deutschland eine besondere Verantwortung dafür, dass Antisemitismus in unserem Land nicht immer weiter wachsen kann. ({0}) Es haben hier im Deutschen Bundestag in der letzten Legislaturperiode in einer Debatte alle Fraktionen festgestellt, dass wir uns darüber freuen, dass jüdisches Leben in unserem Land wieder vorhanden ist, und dass wir dies fördern wollen. Es liegt eine besondere Aussage von Menschen jüdischen Glaubens darin, wenn sie nach der Schoah in das Land zurückkehren oder neu in diesem Land anfangen, das Juden ein so unsägliches Unrecht angetan hat. Deswegen haben wir eine große Verantwortung dafür, dass dieses jüdische Leben auch in Zukunft in diesem Land unbedrängt und weitgehend ohne Sorgen für diese Menschen möglich ist. ({1}) Wir hatten einen unabhängigen Expertenkreis zu diesem Themenkomplex eingesetzt und haben einen Expertenbericht bekommen. In diesem Bericht wird uns gesagt, dass der Großteil antisemitischer Aktionen, Verbrechen, Attacken aus dem Bereich des Rechtsextremismus kommt, dass aber auch eine wachsende Zahl antisemitischer Handlungen von eingewanderten Menschen festzustellen ist, die aus einer Region kommen, wo der Hass auf Israel und Antisemitismus eins zu eins gepflegt werden, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Beides dürfen wir nicht zulassen. Wenn vor einigen Tagen vor dem Brandenburger Tor israelische Flaggen verbrannt wurden, bin ich der Meinung, dass man dies nicht mit dem Satz „Das ist die Flagge eines Staates“ abtun kann; denn die Flagge Israels hat bei uns in Deutschland eine andere Bedeutung. Deswegen dürfen wir dies nicht zulassen. ({3}) Wir haben eine große Aufgabe vor uns. Jetzt kann man natürlich darüber diskutieren, ob die Vorschläge der Expertenkommission tatsächlich zu dem gewünschten Erfolg führen. Trotzdem bin ich der Meinung, dass man den entscheidenden Vorschlag, der dort gemacht worden ist, doch zuerst einmal umsetzen sollte. Damit gehen wir an die Arbeit, und dann schauen wir uns an, ob es Erfolg hat. Ich finde es richtig, dass wir in unserem gemeinsamen Antrag formulieren: Wir fordern die Bundesregierung auf, den von der Expertenkommission vorgeschlagenen Beauftragten für Antisemitismusbekämpfung einzusetzen. Ich sage zu, dass wir als Union dies auf jeden Fall in jeder Koalition, die wir eingehen, auch durchsetzen. Ich glaube auch, dass es richtig ist, dass wir im Bundestag gesagt haben: Wir wollen das. – Wir werden dies in den Beratungen über den Haushaltsplan finanziell unterlegen und auf den Weg bringen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Natürlich wird in dem Bericht auch gesagt, was dieser Beauftragte machen soll. Ich glaube, das Entscheidende ist, vor allem bei der jüngeren Generation Bewusstsein zu schaffen. Es darf nie passieren, dass junge Menschen aus unseren Schulen herauskommen und über das Thema Antisemitismus noch kein einziges Wort gehört haben. ({5}) Mit dieser Arbeit, die wir da vor uns haben, und dem Beauftragten können wir ein Zeichen senden an die Juden, die in unserem Land leben: Wir nehmen eure Sorgen ernst. Wir stehen zu euch, und wir werden nicht zulassen, dass Antisemitismus in unserem Land euch so bedrängt. Wir werden alles dafür tun, dass jüdisches Leben auch in Zukunft in unserem Land existieren kann. ({6}) Wir werden alles daransetzen, dass Dinge, die wir nicht für in Ordnung halten, auch entsprechend geahndet werden. Wir werden deshalb prüfen, ob wir das Verbrennen von Flaggen des Staates Israel in unserem Land verbieten können. Wir tun alles, damit Antisemitismus in unserem Land zurückgedrängt wird. In Deutschland darf es nie wieder Antisemitismus geben, und in dem Umfang, wie wir ihn jetzt haben, muss er weiter zurückgedrängt werden. Ich kann nur sagen: Wer sich antisemitisch äußert, der muss dafür auch öffentlich entsprechend zur Rechenschaft gezogen werden. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist Kerstin Griese für die Fraktion der SPD. ({0})

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor kurzem hat eine 15-jährige Schülerin aus Dresden den Preis für Zivilcourage, gegen Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Rassismus erhalten. Sie hat Zivilcourage gezeigt, als sie sich gegen antisemitische und fremdenfeindliche Äußerungen an ihrer Schule und in WhatsApp-Gruppen zur Wehr gesetzt hat. Dort wurden der Hitlergruß und entwürdigende und schreckliche Fotos der Opfer des Holocausts gezeigt. Ihre Mitschüler haben sie ausgelacht, aber sie hat sich dagegengestellt. So etwas verdient Lob und Anerkennung. ({0}) Emilia, die ihren Nachnamen nicht veröffentlicht sehen möchte, hat dann einen Teil des Preisgeldes an einen 14-jährigen Berliner Schüler – einen jüdischen Schüler – gespendet, der an seiner Schule wochenlang gemobbt, bedroht und angegriffen worden ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist bedrückend, dass das Wort „Jude“ inzwischen eines der häufigsten Schimpfwörter auf unseren Schulhöfen ist. ({1}) Vor kurzem – Herr Kauder hat es schon angesprochen – hat ein deutscher Mann sechs Minuten lang hier mitten in Berlin die Besitzer des Restaurants Feinberg’s, einem Treffpunkt mit guter israelischer Küche, massiv antisemitisch beschimpft. Juden gehörten ins Gas, hat er da gerufen – vor laufender Kamera. Judenhass, öffentlich, mitten in Berlin. Das war kein importierter Antisemitismus, sondern das zeigt leider: Antisemitismus gab und gibt es mitten unter uns. Es gibt den direkten, oft gewalttätigen Antisemitismus, und es gibt subtile Aktionen, auch dort, wo kaum Juden leben oder der Absender gar keine jüdischen Bürgerinnen und Bürger kennt. Es gibt Antisemitismus im Internet, und es gibt ihn, wenn israelische Fahnen und Symbole vor dem Brandenburger Tor verbrannt werden. All das verurteilen wir aufs Schärfste, und wir brauchen mehr couragierte Menschen, die dagegen aufstehen. ({2}) Wir stellen uns eindeutig auf die Seite derjenigen, die gegen Hass und Antisemitismus aktiv sind. Ich bin sicher, das ist die Mehrheit in unserer Gesellschaft. Für uns gilt: Antisemitismus bekämpfen wir in jeder Form, und gleichzeitig wollen wir jüdisches Leben in Deutschland fördern und unterstützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Kauder hat schon den Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus erwähnt. Danke noch einmal sehr herzlich dafür! Ich bin sehr froh, dass wir heute Konsequenzen aus diesem Bericht ziehen. Das Hauptfazit des Expertenberichts lautet: Antisemitismus ist kein Problem der Juden, sondern der Gesellschaft. – Das heißt, es geht uns alle an: ({3}) Staat und Gesellschaft, Parteien, Verbände, Kirchen, Gewerkschaften, Arbeitgeber, Medien und jeden Einzelnen. Erschreckend ist für mich, gerade auch als Historikerin, die sich intensiv mit der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden beschäftigt hat, wenn eine Schlussstrichmentalität aufkommt, als ob wir überhaupt keine Verantwortung dafür hätten, was aus unserer Geschichte wird. Besonders schlimm ist es, wenn es auch noch öffentlich unterstützt wird. Die skandalöse Hetze gegen das Denkmal für die ermordeten Juden Europas ist eine Schande. ({4}) Der dafür verantwortliche AfD-Spitzenpolitiker ist weiterhin Mitglied seiner Partei. Das ist eine Schande. ({5}) Dieses Denkmal hier mitten im Herzen Berlins ist ein würdiges Zeichen der Erinnerung an die Opfer der Schoah. Es steht genau an der richtigen Stelle: Im Herzen Berlins erreicht es die Herzen vieler Menschen, die unsere Hauptstadt besuchen und die damit an unsere Verantwortung für unsere Geschichte erinnert werden. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, besonders oft zielt der Antisemitismus auf den Staat Israel und auf seine mehrheitlich jüdische Bevölkerung. Gerne wird das dann „Israelkritik“ genannt, ein verschleiernder Begriff, den es zu keinem anderen Land gibt. Selbstverständlich ist Kritik an der Regierungspolitik von Herrn Netanjahu und auch an der Siedlungspolitik im Westjordanland kein Antisemitismus. Wer aber seine Ablehnung auf das Land, auf die Bevölkerung insgesamt und pauschal überträgt und wer seine wohlfeile Kritik mit judenfeindlichen Boykottaufrufen und antisemitischen Klischees vermischt, der muss und wird auf unseren entschiedenen Widerspruch stoßen. ({7}) Dazu zählen auch der Vergleich der israelischen Regierung mit den Nationalsozialisten und das Infragestellen des Existenzrechtes Israels. Das dulden wir nicht. ({8}) Das Existenzrecht und die Sicherheit Israels sind für uns nicht verhandelbar. ({9}) Antisemitismus und Antizionismus finden sich in allen politischen Lagern, sie sind kein Randphänomen. Sie sind am häufigsten – Herr Kauder hat das schon gesagt – als Kern rechtsextremer Positionen zu finden. 90 Prozent aller Straftaten kommen von rechtsextremer Seite. Aber ja, es gibt auch Antisemitismus unter denen, die aus Ländern Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens zu uns gewandert sind und in deren Herkunftsländern man von klein auf ein Feindbild der Juden und des Staates Israel vermittelt bekommt. Neben der Religion scheint die Herkunftsregion von größerer Bedeutung zu sein. Gerade deshalb sage ich so deutlich: Wir dürfen Minderheiten nicht gegeneinander ausspielen. ({10}) Ich bin dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Herrn Josef Schuster, sehr dankbar, dass er erst kürzlich in einem Interview der „Frankfurter Rundschau“ gesagt hat: Muslime sind nicht der Feind der Juden. Vielen Dank dafür. ({11}) Wir müssen deshalb allen Erscheinungsformen des Antisemitismus entgegentreten durch Aufklärungsarbeit, durch Dialog – unabhängig von der Herkunft oder der religiösen Zugehörigkeit. Ich freue mich, dass es Initiativen gibt, in denen Christen, Juden und Muslime gemeinsam gegen Antisemitismus aktiv sind. ({12}) Wir schlagen heute konkrete Punkte vor, um die Arbeit gegen Antisemitismus zu verstärken. Wir wollen einen Beauftragten einsetzen. Vielen Dank für die klare Zusage, Herr Kauder. Wir wollen ihn gern im Kanzleramt ansiedeln, um seine zentrale Bedeutung noch einmal zu betonen. Viele Experten haben das so empfohlen, auch Charlotte Knobloch. Die ehemalige Präsidentin des Zentralrates der Juden hat noch einmal betont: Es ist wichtig, dass der Antisemitismusbeauftragte – ich zitiere – „mehr als symbolischen Charakter“ haben muss. Wir wollen zum Zweiten das zivilgesellschaftliche Engagement gegen Antisemitismus nachhaltig und gezielt fördern. Wir wollen es ausreichend finanziell ausstatten und verstetigen. Die SPD-Fraktion ist weiterhin dafür, das mit einem Demokratiefördergesetz zu tun. ({13}) Wir müssen das Straf- und Versammlungsrecht überprüfen, ob es ausreicht, um solche Taten wie das Verbrennen der israelischen Flagge und andere antisemitische Ausschreitungen zu ahnden. Und wir müssen antisemitische Straftaten besser erfassen. ({14}) Wir verurteilen aufs Schärfste die BDS-Bewegung, die mit „Boycott, Divestment and Sanctions“ – also Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen – gegen israelische Geschäfte und Waren vorgeht. Man muss sich das mal vorstellen! Ich finde es unerträglich, Aufrufe zu sehen, Waren nicht zu kaufen, weil sie aus Israel sind. ({15}) Ich will in diesem Zusammenhang auch ganz klar sagen: Die Tatsache, dass neulich eine Fluggesellschaft – in diesem Fall war es Kuwait Airways – israelische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger von Deutschland aus nicht transportiert hat und sie damit ja auf deutschem Hoheitsgebiet diskriminiert hat, muss Folgen haben. Mein dringender Appell geht dahin, über die europäischen und internationalen Luftverkehrsabkommen und das deutsche Luftfahrtrecht eine solche Diskriminierung zu ahnden. ({16}) Ganz besonders wichtig im Kampf gegen Antisemitismus sind Bildungsangebote und Begegnungen. Wir schlagen hier vor, die Geschichtsvermittlung im Rahmen der Integrationskurse auszubauen und Moscheegemeinden und muslimische Träger in den Dialog mit jüdischen Partnern einzubeziehen. Mir liegt der Jugendaustausch besonders am Herzen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass der deutsch-israelische Jugendaustausch eine ganz wichtige Sache ist. Das Interesse Jugendlicher ist regelmäßig höher als die Mittel dafür. Wir sagen hier klar, dass wir den Jugendaustausch zu einem deutsch-israelischen Jugendwerk mit bilateralen Strukturen ausbauen wollen. ({17})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Kollegin Griese, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolte?

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Antisemitismus ist über 70 Jahre nach der Schoah, nach der Entrechtung, Verfolgung und Ermordung von 6 Millionen Menschen, immer noch in der deutschen Gesellschaft vorhanden. Deshalb sage ich für meine Fraktion ganz klar: Aufgrund unserer Geschichte tragen wir als Deutsche eine besondere Verantwortung im Kampf gegen den Antisemitismus. ({0}) Und ich betone auch: Wir sind dankbar, dass es trotz des Holocausts wieder jüdisches Leben, dass es Synagogen, jüdische Kindergärten und Schulen, Kultur und Vielfalt in Deutschland gibt. Die Erinnerung an die Geschichte ist uns Verpflichtung, für jüdisches Leben in Deutschland, für das friedliche Miteinander und für eine gute gemeinsame Zukunft einzutreten. Vielen Dank. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als nächste Rednerin erhält Beatrix von Storch für die Fraktion der AfD das Wort. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Antisemitismus in jeder Form ist eine Schande, und Antisemitismus ist ein Angriff auf unsere jüdischen Bürger. Es ist ein Angriff auf die Grundlagen unserer westlichen Zivilisation. Diese Zivilisation steht auf einem jüdisch-christlichen Fundament. Der vorliegende Antrag betont richtigerweise, dass Antisemitismus in allen politischen Lagern zu finden ist. Wir in Deutschland haben aufgrund unserer Geschichte eine ganz besondere Verantwortung, und zu dieser bekennen wir uns ausdrücklich. ({0}) Zu unserer besonderen Verantwortung gehört es aber auch, vor der neuen Qualität antisemitischer Angriffe in Westeuropa nicht die Augen zu verschließen. Hilfreich ist dabei der zweite Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Im Auftrag des Bundestages hat dieser Kreis antisemitisch motivierte Straftaten untersucht und dazu Juden in Deutschland befragt. Ich zitiere: Gefragt „Was war das für eine Person oder Gruppe, von der die … Tat ausging?“, wird die Kategorie „eine muslimische Person/Gruppe“ … weitaus am häufigsten genannt, gefolgt von „mir unbekannte Person“, erst dann folgen in gleicher Quantität linksextreme und rechtsextreme Personen/Gruppen. Dass polizeiliche Statistiken dies nicht abbilden, mag ein Beispiel aus Berlin vom 25. Juli 2014 erklären: Nationalsozialistische Parolen der schiitischen Hisbollah gegen Träger von Israel-Fahnen am Rande des Al-Quds-Marsches wurden in der „PMK-rechts“, also als rechtsextrem, erfasst. Meine Damen und Herren, machen wir uns ehrlich: Statistiken, die Straftaten islamistischer Terrormilizen als rechte Kriminalität erfassen, sind unbrauchbar. ({1}) Sie verschleiern, aber irgendwann holt die Realität einen ein. In Frankreich zum Beispiel ist die Realität schon eine andere: Seit dem Jahr 2006 sind insgesamt 40 000 Juden aus Frankreich allein nach Israel ausgewandert. Sie sind geflohen vor Terror und den tagtäglichen Übergriffen und Bedrohungen. Es sind Flüchtlinge, über die niemand spricht, weil sie vor Muslimen flüchten. Das ist die Gegenwart in Frankreich. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die AfD wird mit ganzer Kraft dafür kämpfen, dass das nicht die Zukunft in Deutschland sein wird. ({2}) Es sind natürlich nicht alle Muslime, von denen dieser Terror gegen Juden und Andersgläubige ausgeht, aber es sind bei weitem zu viele. Wenn in Deutschland Israel-Fahnen verbrannt oder jüdische Schüler von ihren Mitschülern gemobbt werden, wenn jüdische Bürger sich davor fürchten müssen, öffentlich die Kippa zu tragen, oder Einrichtungen von der Polizei überwacht werden müssen, dann ist das nicht hinnehmbar. Aber es geht ja auch anders. Ich war im letzten Mai in Ungarn, wo ich ein jüdisches Zentrum besucht habe. Das musste nicht von der Polizei geschützt werden. Die Türen standen offen, die Kinder spielten auf der Straße, die Jungs trugen Kippa. Viktor Orban will, dass das so bleibt. Das erklärt auch seine Haltung in der Flüchtlingsfrage. Er hat eine Nulltoleranzpolitik gegen Antisemitismus angekündigt. Deswegen erhält Ungarn auch die Unterstützung von Israel. ({3}) Der Politikwissenschaftler Bassam Tibi war unter anderem am Center for Advanced Holocaust Studies in Washington tätig. Er nannte in einem Beitrag für den „Cicero“ den heutigen islamischen Judenhass „die stärkste Spielart des totalitären Antisemitismus im 21. Jahrhundert“. Davon findet sich in dem vorliegenden Antrag leider nichts. Der Islam ist der Elefant im Raum. Wir sehen ihn aber. Sie nennen es Zuwanderung oder reden, wie heute Herr Kauder und auch Frau Griese, von Menschen aus anderen Kulturkreisen wie Nordafrika und dem Nahen Osten. Aber wir sehen, wie gesagt, den Elefanten im Raum. In dem vorliegenden Antrag gibt es eine ganze Reihe von Punkten, die diese Mängel aufwiegen. Insbesondere die Verschärfung des Aufenthaltsrechts ist ein wichtiger Punkt. Es ist höchste Zeit, dass Hasspredigten gegen Juden, aber auch gegen Christen und sogenannte Ungläubige einen besonders schwerwiegenden Ausweisungsgrund darstellen. Das ist gut, und das ist richtig. ({4}) Der AfD geht es darum, dass dann aber auch konsequent abgeschoben wird, und zwar nicht nur Asylbewerber, sondern zum Beispiel auch Imame, die hier schon länger Hass predigen. Außerdem begrüßen wir sehr, dass bei antisemitischen Straftaten die Tätermotivation in Zukunft erfasst werden soll. Die Hisbollah gehört nicht in die PMK-rechts. ({5}) Am wichtigsten ist jedoch: Jüdisches Leben und jüdische Tradition gehören zu Deutschland, sie haben immer zu Deutschland gehört. Sie sind ein wichtiger Teil unseres kulturellen Erbes. Das müssen wir vor Angriffen schützen. Und dazu gibt es keine zwei Meinungen. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als nächster Redner hat das Wort Dr. Stefan Ruppert von der FDP. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Warum fallen in einer solchen Debatte die Beiträge mancher Teilnehmer immer gleich aus? Warum kanalisieren wir Antisemitismus derart, dass wir ihn nur von einer Seite sichtbar machen, anstatt zu sagen: „Das ist ein Phänomen, das es in der gesamten Gesellschaft gibt“? Warum, Frau von Storch, haben Sie die Chance verpasst, in dieser Debatte auf alle Facetten des Antisemitismus hinzuweisen? ({0}) Der Historiker Norbert Frei hat über Vergangenheitspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben. Er hat dokumentiert, dass uns vieles in Deutschland gelungen ist: Es ist uns gelungen, die Westbindung, die Demokratie und die Grundrechte zu verankern und unverrückbar zu machen. Es ist uns gelungen, uns mit unserer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Was uns nicht gelungen ist, ist, das Phänomen des Antisemitismus aus der deutschen Gesellschaft endgültig zu verbannen. ({1}) Ich glaube, wir werden akzeptieren müssen, dass das eine Aufgabe ist, der wir uns nicht nur heute und morgen, sondern noch in vielen Jahren stellen müssen. Antisemitismus kommt zuerst von rechts. Hier haben Sie ein etwas janusköpfiges Gesicht: Sie sind blind gegenüber den eigenen Reihen, schauen aber mit einseitiger Anklage in Richtung Zuwanderer. ({2}) Ich will nicht verhehlen, dass es das Problem eines solchen Antisemitismus gibt; wir haben es hier leider live erleben müssen. Ich will aber sagen: Antisemitismus ist – leider – tiefer verwurzelt, als dass man ihn einzelnen gesellschaftlichen Strömungen oder politischen Meinungen zuordnen könnte. Wir alle waren schon Zeugen von sekundärem Antisemitismus. Wir alle haben schon erlebt, dass die eine oder andere mehr oder weniger subtile Bemerkung geäußert wurde. Wir alle sind aufgefordert, uns als Zivilgesellschaft solchen Phänomenen entgegenzustellen. ({3}) Das Instrument des Beauftragten ist ambivalent. Ich begrüße es im Ergebnis. Es darf aber keine Beauftragung sein, die den Beauftragenden seines Auftrags entledigt, ({4}) sondern es muss eine Beauftragung sein an einen Menschen, der sich als Koordinator, als Verstärker zivilgesellschaftlicher Initiativen versteht, an einen Menschen, der die vielfältigen Initiativen im Islam, im Christentum und in der Zivilgesellschaft aufnimmt und verstärkt. Wir können diese Aufgabe nicht an einen Beauftragten delegieren, sondern der Beauftragte – richtig verstanden – muss uns in der Erfüllung dieser Aufgabe stärken. ({5}) Am Ende will ich auf einen Aspekt zu sprechen kommen, der mir wichtig ist. Der Historiker und Ausstellungsmacher Dmitrij Belkin hat für das Jüdische Museum Frankfurt eine wunderbare Ausstellung gemacht, in der er auch auf den linken Antisemitismus hinweist. Vor einigen Jahren, als wir diesem Haus angehören durften – wir haben ja einen Bildungsurlaub eingelegt –, ({6}) haben wir gemeinsam Anstrengungen unternommen, einen Antisemitismusbericht zu erstellen, in dem wir diesem Phänomen auf den Grund gegangen sind. Ich muss sagen: Mich hat immer beeindruckt, wie die Kollegin Pau diese Arbeit mit unterstützt hat. ({7}) Es gibt also eine breite Allianz in diesem Parlament, die sich für diese Aufgaben einsetzt. ({8}) Jüdisches Leben ist für uns Freie Demokraten, die wir eine vielfältige Gesellschaft schätzen, ein unverzichtbarer Bestandteil. Das Existenzrecht Israels und jüdisches Leben in Deutschland sind für uns Aspekte, vor die wir uns immer schützend stellen werden. Es ist schön, zu sehen, dass Juden diese Gesellschaft mittlerweile aktiv mitgestalten. Sie sind wieder vielfältig und an vielen Orten in Deutschland sichtbar. „Welche Freude!“, kann man dazu nur sagen. An ihrer Seite wollen wir stehen und dafür sorgen, dass dies so bleiben kann. Vielen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Vizepräsidentin Petra Pau. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Antisemitismus – verkürzt: Hass gegenüber Jüdinnen und Juden – ist ein anhaltendes Problem. Antisemitismus ist in Deutschland durch den Holocaust außerdem tödlich belastet. Und es ist so, Kollege Kauder: Antisemitismus wird von Jüdinnen und Juden direkter empfunden als von anderen. Gleichwohl ist Antisemitismus unser aller Problem und eine anhaltende Herausforderung. ({0}) Der vorliegende Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen verweist auf den Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Seine Einsetzung wurde vom Bundestag beschlossen. Er arbeitete mit den Fraktionen zusammen. Im April 2017 hat er zum zweiten Mal einen umfangreichen Bericht mit dringlichen Empfehlungen vorgelegt. Ich durfte ihn damals als Vizepräsidentin des Bundestages würdigen. Wir haben einmütig, von der Union bis zur Linken, nicht nur den Bericht gewürdigt, sondern uns auch verpflichtet, uns den Empfehlungen zügig zuzuwenden. Es ist wichtig, diese Empfehlungen ernst zu nehmen, weil der Kampf gegen Antisemitismus drängt. Der vorliegende Antrag enthält durchaus adäquate Forderungen. Sie sind nicht durchweg deckungsgleich mit den Empfehlungen des Expertenkreises. Für die Abweichungen wird es Gründe geben. Für Die Linke will ich drei Punkte aus dem Antrag herausgreifen: Erstens. Alle drei, die Unterzeichner des Antrags, der Expertenkreis und Die Linke, fordern eine bzw. einen Antisemitismusbeauftragten. Laut Antrag soll er von der Bundesregierung eingesetzt werden. Die Linke hingegen hat eine Beauftragte bzw. einen Beauftragten des Parlaments vorgeschlagen. Sei’s drum! Ich würde mich im Namen der Linken der Empfehlung des Expertenkreises und, wie ich heute gehört habe, der SPD anschließen: Siedeln wir ihn koordinierend und nicht etwa delegierend, Herr Ruppert, im Bundeskanzleramt an, und überlassen wir ihm die Aufgabe nicht allein! ({1}) Ein zweiter Punkt – er spielte hier schon eine Rolle –: Im Antrag wird gefordert, dass die Länder Ausländerinnen und Ausländer umgehend ausweisen, sofern sie antisemitisch auffallen. Sie wissen, dass wir diese Art des Sonderrechts immer abgelehnt haben. Durch seine Erweiterung wird es nicht besser. Das heißt, diese Regelung lehnen wir ab. ({2}) Es löst auch nicht das Problem, auf das hier schon mehrfach hingewiesen wurde, dass wir mit dem Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches Problem haben: rechts, in der Mitte der Gesellschaft und, wenn Sie denn schon geografisch damit umgehen wollen, von mir aus auch links. Wir alle müssen uns erst einmal selbst anschauen und dann bitte gemeinsam gegen jedweden Antisemitismus vorgehen. ({3}) Damit bin ich bei einem dritten Punkt. Der Expertenkreis hat mit Nachdruck gefordert, zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus umfangreicher und dauerhafter zu fördern. Das fordert auch die Linke seit langem. Im Antrag kommt dies gleichwohl höchst unverbindlich daher. Wir hätten über diese Punkte gern gemeinsam mit Ihnen diskutiert. Aber Sie haben den Antrag nun eingebracht und fordern Sofortabstimmung. Er ist nicht der Weisheit letzter Schluss, und ich denke, wir werden weiter darüber zu reden haben. Kurzum: Insbesondere wegen des einen aus unserer Sicht gravierenden inhaltlichen Mangels, aber auch wegen der Arroganz, das nicht im Parlament zu beraten, werden wir den Antrag natürlich nicht ablehnen, ({4}) aber uns heute enthalten. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich will am Anfang Frau Pau, weil ich auf ihre Rede folge, für ihr großes Engagement in der letzten Legislaturperiode ausdrücklich danken: in der Expertenkommission, aber auch als Mitglied des Präsidiums des Deutschen Bundestages. Sie haben viel dafür geleistet, dass wir heute eine Grundlage der Debatte haben, und Sie haben, mit persönlichen Anfeindungen verbunden, hier in Ihrer Heimatstadt Berlin und in ganz Deutschland viel geleistet, übrigens auch in der Auseinandersetzung über Antisemitismus in Ihren eigenen Reihen. Dafür herzlichen Dank. ({0}) Wir führen heute eine Debatte – es wird zu diesem Thema mit Sicherheit nicht die letzte in dieser Legislaturperiode sein –, in der wir uns mit dem Antisemitismus in unserem Land, in unserer Gesellschaft beschäftigen. Die Expertenkommission hat sehr klar festgestellt, dass es Antisemitismus landauf, landab gibt, bis in die Mitte der Gesellschaft hinein, bis in Gewerkschaften hinein, bis in Kirchengemeinden hinein und, ja, bis in Parteien hinein. Frau von Storch, es ist ein verdammt billiges Mittel, zu sagen: Ja, das ist so; aber eigentlich kommt der Antisemitismus doch nur aus einer Richtung. – Nein! Sie haben in Ihren Reihen Herrn Höcke, der das vielleicht wichtigste Denkmal in Deutschland, das Holocaustdenkmal in der deutschen Hauptstadt, auf unflätigste Art verunglimpft. Er bleibt Mitglied Ihrer Partei, und Sie verteidigen ihn. Das ist Antisemitismus, wie wir ihn in Deutschland haben, in aller Härte. ({1}) Sie haben in Ihrer Partei Herrn Gedeon. Herr Gedeon kann zu Recht als Holocaustleugner bezeichnet werden. Aber Sie stellen sich hierhin und zeigen mit dem Finger auf andere. Nein, Frau von Storch, so geht es nicht. Wenn Herr Meuthen sagt, dass er bei Herrn Gedeon keinen Handlungsbedarf sieht, dann haben Sie ein krasses Problem mit Antisemitismus, Frau von Storch. ({2}) Drittens. Sie argumentieren hier mit Ungarn und damit, dass Synagogen dort nicht geschützt werden müssen. Ich finde, es ist ein Drama, dass es in unserem Land so ist. Ich finde, es ist ein Drama, dass in unserem Land Polizistinnen und Polizisten vor Synagogen stehen müssen. Ich habe mir niemals gewünscht, in einem solchen Land zu leben. Aber Ungarn als leuchtendes Beispiel darzustellen, ist doch absurd. ({3}) Die Synagogen in Deutschland mussten leider auch vor 2015 bewacht werden. Die Synagogen in Deutschland sind auch, bevor mehr Flüchtlinge gekommen sind, in großer Gefahr gewesen. Hören Sie auf, Herrn Orban als den Oberdemokraten oder sogar noch als denjenigen darzustellen, dem es um einen Hort gegen Antisemitismus geht! ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Göring-Eckardt, darf ich Sie unterbrechen? – Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von Storch?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein. Ich glaube, sie hat genug geredet; es hat uns hier im Parlament gereicht. ({0}) Ich will an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir meiner Meinung nach mehr vor uns haben als nur allgemeine Bekenntnisse. Wir werden auch in Zukunft weiter darum kämpfen müssen, dass völlig klar ist: Das Existenzrecht Israels steht in diesem Land nicht infrage. ({1}) Es gibt übrigens auch nicht irgendwelche anderen Vorzeichen. Man kann nämlich nicht sagen, es gehe doch nur um Israelkritik, wenn man Antisemitismus meint oder gar Verschwörungstheorien folgt. Ja, das kommt von allen Seiten der Gesellschaft. Wir werden also auch weiterhin über das Existenzrecht Israels reden müssen. Zuletzt will ich einen Punkt ansprechen, der mir persönlich besonders wichtig ist, auch wenn meine Redezeit vorbei ist. Viele haben hier gesagt, es sei wichtig für die Jüdinnen und Juden in unserem Land, dass sie hier sorgenfrei und sicher leben können. Ich teile das. Ich glaube aber nicht, dass wir Antisemitismusdebatten für die Jüdinnen und Juden in diesem Land führen; wir führen sie für uns selbst, für uns und für unsere gesamte Gesellschaft. Ich ganz persönlich, als Bürgerin dieses Landes, möchte in einem Land leben, in dem Antisemitismus keinen Platz hat. Deswegen müssen wir klar und hart in der Haltung sein bei jeder und jedem, der das infrage stellt, egal woher er kommt und warum. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Abgeordnete Dobrindt für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Anerkennung des israelischen Staates, der Schutz des jüdischen Volkes, der Kampf gegen jede Form von Antisemitismus, das alles gehört unauflösbar zu Deutschland. Wir tragen dabei gemeinsam die Verantwortung dafür, dass nichts, aber auch gar nichts relativiert wird und jemals zur Disposition steht. Diese Verantwortung kennt schlichtweg keinen Schlussstrich. Es ist richtig, dass jeder, der bei uns lebt, diese Verantwortung trägt, dass jeder, der nach uns kommt, diese Verantwortung trägt und dass auch jeder, der zu uns kommt, diese Verantwortung trägt. ({0}) Max Mannheimer hat das einmal in Richtung unserer Generation so zusammengefasst: Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon. Deswegen gilt bei uns null Toleranz gegenüber jeder Form von Antisemitismus, jeder Form von Judenhass, gerade auch dann, wenn er unter dem Deckmantel der Israelkritik daherkommt. Wir werden keinem alten, keinem neuen, übrigens auch keinem leisen und keinem lauten, keinem rechtsextrem und keinem linksextrem motivierten Antisemitismus und keinem islamistischen Antisemitismus in unserem Land auch nur einen Millimeter Platz einräumen. Das ist unser aller Auftrag und Verpflichtung. ({1}) Deswegen ist es schon ein starkes Signal, dass die CDU/CSU, die SPD, die FDP und die Grünen einen gemeinsamen Antrag formuliert haben. Das ist ein wichtiger Baustein in der Debatte. Der Antisemitismusbeauftragte, wie wir es in unserem Antrag formuliert haben, ist ein richtiges Instrument. Er ist Ansprechpartner und Vermittler für die Zivilgesellschaft, den Bund, die Länder und die Kommunen. Das entbindet übrigens niemanden von seiner ganz eigenen, persönlichen Verantwortung; das darf auch niemanden entbinden, sich zu engagieren. Deswegen sollten wir gemeinsam dafür streiten, einen Ansprechpartner zu installieren, einen Beauftragten, wie wir ihn nennen. ({2}) 70 Jahre nach der Terrorherrschaft blüht in unserem Land wieder jüdisches Leben. Ich empfinde das als ein kostbares Geschenk, für das wir dankbar sein können. Es gäbe mehr als 6 Millionen Gründe, uns den Rücken zu kehren aus Abscheu, Verbitterung und Feindseligkeit. Dennoch hat man uns wieder Vertrauen entgegengebracht. Das ist eine Botschaft der Versöhnung und des Friedens. Diese Botschaft greifen wir immer wieder auf. Das ist gerade jetzt von besonderer Bedeutung, weil wir vor einer Zäsur stehen, dann nämlich, wenn die letzten Überlebenden der Schoah und andere Zeitzeugen gestorben sein werden. Deshalb ist es für uns so bedeutsam und wichtig, dass wir uns der historischen Verantwortung auch für die kommenden Generationen bewusst sind und diese Verantwortung immer wieder neu diskutieren. Es war schon die Rede davon, dass alle in dieser Verantwortung stehen, dass es überall Antisemitismus gibt und dass wir die Breite dessen, die sich leider erkennen lässt, formulieren müssen. Deswegen darf ich sagen: Ja, es stimmt, dass antisemitische Delikte und die Hetze überwiegend aus rechtsextremen Kreisen kommen. Gleichzeitig erleben wir, dass in manchen Heimatländern der Menschen, die bei uns Schutz suchen, der Antisemitismus Teil der Sozialisierung ist. Wir dulden aber keine Anfeindungen gegenüber Juden, egal von wem. Deswegen bleibt für uns klar: Wer zu uns kommt, der muss mit uns leben wollen. Dazu gehört auch das klare Bekenntnis gegen Antisemitismus, meine Damen und Herren. ({3}) Wir fordern in unserem Antrag, dass die Integrationskurse stärker die Vermittlung unserer historischen Verantwortung beinhalten. Wer bei uns Schutz sucht, der muss bereit sein, unsere jüdischen Mitbürger zu schützen. Das ist es, was wir von jedem, der bei uns leben will, in gleichem Maße verlangen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, um auch dies deutlich zu formulieren: Nicht ein Mahnmal ist eine Schande, sondern jedes antisemitische Wort, jede antisemitische Tat. ({4}) Jedwede Relativierung unserer gesellschaftlichen Verantwortung ist eine Schande für Deutschland. ({5}) Um es klar zu sagen: Wer Ressentiments gegenüber Juden schürt, kann kein Anwalt einer deutschen Leitkultur sein; denn das christlich-jüdische Erbe ist für unsere Leitkultur konstitutiv, liebe Freunde. ({6}) Wer antisemitische Parolen ruft, ist niemals ein Vertreter einer bürgerlich-konservativen Mitte unserer Gesellschaft. Wer antisemitische Parolen ruft, ist kein deutscher Patriot. Der Schutz des jüdischen Volkes ist Teil unserer deutschen Leitkultur. Der Kampf gegen den Antisemitismus muss Aufgabe eines jeden Deutschen sein. Danke schön. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zum Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/444 mit dem Titel „Antisemitismus entschlossen bekämpfen“. Die Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen wünschen Abstimmung in der Sache; die Fraktion Die Linke wünscht Überweisung an den Innenausschuss. Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Mit der Mehrheit des Hauses gegen die Stimmen der Linken ist der Antrag abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 19/444 in der Sache. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt gegen diesen Antrag? – Wer enthält sich? – Bei Enthaltung der Linken ist der Antrag einstimmig angenommen. ({0}) Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums bekannt geben: Der Bundestag hat 709 Mitglieder; um gewählt zu werden, muss man die Mehrheit von 355 Stimmen erreichen. Wir haben 655 abgegebene Stimmkarten. Ich werde nur die Jastimmen verlesen – Neinstimmen, Enthaltungen und ungültige Stimmen können Sie dem Protokoll entnehmen –: Stephan Mayer 560 Stimmen, Armin Schuster 557 Stimmen, Dr. Patrick Sensburg 518 Stimmen, Uli Grötsch 566 Stimmen, Burkhard Lischka 559 Stimmen, Roman Johannes Reusch 210 Stimmen, Stephan Thomae 535 Stimmen, Dr. André Hahn 419 Stimmen, Dr. ­Konstantin von Notz 500 Stimmen. – Die Abgeordneten Stephan Mayer, Armin Schuster, Dr. Patrick ­Sensburg, Uli Grötsch, Burkhard Lischka, Stephan ­Thomae, Dr. André Hahn und Dr. Konstantin von Notz haben die nach § 2 Absatz 3 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes erforderliche Mehrheit von 355 Stimmen erreicht. Sie sind damit als Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums gewählt. Herzlichen Glückwünsch! ({1}) Der Abgeordnete Roman Johannes Reusch hat die erforderliche Mehrheit nicht erreicht. Damit ist das Gremium unvollständig. Es wird zu gegebener Zeit ein weiterer Wahlgang anberaumt werden müssen.

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Die AfD beantragt den Wegfall des Anspruchs auf Nachzug der Familienangehörigen von Migranten, die hier nur subsidiär schutzberechtigt sind, die als Flüchtlinge vor einem Bürgerkrieg gelten. Dadurch wird der langjährig für gut befundene Zustand, vor Einführung dieses Nachzugs, wiederhergestellt. Schon beim normalen, nicht subsidiären, Asyl- oder Schutzstatus können unzählige Migranten Nachzug beanspruchen. Der Innenminister nannte die Einschränkung des Nachzugs „notwendig, um eine Überlastung der Aufnahmesysteme zu verhindern“. Laut Umfrage ist die Mehrheit der Bürger gegen weiteren Nachzug. Die AfD gibt dieser Mehrheit eine Stimme. ({0}) Was die Sicherheitsbedenken hinsichtlich der von ihren Männern und Familienvätern zurückgelassenen Angehörigen angeht, ist es kaum glaubhaft, dass man seine Familie in einem vermeintlich landesweiten Kriegsgebiet auf unbestimmte Zeit zurücklässt. Jedenfalls ist deren Sicherheit schon in nicht umkämpften oder befriedeten Zonen dort oder in einem Schutzlager im Nachbarland gegeben. Eine Weiterreise nach Deutschland ist nicht notwendig. Auch Familienzusammenführung kann und sollte dort erfolgen. Was nicht sein kann und nicht sein sollte, ist, dass Großfamilien Geld organisieren und einen als Quartiermacher vorschicken, um dann selbst nachgeholt zu werden. Die Attraktivität Deutschlands als Ziel von Wirtschaftsmigranten muss gesenkt werden. ({1}) Kein deutscher Sonderweg in dieser Frage in Europa! Anreize vermeiden! Der Magnet muss endlich abgestellt werden! Eine integrationspolitische Begründung von Familiennachzug wäre gegenstandslos. Mitnichten besteht überhaupt Integrationsbedarf bei nur temporär Aufgenommenen. Nicht umsonst wird das Fortbestehen des Fluchtgrunds regelmäßig überprüft. Natürlich müssen Fluchtursachen bekämpft werden. Deshalb sagen wir ja: Merkel muss weg. ({2}) Aber ändern sich die Umstände in Syrien, ist die Rückkehr angezeigt. Sie wird eines Tages sowieso fällig, und wenn dann ganze Familien, hier sozial eingebunden, zurückmüssten, würde die Rückkehr wesentlich erschwert, wenn nicht verunmöglicht. Oder ist das vielleicht das Ziel mancher Leute? Nachzug von Frauen und Kindern verstärkt die ungelösten Probleme mit mangelndem Wohnraum, Kitas, Schulen und Willkommensklassen und der Belastung der deutschen Kinder – lauter Belange auch der eigenen Bürger; aber lieber gibt man dem Nachzug den Vorzug. Hier wird Familiengründung erschwert, wenn der Wohnungs- und Arbeitsmarkt für gering Qualifizierte von syrischen Großfamilien belagert wird. Auch Geld für Sozialleistungen kann man nur einmal ausgeben. Der innere Frieden verträgt keine weitere Zuwanderung dieser einschlägigen Art, keine archaischen Clanstrukturen – die toll integrierten libanesischen Familienclans –, keine kulturfremden, teils gesetzwidrigen Leitvorstellungen des Islam bis hin zur Terrorbedrohung, keine sozialen Spannungen und Gewaltdelikte, keine Machokultur und keinen Hass auf andere Bevölkerungsgruppen, keinen massenhaft importierten Antisemitismus. Generell sinken doch der Integrationsdruck und die -bereitschaft, wenn eine immer größere Gruppe von Migranten hier ist. So werden nur die in Deutschland schon bestehenden Parallelgesellschaften weiter gefördert. Deutsche Sprachkenntnisse braucht man dann bald nicht mehr. Integration wird unnötig. Das lehnen wir ab. Das muss verhindert werden. Auf deutschen Schulhöfen muss Deutsch gesprochen werden – nicht Arabisch oder Afrikanisch. ({3}) Was uns erwarten soll, lehrt ein Blick auf die Unions- oder GroKo-Formelkompromisse. Selbst eine Deckelung bei 220 000 wird ja nicht durch Grenzkontrollen gesichert. Da fordern wir endlich eine Willkommenskultur für Rechtsstaatlichkeit. Weder wird doch wirklich kontrolliert noch gar jemals abgewiesen. Ehrlicher wäre, es hieße gleich: Der Nachzug bleibt ausgesetzt bis zum Montag nach der bayerischen Landtagswahl. Und das EU-Parlament empfiehlt mit Stimmen der GroKo-Fraktionen, dass Migranten nicht mehr im Erstzutrittsland aufgenommen werden, sondern dort, wo sie „Verbindungen“ haben, was jede Grenze von 1 000 im Monat zunichtemacht. Frau Merkel wird dann wieder sagen: Jetzt sind sie halt da. – Herr Schulz sagt: Wenn mehr kommen – 260 000 –, dann kommen eben mehr. ({4}) Bei unseren ganzen passlosen Syrern reicht dann die reine Behauptung einer Verwandtschaft, Stichwort: Ja, ich komme auch aus dem Dorf; da sind wir alle verwandt irgendwie. ({5}) Die EU will dann auch gleich – statt nur der Kernfamilie – größere, irgendwie verbundene Personengruppen als familiäre Einheit betrachten. Meine Damen und Herren, wenn die 1,5 Millionen Asylanten seit 2015 hier zu Ankerpersonen für neue Migranten werden, dann reden wir wirklich über ganz andere Dimensionen von Resettlement. Dann ist klar, was mit diesem Land geplant ist, wie es sich verändern soll. Manche hier sagen, sie freuen sich schon darauf. Die AfD sagt: Deutschland muss auch in zwei oder drei Jahrzehnten noch als Deutschland erkennbar sein. ({6}) Dafür stehen wir, und nur wir, und dafür werden wir uns einsetzen. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Curio, Frau Schulz-Asche hatte sich zu einer Zwischenfrage gemeldet. Dass Sie sie nachträglich gestatten, Herr Curio, geht nicht. Aber vielleicht entscheiden Sie sich für eine Kurzintervention. – Nein. Als nächster Redner hat Marian Wendt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte beschäftigt alle Bundestagsfraktionen. Neben dem vorliegenden Gesetzentwurf der Union haben FDP, Grüne, AfD und Die Linke Vorlagen eingebracht. Wie weit die beiden extremen Lösungsvorschläge bezüglich des Familiennachzugs auseinanderliegen, sehen wir anhand des AfD-Gesetzentwurfs und der diametral entgegengesetzten Anträge von Grünen und Linken. Leider können Linke und Grüne ihre ideologischen Scheuklappen nicht überwinden und wärmen ihre Mantras von vor zwei Jahren wieder auf. In ihrem Antrag sind sich die Grünen nicht zu schade, ihre sonst angeborene Kirchenferne abzulegen und sogar den katholischen Kardinal Marx zu bemühen. Aus meiner Sicht hat die FDP-Fraktion einen Gesetzentwurf mit Augenmaß vorgelegt und argumentiert sehr verdienstvoll. Großes Lob von mir an dieser Stelle! ({0}) Über die erwähnten Vorlagen beraten wir aber erst in der morgigen Debatte. Heute liegt uns der Gesetzentwurf der AfD vor. Schon in der ersten Zeile entpuppt sich der AfD-Text als eine populistische Aktion und pure Provokation. Wie bisher sind Sie von der AfD auch heute weder an einer sachlichen Debatte noch an einer fairen und pragmatischen Lösung interessiert. Sie sind auf Konfrontation eingestellt und meinen, mit Ihrem Text die Bundesregierung bloßstellen zu können. Nicht der vermeintliche „Kontrollverlust über die deutschen Grenzen“ war der Grund für den enormen Flüchtlingszustrom, sondern vor allem die angespannte Lage in den Herkunftsländern; diese gilt es zu betrachten. Das ergibt sich schon aus dem zeitlichen Ablauf des Jahres 2015. Hinzu kamen die mangelhafte Sicherung der EU-Außengrenzen sowie die fehlende Solidarität und Kooperationsbereitschaft der europäischen Partner; dies wurde schon mehrfach bemängelt. Die Konsequenzen haben wir in Deutschland gezogen. Kontrolle über die Binnengrenzen und Schleierfahndung im Innern sind unsere Antworten gewesen. ({1}) Ihr Gesetzentwurf ist vor allem polemisch. Er bedient Klischees und will alte Ängste wiedererwecken. Die AfD wähnt, mit ihrem Vorstoß ein angebliches Unrecht und politische Fehler zu beseitigen. Dabei ist Ihr Vorschlag keine tragfähige Lösung. Sie nehmen sich der komplizierten und kontroversen rechtlichen Materie erst gar nicht an. Sie schreiben so, als ob es nicht um das Schicksal von Menschen ginge, die durch Krieg und Zerstörung vertrieben sind. Sie machen es sich aus meiner Sicht zu leicht. Ihr Gesetzentwurf vermittelt Ihr einziges Anliegen: Bloß niemanden hereinlassen, nicht einmal diejenigen, die wirklich Hilfe brauchen! – Alle Dimensionen von Flucht und Vertreibung, von Grundgesetz und Menschenrechten blenden Sie aus. Das ist nicht vernünftig und schadet aus meiner Sicht dem Ansehen Deutschlands. ({2}) Mit keinem Wort erwähnen Sie den selbstverständlichen Umstand, dass Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz des Staates und der deutschen Verfassung in Artikel 6 stehen. Ein pauschaler Wegfall des Familiennachzugs ohne jegliche Ausnahmen für etwaige Härtefälle ist ein schwerwiegender Eingriff in die Grundrechte. Das ist verfassungsrechtlich nicht unproblematisch und daher aus meiner Sicht nicht gerichtsfest. Wir stehen heute nicht auf Marktplätzen, sondern im Plenum des Hohen Hauses und sollten vor allem juristisch sauber arbeiten. Die Würde des Menschen müssen wir im Kontext von Integrationsfähigkeit und Hilfsbereitschaft sehen. Sie legen einen Schaufensterentwurf vor und denken, dass Sie damit durchkommen. Dabei reicht eine bloß restriktive Gesetzgebung nach dem Motto „Wir lassen einfach niemanden herein, Augen zu“ nicht aus. Sie stilisieren sich zu den einzigen und wahren Befürwortern der Reduzierung der Migration. Dabei hat die vergangene Legislaturperiode gezeigt: Die Union ist die einzige konsequente und authentische Verfechterin von Ordnung und Steuerung der Zuwanderung. ({3}) Für eine kluge Regelung zur Aussetzung des Familiennachzugs für Menschen mit eingeschränktem Schutzstatus hat sich die Union schon eingesetzt, bevor es die AfD im Deutschen Bundestag gab und sie das politische Geschäft kennenlernte. So hat etwa mehrmals Bundesinnenminister Thomas de Maizière entsprechende Vorschläge zuletzt im Sommer vergangenen Jahres unterbreitet. Nicht Sie, sondern wir haben die Krise gemanagt und entscheidend zu den geringeren Flüchtlingszahlen beigetragen. ({4}) Es ist nicht Ihr, sondern unser Verdienst, dass wir im letzten Jahr nur knapp 187 000 Asylsuchende hatten und nicht mehr 890 000 wie im Jahr 2015. Wir haben ordentliche Bedingungen für die Arbeit des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge geschaffen, das eine zügige Bearbeitung von Asylbescheiden nun gewährleistet. Die intensive Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Amtes verdient hier unseren Respekt. ({5}) Wir haben in den vergangenen Jahren staatsmännisch gehandelt und tun es auch heute mit dem Gesetzentwurf, den wir morgen beraten werden. Der Familiennachzug bleibt bis zum Inkrafttreten der in den Sondierungen vereinbarten Regelungen, die bis zum 31. Juli 2018 verabschiedet werden sollen, ausgesetzt, und das – auch nach dem Gesetzentwurf – ohne Frist. Meine Damen und Herren, unser Gesetzentwurf, den wir morgen beraten werden, ist aus meiner Sicht die beste Antwort auf die Herausforderungen durch Asylzuwanderung. Unterstützen Sie morgen unseren Vorschlag; denn wir halten Maß und Mitte und schützen unser Land vor Überforderung bei der Integration von Ausländern. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist Helge Lindh für die Fraktion der SPD. Er wird heute seine erste Rede im Deutschen Bundestag halten. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Während wir uns hier diesen Gesetzentwurf der AfD und die verbale Begründung von eben zumuten, brennt Idlib wieder, und viele Familien, die ich alltäglich begleite, zittern um ihre Angehörigen dort in Nordsyrien. Während wir uns diesen Gesetzentwurf zumuten, kommt gerade Handrin in Wuppertal von ihrem Integrationskurs nach Hause, kocht für ihre zwei Kinder, die noch mit ihr sind, das Essen. Ihr drittes Kind, Mohammed, bald 14 Jahre alt, ist unter dramatischen Umständen in der Türkei geblieben und wartet jetzt seit mehr als drei Jahren darauf, seine Mutter wiedersehen zu dürfen. Diese Frau, Handrin, nimmt das hin, in großer Sorge, aber auch in großer Geduld, und sie strengt sich unheimlich an. Sie war in Damaskus als Witwe, als Frau Taxifahrerin, nur damit ihre Kinder ein gutes Leben führen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Frau hat mehr Würde, mehr Haltung, mehr Mut und mehr deutsche Sekundartugenden, als die Verfasser dieses Gesetzentwurfs in 50 Jahren aufbringen werden. ({0}) Unlängst besuchte sie einen Notar, um eine Vollmacht für die Großmutter des Kindes ausstellen zu können, damit diese Großmutter unter lebensgefährlichen Umständen in die Türkei einreisen und das Kind rechtlich vertreten kann. Übrigens ist der Notar, der diese Beglaubigung ausgestellt hat, aus einem uralten deutschen Adelsgeschlecht, zutiefst konservativ, zutiefst geprägt von christlich-jüdischen Werten. Es ist ihm eine Ehre und eine Freude, bei diesem Prozess zu unterstützen. ({1}) Wie ignorant, wie arrogant und wie zynisch ist es, dann zu suggerieren, dass Abermillionen – ich zitiere aus dem, was im Gesetzentwurf der AfD unter „Problem“ beschrieben wird – „beruflich nicht qualifizierter Menschen“ vor der Tür dieses Landes stünden – wider besseres Wissen um die realen Zahlen und wider besseres Wissen um die Dauer der Verfahren! Ich lese in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs mit Erstaunen von der „Verbindlichkeit gemeinsamer gesellschaftlicher Grundlagen“ und vom „gesellschaftlichen inneren Frieden“. Nicht diese Ehefrauen, diese Ehemänner und diese Minderjährigen stellen diesen Frieden infrage; sie wollen nur in Frieden leben und normal leben und irgendwann wieder mit ihrer Familie zusammenleben. Wenn jemand den gesellschaftlichen Frieden infrage stellt, dann ist das die AfD-Fraktion mit ihrer Rhetorik, ihrem Denken und ihren Forderungen. ({2}) Was sind denn die verbindlichen Grundlagen unserer Gesellschaft, wenn nicht auch Humanität und Empathie und Familie und Familieneinheit und Kindeswohl? Was, wenn nicht diese? ({3}) Sehr „bemüht“ bemühen Sie in Ihrem Gesetzentwurf auch den Ausdruck „kulturfremd“. Was ist aber der Weltoffenheit dieses Landes, der Kultur eines Goethe, einer Lasker-Schüler, einer Sophie Scholl, eines Heinrich Heine fremder als ebendieser Gesetzentwurf und Ihre Begleitrhetorik? ({4}) Überall in Ihrem Sprechen und auch in dem Text mangelt es an Herz und Verstand; das ist notorisch und eklatant. Aber vor allem mangelt es an Leben und Lebenswirklichkeit. ({5}) Ihnen kann aber geholfen werden; denn diese Frau, Handrin, der Sie grundsätzlich die Gastfreundschaft verweigern, wird Sie trotzdem jederzeit herzlich in ihre 45 Quadratmeter große Wohnung zum Essen einladen, zu Tabouleh, Schawarma oder Kibbeh, wenn Sie wollen, aber auch zu Wiener Schnitzel und Kartoffelsalat. Das wird sie tun, und sie wird sich Ihrer annehmen, so wie sie es mir geschrieben hat, mit Geduld und mit Mitgefühl. Sie hat alles verloren. Sie hat ihre Heimat verloren, sie hat ihre Unterstützung verloren, und sie hat ihr Kind nicht mehr bei sich. Aber sie hat eines, das Sie nicht haben: Sie hat Güte, sie hat Pflichtgefühl, sie schätzt und achtet dieses unser Land zutiefst, und sie hat Anstand. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist Konstantin Kuhle für die Fraktion der FDP. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kaum ein anderes Thema hat die Menschen und die politischen Parteien in den letzten Wochen und Monaten so sehr beschäftigt wie die Frage des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte. Dass das so ist, liegt daran, dass wir als nationaler Gesetzgeber in dieser Frage einen eigenen Ausgestaltungsspielraum haben. Anders als beim Familiennachzug zum anerkannten Flüchtling im engeren Sinne müssen wir uns hier in der Sache damit befassen und können eine Regelung auf den Weg bringen, bei der wir natürlich Artikel 6 des Grundgesetzes berücksichtigen müssen, bei der wir aber auch berücksichtigen müssen, was die zuständigen Kreise – diejenigen, die sich tagtäglich in der Flüchtlingspolitik und Flüchtlingshilfe engagieren – dazu sagen. Nach Einschätzungen des Deutschen Städte- und Gemeindebundes fehlt es auch weiterhin an ausreichend Kinderbetreuungs- und Schulplätzen sowie an ausreichend Wohnraum für Geflüchtete. Neben der Personengruppe, um die es heute gehen soll, nehmen die Kommunen auch die Flüchtlinge im engeren Sinne und deren Familienangehörige auf. Aus diesen Gründen ist die FDP-Fraktion dafür, die Übergangsregelung zur Aussetzung des Familiennachzugs bei subsidiär Schutzberechtigten zu verlängern, ({0}) allerdings mit zwei Änderungen. Erstens. Es gibt bestimmte Härtefälle, in denen aufgrund der besonderen Situation der Familie oder desjenigen, der nachziehen soll, oder der Situation im Heimatland ein Nachzug möglich sein soll. Meine Damen und Herren der CDU/CSU und der SPD, es ist überhaupt nicht einzusehen, warum diese Zahl der Härtefälle willkürlich auf 1 000 beschränkt sein soll. ({1}) Zweitens. Wir sind für eine Veränderung dieser Übergangsregelung, weil es Menschen gibt, die, obwohl sie hier nur vorübergehend einen Schutzstatus genießen, nämlich denjenigen des subsidiären Schutzes, sich trotzdem integrieren, zum Beispiel indem sie eine Arbeit aufnehmen und für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie sorgen. Meine Damen und Herren von der AfD: Warum sollen denn diese Menschen nicht auch ihre Familien nach Deutschland nachziehen lassen? Das ist schlichtweg nicht einzusehen. ({2}) Aus diesen Gründen hat die FDP-Fraktion einen eigenen Gesetzentwurf zu diesem Thema eingebracht. Wir werden der Überweisung des Gesetzentwurfs der AfD in den Innenausschuss zustimmen. Er ist aber in der Sache abzulehnen, weil er eine solche Härtefallregelung nicht umfasst und davon ausgeht, es handele sich beim Syrienkonflikt – ich zitiere – um einen „allmählich abflauenden Krieg“ und gar „Befriedung“. Dass Sie angesichts der Ereignisse in Syrien – erst gestern, erst in dieser Woche haben die Vereinten Nationen von einer Intensivierung der Kampfhandlungen in bestimmten Gebieten und von über 200 000 Vertreibungen gesprochen; am 7. Januar gab es 23 Tote bei einem Bombenanschlag in Idlib – von einer Befriedung sprechen, ist doch der blanke Hohn. Deswegen ist dieser Gesetzentwurf in der Sache abzulehnen. ({3}) Der subsidiäre Schutz wird in der Regel für ein Jahr verliehen und kann auf zwei Jahre verlängert werden. Der Syrienkonflikt dauert aber seit 2011 an. Deswegen gibt es Menschen, die dauerhaft, länger als zwei oder drei Jahre, von ihren Familien getrennt sind. Wenn man hier das Kindeswohl besonders berücksichtigt, dann muss in solchen Fällen der Familiennachzug möglich sein. Ein Härtefall kann auch vorliegen, wenn Menschen, die nachziehen sollen, bei einem Aufenthalt in Deutschland selber Anspruch auf subsidiären Schutz hätten. Es ist doch sinnlos, für diese Menschen den Familiennachzug nicht zu öffnen. Auch hier bedarf es einer Härtefallregelung. Meine Damen und Herren, wir sind dafür, dass es eine weitere Übergangsregelung gibt. Zwei Jahre müssen genug sein, um endlich ein kohärentes Flüchtlings- und Einwanderungsrecht in Deutschland zu schaffen, mit einem Punktesystem für die Einwanderung, aber auch mit neuen Regelungen zu Bürgerkriegsflüchtlingen. Dann kann auch jemand hierbleiben, der als Flüchtling gekommen ist, aber dann die Kriterien des Einwanderungsgesetzes erfüllt. ({4}) Auch diese Menschen müssen eine Möglichkeit haben, hierzubleiben. Ihre pauschale Lösung, meine Damen und Herren von der AfD, trifft nicht die Komplexität der Einzelfälle. Dieser Gesetzentwurf ist zu überweisen, aber dann final abzulehnen, weil Ihre Ressentiments leider die Sicht auf die Komplexität vernebeln, die aber gebraucht wird, um die Einzelfälle zu bewerten. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rede, die wir hier heute von der AfD gehört haben, aber auch der Gesetzentwurf zur vollständigen Abschaffung des Familiennachzugs für Menschen mit subsidiärem Schutz zeigen einmal wieder, was für eine rassistische Partei in den Bundestag eingezogen ist, ({0}) vom Format dilettantisch, von der Intention menschenfeindlich. ({1}) Auch hier wieder versuchen Sie, mit einem Gesetzentwurf Hetze zu betreiben. Eine ernsthafte Politik kann ich hier jedenfalls nicht entdecken. ({2}) – Sie brauchen sich gar nicht zu melden. Ich werde sowieso keine Zwischenfragen von Ihnen zulassen. Konkret geht es hier darum, dass etwa 60 000 Menschen Familiennachzug beantragen. Das geht nicht nur aus den Antworten der Bundesregierung hervor, sondern auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kommt auf diese Zahl. Die AfD dagegen fabuliert permanent von Zahlen jenseits der Millionengrenze. Mit wirklich überhöhten Zahlen hantiert aber leider auch die Union. Zum Beispiel sprach Landesinnenminister Stahlknecht jüngst von 800 000. Ähnliche Zahlen hört man auch immer wieder aus der CSU. Überhaupt, muss man sagen, gibt es eine frappierende Ähnlichkeit zwischen den Vorlagen der AfD und dem Gesetzentwurf der Union, den wir morgen diskutieren werden. Die einen wollen die komplette Abschaffung des Familiennachzugs und die anderen eine unbefristete Aussetzung. Im Ergebnis vertritt die Union hier die gleichen Positionen wie die rechten Hetzer in diesem Haus. ({3}) Meine Damen und Herren von der Union und Kollege Wendt, merken Sie eigentlich noch, dass Sie schon lange eine verhängnisvolle flüchtlingsfeindliche Symbiose mit der AfD eingegangen sind? Sie spielen sich die Stichworte gegenseitig zu. Sie verbreiten falsche Zahlen, schüren Ängste und verschieben das gesellschaftliche Klima nach rechts. Das ist meines Erachtens so nicht hinnehmbar. ({4}) Ich möchte an die SPD sagen: Ich bin wirklich von dem enttäuscht, was bei den Sondierungsgesprächen herausgekommen ist. Wir wissen zwar noch nicht, ob es zu einer Koalition kommt, aber Sie wissen ganz genau: Wenn monatlich 1 000 Menschen im Rahmen des Familiennachzugs hierherkommen dürfen, bedeutet das jahrelange Wartezeiten. Es wird lange dauern, bis die Letzten hier ankommen können. Ich finde, es ist ein Skandal, dass man den Menschen lange versprochen hat, dass sie ihre Familie in zwei Jahren nachholen können, plötzlich aber alles zunichtegemacht wird. Das, denke ich, sollten Sie so nicht stehen lassen. ({5}) Kommen wir noch einmal zu dem Gesetzentwurf der AfD. Man fragt sich übrigens, ob Sie überhaupt wissen, wovon Sie in diesem Gesetzentwurf sprechen. Es heißt zum Beispiel, Menschen würden aus wirtschaftlichen Gründen subsidiären Schutz beantragen. Lassen Sie sich eines sagen: Man kann in Deutschland gar keinen Antrag auf subsidiären Schutz stellen, sondern man stellt einen Antrag auf Asyl. Der wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geprüft, und dann wird entschieden, welchen Schutzstatus man bekommt. Es gibt auch den Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention und den subsidiären Schutz. Das führt im Übrigen dazu, dass wir leider diese willkürliche Behandlung beim Familiennachzug haben.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Jelpke, Sie haben zwar schon abgelehnt; ich frage trotzdem noch einmal: Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. Ich habe kein Interesse, der AfD hier noch mehr Zeit einzuräumen. ({0}) Meine Damen und Herren, die AfD hat in ihrem Gesetzentwurf auch wieder die alte Leier von den männlichen Flüchtlingen, die ihre Familien zurückgelassen haben. Ja, das haben wir hier schon oft gehört, übrigens von der Union. Aber ich will hier noch einmal sagen: Dass in erster Linie Männer fliehen, um später vor allen Dingen ihre Familien legal und unter Schutz nach Deutschland zu holen, ({1}) ist doch mehr als verständlich. Es ist zynisch, wenn Sie den Menschen einen Vorwurf machen, dass sie aus der Not heraus überhaupt fliehen müssen. ({2}) Darüber hinaus, meine Damen und Herren, wird in dem Gesetzentwurf der AfD – das ist eben schon gesagt worden – die Migration als eine Gefahr für den inneren Frieden dargestellt: „kulturfremde Zuwanderung“, wie Sie es nennen. Ich würde sagen: Das ist Nazijargon. ({3}) Nicht von den Schutzsuchenden geht eine Bedrohung aus, sondern von den geistigen Brandstiftern, die vor allen Dingen auf dieser – der rechten – Seite des Hauses sitzen. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Liebe Kollegen, ich empfehle, in der Debatte von Begriffen wie „Rassisten“, „rechte Hetzer“ und „Nazijargon“ künftig einen differenzierten Gebrauch zu machen. ({0}) Als nächste Rednerin hat Frau Luise Amtsberg vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({1})

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste! Ich versuche, der Aufforderung zu folgen. Sicher wird es an der einen oder anderen Stelle schwerfallen, die Abgrenzung so deutlich zu vollziehen, wie es hier verlangt wird. ({0}) Die Grünenfraktion spricht sich klar und deutlich für den Nachzug von Familien von subsidiär Geschützten aus. ({1}) Wir stehen bei dieser Frage eng an der Seite unserer Kirchen und Flüchtlingsverbände, vor allen Dingen aber an der Seite der Menschen, die es betrifft. Den Menschen, die diese Debatte in den letzten Monaten verfolgt haben, sollte klar sein, dass es derzeit kein kontroverser diskutiertes Thema gibt. Ich kann für meine Fraktion auch sagen, dass wir bei dieser Frage wirklich meilenweit von der Position der CDU/CSU-Fraktion entfernt liegen. Aber der Gesetzentwurf der AfD hat, gerade was die Begründung angeht, eine ganz eigene, schreckliche – wie ich finde – Qualität. Er ist nicht nur von Angst vor Überfremdung getrieben. Er ist auch zutiefst empathiefrei. Es ist mitnichten so, dass die AfD hier nur mit Zahlen oder innenpolitisch argumentiert. Nein, ihre Begründung sollte man sich sehr genau, sehr aufmerksam anschauen; denn dort steht, dass wir unsere internationalen humanitären Verpflichtungen – ich zitiere – „am vitalen nationalen Interesse an Bestand und Erhalt des deutschen Volkes“ auszurichten haben. ({2}) Ich übersetze das einmal: Das Asylrecht, die humanitäre Aufnahme von Menschen in Not, der Schutz von Kindern vor Gewalt und Krieg, das Kindeswohl und eben auch das Grundrecht darauf, mit seiner Familie zusammenzuleben, all das hat sich nach Auffassung der AfD dem Interesse unterzuordnen, das deutsche Volk – was auch immer damit gemeint ist – nicht zu gefährden. ({3}) Man kann nur erahnen, wie Sie über die vielen Menschen denken. Ja, ich kann die Frage beantworten, was ich über das deutsche Volk denke; aber die entscheidende Frage ist: Was denken Sie über die Menschen, die mit Migrationsbiografie in unserem Land leben? Ich habe die Vermutung, dass Sie diese eben nicht meinen, wenn Sie vom deutschen Volk sprechen. ({4}) Mir wird schlecht bei diesem Gedanken, und ich kann nur an alle anderen hier in diesem Parlament appellieren, sich diesem völkischen Geist konsequent entgegenzustellen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kennen das bereits und finden es auch in diesem Gesetzentwurf wieder: haltlose Behauptungen und Verunglimpfungen ganzer Menschengruppen. Ich finde, wir hier im Parlament sind den Menschen in Deutschland gegenüber verpflichtet, der Panikmache und dem Schlechtreden unseres Landes durch die AfD etwas entgegenzusetzen, und das werde ich gerne tun. ({6}) Immer wieder behauptet die AfD, Syrien sei weitgehend sicher. Wieder schmeißt sie mit nicht belegbaren Zahlen um sich, behauptet zum Beispiel, dass Millionen – Millionen! – beruflich unqualifizierte Menschen in unser Land flüchten ({7}) und sich das jetzt auch noch durch weitere Millionen nichtqualifizierte Menschen potenzierte, wenn der Familiennachzug ermöglicht würde. ({8}) Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat es in der letzten Woche noch einmal deutlich gemacht: Die Wahrheit ist: Zahlreiche nach Deutschland geflohene Menschen haben keine Ehepartner oder minderjährigen Kinder, die sie nachholen könnten. Zugleich gibt es Familien, die als Ganzes nach Deutschland geflohen und daher nicht getrennt sind. Das Auswärtige Amt rechnet mit circa 120 000 Familiennachzugsvisa pro Jahr – das ist die belegte Zahl – und – das ist meiner Fraktion besonders wichtig – die Einreise jener Menschen würde eben sicher, legal und im Rahmen eines geordneten schrittweisen Verfahrens stattfinden. Das heißt, mit Auslaufen dieser Beschränkung beim Familiennachzug könnten die Behörden und die aufnehmenden Kommunen sich trotzdem vorbereiten und darauf einstellen. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Kollegin Amtsberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage von der AfD?

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin eigentlich Verfechterin davon, jede Zwischenfrage zuzulassen, aber ich spreche heute einmal aus der Sicht einer Mutter. Ich habe mir vier Minuten lang Ihr Familienbild angehört und bin der Auffassung, dass ich jetzt einmal meins darstellen und mich ununterbrochen diesem Thema widmen sollte. ({0}) Das Szenario eines plötzlichen, ungesteuerten millionenfachen Zuzugs von Familien, das durch die AfD an die Wand gemalt wird, besitzt keinerlei Grundlage. Auch die Behauptung, Deutschland würde, sollte es den Familiennachzug für subsidiär Geschützte wieder erlauben, einen Sonderweg in Europa gehen, ist falsch. Die Niederlande, Belgien, Frankreich, Spanien, Italien und auch Großbritannien stellen subsidiär Geschützte in dieser Frage mit den Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention gleich, und zwar aus gutem Grund; ({1}) denn es ist genau das, was im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vereinbart wurde. Meine Damen und Herren, mit der Behauptung, dass hier lebende Familienväter – ich zitiere – nicht ernstlich um die Sicherheit ihrer Familien besorgt sind, setzt die AfD dem Ganzen die Krone auf. Mich würde wirklich einmal interessieren, auf welcher Grundlage Sie so eine bösartige Behauptung aufstellen. Sprechen Sie doch einmal mit den Betroffenen selbst, reden Sie mit denen über Ihre Sorgen. Ich finde es nicht nur absurd, was Sie da behaupten, sondern auch anmaßend. Denn wer von uns – das frage ich ausdrücklich auch als Mutter – kann überhaupt ansatzweise nachempfinden oder wissen, was wir tun würden, wenn unsere Kinder von Krieg, Versklavung, Gewalt und Verfolgung bedroht wären? ({2}) Es ist anmaßend, das zu behaupten, denn wir wissen, was diese Familien durchmachen. Meine Fraktion steht nach wie vor zum Familiennachzug und wird dafür auch weiter kämpfen. Haben Sie herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Das Wort hat Andrea Lindholz für die CDU/CSU. ({0})

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren in dieser Woche, heute und morgen, über verschiedene Gesetzentwürfe und Anträge der Fraktionen, den Familiennachzug für subsidiär schutzberechtigte Asylbewerber zu regeln. Sie reichen von der Rückkehr zur Rechtslage vor August 2015 – das ist der Gesetzentwurf der AfD – bis hin zur Aufhebung der geltenden Aussetzung, und zwar bedingungslos. Wenn wir keine Regelung treffen, dann würde der Familiennachzug ab dem 16. März dieses Jahres wieder möglich sein. Auch wir sehen daher aus unserer Sicht Handlungsbedarf. Subsidiär Schutzberechtigte haben nach internationalem Recht grundsätzlich keinen uneingeschränkten Anspruch auf einen Familiennachzug. ({0}) Die Länder können den Familiennachzug an spezielle Bedingungen knüpfen, beispielsweise an das Vorhandensein ausreichenden Wohnraums oder die Sicherung des Lebensunterhaltes. Wir haben in der letzten Legislaturperiode zum 1. August 2015 diese Regelung geändert und die subsidiär Schutzberechtigten den Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention gleichgestellt. Damit haben wir den Familiennachzug erleichtert. Zum damaligen Zeitpunkt hatten gerade einmal 2 000 Personen diesen Schutzstatus erreicht. Im Zuge der Flüchtlingskrise haben wir im März 2016 den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte ausgesetzt; denn die Zahlen sind erheblich angestiegen. Wir wollen nach wie vor die Zuwanderung ordnen, steuern und begrenzen. ({1}) Im Jahr 2016 erhielten knapp 153 000 Menschen diesen Schutzstatus; das waren 40 Prozent aller berechtigten Asylgesuche. Ein rechtlich zulässiges Mittel der Steuerung und Ordnung ist die Aussetzung dieses Familiennachzuges. Die Fraktionen der Grünen und der Linken haben schon Ende 2016 beantragt, diese Aussetzung wieder aufzuheben. ({2}) Gleichlautende Gesetzentwürfe und Anträge stehen auch morgen auf der Tagesordnung. Es hat im März 2017 hier im Haus eine Anhörung zu diesem Thema gegeben, bei der uns Sachverständige nochmals bestätigt haben, dass die Aussetzung des Familiennachzuges an dieser Stelle sachlich zulässig ist. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund, der dort ebenfalls vertreten war, hat uns eindringlich gebeten, die Aussetzung beizubehalten, um die Integrationsfähigkeit der Kommunen zu erhalten. ({3}) An dieser Bitte der Kommunen hat sich bis heute nichts geändert. Das sind Zahlen, Daten und Fakten, an denen man neben Gesichtspunkten wie Menschlichkeit, Familie, Zuwanderung nun einmal nicht vorbeireden darf. Im Jahr 2017 haben knapp 96 000 Menschen subsidiären Schutz erhalten. Bei insgesamt sinkenden Zahlen entspricht das wiederum einem Wert von ungefähr 40 Prozent. Unser Bundesinnenminister hat daher Ende November letzten Jahres zu Recht gesagt: Wir brauchen noch eine Aussetzung, wir müssen die Dinge noch steuern und ordnen, wir brauchen hier neue Regeln. Unser Gesetzentwurf, der Gesetzentwurf der Union, über den morgen debattiert wird, zielt daher darauf ab, den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte zunächst weiter auszusetzen und gleichzeitig mit einem möglichen Koalitionspartner, der SPD, eine Änderung an dieser Stelle herbeizuführen, die zum einen Begrenzungen, aber zum anderen auch konkrete Bedingungen für den Nachzug formuliert. Ich halte unseren Gesetzentwurf auch für den einzig zielführenden. Zum einen zeichnet sich in der heutigen Debatte und in den vorgelegten Gesetzentwürfen, die wir heute und morgen beraten, ganz deutlich ab, dass es keine Rückkehr zum alten Rechtszustand vor August 2015 geben wird. Das ist in diesem Haus nicht mehrheitsfähig. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutige Situation ist auch nicht mehr mit der Situation vor 2015 vergleichbar. Durch den Bürgerkrieg sind wesentlich mehr Menschen als subsidiär Schutzberechtigte in unserem Land, und zwar wesentlich länger, als man sich das bei subsidiär Schutzberechtigten vorstellt. Die Härtefallregelung, die Sie in der Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf ansprechen, hat sich als extrem eng gefasst und nicht zielführend erwiesen, um diesen Sachverhalt umfassend zu regeln. Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main hat zum Beispiel entschieden, dass eine Schlechterstellung von subsidiär Schutzberechtigten gegenüber GFK-Flüchtlingen als unzulässig anzusehen ist. Das heißt: Das ist eine Mindermeinung. Dennoch sehen wir daran: Der Gesetzgeber ist gefordert, hier in diesem Hause eine mehrheitsfähige Regelung zu treffen und im Sinne des Grundsatzes „steuern, ordnen und begrenzen“ und unter der Berücksichtigung des Schutzes Minderjähriger sowie des Rechtes auf Ehe und Familie Neuregelungen zu formulieren. Ich bin daher sehr froh, dass die Kolleginnen und Kollegen der SPD auf der Basis des Sondierungspapiers bereit sind, diesen Weg mitzugehen; denn ohne eine Neuregelung besteht die Gefahr, dass durch die Rechtsprechung und durch die Anwendung von Einzelfallentscheidungen genau die Ergebnisse erzielt werden, die wir nicht haben wollen, die sogar kontraproduktiv sein können, und wir unserem Grundsatz „steuern, ordnen und begrenzen“ dann eben nicht gerecht werden. Insofern bitte ich Sie, in der Sache dem Gesetzentwurf der AfD nicht zuzustimmen, sondern morgen dem Gesetzentwurf der Union. Vielen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Letzter Redner in der Debatte ist der Abgeordnete Dr. Lars Castellucci für die SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke, Herr Präsident! – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider haben wir weltweit immer noch Höchststände an Menschen, die fliehen müssen. Vielfach kommen sie aus den Gegenden, wo sie an ihrem Leben, an ihrer Unversehrtheit bedroht sind, gar nicht heraus an Orte, an denen sie sicher wären. Diejenigen, die herausgekommen sind und sich in Sicherheit gebracht haben, haben häufig keine Versorgung mit dem, was zum Lebensnotwendigen gehört. 90 Prozent der Menschen weltweit, die geflohen oder intern versprengt sind, sind in den ärmsten Regionen unseres Planeten unterwegs, Regionen, die damit immer weiter destabilisiert werden. Diejenigen, die sich aufmachen, nutzen das Schlepperunwesen, müssen Geld bezahlen, riskieren ihr Leben. Immer noch sterben viel zu viele auf dem Mittelmeer. Das ist die Situation. Europa strebt weiterhin auseinander und ist blockiert. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Situation diskutiert Deutschland als wichtigstes Thema ein Symbolthema, nämlich den Familiennachzug. Ich kann Ihnen nur sagen: Damit werden wir der Fragestellung, vor der wir stehen, den gemeinsamen Herausforderungen nicht gerecht. ({0}) Wir müssen besser steuern und ordnen. Das ist bereits gesagt worden. Jetzt nehmen wir noch einmal, Frau Lindholz, die Alternative für die Menschen, die keine Perspektive haben, auf einem legalen und sicheren Weg herauszukommen. Da geht einer los. Vielleicht legen sie in der Familie zusammen, damit sich wenigstens einer in Sicherheit bringen kann. Es werden Schlepper bezahlt, und das Leben wird riskiert. Dann stehen die Leute plötzlich an den Grenzen Europas, dann schlappen sie, wie wir es im Jahr 2015 erlebt haben, zu Hunderttausenden unkontrolliert über die Grenzen. Ist denn das Steuerung und Ordnung? Natürlich war es keine Steuerung und Ordnung. Wir haben uns in die Hände versprochen, dass wir das verbessern wollen. Mein Argument ist: Gerade der Familiennachzug ist ein Instrument, um zu Steuerung und Ordnung zu kommen und nicht das Gegenteil, wie Sie es hier vorgetragen haben. ({1}) Der Familiennachzug ist eine Situation, die allen Seiten nutzt. Familien können wieder zusammenleben. Aber auch für uns ist es ein guter Weg, eine gute Möglichkeit, diese Fluchtbewegung zu steuern und zu ordnen; denn wir wissen, wer kommt. Dies ist eine Frage, die uns immer umtreibt: Sind die Leute eigentlich identifiziert, die zu uns kommen? Wer ist es? Wie alt sind sie? Sind die Fingerabdrücke genommen? Wie viele kommen auf einmal? Wohin sollen sie? Mit einem Familiennachzug über Visum über unsere Auslandsvertretungen ist das alles besser steuerbar als mit dem Chaos, das wir in den letzten Monaten und Jahren erlebt haben. Es ist immer ein bisschen anstrengend, wenn man Kronzeugen aus den eigenen Reihen hat, aber ich muss an Hans Maier erinnern, der sagt: Es ist schon erbärmlich, dass es dem bayerischen Teil der Union bei den Sondierungsgesprächen um fast nichts anderes ging, als diesen Familiennachzug abzuschaffen. ({2}) Als ob wir keine anderen Herausforderungen für die eigene Bevölkerung hätten. Also: Wir wollen steuern und ordnen. Der faire Familiennachzug ist dafür ein geeigneter Weg. Ich will aber den Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und den Linken sagen: Wir müssen das mit Maß und Mitte tun. Wir müssen die Ressourcen und die Kapazitäten in unseren Auslandsvertretungen und auch hier im eigenen Land beachten. Deswegen wollen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten diesen Familiennachzug wieder ermöglichen. Wir wollen das aber in einem Maße tun, wie wir ihn auch gut organisieren können. Das dient am Ende allen Beteiligten. ({3}) Wir haben viel darüber gesprochen, dass die Menschen, die zu uns kommen, unsere Werte beachten sollen. Das Recht auf Familie und der Schutz von Ehe und Familie sind ein hohes Gut unserer Verfassung. Gehen wir mit gutem Beispiel voran und zeigen wir den Menschen, dass das nicht nur für Deutsche gilt, sondern dass es ein universelles Recht ist, für das wir gemeinsam eintreten. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Castellucci. – Einen schönen Nachmittag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe diese Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 19/182 an den Innenausschuss vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Nein, die gibt es nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist vielleicht ein etwas sperriges Thema. Deswegen erläutere ich für unsere Zuschauer auf der Tribüne und die Zuhörer draußen in einem Satz, worum es überhaupt geht. Das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission wird regelmäßig zum Ende des Kalenderjahres vorgelegt. Es skizziert dann das, was sich die Europäische Kommission im laufenden Jahr vornimmt. So lässt sich das für das Jahr 2018 unterteilen in jene legislative Vorhaben, Gesetzesvorhaben, die aufgrund der bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament noch bis – ich sage es einmal vorsichtig – Ende Mai 2018 auf den Weg gebracht werden müssen, damit sie dann auch bis 2019 umgesetzt werden. Der zweite Teil des Kommissionsprogramms legt dann seinen Schwerpunkt darauf, was tatsächlich bis 2025, also längerfristig, im Hinblick auf die Fortentwicklung der Europäischen Union umgesetzt werden soll. Diese Vorhaben, die die Europäische Kommission vorgelegt hat, verdienen auch grundsätzlich die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion. Da geht es um Themen wie beispielsweise die Vollendung der Sicherheitsunion, die weitere Bekämpfung des Terrorismus, aber auch um einen Austausch zwischen den Datensystemen, damit die Länder der Europäischen Union wechselseitig darauf zugreifen können. Es geht letztlich darum, dass wir die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Strafverfolgungsbehörden verbessern. Es geht auch um Themen der sozialen Gerechtigkeit, beispielsweise darum, dass wir eine europäische Arbeitsmarktbehörde einrichten wollen. Dies geht nicht so weit, dass damit eine europäische Arbeitslosenversicherung verbunden wäre; aber es soll gewährleistet sein, dass ­Jobangebote untereinander besser austauschbar und damit besser zugänglich werden. Die Freihandelsabkommen mit Japan, Singapur und den Mercosur-Staaten – um nur einige wenige zu nennen – stehen auf der Agenda, vor allem auch – ich kann jetzt aus Zeitgründen natürlich nicht auf alles eingehen – die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion. Wir haben im Augenblick noch keine funktionierenden Ausschussstrukturen. Aber mit Blick auf den Kalender sollte die Aufmerksamkeit schon auf einen Punkt gelenkt werden: Nächste Woche findet nicht nur ein Euro-Gruppen-Treffen statt, sondern auch der sogenannte Ecofin, also der Finanzministerrat. Da steht auf der Tagesordnung, dass eine sogenannte Orientierungsdebatte darüber geführt werden soll, wie der ESM, der Europäische Stabilitätsmechanismus, in einen europäischen Währungsfonds überführt werden soll. Diese Debatte hat es durchaus in sich. Ich glaube, es ist deswegen wichtig und richtig, dass die Bundesregierung sehr frühzeitig darauf hinweist, dass wir die Rechtsgrundlage des Artikels 352 AEUV, wie es etwas sperrig heißt, nicht als gegeben ansehen. Es ist eine Art Generalklausel, die die Kommission immer gerne dann heranzieht, wenn sie keine andere Grundlage findet. Aber die Anwendung der Generalklausel bedingt eines, nämlich dass wir eine Regelungslücke hätten. Die ist hier nicht vorhanden – ganz im Gegenteil! Wenn man eines Tages tatsächlich den ESM in einen europäischen Währungsfonds überführen möchte, dann ginge das nur über eine Änderung der Verträge. Da würde der Bundestag ein gehöriges Wort mitzusprechen haben. Ich verweise an dieser Stelle nur – wiederum aus Zeitgründen – auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; denn schon damals, als wir den ESM eingeführt und etabliert hatten, hatte das Bundesverfassungsgericht in der entscheidenden Verhandlung in ­Karlsruhe sehr viel Wert auf die Feststellung gelegt, wie denn die Mehrheiten zustande gekommen waren. Ob jetzt hier im Sinne des Artikels 79 Grundgesetz eine Zweidrittelmehrheit erforderlich wäre, kann zunächst dahinstehen; aber damals ist eine entsprechende Entscheidung getroffen worden. Insofern können solche Entscheidungen auch in Zukunft nur mit einer verfassungsändernden Mehrheit hier im Deutschen Bundestag getroffen werden. Das gilt ganz besonders vor dem Hintergrund der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung, die der Deutsche Bundestag trägt. Deswegen sei an dieser Stelle schon heute sehr klar gesagt – auch im Hinblick auf die Debatte nächste Woche im Ecofin –, dass wir darauf pochen – wir bitten darum, die Kommission darauf hinzuweisen –, dass es mit dieser Generalklausel mit Sicherheit nicht getan ist und wir auf einer Vertragsänderung bestehen müssen. Ich bitte, diese Position entsprechend in Brüssel zu vertreten. ({0}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Arbeitsprogramm der Kommission ist ambitioniert; es ist gut und, wie gesagt, in vielen Teilen auch unterstützenswert. Die Umsetzung wird aber nur funktionieren, wenn wir dann endlich wieder eine handlungsfähige Regierung in Berlin haben, ({1}) damit hier wieder eines der europapolitischen Schwung­räder steht. Ich glaube, das sind wir Europa ganz besonders schuldig. Herzlichen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Krichbaum. – Als nächstem Redner in der Debatte und zu seiner ersten Rede gebe ich das Wort Johannes Schraps von der SPD-Fraktion. Viel Erfolg! ({0})

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Am Wochenende hat die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ mit Blick auf die Ergebnisse der Sondierungen von SPD und CDU/CSU getitelt: „Deutschland antwortet auf Macron“. Was aus meiner Sicht mindestens genauso wichtig ist – deswegen reden wir heute über das Arbeitsprogramm der Kommission –: Damit gibt Deutschland endlich eine Antwort auf Juncker und auf die Vorschläge der Europäischen Kommission. Seit 1988 veröffentlicht die EU-Kommission jedes Jahr ihr Arbeitsprogramm. In Brüssel gibt es seither sozusagen immer einen Plan für Europa. Er ist zugegebenermaßen mal mehr, mal weniger ambitioniert, aber es gibt ihn. Wir als SPD wünschen uns schon seit langem, dass es auch in Deutschland endlich wieder einen offensiven und zukunftsgewandten Plan für Europa gibt; ({0}) keinen Plan, mit dem nur reagiert wird, sondern einen, in dem Ideen für die zukünftige Ausgestaltung unserer gemeinsamen Europäischen Union formuliert werden. Denn Europa ist ein dynamisches Projekt, das von seiner Weiterentwicklung und vom Fortschritt lebt und davon, dass sich die Mitgliedstaaten proaktiv einbringen. In den letzten Jahren stand die Bundesrepublik häufig auf dem Bremspedal, und zwar nicht, weil wenig über Europa geredet wurde, sondern weil die deutsche Europapolitik zu lange durch die Krisenmodus-Finanzbrille gesehen wurde. Und ja, auch wir als SPD haben nicht immer alles richtig gemacht. Das Grundproblem war, dass die deutsche Europapolitik lange von der Prämisse geprägt war, das EU-Budget möglichst klein zu halten und dass bloß nicht zu viele Steuergelder aus Deutschland nach Europa gehen, ohne zu berücksichtigen, dass unser Land am meisten von der Europäischen Union profitiert. ({1}) Die Euro-Zone krisenfest zu machen, meine Kolleginnen und Kollegen, ist für uns und unseren Wohlstand deshalb von außerordentlicher Bedeutung. Im Arbeitsprogramm schlägt die Kommission einen europäischen Währungsfonds vor, sie nennt eine Haushaltslinie für den Euro-Raum als Ziel, und sie will die Vollendung der Bankenunion. All diese Punkte zielen auf die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion hin und zeigen: Große Veränderungen in der EU sind nur mit den richtigen finanziellen Strukturen möglich. ({2}) Im vergangenen Jahrzehnt war die Europapolitik leider häufig von Reaktionen auf Krisenerscheinungen geprägt und – das muss man ehrlicherweise dazusagen – von einer deutschen Finanzpolitik, die es geschafft hat, die eigene restriktive Politik auf die Europäische Union zu übertragen. Deshalb freue ich mich sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, dass diese restriktive Haltung mit den Ergebnissen der Sondierungen von vergangener Woche endlich aufgegeben wurde. ({3}) Die Austeritätspolitik ist vorbei. Das zeigen die Sondierungen deutlich, wenn es dort heißt: Wir wollen die EU finanziell stärken, damit sie ihre Aufgaben besser wahrnehmen kann. Dafür werden wir bei der Erstellung des nächsten Mehrjährigen Finanzrahmens Sorge tragen. Und weiter heißt es: Wir sind auch zu höheren Beiträgen Deutschlands zum EU-Haushalt bereit. Ich bin Martin Schulz außerordentlich dankbar, dass er in den Verhandlungen mit Angela Merkel und Horst Seehofer dieses Ergebnis erzielt hat; denn aus meiner Sicht ist das ein fundamentaler Wechsel in der deutschen Europapolitik. ({4}) Ich möchte noch einmal betonen: Fast vier Monate hat Macron, hat Juncker, hat eigentlich ganz Europa auf Deutschlands Antwort gewartet. Und nachdem bei den Jamaika-Verhandlungen keine Lösung für Europa auf den Weg gebracht wurde, freue ich mich sehr, dass wir heute sagen können: Wir, die SPD, geben nun die Antwort. ({5}) Wir sind die Europapartei in Deutschland. Wir übernehmen Verantwortung für dieses Land und für Europa. Durch uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird Deutschland in Europa auch wieder „sprechfähig“. ({6}) Ich begrüße es ausdrücklich, dass bei den Sondierungen klar festgehalten wurde, den deutschen Beitrag zum EU-Haushalt aufzustocken, ({7}) um zusätzliche Aufgaben, die wir sukzessive auf die EU übertragen haben, bewältigen zu können, und – das ist ganz wichtig – dass die Stabilisierungs- und Konvergenzmittel explizit als Ausgangspunkt für einen zukünftigen Investivhaushalt der Euro-Zone benannt sind. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer das gemeinsame Europa als Sozialunion, als Wirtschaftsunion und nicht zuletzt als Friedensprojekt erhalten und voranbringen möchte, der muss bereit sein, in Europa zu investieren. Auch und vor allem Deutschland muss das tun. ({9}) Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. – Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir jetzt die Chance dazu haben und sich dieses Zeitfenster irgendwann auch wieder schließen kann. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, sage ich: Jetzt ist der richtige Moment. Wir können nicht noch länger warten, um einen Plan für Europa zu entwickeln. Vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Johannes Schraps. – Nächster Redner in der Debatte: Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Werte Kolleginnen und Kollegen! Einen wahren Satz enthält das Arbeitsprogramm der EU-Kommission 2018: Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, weniger, aber dafür effizienter zu handeln und Zuständigkeiten an die Mitgliedstaaten zurückzuübertragen, wo dies sinnvoll erscheint. ({0}) Was für ein Lippenbekenntnis! Tatsächlich ist ­Junckers Arbeitsprogramm pure und reine Gigantomanie und die Fahrkarte in eine kontinentale Diktatur. ({1}) – Johlen Sie nur! Als demokratisch kann man es wahrlich nicht werten, wenn Juncker in seiner Rede zur Lage der Union offen fordert, Parteien, die etwas gegen seine liebe EU sagen, von jeglicher Finanzierung abzuschneiden. Er will neue Regeln zur Finanzierung politischer Parteien und Stiftungen erlassen, damit sie „nicht extremen antidemokratischen Gruppen die Kassen füllen, sondern vielmehr europäischen Parteien bessere Möglichkeiten geben“. „Europäisch“ heißt hier, werter Kollege: pro EU, pro Juncker. Diskussion und Kritik werden nicht gewünscht: Wer nicht für uns ist, wird pleite gewirtschaftet. ({2}) Mit dieser Kommission, meine Damen und Herren, ist der demokratische Wert der EU auf den Nullpunkt gesunken. ({3}) Umso bedrohlicher ist, dass die Kommission sich selbst immer mehr Macht zukommen lassen will. Eine Verteidigungsunion soll es geben, mit europäischen Kompetenzen im Bereich der äußeren und inneren Sicherheit. Handel für alle und die globale Strategie werden neue Freihandelsabkommen mit sich bringen, die wieder in Hinterzimmern ausgehandelt werden und deren Regelungen genauso undemokratisch und frech sein werden wie die Regelungen in TTIP. ({4}) Vom Bleigießen und von leistungsfähigen Staubsaugern verabschieden wir uns dank EU schon jetzt. Doch nun soll uns eine Klimaagenda noch viel mehr vorschreiben, als wir uns überhaupt vorstellen können. Mit Plastik will die EU nun ihre erste eigene Steuer bekommen. ({5}) – Lachen Sie nicht; das ist wirklich so. – Eine Migrationsagenda mit EU-weitem Asylkodex wird uns schließlich vorschreiben, wie wir Zuwanderung zu gestalten haben. Dann entscheidet die EU, wer wohin kommt. Ich will mir das lieber nicht ausmalen. Das Beste sind aber die Planungen für die Kapitalmarktunion, die Wirtschafts- und Währungsunion. Mit ihr können Finanzjongleure und Banken endlich grenzenlos zocken und Staaten sich maßlos überschulden; denn es wird garantiert, dass die EU und allen voran Deutschland für alles haftet: für marode Banken, für marode Staaten, für eine marode EU. Junckers EU ist ein gewaltiges Kasino, in dem wenige gewinnen und alle verlieren. Rien ne va plus! ({6}) Wissen Sie, ich liebe die europäische Idee. Als Jugendlicher habe ich an Schüleraustauschprogrammen teilgenommen. Ich habe in Frankreich gelebt. ({7}) – Sie können gerne lachen. Das können Sie in meinem Lebenslauf nachlesen. ({8}) Ich habe in Frankreich gelebt und gearbeitet. Ich habe in Prag eine internationale Studentenkonferenz mit aufgebaut. ({9}) Aber in dieser EU geht es nicht mehr um die europäischen Werte des Friedens und der Zusammenarbeit. Es geht allein um Geld und um Macht. ({10}) Deutschland hat jetzt schon an Haftungszusagen Außenstände in Höhe von über 1 Billion Euro, damit andere weiterhin sorgenfrei Misswirtschaft betreiben können. Nehmerländer halten die Hand auf. Innerhalb von sieben Jahren werden Subventionen in Höhe von 1 Billion Euro ausgereicht, nicht an die Bürger, sondern an einzelne große Unternehmen. Der Schweinemastbetrieb, der das Grundwasser verdirbt, bekommt so viel Geld, dass er billiger produzieren kann als jeder Hersteller in Afrika, und der Kleinbauer geht pleite. Das ist die EU von heute. Ich sage Ihnen offen: Das ist nicht mehr meine EU. ({11}) Entschuldigen Sie bitte, ich darf mit meiner Kritik im Interesse meiner Fraktion nicht zu weit gehen. Sonst kürzt uns die demokratische Europäische Kommission demnächst die Mittel. Danke. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte: ­Michael Link für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute diskutieren wir über das Arbeitsprogramm der Kommission. Dies ist die erste vereinbarte Debatte, die wir darüber führen. Natürlich ist es ganz wichtig, dass wir im Detail diskutieren. Aber lassen Sie mich einige Sachen kurz vorab erwähnen. Es ist gut und es ist wichtig, dass wir in die Diskussion über die europäische Gesetzgebung Zeit investieren. Wir sollten uns einen Ruck geben – das ist die Chance des Anfangs dieser Wahlperiode – und gemeinsam mehr Zeit in die Debatte der europäischen Gesetzgebung investieren. In der Vergangenheit ist ein solcher Anlauf schon oft erfolgt. Wir haben es leider nicht geschafft, zum Beispiel so etwas wie eine Europa-Fragestunde einzuführen. Ich glaube, das wäre wichtig. Ich sage vor allem mit Blick auf die zu Recht hohen Erwartungen, die das Bundesverfassungsgericht an uns Parlamentarier stellt – gleich ob wir einer Regierungs- oder Oppositionsfraktion angehören –, dass wir die Bundesregierung bei ihrem Handeln in der EU stärker kontrollieren, sie aber auch besser legitimieren, indem wir mehr Zeit in die Debatte der europäischen Gesetzgebung investieren. Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken. Dann erübrigt sich, auch ohne Kommentar, eine solche Stellungnahme, wie wir sie gerade gehört haben, in der von Diktatur und anderen Dingen die Rede war. Man hat alle Chancen, sich in diese EU gewaltengeteilt, gerecht und vor allem justiziabel einzubringen, wenn man es denn nur vernünftig will. ({0}) Wir Freien Demokraten sind bereit und freuen uns auf diesen Diskurs. Es gibt unterschiedliche Wege, wie man das vereinte Europa am besten bauen kann. Wir Freien Demokraten stehen für eine EU, die stark, regelbasiert, handlungsfähig, subsidiär, dezentral und ordnungspolitisch von einer Konzentration auf das Wesentliche geprägt ist und den Mitgliedstaaten dabei genügend Eigenverantwortung und Spielraum für den notwendigen Wettbewerb um die besten Lösungen lässt. Vertiefung der europäischen Integration, zu der wir stehen, heißt für uns nicht Zentralisierung, sondern kluges Ausbalancieren der Zuständigkeiten im vereinten Europa und intelligente Checks and Balances in der Art, wie die EU regiert wird. Das ist die Maxime, mit der wir Freien Demokraten Europapolitik betreiben und an der wir das Arbeitsprogramm der Kommission messen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, 2018 will die Kommission die Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien abschließen. Michel Barnier macht eine exzellente Arbeit. Dennoch – machen wir uns nichts vor –: Auch wenn wir den Brexit fair und im Respekt vor der britischen Entscheidung zu Ende führen wollen, ist er ein Prozess, bei dem am Ende vermutlich alle menschlich, politisch und ökonomisch verlieren werden. Dieser Fall darf nicht Schule machen. Dennoch sollten wir daran denken, dass die EU die Briten auch in Zukunft als strategischen Nachbarn und als NATO-Partner braucht und dass wir die Tür für Großbritannien im Hinblick auf die Zukunft und für den Fall einer neuerlichen Abstimmung, so unwahrscheinlich sie heute auch sein mag, offenlassen sollten. ({1}) Kolleginnen und Kollegen, zu einigen einzelnen Punkten des Programms der Juncker-Kommission, über das wir hoffentlich bald in den Fachausschüssen ausführlich diskutieren werden – das ist ja beileibe kein Thema, das nur den Europa-Ausschuss angeht –, mangels längerer Redezeit nur einige wenige Stichworte: Der klare Impetus, den die Kommission auf den digitalen Binnenmarkt legt, ist außerordentlich positiv. Ich denke, die Kommission hat begriffen, dass dies eine der prioritären Herausforderungen ist. Es fehlte in diesem Bereich in der letzten Wahlperiode an klarer Unterstützung durch die Große Koalition. Ein anderer Bereich, in dem die Kommission, wie wir denken, auf einem sehr guten Weg ist, ist die Handels­politik, mit der die Kommission auch in Zeiten eines weltweit erstarkenden Protektionismus ihren Anspruch untermauert, die Globalisierung mit einer ambitionierten Politik zum Wohle aller zu gestalten. Umso problematischer, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist, dass die Kollegen der Grünen während der Jamaika-Sondierungen doch tatsächlich die Ratifizierung des fertigen Handelsabkommens CETA mit Kanada blockiert haben und von der Union kein Veto zu hören war. ({2}) Beim wichtigen Thema der Migrationspolitik wollen wir die Kommission nach Kräften darin unterstützen, das überkommene Dublin-System zu reformieren. Europa braucht einen effizienten und krisenfesten Mechanismus, mit dem wir schnell und human auf neue Flüchtlingslagen reagieren können. Außerdem brauchen wir endlich einen effizienten Schutz der Außengrenzen mit exekutiven Befugnissen. Positiv ist auch, dass sich die Kommission weiterhin der Bekämpfung von Cyberangriffen, Propaganda und Fake News widmen will. Dass hier zunächst eine Beratergruppe einberufen worden ist, lässt hoffen, dass man unausgegorene Schnellschüsse vermeiden möchte und nicht den falschen Weg gehen will, den die Große Koalition mit dem sogenannten Netzwerkdurchsetzungsgesetz gegangen ist. ({3}) Im Bereich der Energiepolitik setzt die Kommission auf Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgungssicherheit. Das ist gut. Hier benötigen wir in der Tat einen gesamteuropäischen Ansatz. Dass sich die Bundesregierung in diesem Energiebereich über die Bedenken zahlreicher europäischer Nachbarstaaten – Dänemark, Litauen – hinwegsetzt und diese Staaten mit dem unabgestimmten Ausbau von Nord Stream 2 brüskiert, ist aber alles andere als konstruktiv. ({4}) Wir unterstützen die Kommission auch in ihrem Vorhaben, neue Vorschläge zur Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit in der EU zu entwickeln. Europa kann nur dann wirklich stark sein, wenn es seinen Werten und Prinzipien treu ist und international ein Beispiel für Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Menschenrechte bleibt. ({5}) Wir halten auch am Ziel einer glaubwürdigen Erweiterungsperspektive für den Westbalkan fest und begrüßen mit Nachdruck die Pläne zur Fortschreibung der ständigen strukturierten Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich und für einen europäischen Verteidigungsfonds. Wir sind auch durchaus offen für die Idee – Juncker hat es angesprochen – eines Anteils transnationaler Listen für die Wahlen zum Europäischen Parlament. Wir fordern das als FDP schon lange. Wir halten das für richtig. Das gilt auch für den Prozess im Zusammenhang mit dem europäischen Spitzenkandidaten. Juncker spricht auch von der Reform der Wirtschafts- und Währungsunion. Ja, sie muss reformiert werden. Eine solche Reform muss sich allerdings zunächst am Prinzip der finanziellen Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten orientieren ({6}) und darf nicht zu Finanztransfers führen, die eine Erschlaffung der Reformbemühungen zur Folge hätten. Wenn der ESM schon in einen europäischen Währungsfonds überführt werden soll und wir darüber reden – wir werden darüber zu diskutieren haben, und ich will ausdrücklich die Bedenken unterstreichen, die wir hier von meinem Vorredner Gunther Krichbaum zur Rechtsgrundlage gehört haben –, dann muss dieser auch ein politisch unabhängiges Instrument zur Krisenprävention werden. Konvergenz ist wünschenswert, aber nur, wenn sie in Richtung von mehr Wettbewerbsfähigkeit geht – nicht als Nivellierung oder als Schwächung. ({7}) Die Akzeptanz der Wirtschafts- und Währungsunion wird nicht steigen, wenn sich in weiten Teilen der Bevölkerung der Eindruck verfestigt, dass Risiko und Haftung auseinandergehen. Auch neue Vorschläge zur Einführung europäischer Steuern werden die EU nicht attraktiver oder besser machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte um die Zukunft Europas läuft. Als Parlament leisten wir in der kommenden Woche mit der gemeinsamen Erklärung mit der Assemblée nationale einen wichtigen Beitrag. Präsident Macron reformiert sein Land auf dem Feld der Wettbewerbsfähigkeit wie kein französischer Präsident vor ihm. Hier wäre es an Deutschland, jetzt nachzuziehen. Deshalb kann ich nur sagen: Wir Freien Demokraten freuen uns, in dieser Wahlperiode als Opposition hier im Bundestag, als Gruppe im Europäischen Parlament und in drei Landesregierungen aktiv und konstruktiv am weiteren Aufbau der Europäischen Union zu arbeiten. Wir freuen uns auf dieses Projekt und insbesondere auf die Arbeit in den Ausschüssen. Ich danke Ihnen. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Link. – Nächster Redner für die Fraktion Die Linke: Alexander Ulrich. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja wohl das letzte Arbeitsprogramm der Juncker-Kommission; denn wenn das Jahr vorbei ist, geht es schon mit großen Schritten in Richtung Europawahl. Man kann aus linker Sicht wirklich nur sagen: Gott sei Dank ist ein Ende für die Juncker-Kommission in Sicht. ({0}) Die Juncker-Kommission ist leider eine Kommission der neoliberalen Wirtschaftspolitik, und man merkt: Die FDP unterstützt auch das und ist sehr froh, dass das so gemacht wird. Sie hat mit ihrer Austeritätspolitik gerade auch in vielen südeuropäischen Ländern die Arbeitnehmerrechte eingeschränkt und nichts gegen Steuerhinterziehung gemacht. Im Gegenteil: Sie ist eigentlich ein Hort, in dem man die Steueroasen weiterhin pflegt. Das, was man sozialpolitisch macht, ist nicht mehr als ein Placebo. ({1}) An dieser Ausrichtung ändert sich auch im Arbeitsprogramm 2018 rein gar nichts. Im Gegenteil: Wir müssen befürchten, dass die antisoziale, antidemokratische und militaristische Agenda in diesem Jahr noch energischer fortgesetzt wird; denn man will das ja rechtzeitig vor den Europawahlen in Sack und Tüten bringen. Die Kapitalmarktunion soll vorangebracht werden. Das ist eines der verrücktesten EU-Projekte überhaupt. Die Kommission erdreistet sich tatsächlich, zehn Jahre nach dem Lehman-Kollaps ausgerechnet den Verbriefungsmarkt als Stabilisator zu propagieren und einen weitgehend unregulierten europäischen Verbriefungsmarkt aufzubauen. Haben die Damen und Herren in Brüssel tatsächlich schon vergessen, dass genau diese Verbriefungen ganz am Anfang der großen Krise standen, oder will man das Epizentrum der nächsten Finanzkrise unbedingt nach Europa verlagern? Dann soll die Währungsunion reformiert werden – mit einem europäischen Finanzminister, der tief in die nationale Haushaltspolitik eingreift; mit einem europäischen Währungsfonds, der den schwachen Ländern immer weiter antisoziale Anpassungsprogramme diktiert; mit einer Fiskalpolitik, die die Mitgliedstaaten nötigt, ausgerechnet dann zu sparen, wenn die Wirtschaft durch Investitionen angekurbelt werden müsste. Das lehnen wir als Linke ab. ({2}) Als wäre das noch nicht genug Liberalisierung und Deregulierung, will die Kommission auch noch an ihrer bisherigen Handelspolitik festhalten. Abkommen à la CETA sollen nun auch mit Japan, Singapur, Vietnam und rund 20 weiteren Ländern abgeschlossen werden. Das heißt: noch mehr Klagerechte für Konzerne, noch mehr intransparente Deregulierungsräte, noch mehr Angriffe auf Verbraucherschutz und Arbeitnehmerrechte. Dieses Europa braucht niemand. ({3}) Aber die Juncker-Kommission ist nicht nur eine Kommission der neoliberalen Wirtschaftspolitik, sondern auch eine der militärischen Aufrüstung. Mit PESCO verpflichten sich die Mitgliedstaaten an den Parlamenten vorbei zu immer neuen Rüstungsinvestitionen. Wer sich wie die EU als Friedensmacht feiert, sollte mit gutem Beispiel vorangehen und auf globale Abrüstung hinwirken, statt noch mehr Geld in die Rüstungsindustrie zu pumpen. ({4}) Dann schafft es die Kommission doch tatsächlich, eine Energieunion voranzutreiben, die nichts gegen Energiearmut bewirkt, die nichts zur Energiewende beiträgt, die aber die Spannungen mit Russland weiter verschärft, systematisch Großkonzerne begünstigt und damit dem zerstörerischen Fracking Vorschub leistet. Gegen Steuerhinterziehung hingegen verteilt die Juncker-Kommission nur Placebopillen wie diese lächerliche schwarze Liste, auf der kein einziges EU-Mitgliedsland steht, obwohl es in manchen Ländern Steuersätze von 0 Prozent gibt. Vom langjährigen Chef der Steueroase Luxemburg darf man wohl auch nichts anderes erwarten. Auch im Bereich der Sozialpolitik bleibt es bei Placebos. Die sogenannte soziale Säule mit ihren 20 vollkommen unverbindlichen Grundsätzen kann den sozialen Schaden, den die EU-Institutionen angerichtet haben, insbesondere in der Euro-Krise, nicht einmal im Ansatz ausgleichen. All das ist meilenweit von dem entfernt, was in Europa gebraucht wird. Zugutehalten muss man der Kommission allerdings, dass sie kaum besser sein kann als ihre Mitgliedstaaten. Leider stehen auch in Frankreich und Deutschland, den größten und mächtigsten Mitgliedstaaten, die Zeichen weiterhin auf Kürzen, Aufrüsten und Liberalisieren. Wenn die GroKo zustande kommt, mündet das – auch wir haben das Papier gelesen – in einer deutsch-französischen Achse, in der Frankreich Aufrüstung und Deutschland Haushaltsdisziplin bekommt. Der Rest der EU hat dann das zu schlucken, was diese zwei Länder miteinander beschließen. Man kann nur hoffen, dass die Parteibasis die Führung der SPD vor diesem politischen Selbstmord bewahrt. ({5}) Die ganz wenigen Punkte, die die SPD laut Sondierungspapier bekommen hat, sind gerade jene, die man in der EU sowieso nicht durchbekommt. Oder glauben Sie ernsthaft, sich mit dem Investmentbanker Macron auf eine Finanztransaktionsteuer verständigen zu können oder mit Polen und Ungarn zu einer humanitären Flüchtlingspolitik zu kommen? Das will auch niemand von der Unionsseite, sonst hätten die Zwerge von der CSU nicht Orban zu ihrer Klausur eingeladen. ({6}) Es liest sich zwar erst einmal sehr schön, was in diesem Sondierungspapier steht. Doch am Ende wird davon nichts übrig bleiben. Ich frage in Richtung SPD: Wie oft wollen Sie denn noch die Finanztransaktionsteuer mit der Union beschließen, ohne dass sie jemals umgesetzt wird, weil auch Sie da nichts machen? ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen in der EU nicht weniger als eine politische 180-Grad-Wende. Wir brauchen Lohnsteigerungen in Deutschland, um die wirtschaftlichen Ungleichgewichte abzubauen. Wir brauchen deutlich mehr Investitionen in Deutschland und in der gesamten EU für einen sozial-ökologischen Umbau. Wir brauchen eine Demokratisierung des Welthandels und eine Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe statt Liberalisierung. Wir brauchen eine Abrüstungsinitiative statt Eingreiftruppen in Osteuropa und Eurodrohnen. Wir brauchen eine strenge Finanzmarktregulierung statt Deregulierung und eines europäischen Verbriefungsmarkts. ({8}) Wir brauchen endlich einen entschiedenen Kampf gegen Steuerflucht und ‑hinterziehung. ({9}) Das alles ist aber das schiere Gegenteil dessen, was die Juncker-Kommission will. Es ist auch das schiere Gegenteil dessen, was diese Große Koalition im Sondierungspapier stehen hat. Deshalb braucht es eine starke Linke, die für ein soziales Europa kämpft. ({10}) Vielen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Ulrich. – Nächster Redner in der Debatte: Manuel Sarrazin für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Eine Analyse des derzeitigen Stands der Europäischen Union ist nicht so leicht. Wir sehen gute Zahlen in den meisten Staaten der Euro-Zone wie auch der Europäischen Union. Es gibt wieder Wachstum. Die Arbeitslosigkeit geht in den meisten Bereichen zurück, langsam sogar bei den Jugendlichen. Wir haben auch die Situation, dass die politischen Spannungen der letzten Jahre offensichtlich überwunden sind. Gestern war der neue Vorsitzende der Euro-Gruppe zu Gast. Es gab einen kleinen Empfang im Bundesfinanzministerium. Herr Altmaier hat darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung Herrn Centeno, den Finanzminister Portugals, dessen Regierung von linksradikalen Kräften in Portugal gestützt wird, bei seiner Kandidatur unterstützt hat. Das ist doch mal etwas; das ist doch bemerkenswert. Herr Ulrich hätte diese neue Einigkeit ruhig ein wenig abbilden können. ({0}) Man muss sich in den Reden ja nicht immer nur gegenseitig eins auf die Nuss geben; so etwas kann man doch auch einmal würdigen. Das Jahr 2018 ist nicht das Jahr, in dem man Kulturkämpfe gegeneinander führen muss. Eigentlich sind wir, was Europa angeht, sogar näher an der Linkspartei als an der AfD. Es wäre schön, wenn ihr es irgendwann einmal in einer Europa-Debatte schaffen würdet, mich zum Applaudieren zu bekommen. Darüber würde ich mich richtig freuen. ({1}) Was Herr Centeno gesagt hat, ist hinsichtlich der Analyse relativ klar: Wir dürfen uns von den guten Zahlen nicht in die Irre führen lassen. Denn aufgrund der Zyklen in den wirtschaftlichen Entwicklungen werden wieder neue Krisen auf uns zukommen. Außerdem dürfen wir uns nicht einbilden, dass wir jetzt schon krisenfest wären. Gerade heute sind die Zahlen veröffentlicht worden: Über 900 Milliarden Euro an faulen Krediten liegen noch in Europas Banken. Deshalb ist die Frage, wie man die Bankenunion fortsetzt, eine ganz entscheidende. Ich höre immer und lese auch im Sondierungspapier – der Ton des Sondierungspapiers gefällt mir –, wir brauchen endlich Kerneuropa, um voranzugehen, und wollen Herrn Macron die Hand reichen. Aber das Erste, was hier dann kommt, ist: Die Rechtsgrundlage, um konkret beim ESM mehr zu machen und ihn zu europäisieren, ist uns nicht recht; Artikel 352 AEUV ist dafür nicht geeignet. – Meiner Ansicht nach ist das eine falsche Argumentation. Da haben wir einen ersten Punkt, an dem man vorangehen will, und wieder sagt diese Bundesregierung: Nein, mit uns nicht. – Das ist die Realität. ({2}) Ihr versteckt euch immer dahinter, dass die Osteuropäer und die Südeuropäer usw. nicht wollen. Wenn ihr bei dem wichtigsten Punkt liefern sollt, nämlich die Bankenunion zu Ende zu bringen, dann ist an der Stelle nichts zu gewinnen. Da macht ihr meiner Ansicht nach einen großen Fehler. ({3}) Zu deiner Argumentation, Gunther. Das Ziel ist klar im Vertrag verankert. Die Befugnis ist offensichtlich nicht im Vertrag verankert, weil Artikel 136 Absatz 3 AEUV den ESM ganz klar zum Instrument der Mitgliedstaaten macht. An dieser Stelle eine Vertragsänderung zu fordern, ist der älteste Trick der Bundesregierung, um bei Sachen, die man eigentlich nicht will, letztlich die Ausrede zu haben, dass man selber gar nicht dafür sein konnte, weil andere ein Veto eingelegt haben. Das werden wir euch nicht durchgehen lassen. ({4}) Ein anderer Punkt, den ich ansprechen muss: Wir werden in diesem Jahr die entscheidende Brexit-Phase verhandeln. Bisher bin ich mit der Position der Bundesregierung ganz zufrieden, weil ich das Gefühl habe, dass sich Deutschland an dieser Stelle wirklich um den Zusammenhalt der Europäischen Union verdient macht. Das gilt auch für die Formulierung zum mehrjährigen Finanzrahmen im Sondierungspapier. Ich halte diese für sehr klug. Ich bin wahrscheinlich der größte Nerd, was Europageld angeht – in meinem Laden zumindest. ({5}) Es sagen immer alle: Manuel, das ist doch nicht alles. – Dann sage ich immer: Doch, doch, das ist ganz wichtig; man kann es auch größer verkaufen. – Aber eines muss ich euch ehrlich sagen: Wer in Deutschland den Klimaschutz rückabwickelt, wer die deutsche Energiepolitik weiter für nationale Kohlepropaganda benutzt, wer beim gemeinsamen europäischen Asylsystem einerseits hintenherum die großen rechten Unternehmungen durchsetzt – siehe Selbsteintrittsrecht –, zum anderen bei der Verteilungsquote immer nur auf die Osteuropäer zeigt, der schafft trotzdem noch lange keine proeuropäische Koalition, nur weil er bereit ist, mal 5 Milliarden oder 10 Milliarden Euro mehr in den EU-Haushalt zu schieben. Das muss ich euch leider ehrlich sagen. ({6}) Das andere, was ich sagen muss, ist: Wir werden in den Brexit-Verhandlungen sehen, was eine Demokratie ausmacht, nämlich Verhandlungen zwischen Mitgliedstaaten, die in einstimmigem Beschluss die Europäische Kommission beauftragen, die als Sachwalter des gemeinsamen europäischen Interesses tagt, die übrigens sehr transparent Dokumente online zur Verfügung stellt und über diese Verhandlungen tatsächlich Rechenschaft ablegt. Ich persönlich glaube, dass diese europäische Föderation viel weniger mit einer Diktatur gemein hat als das Regime eines Herrn Assad, das der Redner von der AfD bei der Einbringung eines Antrags vor wenigen Wochen in diesem Parlament noch als perfektes System, in dem alles in Ordnung sei, gefeiert hat. Wenn Sie von einer Diktatur in Europa reden, dann sollten Sie erst einmal Ihr Verhältnis zu Russland und zum Regime von Assad klären. Sonst brauchen Sie uns hier gar nichts darüber zu sagen. ({7}) Denn, meine Damen und Herren, die Legitimitätskette, auf der die Entscheidungen der europäischen Institutionen beruhen, ruht – und das bleibt so – nach Verträgen und nach dem deutschen Grundgesetz auf zwei Pfeilern. Der eine ist die direkte Demokratie durch die Wahlen zum Europäischen Parlament. Wer findet, die Europäische Union sei ein Superstaat, der dürfte meiner Ansicht nach gar nicht für das Europäische Parlament kandidieren, weil er sich damit nur zu dessen Anwalt macht. Die Europawahlen sind Ausdruck dieser Legitimitätsfunktion. Die andere Legitimitätsfunktion haben wir, indem wir die Entscheidungen der Bundesregierung im europäischen Ministerrat und im Europäischen Rat hier so diskutieren, dass die deutschen Bürgerinnen und Bürger sich eine Meinung darüber bilden können, die zur Wahlentscheidung bei den Bundestagswahlen beiträgt. Dafür ist es notwendig, dass man bei der Sache bleibt und dass man eine ehrliche Debatte auch über das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission führt. Das haben wir hier zum Teil begonnen, und das werden wir im Ausschuss fortführen. Danke sehr. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Manuel Sarrazin. – Nächster Redner in der Debatte: Dr. Heribert Hirte für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 24. Oktober 2017 hat die EU-Kommission ihr neues Arbeitsprogramm für das Jahr 2018 vorgelegt, und darüber diskutieren wir jetzt. Das Programm besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil wird eine ganze Reihe von Legislativvorschlägen gemacht, die noch bis zum Ende dieser Kommission verwirklicht werden sollen. Das heißt, wir werden diese Vorschläge wegen der gesetzgeberischen Zeitabläufe, die notwendig sind, in den nächsten Wochen zu erwarten haben. Im zweiten Teil stellt die Kommission ihre Vision vor, wie die Finanzgrundlagen nach dem Brexit und im Angesicht der aktuellen Entwicklungen neu zu strukturieren sind. Lassen Sie mich zuerst einen Blick auf die Legislativvorschläge werfen. Die EU-Kommission schlägt vor, ein Europäisches Wirtschaftsgesetzbuch zu schaffen. Der französische Präsident Emmanuel Macron greift diesen Vorschlag in seiner schon viel zitierten Rede am 26. September 2017 in der Sorbonne auf und setzt sich mit ganz deutlichen Worten für die Vereinheitlichung des Unternehmens- und Insolvenzrechts ein. Ich glaube, das ist ein richtiger und wichtiger Vorschlag. Denn wir haben zwar im Wirtschaftsrecht, das den Kern unserer Europäischen Union ausmachen sollte, sehr viel zusammengefasst und erreicht; aber alles, was wir sehen, ist eigentlich ein Flickenteppich. Denn der Kern der Harmonisierung des Wirtschaftsrechts basiert auf Richtlinien, und die Richtlinien lassen immer noch sehr viele Spielräume. Wenn wir einen gemeinsamen Markt und ein gemeinsames Level Playing Field haben wollen, dann sollten nicht die Regeln miteinander konkurrieren, sondern die Unternehmen. Deshalb ist dieser Schritt richtig. Ein zweiter Punkt ist ein Thema, um das es gerade in der Steuerdiskussion geht. Der Kollege Ulrich hat das eben aufgegriffen. Wir müssen über Steuern in Europa an verschiedenen Stellen nachdenken. Was nämlich bei Unternehmen fehlt, ist eine gemeinsame einheitliche Festlegung dessen, was überhaupt den Gewinn ausmacht und was vom Gesellschaftsrecht bis in das Steuerrecht hineinreicht: die gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage. Solange wir diese nicht haben, nutzt der ganze Datenaustausch über die Grenze nichts, und das, was viele wollen, funktioniert nicht, zum Beispiel die Zinsmeldungen. Denn wir können Zins und Gewinn nur dann abgrenzen und die Meldungen verarbeiten, wenn sie auf einer einheitlichen Rechtsgrundlage beruhen. Ein dritter Punkt: Was immer noch fehlt, aber zu diesem Programm gehört, ist eine besondere Rechtsform für kleine und mittelständische Unternehmen. Wir arbeiten auf der Ebene der Europäischen Union seit Jahren daran, eine solche europäische GmbH zu schaffen. Es ist immer wieder gescheitert. Wir hatten als Letztes sozusagen eine Art hinkenden Vorschlag – das wird deshalb zu Recht zurückgezogen – einer Einpersonenrichtlinie, die das ersetzen sollte. Wenn jetzt der Vorschlag einer europäischen GmbH wieder auf der Agenda steht, dann ist das gerade für die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die sozusagen die Haupttriebfeder unseres gemeinsamen Marktes sind, um zu einer einheitlichen Rechtsform zu kommen, ein wichtiger und richtiger Schritt. ({0}) Dass wir bei dieser Gelegenheit die Rechtsetzung insgesamt ein wenig anschauen wollen, liegt nahe; denn der verbesserte Zugang zum europäischen Recht setzt voraus, dass die Rechtstexte nicht nur wie bislang chronologisch sortiert werden, sondern auch einheitlich in Kodifikationen zusammengefasst werden. Die Schweiz ist ein Vorbild dafür. Dort gibt es dreisprachige Gesetzestexte, klar und verständlich. Hieran sollten sich die Europäische Union und die Europäische Kommission ein Beispiel nehmen. Der zweite Teil des Programms sind die Finanzen. Der wahrscheinliche Austritt des Vereinigten Königreichs sowie die erhöhten Lasten in den Bereichen Migration und Verteidigung führen natürlich dazu, dass wir hier genauer hinschauen müssen. Es ist richtig, dass die Kommission ankündigt, dass bei Erasmus und Investitionen in Forschung und Innovation nicht gekürzt werden soll; denn die Förderung der Bildung ist einer der zentralen Punkte. Die klugen Köpfe, unsere Bürger, sind diejenigen, die die Zukunft gestalten. Deshalb ist der angesprochene Ansatz richtig. ({1}) Genauso richtig ist, dass wir die Agrarsubventionen etwas kürzen. ({2}) Denn hier ist ein Markt bzw. ein Moloch entstanden, der zu Kritik Anlass gibt. Wenn wir in Europa so fördern, dass Afrika nicht mehr nach Europa exportieren kann, dann gibt das Anlass zu Bedenken. Insofern ist die Kürzung der Agrarsubventionen auch eine entwicklungspolitische Maßnahme. ({3}) Nun zum letzten Punkt, den ich ansprechen will.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kurz.

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn wir den ESM auf eine andere Rechtsgrundlage stellen wollen – Herr Krichbaum hat bereits darauf hingewiesen –, bedarf das einer Vertragsänderung – anders als das der Kollege Sarrazin ausgeführt hat – und vor allen Dingen der Einführung eines Insolvenzrechts für Staaten. Gott sei Dank befasst sich die Europäische Zentralbank bereits damit. Ich hoffe, dass die Kommission das aufgreift. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Hirte. – Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion: Angelika Glöckner. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es war im März 2017 beim 60. Gründungsjubiläum der Europäischen Union, als die 27 Regierungschefs erklärten: Wir wollen eine Union, in der die Bürgerinnen und Bürger neue Möglichkeiten zu kultureller und gesellschaftlicher Entfaltung und wirtschaftlichem Wachstum haben. Die damals gemachten Wohlstandsversprechen müssen sich auch im Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission wiederfinden, damit europäische Politik im Alltag der Menschen in Europa wieder spürbarer wird. Ich begrüße deshalb außerordentlich die im Arbeitsprogramm anvisierte Reform des Binnenmarkts hin zu einem Markt der fairen Bedingungen mit hohen sozialen Standards. Ein wichtiger Schritt hin zur Umsetzung wurde mit der bereits erwähnten Verabschiedung der Europäischen Säule sozialer Rechte gemacht. Es handelt sich um 20 Grundsätze, die als Richtschnur den Mitgliedstaaten helfen sollen, soziale Mindeststandards in Europa aufzubauen und so die sozialen Systeme einander anzunähern. Endlich wächst nach Jahren restriktiver Sparpolitik mit großen sozialen Verwerfungen in Europa die Überzeugung – darüber bin ich sehr froh –, dass wir ein sozialeres Europa werden müssen. Kollege Ulrich, ich möchte gar nicht bestreiten, dass wir in dem einen oder anderen Punkt durchaus identische Ziele verfolgen. Der Unterschied zwischen den Linken und der SPD besteht aber darin, dass wir Verantwortung übernehmen und versuchen, Dinge mit kleinen Schritten nach vorne zu bringen. Was ich bisher von den Linken hier im Parlament gehört habe, ist nichts anderes als Rufe aus der zweiten Reihe. Noch nie haben Sie einem Gesetz zugestimmt, das vielen Menschen national oder darüber hinaus das Leben unmittelbar verbessert hat. ({0}) Es fällt mir, ehrlich gesagt, schwer, Ihnen zu glauben, wenn Sie davon sprechen, dass Sie die Lebensverhältnisse der Menschen verbessern wollen. Dann müssen Sie endlich aktiver werden. ({1}) Die bisherigen Verbesserungen sind das Verdienst unserer sozialdemokratischen Arbeit. Ich sage Ihnen auch, warum. Wir lehnen Geschäftsmodelle ab, mit denen Wettbewerbsvorteile auf Basis von Lohn- und Sozial­dumping erkämpft, Mitgliedstaaten gegeneinander ausgespielt und Menschen ausgenutzt werden. Wir setzen auf soziale Marktwirtschaft mit Unternehmensverantwortung. Wir setzen auf starke Sozialpartnerschaft und gute Mitbestimmungsrechte. Darauf werden wir auch in Zukunft hinarbeiten. Ja, das haben wir einmal mehr im Sondierungspapier, das wir mit der CDU/CSU beschlossen haben, unterstrichen. Ich finde, wir haben da deutlich unseren sozialdemokratischen Markenkern zum Ausdruck gebracht. ({2}) Das Arbeitsprogramm geht auch erste Schritte in Richtung der benötigten Reformen des Staatenbündnisses. Martin Schulz hat beim Bundesparteitag der SPD gar von den Vereinigten Staaten von Europa gesprochen. Vor allem junge Menschen fühlten sich inspiriert und haben positiv reagiert. Ich habe ihnen geantwortet: Ja, wir brauchen ein Europa der klaren Aufgabenteilung, auch der schnellen Entscheidungen. Wir brauchen ein effektiveres Europa. Sehr deutlich zeigt sich das beispielsweise beim Aufbau eines gemeinsamen europäischen Asylsystems, das ebenfalls auf der Agenda der Europäischen Kommission steht. Deutschland muss und kann dieses Thema nicht allein bewältigen, sondern nur eingebunden in eine europäische Partnerschaft. Aber seit Jahren kommen wir bei diesem Thema kaum voran. Daran wird sich erst etwas ändern, wenn wir den Mut haben, Reformen in der Substanz vorzunehmen, um effektiver entscheiden zu können. Das gilt übrigens auch in wirtschaftlicher Hinsicht. In einer Welt mit immer mehr Globalisierung, in der Giganten wie China, USA und andere global agierende Staaten die Kräfteverhältnisse mitbestimmen, müssen wir Europäer selbstbestimmter auftreten und unsere Themen schneller umsetzen. Da bin ich Martin Schulz dafür sehr dankbar, dass er als erfahrener Europapolitiker mit seinen Visionen von einem vereinten Europa ein deutliches Zeichen gesetzt hat. Ich sage das auch mit Blick auf den anstehenden Sonderparteitag. Viele in der Welt wissen, welche Bedeutung das, was am Sonntag geschieht, für Europa hat. Deswegen werden viele – da bin ich mir sicher – am Sonntag nach Bonn blicken. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Glöckner. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Alexander Ulrich. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Glöckner, Sie haben uns als Linke hier dahin gehend angesprochen, wir würden keine Verantwortung übernehmen. ({0}) Sie haben darauf hingewiesen, wie toll die Verantwortung der SPD sei. Warten wir einmal ab, wie groß die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme der SPD am Sonntag ist und was danach kommt. Denn eins ist ja klar: Ihr Parteivorsitzender hat schon mehrmals deutlich gemacht, dass er keine Verantwortung übernehmen will. Das hat er sogar noch gemacht, eine halbe Stunde bevor der Bundespräsident die SPD aufgefordert hat, Verantwortung zu übernehmen. Insoweit ist mein Hinweis zur Verantwortungsübernahme seitens der SPD nicht so weit hergeholt. Wenn Sie aber sagen, wir hätten noch keinem Gesetz zugestimmt, das die Situation der Menschen verbessert, dann muss ich sagen: Sie haben in Ihrer Regierungszeit nicht allzu viel vorgelegt, was die Situation der Menschen verbessert. Ich könnte hier einmal ein paar Aussagen Ihrer Jugendorganisation zitieren, die Ihnen ja jeden Tag sehr breit vorhält, dass Sie für die Menschen offensichtlich zu wenig erreichen. Eins muss man auch sagen: Die SPD ist stolz darauf, den größten Niedriglohnsektor in Europa geschaffen zu haben. Die SPD hat der Austeritätspolitik gegenüber den südeuropäischen Ländern immer zugestimmt. Die SPD hat immer zugestimmt, wenn der europäische Gedanke gerade in Südeuropa beschädigt worden ist. In der tiefen Krise, in der Europa sich befindet, hat die SPD eine deutliche Handschrift hinterlassen. ({1}) Für solche Gesetze und Vorhaben ist Die Linke natürlich nicht zu haben. Vielen Dank.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin Glöckner, Sie haben das Wort zur Erwiderung.

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Ulrich, ich will Ihnen einfach nur anhand von ein oder zwei Beispielen – es gibt unzählige mehr – aufzeigen, warum ich der Auffassung bin, dass Sie mehr für soziale Gerechtigkeit bei uns im Land hätten tun können. Ich nenne da nur den Mindestlohn. Wenn Sie argumentieren, der Mindestlohn habe nicht dazu beigetragen, das Leben von vielen Menschen in diesem Land besserzustellen, dann widersprechen Sie sämtlichen Statistiken und wissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten Jahre. ({0}) Das müssen Sie doch einfach einmal zur Kenntnis nehmen. Ich will hier noch einmal sagen: Wir müssen in der Sache gar nicht so weit auseinander sein. Es nützt jedoch nichts – und das stört mich an Ihrer Argumentation wirklich –, immer nur aus der zweiten Reihe zu rufen, aber dann, wenn es beispielsweise um den Unterhalt Alleinerziehender geht – da können wir vielen Menschen und auch Kindern das Leben unmittelbar erleichtern –, uns nie ein „Go“ zu geben. Da muss man sich schon die Frage stellen, welche Art von Politik Sie machen. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Glöckner. – Nächster Redner in der Debatte: Dr. Harald Weyel für die AfD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Die einzigen Interessen, die in Brüssel nicht vertreten werden, sind die des deutschen Steuerzahlers und Sparers. ({0}) Und auch die ganze Scheinblüte hierzulande wird auf deren Kosten finanziert. Unter dieser Maßgabe wäre Kommissar Oettinger sofort abzuberufen und durch jemanden zu ersetzen, der endlich einmal deutsche Interessen vertritt. Im Dezember 2017 druckste Herr Oettinger nach Großbritanniens prospektivem Austritt etwas von „Budgetumstrukturierungen“. Kurz darauf war klar, dass es bei der letzten – nennen wir es einmal – „Geberkonferenz“ in Brüssel statt um nennenswerte Umstrukturierungen eher um Zusatzzahlungen geht, und zwar für fragwürdigste Neuausgaben. Wir wissen schon jetzt, dass es am Ende um substanzielle Zusatzzahlungen geht, deren Löwenanteil wieder einmal aus Deutschland zu kommen hat. Ich formuliere einmal ein EU-Forschungsanliegen, nämlich die Frage, ob nach dem Versailler Vertrag vielleicht weit weniger Geld aus Deutschland herausgeholt worden ist als nach den tollen Römischen Verträgen von 1957. Was bekommen wir eigentlich als Gegenleistung? ({1}) Erstens: eine EU-Landwirtschaft, die reines Gift für kleine und mittelständische Unternehmen ist. Zweitens: eine EU-Planwirtschaft, die eine utopische Ergebnisgleichheit herbeisubventionieren soll nach dem Motto: Alle in der EU haben am Ende das gleiche Pro-Kopf-Einkommen. Das ist die rechnerische Gerechtigkeit. Drittens: Während für diese beiden Schieflagen schon zwei Drittel des Budgets draufgehen, bleibt das letzte Drittel weiteren Fehlinvestitionen und Aktivismen vorbehalten.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage von – –

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nein. ({0}) Die Harmonisierungszwangspolitiken in Bildung, Wissenschaft, Umwelt, Soziales usw. usf. kopieren doch nur Modetrends, die allesamt aus den USA kommen: Genderei und Klimahysterie, um nur die krassesten Auswüchse zu nennen. ({1}) Damit sich in der heterogenen EU-Bürgerschaft kein Widerstand regt, wird sie vom nationalen Wohlfahrtsstaat ruhiggestellt, der möglichst supranational durchgefüttert und finanziert werden soll. Auf nichts anderes laufen all die Sozialchartas und Fonds-Extrawürste – mittlerweile 60 an der Zahl – schließlich hinaus. Das alles ist eine Pervertierung des vielbeschworenen Europas der Demokratie und Marktwirtschaft. Ein nur scheinliberaler Kapitalismus und altlinke Utopien bilden hierbei eine überaus völkerschädigende Interessengemeinschaft. ({2}) Grenzenlose Märkte den einen und grenzenlose Sozialleistungen den anderen, das ist das eigentliche EU-Arbeitsprogramm seit Jahrzehnten. Warum also das Ganze? Damit Teile der Exportindustrie ihre Luftbuchungen vornehmen können, die am Ende über das TARGET2-System der EZB vom deutschen Steuerzahler oder Sparer gezahlt werden müssen. ({3}) So werden die laufenden betriebswirtschaftlichen Exportgewinne zu volkswirtschaftlichen Großschäden. Die EU bekommt nach dem Friedensnobelpreis demnächst wohl auch noch den Wirtschaftsnobelpreis. ({4}) Beides natürlich voll verdient, da man ja täglich zeigt, wie man einen Finanzschaden auf Weltkriegsniveau anrichtet, ohne dass dafür ein Schuss abgegeben werden muss. Bravo! ({5}) Meine Damen und Herren, der Lerneffekt aus mehr als einem halben Jahrhundert Missbrauch der europäischen Idee lässt nur einen Schluss zu: Dieses Gebilde darf keine zusätzlichen Gelder bekommen. Wenn nach dem Brexit 13 Milliarden Euro fehlen, dann hat das neue Budget um 13 Milliarden Euro kleiner zu sein; alle Jahre wieder. ({6}) Weniger Mitglieder darf doch nicht „mehr Geld für die Restlichen“ heißen. Es ist in Polit-Europa so wie in der Entwicklungshilfe: Je mehr Geld ohne nennenswerte Gegenleistung zur Verfügung steht, umso mehr geht es bergab mit Demokratie und Marktwirtschaft. ({7}) Beide degenerieren zur Polit-Wirtschaft, die dem Menschenrecht auf so wenig staatliche Belästigung und Enteignung wie möglich reinsten Hohn spricht. Mit all dem alten wie neuen Geld werden die wirklichen Probleme – beispielsweise der fehlende Grenzschutz – nicht einmal ansatzweise gelöst. Solange deutsche Politiker im Bundestag und in Brüssel, Straßburg und Luxemburg das Geschäft anderer Leute besorgen, so lange wird sich an diesem Missbrauch nichts ändern. Mit deutschem Geld verwest die Welt. Ändern wir das endlich! ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner in der Debatte: Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion, Augsburg. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Europäische Union steht im Jahr 2018 vor großen Herausforderungen. Es geht um die Frage, ob Europa Frieden, Freiheit und Sicherheit, aber auch Wohlstand gewährleisten kann. Es geht um Grundsätzliches. Es geht um die Frage, ob Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, liberale Demokratie und Freiheit stärker sind als ein vereinfachender, plumper und irritierender unwissender nationaler Populismus. ({0}) Wir, meine Damen und Herren, stehen auf der Seite der Freiheit und des europäischen Einigungsprojekts. ({1}) Dass im Jahr 2018 ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages so geschichtsvergessen und so populistisch agiert wie eben, ist etwas, wofür wir alle uns eigentlich schämen sollten. Sie sollten sich auch schämen, Herr Kollege Weyel. ({2}) Das Arbeitsprogramm der Kommission, meine Damen und Herren, ist ehrgeizig. Wir rufen die Kommission dazu auf, die Vorhaben in den verbleibenden eineinhalb Jahren zügig und mit allem Engagement durchzusetzen. Wir müssen in der Migrationspolitik dafür sorgen, dass auf der einen Seite eine humanitäre Flüchtlingspolitik und Solidarität in Europa gelebt werden, dass aber auf der anderen Seite die Europäische Union sich auch stärker engagiert beim Grenzschutz, bei der Frage eines gemeinsamen europäischen Datenaustauschs und eines funktionierenden Dublin-Systems. Wir müssen im Bereich der Flüchtlingspolitik auch darüber sprechen, dass Europa sich stärker in Afrika engagiert, um die Fluchtursachen zu bekämpfen und dafür zu sorgen, dass die Menschen sich gar nicht erst auf die Flucht begeben. Wir müssen auch über die Euro-Zone sprechen, meine Damen und Herren. Wir dürfen mit Stolz sagen, dass das Wachstum in der Euro-Zone wieder über 2 Prozent beträgt und dass viele Länder aus der Krise herausgekommen sind. Das ist auch ein Teil des Erfolgs der Anstrengungen, die wir in diesem Hohen Hause gemeinsam unternommen haben. ({3}) Aber, ich glaube, wir müssen die Euro-Zone fortentwickeln. Dabei gibt es Grundsätze, die nicht zur Debatte stehen. Die finanzielle Eigenverantwortung der Euro-Länder muss bleiben. Risiko und Haftung gehören zusammen. Wir dürfen aber nicht verkennen, dass es im Euro-Raum auch eine gemeinsame Verantwortung gibt. Diese gemeinsame Verantwortung, auch für eine Fiskalpolitik in Europa, wollen wir angehen. Deswegen ist es gut, dass wir gemeinsam mit Frankreich über diese Vorschläge diskutieren. Die wesentlichen Punkte in Europa, auch die der letzten 30 Jahre, waren gemeinsame Projekte von Deutschland und Frankreich: die Einheitliche Europäische Akte mit dem Binnenmarkt 1992, der Maastricht-Vertrag mit der Europäischen Währungsunion und der ESM, der sehr stark dazu beigetragen hat, die Krise in Europa abzufedern. Wir werden in diesem Bereich gemeinsame Anstrengungen unternehmen, um die Euro-Zone zukunftsfest zu machen. Ja, meine Damen und Herren, wir müssen in Europa auch über Rechtsstaatlichkeit sprechen. Recht, Gewaltenteilung, Menschenrechte gehören zum Kern Europas. Sie sind die Identität unseres Kontinents. Deswegen müssen wir überall dort, wo diese Rechte gefährdet sind, darauf hinweisen, dass Rechtsstaatlichkeit nicht eine Option ist; sie ist gelebte Pflicht in jedem europäischen Staat. Zur Rechtsstaatlichkeit gehört auch, dass die Menschen sicher sind: sicher vor Terroranschlägen, sicher auch in ihrer ganz persönlichen Umgebung. Deswegen brauchen wir in Europa weitere Anstrengungen, um im Bereich der inneren Sicherheit voranzukommen. Es ist gut, dass die Kommission die Sicherheitsunion vollendet. Es ist richtig, dass wir mit der Europäischen Staatsanwaltschaft erste Schritte gehen, um gemeinsam in Europa das Verbrechen zu bekämpfen und das Leben der Menschen noch sicherer zu machen. Insgesamt, meine Damen und Herren, ist Europa nicht allein Brüssel. Es ist falsch, den Gegensatz aufzumachen zwischen denen dort in Brüssel und den Menschen hier bei uns. Europa, meine Damen und Herren, das sind wir alle. Welche Politik in Europa umgesetzt wird, das liegt auch an uns. Es liegt daran, wie sich der Deutsche Bundestag im Rahmen seiner grundgesetzlichen Arbeit im Europaausschuss, im Unterausschuss Europarecht einbringt, aber auch im Rahmen der Zusammenarbeit, die Artikel 23 vorgibt. Daher sollten wir die europarechtlichen Themen in den nächsten Jahren mutig und mit vollem und großem Engagement angehen. Europa, unser Kontinent, ist jede Mühe, jede Anstrengung wert. Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Volker Ullrich. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Christian Petry, SPD. ({0})

Christian Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004605, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Europa steht zu Beginn des Jahres 2018 wesentlich besser da als in den letzten Jahren. Das ist durchaus als Erfolg zu betrachten, und das sollten wir auch nicht kleinreden. Der dazu verwandte Instrumentenkasten ist natürlich hier kritisch zu diskutieren und auch schon diskutiert worden. Ich glaube, dass die Kommission mit ihren unter der Überschrift „Beschäftigung, Wachstum, Fairness und demokratischer Wandel“ formulierten Arbeitsschwerpunkten 2018 einen positiven Weg geht. Dass die Bundesrepublik Deutschland vom Herbst letzten bis Anfang dieses Jahres diesen Weg nicht aktiv mitgegangen ist, war der besonderen Situation nach der Bundestagswahl geschuldet. Das muss jetzt natürlich in Gang kommen; denn ein Deutschland, das sich nicht aktiv einbringt, das die ausgestreckte Hand Frankreichs nicht ergreifen kann, weil es mit sich selbst beschäftigt ist, stellt natürlich nicht den Motor gemeinsam mit Frankreich dar, der notwendig ist, um die Europäische Union weiterzuentwickeln. Hier wünsche ich mir, dass die im Sondierungspaket formulierten Vorstellungen auch Wirklichkeit werden, damit wir einen Schritt vorankommen im Hinblick auf ein soziales und von mehr Beschäftigung und Wachstum geprägtes Europa. ({0}) Die Strukturfondsmittel sollen erhöht, Arbeitsplätze geschaffen und Investitionen gestärkt werden. Die Wirtschafts- und Währungsunion soll reformiert und der Europäische Stabilisierungsmechanismus – das ist eben genannt worden – weiterentwickelt werden. Hier bin ich, Manuel Sarrazin, durchaus auf deiner Seite, dass wir hier zunächst nicht unbedingt über eine institutionelle Weiterentwicklung gehen müssen, sondern die Schritte nach und nach gehen und über Artikel 352 durchaus weit kommen können. Ich halte das für ein sehr positives Beispiel. Ich habe jetzt zwei Reden von der AfD zu Europa gehört. Ich habe schon das letzte Mal gesagt: Sie lieben weder die Menschen in Europa noch die Menschen in Deutschland. Ich glaube, sich selber lieben Sie auch nicht. ({1}) Was da für ein Zeug geredet wurde! Man sollte einmal festhalten: Deutschland partizipiert sehr stark von Europa, was einen positiven Ausfluss auf unsere volkswirtschaftlichen Gesamtbilanz hat. Das sollten wir auch so annehmen. ({2}) Deshalb ist es wichtig, dass wir diesen Weg weiter gehen. Es ist zum Beispiel wichtig, dass wir Europa über den EU-Haushalt ausreichend Mittel für die neuen Aufgaben zur Verfügung stellen. Wir haben dies im Zusammenhang mit der Migrations- und Flüchtlingspolitik gehört. Wir haben eine gemeinsame Verteidigungspolitik auf den Weg zu bringen. Wir wollen Europas Kompetenzen bei der Digitalisierung, bei der Energieunion sowie bei der Bankenunion stärken. Dies wird nicht zum Nulltarif gehen, sondern bedingt eine ausreichende Finanzausstattung. Jetzt geht es nur darum: Wie machen wir das? Legen wir die Mittel für all das wieder schön um, oder folgen wir Ideen von Herrn Oettinger, der regelmäßig nicht „Eigenmittel“, sondern „fresh money“ sagt? Denn auch er weiß, dass diese Aufgaben finanziert werden müssen. Darüber darf und muss man auch in diesem Hause politisch streiten. Wir sind bereit, die ausreichende finanzielle Ausstattung für die neuen Aufgaben, die wir für ein soziales und gerechtes Europa brauchen, mitzutragen. Deutschland kann als Nationalstaat nicht alles allein machen, aber wir werden die Europäische Union in einem ausreichenden Maße auch mit finanziellen Mitteln ausstatten. Der Sozialpakt und die Steuergerechtigkeit sind schon genannt worden. Wir wollen natürlich auch bei der Unternehmensbesteuerung – die Kollegen von der CDU/CSU sind hierauf eingegangen – dem Gerechtigkeitsgedanken folgen. Ich denke, wir brauchen für eine Weiterentwicklung Europas einen größeren Zusammenhalt. Ein zentraler Punkt wird die deutsch-französische Achse sein. Der Präsident der Grande Nation hat die Hand ausgestreckt. Diese Chance sollten wir nutzen; so oft wird es sie nicht geben. Es ist eine historische Aufgabe, der wir uns im Jahr 2018 widmen werden und widmen müssen. Dazu ist die Sozialdemokratie natürlich bereit. ({3}) Lassen Sie mich zum Abschluss –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja, aber ein schneller Abschluss.

Christian Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004605, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– vielleicht noch ein kleines Zitat nennen, dann bin ich auch fertig: Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle. ({0}) So Konrad Adenauer im Jahr 1954. In diesem Sinne: Glück auf! ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Herr Kollege Petry. – Der letzte Redner in unserer Europadebatte: Matern von Marschall für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin, herzlichen Dank! Ich weiß: Die AfD benutzt das Mittel der sogenannten gezielten Provokation, um auf sich aufmerksam zu machen. Man könnte solche Provokationen insoweit auch einfach durch Nichtkommentierung versickern lassen. ({0}) Es wird immer gesagt – Herr Gauland, Sie haben es, glaube ich, erwähnt –, das sei Meinungsfreiheit. Ich will Ihnen jetzt einmal sagen, ({1}) was ich von dem, was Herr Weyel sagt – ich glaube, er hat unterdessen das Plenum verlassen, weil er sich dem nicht stellen will –, halte. Er ist der Meinung, dass der Preis, den Deutschland in der Europäischen Union zahlen muss, über das hinausgeht, was Deutschland infolge des Versailler Vertrags zu zahlen hatte. Wissen Sie, was das ist? Das ist, um in Ihrer Diktion zu bleiben, Kriegstreiberei. ({2}) Ich will noch etwas sagen: Das eine ist die gezielte Provokation, das andere ist die bewusste Falschaussage. Eine bewusste Falschaussage ist es, von einer kontinentalen Diktatur zu sprechen. ({3}) Wir reden heute über das Programm der Europäischen Kommission. Kollege Sarrazin hat auf die demokratischen Prinzipien der Europäischen Union hingewiesen. Diese demokratischen Prinzipien sind fundiert im Trilog. Der sogenannte Trilog ist die Diskussion, die die Kommission mit dem Parlament – den gewählten Vertretern der Mitgliedstaaten – und mit dem Rat – den gewählten Regierungen der Mitgliedstaaten – führt; das ist zutiefst demokratisch. An diesem Prinzip wollen und werden wir festhalten. ({4}) Im Übrigen legen die Mitgliedstaaten offensichtlich – das ist das Programm dieser Kommission gewesen – Wert darauf, dass sich die Kommission und damit Europa auf die wesentlichen und die wichtigen Fragen beschränken. Welche sind das? Das sind diejenigen Fragen, die die einzelnen Mitgliedstaaten nicht alleine lösen können. Für diese Aufgaben ist Europa da, und für diese Aufgaben wollen wir Europa auch in Zukunft stärken. Vor diesem Hintergrund hat die Juncker-Kommission, deren Arbeit zu Ende geht, wesentlich weniger Legislativvorschläge gemacht. Wir haben jetzt noch einen überschaubaren Anteil von legislativen Akten, die in den kommenden Monaten zum Abschluss zu bringen sind. Deutschland ist hier gefordert. Ich schaue meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD an und hoffe, dass die Mehrheit Ihrer Delegierten am kommenden Sonntag für eine stabile Regierung in Deutschland eintritt, die dem, was in unserem Sondierungspapier festgelegt ist, zum Durchbruch verhelfen kann. Zum Durchbruch verhelfen heißt, dass wir diesen sehr wichtigen ersten Teil des Sondierungspapiers, in dem es um Europa geht, ernst nehmen. Selbstverständlich – Herr Kollege Schraps, Sie haben eingangs darauf hingewiesen – sind auch Aspekte einer sozialen Union wichtig. Aber natürlich ist der Umfang dessen, was in Europa im Arbeits- und Sozialbereich als Gemeinschaftsaufgabe geleistet werden kann, begrenzt. Zumindest sollten in den Ländern Mindestvoraussetzungen gelten. Im Übrigen bin ich sehr fest der Meinung, dass Länder Wettbewerbsfähigkeit und damit auch Aufschwung in ihren Volkswirtschaften gerade dadurch erreichen, dass sie sich in ihrer Leistungsfähigkeit und auch in ihren Kostenstrukturen unterscheiden. Wir sollten dem nicht durch eine Nivellierung entgegenwirken, die am Ende ja ein Protektionismus der Staaten mit den höchsten Kosten gegenüber denjenigen wäre, die sich erfolgreich im Kontext eines binneneuropäischen Wettbewerbs zeigen können. Das sollten wir nicht machen. Wir sollten allen Staaten die Chance geben, sich erfolgreich zu bewähren. Das ist ganz wichtig. Kollege Sarrazin, wir haben vorhin über Herrn ­Centeno gesprochen. Natürlich war das ein hartes Reformprogramm, das Portugal zu schultern hatte. Aber es ist erfolgreich daraus hervorgegangen, ({5}) weil es wettbewerblich stark ist und weil es natürlich günstigere Lohnstückkosten hat als andere Länder in der EU. Ich will zum Abschluss sagen: Natürlich sind jetzt Frankreich und Deutschland – Herr Petry, Sie haben es gesagt – gefragt. Das werden wir kommenden Montag durch eine gemeinsame Entschließung unserer beiden Parlamente, einen Impuls dieser beiden wichtigen Länder, auch voranbringen. Das finde ich sehr gut und sehr wichtig. Ich finde auch – das können wir vielleicht in Erinnerung an den Staatsakt für Philipp Jenninger, der heute Morgen hier stattgefunden hat, sagen –, dass wir durchaus einen neuen Impuls für dieses Europa brauchen. Ich glaube, die allermeisten von uns sind mit viel Begeisterung dabei, dieses Europa nach vorne zu bringen. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Matern von Marschall. – Damit schließe ich diese Aussprache.

Carina Konrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004789, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Gedanken zu dieser Debatte vorab. 2017 ist die Weltbevölkerung um 83 Millionen Menschen gewachsen. Das sind in etwa so viele Menschen, wie aktuell in Deutschland leben. Wenn in den kanadischen Great Plains zum richtigen Zeitpunkt einen Tag lang Niederschlag fällt, steigt dort der Ertrag von Raps, und zwar um die Menge, die wir in Deutschland insgesamt produzieren. Sie merken: Die Welt entwickelt sich rasant, doch die Debatten hier in Deutschland richten sich rückwärts. Das macht leider nicht zuletzt Ihr Sondierungspapier, liebe Kollegen der CDU/CSU und der SPD, deutlich. ({0}) Da soll im Fall von Glyphosat die Anwendung eines Mittels beendet werden, das sämtliche Kriterien des EU-Rechts erfüllt. Als Agraringenieurin und Landwirtin kann ich Ihnen eines versichern: Dieser nationale Alleingang ist aus fachlicher Sicht absolut nicht nachvollziehbar. Statt uns mit fragwürdigen Verboten zu beschäftigen, sollten wir den Betrieben, die wir noch haben, Chancen eröffnen. Und da ist die Digitalisierung zentral. ({1}) Darin liegen die Chancen, Wirtschaftlichkeit, Umweltschutz, Biodiversität, Gewässerschutz und Transparenz zu erreichen. Pflanzenschutzspritzen beispielsweise erkennen heute mit Sensoren Unkräuter und behandeln nur diese zielgenau. Dadurch werden Mitteleinsparungen von bis zu 90 Prozent möglich. ({2}) Doch in Ihrem Sondierungspapier ist von Digitalisierung recht wenig zu lesen, und von der Digitalisierung in der Landwirtschaft ist leider überhaupt keine Rede. Dabei verändert sie alles. Über die Hälfte der deutschen Landwirte haben bereits in digitale Technik investiert. Für eine wirkungsvolle Datennutzung und lückenlose Dokumentation bis zum Verbraucher brauchen wir einheitliche Datenschnittstellen. Natürlich muss der Landwirt Eigentümer seiner Daten bleiben und selbst über sie entscheiden können. Zum Glück gibt es da draußen eine neue Generation Landwirte – ich zähle mich ausdrücklich dazu –, die nicht abgewartet hat, bis die schwarz-rote Bundesregierung endlich etwas tut. ({3}) Das ist übrigens nicht eine Frage des Alters, sondern der Einstellung. Diese neue Generation Landwirte ergreift die Chancen. Dennoch können sich viele, gerade in kleineren Betrieben, diese Investitionen nicht leisten. Deshalb frage ich Sie, sehr geehrte Damen und Herren: Wieso fördern wir nicht solche Zukunftsinvestitionen ganz gezielt, von denen nicht nur die Landwirte profitieren, sondern auch die Verbraucher? ({4}) Sie unterhalten sich über Themen wie das Tierwohllabel oder die Ernährungsampel. Alles gut gemeint, aber am Ende wahrscheinlich wieder schlecht gemacht. Statt die Verbraucher zu bevormunden und die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirte zu riskieren, gibt es auch im Bereich der Tierhaltung unzählige Möglichkeiten, das Wohlergehen der Tiere zu verbessern. Doch eines möchte ich an dieser Stelle auch noch sagen: Die Bauernregeln, die Frau Hendricks vor gut einem Jahr veröffentlicht hat – leider ist sie persönlich nicht mehr anwesend –, hat kein Landwirt in Deutschland vergessen. Statt einen ganzen Berufsstand zu diffamieren, sollten wir Politiker die Arbeit wertschätzen und die Probleme lösen. ({5}) Seit Jahren wird hier im Deutschen Bundestag über Digitalisierung gesprochen. Wenn ich mit meinem GPS-Traktor im Mittelgebirge unterwegs bin, reißt im Tal das Funksignal ab. Ab 2018 sollen die Landwirte ihre Agraranträge digital stellen – theoretisch. Leider kann man auf vielen Höfen die Antragsunterlagen noch nicht einmal herunterladen. ({6}) Das wird 2018 nicht gerecht. ({7}) Was der Bauer nicht kennt, muss er wenigstens googeln können. ({8}) Liebe Grüne, ich habe im Wahlkampf viele kennenlernen dürfen, die real denken und mit uns in die gleiche Richtung gedacht haben. Doch leider sind die Wege dorthin ganz unterschiedlich. Aber ich habe erkannt: Wenn Sie die Gräben zwischen den Verbrauchern und den Landwirten zuschütten wollen, legen Sie vorher ein Glasfaserkabel rein. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Carina Konrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004789, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Ende.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja, bitte.

Carina Konrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004789, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Unser Antrag fordert genau das. Wir brauchen einheitliche Schnittstellen, Datensicherheit, schnelles Internet bis zum letzten Hof und ein flächendeckendes, leistungsstarkes Mobilfunknetz. Deshalb freue ich mich sehr, mit Ihnen im Ausschuss darüber diskutieren zu dürfen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Konrad. – Nächster Redner: Hans-Georg von der Marwitz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Georg Marwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004107, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, liebe Frau Präsidentin. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was du heute erdenkst und nicht verwerten kannst, mag morgen den Erdball aus den Angeln heben. Dieser Satz von Max Eyth passt gut zu der derzeitigen Entwicklung auf allen privaten und wirtschaftlichen Ebenen und besonders zur Digitalisierung in der Landwirtschaft. Max Eyth – Maschinenbauer, Landwirt und Künstler – gehörte zu den Revolutionären seiner Zeit, der die Mechanisierung und Rationalisierung der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert vorantrieb. Mit dem Einsatz von Dampfmaschinen wurde Bodenbearbeitung im großen Stil möglich. Einsparungen von Zugtieren und Arbeitskräften waren die Folge. Die Mechanisierung und die Industrialisierung eroberten die Landwirtschaft. Mit der Gründung der DLG hat Max Eyth diese Entwicklung maßgeblich beeinflusst. Die DLG gehört heute noch zu den führenden Kräften in der Landwirtschaft. Mit seinen Überlegungen war er seiner Zeit weit voraus. Es brauchte noch Jahrzehnte, bis die Landtechnik in allen Urproduktionsverfahren Einzug hielt. Ich gehöre noch zu der Generation, die im ersten Lehrjahr das Handmelken nach der Allgäuer Melkmethode sowie das Mähen mit der Sense erlernt hat. ({0}) Heute hat die landwirtschaftliche Urproduktion nur noch wenige Handarbeiten zu bieten. Im Milchviehstall übernimmt der Roboter das Melken, und die Fütterung von Schweinen und Geflügel wird schon seit geraumer Zeit computergesteuert. GPS-gesteuerte Traktoren und Mähdrescher gehören längst zum Alltag im Ackerbau. Meine Damen und Herren, wir stehen mitten in einem Transformationsprozess, der weitere Veränderungen mit sich bringen wird. Das klassische Bild eines Bauernhofes in den Verbraucherköpfen ist längst schon ein Anachronismus. Idealisten und Museumsdörfer werden diese vielbeschriebene und gleichzeitig glorifizierte Bauernhofidylle am Leben erhalten. Wer, wie ich, von klein auf das bäuerliche Leben vor Augen hat, der weiß es besser. Was an 365 Tagen im Kuh- oder Schweinestall romantisch oder gar idyllisch gewesen sein soll, hat sich mir jedenfalls nie erschlossen. So sehe ich in der fortschreitenden Digitalisierung in erster Linie eine Arbeitserleichterung für die Landwirte. Natürlich, wo Licht ist, ist auch Schatten. Der Beruf des Landwirts wird beliebiger. Wo einst der Fuß des Bauern den Boden düngte und sein Blick das Vieh mästete, übernehmen diese Aufgaben heute Sensoren und Roboter. Nicht selten verliert sich dabei der Bezug zwischen Bauern und Bauernhof. Das klassische und in der Generationskette erworbene Herrschaftswissen über seine Felder und Fluren wird, wenn es erst einmal digitalisiert ist, jedem, der auf die Daten Zugriff hat, zur Verfügung stehen. Ob Düngerstreuer oder Pflanzenschutzspritze, ob Bodenbearbeitung oder Erntetechnik – jeder Einsatz wird erfasst und optimiert; alle Daten stehen den Landwirten via Handy oder Tablet zur Verfügung. Das ist einerseits eine gewaltige Arbeitserleichterung; andererseits verändert diese Entwicklung die Landwirtschaft drastisch. Wie rasant der Strukturwandel voranschreitet, können Sie in weiten Teilen Ostdeutschlands, aber auch schon in Niedersachsen und Holstein beobachten. Landwirtschaftsbetriebe mit über 1 000 Hektar sind längst keine Seltenheit mehr. Anhand der Entwicklung in meinem Wahlkreis östlich von Berlin lässt sich die Zukunft weiterer Regionen Deutschlands erahnen. Insofern plädiere ich für die Einrichtung eines Ministeriums für den ländlichen Raum, ({1}) bei dem die Landwirtschaft Teil des Ressorts wird. Ein erweitertes Ministerium für den ländlichen Raum könnte zielgerichtet einen ganzheitlichen Ansatz gegen den Strukturwandel und für die Belange der 30 Millionen Menschen in unseren Dörfern und Gemeinden verfolgen. Bei gerade einmal 600 000 Beschäftigten in der Urproduktion stimmt das Verhältnis längst nicht mehr. Die Diversifizierung dieses Ministeriums würde die Landwirtschaft angesichts viel drängenderer Themen aus dem ständigen Sperrfeuer der Kritik befreien. Herausforderungen wie die Daseinsvorsorge, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und eben auch der Ausbau der digitalen Infrastruktur im ländlichen Raum betreffen nicht nur die Landwirtschaft. Zurück zum Thema. Der vorliegende Antrag bietet eine gute Übersicht über die Chancen der Digitalisierung; meine Vorrednerin hat darüber gesprochen. Ein Großteil der Überlegungen, die hier vorgetragen werden, hat das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft aber bereits im Zukunftsprogramm Digitalpolitik Landwirtschaft formuliert und in sechs Handlungsfeldern zusammengefasst. ({2}) Vom Aufbau eines Kompetenzzentrums über die Bereitstellung von Geo- und Wetterdaten bis hin zum Ausbau der digitalen Infrastruktur sind hier alle wichtigen Punkte genannt, die auch die Antragstellerin aufgezählt hat. Im Sinne der Landwirte möchte ich besonders betonen, dass jegliche Neuerung im digitalen Bereich technologieoffen und netzneutral gefördert werden muss. Nur so bleiben unsere Bauern unabhängig, und nur so können auch kleine und mittlere Agrarbetriebe am technologischen Fortschritt teilhaben. Ein zweiter wichtiger Punkt ist hier auf jeden Fall noch am Rande anzumerken. Er betrifft den Datenschutz. Schließlich muss bei allen Neuerungen der Landwirt selbst entscheiden dürfen, welche Betriebsdaten er freigibt bzw. welche er verwenden möchte. ({3}) Meine Damen und Herren, die Landwirtschaft steht vor gewaltigen Umwälzungen. Da darf die Politik nicht außen vor bleiben. Die Handlungsfelder bei der Digitalisierung der Landwirtschaft hat die Bundesregierung klar umrissen. Nun müssen wir das Bundesministerium bei der Umsetzung konstruktiv begleiten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Hans-Georg von der Marwitz. Danke, dass Sie auch von der Allgäuer Melkmethode gesprochen haben. Jetzt muss ich mich doch ein bisschen intensiver damit auseinandersetzen. Aus dem Unterallgäu kommend, habe ich schon wieder etwas dazugelernt. Herzlichen Dank. Nächster Redner in der Debatte: Rainer Spiering für die SPD-Fraktion. ({0})

Rainer Spiering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004410, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Rängen! Es ist gut, wichtig und vor allen Dingen überfällig, dass wir heute über Digitalisierung in der Landwirtschaft sprechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wir hätten deutlich weiter sein können. Sie können sich daran erinnern, dass ich vor gut drei Jahren das erste Mal über Digitalisierung in der Landwirtschaft gesprochen habe. Leider waren Sie nicht so recht willig, mitzugehen. ({0}) Ich verweise in diesem Zusammenhang auf das Papier, das wir 2016 zum Thema „Smart Farming“ erarbeitet haben. Kollegin Konrad, lesen Sie es sich ruhig durch. Sie werden alles finden, was Sie beschrieben haben. Wer lesen kann, ist häufig im Vorteil. ({1}) Wir müssen eingestehen, dass wir den Bundesminister zwei Jahre belagert haben, damit Bewegung in die Digitalisierung in der Landwirtschaft kommt. Der Bundesminister sah sich leider nicht in der Lage, sich zu bewegen und zu rühren. Deswegen sind wir heute keinen Schritt weiter als vor zwei Jahren. Das bedauere ich sehr. ({2}) Digitalisierung bedeutet Chancen und Risiken sowie Daten in einem unvorstellbaren Maße. Ich weise alle darauf hin, die sich mit Landwirtschaft auskennen: Die Parameter, die wir zu berücksichtigen haben – Wind, Wetter, Wasser, Luft, Bodenverhältnisse, Bodenphysik, Mensch, Maschinen und die Kommunikation dazwischen –, sind für die Digitalisierung in der Landwirtschaft eine deutlich größere Herausforderung als die Industrie 4.0. Smart Farming ist die Herausforderung in der Digitalisierung schlechthin. Wir werden sie bewältigen müssen. ({3}) Unser Ansatz, der sehr gut nachvollziehbar ist: Wir wollen Datenscheiben zum Schutz von landwirtschaftlichen Mittelständlern und mittelständischen Landmaschinenherstellern und vor allen Dingen der Bevölkerung im ländlichen Raum. Wir möchten nicht, meine Damen und Herren von der FDP, dass unsere guten Landmaschinenhersteller wie Amazone, Grimme, Krone, Claas, oder wie sie alle heißen ({4}) – Fendt gehört doch zum amerikanischen Konzern –, zum Anhängsel von internationalen IT-Konzernen werden. Mit Ihrem vorliegenden Antrag würden Sie dem Tür und Tor öffnen. Das ist die große Gefahr. Ich werde gleich die Damen und Herren beim Namen nennen. Die IT sorgt dafür, das Gleichgewicht zwischen ländlicher Produktion und guten Lebensbedingungen im ländlichen Raum herzustellen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf einen großen deutschen Politiker hinweisen. Willy Brandt hat Anfang der 60er-Jahre formuliert: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden.“ Dieser Satz ist ein Synonym dafür, dass wir zwar gut gearbeitet, aber die Umwelt vernachlässigt haben. ({5}) Willy Brandt hat die Ansage gemacht: Die Menschen müssen sich in dem Umfeld, in dem sie leben, wohlfühlen. Wir haben seit dieser Zeit viel in Bewegung gesetzt, sehr viel sogar. Wir waren aufgrund hervorragender Innovationen und hervorragender Ingenieurtechnik und aufgrund von ausreichend Kapital in der Lage, den Standort Deutschland zu modernisieren. Wir haben in den letzten 10, 20, 30 Jahren sehr viel erreicht. Wir sind effizienter geworden. Wir sind wesentlich besser im Umgang mit Energie geworden. Wir sind schlicht und ergreifend besser geworden. Aber hier gilt: Das ist gut, aber nicht gut genug. Genau an dieser Stelle befinden wir uns jetzt in der Landwirtschaft. Die deutsche Landwirtschaft hat den Sprung in den internationalen Wettbewerb gemacht. Wir sind von einem Eigenversorger zu einem Exporteur geworden. Das hat Folgen, die wir auch kennen. Jetzt kommt die Analogie zum Ruhrgebiet, dass die Menschen sich dort, wo sie leben, wohlfühlen wollen. Das tiefe Gefühl, das wir den Menschen mitgeben müssen, ist: Ihr müsst euch wohlfühlen können. Deswegen werden wir in der deutschen Landwirtschaft, die ich für gut halte, dafür sorgen, dass die Unversehrtheit von Boden, Luft und Wasser – diese Begriffe sind uns wichtig – durch den deutschen Staat gewährleistet werden. ({6}) Ich werde Sie mit ein paar Zahlen konfrontieren – Sie kennen sie –: Wir haben 27 Millionen Schweine im Bestand. Es werden 54 Millionen Schlachtungen durchgeführt. Es gibt 12,4 Millionen Rinder, 1,8 Millionen Schafe und über 40 Millionen Legehennen. Wir erzeugen die sagenumwobene Summe von 210 Millionen Tonnen Gülle. Das CO 2 -Äquivalent, das deutschlandweit durch die deutsche Landwirtschaft entsteht, beträgt 7,4 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen. Damit ist die Landwirtschaft der zweitgrößte Einzelemittent. Und 95 Prozent des Ammoniakausstoßes stammen von der deutschen Landwirtschaft. Das gilt es zu berücksichtigen. Gibt es Antworten? Ja. Boden, Luft und Wasser sind nicht vermehrbar, aber veränderbar. – Und das haben wir getan. Gegen diese Veränderungen müssen wir antreten. Wir haben einen ersten Schritt unternommen und auf Druck der SPD die Stoffstrombilanz entwickelt. Die Stoffstrombilanz ist aber nur anwendbar – da hat die Kollegin von der FDP recht –, wenn die Digitalisierung kommt. Nur dann kann sie zum Erfolg führen. Die Frage ist: Wem überlassen wir die Stoffstrombilanz? Wem überlassen wir die Datenhoheit? Will man die Kontrolle und Prozesssteuerung hinsichtlich Ernährungskreisläufe, Tierwohl, Pflanzenwachstum und biologische Lebenszyklen in der Landwirtschaft dem multinationalen Agrarbusiness überlassen, dann folgt man der FDP. Der Slogan „Digital first. Bedenken second“ macht deutlich sichtbar, wie Sie ticken. Das erfüllt mich schon mit Schrecken. ({7}) Im Übrigen ist das ein tolles Denglisch. Das finde ich auch verwunderlich. Will man, dass Dow Chemical, Pioneer, Syngenta, DuPont, Monsanto und John Deere in der deutschen Landwirtschaft die Rolle von Google, Facebook und Twitter als Kontrolleure der Daten, als Meinungsmacher, als Meinungsvervielfältiger übernehmen? Will man das? ({8}) Mit der Öffnung, die Sie vornehmen wollen, erreichen Sie genau das. Wir wollen das nicht. ({9}) Wir wollen das In und Out wissen. Wir wollen die Minimierung von fremden Stoffeinträgen, die negative Begleiterscheinungen haben. Ich nenne die Stichworte: Herbizide, Pestizide, Düngemittel, Antibiotika. Und wir wollen den Weg des Wirtschaftsdüngers Gülle nachvollziehen. ({10}) Welche Voraussetzungen sind dafür zu schaffen? In diesem Bereich waren wir auch in den letzten vier Jahren deutlich zu schwach. Grundvoraussetzung ist die Physik. Das heißt, wir müssen Datenautobahnen schaffen, und zwar keine zweispurigen, sondern sechs- bis achtspurige. Wir haben völlig versagt bei der Digitalisierung des ländlichen Raums, bei Glasfasernetzen und allem, was dazugehört. Das ist etwas, was wir nicht hinbekommen haben. ({11}) Lassen Sie mich darauf hinweisen, dass wir uns einen Konzern, der quasi ein Staatskonzern ist, genauer anschauen müssen: Mit welchem Recht vernachlässigt die Telekom den ländlichen Raum bei der Versorgung mit mobilen Daten? ({12}) Ich denke, wir werden deutlich machen müssen, dass die Telekom einen klaren Auftrag hat, den ländlichen Raum mit Blick auf den Datenfluss so zu versorgen, dass man arbeiten kann. ({13}) Wir brauchen eine Cloud, staatlich gefördert und finanziert, in der Kenntnisse und Kompetenzen gebündelt werden. Wir brauchen Istzeit-Wetterdaten, wir brauchen die Bodenphysik, wir brauchen metagenaue Daten der Katasterämter, wir brauchen die Bodenbiologie, wir brauchen Satellitendaten – Tandem-L werden wir demnächst in Umlauf schicken –, wir brauchen die Definition von Schnittstellen, damit wir Stoffströme erfassen und leiten können. Datensicherheit hat absolute Priorität. Wir müssen den Ring schließen zwischen artgerechtem Leben, Biodiversität, Produktqualität, Produkteffektivität und Eigenständigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe. Abschließend – –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja, bitte.

Rainer Spiering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004410, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der ländliche Raum mit seinen Seen, Bergen, Wiesen, Wäldern und Äckern ist ein Schatz. Lassen Sie uns diesen Schatz hüten, für uns, vor allem für unsere Kinder. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Spiering. – Zu seiner ersten Rede rufe ich auf: Uwe Schulz für die AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004888, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte Zuhörer! Im Zusammenhang mit dem vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion möchte ich vorab ein großes Lob aussprechen, und zwar dem Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages für die vielen zusammengetragenen Informationen. Bislang sind die Freien Demokraten ja nicht dafür bekannt, sich aus der urbanen Ecke heraus auf unsere Bauern zuzubewegen. ({0}) Aber natürlich kann auch die FDP dazulernen. Vielleicht kann Carina Konrad ja dabei helfen; aber eine Schwalbe macht ja bekanntlich noch keinen Sommer. ({1}) Wenn man annimmt, die FDP interessiere sich für die Sorgen und Nöte der deutschen Bauernschaft, ist man, wie ich glaube, auf dem Holzweg. Ihr Antrag zielt nicht auf den durchschnittlichen Familienbetrieb ab, sondern es geht wieder einmal um Lobbyarbeit im FDP-Format. ({2}) Nach der Hotelsteuermisere lockt nun die bevorstehende Grüne Woche. Das könnte erklären, warum Sie Ihren Antrag erst in allerletzter Sekunde losgeschossen haben. ({3}) Diesmal sind Sie Pate für die Agrarlobby und die Digitalunternehmen. Beide wollen am Strukturwandel in der Landwirtschaft verdienen. Das ist in der freien Marktwirtschaft, zu der wir in der AfD uns bekennen, ein legitimes Anliegen. ({4}) Doch weshalb soll der Staat hier nachhelfen, während die allermeisten der Agrarbetriebe viel grundlegendere Probleme haben? Selbst Ihnen dürfte der dramatische Verfall der Erzeugerpreise aufgefallen sein – Preise, die schon lange nicht mehr vom Bauern kalkuliert, sondern durch die Macht der großen Lebensmittelketten diktiert werden. ({5}) An keiner Stelle Ihres sechsseitigen Papiers gehen Sie auf die reale Lebenssituation der kleinen und mittelständischen Betriebe ein. Ich sehe ja ein: Damit Herr Lindner einen Kuhstall betritt, muss es dort schon extravagant zugehen. Ich versichere Ihnen aber, dass es in einem Kuhstall 4.0 genauso riecht wie in einem Kuhstall 1.0. ({6}) Werte Kollegen, unser Bauernstand ist interessiert, intelligent und innovationsfähig. Selbst kleinere Betriebe setzen schon heute digitale Technik ein. Aber das hat seine Grenzen, und das geht auch nicht zu jedem Preis. Hätten Sie einmal mit einem normalen Bauern aus meiner mittelhessischen Heimat gesprochen und nicht nur mit Landwirtschaftskammerpräsidenten diniert, dann wüssten Sie, dass kein normaler Landwirt seinen Betrieb aus dem digitalen Steuerstand heraus bewirtschaften kann. ({7}) Aber Ihnen geht es gar nicht um die über Generationen gewachsenen landwirtschaftlichen Betriebe, sondern um die Großkonzerne. ({8}) Ganz deutlich wird dieser goldene Pferdefuß in Ihrem Antrag auf Seite 5. Da schreiben Sie: Die Bundesregierung sollte darauf hinwirken, dass der durch die Digitalisierung beschleunigte Strukturwandel in der Landwirtschaft unterstützt und abgefedert wird. Ich kann nur hoffen, die deutschen Landwirte hören hier gut zu. ({9}) Im Unterschied zu Ihnen sieht eine heimat- und volksverbundene Kraft wie die AfD in einem solchen Strukturwandel keine Verheißung. Wir sind nicht der Meinung, dass von 280 000 Unternehmen in der Landwirtschaft am Ende nur noch wenige 100 Kolchosen übrig bleiben sollten. ({10}) Trotz dieser und zahlreicher anderer Vorbehalte stimmen wir dem Antrag aber grundsätzlich zu. ({11}) Wir müssen diesen allerdings vom Kopf auf die Füße stellen; denn die Digitalisierung in der Landwirtschaft ist kein Selbstzweck. Vielmehr ist es die Aufgabe der Politik, auch Kleinbauern auf dem Weg in die Digitalisierung zu unterstützen. Dafür brauchen sie aber keine Belehrungen aus dem Salon, sondern aktive Unterstützung und Förderung sowie natürlich Breitbandversorgung auch im letzten Winkel Deutschlands. ({12}) Auch ich möchte warnen: Die Digitalisierung, meine Damen und Herren, darf nicht zur weiteren Kontrolle und Regulierung unserer Landwirte führen. Wir wissen: Datenkraken sind gefräßig, besonders die in Brüssel. Es kann einem Landwirt auch nicht einfach zugemutet werden, all seine Betriebsdaten öffentlich preiszugeben. Das würde man auch von keiner anderen Berufsgruppe so verlangen. Ich komme zum Schluss. Die Alternative für Deutschland möchte, dass unsere Bauern auch in Zukunft die Hauptversorger unseres Volkes sind. Die AfD ist offen für eine Digitalisierung, bei der keiner auf der Strecke bleibt. ({13}) Daher werden wir uns, liebe Kollegen von der FDP, an dieser Diskussion sehr aktiv beteiligen. Angesichts Ihrer Vorliebe für die Großindustrie lassen wir Sie, liebe FDP, mit diesem Thema natürlich nicht alleine; denn dann würden wir den Bock zum Gärtner machen. Vielen Dank. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Nächste Rednerin: Dr. Kirsten ­Tackmann für die Linke. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Eine digitalisierte Welt ist für manchen total faszinierend. Wie absurd nah sich Chancen und Risiken sein können, beschreibt Marc-Uwe Kling in „Qualityland“ sehr, sehr gut. Es ist sehr amüsant zu lesen. Aber gleichzeitig bleibt einem das Lachen manchmal im Halse stecken. Auch im Hinblick auf die Landwirtschaft ist jedenfalls meine Euphorie sehr gedämpft. Spannend ist auch die Frage: Wem nützt das eigentlich? Natürlich sind viele Wohltaten in einer vernetzten Präzisionslandwirtschaft vorstellbar und auch schon real. Lenken uns diese Hightechträume aber nicht allzu oft von den wirklichen Problemen ab? Zwei Beispiele: Erstens. Natürlich können wir mit einer präziseren Ausbringung von Düngemitteln Boden und Gewässer besser schützen und knappe Rohstoffe einsparen. Ist das aber eigentlich das Hauptproblem? Wenn weiter regional zu viel Gülle anfällt und entsorgt werden muss, statt damit zu düngen, ändert die Digitalisierung daran doch überhaupt nichts. ({0}) Zweitens. Natürlich ist es gut, wenn sich Imkereien und die Landwirtschaft auf Online-Plattformen vernetzen, um Informationen darüber auszutauschen, wo, wann und wie welche bienenschädlichen Pflanzenschutzmittel ausgebracht werden. An den Schäden für die wildlebenden Insekten ändert das aber überhaupt nichts. ({1}) Deshalb: Die Digitalisierung hat Potenzial, sie ist aber höchstens eine Teillösung. Das gilt übrigens auch für die Möglichkeit, monotone oder körperlich schwere Arbeit zu übernehmen. Ja, warum soll man nicht tagelanges Auf- und Abfahren zum Säen oder Ernten durch autonome Fahrtechnik ersetzen, erst recht wenn eine Drohne vorher mit Wärmebildkameras guckt, ob zum Beispiel Kitze in der Fläche liegen? Natürlich ist Melken eine körperlich schwere Arbeit, für die eine technische Entlastung jederzeit willkommen ist. Auch als Tierärztin frage ich aber: Was ist eigentlich, wenn nur noch Algorithmen entscheiden? Haben Roboter die komplexe Wahrnehmung, die wir für die Betreuung von Tierbeständen brauchen? Wer übernimmt eigentlich die soziale Verantwortung für die, die durch teure Technik ersetzt werden, für die Beschäftigten? Wie soll die teure Technik bezahlt werden? Viele Landwirtschaftsbetriebe sind schon jetzt von Banken abhängig. Wie soll die teure Technik bezahlt werden, wenn die Erzeugerpreise die Produktionskosten schon jetzt nicht mehr decken? Das verstärkt doch nur den Druck durch landwirtschaftsfremde Investoren. In wie vielen Landwirtschaftsbetrieben wird schon jetzt vor allen Dingen dafür geschuftet, dass die Profite übermächtiger Saatgut-, Schlachthof-, Molkerei- und Handelskonzerne sowie Bodenspekulanten gesichert werden? Sollen sie jetzt auch noch für große Landtechnikkonzerne schuften? Braucht man nicht nur wenig Fantasie – man kann null und eins zusammenzählen –, um zu wissen, dass eine App, die zum Beispiel von einem Landtechnikkonzern und einem Pflanzenschutzmittelkonzern angeboten wird, auch entsprechende Produkte empfiehlt? Der XXL-Datenstaubsauger ist hier ja schon genannt worden. Muss der uns nicht alarmieren? Hier muss man unverzüglich klare gesetzliche Regeln schaffen, die einerseits tatsächlich Transparenz und andererseits die Datenhoheit der Betriebe wirklich sichern. Das muss natürlich auch kontrollierbar und durchsetzbar verpflichtend sein. ({2}) Auch die Aus- und Weiterbildung dürfen wir hier nicht vergessen. Sie muss einen völlig neuen Stellenwert bekommen. Ich finde, angesichts der vielen Baustellen ist Euphorie fehl am Platz. Wo Schatten ist, ist aber auch Licht. Davon war hier schon einmal die Rede. Ein kooperatives Arbeiten in der Landwirtschaft ist durch die Digitalisierung zum Beispiel viel leichter. Die Digitalisierung wäre zum Beispiel für die Vernetzung untereinander – Landwirtschaftsbetriebe mit regionalen Vermarktern oder Verarbeitern – nutzbar. Hier wäre die Digitalisierung tatsächlich sozial und ökologisch absolut sinnvoll und eine kluge Strategie gegen Konzernübermacht. Hier muss tatsächlich geholfen und unterstützt werden. ({3}) Fazit: Chancen nutzen, Risiken begrenzen! Aus Sicht der Linken geht es hier eben nicht nur um eine Technologiedebatte, sondern wir brauchen eine Verständigung in der Gesellschaft darüber, welche Zwecke und Ziele wir mit der Digitalisierung verfolgen wollen. Wir müssen auch sicherstellen, dass davon am Ende nicht nur die Konzerne, sondern wir alle etwas haben. Das gilt auch für die Landwirtschaft. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte: ­Harald Ebner für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja, die Landwirtschaft der Zukunft muss die Welternährung sichern und gleichzeitig unsere natürlichen Lebensgrundlagen erhalten, also auch nachhaltig sein. Davon sind wir noch viel zu weit entfernt. Das zeigt die Debatte um die leider noch immer zunehmende industrialisierte Intensivtierhaltung, um Antibiotikamengen, um Nitratbelastungen und um das Bienen- und Insektensterben. Hier geht es doch nicht um Informationsdefizite oder Spannungen zwischen der Landwirtschaft und den Verbrauchern, wie es im FDP-Antrag heißt, sondern das sind echte Probleme, und für die brauchen wir auch echte Lösungen. ({0}) Den Ruf danach gibt es mittlerweile auch aus den Reihen der Landwirtschaft, wie ja der Vorstoß der DLG vor einem Jahr gezeigt hat. Lösungen sind vielfältig. Ja, die Digitalisierung wird, kann und muss ein Teil dieser Lösungen sein. Der Antrag der FDP spricht einige wichtige Handlungsfelder an. Aber er ist mir zu einseitig. Wir haben wie bei den Saatgutherstellern mittlerweile auch bei den Landmaschinenherstellern extreme Marktkonzentrationen. Drei Konzerne kontrollieren mehr als die Hälfte des Weltmarktes. Da müssen wir doch wirklich Antworten auf die Fragen geben, wie wir hier fairen Wettbewerb, Marktoffenheit für neue Anbieter und auch Datenschutz sicherstellen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Wenn wir uns, um einen zweiten Aspekt anzubringen, vergegenwärtigen, dass unsere Lebensmittelerzeugung und ‑versorgung mittlerweile zunehmend von digitalen Systemen abhängt, dann müssen wir hier doch auch einmal ernsthaft über IT-Sicherheit im Bereich der Lebensmittelerzeugung und ‑versorgung reden und nachdenken. ({1}) Bei aller wichtigen Begeisterung über neue Möglichkeiten muss auch klar sein: Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument, um Ziele zu erreichen. Diese Ziele müssen wir formulieren. Es ist gut, wenn wir Pestizidmengen mit digitalen Techniken deutlich reduzieren können. Aber das ist eben nur ein Herumdoktern am falschen System. Wenn wir den Gesundheitszustand der Tiere per Sensor überwachen, dann ist das gut, aber eben noch lange keine artgerechte Tierhaltung. ({2}) Das wirkliche Potenzial neuer oder digitaler Technologien werden wir doch nur ausschöpfen können, wenn wir über die heutige Art der Landwirtschaft hinausdenken. Wir sollten uns eben nicht damit begnügen, Pestizide gezielter auszubringen. Es muss das Ziel sein, weitgehend ohne Pestizide zu wirtschaften. ({3}) Auch da gibt es schon vielversprechende Projekte, etwa entsprechende Roboter, Drohnen usw. Aber auch das Ausschöpfen dieser Möglichkeiten brauchen wir, um beispielsweise neue Mischkulturen anzubauen. So etwas geht heute mit entsprechender Technologie. Da können wir auch das Wort „Fruchtfolge“ neu definieren und in der Landschaft anwenden. Die Potenziale der Digitalisierung sind nicht darauf beschränkt, immer nur größere Landmaschinen einzusetzen. Es geht nicht immer um einen größeren Kapitaleinsatz, sondern auch um Low-Cost-Systeme. Deshalb verdienen gerade die Ansätze, die auch kleineren Betrieben helfen, unsere Aufmerksamkeit. Plattformen wurden schon genannt. Ich bin auch der Meinung, sogar die Züchtung kann wieder dort effizient betrieben werden, wo sie jahrtausendelang praktiziert wurde, nämlich bei den Bäuerinnen und Bauern, wenn wir beispielsweise Systeme des Crowd-Breeding über digitale Techniken nutzen. Kleinbauern in Afrika können sich Märkte erschließen, sie könnten beispielsweise auch Netzwerke für den Saatgutaustausch etablierter regionaler Sorten nutzen. Das sind Projekte, die wir als Staat unterstützen müssen, weil das die Konzerne nicht von alleine machen. Ich wünsche mir, dass sich da auch im BMEL einiges bewegt, dass wir nicht immer nur mehr vom Gleichen bekommen, sondern auch einmal etwas vom Neuen. Sonst ist vielleicht das Einzige, was wir am Ende dieser Legislatur zur Digitalisierung sagen können, dass die Agrarsubventionen am Ende in Schmidt-Coins ausbezahlt werden.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das führen wir jetzt aber nicht mehr aus.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das führen wir jetzt nicht mehr aus. Danke schön. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Harald Ebner. – Der letzte Redner in der Debatte: Maik Beermann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Spiering, ({0}) wenn man hier vorne eine Rede hält und natürlich gewisse Punkte richtigerweise auf den Tisch legt, man aber selbst vier Jahre in einer Fraktion war, die Regierungsverantwortung hatte, wenn man selbst vier Jahre im Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft mitgearbeitet hat, gleichzeitig aber so tut, als ob allein der Landwirtschaftsminister zu wenig getan hätte, dann passt das nicht so ganz zusammen. Dann muss man sich auch einmal an die eigene Nase fassen ({1}) und sich fragen, ob man immer richtig dabei war. Vor allen Dingen möchte ich erwähnen, dass natürlich auch das Landwirtschaftsministerium erkannt hat, wie wichtig das Thema der Digitalisierung ist, und deswegen sogar einen Digitalisierungsbeauftragten im Landwirtschaftsministerium installiert hat, der aus meiner Sicht eine gute Arbeit macht, die Dinge gut durchblickt und voranbringen möchte. ({2}) Meine Damen und Herren, Smart Farming, Precision Farming, Landwirtschaft 4.0 sind alles Schlagworte, die Aktuelles und Zukunft aufzeigen und die in der letzten Wahlperiode in unserer Bundestagsfraktion, aber auch in der Arbeitsgruppe Digitale Agenda für die eine oder andere Debatte gesorgt haben. Deswegen habe ich Ihnen heute auch etwas mitgebracht: „Smart Farming – Potenziale digitaler Agrarwirtschaft zwischen Feld und Stall“ heißt das Papier, das wir am 24. Januar 2017, also fast genau vor einem Jahr, in unserer Bundestagsfraktion einstimmig verabschiedet haben. Auf zehn Seiten kann man dort nachlesen, was unsere Ideen sind. Ich hatte die Freude, dieses Papier federführend mitschreiben zu dürfen. Wenn man sich die Inhalte des Antrages der FDP ansieht, dann kann man meinen, dass unser Papier danebengelegen hat. Es gibt dort deutliche Überschneidungen. Ich freue mich auf jeden Fall auf die kommenden Diskussionen. Meine Damen und Herren, mithilfe der Digitalisierung kann es gelingen, die Ressourceneffizienz und Biodiversität zu verbessern und gleichzeitig auch die Flächenproduktivität weiter nachhaltig zu steigern. Wir haben von der Kollegin Konrad gehört, dass wir eine wachsende Weltbevölkerung haben, die auch satt werden möchte. Die Zahl der Betriebe, die beispielsweise schon die GPS-Technik anwenden, steigt immer weiter an. Wenn wir den Blick auf die schon angesprochene ausgeprägte Sensorentechnik richten, dann zeigt sich: Sie wird eingesetzt zur Überwachung von Bewegungsabläufen im Stall oder beispielsweise bei Pflanzenschutzspritzen, die sich in der Nähe von Biotopen und Gewässern automatisch abstellen oder unter anderem auch den Versorgungszustand von Pflanzen erkennen und die Düngemenge automatisch einstellen bzw. den Nährstoffgehalt der Gülle erfassen und so die nutzenoptimierte Nährstoffzufuhr für verschiedene Pflanzenarten bei unterschiedlichen Bodenverhältnissen schon ermöglichen. Auch durch neue Hilfsmittel wie beispielsweise Drohnen kann die Bodenqualität, der Schädlingsbefall oder auch der Pflanzenschutz viel genauer überwacht werden. Somit können Ressourcen und auch die Umwelt geschützt werden. Gerade auch in Weinbaugebieten, in den Steilhängen, ist es eine enorme Erleichterung und Verbesserung für die Weinbäuerinnen und Weinbauern. Auch der Landwirt kann, wenn er vor der Wiesenmahd steht, seine Wiesen mähen möchte, einmal mit einer Drohne darüber fliegen, sehen, ob möglicherweise Bodenbrüter dort ihre Gelege haben oder ob sich eine Ricke mit ihrem Kitz dort zum Schutz niedergelassen hat, und dazu beitragen, gewisse Lebewesen zu schützen. Die Verwendung der Informationstechnologie – das haben wir bereits gehört – bietet gerade auch im Bereich der Nahrungsmittelsysteme eine große Chance. Wenn ich ein Kilo Fleisch kaufe, weiß ich aktuell nicht unbedingt, wo es herkommt, welcher Landwirt das Schwein gemästet hat, wie es gefüttert und wo es geschlachtet wurde. Die Information darüber kann auch dazu beitragen, gegenseitiges Verständnis und Transparenz zwischen Verbrauchern und Landwirtschaft zu fördern. Meine Damen und Herren, die Möglichkeiten der digitalen Landwirtschaft sind vielfältig, aber wir stehen natürlich auch vor Herausforderungen, die mit der Digitalisierung verbunden sind. Ein Landwirt aus meinem Wahlkreis im Schaumburger Land und im Landkreis Nienburg hat mir erst vor einiger Zeit erklärt, dass er seinen Betrieb, seine Schlepper und auch seine Erntemaschinen mit digitaler GPS-Technik ausgestattet hat und damit versucht, auf seinen Flächen effizient zu arbeiten. Aber er hat eben auch berichtet, dass unter anderem dann, wenn er auf seinem Acker das Feld bestellt und gleichzeitig die Schülerinnen und Schüler aus der Schule kommen, zu ihren Smartphones greifen und ins Netz gehen, durchaus auch einmal das GPS-Signal gestört ist. Er muss dann wieder zum Lenkrad greifen. Das sind Situationen, die natürlich nicht unbedingt förderlich sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die grundlegende Voraussetzung für einen notwendigen Ausbau der digitalen Landwirtschaft ist die flächendeckende Versorgung mit schnellem Internet durch einen konsequenten Glasfaserausbau. Das müssen wir umsetzen; ohne ihn wird es im ländlichen Raum in der Fläche nicht funktionieren. ({3}) Ich möchte noch etwas hinzufügen: Die Umsetzung eines flächendeckenden 5G-Netzes, ganz besonders im ländlichen Raum, ist unumgänglich; daran führt kein Weg vorbei. Das Motto muss hier ganz klar lauten: „Fibre to the Bauernhof“, auch im Außenbereich. Anders wird es nicht gehen. Aber wir müssen natürlich auch sagen, wie wir das finanzieren wollen. Mir liegt es fern, Sondierungspapiere zu kommentieren; aber ich finde es natürlich gut, dass man sich darauf verständigt hat, die Erlöse aus der Versteigerung der 5G-Frequenzen eins zu eins für den Glasfaserausbau einzusetzen. Wenn aber diese 10 Milliarden Euro, die dabei möglicherweise zusammenkommen, nicht ausreichen, dann müssen wir als Parlamentarier auch bereit sein, zu sagen: Wir gehen einen Schritt weiter. Dann muss man vielleicht auch sagen: Wir haben Beteiligungen an Staatsunternehmen wie beispielsweise der Telekom und der Post, die man auch in Teilen verkaufen muss, um vielleicht weitere 10 Milliarden Euro zu erlösen, die man dann weiter einsetzen kann. ({4}) Ich weiß, dass das in meiner Fraktion kritisch gesehen wird. Aber das sind Wege, die man gehen muss. Die Datensicherheit ist ein ganz großes Thema, Herr Kollege Ebner, und zwar sowohl im Bereich der Lebensmittelproduktion als auch im Bereich der Landwirtschaft an sich. Ich glaube, sie ist eine der größten Herausforderungen. Denn es ist nicht nur der Landwirt, der auf seinem Feld ackert, sondern es sind auch Lohnunternehmen, die auf den Feldern ackern, und die Daten, die auf diesen Feldern produziert werden, müssen in die Hände der Landwirte. Daran führt kein Weg vorbei. ({5}) Gleichzeitig müssen wir auch dafür sorgen, dass die Daten, die beispielsweise in der agrarspezifischen Forschung erhoben werden, so aufbereitet werden, dass die Landwirte sie auch nutzen können. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Das Ziel der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es, diesem wirtschaftlichen Aufschwung keine Steine in den Weg zu legen, sondern ihn zu begleiten und zu unterstützen sowie die Vorteile der Digitalisierung auch in diesem Sektor zu nutzen. Ich freue mich auf die Beratungen in den Gremien, aber an erster Stelle auf die Überweisung an die Ausschüsse, damit wir das Thema angehen können. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Beermann. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/436 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fällt Ihnen eigentlich auf, ({0}) dass trotz Boom die Armut nicht abnimmt, aber der Reichtum für wenige exorbitant steigt? Ist das für Sie ein Problem, oder akzeptieren Sie das einfach so? Ich glaube, wir müssen darüber nachdenken, dass die Verteilung in unserem Land tatsächlich – das sagen nicht nur wir, sondern auch alle Institute – ein Ausmaß angenommen hat, das nicht mehr in Ordnung ist, weil es neben den ganzen moralischen Aspekten, die damit verbunden sind, die wirtschaftliche Entwicklung massiv behindert. Woran liegt das? Es liegt zum einen daran, dass die Verteilung des Volkseinkommens, also das Verhältnis zwischen Löhnen und Profiten, nicht mehr stimmt. Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen lag im Jahr 2000 bei 71,9 Prozent. Inzwischen beträgt er 68,5 Prozent. Das ist der Anteil der Löhne am gesamten erwirtschafteten Kuchen. ({1}) Hätten die Arbeitnehmer noch die Lohnquote des Jahres 2000, dann hätten sie allein im Jahr 2017  82 Milliarden Euro mehr. Hätten wir die Verteilung des Volkseinkommens aus dem Jahr 2000 kumuliert seit dem Jahr 2000, dann hätten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, also die normalen Menschen hierzulande, 1,4 Billionen Euro mehr in der Tasche. Die entscheidende Frage lautet: Wohin geht das Geld, und wo liegen die Ursachen? Die Ursachen für diese ungleiche Primärverteilung bzw. diese falsche Entwicklung sind Niedriglohn, befristete Beschäftigung und Leiharbeit. Ulrike Herrmann hat es in der „taz“ folgendermaßen formuliert – ich zitiere –: Die Agenda 2010 hat nicht nur die Ungleichheit vor 2005 verschärft – dieses politische Lohndumping sorgt jetzt dafür, dass sogar in der Hochkonjunktur die Ungleichheit nicht abnimmt, sondern tendenziell weiter steigt. Recht hat sie, und das müssen wir verändern. ({2}) Eine Möglichkeit, der Ungleichheit entgegenzuwirken, bietet die Steuerpolitik, die für eine andere Sekundärverteilung sorgen kann. In diesem Zusammenhang bietet sich sicherlich die Anhebung des Spitzensteuersatzes an. Meine Damen und Herren von der CSU, was halten Sie eigentlich von folgendem Satz: „Arbeitsloses Einkommen arbeitsfähiger Personen wird nach Maßgabe der Gesetze mit Sondersteuern belegt.“ – Wo sind denn die Kollegen von der CSU? ({3}) – Max, findest du das in Ordnung? Du müsstest das eigentlich in Ordnung finden; denn dieser Satz steht in der bayerischen Verfassung. ({4}) Wenn wir alle in Bayern lebten, müssten wir durch Steuern für einen gewissen Ausgleich sorgen. Nach Angaben der Bundesbank befindet sich der Großteil des Immobilienvermögens in den Händen der oberen 20 Prozent. In den sieben größten Städten in Deutschland sind die Preise von Wohnimmobilien von 2007 bis 2016 um etwa 65 Prozent gestiegen. Die Mietpreise folgen. Hier findet eine krasse Umverteilung statt, aber von unten nach oben. Wir müssen bei der Vermögensverteilung etwas tun. Der DGB stellt in seinem Verteilungsbericht fest – ich zitiere –: „In keinem größeren Industriestaat der OECD werden Vermögen so stark geschont wie in Deutschland.“ Tatsächlich kommen in Deutschland nur 2,6 Prozent des Gesamtsteueraufkommens aus vermögensbezogenen Steuern. In den USA sind es 10,8 Prozent und in Frankreich 8,5 Prozent. Wir hätten hier also durchaus Spielraum. Die Verteilung ist nicht nur ungerecht, sondern behindert auch das Wirtschaftswachstum. ({5}) Deshalb schlagen wir Ihnen die längst überfällige Einführung der Vermögensteuer vor. Diese soll tatsächlich nur die Menschen betreffen, die ein Vermögen von mehr als 1 Million Euro haben. Besteuert werden soll nur das oberhalb des Freibetrags von 1 Million Euro liegende Nettovermögen, und zwar mit einem Steuersatz von 5 Prozent. Wenn Sie das machen würden, hätten wir tatsächlich die Möglichkeit, wieder eine einigermaßen vernünftige Vermögensverteilung hinzubekommen. Sie könnten dann wieder ruhig schlafen – auch der Max –, weil wir uns entsprechend der bayerischen Verfassung verhielten. Ich danke fürs Zuhören. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist der Abgeordnete Christian Freiherr von Stetten für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christian Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Ernst, Sie haben viel erzählt, und das Wort „Vermögensteuer“ ist ganz zum Schluss noch vorgekommen. Aber den Antrag Ihrer Fraktion haben Sie nicht vorgestellt. ({0}) Ich weiß nicht, ob ich das übernehmen soll. Da aber dieser Antrag in jeder Legislaturperiode gestellt wird, kann ich zusammenfassend feststellen: Zu Beginn der neuen Legislaturperiode kommt wieder ein Enteignungsantrag der Linksfraktion auf den Tisch. ({1}) Wie würden Sie es sonst nennen, wenn Ihnen der Staat jährlich 5 Prozent des Privatvermögens entzieht, unabhängig von dem Einkommen, das Sie im Jahr verdienen? ({2}) Für die Betroffenen ist das schon eine Art Enteignung. Wir geben zu: Sie haben einen Freibetrag vorgesehen. Aber für die Betroffenen bedeutet das, dass von ihrem Vermögen nach 20 Jahren nicht viel übrig bleibt, wenn der Staat von allem, was über den Freibetrag hinausgeht, jährlich 5 Prozent einzieht. Das ist für die Betroffenen eine schwierige Situation. Mein Kollege Hans Michelbach wird später noch grundsätzlich auf den Antrag und das Thema eingehen. Ich möchte die Zeit daher nutzen, die praktischen Auswirkungen Ihres Antrags darzulegen. Ich nehme als Beispiel einen sehr erfolgreichen Personenunternehmer – das ist Ihr Lieblingsfeindbild – mit einem Betriebsvermögen von 55 Millionen Euro. Zugegeben, das ist ein großes Unternehmen. Aber solche Familienunternehmen tragen die Hauptlast und sind Garant für sichere Arbeitsplätze. Wenn es bei der betreffenden Firma gut läuft, erzielt sie im Jahr 4 Millionen Euro Gewinn. Da es sich um eine Personengesellschaft handelt, muss sie bei einem Steuersatz von 45 Prozent plus Solidaritätszuschlag round about 2 Millionen Euro Steuern zahlen. Es bleiben also 2 Millionen Euro übrig. Jetzt kommen Sie mit der Vermögensteuer. Zieht man in diesem Beispiel den Freibetrag ab, dann muss der Unternehmer noch 5 Prozent von 50 Millionen Euro jährlich versteuern. Das bedeutet 2,5 Millionen Euro Vermögensteuer jedes Jahr. Er hat 4 Millionen Euro verdient. Er zahlt 2 Millionen Euro Einkommensteuer und 2,5 Millionen Euro Vermögensteuer. Das macht unterm Strich eine halbe Million Euro Verlust. Was glauben Sie, wie lange dieser Unternehmer in Deutschland noch tätig ist und wie viele Arbeitsplätze dadurch vernichtet werden? Da können wir wirklich nicht mitmachen. ({3}) Ich nehme als Beispiel gern auch einmal einen kleinen Selbstständigen, der ein Hotel mit 40 Zimmern betreibt. Wenn man den Freibetrag von 1 Million Euro berücksichtigt, dann kann er gerade noch den Frühstücksraum und die Hotelbar retten. Von den 40 Zimmern nähme der Staat ihm jedes Jahr 5 Prozent; das entspricht zwei Zimmern pro Jahr. Nach 20 Jahren wären fast keine Zimmer mehr da. Zwar gäbe es noch die Hotelbar und den Frühstücksraum, aber das hilft diesem Unternehmer auch nicht mehr weiter, weil er keine Gäste mehr hat. Diese Politik lehnen wir grundsätzlich ab. Auch wenn Sie es nicht hören wollen, möchte ich Ihnen ein kleines Beispiel dafür geben, welche totalen sozialen Verwerfungen am Wohnungsmarkt ausgelöst würden, wenn Ihr Antrag angenommen und ein entsprechender Gesetzentwurf verabschiedet würde. Nehmen wir einen Wohnungseigentümer, der ein Haus und mehrere Eigentumswohnungen hat; dann müssen wir uns nicht über einen Freibetrag streiten. Wenn dieser Wohnungseigentümer eine Wohnung hat, die 200 000 Euro wert ist und er mit einem Mieter einen guten Mietvertrag ausgehandelt hat, durch den er 4 Prozent Mietrendite erzielt, dann zahlt der Mieter dem Wohnungseigentümer 8 000 Euro Miete im Jahr. Wenn dieser Wohnungseigentümer durch diese Vermietung einen Gewinn von 8 000 Euro erzielt, dann bleiben ihm nach Abzug der Steuern vielleicht noch 5 000 Euro übrig. Wenn er von den 200 000 Euro, dem Verkehrswert des Wohnungsbestandes, noch 5 Prozent Steuern zahlen soll, dann zahlt diese Person im Jahr insgesamt 10 000 Euro Vermögensteuer. Er hat 5 000 Euro Mieteinnahmen und zahlt 10 000 Euro Vermögensteuer – jedes Jahr. Das bedeutet unterm Strich 5 000 Euro minus. Was glauben Sie, wie lange dieser Mensch noch Freude an seiner Wohnung hat? Er wird vermutlich das Gleiche machen, was er schon bei der Grundsteuer zu machen versucht hat. Die Grundsteuer muss der Eigentümer zahlen, und er versucht, diese Belastungen auf die Mieter abzuwälzen. Wenn er hergeht und versucht, die Last von 10 000 Euro Vermögensteuer auf die Mieter abzuwälzen, dann erhebt er statt 8 000 Euro Miete im Jahr 18 000 Euro Miete. Das heißt, der Mieter zahlt statt monatlich 660 Euro Miete 1 500 Euro. Das entspricht einer Mieterhöhung von über 100 Prozent. Einen solchen Vorschlag und eine solch unsoziale Mietpolitik lehnen wir grundsätzlich ab. Schauen wir einmal nach, wie es in den Bundesländern aussieht, in denen die Linkspartei Regierungsverantwortung trägt. In Thüringen stellen Sie den Ministerpräsidenten. ({4}) Im Landtagswahlkampf hatte dieser gute Mann die Wiedereinführung der Vermögensteuer nicht nur gefordert, sondern auch angekündigt. Er sagte, wenn er Ministerpräsident werde, werde er über den Bundesrat ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren in Gang bringen. Als Rot-Rot-Grün den Koalitionsvertrag geschmiedet hat, war noch von einer Vermögensteuerinitiative im Bundesrat die Rede. Schauen wir uns an, wie es vier Jahre später aussieht: Nichts ist passiert. Es gibt keinen Gesetzentwurf des Bundesrats zur Wiedereinführung der Vermögensteuer. Man kann sagen: Anscheinend ist man in der Regierungsverantwortung klüger geworden. – Dieser Erkenntnisgewinn fehlt der Linksfraktion noch. Jetzt haben wir vier Jahre Zeit, hier vielleicht nachzuhelfen. Wir lehnen auf jeden Fall eine solche unsoziale Politik für die Mieter, für die Familienunternehmen und für die Arbeitsplätze in Deutschland ab. Herzlichen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Cansel ­Kiziltepe für die SPD. ({0})

Cansel Kiziltepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr von Stetten wird als großer Erbe und potenziell Betroffener offenbar sehr nervös; ({0}) aber wir beraten heute ja über einen Antrag der Fraktion Die Linke aus der letzten Legislatur. Es ist in der Tat Wort für Wort der gleiche Antrag. Ich hätte mir, ehrlich gesagt, in der neuen Legislatur ein bisschen mehr Kreativität gewünscht, zumal es neuere Erkenntnisse gibt. Ich dachte, Ihnen in der letzten Debatte ein paar Punkte mit auf den Weg gegeben zu haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die 5-Prozent-Forderung der Linken ist hanebüchen, da sie den Milliardär genauso stellt wie den dreifachen Millionär. Zudem sieht sie für den Fall, dass Hochvermögende ins Ausland verschwinden, keine globale Steuerpflicht vor, nach der der deutsche Milliardär auch dann steuerpflichtig wird, wenn er beispielsweise auf Barbados wohnt. Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht, werte Kolleginnen und Kollegen der Linken. ({1}) Wie es besser geht, zeigt der Deutsche Gewerkschaftsbund, der ganz im Sinne der Besteuerung der Leistungsfähigkeit eine progressive Vermögensteuer vorschlägt: Der dreifache Millionär zahlt 1 Prozent, der Milliardär 2 Prozent. Das nenne ich progressiv, das ist gerecht, und das ist auch ein Novum. Wir Sozialdemokraten werden uns das DGB-Modell sehr genau ansehen. ({2}) Die Vermögensungleichheit ist nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa erschreckend hoch; das ist unstrittig. Dieser Trend beschädigt nicht nur unseren Staat, unsere Gesellschaft und unsere Demokratie, sondern er ist auch ökonomisch schädlich. In kaum einem anderen Land – das wurde hier schon gesagt – ist der Beitrag des Vermögens zum Steueraufkommen geringer als in Deutschland. Ich persönlich habe keinerlei Probleme mit einer sofortigen Wiederbelebung der Vermögensteuer; meine Partei lehnt die Vermögensteuer auch nicht ab. Das Gegenteil ist der Fall: Die Vermögensteuer ist fester Bestandteil unseres Grundsatzprogramms. Es ist offensichtlich, dass wir aufgrund der Vermögensungleichheit eine fundierte Besteuerung von Vermögen in Deutschland brauchen. Ob dies mit einer Vermögensteuer oder mit einer echten Erbschaftsteuer geschehen soll, prüfen wir aktuell in einer Kommission beim SPD-Parteivorstand. ({3}) Für uns ist klar, dass wir bei einer Wiedererhebung der Vermögensteuer nach dem Prinzip „Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit“ vorgehen müssen. Daher werden wir, bevor wir zu einem abschließenden Ergebnis kommen, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Grundsteuer abwarten. Die mündliche Verhandlung hat vor zwei Tagen stattgefunden. Im Rahmen dieser Grundsteuerreform wird es zu einer marktnäheren Bewertung von Grundstücken kommen müssen. Auch das ist entscheidend für die Auferstehung der Vermögensteuer. Klar ist, dass wir in dieser Frage große Gemeinsamkeiten mit den Linken und den Grünen haben. Klar ist aber auch, dass eine Vermögensteuer nur in dieser Konstellation wirksam umgesetzt werden kann. An dieser Stelle ist es mir auch wichtig, zu betonen: Das Grundgesetz hat kein Problem mit der Vermögensteuer. Im Gegenteil. Warum sonst steht die Vermögensteuer im Grundgesetz? Waren die Mütter und Väter des Grundgesetzes Verfassungsfeinde? Wie konnte Deutschland in der Nachkriegszeit mit einer Vermögensteuer und einer Lastenausgleichsabgabe ein Wirtschaftswunder erleben? ({4}) Das sind Fragen, die sich die Gegner der Vermögensteuer – auch Herr von Stetten – einmal stellen sollten. ({5}) Damit es alle richtig verstehen, sage ich es deutlich: Damit es in Deutschland gerechter zugeht, brauchen wir eine höhere Besteuerung von Höchstvermögenden. Und natürlich brauchen wir auch vermögensbezogene Steuern, die ihrem Namen gerecht werden. Die Vermögensteuer ist in dieser Diskussion natürlich nicht alternativlos. Alternativlosigkeit gibt es nur im Neoliberalismus oder in einer marktgerechten Demokratie. Wer die Vermögensteuer nicht will, muss an höhere Steuersätze für große Einkommen denken. ({6}) Möglich wäre zum Beispiel ein höherer Spitzensteuersatz oder eine weitere Reform der Erbschaftsteuer. ({7}) Die letzte Reform der Erbschaftsteuer wird die erforderliche Umverteilung auf jeden Fall nicht bringen. Ich bin mir sicher, dass die sozialstaatlichen Mahnungen aus dem Jahr 2014 von den Verfassungsrichtern vermutlich erneuert werden. Wir werden es sehen. Aber klar ist: Um die Kluft zwischen Arm und Reich wesentlich abzubauen, brauchen wir in diesem Land andere politische Mehrheiten. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als Nächster spricht für die AfD Albrecht Glaser, der seine erste Rede im Deutschen Bundestag hält. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der vorgelegte Antrag ist erstens ein Dokument des real existierenden Populismus: ({0}) Es handele sich um eine Millionärsteuer, welche eine angebliche „steuerliche Privilegierung von Vermögen“ kompensiere. Meine Damen und Herren, das hat eine große Entfernung zu jeder Art von Realitätswahrnehmung, was steuerliche Zusammenhänge angeht. Dies ist ein Appell an die niederen Gefühle gegen die angeblich Reichen, meine Damen und Herren. Das ist Gruppendiskriminierung. ({1}) Wenn man in München, Frankfurt und Hamburg drei Wohnungen besitzt – ein kluger Kollege hat es ja schon gut vorgerechnet – und eine davon bewohnt, ist man bereits Vermögensmillionär und wird somit steuerpflichtig. Man wird es jeden Tag mehr – wegen der Immobilienblase, welche der Herr des Schuldenturms in Frankfurt am Main mit Fleiß erzeugt. ({2}) Wenn die Blase dann platzt, ist der Wohnungseigentümer wieder ärmer, hat aber vorher die Blasensteuer gezahlt. ({3}) Zweitens. Dieser Antrag ist auch ein Dokument des real existierenden Sozialismus, einer Religion, deren Zahl gläubiger Anhänger nach 1989 kleiner geworden ist; aber es gibt sie noch. Ihr Credo lautet: Es ist genug da; man muss es nur richtig verteilen. ({4}) Das kennen wir. Das geht zurück bis 1848. Das ist schon eine ältere Weisheit. Diese Parole war stets Ausdruck eines völligen Unverständnisses des Wirtschaftsprozesses. Deshalb tritt auch in jedem sozialistischen Land quasi gesetzeskonform die Verarmung der Bevölkerung ein; das ist sozusagen Naturgesetz. ({5}) Meine Damen und Herren, nach der Verarmung kommt dann immer die Totalisierung solcher Staaten. Man muss die Meinungsfreiheit einschränken, und dann muss man autoritäre Systeme einführen, damit nicht ein zweites Mal gewählt werden kann. Nur dann kann man Sozialismus aufrechterhalten. Der steuerliche Zugriff auf die Vermögenssubstanz, meine Damen und Herren, insbesondere Betriebsvermögen, als Mittel der Staatsfinanzierung ist Kampf gegen jeden prosperierenden Wirtschaftsprozess. Er stellt eine Enteignung dar und verstößt damit gegen Artikel 14 GG; das wäre näher darzustellen nur jenseits von fünf Minuten. Er dient nicht einmal – das ist der Kick – der Umverteilung. Die Suggestion wird aufrechterhalten, aber er dient nicht der Umverteilung, die diesen Eingriff angeblich rechtfertigt; er erhöht allein die Staatseinnahmen. Das Stichwort „Lastenausgleich“ ist gefallen. Auch ihn haben, glaube ich, nur wenige verstanden. Der Lastenausgleich ging nie in die Staatskasse, sondern das war die Umverteilung von Bürger zu Bürger. Der Staat hatte die Hand nicht dazwischen. Der Lastenausgleich wurde sogar mit Staatsmitteln in einem Sondervermögen angereichert. Das ist das Gegenteil von den Fantasien, die Sie an dieser Stelle verbreiten. ({6}) Deshalb, meine Damen und Herren, ist zu Recht die Lohnsummensteuer als Substanzeingriff bereits in den 70er-Jahren von der SPD-FDP-Koalition abgeschafft worden. Deshalb ist zu Recht 1997 aus den gleichen Gründen die Gewerbekapitalsteuer von der CDU/CSU-FDP-Koalition abgeschafft worden. Deshalb wird die teilweise Zurechnung von Schuldzinsen beim Gewerbeertrag als Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer zu Recht kritisiert und muss für die Zukunft abgeschafft werden. Deshalb ist zu Recht die Vermögensteuer von der CDU/CSU-FDP-Koalition 1997 in der Erhebung ausgesetzt worden und muss folgerichtig endgültig abgeschafft werden. ({7}) Liebe Freunde, aktuell will Präsident Macron die Vermögensteuer in Frankreich zumindest teilweise abschaffen, um heimische Investoren in Frankreich zu halten. Was für ein kluger Mann! Er war vor einem Jahr noch Wirtschaftsminister einer sozialistischen Regierung in Frankreich. Ein seltsamer Vorgang! ({8}) Und im Übrigen gilt, meine Damen und Herren: Dieser Staat hat kein Einnahme-, sondern ein Ausgabenproblem, ({9}) und das wird in jüngster Zeit gerade unlösbar gemacht: Die Immigrationswelle wird staatliche Folgekosten von 1 Billion Euro nach sich ziehen – 1 Billion! –

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Glaser, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– ich komme sofort zum Schluss – und jede weitere Zuwanderung entsprechend mehr. Als mittelbare Staatsverschuldung, wie die Finanzwissenschaft das nennt, sind diese Kosten bereits existent, und sie sind schon berechnet. – Bin ich tatsächlich schon bei fünf Minuten?

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nein, aber es wird gebeten, eine Zwischenfrage stellen zu dürfen.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ach so. Geht die von meiner Zeit ab?

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nein, im Gegenteil.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Dann ist gut. Dann darf sie gestellt werden.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Die Antwort wird nicht auf Ihre Zeit angerechnet.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Man muss sich ja ökonomisch verhalten.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Bitte sehr, Frau Kollegin.

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Glaser, Sie waren Dezernent der Stadt Frankfurt, Stadtkämmerer, –

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das ist wahr.

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– hatten eine Geldanlage von 100 Millionen D‑Mark gemacht, –

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das ist nicht wahr.

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– in einem kritischen Papier –

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das ist auch nicht wahr.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Glaser, erst die Frage, dann die Antwort. Wir sind hier nicht im Dialog.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Okay.

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– und haben für Verluste von zig Millionen Euro gesorgt. Sie reden jetzt hier, als wären Sie der große Wirtschaftsexperte. Wie passt das zusammen? ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Gut, das kann ich Ihnen erklären. Sie sind Opfer einer politischen Propaganda – aber davon gibt es ja viele in diesem Land. Ein Linkenpolitiker aus Frankfurt hat dieses Märchen erzählt, und dies auf dem Niveau einer Lokalzeitung. ({0}) – Ja, ja, es steht auch bei Wikipedia. Das ist dasselbe Niveau wie das der Lokalzeitung; denn Wikipedia gibt die „FNP“ als Quelle an, und der Mann in der „FNP“ ist Anglist und weiß alles zu diesem Thema, und das hat er auch geschrieben. Es hat nie solche Verluste gegeben. Es gibt eine Parallelanlage zu der, die in meiner Kämmerei getätigt worden ist. Sie ist identisch in der Zusatzversorgungskasse – in einem eigenen Entscheidungsprozess – getätigt worden, und die gibt es heute noch. Da die Anlage zu einer Zeit getätigt wurde, als der DAX bei 6 000 stand – der DAX steht heute bei 13 000 –, ist das eine Sensation, nämlich eine Verdopplung des Vermögens der Stadt. Ich will dafür nicht die städtische Verdienstmedaille, aber sie gebührt mir eigentlich. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Glaser, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal aus der Fraktion der Grünen?

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wenn sie ähnlich humorig ist, beantworte ich gern eine weitere Frage.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Bitte sehr.

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich darf mich vorstellen: Ich war als Personaldezernentin nach Ihnen in Frankfurt tätig und habe mit der Abwicklung Ihrer verfehlten Fonds viele Jahre zu tun gehabt. ({0}) Ich darf Ihnen die Frage stellen, ob die Tatsache, dass Sie für Ihr Finanzgebaren mit einem gut dotierten Posten in einem öffentlichen Wohnungsunternehmen versorgt wurden, zu dem passt, was Sie hier über öffentliche Mittel sagen. ({1})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Verehrte Frau Kollegin – frühere Frau Kollegin –, Sie fügen eine Zote einer anderen Zote hinzu. Es wird nicht wahrer, was vorhin nicht wahr war, wenn Sie es noch einmal wiederholen. ({0}) Es sind sogenannte riskante Papiere, zu denen uns zum Teil die Stadtverordnetenversammlung in ihrer Mehrheit von SPD und Grüne gezwungen hat. ({1}) Sie hat beschlossen: Die Kämmerei wird beauftragt, Zinsderivatgeschäfte zu machen. – Der damalige Stadtkämmerer hat gesagt: Nur über meine Leiche! – Darüber sind die gegangen; denn die wollten moderne Finanzierungsinstrumente haben, die sie vorher geschaffen haben, als der Kollege Koenigs von den Grünen das Technische Rathaus verkauft hat, die Wohnungsbaudarlehen verkauft hat, Vorfälligkeitsgeschäfte – so wie bei Lehman Brothers – getätigt hat und ähnliche Abenteuer. Das waren alles Schummelgeschäfte, weil sie rechte Tasche linke Tasche waren. ({2}) Und noch einmal: Aus den Geschäften, die ich getätigt habe, sind nie Verluste entstanden. Sie konnten es rechnerisch nicht; Sie sehen das schon am heutigen Tageskurs. ({3}) Sollte die Stadt Frankfurt irgendwann einmal beschlossen haben – am besten relativ nah an der Weltwirtschafts- und -finanzkrise 2008 –, die Klamotten zu verkaufen – was ich nicht weiß, was aber mutmaßlich der Fall war –, dann konnte man sehen: Wenn man solche Geschäfte macht und anschließend Leute hat, die das nicht können, dann kann daraus Schaden entstehen, aber nur daraus. ({4}) Herr Präsident, ich darf fortfahren, und das ohne Zeitabzug, das ist sensationell.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Ich habe die Uhr angehalten.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren, deshalb ist die Erhebung der Vermögensteuer zu Recht von der CDU/CSU-FDP-Koalition 1997 ausgesetzt worden – das hatte ich, glaube ich, schon gesagt – und muss folgerichtig abgeschafft werden. Und schließlich, meine Damen und Herren, will Präsident Macron die Vermögensteuer in Frankreich zumindest teilweise abschaffen, um heimische Investoren zu halten. Im Übrigen gilt, meine Damen und Herren – das war, glaube ich, der Punkt –, dass wir ein Immigrationsproblem haben. Sie wissen, dass Herr Raffelhüschen gerade berechnet hat, dass die Folgekosten 1 Billion Euro betragen werden. Das lässt sich auch sehr gut herleiten. Das ist keine hohe Zahl, die Angst macht, sondern das ist einfach nur Mathematik, meine Damen und Herren. Drittens. Ja, wir haben ein Vermögensproblem in diesem Land, und das betrifft breite Schichten der Bevölkerung. Die Kanzlerin pflegt in ihrer unnachahmlich präzisen Sprache zu sagen: Deutschland ist ein wohlhabendes Land. – Das ist jedoch unzutreffend. Die Deutschen haben die geringste Wohneigentumsquote EU-weit, und wie wir seit der EZB-Vermögensstudie von 2013 wissen, sind die Deutschen vergleichsweise arm. Das Nettoprivatvermögen der Familien schwankt nach dieser Studie in Europa zwischen 400 000 und 50 000 Euro in medianer Darstellung. ({0}) Dabei sind Luxemburg und Zypern die Spitzenreiter. Italien liegt mit 174 000 Euro weit über dem Schnitt – der liegt bei 109 000 Euro. Und was bemerkenswert ist: Griechenland liegt mit 102 000 Euro nahe am Durchschnitt. In der unteren Hälfte finden sich Portugal und die Slowakei mit 75 000 bzw. 61 000 Euro. Das Schlusslicht ist Deutschland mit 51 000 Euro, meine Damen und Herren. ({1}) Dieses sind präzise Zahlen aus einer groß angelegten empirischen Untersuchung einer relativ seriösen Institution, wenn ich einmal von der Geldpolitik dieser Institution absehe.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Glaser, ich bitte Sie, langsam zum Schluss zu kommen.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, ich werde mich kräftig bemühen. Aber, ich glaube, bei meiner ersten Rede habe ich 30 Sekunden Bonus. Habe ich die schon verbraucht?

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Sie haben jetzt schon 1 Minute und 50 Sekunden Bonus.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Viertens. Es stellt sich die Frage, was die Politik für eine wirksame Vermögensbildung für breite Schichten tun kann. Dazu braucht es höhere Einkommen, meine Damen und Herren, und eine geringere Abgabenbelastung. ({0}) In der OECD sind wir das Land mit der zweithöchsten Abgabenquote. Es fehlt die Luft zum Atmen. Der fette Staat ist nicht der starke Staat und auch nicht der leistungsfähige. Die private Altersvorsorge ist seit Jahren dringendes Gebot. Ich komme zum Schluss: Ziffer fünf. ({1}) Im Grundsatzprogramm der AfD und im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2017 sind diese Positionen dargestellt. Da sich unsere Fraktion am Partei- und Wahlprogramm orientiert und bei uns nach dem Wahltag das gilt, was vorher versprochen worden ist, lehnen wir den vorgelegten Antrag dankend ab. ({2}) Wir lehnen ihn ab, weil wir ihn für Mumpitz halten. Und wir tun das dankend, weil uns die Möglichkeit gegeben worden ist, diesen Mumpitz der Öffentlichkeit darzustellen. Herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Sehr geehrter Herr Glaser, Sie haben Ihre Redezeit um drei Minuten überzogen. ({0}) Ich weise darauf hin, dass das Ihre erste Rede war. Beim nächsten Mal werden Sie so viel Toleranz nicht bekommen. ({1}) Der nächste Redner ist Christian Dürr von der FDP. ({2})

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Für uns war nicht zu jedem Zeitpunkt nachvollziehbar, was damals in Frankfurt passiert ist. Wenn ich einen Strich darunter ziehe, komme ich zu dem Schluss: Ich jedenfalls würde Herrn Glaser mein Geld trotzdem nicht anvertrauen. Aber das sei anheimgestellt. ({0}) Herr Kollege Ernst, die Vermögensteuer ist eine verdammt teure Steuer, und zwar vor allen Dingen für den Staat. Etwa ein Drittel der Einnahmen gehen am Ende des Tages für Verwaltungskosten drauf. Das heißt, es ist eine Steuer, die nicht besonders leicht, sondern besonders kompliziert und besonders teuer für den Staat zu erheben ist. Das ist übrigens ein Grund dafür, warum in den letzten 20 Jahren in zahlreichen Staaten der Europäischen Union die Vermögensteuer abgeschafft worden ist – anders, als Sie hier versucht haben, das zu suggerieren. ({1}) Ich will auf den Aspekt Ihres Antrages zu sprechen kommen, den ich persönlich für den spannendsten halte, nämlich auf den Vorschlag, eine Vermögensteuer in Höhe von 5 Prozent zu erheben. Das möchte ich kurz durchdeklinieren. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim hat dankenswerterweise ausgerechnet, was eine Vermögensteuer in Höhe von 5 Prozent bedeuten würde und wie hoch die Ertragsteuer, beispielsweise die Körperschaftsteuer, sein müsste, damit man 5 Prozent Vermögensteuer darstellen kann. Bei einem angenommenen Marktzins von 3 Prozent – das wäre relativ hoch in diesen Niedrigzinsphasen; bei niedrigerem Zins müsste der Steuersatz noch höher sein – müsste die Körperschaftsteuer 193,04 Prozent betragen, liebe Kollegen. Man könnte jetzt meinen, dass die Linkspartei einem untergegangenen sozialistischen System nacheifert. Mitnichten; denn 193,04 Prozent sind mehr als das Doppelte des damaligen Spitzensteuersatzes der Körperschaftsteuer in der Deutschen Demokratischen Republik, der bei 95 Prozent lag. Um das an der Stelle noch einmal deutlich zu machen: Das heißt nichts anderes, als dass selbst Walter Ulbricht und Erich Honecker sich nicht getraut haben, so etwas vorzuschlagen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Herr Ernst, wenn man das zugrunde legt – das kann man alles einfach nachrechnen –, stellt man entweder fest, dass Sie mit diesem Vorschlag steuerpolitisch ahnungslos und nicht ernst zu nehmen sind, oder wir haben gerade live und in Farbe erlebt, was aus Ihrer Sicht der demokratische Sozialismus bedeuten würde, meine Damen und Herren. ({3}) Sie haben unterstellt, es würden die Reichen getroffen. Die Frage ist doch: Wen würden Sie in Wahrheit mit einem solchen Steuervorschlag treffen? Es sind doch in Wahrheit nicht die Googles, Apples und IKEAs, die Sie an der Stelle vielleicht im Kopf haben. Sie treffen mit einem solchen Vorschlag zur Vermögensteuer die kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland. Es sind die Familienbetriebe, die Sie im Kern kaputtmachen werden, diejenigen, die bei uns in den letzten Jahren die Arbeitsplätze geschaffen haben, die einen Großteil der Ausbildungsplätze bei uns bereithalten, kurz: die Deutschland zu dem Wohlstand verholfen haben, den wir heute haben. Die machen Sie mit diesem Vorschlag kaputt, und das werden wir verhindern, Herr Kollege Ernst. ({4}) Mein Eindruck ist: Sie wollen in Wahrheit eine andere Wirtschaftsordnung, nicht die freiheitliche Wirtschaftsordnung, die wir heute in Deutschland haben. – Ich glaube, der Kollege Ernst hat eine Zwischenfrage an mich, wenn ich das richtig wahrnehme.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Gestatten Sie die?

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Ernst, Sie haben das Wort.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, dass Sie die Frage zulassen.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir haben in unserem Antrag weniger etwas über Sozialismus, sondern vielmehr etwas über eine ganz konkrete Forderung geschrieben, nämlich zu 5 Prozent Vermögensteuer. Ich will Sie nur darauf hinweisen, dass wir vielleicht dann doch zum Thema kommen könnten. Ich halte es für bemerkenswert, dass Sie beim Thema Vermögensungleichheit immer sofort auf die DDR kommen. Das war eigentlich nie mein Ansatz. Aber wenn Sie diesen Ansatz haben, einverstanden. Ich wollte eigentlich auf etwas anderes hinaus, nämlich auf Ihre Zahlen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Einkommen der Menschen, die in der Bundesrepublik Deutschland über ein Vermögen von 30 Millionen Euro oder mehr verfügen – nur die –, in den Jahren 2013 bis 2014 um annähernd 200 Milliarden Euro gewachsen sind? Das war ein Zuwachs von 10 Prozent. Wenn man auf diese 200 Milliarden Euro 5 Prozent Vermögensteuer erheben würde, hätten wir immer noch einen Zuwachs von 5 Prozent. Das macht im Übrigen in Summe 100 Milliarden Euro aus. Das bedeutet: Deren Vermögen beträgt ungefähr 2 Billionen Euro. Sie können mir noch folgen als Mathematiker?

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. Ich bin aber kein Mathematiker.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gut. Nur, dass wir noch beieinander sind, nicht, dass wir aneinander vorbeireden.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, das passiert nicht.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass bei einem Steuersatz auf Vermögen von 5 Prozent diese Gruppe – 30 Millionen Euro Vermögen und mehr – also immer noch einen Zuwachs von 5 Prozent – 100 Milliarden Euro – hätte, einen Zuwachs, der bei weitem höher ist als der Zuwachs bei jedem normalen Bürger, der sein Geld auf die Bank trägt? Und das ist das Problem: Vermögen, Herr Dürr, wachsen in der Regel bei weitem umso schneller, je höher sie sind, weil sie anders angelegt werden. Genau deshalb haben wir auch den Vorschlag einer Vermögensteuer gemacht, die Menschen trifft, die über 1 Million Euro haben. Die meisten Menschen trifft sie nicht. ({0})

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das zentrale Problem, das der Kollege von Stetten ja vorhin anhand dieses Hotels beschrieben hat, ist, Herr Ernst: Sie tun so – und haben es ja gerade auch bewusst nicht erwähnt –, als ob es sich um Vermögen handelt, das auf einem Sparbuch bei der Sparkasse um die Ecke liegt. ({0}) Das ist mitnichten der Fall. Es handelt sich um Anlagevermögen, das in den deutschen Mittelstand investiert worden ist, meine Damen und Herren. ({1}) Und den wollen Sie mit Ihrem Antrag kaputtmachen. Das ist Ihr zentrales Ziel, und das wird die Mitte dieses Hauses verhindern, um das ganz klar zu sagen. Ich komme jetzt zum Schluss, Herr Präsident, und kann gerne das aufgreifen, was Herr Ernst gerade beschrieben hat. Das, was Sie damit erreichen wollen, also diese Vision, die dahintersteckt, hat in der Geschichte der Menschheit, die ja schon relativ lang ist, noch kein einziges Mal funktioniert. Das jüngste Beispiel in der Geschichte, das Sie von der Linkspartei auf Parteitagen immer wieder feiern, ist Venezuela. Ich bitte einmal, nachzuschauen, wie die aktuellen Nachrichten aus Venezuela sind. Dort herrscht faktisch eine Diktatur. Dort ist genau das versucht worden, nämlich vermeintlich Vermögende zu enteignen. Das hat in diesem Land am Ende zu leeren Regalen geführt und dazu, dass Menschen derzeit hungern. Das ist Ihr Paradebeispiel, und das werden wir ausdrücklich verhindern. Herzlichen Dank, liebe Kollegen. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als nächste Rednerin hat Lisa Paus von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass die Liberalen jetzt auch wieder hier im Parlament sind. ({0}) Deswegen möchte ich noch einmal ganz klar sagen: Leistung muss sich wieder lohnen. Aus diesem Grunde ist meine Partei der Meinung, dass wir dringend die Vermögensteuer wieder einführen müssen, liebe Damen und Herren. ({1}) Es ist nicht nur der Soziologe Sighard Neckel, der Deutschland auf dem besten Weg in einen oligarchischen Kapitalismus sieht. Auch mein Kollege Gerhard Schick hat dazu ein Buch geschrieben, in dem von „Machtwirtschaft“ – nicht von Marktwirtschaft – die Rede ist. ({2}) Das ist die Situation, in die wir mehr und mehr hineinrutschen in Deutschland. Wir haben einen Kapitalismus, in dem leider Erbschaft, Heirat und große Vermögen und eben nicht Talent, nicht Bildung, nicht persönlicher Einsatz zum Erfolg führen. Kurz: Es ist ein Land, in dem sich Leistung nicht mehr wirklich lohnt, weil in Deutschland die soziale Herkunft über Lebenschancen entscheidet. ({3}) Das liegt nicht daran, dass die Steuern so hoch sind und die sogenannten Leistungsträger am Ende des Monats zu wenig auf ihrem Konto haben, sondern es liegt ganz zentral daran, dass die Vermögensbesteuerung in Deutschland viel zu niedrig ist, um der Spaltung in Arm und Reich entgegenzuwirken. ({4}) Es liegt daran, dass diejenigen, die es sich leisten könnten, zu wenig dazu beitragen, unser Gemeinwesen zu finanzieren, damit zum Beispiel Alleinerziehende dabei unterstützt werden, ihre Familien vor Armut und Ausgrenzung zu bewahren, damit unsere Kinder nicht länger in maroden Schulen unterrichtet werden, damit jeder und jede unabhängig vom Geldbeutel der Eltern studieren kann. ({5}) Wir können nicht länger zulassen, dass Teile unserer Gesellschaft abgehängt werden, während das Vermögen von anderen ins Unermessliche steigt und eigentlich nur noch die Mittelschicht in Deutschland Steuern zahlt. ({6}) Nicht erst seit der Veröffentlichung des Fünften Armuts- und Reichtumsberichts wissen wir, dass sich mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens in Deutschland in den Händen der reichsten 10 Prozent befindet. Was wir aber leider nicht wissen, ist, wie genau dieses Vermögen sich innerhalb des obersten Dezils verteilt. Das ist aus unserer Sicht ein weiterer wichtiger Grund für die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Es kann nicht sein, dass wir von Hartz-IV-Empfängern oder Aufstockern verlangen, ihre gesamten Vermögensverhältnisse, sogar ihre Lebensverhältnisse bis in das kleinste Detail offenzulegen, während der Staat bei den Vermögensverhältnissen der Superreichen wirklich vollkommen und komplett im Dunkeln tappt, liebe Damen und Herren. ({7}) Deswegen wäre die Einführung der Vermögensteuer ein wichtiger Schritt, um die katastrophale Datenlage im Bereich der Hochvermögenden zu verbessern. Es würde es schwerer machen, Besitz und das Einkommen daraus vor dem Fiskus zu verstecken, zum Beispiel in Steueroasen. Wenn wir es endlich schaffen würden, die Kluft zwischen Arm und Reich kleiner statt immer größer werden zu lassen, dann – so empfehlen es uns übrigens auch die OECD und der IWF – wäre sogar unsere wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland besser. Die OECD sagt konkret, dass die Steigerung beim deutschen Bruttoinlandsprodukt wegen der gestiegenen Ungleichheit seit 1985 um 6 Prozent geringer ausgefallen ist, als wenn wir mehr Gerechtigkeit in Deutschland hätten. Deswegen müssen wir dringend gegensteuern. ({8}) Aus unserer Sicht ist die Vermögensteuer ein wichtiger Baustein für mehr Gerechtigkeit, für die Sicherung der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft in Deutschland, für eine bessere wirtschaftliche Entwicklung. Deshalb gehört sie weiterhin auf die politische Tagesordnung in Deutschland. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Das Wort hat der Abgeordnete Hans Michelbach für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast möchte man zur linken Seite sagen: Und täglich grüßt das Murmeltier. – Zum x-ten Male kommen Sie von der Linken mit Ihrer Lieblingsneidsteuer, der Vermögensteuer – ich kann das aus jeder Legislaturperiode der letzten 24 Jahre nachbeten –, einer Substanzsteuer, die vor mehr als 20 Jahren nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus guten Gründen ausgesetzt wurde. Dieses Mal lautet der Slogan: Wiedereinführung der Vermögensteuer als Enteignungs- und Umverteilungsinstrument. Das Ganze bemänteln Sie wiederum mit dem Argument einer angeblichen Verteilungsungerechtigkeit. Nur, mit Gerechtigkeit, meine Damen und Herren, hat das wirklich nichts zu tun. Stattdessen führen Sie von den Linken die Menschen in diesem Land hinters Licht; denn Sie verschweigen, dass die 10 Prozent der Steuerpflichtigen mit den höchsten Einkommen in Deutschland zu mehr als 50 Prozent des Einkommensteueraufkommens beitragen. Sie verschweigen, dass die oberen 50 Prozent der Steuerpflichtigen sogar 94 Prozent der Einkommensteuer tragen. Sie stellen also gute Steuerzahler einfach so an den Pranger. Das kann man nicht so einfach hinnehmen. Wir stehen für das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Diejenigen mit den hohen Einkommen leisten eben sehr viel für unser Gemeinwohl, und das muss auch so bleiben. Deswegen müssen wir uns eher bei diesen leistungsbereiten Steuerzahlern bedanken und dürfen sie nicht an den Pranger stellen, meine Damen und Herren. ({0}) Das ist die eine Seite. Herr Präsident, es blinkt hier öfter mal. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Das haben wir von vorhin noch nicht abgestellt. Sie dürfen weiterreden. Es geht nicht zu Ihren Lasten.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gut. – Es hat geblinkt, und weil ich auf den Herrn Präsidenten natürlich höre, habe ich darauf reagiert. Die andere Seite ist: Die Vermögensteuer ist ein bürokratisches Monster. Es bedarf einer riesigen bürokratischen Leistung, eines bürokratischen Aufwands, um die Steuer überhaupt erheben zu können. Allein die Neubewertung des Grundbesitzes könnte die öffentliche Verwaltung auf Jahre blockieren; von der Bewertung anderer Vermögensbestandteile will ich gar nicht reden. ({0}) Wir haben uns damals intensiv mit der Erhebung dieser Steuer befasst, bevor wir sie ausgesetzt haben. Die zuständigen Gutachterausschüsse für Grundstückswerte wären personell überhaupt nicht in der Lage, kurzfristig eine Neubewertung aller Immobilien vorzunehmen. Was glauben Sie, wozu eine solche Besteuerung der Immobilienvermögen letzten Endes führte, meine Damen und Herren? ({1}) Ich sage es Ihnen – es ist genau der Effekt, über den Sie sich eigentlich auch immer beschweren –: zu höheren Mieten. ({2}) Zu nichts anderem führt letzten Endes Ihre Vermögensteuer auf Immobilien. Die zusätzliche Steuerbelastung würde natürlich auf die Mieter abgewälzt. Das beträfe dann vor allem Regionen, in denen die Mieten jetzt schon am höchsten sind. Hauptleidtragende Ihrer Vermögensteuer wären aber insbesondere – es ist hier schon angeklungen – der Mittelstand und die risikobereiten Familienunternehmer. Damit träfen Sie den Motor des Wirtschaftsstandortes Deutschland, den Motor von Wachstum, Ausbildung und Beschäftigung in Deutschland; denn die Vermögensteuer ist ja nichts anderes als eine Substanzbesteuerung. Mit einer solchen Substanzbesteuerung könnte man natürlich die Leistungsträger, diejenigen, die investieren sollen, sehr schnell überfordern. Jeder Euro, der über die Vermögensteuer abkassiert würde, fehlte für Investitionen, fehlte für Forschung, fehlte für die Arbeitsplatzsicherung, fehlte für die Gewährleistung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, meine Damen und Herren. Eine Vermögensteuer von nur 1 Prozent bedeutet einen Verlust von 30 Prozent des Unternehmenswertes in 30 Jahren. Aber Die Linke will ja sogar einen Steuersatz von 5 Prozent. Da fräße die Vermögensteuer binnen 30 Jahren das 1,5-Fache des Unternehmenswertes. Im Klartext: Eine Unternehmung mit einer solchen Steuerbelastung ginge schlichtweg pleite oder wanderte vorher ins Ausland ab; die Arbeitsplätze wären also weg. Vielleicht wäre es für Sie eine Genugtuung, aber wir wollen das nicht. Wir wollen die Arbeitsplätze und eine hohe Beschäftigung in Deutschland erhalten. ({3}) Meine Damen und Herren, die Vermögensteuer der Linken ist der gerade Weg zu weniger Beschäftigung, zu weniger Wohlstand, zu weniger Investitionen und am Ende auch zu weniger Einnahmen im Bereich der Ertragsteuern. Das sind die Dimensionen, um die es heute geht. Insofern kann ich Ihnen nur sagen: Hören Sie auf, in der Steuerpolitik ideologisches Stroh zu dreschen! Jeder Landwirt kann Ihnen sagen: Beim Strohdreschen kommt nichts Gutes, nichts Nahrhaftes heraus. In diesem Sinne: Herzlichen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Elisabeth ­Kaiser für die SPD-Fraktion, die ihre erste Rede im Deutschen Bundestag hält. ({0})

Elisabeth Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die soziale Demokratie ist notwendig. „Daher erfordert Gerechtigkeit mehr Gleichheit in der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Macht“, so steht es im Hamburger Grundsatzprogramm der SPD. Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, in diesem Zitat finden wir einen gemeinsamen Nenner. Hier sehe ich eine weiterhin wichtige Aufgabe für meine Partei, Herr von Stetten. Dass Sie aber dem Hohen Haus zum wiederholten Male einen wortgleichen Antrag vorlegen, der in seiner Zielrichtung zwar diskutabel, in seinen Maßnahmen und Methoden allerdings mangelhaft ist, ist kein engagierter Aufschlag für eine neue Wahlperiode. ({0}) Uns als SPD ist es wichtig, gute Politik für Chancengleichheit und gerechte Teilhabe an unserer Gesellschaft zu machen. ({1}) Wir wollen keine Gleichmacherei, sondern gleiche Chancen für alle in unserem Land. Und auch hier sagt schon unser Grundsatzprogramm: „Leistung muss anerkannt und respektiert werden.“ Genau das macht den Unterschied zwischen Ihrer und unserer Position aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein pauschaler und fester Steuersatz von 5 Prozent, wie Sie ihn auf Vermögen fordern, schafft keine kluge und gerichtsfeste Ergänzung unserer Steuergesetze und ändert auch nichts an den bestehenden großen Missständen bei der ungleichen Besteuerung von Lohn und Kapital. ({2}) Für die SPD ist die Wiedereinführung einer Vermögensteuer ein ernsthafter Diskussionspunkt. In der Vermögensteuer sehen wir ganz klar ein Instrument für mehr Steuer- und Verteilungsgerechtigkeit. Unstrittig ist für uns bei einer gerechten Steuererhebung – und hier zitiere ich aus einem Beschluss meines Thüringer SPD-Landesverbandes –, dass „die Spitzeneinkommen und Vermögen solidarisch zur Finanzierung herangezogen werden“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerechte und verfassungskonforme Steuerpolitik zu machen, ist aber auch eine sehr komplexe Angelegenheit und bedarf harter Facharbeit. Deshalb hat die SPD unter ihrem stellvertretenden Bundesvorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel eine Kommission gebildet, die Chancen und Strukturen einer möglichen Vermögensteuer ausloten soll. Mit einem durchdachten Antrag, welcher natürlich auch die aktuellen Urteile zur Grundsteuer berücksichtigt, werden wir uns dann der Diskussion um ein besseres, ein anderes Konzept als das, was Sie von der Linken hier heute im Bundestag wiederholt vorgelegt haben, stellen. Ich danke Ihnen. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunktes. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/94 an den Finanzausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist das so beschlossen.

Lisa Badum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004659, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer neu mit einer Aufgabe betraut ist, versucht zunächst eines, nämlich seiner neuen Rolle gerecht zu werden und das Offensichtliche zu tun. Nun schaue ich als neue Abgeordnete der Grünen in das Sondierungspapier von Union und SPD, und ich sehe dort, dass sich die Sondierer achselzuckend vom eigenen Klimaziel 2020 verabschieden. Und was bieten sie stattdessen? SPD und Union wollen – wortwörtlich – Handlungslücken schließen. Das ist eine originelle Umschreibung für das eigene Scheitern als Regierung, für das Scheitern beim nationalen Klimaschutz. ({0}) Sie möchten allen Ernstes diese entscheidende Zukunftsfrage in einen Arbeitskreis auslagern. Ich komme aus Bayern, meine Damen und Herren, genauer gesagt: aus Franken. Als die CSU nicht mehr wusste, was sie mit Horst Seehofer machen soll, hat sie auch einen Arbeitskreis beauftragt. Heraus kam dabei: Markus Söder. ({1}) Ich mache mir Sorgen um das Klima. ({2}) Aber jetzt mal ganz im Ernst: ({3}) Mit dem, was Union und SPD in Sachen Klimaschutz bisher getan haben und noch tun wollen, werden sie der Größe der Aufgabe nicht gerecht; denn sie ignorieren das Offensichtliche. Sie ignorieren die Realität. Das Klima wandelt sich, die Temperaturen steigen global und ebenso die Meeresspiegel. Sie ignorieren die Expertinnen und Experten, die auf den Faktor Zeit hinweisen. Die nächsten 20 Jahre werden entscheidend sein; sonst sind Anpassungen kaum noch möglich. So sagen es die Forscher des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. ({4}) Wir können es uns schlicht und einfach nicht leisten, ein weiteres Jahr, ja nicht einmal ein weiteres halbes Jahr zu verlieren. Sie werden jetzt vielleicht sagen: 1 Grad mehr oder weniger auf der Welt, was macht das schon? Es geht jetzt um die Zukunft dieses Landes. – Wenn es Ihnen darum geht, dann müssen Sie aufhören, das Offensichtliche zu ignorieren; denn der Klimawandel wird massive Auswirkungen auf Deutschland, auf das Leben der Bürgerinnen und Bürger haben. Auch heute haben wir wieder Unwetterereignisse. Doch Sie ignorieren die Probleme nicht nur, Sie schaffen mit Ihrer Innovationsfeindlichkeit auch neue. Nehmen wir die Kohle: Sie hat als Energiefossil längst ausgedient; aber Ihnen ist sie heilig. ({5}) Sie opfern ihrem Abbau in Deutschland immer noch ganze Landschaften und Dörfer, neuerdings auch Kirchen wie den Dom von Immerath. ({6}) Schauen Sie sich das Video vom Abriss an! Da werden Ihnen die traurigen Folgen Ihrer Politik vor Augen geführt. Das tun Sie, anstatt die schmutzigsten Kohlekraftwerke endlich stillzulegen. ({7}) Sie als Regierung unterdrücken durch ständige Deckelungen systematisch das Wachstum der erneuerbaren Energien. Zehn Deckel haben Sie allein für die Windkraft erfunden. Damit gefährden Sie die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Was ist geboten, wenn man die Augen nicht mehr vor der Realität verschließen will? Gestern haben wir in der Fragestunde von der Bundesregierung gehört, dass sie noch am Klimaziel 2020 festhalten will. Das trifft sich gut; denn wir Grüne legen heute einen Antrag dazu vor. Damit haben Sie die Chance, sich zu ebendiesem Klimaziel 2020 zu bekennen und die deutsche Glaubwürdigkeit beim Klimaschutz zurückzugewinnen.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Badum, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Lisa Badum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004659, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein. – Sie müssen sich erstens endlich an die Kohle herantrauen. Schalten Sie noch vor 2020 die schmutzigsten Kohlekraftwerke ab! ({0}) Sie müssen zweitens endlich an die Baustellen Energieeffizienz und Energieeinsparung und den hohen Energieverbrauch in der Wärmeerzeugung ran. Und: Ziehen Sie drittens endlich die Notbremse bei Ihrer verkorksten EEG-Novelle. Die gesetzliche Deckelung beim Ökostrom muss aufgehoben werden. ({1}) Deswegen legen wir außerdem einen Antrag vor, mit dem wir unsere heimische Windbranche endlich in die Lage versetzen wollen, ihren vollen Anteil zur Bewältigung der Klimakrise zu leisten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, echte Klimaschutzpolitik braucht einen langen Atem. Sie braucht Sachkenntnis und die Bereitschaft, verkorkste Entscheidungen noch einmal anzugehen. Sie braucht den Mut, mit dem Gemeinwohl im Blick das Offensichtliche zu tun. All das hoffe ich bei meiner eigenen Arbeit als Abgeordnete zu haben, wieder und wieder. Zu all dem haben auch Sie heute Gelegenheit, wenn Sie unseren beiden Anträgen zustimmen. Vielen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als Nächster hat das Wort der Kollege Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0}) Die Kollegen und Kolleginnen auf der rechten Seite bitte ich, den Gesprächskreis draußen vor der Tür fortzusetzen. ({1})

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Liebe Frau Badum, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede. Ich darf Ihnen dennoch eines raten: Gerade in einer so wichtigen Debatte über das Thema „Energie und Klimaschutz“ täten etwas mehr Sachlichkeit und weniger Polemik wirklich gut. ({0}) Wir haben an vielen Stellen gemeinsame Ziele. Gerade in den letzten Wochen und Tagen wurde von vielen Menschen immer wieder von uns gefordert, verantwortungsvoll und glaubwürdig zu sein. Das, was Sie abgeliefert haben, war es nicht. Es war genau das Gegenteil von dem, was wir in den letzten Jahren gemacht haben; es war das Gegenteil von der Realität im Lande. Wir sind auf einem ganz anderen Weg als dem, den Sie gerade dargestellt haben. Deshalb möchte ich mit meiner Rede etwas Klarheit und Ernsthaftigkeit in die Debatte bringen. Erstens. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekennt sich klar und deutlich zum Klimaschutz und zu allen Zielen, die international vereinbart sind; das haben wir gemeinsam mit der SPD in unserem Sondierungspapier festgeschrieben. Ich hoffe, dass wir das gemeinsam, lieber Johann, in den nächsten Jahren umsetzen können. Ich will ergänzen: Es gibt keine Industrienation der Welt, die sich in diesem Bereich so hohe nationale Ziele gesetzt hat wie Deutschland. Zweitens. Deutschland ist Weltmeister beim Ausbau erneuerbarer Energien, liebe Freunde.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Bareiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich, gerne.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Bitte sehr.

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank fürs Zulassen der Zwischenfrage, Herr Bareiß. – Sie haben gesagt, kein Land auf der Welt setze sich so ambitionierte Ziele wie Deutschland, und Sie haben in dieser Debatte Sachlichkeit eingefordert. Sie ist natürlich notwendig. Genau deswegen frage ich Sie: Ist nicht viel wichtiger, als sich Ziele zu setzen, dass man die Ziele, die man sich setzt, auch erreicht? ({0}) Sie können ja Weltmeister beim Ankündigen von hehren, ambitionierten Zielen beim Klimaschutz und bei der Treibhausgasminderung sein. Aber nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Treibhausgasemissionen in Deutschland 2016 genauso hoch waren wie 2009? 2016 hatten wir eine GroKo, und 2009 hatten wir eine GroKo. Ihr Ziel ist, die Emissionen bis 2020 auf 750 Millionen Tonnen zu senken. Das heißt, Sie wollen innerhalb von jetzt noch knapp drei Jahren 156 Millionen Tonnen einsparen. Ich frage Sie: Wie genau wollen Sie das schaffen? Sie haben zwar gesagt, dass Sie an den Klimaschutzzielen festhalten. Aber von konkreten Maßnahmen zur Energieeinsparung oder Ähnlichem haben wir in Ihrem Papier gar nichts gelesen. ({1})

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Verlinden, vielen Dank für Ihre Wortmeldung. Eigentlich ist die Antwort auf Ihre Frage Bestandteil meines kompletten heutigen Redebeitrags. Insofern könnten Sie eigentlich während der gesamten Rede, die ich jetzt halte, stehen bleiben. ({0}) Das Sondierungspapier ist nur ein erster Entwurf dessen, was wir tun wollen. Nach der Entscheidung an diesem Sonntag werden wir dann hoffentlich ein Koalitionspapier erarbeiten, in dem wir versuchen werden, die Eckpunkte zu beschreiben ({1}): Nachverhandeln!) und eine Energiepolitik aus einem Guss zu machen, wie wir es auch in den letzten Jahren hinbekommen haben. Dann werden wir unsere Vorhaben in Gesetzen ganz konkret umsetzen. Ich sage Ihnen – damit will ich meine Rede fortsetzen –: Wir sind beim Ausbau der erneuerbaren Energien Weltmeister. Wir haben es geschafft, dafür zu sorgen, dass im letzten Jahr, 2017, 36 Prozent des Stromverbrauchs durch erneuerbare Energien gedeckt wurden; ({2}) das ist Weltrekord. Wir haben das Ziel, das die EU gestern im Parlament im Hinblick auf 2030 beschlossen hat, schon jetzt erreicht. ({3}) Wir sind zwei Jahre schneller, als wir es uns ursprünglich vorgenommen haben. Bis 2020 wollten wir einen Anteil der erneuerbaren Energien am Stromverbrauch in Höhe von 35 Prozent erreichen. Das haben wir aber heute schon geschafft. Da würde ich mir auch einmal etwas mehr Applaus vonseiten der Grünen wünschen; denn hier sind wir spitze in der Welt. In der Tat: Wir haben ein weiteres Projekt, nämlich den großen Transformationsprozess im Rahmen der Energiewende. Wir werden in der nächsten Dekade schrittweise aus der Nutzung von Kernkraftwerken aussteigen; das ist ein Punkt, den Sie in Ihrem Wortbeitrag angesprochen haben. Aber wir werden in dieser Dekade 25 Prozent bei der CO 2 -freien Stromerzeugung verlieren. Das ist unser großes Problem; das sage ich Ihnen sehr offen. Wir haben uns hohe Ziele gesetzt. Wir werden nicht nur die Nutzung erneuerbarer Energien ausbauen, sondern auch aus der Kernenergie aussteigen und versuchen, das gesetzte Ziel mittelfristig, bis 2030, wirklich zu erreichen, und zwar so, dass wir keine Arbeitsplätze verlieren, dass wir weiter wettbewerbsfähig bleiben und dass die Menschen nicht zu viel für ihren Strom bezahlen, der Strom also bezahlbar bleibt. Das wird die ganz große Herausforderung für die nächsten Jahre sein, und ich bitte Sie, da entsprechend mitzuarbeiten. ({4}) Ja, es gibt eine Lücke bis 2020. Die Experten streiten sich, ob sie 35 Millionen Tonnen oder 120 Millionen Tonnen beträgt; auch die Bundesregierung ist sich hier noch uneins. Dass es eine solche Bandbreite gibt, zeigt ja schon die Abstrusität dieser Debatte, die wir hier führen. Wir brauchen hier mehr Sachlichkeit und müssen überlegen, wie wir die Lücke Stück für Stück schließen. Wir brauchen mehr Zahlen und eine bessere Datengrundlage, um zu wissen, wie viel noch fehlt. Aber da sind wir dran. ({5}) Wir werden dann die Lücke Stück für Stück schließen und die Ziele, die wir uns gesteckt haben, erreichen. Auch das Thema Kohleausstieg wird in aller Ruhe und Sachlichkeit zu besprechen sein. Die Kohle wird in den nächsten Jahren eine immer weniger große Rolle spielen. Bis 2040, 2050 werden wir komplett aus der Kohle aussteigen. Aber wenn wir den Anteil des Kohlestroms senken und Kohlekraftwerke vom Netz nehmen, dann brauchen wir gewisse Rahmensetzungen. Wir müssen den Kohleausstieg, wie immer er kommen mag, in eine europäische Strategie einbetten. Wir wollen ja nicht unsere Kohlekraftwerke abschalten und dann mit Strom von Kohlekraftwerken aus Polen und Tschechien beliefert werden; das wäre keine sinnvolle Energiepolitik. Das muss gewährleistet sein. Wir brauchen Versorgungssicherheit und stabile Energiepreise für die nächsten Jahre, müssen aber auch die betroffenen Regionen – die Lausitz und das Rheinische Revier – immer im Blick haben. Wir brauchen Verlässlichkeit für die Menschen und einen strukturierten Prozess für die nächsten Jahre. Die Kohleregionen brauchen unsere Verlässlichkeit. Einen kopflosen Kohleausstieg wird es mit uns nicht geben. ({6}) Wir haben ganz klar gesagt: Wir wollen dieses Jahr nutzen – hoffentlich gemeinsam mit unserem Koalitionspartner – , um in einem strukturierten Prozess ein Verfahren für die nächsten Jahre zu finden und dann Verlässlichkeit herzustellen, Klimaschutz zu ermöglichen, aber auch Bezahlbarkeit und Versorgungssicherheit in Deutschland zu gewährleisten. Lassen Sie mich noch kurz zu Ihren beiden Anträgen kommen. Sie haben das Klimaschutzziel beschrieben und sich zu einem Klimaschutzgesetz bekannt. Aber ich sage Ihnen ganz offen: In Bezug auf den Klimaschutz für das Industrieland Deutschland muss wirklich durchdekliniert werden, was das für die einzelnen Bereiche bedeutet. ({7}) Wir müssen klimapolitische Maßnahmen treffen und darüber nachdenken, wie wir das europäisch umsetzen können. Dabei müssen wir immer auf die Kosten schauen und auf diejenigen, die das bezahlen müssen. Das spielt bei uns eine ebenso große Rolle wie das Thema „Wachstum und Beschäftigung“. Die Wettbewerbsfähigkeit des Mittelstandes und der Industrie ist uns ein ganz besonderes Anliegen. Das sind sehr wichtige Fragen, die in den nächsten Jahren beantwortet werden müssen. Ein Appell an die Grünen: Wenn Sie klimapolitische Anträge schreiben, dann seien Sie so ehrlich, auch auf die Kosten für die Menschen und die Auswirkungen auf die Beschäftigung und die Arbeitsplätze zu schauen. Reines Wunschdenken bringt uns nicht weiter; aber auch ein Risikofaktor Klimaschutz bringt uns nicht weiter. Wir brauchen einen sinnvollen Klimaschutz, wie wir ihn in den letzten Jahren Stück für Stück betrieben haben. In Ihrem zweiten Antrag geht es um das Thema Windenergie. Sie sprechen sich, wie auch Frau Badum in ihrer Rede, für einen stärkeren Ausbau von Windenergie aus. Ich möchte Ihnen da ganz klar widersprechen. ({8}) Wir haben die Windenergie in den letzten Jahren enorm ausgebaut – viel weiter, als wir ursprünglich gedacht haben und als wir mit den vorhandenen Netzen verarbeiten können. Wir haben deshalb gesagt: Wir wollen diesen großen Strukturwandel mit einer Ausschreibung begleiten. Damit haben wir Verlässlichkeit in den Markt bekommen und wettbewerbsfähige Preise erzielt. Das, was Sie immer bekämpft haben, funktioniert jetzt hervorragend. Was Sie jetzt vorschlagen, würde dazu führen, dass wir in den nächsten drei oder vier Jahren dreimal mehr Mengen auf dem Markt hätten, als wir ursprünglich vorgesehen haben. Das wäre Irrsinn; denn das würde von den Netzen niemals aufgenommen werden. Es würde viel kosten, den Markt aufpumpen und größtenteils von China und anderen Ländern wieder aufgesaugt werden, wie es bei der Solarenergie der Fall war. Wir brauchen für den Mittelstand, gerade den Maschinenanlagenbau, und für unsere Energieversorgungssysteme Verlässlichkeit. Deshalb rate ich hier zur Vorsicht. Wir können uns keine Strohfeuer erlauben, sondern brauchen hier Verlässlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit. Wir brauchen – das ist richtig – in den nächsten zwei Jahren eine Lösung, mit der wir einen Fadenriss vermeiden. ({9}) Das müssen wir durchaus diskutieren. Dafür haben wir aber schon etwas gemacht, lieber Oli Krischer. Wir haben geschaut, dass die Bürgergenossenschaften, die bei euch ja immer ein ganz großes Thema waren, nicht über Gebühr eingebunden werden und dass wir hier einen moderaten Übergang hinbekommen. ({10}) Die Sonderausschreibungen für 2018/2019 will ich nur erwähnen. Auch da sind wir dran.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Lieber Herr Bareiß, da Sie heute nicht Ihre erste Rede halten, darf ich Sie jetzt bitten, zum Schluss zu kommen.

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zum Schluss: Wir brauchen, auch um international voranzukommen, eine Energiewende, die den Ausbau erneuerbarer Energien zielorientiert angeht, aber gleichzeitig die Stromversorgung sicherstellt und auch bezahlbar hält. Das wird eine große Herausforderung sein. Packen wir es gemeinsam an! Herzlichen Dank. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als Nächstes spricht die Parlamentarische Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter. ({0})

Rita Schwarzelühr-Sutter (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003847

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung strebt das 2020-Ziel an. Es ist natürlich schwierig, dieses Ziel noch zu erreichen, nämlich den Ausstoß der Treibhausgase bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Das haben wir schon im jüngsten Klimaschutzbericht im Dezember 2016 klar benannt. Frau Verlinden, Sie haben die Treibhausgasemissionen der Jahre 2009 und 2016 angesprochen. Man muss sich einmal daran erinnern: 2009 hatten wir eine Finanz- und Wirtschaftskrise, ({0}) und 2016 brummte die Konjunktur. Das spielt durchaus eine Rolle, auch hinsichtlich des Ausstoßes von Treibhausgasen. Es ist uns klar, dass wir zügig wirksame Maßnahmen ergreifen müssen, um die Lücke so weit wie möglich zu schließen. Im Rahmen der Gespräche über die Regierungsbildung spielt das sicherlich eine wichtige Rolle. Genauso wichtig ist aber unser Ziel, bis zum Jahr 2030 eine CO 2 -Minderung um 55 Prozent gegenüber 1990 auf nationaler Ebene verbindlich festzuschreiben und damit klare Vorgaben für alle Sektoren zu machen. Es ist zwar nachvollziehbar, dass sich der Blick vor allem auf den Sektor der Energiewirtschaft richtet. Das ist aber ein bisschen einfach; die Energiewirtschaft hat nämlich schon eine ganze Menge geliefert. Wir müssen unseren Blick auch auf die anderen Sektoren richten, ({1}) nämlich auf die Bereiche Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft, um wirksam gegenzusteuern. ({2}) Vor allem der Verkehrssektor hat bisher nicht so viel geliefert. Der spezifische Endenergieverbrauch konnte zwar gesenkt werden, aber das ist durch die Verkehrsleistung wieder wettgemacht worden. Hier liegen die Treibhausgasemissionen sogar noch auf dem Niveau von 1990. Diesen Trend müssen wir umkehren. ({3}) Mit dem Klimaschutzplan 2050 hat die Bundesregierung bereits einen Umsetzungsfahrplan für das 2030-Ziel vorgelegt. ({4}) Die Sektorziele des Klimaschutzplanes sind für alle Sektoren eine Herausforderung. Aber nur so können wir das Ziel einer Minderung der Treibhausgasemissionen um mindestens 55 Prozent bis 2030 erreichen. Ein Schwerpunkt in diesem Jahr muss die Erarbeitung eines konkreten Maßnahmenprogramms 2030 sein, das auf das Erreichen der Sektorziele des Klimaschutzplans ausgerichtet ist. Dieses Programm sollte möglichst in diesem Jahr, also 2018, verabschiedet werden. ({5}) Wenn man Akzeptanz erreichen will, dann muss man die Menschen mitnehmen. Ökologie ist das eine. Aber wir müssen natürlich auch schauen: Wie sieht der Transformationsprozess aus? Wie nehmen wir die Menschen dabei mit? Diesen Fragen stellen wir uns durchaus. Dazu gehört auch, dass wir die Klimaschutzlücke so schnell wie möglich schließen wollen, nämlich mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien. Deshalb gehen die jetzt diskutierten Vorschläge zu zusätzlichen Ausschreibungen und zur zeitnahen Realisierung von Windenergieprojekten grundsätzlich in die richtige Richtung. Voraussetzung dafür ist, dass nur genehmigte Projekte an den Start gehen. Um die im EEG 2017 fest veranschlagten Ausbaumengen bis 2020 zu realisieren und die drohenden industriepolitischen Auswirkungen abzufedern, müssen diese Mengen kurzfristig nachgeholt werden. Gleichzeitig kommt es darauf an, für einen stetigen und soliden Ausbaupfad zu sorgen, der es erlaubt, das Sektorziel Energie bis 2030 zu erreichen und der zunehmenden Nachfrage elektrischer Energie aus anderen Sektoren gerecht zu werden. Die Frage der Erhöhung der einzelnen Ausschreibungsmengen für Wind an Land, PV und Wind auf See ist sicherlich auch Gegenstand der Gespräche zur Regierungsbildung, einschließlich der fachlichen Abschätzung über den angemessenen Umfang.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Schwarzelühr-Sutter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Rita Schwarzelühr-Sutter (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003847

Nein. – Ich glaube, wir sehen diese Herausforderung. Die Herausforderung liegt nicht nur im Energiesektor. Vielmehr sind alle Sektoren verpflichtet. Alle Sektoren müssen liefern. Dass das bis 2020 schwierig wird, haben wir gesehen. Jetzt geht es darum, auch das völkerrechtlich verbindliche Ziel bis 2030 zu erreichen; da sind wir alle gefordert. Das werden wir – wir sind uns dieser Verantwortung bewusst – in möglichen Gesprächen zur Regierungsbildung zur Sprache bringen. Herzlichen Dank. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Für die AfD spricht jetzt Dr. Rainer Kraft. Auch er hält heute seine erste Rede im Deutschen Bundestag. ({0})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin der Fraktion der Grünen sehr dankbar für die Anträge zum Klimaschutz. ({0}) Ich bin deshalb so dankbar, weil sie ganz deutlich die völlige Unfähigkeit dieser Fraktion zeigen, sachliche und fachliche Zusammenhänge zu verstehen. ({1}) Diese Unfähigkeit beginnt bereits bei der einfachen Bedienung eines Taschenrechners. Da wird der volkswirtschaftliche Schaden, der in Deutschland durch die sogenannte Klimakrise über einen Zeitraum von 44 Jahren verursacht wurde, auf 90 Milliarden Euro beziffert. Gleichzeitig hat die im rot-schwarz-grünen Katechismus fest verankerte Energiewende in einem Drittel dieser Zeit mehr als 500 Milliarden Euro verschlungen. Das ist mehr als das Fünfzehnfache der genannten Schadenssumme. Wer aber 15 Euro ausgibt, um einen zu sparen, ist ein Narr. ({2}) Weniger volkswirtschaftliches Verständnis zu haben, geht nicht. Außerdem bezeichnen Sie in Ihrem Antragstext ein Nichthandeln beim Klimaschutz – ich zitiere – als „ein Hindernis für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands“. Das Gegenteil ist der Fall, meine Damen und Herren. Die Kosten dieser Energiewende verteuern unsere Produktion und hängen unserer Wettbewerbsfähigkeit wie ein Mühlstein um den Hals. Gleichzeitig erlauben es die internationalen Verträge, auf die Sie so stolz sind, den Schwellenländern, bis 2030 ihre CO 2 -Emissionen so weit zu erhöhen, wie es für deren Wirtschaft nötig ist. Die Resultate konnten wir schon oft sehen. Thyssenkrupp wird an Tata Steel angehängt, und die Augsburger KUKA, ein Hersteller von Spitzentechnologie im Bereich der Robotik, wird vom chinesischen Investor Midea geschluckt. ({3}) Es sind diese schlecht verhandelten Verträge, die Deutschlands Wirtschaft lähmen und den aufstrebenden, durch CO 2 -Knebelverträge unbelasteten Wirtschaften Asiens erlauben, sich ein deutsches Unternehmen nach dem anderen unter den Nagel zu reißen. ({4}) Dabei hätten Sie hier, wenn Ihnen die CO 2 -Emissionen tatsächlich so am Herzen liegen würden, viel erreichen können. Mit besser verhandelten Verträgen hätten Sie zum Beispiel ein Vielfaches der deutschen Jahresemissionen global einsparen können. ({5}) Aber das ist gar nicht Ihr Ziel. Sie wollen die Gesellschaft in unserem Land transformieren. Ihr Ziel ist eine öko-sozialistische Planwirtschaft, und der sogenannte Klimaschutz ist Ihr Werkzeug. ({6}) Das Wort Transformation erscheint über vierzigmal im Klimaschutzplan 2050, mit dem sich dieses Parlament in 2016 noch nicht einmal hat beschäftigen dürfen. Das ist eine Giftpille, die uns diese – immer noch geschäftsführende – Regierung hinterlassen hat, eine Regierung im Übrigen, der Sie in Ihrem Antrag prophezeien, dass sie, falls sie die 2020-Klimaziele verfehlen werde, in ihrer Glaubwürdigkeit großen Schaden nähme. Als ob das noch möglich wäre! ({7}) Aber Sie nehmen es mit den Klimazielen selbst gar nicht so ernst. Das „Nachtsprungkonzept“, das die nächtliche Verlagerung von Lkws auf die Schiene vorsieht, liegt auf Betreiben der Automobillobby seit 20 Jahren in rot-schwarz-grünen Schubladen. Des Weiteren fördern Sie die Massenmigration nach Europa, obwohl der CO 2 -Abdruck eines Mitteleuropäers zehnmal so groß ist wie der eines Menschen in Afrika. Das heißt, 1 Million Menschen, die Sie zu uns holen, erzeugen zehnmal so viel CO 2 wie in Afrika. ({8}) Zudem verweigern Sie sich der Kernenergie, obwohl diese von den Emissionswerten pro produzierter Kilowattstunde auf dem gleichen Niveau liegt wie Windstrom und um ein Vielfaches besser ist als Solarstrom aus Modulen, die aus chinesischen Werken stammen, von denen keines den deutschen Arbeitssicherheits- und Umweltstandards genügt. ({9}) Akzeptieren Sie es: Sie beruhigen Ihr grünes Gewissen auf dem Rücken und auf der Gesundheit chinesischer Arbeiter. ({10}) Die Ablehnung der Kernenergie offenbart noch mehr Erstaunliches. Durch die Abschaltung der deutschen Kernkraftwerke und den Ersatz durch Kohleverstromung nehmen Sie eine exorbitante zusätzliche Freisetzung von CO 2 in Kauf. ({11}) Sie haben also vor der – jetzt zitiere ich noch einmal – „gefährlichen und unkontrollierbaren Klimakatastrophe“ weniger Angst als vor einem einzigen deutschen Kernkraftwerk. Das, meine Damen und Herren, hat nichts mit seriöser oder gar wissenschaftlich fundierter Politik zu tun. Das ist ökopopulistisches Voodoo und dieses Hauses nicht würdig. ({12}) Nein, liebe Kollegen, Ihre Klimaziele haben keine wissenschaftlich fundierte Basis und sind rein politisch motivierter Ablasshandel: Bezahl heute, vielleicht erhältst du etwas in der Zukunft. ({13}) Sie entstammen einer kindlich-emotionalen Weltsicht, die glaubt, faktenbasierte Erkenntnisse durch heftiges Wünschen ersetzen zu können. ({14}) Bleiben Sie in dieser Ihrer Welt! Wir bleiben dafür in unserer, in der man einen Taschenrechner bedienen kann. ({15}) Vielen Dank. ({16})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Für das Präsidium stelle ich fest, dass wir nach wie vor in einer Welt leben. ({0}) Daran können die Reden in diesem Haus nichts ändern. Als Nächstes hat Sandra Weeser das Wort für die FDP. Sie hält ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. ({1})

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kommen wir jetzt zum Thema zurück. Der von Ihnen geforderte Wandel in der Stromerzeugung findet doch längst statt. Der Anteil erneuerbarer Energien stieg letztes Jahr noch einmal um gut 4 Prozent auf insgesamt 36 Prozent. Das ursprünglich damit verbundene Klimaziel haben wir jedoch nicht erreicht. Das war nämlich, den CO 2 -Ausstoß zu senken. Die Stromproduktion ist immer wetterabhängig, aber praktisch nie bedarfsgerecht. Entweder haben wir zu viel oder zu wenig. Das ist eine Gefährdung für unsere Versorgungssicherheit. 2017 waren die Kosten für Noteingriffe im Stromnetz auf einem Rekordhoch. Sie beliefen sich auf knapp 1 Milliarde Euro. Allein an Weihnachten und Silvester 2017 zahlten die Bürger knapp 30 Millionen Euro für die Entsorgung von überflüssigem Strom. Vier ganz grundsätzliche Aspekte scheinen Sie in Ihrem Antrag völlig zu übersehen oder auszublenden: erstens, die Akzeptanz in der Gesellschaft. Fahren Sie einmal in Regionen, wo das Landschaftsbild mittlerweile enorm von Windparks geprägt ist. Die Menschen vor Ort sind längst an ihrer Schmerzgrenze, und die Antwort darauf kann nicht sein: Weiter so! Bitte noch schneller! ({0}) Wir sollten eher die Bedenken der Menschen ernst nehmen und ihnen zuhören. Interessanterweise sind es vor Ort oft grüne Anhänger, die nicht wollen, dass die Landschaft weiter mit Anlagen zugebaut wird. Diese Menschen erkennen durch tägliches Erleben, dass das, was ihnen als Ökostrom verkauft wird, mit Öko überhaupt nichts mehr zu tun hat. ({1}) Sie lehnen weitere Industrieanlagen in den Wäldern ab. ({2}) Ich frage mich, wie eine grüne Partei bei dieser Zerstörung von Natur einfach so wegschauen kann. ({3}) Wir Freien Demokraten wollen Naturräume für die Menschen erhalten. Das Zweite, was ich vermisse, ist ein technisches Gesamtkonzept. Bei der Energiewende liegen Anspruch und Wirklichkeit meilenweit auseinander. ({4}) Das große Problem ist doch, dass der Ausbau der Windkraft derzeit in keinem Verhältnis zur Infrastruktur steht. Doch selbst ein perfektes Stromnetz kann das Grundproblem von Zufallsstrom nicht lösen. Es gibt keine Grundlastfähigkeit der Erneuerbaren. ({5}) Konventionelle Kraftwerke sind im Hintergrund immer notwendig. Wenn kein Wind weht, stehen die Anlagen still, und das von Flensburg bis Freiburg. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, solange wir Strom nicht besser speichern können, ist ein weiterer Ausbau der Windenergie nicht zu vertreten. ({7}) Wir fordern beim Ausbau absolute Priorität von Netzen und Speichern. ({8}) Der dritte Punkt, den Sie verschweigen, ist die Preisbildung auf dem Energiemarkt. Sie sprechen davon, dass die Windenergie die günstigste Stromquelle sei. Wenn der Windstrom wirklich so günstig ist, warum müssen wir ihn dann noch fördern und subventionieren? ({9}) Wie kommt es denn, dass wir seit Jahren weit über 20 Milliarden Euro für den EEG-Strom zahlen? Ich habe mich gefragt, ob es wohl ein Zufall ist, dass die letzten Forderungen der Windkraftlobby denen Ihres Antrags nahezu auf das Wort gleichen. ({10}) Liebe Kollegen von der grünen Partei, wessen Interessen vertreten Sie eigentlich hier? ({11}) Sie übersehen auch einen vierten Punkt, vielleicht den wichtigsten. Der beschleunigte Windkraftausbau nutzt dem Klimaschutz überhaupt nichts. Der Sachverständigenrat, die Monopolkommission, die Bundestagsexpertenkommission und auch die Monitoring-Kommission haben es wiederholt dargelegt: Die von Ihnen vorgeschlagene Politik führt nicht zu mehr Klimaschutz, sondern macht diesen nur irrsinnig teuer. ({12}) Die Freien Demokraten stehen zu den Klimazielen. Ihren Klimanationalismus wollen wir aber überwinden. Das Problem müssen wir international lösen. CO 2 muss einen Preis bekommen. Für CO 2 muss man künftig zahlen. Lassen wir doch endlich einen fairen Wettbewerb um effiziente Lösungen zu. Die Politik soll vernünftige Rahmenbedingungen schaffen, und die Technik überlassen wir bitte den Ingenieuren. ({13}) Wir müssen Versorgungssicherheit gewährleisten und dabei die Strompreise bezahlbar halten. Ich freue mich auf die künftigen Diskussionen im Ausschuss. Es gibt wahrscheinlich reichlich zu tun. Vielen Dank. ({14})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als Nächster spricht Lorenz Gösta Beutin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Jeder, der in unserer Gesellschaft Verantwortung für den Klimaschutz übernimmt, weiß, dass wir als Menschheit ohne Klimaschutz keine Zukunft haben werden. Aber SPD und CDU/CSU haben bei den Sondierungen bewiesen, dass sie nicht bereit sind, diese Verantwortung zu tragen. ({0}) Sie haben sich vom Klimaziel für 2020 verabschiedet; Frau Kollegin Schwarzelühr-Sutter hat das eben betont. Das ist ein beispielloses Desaster. Noch im November haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD, mit großem Tamtam für die Fidschi-Inseln eine Klimakonferenz in Bonn abgehalten. Jetzt wollen Sie zuschauen, wie die Inselstaaten absaufen? Und dann beschweren Sie sich auch noch, wenn Menschen vor Hunger und Not fliehen und nach Europa kommen? Sie wollen doch nicht allen Ernstes Trump Konkurrenz machen. Bedenken Sie einmal die Wirkung im Ausland! Statt Vorreiter zu sein, katapultiert sich das Energiewendeland Deutschland nach und nach ins Abseits. Was Sie hier machen, ist beschämend. ({1}) Es ginge doch eigentlich: Immer mehr Bürgerinnen und Bürger machen mit beim Umweltschutz. Sie lassen Solaranlagen auf ihren Dächern installieren und gründen Windenergiegenossenschaften. Kurz und gut: Die Bürgerinnen und Bürger haben längst erkannt, dass der Klimawandel eine Bedrohung für unser aller Existenz ist. Frau Bundeskanzlerin Merkel hat vor der Wahl versprochen, dass wir die Ziele für 2020 erreichen werden. Der Genosse Martin Schulz hat sogar noch im Dezember den verbindlichen Kohleausstieg gefordert. Jetzt stellt sich das alles als leeres Gerede heraus. ({2}) Schauen wir uns das Sondierungspapier einmal genauer an. ({3}) Dort heißt es, man wolle die Handlungslücke im Hinblick auf 2020 „so schnell wie möglich“ schließen und die Ziele 2030 „auf jeden Fall“ erreichen. Ja wer soll Ihnen denn überhaupt noch glauben, was Sie hier erzählen? ({4}) Was Sie hier machen, ist knallharter Betrug an Ihren Wählerinnen und Wählern. ({5}) Der Kollege von der AfD hat wieder die Keule von der Deindustrialisierung ausgepackt. Passen Sie doch bitte auf, dass Sie mit Ihrer Argumentation und mit Ihrer Klimapolitik nicht allzu nahe an die Fake-News-Fraktion rücken. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Beutin, gestatten Sie eine Zwischenfrage eines Abgeordneten der AfD?

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, danke. Wer den Klimawandel bekämpfen will, muss allerdings Mut haben: Mut, sich mit denen anzulegen, die mit dreckigem Kohlestrom, übergroßen SUVs, Billigkreuzfahrten, kurz gesagt: am Klimawandel verdienen. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und CDU/CSU, haben diesen Mut nicht. Ganz im Gegenteil: 2015 hat Wirtschaftsminister Gabriel eine Klimaabgabe für alte Kohlekraftwerke gefordert. Was wurde daraus? Es gab Gegenwind. Was ist passiert? Minister Gabriel ist mit Aplomb umgekippt. Er hat den Kohlebetreibern sogar noch Geld hinterhergeworfen. Das Einknicken vor der Industrie von Union und SPD hat bei Ihnen längst Methode. Das Energieexpertengremium der Bundesregierung hat zuletzt 2016 gemahnt, Deutschlands Reduktionsmaßnahmen müssten vervierfacht werden, wollte man die Klimaziele 2020 noch erreichen. 2018, jetzt, herrscht klimapolitisch weiterhin Stillstand. Im Sondierungspapier sagen Sie, Sie wollten eine weitere Expertenkommission einsetzen. Ja meinen Sie denn, dass die Erderwärmung auf einen weiteren Abschlussbericht einer Expertenkommission wartet? ({0}) Das Eis der Arktis schmilzt jeden Tag. Wir brauchen jetzt entschiedenes Handeln. Beginnen wir gemeinsam mit dem Kohleausstieg. Die 20 dreckigsten Braunkohlekraftwerke – die Kollegin der Grünen hat es bereits erwähnt – müssen bis 2020 abgeschaltet sein. ({1}) Es braucht ein Klimaschutzgesetz. Es braucht ein Umdenken in der Landwirtschaft. Es braucht eine ökologische Verkehrswende und, ja, auch entschiedene Gebäudesanierungen. Natürlich muss das Ganze sozial gerecht sein. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Beutin, kommen Sie zum Schluss.

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, gerne. Kurz und gut: Es geht hier nicht um parteipolitisches Klein-Klein; es geht um eine Menschheitsaufgabe. Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und der SPD, nehmen Sie endlich Ihre Verantwortung wahr. Vielen Dank. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist Dr. Andreas Lenz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute zwei Anträge der Grünen. Es ist eigentlich fast wie in der letzten Legislatur. Ich bitte die Grünen schon, einfach zur Kenntnis zu nehmen, dass sich die Bandbreite der Meinungen wesentlich verbreitert hat. ({0}) Das sollte aus meiner Sicht natürlich dazu beitragen, dass man bei den Zwischenrufen ein bisschen vorsichtiger sein und die Sache in den Mittelpunkt stellen sollte. ({1}) Es geht zum einen um die Klimaschutzziele, und zum anderen geht es um den Ausbau der Onshorewindenergie, also um die Windkraft an Land. Eines muss ich schon einmal deutlich sagen: Entgegen sämtlichen Befürchtungen während der gesamten letzten Legislatur haben wir zwischen 2014 und 2017 den stärksten Ausbau der Windkraft seit jeher erlebt. Thema Klimaschutz: Man könnte glauben, dass Sie die Sondierungsvereinbarung nicht gelesen haben. ({2}) Hier bekennt man sich ausdrücklich zum Klimaschutz. Dass bis zur Erreichung des Ziels 2020 noch eine Lücke besteht, ist bekannt. Diese wird schnellstmöglich geschlossen werden.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Badum?

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich, gerne.

Lisa Badum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004659, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Dr. Lenz, ziehen Sie in Erwägung, dass der Ausbau-Boom in Bayern in den letzten Jahren vielleicht etwas damit zu tun hatte, dass zum einen viele Hersteller versucht haben, noch vor Inkrafttreten der 10‑H-Regelung ihre Windkraftwerke zu bauen, und dass zum anderen versucht wurde, die Vergütung noch vor Beginn der Ausschreibung zu bekommen? Könnte dieser Boom damit zusammenhängen? ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werte Kollegin, wenn Sie sich die Zahlen anschauen, sehen Sie: Diese sprechen eine andere Sprache. Das EEG 2014 sieht einen jährlichen Zubau für Photovoltaik in Höhe von 2,5 Gigawatt vor. Wir haben im letzten Jahr unter dem Regime von Ausschreibungen circa 6 Gigawatt ausgeschrieben bzw. bewilligt. Das spricht eigentlich gegen Ihre Argumentation. ({0}) Der Anteil der bayerischen Windkraftwerke an der Gesamtzahl ist verschwindend gering, selbst dann, wenn man berücksichtigt, dass es hier Vorzieheffekte gab. ({1}) Beim Klimaschutz sind, wie gesagt, die langfristigen Ziele umso wichtiger. Diesbezüglich wird sich klar positioniert, sodass die 2030-Ziele, aber auch die 2050-Ziele gelten. Erstmalig werden auch die Mittel zur Erreichung der Ziele benannt. Das gab es im Jamaika-Papier übrigens nicht. Natürlich muss gerade die Kohleverstromung zur Minderung der Emissionen beitragen. Es muss uns jedoch klar sein, dass wir früher oder später aus der Kohleverstromung aussteigen werden. Mir ist natürlich lieber, wenn dies früher als später gelingt. Aber natürlich haben wir auch eine Verantwortung gegenüber den Regionen. Wir müssen Perspektiven aufzeigen und die betroffenen Regionen unterstützen. Auch darauf wird im Sondierungspapier Bezug genommen. Wir werden die Menschen in den betroffenen Regionen nicht im Stich lassen. Darüber hinaus dürfen wir gerade beim Klimaschutz die europäische und die globale Dimension nicht vergessen. Ein einheitlicher CO 2 -Preis auf europäischer Ebene ist nach wie vor das geeignetste Mittel für wirksamen Klimaschutz. Im zweiten Antrag thematisieren Sie den Ausbau der Windenergie. In Zahlen beläuft sich der Ausbau 2014 auf 4,8 Gigawatt, 2015 auf 3,7 Gigawatt, 2016 auf 4,6 Gigawatt und 2017 wahrscheinlich auf annähernd 6 Gigawatt. Ursprünglich waren 2,5 Gigawatt im Jahr geplant. Zum Vergleich: Die Nennleistung eines Kernkraftwerks beträgt circa 1,5 bis 2,5 Gigawatt. Daran sieht man, was hier letztlich umgesetzt wird.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Kollege Lenz, gestatten Sie eine Zwischenfrage eines Kollegen der AfD?

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne.

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Kollege, ich habe zwei Fragen. Meine erste Frage: Ist Ihnen bekannt, dass es allein aus 2017 400 Studien gibt, die keinen expliziten Zusammenhang zwischen der gestiegenen CO 2 -Konzentration in der Luft und der Erderwärmung herstellen? ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Lassen Sie den Kollegen bitte aussprechen.

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine zweite Frage: Wie soll eine Energiewende stattfinden, wenn die Grundlagen fehlen, zum Beispiel eine ökonomisch sinnvolle Speichertechnologie? ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke für die Zwischenfrage, die sich auch die Grünen – Thema „Bandbreite der Meinungen“, das ich angesprochen habe – gut anhören sollten. Zu Ihrer ersten Frage. Wenn man sich die Studienlage zum Klimawandel anschaut, dann stellt man fest – das wissen Sie wahrscheinlich auch –, dass über 90 Prozent der Studien davon ausgehen, dass der Klimawandel wissenschaftlich fundiert begründet ist. Natürlich gibt es auch andere wissenschaftliche Meinungen. Wenn man sich die Studien, die Sie zitiert haben, genauer anschaut, dann sieht man, dass sie meistens von fachfremden Professoren oder Wissenschaftlern erstellt wurden. Das ist im Prinzip auch die Erklärung, warum es eine große Anzahl von gegenteiligen Studien gibt. Aber der Großteil der Wissenschaftler, die sich mit dem Thema beschäftigen, geht von der wissenschaftlichen Validierung und Evidenz des Klimawandels aus. ({0}) Zu Ihrer zweiten Frage. Natürlich haben wir bei den Speichertechnologien und der Sektorkopplung noch Aufgaben zu bewältigen. Die volatilen Erneuerbaren müssen zwischenzeitlich durch flexible fossile Energien, beispielsweise durch kaltstartfähige Gaskraftwerke, ausgeglichen werden. Daran arbeiten wir. In diesem Bereich sind wir gut vorangekommen; das zeigen die letzten vier Jahre. Insofern sind wir auf dem richtigen Weg. Wir haben vieles – auch in der letzten Legislatur – in die richtige Richtung bewegt. Allerdings sind wir noch nicht am Ende; auch das muss uns allen klar sein. Gerade im Kontext der genannten Zahlen kann aber von einem Abwürgen der Energiewende keine Rede sein kann. Wir bewegen uns gerade hinsichtlich des Zubaus der Erneuerbaren im Zieldreieck von Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit. Dazu haben sich im Jamaika-Papier übrigens auch die Grünen bekannt; da war keine eckige Klammer. Das noch einmal zur Erinnerung. Was die Bezahlbarkeit angeht, tragen beispielsweise die Ausschreibungen, gegen die Sie immer waren, dazu bei, dass sich mittlerweile die Einspeisevergütungen durchschnittlich auf unter 5 Cent pro Kilowattstunde belaufen, 3,82 nämlich bei der letzten Ausschreibung. Das ist auch ein Erfolg von Union und SPD, den wir gemeinsam erreicht haben. Ebenso ist der Netzausbau notwendig. Es bringt uns nichts, wenn der Strom aus Erneuerbaren dort produziert wird, wo man ihn nicht braucht, gleichzeitig aber annähernd voll vergütet wird. Hier sehen die Sondierungen von Union und SPD ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz vor, außerdem Anstrengungen bei der Sektoren­kopplung und auch bei den Speichertechnologien. Ihnen geht es in dem einen Antrag konkret um eine Regelung aus 2017, für die Sie eigentlich immer waren. Nach dieser Regelung sollten Bürgergesellschaften die Vorlage der Genehmigung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz nicht erbringen müssen. Dies sollte der Förderung der Akteursvielfalt dienen. Da es offensichtlich Missbrauch gab – das zeigen die Zahlen –, haben wir noch im letzten Jahr eine Sonderregelung für die ersten beiden Ausschreibungen 2018 getroffen, die die BImSchG-Genehmigung auch für die Bürgergesellschaften vorsieht. Nun kann es natürlich sein, dass auch darüber hinaus die Aussetzung der Sonderregelung Sinn macht, dass also auch langfristig die BImSchG-Genehmigungen einzuholen sind. Darüber werden wir im Ausschuss sprechen – die Ausschüsse werden sich in Kürze konstituieren –; das ist eigentlich der Ort, um fachlich konkret und präzise die Detailfragen, die noch zu klären sind, zu erörtern. Herzlichen Dank. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Letzter Redner in der Debatte ist Johann Saathoff für die SPD-Fraktion. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine spannende neue Debatte zur Energiepolitik, die wir heute erleben. Ich gebe offen und ehrlich zu: Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, die Argumente aufzuräumen. ({0}) Also: Wir haben hier Energiepreisvergleiche, die hinken von hier bis nach Emden. Wir haben hier Albtraumwelten aufgezeigt bekommen, die aus meiner Sicht wirklich jeder Grundlage entbehren. Ich würde gern anfangen, das eine oder andere geradezurücken, aber das mache ich an dieser Stelle nicht. Ich will nur einen Punkt deutlich machen, der, glaube ich, jedem hier im Haus wichtig sein muss. Wir haben internationale Vereinbarungen zum Klimaschutz unterzeichnet, für die wir alle verantwortlich sind und für die wir alle einzustehen haben. ({1}) Die Auswirkungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, finden Sie nicht nur auf den Fidschis. Wenn Sie die Auswirkungen sehen wollen, dann kommen Sie einmal an die norddeutsche Küste und schauen sich das an. Fragen Sie die Küstenbewohner, wie sie es eigentlich finden, dass sie an der Küste in Gefahr geraten könnten, weil es immer noch welche gibt, die den Zusammenhang zwischen CO 2 -Ausstoß und Klimawandel infrage stellen und sich eine Studie dazu suchen. ({2}) Ich lese die Anträge so, dass der Eindruck erweckt werden soll, dass das 2020-Ziel damit erreicht wird, und das quasi mit einer eierlegenden Wollmilchsau. Aber ich glaube – jedenfalls habe ich versucht, das nachzurechnen –: Wenn wir Ihre Anträge so beschließen würden, wie sie vorgelegt worden sind, dann würden wir das 2020-Ziel immer noch nicht erreichen; denn mit einer Abschaltung von 10 Gigawatt bei Braunkohlekraftwerken wird die Klimalücke bestenfalls zur Hälfte geschlossen – von den strukturellen Auswirkungen, die das mit sich bringt, ganz zu schweigen und von der dadurch schwindenden Akzeptanz der Energiewende auch ganz zu schweigen. Aber wenn wir diese Hälfte aus dem Antrag heraus schaffen würden, ({3}) dann hätten wir zusätzlich ein Problem; denn es würde noch länger dauern, die zweite Hälfte in den anderen Sektoren zu erreichen. Ich glaube, dass wir darüber intensiver im Ausschuss reden müssen. Wir sind uns aber einig, dass wir alle zusammen das 2020-Ziel ganz gern erreicht hätten; überhaupt gar keine Frage. Das Erreichen schaffen wir aber nicht nur über einen Sektor, nämlich über die Produktion von Strom. Wir brauchen ein Gesamtpaket von Maßnahmen für die energiepolitischen Ziele quer über alle Sektoren: die Stromproduktion, den Verkehrssektor, in dem wir nicht gerade Erfolge erzielt haben, sondern in dem genau das Gegenteil eingetreten ist, ({4}) den Gebäudesektor und, last, but not least, Frau Staatssekretärin, auch die Landwirtschaft, die oftmals vergessen wird, wenn diese Sektoren erwähnt werden. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Good inseipt is halv schkoon“, sagt man in Ostfriesland. Also: Gute Vorbereitung erleichtert die Arbeit. Viel wichtiger als die Frage, wann welches Kohlekraftwerk stillgelegt wird, sind die folgenden Fragen: Wie werden wir die Netzentgeltsystematik energiewendetauglich machen? Wie werden wir kurzfristige Flexibilitäten anreizen können? Wie werden wir Netze intelligenter machen können? Wie werden wir in Bestandsnetzen vorhandene Potenziale nutzen können? Wie werden wir gemeinsam mit den Netzbetreibern auf allen Ebenen einen optimalen Netzbetrieb organisieren können, und wie werden wir zügig die Netzrelevanz der vorhandenen und möglichen neuen Speicher beziffern und fair anreizen können? ({6}) Mit diesen Fragen müssen wir uns gemeinsam beschäftigen und dürfen hier nicht irgendwelche Dogmendebatten führen. ({7}) Ich würde gern über die Sacharbeit mit Ihnen reden. Ich will aber nicht nur kritisieren. Uns eint das Ziel, eine gute Energiewende hinzubekommen, und ich freue mich, dass bestimmte Punkte aufgegriffen wurden, nämlich: schneller Ausbau der Erneuerbaren, Klimaschutzgesetz – das wollen wir auch, steht im Sondierungspapier. Der Antrag zur Windkraft hat ähnliche, aber nicht gleiche Ansätze. Wir wollen die breit getragene Bürgerenergie erhalten, und dazu müssen wir nachregeln, keine Frage. Es war richtig, dass wir in der letzten Legislaturperiode die BImSchG-Befreiung für Bürgerenergieprojekte aufgehoben haben. Wenn Sie in dem Antrag jetzt nur zwei weitere Ausschreibungen aufheben, dann ist das aus meiner Sicht zu kurz gesprungen, weil die Neuregelung für die Bürgerenergie eine Zeitlang dauert, wenn wir sie denn gründlich machen wollen. ({8}) In den nächsten drei Jahren wollen wir deutlich mehr Wind und PV ausschreiben; aber die Realisierungsfrist von 18 Monaten ist mir ehrlich gesagt zu lang. Genehmigte Projekte liegen vor und könnten eher umgesetzt werden. Ich kann verstehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, dass Sie sich über das Sondierungsergebnis nicht so wahnsinnig freuen; das ist schon so. Aber das mit der Jamaika-Koalition war aus meiner Perspektive auch nicht viel ehrgeiziger. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Sie müssen trotzdem langsam zum Schluss kommen.

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, Herr Präsident. Ich sage den letzten Satz. – Die Jamaika-Koalition wäre nicht ehrgeiziger gewesen. Im Grunde dürften Sie alle miteinander froh sein, dass Herr Lindner nun doch nicht regieren wollte. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Damit ist die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt abgeschlossen. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Wir stimmen zunächst über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/449 mit dem Titel „Klimaschutzzusagen einhalten – An Zielen für 2020 festhalten“ ab. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Überweisung an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Nach ständiger Übung stimmen wir jetzt zunächst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Bei Gegenstimmen von Grünen und Linken mit großer Mehrheit angenommen. Damit ist die Überweisung so beschlossen, und wir werden über diesen Antrag heute nicht in der Sache abstimmen. Ich komme jetzt zu Tagesordnungspunkt 17. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/450 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, dass das der Fall ist. Dann ist das so beschlossen.

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Kandel, ein idyllisches Provinzstädtchen im Süden von Rheinland-Pfalz, gibt den Impuls für eine Aktuelle Stunde im Bundestag. Was ist in Kandel passiert? Ein sogenannter minderjähriger Flüchtling tötet bestialisch ein ebenfalls minderjähriges Mädchen mit dem Messer. Kandel ist nach Freiburg ein Fanal, eine Zäsur in der öffentlichen Wahrnehmung und steht stellvertretend für alle interkulturellen Tragödien irgendwo hier in Deutschland, wo beinahe täglich Frauen Opfer werden. Die Kriminalitätsstatistiken des Bundes und der Länder weisen aus, dass seit 2015 zu den ohnehin vorhandenen Übergriffen auf Frauen noch diejenigen Verbrechen hinzukommen, die in überproportionaler Vielzahl von sogenannten Schutzsuchenden verübt werden. Fakt, nicht Hetze. Ich weiß, das hören Sie womöglich nicht gerne, ich werde es dennoch in aller Deutlichkeit sagen: Wir haben hier in Deutschland weniger ein Problem mit Fremdenfeindlichkeit als viel eher ein Problem mit der großen Vielzahl von feindlichen Fremden in diesem Land, die genau diese und andere Verbrechen verüben. ({0}) Bedingt durch die staatlich verordnete Multikulturalisierung der Gesellschaft vergrößern und radikalisieren sich im Eiltempo Parallelgesellschaften. ({1}) Dies ist eine dramatische Entwicklung; denn im Zuge der fortschreitenden Islamisierung Europas werden Frauen bereits seit Jahrzehnten schleichend und politisch übrigens überwiegend unwidersprochen sowie konsequenzlos ihrer Grundrechte beraubt. ({2}) Die größte Sorge des Meinungsgeberkartells bestehend aus Erziehungspresse, breitem Parteienbündnis gegen vermeintlich rechts, Kirchen, Gewerkschaften und, und, und besteht grundsätzlich darin, dass jemand diese Verbrechen instrumentalisieren könnte. Dieses Verhalten ist abgrundtief menschenverachtend und eine Verhöhnung der Opfer. ({3}) Dieses Meinungskartell geht aber noch weiter und instrumentalisiert diese Verbrechen selbst für den hypnotischen Reigen, für noch mehr Buntheit, Toleranz, Islam und noch mehr Zuwanderung. Das ist genauso moralisch verwerflich wie paradox. Es wird relativiert, beschönigt und mit Injurien um sich geworfen. Kritiker der Einwanderungs- und Integrationspolitik werden – auch hier im Bundestag – als Rassisten beschimpft, als Hasser, Hetzer und Fremdenfeinde abqualifiziert. ({4}) Die Politik der totalen Buntisierung hat kein effektives und nachhaltiges Konzept, meine Damen und Herren. Empfehlungen von Polizei und Politik zur Prävention und zum Schutze von Frauen sind beinahe zynisch. Frauen und Mädchen wird empfohlen, eine Armlänge Abstand zu halten. Sie sollen Antivergewaltigungsarmbänder anlegen, Turnschuhe tragen, mit denen sie schneller laufen können, Trillerpfeifen mit sich führen und am besten nur noch in Begleitung joggen gehen, um nur einige zu nennen. Wenn ihnen etwas zustößt, wird ihnen in speziellen Frauenschutzzonen geholfen, oder sie sind sogar selbst schuld, wenn sie Opfer einer Vergewaltigung werden: Was sind die auch alleine unterwegs in Deutschland seit 2015? ({5}) Es kommt noch irrwitziger, meine sehr geehrten Damen und Herren: Im Kinderkanal läuft Islamisierungspropaganda für Kinder, die kitschromantisch die Lust an der Unterwerfung unter islamische Vorstellungen propagiert. ({6}) Frauen und Mädchen werden zunehmend Opfer von Beschneidung, häuslicher Gewalt, Zwangsverheiratung, Mehrehe und sogenannten Ehrenmorden. ({7}) Sie werden unter Kopftuch und Schleier gezwungen und so als rechtgläubig und rein markiert. Die Geschlechtertrennung und Diskriminierung von Frauen und Mädchen in der Gesellschaft schreitet parallel dazu voran: extra Schwimmzeiten in öffentlichen Badeanstalten, kein Schwimmunterricht für bestimmte Mädchen, keine Klassenfahrten für ebendiese Mädchen, extra Schutzzonen im öffentlichen Nahverkehr, Händeschütteln nicht mehr intergeschlechtlich, spezielle Ansprüche an ärztliche Behandlung, um nur einige zu nennen. Werte Kollegen, unter unser aller Augen und in Ihrer Verantwortung ist der Staat täglich weniger in der Lage, elementare Frauenrechte zu garantieren und Frauen und Mädchen davor zu schützen, ({8}) als schier unendliche Aneinanderreihung von Einzelfällen, ({9}) ja als Kollateralschäden auf dem Altar Ihrer gescheiterten Multikulti-Ideologie geopfert zu werden. ({10}) Wir haben als Gesellschaft für Frauen viel erreicht. Das alles steht nun auf dem Spiel; denn wenn ein Staat die Sicherheit und die körperliche Unversehrtheit von Frauen im öffentlichen Raum nur noch durch Schutzzonen und durch extreme Polizeipräsenz ansatzweise garantieren kann, ({11}) ist es sicherlich nicht übertrieben, von totalem Staatsversagen zu sprechen. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Kollegin, ich darf Sie trotzdem bitten, langsam zum Ende zu kommen.

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Jawohl. – Die AfD ist die einzige Partei im Parlament, die dieses virulente Thema so ausdrücklich anspricht und sich gegen eine Politik wehrt, die wahrnehmbar den Rückbau der Frauenrechte in Deutschland betreibt ({0}) sowie die Aushöhlung des Grundgesetzes zugunsten der islamischen Rechtsordnung und den dort verankerten archaischen Rollenmodellen. Ich komme zum Schluss. Wir von der AfD werden, egal wie laut Sie schreien, nicht müde werden, uns für die Rechte und die Würde der Frauen auf allen politischen Ebenen einzusetzen ({1}) und sagen in aller Deutlichkeit: Der Islam gehört nicht zu Deutschland. Vielen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist Nadine Schön für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hätte mich ja gewundert, wenn wir heute eine Debatte über Gleichberechtigung und Gleichstellung geführt hätten, statt diese Polemik und diese Hetze zu hören, die wir von der AfD schon kennen. ({0}) Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich gesehen habe, dass diese Partei eine Debatte beantragt mit der Formulierung „Freiheit und Gleichheit von Frauen stärken“ in der Überschrift. Eine Partei mit einem Männeranteil von 90 Prozent. ({1}) Eine Partei, für die die Frau in unserer Gesellschaft in erster Linie eine Funktion hat, nämlich für den Erhalt des Staatsvolkes zu sorgen, deren zentrale frauenpolitische Forderung im Wahlprogramm es ist, den angeblichen Genderwahn zu beenden sowie das Wort „Frauen“ aus der Ministeriumsbezeichnung „Ministerium für Frauen, Familie, Senioren und Jugend“ herauszustreichen, weil man es umbenennen will in „Ministerium für Familie und Bevölkerungsentwicklung“. Sonst haben Sie in Ihrem Wahlprogramm zum Thema Frauen nichts zu sagen. Wo sind denn die Fragen zum Thema „Gewalt gegen Frauen“? Wo sind Ihre Ansichten zum Thema „Förderung von Frauen in Beruf und Gesellschaft“? Diese Kollegen der AfD sind mit Sicherheit die Letzten, mit denen ich gerne für Frauen in unserer Gesellschaft kämpfen will. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen ist ein wichtiges Thema. Wir haben in unserem Land viel erreicht. Frauen entscheiden heute selbst über ihre Berufstätigkeit, über ihr Geld, über ihren Körper. ({3}) Paare entscheiden heute gemeinsam, wer wie viel Erwerbs- und wer wie viel Familienarbeit übernimmt, und zwar nach dem Grundsatz der Wahlfreiheit ({4}) und nicht nach einer Ideologie, die das eine oder das andere Modell besser findet. ({5}) Diese Wahlfreiheit und diese Gleichberechtigung sind ein hohes Gut. Viele Frauen, die Sie als Feministinnen beschimpfen, haben Jahre dafür gekämpft, dass auch Ihre Töchter diese Gleichberechtigung haben. Deshalb müssen wir alle gemeinsam diese auch verteidigen. ({6}) Wir müssen sie natürlich gegenüber Menschen verteidigen, die aus religiösen oder kulturellen Gründen andere Frauen- und Familienbilder haben und diese anderen aufzwingen wollen. Ja, es leben in einer globalisierten Welt, in diesem Land Menschen, die dieses, die unser Frauen- und Familienbild nicht teilen. Es gibt Menschen aus anderen Kulturkreisen, die der Meinung sind, dass Männer und Frauen nicht gleichberechtigt sind und dass der Mann der Frau etwas vorschreiben darf. An dieser Stelle sage ich ganz deutlich: Das dürfen wir nicht akzeptieren. ({7}) Es ist falsche Toleranz, wenn wir an diesem Punkt auch nur einen Millimeter nachgeben. In unserem Land sind Männer und Frauen gleichberechtigt. ({8}) In unserem Land gibt man einer Frau die Hand. In unserem Land respektiert man Frauen auch als Vorgesetzte und Chefinnen. Und in unserem Land schreibt der Mann der Frau nicht vor, wie sie sich zu kleiden hat. ({9}) Das ist sicher für viele ein Lernprozess. Und wer nicht bereit ist, sich auf diesen Lernprozess einzulassen, der muss sich fragen und von uns fragen lassen, ob er im richtigen Land ist, in dem er Zuflucht sucht. Wir müssen in dieser Sache hart sein und Haltung bewahren. Aber Pauschalierungen, Hetze und Diffamierung, wie wir es aus der rechten Ecke unseres Hauses immer hören, helfen nicht, sondern dienen nur einem Zweck: übler politischer Polemik, übler politischer Stimmungsmache. Damit helfen Sie keiner Frau. ({10}) Die erreichte Gleichstellung müssen wir in Wahrheit auch gegen Leute wie Sie verteidigen. ({11}) – Ja. Wer Frauen einzig und allein als Produzentinnen des eigenen Volkes betrachtet, wer die Unterstützung von Alleinerziehenden kippen will, wer eine beliebte familienpolitische Leistung wie das Elterngeld gestern in der Debatte geißelt als „Befriedigung von Kleinstinteressengruppen“ in einem sich „nicht reproduzierenden“ Volk, ({12}) wer das traditionelle Familienbild als das einzig wahre und richtige Lebensmodell glorifiziert, der hat mit Wahl­freiheit und Gleichberechtigung wirklich nichts am Hut. ({13}) Das gilt umso mehr bei Fragen der sexuellen Selbstbestimmung. Frauen in unserem Land haben das Recht, Nein zu sagen. ({14}) Dass dieses Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und die Würde der Frau nicht angetastet werden, dafür müssen unsere Gesellschaft und unser Rechtsstaat sorgen. Es macht für eine Frau keinen Unterschied, ob diese Rechte von Deutschen oder Nichtdeutschen, ({15}) von Vorgesetzten oder Partnern, von Priestern oder sonst irgendwem verletzt werden. ({16}) Deshalb ist es eine Verharmlosung und ein Schlag ins Gesicht einer jeden Frau, die von ihrem Partner, ihrem deutschen Nachbarn oder sonst irgendwem vergewaltigt worden ist, ({17}) dass Sie hier einseitig nur die Gewalt von Flüchtlingen zum Thema machen und geißeln. ({18}) Deshalb sagen wir als Union ganz klar Nein zu jeder Form von Gewalt und sexueller Belästigung von Frauen. Und deshalb, liebe Kollegen der AfD: Wenn Sie wirklich für Gleichberechtigung, für Wahlfreiheit und für Frauenrechte kämpfen wollen, dann machen Sie Schluss mit dieser üblen Polemik. Setzen Sie sich einmal wirklich für Frauenrechte ein, und überdenken Sie Ihr eigenes Frauen- und Familienbild. ({19}) Mit solchen Debatten wie heute machen Sie nur eins: Sie machen sich lächerlich. ({20})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Es gab eben den Wunsch nach Zwischenbemerkungen oder Zwischenfragen. Es ist den Kolleginnen und Kollegen von der AfD vielleicht noch nicht geläufig, aber in Aktuellen Stunden sind Zwischenfragen nicht zulässig. ({0}) Wir wollen den schnellen Wechsel der Redner und die lebendige Debatte – das ist der Grund dafür. Insofern habe ich diese Zwischenfragen nicht zugelassen. Als nächste Rednerin hat Josephine Ortleb das Wort, die für die SPD-Fraktion ihre erste Rede im Deutschen Bundestag hält. ({1})

Josephine Ortleb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004844, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! „Freiheit und Gleichheit von Frauen stärken“ – auf den ersten Blick könnte man wirklich meinen, die AfD hätte tatsächlich die Stärkung von Frauenrechten für sich entdeckt. Nach dem ersten Redebeitrag wurde dann aber doch sehr schnell klar, worum es hier wirklich geht: Sie gaukeln nur vor, sich für die Rechte und die Freiheit von Frauen einzusetzen; aber in Wahrheit instrumentalisieren Sie dieses Thema nur, um gegen andere zu hetzen. ({0}) Rechtspopulisten und Chauvinisten wie Sie bekämpfen weltweit Emanzipation, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung. Sie wollen doch zurück in eine Gesellschaftsform, die wir längst überwunden glaubten. Insofern war mir bisher auch nicht bekannt, dass die AfD die große Vorreiterin bei der Gleichstellung von Frauen und Männern ist. Ganz im Gegenteil: In Ihrem Wahlprogramm reduzieren Sie Frauen auf ihre Rolle als Mutter, und Sie wollen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von Frauen einschränken. ({1}) Sie lehnen Frauenförderung und Geschlechterquoten rigoros ab. ({2}) Sie diffamieren Feminismus und Gender-Mainstreaming, und die Gleichstellungspolitik erklären Sie nebenbei für überflüssig. ({3}) Was Sie von der Frauenförderung halten, sieht man ja angesichts eines sensationellen Frauenanteils in Ihrer Fraktion von 10,8 Prozent. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern ist kein Problem einzelner Gesellschaften oder einer Religion. ({5}) Sie ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, ({6}) bei uns in Deutschland, in Europa und weltweit. Schauen wir uns die Situation hier in Deutschland an. Frauen werden tagtäglich mit überkommenen Rollenbildern, mit Sexismus in Sprache, Medien und Werbung konfrontiert. Frauen werden als Sexobjekte, als Opfer oder – auch in der AfD – als Heimchen am Herd dargestellt. Es sind diese Darstellungen von Frauen und die Zuschreibungen von Rollenstereotypen, die in der Öffentlichkeit die bestehenden ungleichen Machtverhältnisse von Frauen und Männern zementieren. ({7}) Das hat Auswirkungen auf unsere Vorstellungen von sogenannten richtigen Frauen- und Männerbildern. Das alles hat Konsequenzen, auch heute noch: Trotz großer Errungenschaften führt es in der Konsequenz dazu, dass Frauen immer noch 21 Prozent weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen, die Chancen auf beruflichen Aufstieg von Frauen immer noch geringer sind und Frauen immer noch einen Großteil der häuslichen Sorgearbeit übernehmen. Es sind überkommene Rollenbilder und der Sexismus, die dazu führen, dass Frauen und Menschen in unserer Gesellschaft strukturelle Benachteiligungen erfahren. ({8}) Um diese Strukturen aufzubrechen und Benachteiligungen zu beseitigen, brauchen wir Veränderungen in der gesamten Gesellschaft. Dazu gehört eine Bildung, die die vielfältigen Rollen und Lebenswege von Mädchen und Jungen vermittelt. Dazu gehören Medien, die endlich eine gleichberechtigte Darstellung von Frauen und Männern vornehmen. Dazu gehören eine Kultur des Respekts füreinander und vor allen Dingen eine Politik, die die klaren Vorgaben unseres Grundgesetzes umsetzt. ({9}) Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes ist mehr als deutlich. Dort steht: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. Das ist und bleibt unser Maßstab und unsere Verpflichtung. Vielen Dank. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als nächste Rednerin hat Katja Suding für die Fraktion der FDP das Wort. ({0})

Katja Suding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mir ging es wie der Kollegin Schön, auch ich konnte es kaum glauben, als ich gestern erfuhr, dass die AfD doch tatsächlich eine Aktuelle Stunde mit dem Titel „Freiheit und Gleichheit von Frauen stärken – Grundgesetz statt Parallelgesellschaft“ angemeldet hat. ({0}) Ausgerechnet die AfD, die so unverhohlen für völlig verstaubte Rollenbilder von Mann und Frau wirbt und die Errungenschaften der Gleichberechtigung am liebsten wieder verschwinden lassen möchte. ({1}) – Herr Gauland, im Wahlprogramm der AfD, Ihrer Partei, finden sich dazu bemerkenswerte Passagen. Darin fordert die AfD unter anderem, den Zugang alleinerziehender Frauen zu staatlichen Hilfeleistungen drastisch einzuschränken, ({2}) die Rechte von Frauen bei Scheidung sollen verringert werden, und Schwangerschaftsabbrüche sollen erschwert werden. Man kann es so zusammenfassen: Die Frauenpolitik der AfD reduziert Frauen darauf, zu heiraten, am besten natürlich einen Mann, und Kinder zu gebären, und zwar je mehr, desto besser. Mit anderen Worten: Die AfD steht genau dem Frauenbild sehr nahe, das Sie der hier eben schon diskutierten „KiKA“-Sendung unterstellt und massiv kritisiert haben. ({3}) Das und übrigens auch der Debattenbeitrag der AfD zeigt doch wieder einmal: Freiheit und Gleichheit von Frauen interessiert die AfD nur dann, wenn es dazu dient, sich gegen Einwanderer in Stellung zu bringen. ({4}) Sehr geehrte Kollegen von der AfD, dieses Manöver ist genauso durchsichtig wie die dünne Grenze, die Ihr Rollenbild von dem derjenigen trennt, vor denen Sie uns Frauen vorgeblich schützen wollen. ({5}) Die Errungenschaften, die auf einem langen Weg zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern erzielt wurden, lassen wir uns von Ihnen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der AfD, ganz sicher nicht kaputtmachen, ({6}) genauso wenig übrigens – auch das gehört in diese Debatte – von anderen Menschen, die hier leben, seien sie schon seit Jahrzehnten hier oder erst seit ein paar Wochen, Monaten oder Jahren. Meine Damen und Herren, Deutschland ist ein Einwanderungsland. ({7}) Deutschland ist ein säkularer Staat. Es ist uns deshalb egal, ob und welche Religion die Menschen haben, die zu uns kommen und hier leben. Von allen verlangen wir aber, dass sie unsere Grundwerte und unsere Rechtsordnung akzeptieren. ({8}) Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit, aber eben auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau sind unsere zentralen Werte. Auf die kann es keinen Rabatt geben, für niemanden. Laut World Values Survey halten 72 Prozent der Deutschen die gleichen Rechte von Frauen und Männern ohne Abstriche für einen wesentlichen Bestandteil einer Demokratie. Ich finde, das ist ein erschreckend niedriger Wert. Woanders ist es aber leider noch viel schlimmer. Nur 42 Prozent der Türken, 31 Prozent der Algerier und 25 Prozent der Ägypter halten gleiche Rechte für Frauen für ebenso wichtig. Es ist Fakt, dass Menschen in weiten Teilen der Welt Vorstellungen haben, die ganz anders sind als unsere. ({9}) Deshalb ist und bleibt es Aufgabe von Politik und Gesellschaft, weiter für die Verwirklichung von echter Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen zu kämpfen und damit dem Grundgesetz zur Durchsetzung zu verhelfen. Das bedeutet für mich auch ganz klar, dass endlich Schluss sein muss und nicht länger toleriert werden darf, wenn Familien in Deutschland ihren Töchtern verwehren, am Schwimmunterricht oder an Klassenfahrten teilzunehmen. ({10}) Das betrifft übrigens nicht nur besonders konservative Muslime, sondern auch zum Beispiel evangelikale Christen. Es gilt die Schulpflicht, und zwar für alle, meine Damen und Herren. ({11}) Wir dürfen auch nicht weghören, wenn Beratungsstellen einräumen, dass Mädchen aus bestimmten arabischen Familien in deutschen Großstädten keine andere Chance haben, einer Zwangsehe zu entkommen, als die Stadt zu verlassen. Das ist eine Bankrotterklärung des Staates. ({12}) Ganz zum Schluss noch ein kurzer Schwenk: Die Gleichheit von Frauen und Männern muss nicht nur gegen ihre Gegner verteidigt werden, sie muss auch weiter ausgebaut werden. Viel zu häufig müssen Frauen ihre berufliche Karriere opfern, wenn sie Mutter werden. Viel zu häufig erfüllen sich Frauen ihren Kinderwunsch nicht, weil ihr Beruf dazu keine Chance lässt. Wir müssen endlich ermöglichen, dass Frauen in der Rushhour ihres Lebens, wenn Karriere im Beruf, Familiengründung und vielleicht sogar auch die Pflege der eigenen Eltern zusammenkommen, entlastet werden. Da ist noch viel zu tun. Darauf sollten wir uns konzentrieren. Dafür sollten wir gemeinsam eintreten. Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Cornelia Möhring für die Fraktion Die Linke. ({0})

Cornelia Möhring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004111, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir ging es gestern genauso wie den Kolleginnen Nadine Schön und Katja Suding. Als ich den Titel der von der AfD beantragten Aktuellen Stunde gehört habe – „Freiheit und Gleichheit von Frauen“ –, dachte ich: Das ist doch jetzt ein Scherz. Das muss doch ein Witz sein. ({0}) Dann habe ich gedacht: Vielleicht ist das passend zum Unwort des Jahres „alternative Fakten“ ein Fake. ({1}) Nein, das war es nicht. Aber dass tatsächlich ausgerechnet die Fraktion mit dem niedrigsten Frauenanteil, ({2}) die in ihrem Wahlprogramm kein einziges Wort zu Gewaltschutz, zu Frauenhäusern, zu häuslicher Gewalt hat, sich hier und in den sozialen Netzwerken zu den großen Frauenrechtlern aufschwingt, das finde ich mehr als schäbig. ({3}) Die AfD instrumentalisiert Themen wie Gewalt gegen Frauen und Frauenmorde für ihren Rassismus. Sie haben von Kandel geredet. Ich glaube, zu Recht waren viele Menschen, auch wir hier, entsetzt, als diese junge Frau in Kandel von ihrem Expartner ermordet wurde. Das hat sehr viele zu Recht erschüttert. Was macht aber die AfD, auch heute hier? Sie diskutiert einzig und allein über den Täter und lamentiert über dessen Migrationshintergrund. Diese Instrumentalisierung von Frauenrechten und Frauenmorden ist wirklich das Allerletzte. ({4}) Ich finde, das machen nur rechte Hetzer. Das zeigt mir aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die AfD nicht ernsthaft an Lösungen interessiert ist. ({5}) Wir müssen hier unbedingt mehr über Freiheit und Gleichheit von Frauen sprechen, auch über Frauenmorde und Gewalt und über die gesellschaftlichen Ursachen. Darauf werde ich mich im Folgenden konzentrieren. Ich nutze diese Gelegenheit, um über diese wirklich wichtigen Fragen zu sprechen und nicht über die Verschiebungen, die die AfD uns hier unterjubeln will. ({6}) Der großen Anzahl von Frauenmorden müssen wir in unserem Parlament wirklich mehr Aufmerksamkeit schenken. ({7}) 149 Frauen wurden laut BKA 2016 von ihrem Partner oder ihrem Expartner getötet. Hinzu kommt eine weit größere Anzahl versuchter Morde. Die meisten Frauenmorde werden in Trennungsphasen verübt, in den Phasen, in denen Männer ihre Macht verlieren, in denen Frauen Unabhängigkeit wollen, in denen sie Freiheit wollen. Deswegen müssen wir über Machtverhältnisse reden. Wir müssen dabei auch über Frauenmorde reden, und zwar über alle, egal welcher Nationalität der Täter oder das Opfer war. ({8}) 40 Prozent aller Frauen in der Bundesrepublik haben schon Gewalterfahrungen gemacht, und zwar vor allem im häuslichen Bereich, also in der Familie. Wir wissen: Das Hilfesystem reicht seit Jahren nicht aus. Es muss dringend ausgebaut werden. Wir brauchen eine verlässliche bundesweite Finanzierung mit Bundesbeteiligung. Ich hoffe sehr, dass die nächste Bundesregierung sich da nicht rausreden und das auf die Länder schieben wird. ({9}) Im Wahlprogramm der AfD findet man kein Wort zu dieser Herausforderung. Die unerträgliche Doppelmoral dieses Männervereins auf der rechten Seite dieses Hauses geht noch weiter. ({10}) Freiheit und Gleichstellung von Frauen ist nämlich immer auch eine soziale Frage. Solange Frauen in der Armutsfalle stecken, sind sie nicht frei. Wir brauchen konkrete Maßnahmen, um die Armut von Frauen zu bekämpfen. Wir brauchen eine Umverteilung von oben nach unten, zum Beispiel durch eine Vermögensteuer. Doch die lehnen Sie ab. ({11}) Solange Frauen von ihren Ehemännern finanziell abhängig sind, sind sie nicht frei oder mit ihnen gleichgestellt. Wir müssen für ökonomische Unabhängigkeit kämpfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie viele Frauen werden eigentlich gezwungen, bei ihren gewalttätigen Ehemännern oder Partnern zu bleiben, weil sie es sich schlicht nicht leisten können, zu gehen, oder weil es an der nötigen Unterstützung fehlt? Was macht die AfD für diese Frauen? Nichts, rein gar nichts. Stattdessen hat sie ein Programm der Frauenfeindlichkeit. ({12}) Alleinerziehende sollen nicht vom Staat unterstützt werden; Gleichstellungspolitik, die auf eine Beseitigung der Benachteiligung zielt, soll beendet werden; körperliche und sexuelle Selbstbestimmung gelten als Untergang des Abendlandes. ({13}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Freiheit von Frauen gehört auch Folgendes: Niemand, wirklich niemand hat das Recht, Frauen vorzuschreiben, mit wem sie eine Beziehung eingehen. ({14}) Niemand hat das Recht, Frauen vorzuschreiben, was sie anziehen. Niemand hat das Recht, Frauen danach zu beurteilen, was sie tragen – ob Minirock oder Kopftuch. ({15}) Zur Freiheit und Gleichheit von Frauen gehört, dass sie sich selbst ermächtigen können, damit sie ein eigenständiges Leben führen können. Dazu gehört, ihnen eine materielle und soziale Sicherheit zu garantieren. Das ist die Grundlage für Freiheit und Gleichheit. ({16}) Im Übrigen finde ich, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht ins Strafgesetzbuch gehören. Vielen Dank. ({17})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Ulle Schauws das Wort. ({0})

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, auch mir ging es so wie meinen Vorrednerinnen, als ich den Titel dieser Aktuellen Stunde las: „Freiheit und Gleichheit von Frauen stärken – Grundgesetz statt Parallelgesellschaft“. Ich sage es einmal so: Ich werde Sie jetzt wörtlich nehmen und genau darüber reden. Lassen Sie mich vorab eine Bemerkung zu dem machen, was Sie über Kandel gesagt haben. Der Mord war kaum passiert, da sind verschiedene Menschen von der AfD nach Kandel gefahren und haben dort eine Mahnwache abgehalten. Unmittelbar nach seinem Bekanntwerden ist dieser Mord für politische Zwecke instrumentalisiert worden. ({0}) Das, muss ich ganz ehrlich sagen, muss für die Angehörigen ein Schlag ins Gesicht gewesen sein. Das ist politische Instrumentalisierung in einer Art und Weise, die ich den Angehörigen gegenüber wirklich nicht fair und geschmacklos finde. ({1}) Aber ich will über das Grundgesetz sprechen. In Artikel 3 des Grundgesetzes steht, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Sprache, Ethnizität oder Glauben. ({2}) Genau da müssen wir weiterdenken und fragen: Welcher Auftrag leitet sich für uns Abgeordnete daraus ab? Denn, meine Damen und Herren, es ist auch unsere Aufgabe, das Grundgesetz zu wahren. Wir müssen erstens die Würde, die Rechte und die Gleichheit aller Menschen schützen und zweitens auf die tatsächliche Gleichberechtigung von Frauen hinwirken. Wenn es darum geht, die Würde und die Gleichheit zu schützen, muss ich sagen: Rassistische Tweets von Abgeordneten wie zum Beispiel Herrn Maier im Hinblick auf Noah Becker, die die Menschenwürde massiv infrage stellen, sind alles andere als Schutz. ({3}) Genau solche Aussagen führen zu einer Spaltung der Gesellschaft. Das, meine Damen und Herren, befördert dann Parallelgesellschaften, und zwar rechtsextreme Parallelgesellschaften. ({4}) Unsere Aufgabe als Parlamentarierinnen und Parlamentarier ist es, alle, die in diesem Land leben, zu vertreten. Wir sind die Vertreterinnen und Vertreter des Volkes, und zwar von allen Menschen in diesem Land. Wir haben eine Verantwortung dafür, dass die Menschen in der Gesellschaft mitgenommen werden; da kann sich niemand von uns heraushalten. Das gelingt am allerbesten durch Integration, aber nicht durch Ausgrenzung. ({5}) Das Grundgesetz ist das Regelwerk, auf dem unsere Demokratie steht. Es gilt für alle Menschen, die hier leben. Der Auftrag zur Förderung der Gleichberechtigung von Frauen ist darin ein zentraler Teil. Genau darum geht es auch in dieser Aktuellen Stunde. Wir müssen all unsere parlamentarischen Initiativen dahin gehend auf den Prüfstand stellen und klären, ob sie tatsächlich zur Gleichberechtigung beitragen. Gleichberechtigung im Beruf gehört dazu ebenso wie wirksamer Schutz vor Gewalt oder Sexismus. Meine Damen und Herren, es ist für mich ein Auftrag, genau das zu prüfen, und es ist Messlatte zugleich. Wir als Politik müssen uns daran messen lassen, ob wir die Nachteile für Frauen durch die Politik, die wir machen, wirklich beseitigen. Deshalb setze ich mich und setzt sich meine Fraktion seit Jahren gemeinsam mit den Linken und anderen dafür ein, dass Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen endlich auskömmlich finanziert werden ({6}) und alle Frauen Schutz bekommen, wenn sie ihn brauchen. Frauen sind oft gerade im eigenen Zuhause von Gewalt betroffen, weil die meisten Übergriffe immer noch in der Partnerschaft, in der Verwandtschaft und im Nahfeld passieren. Da sind die Frauenhäuser oft der einzige Schutzraum. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt nach wie vor nicht genug Plätze in Frauenhäusern. Darum muss es zu einer ausreichenden Finanzierung auch unter Beteiligung des Bundes kommen. Ich hoffe, die nächste Bundesregierung wird hier den nächsten Schritt machen. ({7}) Keine Frau in Not darf mehr abgewiesen werden. ({8}) Wir Grüne sagen: Bedrohungen, sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen Frauen sind widerliche Taten. Sie müssen konsequent verfolgt und bestraft werden. ({9}) Lassen Sie mich eines klar und deutlich sagen: Wir akzeptieren es nirgendwo, wenn ein Klima der Bedrohung für Frauen entsteht. Der öffentliche Raum gehört uns allen. Sich frei und selbstbestimmt ohne Angst überall aufhalten zu können, muss unsere Prämisse bleiben. ({10}) Klar ist aber auch, dass geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen nicht neu ist. ({11}) Das ist leider die Realität, in der Frauen in Deutschland schon immer leben. Die Vergewaltigung in der Ehe – ich erinnere nur daran – ist gerade erst seit 20 Jahren strafbar. Meine Damen und Herren von der AfD, da Sie den Schutz von Frauen vor sexualisierter Gewalt auf die Tagesordnung gesetzt haben, habe ich nachgesehen, was Sie, wenn Sie überhaupt etwas zum Gewaltschutz sagen, da fordern. Dabei bin ich auf eine Aussage der Berliner Kollegin Schmidt aus der AfD-Fraktion gestoßen. Sie hat gesagt: Frauenhäuser zerstören Familien, weil sie die Familie trennen. ({12}) Diese Aussage lässt mich stark am Bewusstsein für geschlechtsspezifische Gewalt in Ihren Reihen zweifeln; denn sie bedeutet: Ob Gewalt das Leben der betroffenen Mutter zerstört, ist egal, Familie geht vor. – Wie krass ist das denn, bitte? ({13}) Ich sage zum Abschluss ganz klar: Ich vermisse Ihre konstruktiven Vorschläge für Gewaltschutz, wie ich überhaupt Vorschläge zur Stärkung von Frauen und Gleichstellungspolitik vermisse. Sie instrumentalisieren hier genau dieses Thema, diffamieren andere Gruppen und machen Ihre rassistischen Bemerkungen dazu. Wir lassen das nicht zu.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Schauws, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Selbstbestimmung von Frauen, darum geht es. Dafür werden wir uns hier weiter einsetzen. Sie können einmal darüber nachdenken, was Sie dazu beisteuern wollen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Anita Schäfer aus der CDU/CSU-Fraktion hat das Wort. ({0})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Thema dieser Aktuellen Stunde haben sich die Parteien der Unionsfraktion schon befasst, als es die AfD noch nicht gab. ({0}) – Warten Sie einmal ab. – Wir schrieben das Jahr 2000, als der damalige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz, die Debatte über die gesellschaftliche Leitkultur anstieß. ({1}) Selbstverständlich nahmen und nehmen das Grundgesetz und die Rechte von Frauen in dieser Debatte eine Schlüsselstellung ein. Für uns in der Union ist und bleibt das Thema Leitkultur aktuell. Deswegen hat der Bundesinnenminister Thomas de Maizière vor nicht einmal einem Jahr mit seinem Zehn-Punkte-Katalog wichtige Debattenbeiträge dazu geliefert. Der Minister stellt klar, dass wir ein offenes Land sind, in dem Toleranz, Freiheit und Minderheitenschutz herrschen, dass wir aber auch eine deutsche Identität haben, ({2}) eigene Traditionen, eine eigene Geschichte, eine christliche Prägung, ({3}) und dass wir erwarten, dass die Menschen, die zu uns kommen, dies auch respektieren. ({4}) Viele unserer Überzeugungen sind im Grundgesetz verankert, und was im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgeschrieben ist, also auch das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit jedes Menschen und die Gleichberechtigung von Mann und Frau, gehört zu unseren absolut unverhandelbaren Werten. Dazu steht die CDU/CSU-Fraktion unerschütterlich, und das haben wir weiß Gott mehr als einmal dezidiert klargestellt. Mehr noch: Ob Migranten den Grundsatz der Gleichstellung von Frauen und Männern akzeptieren und befolgen, ist für uns der Lackmustest gelungener Integration. Für die CDU/CSU-Fraktion gilt: Erstens. Wir treten der Entstehung von Parallelgesellschaften entschieden und wirksam entgegen, indem wir gezielt Integrationsmaßnahmen ({5}) – natürlich; das alles haben Sie jetzt doch schon gehört – ({6}) fördern und Verstöße gegen die bei uns geltenden Regeln des Zusammenlebens ahnden. Zweitens. Wir dulden in unseren Kommunen keine rechtsfreien Räume ({7}) und keine Etablierung anderer als die in unserem Land geltenden Rechte. ({8}) Drittens. Jede Frau in Deutschland hat das Recht, frei und gleichberechtigt zu leben. ({9}) Die Vollverschleierung von Frauen lehnen wir ebenso ab wie Zwangsverheiratungen und andere Praktiken, welche die körperliche oder seelische Unversehrtheit von Frauen und Mädchen gefährden. Stattdessen setzen wir uns für gleiche Bildungs- und Ausbildungschancen junger Migrantinnen ein; denn gut ausgebildete Frauen, die ihr eigenes Geld verdienen, sind selbstbewusste und wirtschaftlich unabhängige, sind freie Frauen. Zu den unverhandelbaren Werten unserer Kultur und unseres Grundgesetzes gehört aber ebenso die Pressefreiheit. Wenn in den Medien kulturell gemischte Liebespaare vorgestellt werden, muss unsere Kultur das aushalten, und sie hält das aus. Wir in der Unionsfraktion verschließen nicht die Augen vor der Wirklichkeit. Wir sehen sehr wohl, dass im Zuge des Flüchtlingszustroms junge Männer aus islamisch geprägten Kulturen auf junge deutsche Frauen treffen. Na und? ({10}) Wir können und wollen keinem Mädchen und keiner Frau verbieten, sich in einen Mann aus einem anderen Kulturkreis zu verlieben ({11}) und den Lebensweg mit ihm gemeinsam zu gehen. ({12}) – Das ist doch ein ganz anderes Thema. – Was wir aber wollen, ist, Mädchen und Frauen so stark zu machen, dass sie nicht freiwillig auf ihre Menschenrechte verzichten. Wir wollen sie so stark machen, dass sie sich, wenn sie es mit einer rosaroten Brille in guten Tagen doch tun, in schlechten Tagen immer noch an den Schutz erinnern, den ihnen unser Grundgesetz und unsere Kultur gewähren. ({13}) Hier, meine Damen und Herren, ist nicht in erster Linie der Gesetzgeber gefordert, sondern alle gesellschaftlichen Kräfte, die Mädchen und junge Frauen sozialisieren, allen voran Elternhaus, Schulen und Kindertageseinrichtungen. Freiheit und Gleichberechtigung der Frau schließen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ein. Für dieses Recht setzt sich die CDU/CSU vehement ein. Weil wir gerade dabei sind, meine Damen und Herren von der rechten Seite: Schämen Sie sich eigentlich nicht, sich heute als Hüter der Frauenrechte aufzuspielen? ({14}) Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland hatte es bis zum Bundestagswahlkampf der AfD im vorigen Jahr noch keine Partei fertiggebracht, mit dem Torso einer schwangeren Frau und dem Slogan „Neue Deutsche? Machen wir selber!“ ({15}) für sich zu werben. Frauen in Wort und Bild als Gebärmutter auf zwei Beinen darzustellen und zu politischen Zwecken zu missbrauchen, ({16}) dafür, meine sehr geehrten Damen und Herren, mussten wir in der Tat auf die Antragsteller der heutigen Aktuellen Stunde warten. ({17})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Schäfer, achten Sie bitte auf das Zeichen.

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dem ist in meinen Augen nichts hinzuzufügen. ({0}) Vielen Dank.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ansonsten hat im Moment überwiegend die Kollegin Schäfer das Wort, wenn ich darauf aufmerksam machen darf – bei aller Lebendigkeit der Debatte. ({0}) Die Kollegin Sonja Steffen hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle bedauern den Mord in Kandel sehr. Ich selber bin Mutter von drei Töchtern im Alter von 16, 17 und 23 Jahren. ({0}) Ich kann mir vorstellen, wie schrecklich das für die Familie ist. Deshalb möchte ich an dieser Stelle mein aufrichtiges Beileid aussprechen. ({1}) Aber, meine Kollegin von der AfD, wenn Sie über den Mord in Kandel reden wollen, dann bezeichnen Sie bitte Ihre Aktuelle Stunde auch entsprechend. Verstecken Sie sich nicht hinter einem anderen Titel. Instrumentalisieren Sie nicht die Frauenrechte für ein völlig anderes Anliegen. Das gehört sich nicht. ({2}) Aber ich muss gleichzeitig sagen: Wir haben auf diesem sehr schludrigen und komischen Weg die Möglichkeit gehabt, eine sehr gute Debatte zum Thema Frauenrechte zu führen. Immerhin kann man dem Ganzen etwas Gutes abgewinnen. ({3}) Dabei habe ich allerdings mit Unbehagen festgestellt, dass die AfD – Thema Parallelgesellschaft – in ihrer eigenen Partei eine Parallelgesellschaft konstruieren will, die die Freiheit und die Gleichheit der Frauen – Thema der Aktuellen Stunde – extrem beeinträchtigt. Wie hat Ihr Kollege vorhin bei der Debatte zum Klimaschutz gesagt? Wir bleiben in unserer Welt. – Ja, das merkt man auch in der Frauenpolitik. ({4}) „Freiheit und Gleichheit von Frauen stärken“ – so ein Anliegen kommt ausgerechnet von Ihrer Fraktion mit einem Anteil von zehn Frauen bei 82 Männern. ({5}) Schon in Ihrem Wahlprogramm haben Sie zum Thema Quote – ich zitiere einmal – die „Gender-Ideologie“ für verfassungsfeindlich erklärt. ({6}) Denn diese würde – ich zitiere – „die naturgegebenen Unterschiede“ zwischen Männern und Frauen infrage stellen. O-Ton Ihrer Partei: Wir lehnen daher Bestrebungen auf nationaler wie internationaler Ebene ab, diese Ideologie durch Instrumente wie Gender-Studies, Quotenregelungen … den „Equal Pay Day“ … umzusetzen. ({7}) Ich sage Ihnen einmal etwas: Es ist kein naturgegebener Unterschied zwischen Männern und Frauen, wenn Frauen in Deutschland immer noch um 22 Prozent geringere Löhne als Männer haben. ({8}) Wie gut, dass wir von der SPD in der letzten Legislatur das Lohntransparenzgesetz durchsetzen konnten. ({9}) Und noch etwas: Wir werden nicht aufhören, weiter für die Verbesserung der Löhne der Frauen zu kämpfen, und ja, der Equal Pay Day ist ein wichtiger, inzwischen bundesweit bekannter Mahntag für diesen Kampf. Es ist übrigens auch kein naturgegebener Unterschied zwischen Männern und Frauen, wenn im Jahr 2017 nicht einmal 7 Prozent der Frauen in Deutschland Führungspositionen besetzten. Wie gut, dass die SPD das Gesetz zur Frauenquote in der letzten Legislatur durchsetzen konnte. ({10}) Auch hier sage ich Ihnen: Wir werden weiter kämpfen und hoffentlich damit erfolgreich sein, die Frauenquote auch in Vorständen durchzusetzen. ({11}) Ein Recht auf Abtreibung und das geltende Recht auf Scheidung steht übrigens ebenso auf der Abschussliste Ihrer Partei wie das gerade errungene und sehr mühsam und lange umkämpfte Recht auf die Ehe für alle. ({12}) Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend möchten Sie – das hat Frau Schön bereits gesagt – in ein Bundesministerium für Familie und Bevölkerungsentwicklung umgestalten. Wenn ich – zugegeben widerwillig – Ihr Programm lese, stelle ich fest, meine Herren von der AfD, dass Sie die Frauen am liebsten als den Männern unterstellte Gebärmaschinen betrachten würden. ({13}) – Genau das lese ich in Ihrem Programm. – Sie reduzieren die Rolle der Frau auf das kindergebärende Heimchen am Herd. So hätten Sie es am liebsten. Sieht so Freiheit für die Frau aus? ({14}) Was ist mit dem Recht der Frau auf Selbstbestimmung? Was ist mit dem Recht der Frau auf freie Berufswahl, mit den Karrierewünschen, die wir Frauen haben? Was ist mit dem hart erkämpften Recht auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Was ist mit den vielen Alleinerziehenden, denen Sie die Mittel streichen wollen? Wissen Sie was? Alleinerziehende müssen arbeiten gehen, um sich und ihre Kinder zu versorgen. ({15}) Was reden Sie in Ihrem Wahlprogramm? Sie leben immer noch in der heilen Welt von Vater, Mutter, Kind. Papa geht arbeiten, Mutter ist zu Hause und versorgt das Kind und den Herd. Das ist aber nicht mehr so. Die Zeiten haben sich geändert. Aufgewacht, meine Herren! ({16}) Ja, es gibt bei uns in Deutschland Familien und Gruppen, die andere Werte leben und vermitteln, als es dem Grundgesetz entspricht. Aber man bekämpft das nicht mit Ausgrenzung, sondern indem man Integration lebt. ({17}) Genau das tun Sie nicht. Es ist Aufgabe unseres Rechtsstaates, dafür zu sorgen, dass sich jeder, der hier lebt, an das Grundgesetz hält – das ist selbstverständlich – und dass Übergriffe gegen Frauen verfolgt und bestraft werden. Aber, meine Damen und Herren von der AfD, wir Frauen brauchen Ihre Unterstützung nicht; ({18}) denn da blüht uns bestimmt nichts Gutes. ({19})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag hat der Abgeordnete Martin Reichardt aus der AfD-Fraktion das Wort. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich, dass ich gerade in dieser Frage heute als Mann hier sprechen darf. ({0}) Denn offensichtlich haben alle anderen Fraktionen sich einem strukturellen Sexismus hingegeben ({1}) und gerade in dieser wichtigen Frage nur Frauen sprechen lassen. ({2}) Auch wir Männer haben das Recht, in einer entsprechenden Frage zu reden. Daran sollten Sie sich einfach mal ein Beispiel nehmen. Denn Gleichberechtigung ist keine Einbahnstraße. ({3}) – Ja, schreien Sie ruhig. Man muss einmal die stalinistische Sonnenbrille abnehmen. Dann sieht man klarer in der Welt. ({4}) Ich beginne jetzt einfach. Wir können festhalten, dass Frau Höchst in ihrer kenntnisreichen Rede auf seit Jahren bestehende Probleme mit islamisch motivierter Gewalt gegen Frauen aufmerksam gemacht hat, und die Stimmung hier zeigt, dass wir den Finger in die Wunde gelegt haben, meine Damen und Herren. ({5}) Fast täglich erreichen uns Meldungen, dass auf den Straßen vergewaltigt, belästigt und sogar gemordet wird. Ja, und in dieser Zeit der Krise basteln linke Chefideologen auch hier im Parlament daran, geschlechterneutrale Schreibweisen durchzusetzen und einzubringen, Frauenquoten zu beschließen und weiterhin munter irgendwelche Gleichstellungsbeauftragten in ihre Ämter zu hieven. Ich sage Ihnen: Ihre linken Scheindebatten sind an der Politik und an der Lebenswirklichkeit in Deutschland lange schon vorbeigegangen, meine Damen und Herren. ({6}) Nehmen Sie einfach zur Kenntnis, dass geschlechterneutrale Schreibweise und Frauenquoten die islamisch motivierte Gewalt gegen Frauen in Deutschland weder behindert noch aufhält. ({7}) – Ja, ja, einfach mal die Brille abnehmen! Einfach ruhig bleiben, meine Damen und Herren. Die Kampfplätze, an denen heute die Frauenrechte bedroht, vergewaltigt und oft auch physisch zerstört werden, sind unsere Schulen, Parks und Fußgängerzonen. Genau dort findet das nämlich statt. ({8}) Gegen diese Bedrohung tun Sie als Pseudofeministen und Gleichstellungsideologen überhaupt nichts. ({9}) Im Gegenteil, Sie relativieren hier auch und verharmlosen die ganze Zeit in Ihren Reden. ({10}) Sie verharmlosen die Gewalttaten und die Vergewaltigungen, jawohl, und Sie beschämen damit die Opfer. Das muss hier einmal festgestellt werden. ({11}) Und Sie tun dies mit einem Ziel: Sie tun dies mit dem Ziel, die Gründe für die Rückkehr primitiver Frauenverachtung in unserer Gesellschaft nicht nennen zu müssen. ({12}) Diese Gründe liegen einfach darin, dass wir eine Massen­einwanderung aus Regionen haben, in denen Toleranz gegenüber Frauen mit Füßen getreten wird. Ihre falsche Toleranz befördert dieses noch. ({13}) Sie, meine Damen und Herren – das sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit –, machen sich mitschuldig an den Verbrechen und an der Zerstörung der Frauenrechte in Deutschland. ({14}) Aber wir als AfD-Fraktion werden es Ihnen nicht erlauben, sich aus dieser Schuld in Zukunft herauszureden. Wir werden das immer und immer wieder thematisieren. ({15}) Wir fordern Sie auf: Kehren Sie in diesen Fragen endlich auf den Boden des Grundgesetzes zurück! ({16}) – Nein, da sind Sie eben nicht. – Kehren Sie auf den Boden des Grundgesetzes zurück! Lassen Sie das deutsche Grundgesetz nicht in Parallelgesellschaften untergehen! Denn dafür ist es zu schade. ({17}) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ja, und diese Würde gilt auch für Frauen. ({18}) Wir dürfen es nicht zulassen, dass diese Würde des Menschen in Köln geschändet, vergewaltigt und in Kandel niedergestochen wird, und das werden wir auch nicht. ({19}) Wir dürfen es auch nicht zulassen, dass die Gleichberechtigung der Frau in Deutschland, die auch im Grundgesetz steht, unter Burkas und Kopftüchern verschwindet. ({20}) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Vor diesem Hintergrund fordern wir hier ganz klar, dass Ehrenmorde und islamistische Hassverbrechen in Deutschland mit voller Härte des Gesetzes bestraft werden und die entsprechenden Bestrafungen nicht mit irgendwelchen Mitteln heruntergerechnet werden. ({21}) Bedenken Sie auch die Rechte der muslimischen Frauen. Diese Rechte gelten fort. Sie gelten gerade deshalb, weil sich diese Frauen aufgrund frauenfeindlicher Sozialisation im eigenen Elternhaus ihrer Rechte oft gar nicht bewusst sind. Ich komme zum Schluss. ({22}) Ich sage Ihnen: Sie alle hier verraten die Rechte der Frauen, genauso wie einstmals die Sozialdemokratie mit der Agenda 2010 die Rechte der Arbeiter und kleinen Leute in Deutschland verraten hat. ({23}) Wir aber, die AfD, werden für die Rechte der Frauen weiter kämpfen. Wir werden Ihre falsche Toleranz als das benennen, was sie ist. Vielen Dank. ({24})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Dr. Silke Launert hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, ich gebe zu: Auch mich hat verwundert, dass die AfD eine solche Aktuelle Stunde beantragt hat. ({0}) – Wie Sie sehen, verwundert es offensichtlich jeden, wenn Sie ein Thema wie „Freiheit und Gleichheit von Frauen“ ansprechen, zumal gestern mehrfach der Ausdruck „Reproduktion“ verwendet wurde. Das war einer der Momente, in denen ich sprachlos war und mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. ({1}) Es überrascht natürlich nicht, dass Sie das Thema nicht so gemeint haben, wie Sie es beantragt haben. Vielmehr geht es um konkrete Fälle von Belästigung, Vergewaltigung und Ermordung deutscher Frauen durch Flüchtlinge. Das sollte das wahre Thema sein. Nun ist das Thema weiter gefasst, und viele haben es auch so verstanden. Wenn einem Frauenpolitik wirklich wichtig ist, dann beschränkt man das Thema, oder man spricht alle Fälle an, die damit zusammenhängen. ({2}) – Vielleicht interessiert Sie nur dieser eine Ausdruck. Generell haben wir uns in der letzten Zeit mit Belästigung und körperlicher sexueller Gewalt gegenüber Frauen intensiv befasst. In der letzten Legislaturperiode haben wir die Strafbarkeitslücken im Zusammenhang mit Vergewaltigungen geschlossen sowie die Strafbarkeit der sexuellen Belästigung und den Straftatbestand „Straftat aus Gruppen heraus“ – übrigens direkt nach den Ereignissen in Köln – eingeführt. Wir haben den rechtlichen Rahmen dafür geschaffen, dass Flüchtlinge, die Sexualstraftaten begehen, in der Regel abgeschoben werden können. Wir haben zudem den Straftatbestand der Nachstellung verschärft und – daran sieht man, wie umfassend wir das Thema verstehen – ein bundesweites Hilfetelefon eingerichtet, wo man rund um die Uhr in 17 Sprachen Hilfe bekommen kann. Wir sehen das Problem der Kinderehen in bestimmten Kulturkreisen. Wir haben uns auch damit befasst und die Kinderehe verboten. Wir von der Frauen Union sind für ein Burkaverbot. Das sind nur einige Punkte. Selbstverständlich ist das noch nicht genug. Wir dürfen nicht nachlassen. ({3}) Es ist auch nicht richtig – Frau Höchst, es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen –, dass Sie die Einzigen sind, die solche Themen ansprechen. Auch wir sprechen diese Themen an. ({4}) – Dazu kommen wir noch. Sie haben überhaupt kein konkretes Beispiel für eine Lösung genannt. Sie haben nur gehetzt. Aber egal! ({5}) – Ich möchte in meiner Rede fortfahren. Wir alle müssen uns ehrlich machen. Die in Rede stehenden Ereignisse sind schrecklich. Natürlich gibt es die Situation, dass Menschen aus einem anderen Kulturkreis zu uns kommen, in dem – das gilt nicht für alle Kulturkreise, aus denen Menschen kommen, aber es gibt welche – Frauen nicht gleichberechtigt sind und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung der Frauen nicht anerkannt wird; das kennen wir von internationalen Verhandlungen. Sicherlich ändert niemand von heute auf morgen mit der Überschreitung der deutschen Grenze seine Einstellung. Das ist eine Riesenherausforderung, der wir uns stellen müssen. Ich glaube, es ist zu einfach, das abzustreiten und so zu tun, als gäbe es das nicht. ({6}) Mit genau dieser schwierigen Situation haben wir es hier zu tun. Deshalb ist es so, dass wir nicht ohne Ende Menschen aufnehmen können. Wir stehen dafür ein, dass wir sagen: Wir müssen den Zuzug von Flüchtlingen begrenzen, damit wir Integration leben können, ({7}) damit wir helfen können, wo wir wirklich helfen wollen, damit die Frauen, die zu uns kommen und Hilfe brauchen, auch eine Chance haben. Das ist natürlich mit einem unglaublichen Aufwand verbunden; denn eine andere Kultur ändert man nicht von heute auf morgen, auch nicht, wenn Menschen aus einer anderen Kultur hier leben. Das ist eine Riesenherausforderung für uns alle. Ich kann uns allen in diesem Parlament nur raten, an der Bewältigung dieser Herausforderung mitzuarbeiten. Denn das Ziel von uns allen ist doch, glaube ich, klar. Ich nenne nur ein paar Beispiele: Wir bieten verstärkt Integrationskurse an. Das Signal nach außen: Ehemänner, die zu uns kommen, wissen von vornherein, dass sie ihre Frauen nicht nach Belieben beherrschen dürfen. Es ist wichtig, dass wir Signale dieser Art senden. ({8}) Unsere Arbeit darf aber nicht nur darin bestehen, das Signal zu senden, dass alle kommen können, ({9}) sondern auch darin, das Signal zu senden: Wir haben ein anderes Frauenbild. ({10}) – Wir versuchen, in der Debatte Signale zu senden. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Im Moment haben wir hier das Format Aktuelle Stunde. Dazu gehört, dass ich weder Fragen noch Bemerkungen zulassen kann.

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben in den Sondierungsgesprächen mit der SPD versucht, darauf hinzuwirken, die Polizei nochmals massiv zu stärken, die Möglichkeit der DNA-Analyse auszuweiten, ein Aktionsprogramm zur Prävention und zur Unterstützung für von Gewalt betroffene Frauen aufzulegen, ein Investitions- und Sanierungsprogramm zu entwickeln, um den bedarfsgerechten Ausbau und die adäquate finanzielle Absicherung der Arbeit von Frauenhäusern und ambulanten Hilfs- und Betreuungsmaßnahmen zu ermöglichen. Es ist nicht einfach: Jede Frau, egal woher sie kommt – übrigens auch die Flüchtlingsfrauen –, egal welchen Glauben sie hat, soll in unserem Land Schutz erhalten. Wir haben alle eine Schutzpflicht. Sie zu gewähren, ist in dieser Situation nicht einfach. Aber ich kann nur eins sagen: Wir alle müssen das erkennen und zusammenarbeiten. Darum möchte ich Sie bitten – für die Frauen. Denn Hetze und Stimmungsmache führen zu Angst, zu Aggression, zu Hass, zu Konflikten und im schlimmsten Falle irgendwann zu kriegerischen Auseinandersetzungen. ({0}) Wenn ich eins weiß, dann ist es, dass die schlimmsten Opfer in kriegerischen Auseinandersetzungen Frauen sind.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Launert.

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der letzte Satz. – Wem Frauenpolitik wirklich wichtig ist, der sollte auch das Letztere bedenken. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Lars Castellucci hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem einige Kolleginnen und Kollegen sich gewundert haben, dass die AfD hier eine Aktuelle Stunde zum Thema Parallelgesellschaften beantragt hat, will ich sagen, dass ich das eigentlich ganz schlüssig fand; denn man beantragt immer gern Aktuelle Stunden zu Themen, bei denen man sich besonders gut auskennt. Ich glaube, es ist schon der Fall, dass Sie von der AfD sich bei diesem Thema gut auskennen; denn Sie sind ja selber eine Parallelgesellschaft. ({0}) Vielleicht ist es insgesamt eine Gefährdung in unserer Zeit, dass wir alle ein bisschen aneinander vorbeilaufen; das will ich jetzt nicht weiter ausführen. Aber ich will Ihnen noch eins sagen: Ich glaube, so wie Sie hier auftreten, bekämpfen Sie gar keine Parallelgesellschaften, sondern Sie schaffen erst Parallelgesellschaften. ({1}) Ich habe es einfach einmal anhand meiner eigenen Biografie nachvollzogen. Als ich in der Schule war, hatte ich Mitschülerinnen oder Mitschüler, die vielleicht einen komischen Namen hatten, den keiner aussprechen konnte; das kannte ich ja. Aber vielleicht sahen sie noch ein bisschen fremdländischer aus; vielleicht hatten sie auch ein bisschen Temperament, was ein solcher Name versprechen könnte. Diese Mitschülerinnen und Mitschüler waren immer die Ausländer. Sie wurden ihr Leben lang danach gefragt, woher sie eigentlich kommen, obwohl sie genau daher kamen, woher auch alle anderen gekommen sind. Später haben sie vielleicht eine Wohnung gesucht und haben festgestellt, dass es mit einem komischen Namen und vielleicht einer anderen Hautfarbe viel schwieriger ist, in diesem Land eine Wohnung zu finden; vielleicht ist es auch schwieriger, einen Arbeitsplatz zu finden. Wir haben dafür ja Belege. Wenn wir so mit den Menschen umgehen, dann schaffen wir Parallelgesellschaften, statt sie zu bekämpfen. Wenn Sie, so wie Sie es hier einer nach dem anderen in Ihren unsäglichen Reden gemacht haben, Menschen und Gruppen pauschal verurteilen und für Dinge, die in diesem Land passieren, verantwortlich machen, dann stärken Sie die Parallelgesellschaften, die Sie mit diesem Titel vorgeben bekämpfen zu wollen. ({2}) Wir brauchen das Gegenteil von Parallelgesellschaften. Was ist das denn? Zusammenhalt ist das Gegenteil einer Parallelgesellschaft. ({3}) An dieser Stelle wende ich mich an die Kolleginnen und Kollegen von der Union, da wir ja vielleicht in Koalitionsverhandlungen eintreten. ({4}) – Schauen wir mal. – Ich möchte Ihnen einen Wunsch mitgeben. ({5}) Wenn dieser Koalitionsvertrag kommen sollte, dann wäre es gut, wenn wir die nächsten vier Jahre ein Programm hätten, nämlich den Zusammenhalt in unserem Land zu stärken ({6}) und mehr Gerechtigkeit in unserem Land durchzusetzen. Ich nenne noch eine schönere Idee: dass wir versuchen, dieses Land, Deutschland, das bunter und vielfältiger wird – ja, Probleme sind damit auch verbunden, und es ist auch manchmal anstrengend –, zu einem Modell für ein gutes Zusammenleben zu machen, und dass wir miteinander klären, was eigentlich die Probleme sind. ({7}) Ich kann mir vorstellen, dass jemand, der in einem Wohngebiet lebt, in dem sich alles um ihn oder sie herum verändert, problematische Erfahrungen machen kann. ({8}) Aber wo beginnt es zu einem Problem zu werden? Wenn wir nach New York oder San Francisco gehen, dann bestaunen wir Chinatown; das ist ein Tourismusmagnet. ({9}) Vielleicht könnte man es auch als eine Parallelgesellschaft bezeichnen. Wo beginnen die Probleme? Als Deutsche ausgewandert sind – vielleicht waren sogar ein paar Vorfahren von Ihnen dabei –, sind sie selbstverständlich in Gegenden gezogen, wo auch andere Deutsche gelebt haben. Wenn Sie in Amerika unterwegs sind, dann kommen Sie manchmal an Schildern mit der Aufschrift „Grüß Gott“ vorbei. Das erinnert daran. Sie sind dort solidarisch miteinander gewesen. Sie haben sich in der Fremde gestützt. Solange das nicht gegen andere gerichtet ist und solange man sich an die Spielregeln in dem Land, in dem man ist, hält, sind solche Gesellschaften eine gute Sache und nichts, das wir als Problem darstellen müssten. ({10}) Aber selbstverständlich gibt es auch Probleme, und es gibt Leute, die drohen abzudriften. ({11}) Deswegen ist für uns, auch wenn wir in diese Verhandlungen gehen, klar: Wir brauchen einen starken Staat, der sicherstellt, dass die Spielregeln, die wir uns in diesem Land gegeben haben, für alle Menschen gelten, und der deren Einhaltung auch durchsetzt. Dort, wo wir sehen, dass Menschen abdriften könnten, brauchen wir starke Präventionsprogramme. Damit haben wir in der letzten Legislaturperiode nicht erst begonnen, sondern wir haben die entsprechenden Programme weiter verstetigt. Wir brauchen in diesem Land – dafür werbe ich – ein neues Aufeinanderzugehen und eine gewisse Neugier, wenn wir Parallelgesellschaften verhindern und den Zusammenhalt untereinander hinkriegen wollen. Wir dürfen die Menschen nicht stigmatisieren. Ich würde Ihre Wählerinnen und Wähler zum Beispiel nie als Rechte bezeichnen. ({12}) Sie sind mit uns unzufrieden; aber Ihnen glauben sie ja auch nicht, dass Sie irgendetwas besser machen können. Deswegen sage ich nicht, diese Gruppe sei rechts. Letzte Bemerkung: In einer Aktuellen Stunde sind keine Zwischenfragen erlaubt. Vielleicht hat das irgendwann auch der Letzte bei Ihnen begriffen. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Marian Wendt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wahlkampfzeit auf den Märkten scheint für die AfD immer noch nicht vorbei zu sein. Zum zweiten Mal heute stilisiert sie, die selbsternannte Heimatpartei, sich als vermeintliche Retterin des Abendlandes, indem sie die Sorgen der Menschen missbraucht und für einen gesellschaftlichen Zusammenhalt wirbt. Aber ich sage Ihnen: Sie sind der Spalter dieser Gesellschaft. Das haben wir nicht nur heute in der Debatte erlebt, sondern vor allen Dingen auch auf den Marktplätzen unseres Landes. Mit Ihrer Polemik und Ihren Worten bringen Sie die Menschen auseinander. Das lassen wir nicht zu. Dagegen werden wir auch im Bundestag weiter kämpfen. ({0}) Nun zur Sache selbst. Parallelgesellschaften sind natürlich ein gravierendes Problem. Sie gefährden die freiheitliche demokratische Ordnung und die Grundlagen unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die neue Studie von Christian Pfeiffer, ehemals Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, belegt einen Zuwachs der Zuwandererkriminalität. ({1}) Auch das BKA-Lagebild, welches wir seit Jahren bekommen, bestätigt dies. Zu Recht steht der Kinderkanal aus meiner Sicht wegen einer Sendung über eine deutsch-syrische Jugendbeziehung in der Kritik. ({2}) Diese Sendung sowie der traurige Vorfall in Kandel zeigen de facto, dass ein Ehrenmordgedanke in diesem Bereich herrscht, der ein offenbar überkommenes und archaisches Frauenbild vieler Migranten aus vorwiegend muslimischen Ländern bestätigt. Diese Problematik haben alle Vorredner erwähnt, und darum müssen wir uns auch kümmern. ({3}) Wie reagiert nun unsere freiheitliche Gesellschaft auf dieses überkommene und archaische Frauenbild vieler Migranten? Die Antwort kann nicht pauschal Abschottung, Verbot und Restriktion sein. Unser rechtsstaatliches Rezept in Deutschland, das sich bewährt hat, ist nämlich eine gute Mischung aus Chancengleichheit, Bildung, Aufklärung und nötigenfalls natürlich Sanktionen. Da sehe ich auch unsere beiden etablierten Kirchen als gesellschaftliche Akteure ganz klar in der Verantwortung. Nicht ein starker Islam bereitet mir in erster Linie Sorge, sondern ein schwaches Christentum mit leeren Kirchen, das der Beliebigkeit in den Inhalten verfällt. Unsere eigene christlich-jüdische Identität muss stark bleiben, und dafür müssen wir zunächst alle gemeinsam selber sorgen; denn nur wenn wir eine eigene starke Identität haben, können wir selbstbewusst gegenüber Muslimen auftreten. ({4}) Zu unserer Kultur gehört, das Positive herauszustellen. Es gibt genügend Beispiele gelungener Integration von Menschen aus anderen Kulturkreisen. Die Bereitschaft, zu arbeiten, für den eigenen Unterhalt aufzukommen, sich einzubringen und unsere Gesellschaft mitzugestalten, das sind aus meiner Sicht wesentliche Elemente davon. Diese Menschen, Muslime und Nichtmuslime, verdienen ganz klar unseren Respekt und unsere Anerkennung. Nichtsdestotrotz – das waren die Erfolge; jetzt kommt natürlich die andere Seite – erwarte ich vom Islam in Deutschland, dass er aus eigener Kraft salafistische Strömungen als solche entlarvt. ({5}) Radikalisierung findet häufig in Moscheen statt, und dort muss sie entschieden unterbunden werden. ({6}) Islamverbände müssen extremistischen und frauenfeindlichen Tendenzen eine klare Absage erteilen. Leider nehme ich solche öffentlichen Äußerungen bisher eher selten wahr. ({7}) Und natürlich: Multikulti ist gescheitert. ({8}) Nicht Multikulti und Parallelgesellschaften; es gilt, das Zusammenleben nach den Werten des Grundgesetzes zu gestalten; keine Parallelgesellschaft, in welcher Form auch immer. Für uns gibt es nur die Gesellschaft des Grundgesetzes. ({9}) Für uns als Union ist das christliche Menschenbild eine Richtschnur. Gleichberechtigung von Mann und Frau ist hier ein zentraler Bestandteil. Im Staat des Grundgesetzes erwarten wir zu Recht von jeder Frau und von jedem Mann, Gesicht zu zeigen und sich bei der Begrüßung die Hand zu reichen. Wir streben eine Gesellschaft an, in der die individuelle Freiheit des Einzelnen gelebt wird, aber auch eine Gesellschaft, in der alle Menschen, die hier leben, nicht nur Rechte, sondern vor allem auch Pflichten im Interesse unseres Gemeinwohls haben. Ich möchte eine Gesellschaft, in welcher der Staat seiner Pflicht, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen, nachkommt und in welcher die Bürger sich gleichzeitig für diesen Staat engagieren. Solch ein Land ist keine Einbahnstraße, sondern da ist ein gegenseitiges Nehmen und Geben. ({10}) Es darf keine rechtsfreien Zonen in Deutschland geben. Es darf für uns nur das Grundgesetz herrschen. Dies regelt bei uns die Ordnung – und nicht die Scharia. ({11}) Meine Damen und Herren, zum Schluss der Debatte noch einmal ganz klar: Parallelgesellschaften darf und wird es mit uns nicht geben. ({12}) Wir sorgen dafür, dass das Grundgesetz eingehalten wird, notwendigerweise auch mit allen Mitteln, die der Rechtsstaat zur Verfügung stellt. ({13}) Dafür stehen wir als Union auch in Zukunft. Vielen Dank. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Dr. Stephan Harbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004049, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lukasz Urban, Dorit Krebs, Sebastian Berlin, Angelika Klösters, Dalia Elyakim, Anna Bagratuni, Georgiy Bagratuni, Peter Völker, Fabrizia Di Lorenzo, Klaus Jacob, Christoph Herrlich, Nada Cizmár – das sind die Namen der sechs Frauen und sechs Männer, die vor rund einem Jahr, am 19. Dezember 2016, bei einem der schrecklichsten Terroranschläge in der Geschichte unseres Landes ihr Leben verloren. Dutzende Menschen wurden bei diesem Anschlag zum Teil sehr schwer verletzt. Viele von ihnen und viele Angehörige kämpfen noch heute darum, einen Weg zurück in ihr Leben zu finden. Den Familien der Toten, den Hinterbliebenen und Verletzten des Anschlags möchte ich – und ich gehe davon aus, dies geschieht im Namen des gesamten Hauses – unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme aussprechen. ({0}) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zwischen allen Fraktionen besteht Konsens, dass es auch gegenüber den Toten die Verpflichtung des Deutschen Bundestages ist, die Vorgeschichte des Anschlags umfassend und ohne jede falsche Rücksicht aufzuklären. Unser Fraktionsvorsitzender Volker Kauder hat deshalb schon früh, nämlich im Januar 2017, die Bereitschaft der CDU/CSU erklärt, einen Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag einzusetzen. Er wäre im vergangenen Frühjahr auch eingesetzt worden, wenn wir damals nicht kurz vor dem Ende der Legislaturperiode gestanden hätten. Die Arbeit der Untersuchungsausschüsse des Landtags von Nordrhein-Westfalen, des Berliner Abgeordnetenhauses sowie der Taskforce des Parlamentarischen Kontrollgremiums und des Innenausschusses des Bundestages haben in den letzten Monaten deutlich gemacht, dass ganz eklatante Fehler gemacht wurden. Es entstand das Bild eines Mannes, der sich mit diversen Identitäten nahezu ungehindert durch Deutschland bewegen konnte, dem 13 Straftaten – darunter auch Drogenhandel in einem ganz erheblichen Umfang – zugeschrieben wurden, ohne dass es zu einer Inhaftierung kam, eines Mannes, der bereits radikalisiert nach Deutschland einreiste, früh als extrem gefährlich identifiziert wurde, letztlich aber abtauchen und unbemerkt einen Anschlag vorbereiten und zum Attentäter werden konnte. In anderen, ähnlich gelagerten Fällen haben unsere Sicherheitsbehörden – und dafür sind wir ihnen zu großem Dank verpflichtet – herausragende Arbeit geleistet und Terroranschläge verhindern können; doch der Anschlag am Breitscheidplatz ist auch für unsere Sicherheitsbehörden eine Niederlage. Und angesichts der Vielzahl der beteiligten Behörden muss man sagen: Es ist eine Niederlage für unseren Staat, die auch ein Teilversagen unserer Sicherheitsarchitektur aufdeckt. So etwas darf sich nicht wiederholen. Mit der Aufklärung müssen wir zugleich eine Antwort auf die Frage geben: Welche Lehren sind für Befugnisse, Organisation und Kooperation der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden von Bund und Ländern einerseits und der für den Vollzug des Asyl- und Ausländerrechts zuständigen Behörden andererseits zu ziehen? Dabei entbindet uns die Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses nicht von der Verpflichtung, schon in den nächsten Monaten die Aufgaben anzugehen, die nach heutigem Erkenntnisstand offen zutage liegen. Die Aufklärung des Anschlages ist nicht abgeschlossen. Doch sie steht auch nicht länger an ihrem Anfang. Erste exekutive und legislative Maßnahmen haben wir bereits ergriffen. Unser Innenminister Thomas de Maizière hat in einem weithin beachteten Beitrag zu Beginn des vergangenen Jahres Schlussfolgerungen gezogen. Weitere Maßnahmen sind zwischen CDU/CSU und SPD in den Sondierungsgesprächen vereinbart worden. Unser Untersuchungsauftrag bleibt eher knapp. Wir verzichten auf eine Vielzahl von Detailfragen, weil die Erfahrung mit Untersuchungsausschüssen zeigt: Zu detaillierte Einzelfragen erweisen sich meist eher als Hemmschuh, als dass sie die Aufklärung fördern. Zwölf Menschen haben durch die Terrortat am Breitscheidplatz ihr Leben verloren, Dutzende wurden teils lebensbedrohlich verletzt. Meine Fraktion ist entschlossen, so weit wie möglich an das Vorbild der beiden NSU-Untersuchungsausschüsse anzuknüpfen und die Arbeit in diesem Untersuchungsausschuss in diesem Geist zu gestalten. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Fritz Felgentreu hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Fritz Felgentreu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004272, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der 11. September 2001, die Anschläge von Madrid und London und das Attentat auf eine Gruppe deutscher Touristen auf Djerba in Tunesien im April 2002 haben sicherheitspolitisch ein neues Zeitalter eingeleitet. Seitdem stehen alle westlichen Demokratien im Fokus des islamistischen Terrorismus. Eine Zeit lang konnte es so scheinen, als ob wir in Deutschland von einem Anschlag verschont bleiben würden. Aber die Gefahr schwebte über uns, während die Sicherheitsbehörden ihre Schutzvorkehrungen überall systematisch verstärkten. So kam es – all diesen Maßnahmen zum Trotz – seit dem Herbst 2015 zu einer Serie von Anschlägen in Europa, die 2016 auch uns erreichte. Am 19. Dezember 2016 traf auch uns der Terror hier in Berlin mit ungeheurer Brutalität. Zwölf Menschen – Dr. Harbarth hat eben an sie erinnert –, Einheimische und Gäste dieser großartigen Stadt, sind ermordet worden. 60 Menschen wurden verletzt, Hunderte traumatisiert. Für viele liegt seitdem ein Schatten über der Freude an winterlichen Weihnachtsmärkten. Das Krisenmanagement, aber auch Ermittlungsfehler und Irrtümer nach dem Anschlag sowie der Umgang mit Opfern und Angehörigen haben gezeigt: Wir waren längst nicht so gut auf den schlimmsten Fall vorbereitet, wie es notwendig gewesen wäre. Der Regierende Bürgermeister von Berlin hat im Dezember bei einer Gedenkveranstaltung im Abgeordnetenhaus dazu angemessene Worte gefunden. Stück für Stück mussten wir eine erschreckende Chronik von Fehlern und Versäumnissen der Sicherheitsbehörden in den Monaten vor dem Anschlag zur Kenntnis nehmen. In den Medien wird sogar spekuliert, ob es sich dabei um unglückliche Zufälle oder um die Vertuschung geheimdienstlicher Aktivitäten handelt. Warum halten wir jetzt, über ein Jahr später, einen Untersuchungsausschuss im Bundestag für erforderlich? Am Tag nach dem Anschlag versprachen die Bundeskanzlerin und der Innenminister eine rückhaltlose Aufklärung des Falles. Aber noch immer bleiben viele Fragen offen. Bisher sind wahrscheinlich noch nicht einmal alle relevanten Vorgänge bekannt. Welche Überlegungen der Sicherheitsorgane haben zu welchen Entscheidungen geführt? Wer war dafür verantwortlich? Es gab Fehler bei Landesbehörden, aber offenbar auch zu wenig Austausch, zu wenig Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern. Ein Untersuchungsausschuss dieses Hauses zum Anschlag vom Breitscheidplatz muss der Frage nachgehen, ob es sich dabei um eine Kette von individuellen Fehlern handelt oder um Mängel in der Sicherheitsarchitektur der Republik. Das ist unsere ureigene Aufgabe. Im Landtag von Nordrhein-Westfalen und im Berliner Abgeordnetenhaus gehen bereits zwei Untersuchungsausschüsse diesen und verwandten Fragen nach. Erste Berichte liegen vor. Deren Erkenntnisse wollen wir berücksichtigen. Wir werden eng mit den Kollegen in Düsseldorf und in der Niederkirchnerstraße zusammenarbeiten. Im Mittelpunkt müssen für uns hier im Bundestag kritische Fragen zum Zusammenwirken von Bund und Ländern stehen. Eine besondere Rolle spielt dabei das 2004 eingerichtete Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum. Haben dort ein substanzieller Informationsaustausch und eine wirksame Gefährdungsanalyse stattgefunden? Ergab sich daraus die Anweisung zu konsequentem Handeln? Wenn nicht: Warum nicht? Welche Rolle spielten Bundesbehörden beim Vorgehen gegen den Täter, insbesondere der Generalbundesanwalt, das Bundesamt für Verfassungsschutz und der BND? Welche Rolle spielten sie bei der Kooperation mit ausländischen Geheimdiensten in Nordafrika und darüber hinaus? War Amri ein Einzeltäter oder Teil eines Netzwerks? Er war als Gefährder eingestuft. Sein Telefon wurde abgehört. Hat man ihn dennoch unbehelligt durchs Land reisen lassen, weil man sich von ihm Informationen über die Strukturen und Drahtzieher im Hintergrund versprach? Die Terrorgefahr, meine Damen und Herren, wird ein Teil unseres Lebens bleiben. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben des Staates, die Bevölkerung so wirksam wie möglich davor zu schützen. Unser Untersuchungsausschuss wird dann einen echten Beitrag dazu leisten, wenn wir Lücken und Schwachstellen finden, durch die der Mörder vom Breitscheidplatz schlüpfen konnte. So schaffen wir die Grundlage dafür, dass Parlament und Regierung für mehr Sicherheit sorgen können. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich setze dabei auf konzen­trierte und konstruktive Zusammenarbeit. Die SPD-Fraktion ist dazu bereit. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die AfD-Fraktion hat die Abgeordnete Beatrix von Storch das Wort. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Anschlag von Anis Amri am Breitscheidplatz war eine nationale Tragödie. Wir haben es schon mehrfach gehört: 12 Tote, 67 zum Teil schwer Verletzte, das sind die kalten Zahlen. Der islamistische Terrorist hat sich gezielt ein christliches Fest ausgesucht, um unschuldige Menschen zu ermorden, und es hat sich gezeigt: Ein Teil der islamischen Welt hat uns den Krieg erklärt. Wir schätzen, dass sich weitere 700 Gefährder der Kategorie Amri in Deutschland aufhalten – 700 tickende Zeitbomben mitten unter uns. ({0}) Aber der Anschlag ist nicht nur eine Tragödie, sondern auch ein politischer Skandal. Er steht für einen Offenbarungseid in der Flüchtlings- und Asylpolitik, der eine wirklich große Frage aufwirft: Was muss man eigentlich tun, um aus Deutschland abgeschoben zu werden? Es genügt nicht, illegal einzureisen oder sich 14 falsche Identitäten zuzulegen. Es genügt nicht, in Drogenhandel verwickelt zu sein oder andere Delikte – auch gewaltsam – zu begehen. Das reicht alles nicht. Und es reicht auch nicht, in islamistischen Kreisen zu verkehren und mehr oder weniger offen Anschläge anzukündigen. All das reicht nicht. Das komplette Versagen der deutschen Asyl- und Flüchtlingspolitik ist so offensichtlich und das Ausmaß des Skandals ist so groß, dass die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses keiner besonderen Begründung bedarf. Auch die Erkenntnisse der Untersuchungsausschüsse in Berlin und Nordrhein-Westfalen haben das schon gezeigt. Wir haben bereits im Vorfeld unsere Bereitschaft zu einem gemeinsamen Antrag erklärt. Dieser ist nicht an uns gescheitert. Wir sehen in den vorliegenden Anträgen eine breite gemeinsame Basis und eine Übereinstimmung in den meisten Punkten. Der AfD sind vier Punkte wichtig, bei denen wir noch Änderungen einbringen wollen. Erstens. Die Zahl der Ausschussmitglieder möchten wir gerne auf 18 erhöhen, sodass kleine Fraktionen wie die drittgrößte Fraktion auch mehr als einen Abgeordneten stellen können. Wir denken, dass die Arbeit dann besser geleistet werden kann. ({1}) Zweitens. Wir wollen den Beginn des Untersuchungszeitraums auf die Einreise Amris in den Schengen-Raum legen; denn der Anschlag am Breitscheidplatz ist nicht isoliert zu betrachten. Er steht im Zusammenhang mit der Krise des europäischen Asylsystems, an der die Bundesregierung mit ihrer Politik wesentlich beteiligt ist. Die Aufarbeitung der Vorgeschichte ist deswegen besonders wichtig und dringend erforderlich. ({2}) Drittens. Wir wollen das Ende des Untersuchungszeitraumes auf den Zeitpunkt der Einsetzung des Untersuchungsausschusses festsetzen und die Untersuchung nicht schon mit dem Tod Amris enden lassen. Es gibt keinen Grund, die Arbeit des Untersuchungsausschusses einzuschränken. Die Netzwerke, in denen Amri tätig war, sind weiter aktiv, und die Fehler der Behörden haben sich über den Tod von Amri hinaus fortgesetzt. Auch das gehört aufgeklärt. ({3}) Der Fokus sollte nicht auf den Fehlern untergeordneter Stellen oder Fehlurteilen einzelner Beamter liegen, worauf sich insbesondere der Sonderermittler in Berlin so sehr fokussiert hat. In Anbetracht der Überforderung von Polizei und Sicherheitsdiensten in dem Asylchaos von 2015 bis 2017 ist es ja fast nicht überraschend, dass es dazu kam. Viertens. Der Untersuchungsausschuss muss die entscheidende Frage stellen: Wer trägt die politische Gesamtverantwortung für das Desaster? ({4}) Wir begrüßen sehr die Bereitschaft aller Parteien, den Untersuchungsausschuss einzusetzen. Wir sehen das als einen notwendigen Teil der Gesamtaufklärung an, der vollständigen Aufarbeitung eines der größten Skandale der bundesrepublikanischen Geschichte. Der Anschlag war das Ergebnis eines breiten Versagens des gesamten politischen Systems, insbesondere aber auch oberer Entscheidungsträger, und nicht nur der nachgeordneten Beamten. ({5}) Entscheidend wird sein – darauf kommt es dann an –, welche Konsequenzen wir aus der Aufklärung ziehen. Schon jetzt können wir sagen: Wir werden die Probleme nicht lösen, indem wir die Mittel für Integrationskurse aufstocken, die Familien nachholen, die Weihnachtsmärkte zupollern oder 20 000 Polizisten für 700 Gefährder 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche abstellen, bis es zu spät ist. Wir müssen klären, warum Amri nicht abgeschoben worden ist, und dann müssen wir diesen Fehler im System abstellen. ({6}) Jeder, der auch nur halb so gefährlich ist wie Amri, muss auf dem schnellsten Wege raus aus diesem Land. Das Leben der Bürger dieses Landes steht weit über dem Aufenthaltsrecht von Terroristen. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stephan Thomae für die FDP-Fraktion. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Mit der Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses übt das Parlament ein Königsrecht aus. Es nimmt ein wichtiges Recht wahr. Das schulden wir den Opfern und Angehörigen des Anschlages vom 19. Dezember 2016. Aus Respekt vor den Opfern ist es unsere Aufgabe, gründlich und rückhaltlos zu untersuchen und aufzuklären, was zu diesem Anschlag führen konnte, welche Fehler gemacht worden sind, die diesen Anschlag möglich gemacht haben. Es ist aber auch eine wichtige Aufgabe des Staates, sich zu überlegen, welche Fehler, welche Schwächen in den Sicherheitsstrukturen des Landes liegen, die dazu geführt haben, dass ein solcher Anschlag möglich geworden ist. Was ist unter Umständen zu tun, damit solche Fehler künftig vermieden werden und ein solcher Anschlag in dieser Form nicht mehr möglich ist? Es gab Vorberatungen aller Fraktionen des Deutschen Bundestages, die sich Gedanken gemacht haben, welchen Untersuchungsauftrag ein solcher Untersuchungsausschuss haben soll und welche einzelnen Punkte zu untersuchen sind. Es waren konstruktive Gespräche, intensive Verhandlungen, die am Ende nicht ganz dazu geführt haben, dass man sich auf alle Punkte einigen konnte. Ich will kurz herausarbeiten, welche Punkte uns als Freie Demokraten wichtig sind, die in den Anträgen anderer Fraktionen in dieser Form nicht so erscheinen. Der erste Punkt ist das Thema „Untersuchungszeitraum“. Wir wollen nicht die Lebensgeschichte des Attentäters schreiben. Wir wollen die Strukturen in der salafistischen Szene und die Situation in den Sicherheitsbehörden untersuchen, die dazu geführt haben, dass ein solcher Anschlag möglich gewesen ist. Wir wollen auch untersuchen: Gibt es eine Fehlerkultur, die zu einer Fehlerkorrektur der Sicherheitsbehörden führen kann? Deswegen müssen wir auch den Zeitraum nach dem Anschlag und nach dem Tod des Attentäters genauer untersuchen und uns mit dem Gedanken befassen, ob wir bei den Sicherheitsbehörden ein lernendes oder ein vertuschendes System haben. ({0}) Ein zweiter Punkt ist, dass wir auch das Umfeld des Attentäters genauer und gründlicher ausleuchten müssen. ({1}) Der Attentäter hatte auch Kontakt zur Islamisten- und Salafistenszene, unter anderem zu einem mittlerweile in Haft befindlichen Hassprediger, Abu Walaa, der auch andere Männer für den Krieg des IS im Ausland rekrutiert hat. Auch der Attentäter, der im letzten Jahr einen Anschlag auf einen Karlsruher Weihnachtsmarkt plante, soll in Kontakt zu Abu Walaa gestanden haben. Deswegen müssen wir die gesamte Salafisten- und Islamistenszene genauer in das Blickfeld nehmen. Es muss auch eine Aufgabe des Untersuchungsausschusses sein, sich Gedanken zu machen, inwieweit wir uns dieser Szene besser nähern können. ({2}) Ein dritter Punkt ist, dass wir auch die Zusammenarbeit unserer Nachrichtendienste mit den ausländischen Diensten und die Verwendung und Bewertung ihrer Erkenntnisse und Nachrichten, die an uns geliefert worden sind, genauer in den Blick nehmen. Ist man wirklich allen Hinweisen hinreichend genau und gründlich nachgegangen? Hat man bei der Bewertung vielleicht geschludert, war nicht gründlich genug? Hat man den Attentäter vielleicht sogar als Nachrichtenübermittler verwendet und deswegen möglicherweise davon abgesehen, zur rechten Zeit Maßnahmen gegen ihn zu ergreifen? ({3}) All das sind Punkte, die einer genauen Untersuchung bedürfen. All dessen sollte sich der Untersuchungsausschuss annehmen. Deswegen werden wir die Verhandlungen über einen gemeinsamen Antrag im Geschäftsordnungsausschuss fortsetzen und bitten darum, unseren Antrag an den GO-Ausschuss zu überweisen, damit dort die Verhandlungen über einen möglichen gemeinsamen Antrag fortgesetzt werden können. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat die Abgeordnete Martina Renner das Wort. ({0})

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Kein Untersuchungsausschuss kann die zwölf Toten, die dem dschihadistischen Terroranschlag am Breitscheidplatz zum Opfer gefallen sind, wieder zum Leben erwecken. Kein Untersuchungsausschuss kann die Verletzten heilen, den Hinterbliebenen Trost spenden. Aber der von uns beantragte Untersuchungsausschuss muss die zentrale Frage beantworten, die sowohl die unmittelbar betroffenen Familien als auch die Öffentlichkeit stellen: Hätte dieser dschihadistische Terroranschlag verhindert werden können, wenn Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste im Vorfeld andere Maßnahmen ergriffen hätten? ({0}) Man kann es – und vielleicht muss man es auch – noch härter formulieren: Wurde der Anschlag unter Umständen deshalb nicht verhindert, weil sowohl Strafverfolgungsbehörden als auch Geheimdienste ein V‑Leute-System in der dschihadistischen Bewegung aufgebaut haben, ein System, das, wie schon bei der militanten Neonazibewegung, weniger ein effektives Frühwarnsystem darstellt, sondern allzu oft einen Brandstiftereffekt hat? Und Sie können mir glauben: Ich weiß, wovon ich spreche. ({1}) Ebenso müssen wir der Frage nachgehen, welche Maßnahmen die deutschen Behörden auch in Zusammenarbeit mit den ausländischen Partnern gegen das mutmaßliche Unterstützerumfeld des Attentäters nach dem Anschlag ergriffen haben. Die Öffentlichkeit hat ein berechtigtes Interesse, zu erfahren: Wie steht es um die Analysefähigkeit deutscher Behörden in Bezug auf dschihadistische Netzwerke? Uns bewegt aber auch noch eine weitere Frage: Ist nach dem Anschlag alles – aber auch wirklich alles – getan worden, um den Opfern und Hinterbliebenen gerecht zu werden? Hier geht es nicht nur, aber auch um materielle Unterstützung und darum, ob die derzeitigen gesetzlichen Regelungen zur Opferentschädigung ausreichen. Deshalb schlagen wir als Linksfraktion vor, dass die Obleute des Untersuchungsausschusses direkt nach der Konstituierung den Opferbeauftragten, die Hinterbliebenen und die Verletzten des Anschlages sowie gegebenenfalls von ihnen benannte Interessenvertreter zum Gespräch einladen. ({2}) Wir wollen keinen Untersuchungsausschuss, der auf billige Showeffekte und Instrumentalisierung der Opfer und Hinterbliebenen zielt und eigentlich nur weitere Munition für das Sperrfeuer der Rassisten und organisierten Neonazis gegen eine humanitäre Flüchtlingspolitik liefert. Das Problem des dschihadistischen Terrors – so viel können wir heute schon sagen – ist kein Problem der Flüchtlingspolitik. ({3}) Das Anliegen der Linken bei diesem Untersuchungsausschuss – das können Sie unserem Antrag sehr klar entnehmen – ist eine umfassende und effektive Aufklärung von Behördenmaßnahmen. Dazu gehört, dass wir – anders als die Union und die SPD – einen Untersuchungszeitraum wollen, der mit der Einreise des Attentäters in den Schengen-Raum beginnt und nicht mit dessen Tod endet. Der Ausschuss soll die Maßnahmen gegen das Unterstützerumfeld nach dem Tod Amris unbedingt prüfen. Da gehe ich mit meinem Vorredner vollkommen d’accord. ({4}) Schließlich sage ich – das ist nicht unwichtig –: Dieser Untersuchungsausschuss ist kein Selbstzweck, sondern es geht um den effektiven Schutz aller in Deutschland lebenden Menschen vor dschihadistischem Terror und dessen Vorstufen. Dafür müssen wir die Perspektiven und die Erfahrungen der hauptbetroffenen Gruppen dringend miteinbeziehen: die jüdischen Gemeinden ebenso wie die Geflüchteten, die in Deutschland Schutz vor genau diesem Terror gesucht haben. Dies ist ein Anliegen, das hoffentlich – und das meine ich tatsächlich sehr ernst – alle demokratischen Parteien in diesem Haus mit uns teilen. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Irene Mihalic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Über ein Jahr nach dem schlimmsten islamistischen Anschlag in Deutschland soll nun – ich muss sagen: endlich – auch ein Untersuchungsausschuss auf Bundesebene eingesetzt werden. Ich muss leider sagen: Das hätten wir auch deutlich früher haben können. ({0}) Meine Fraktion hat schon im Frühjahr 2017 einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Herr Grosse-Brömer von der CDU/CSU-Fraktion fand es damals laut „Bild am Sonntag“ peinlich, dass wir diesen Antrag vorgelegt haben. ({1}) Ich finde es zutiefst peinlich – das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen –, dass auf Bundesebene bis heute keine öffentlichen und transparenten Aufklärungsschritte in dieser Sache unternommen worden sind. ({2}) Jetzt sind Sie endlich auf den Aufklärungszug aufgesprungen. Genau wie Grüne, FDP und Linke haben Union und SPD jetzt auch einen Antrag vorgelegt. Aber bei der Lektüre fragt man sich schon, ob Sie nur auf diesen Zug aufgesprungen sind, um ihn gleich wieder abzubremsen. Herr Harbarth, Sie haben vorhin gesagt, dass Sie in Ihrem Antrag bewusst auf Detailfragen verzichtet haben. Es könnten ja vielleicht zu viele unangenehme Details dabei ans Licht kommen. ({3}) Insofern kann ich die Motivation schon nachvollziehen. Das erklärt wahrscheinlich auch die Forderung in Ihrem Antrag, die Untersuchungen auf den Zeitraum bis zu dem Todestag von Anis Amri zu begrenzen. ({4}) Alles soll sich auf diese eine Person konzentrieren. Ich weiß nicht, ob es Ihnen klar ist, aber damit erweisen Sie ihm posthum genau die Ehre, die er sich für sich durch seinen schrecklichen Anschlag gewünscht hat. So eine PR können wir doch nicht ernsthaft wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Eine noch viel gravierendere Folge dieses Enddatums ist aber, dass damit das Handeln der Bundesregierung und der Sicherheitsbehörden nach dem Attentat völlig außen vor bleibt, aber genau hier wird es doch interessant. ({6}) Die Bundesregierung hat zwar damals mit dem Finger in alle Richtungen gezeigt, doch immer, wenn es um die Verantwortung auf Bundesebene ging, ging es ab in den Graben. Ich kann mich noch sehr gut an das laute Schweigen des Bundesamtes für Verfassungsschutz erinnern. Der Bundesinnenminister hat Verfassungsschutzpräsident Maaßen sogar ausdrücklich abgeraten, im Dezember 2016 im Innenausschuss überhaupt zu erscheinen und Fragen zu beantworten; wir hatten damals darüber diskutiert, Herr de Maizière. Wir wollen natürlich genau wissen, warum Sie solche Ratschläge geben und welche Rolle der Verfassungsschutz tatsächlich gespielt hat. ({7}) Wir wollen selbstverständlich wissen, ob die Bundesregierung das Parlament und die Bürgerinnen und Bürger zum Beispiel hinsichtlich der Chronologie, die überall zitiert worden ist, jederzeit korrekt informiert hat. Und wir wollen wissen, ob nach dem Tod von Amri in seinem Umfeld nach Komplizen gesucht wurde oder warum eine Person, mit der Amri zum Beispiel sehr engen persönlichen Kontakt hatte, Anfang 2017 plötzlich abgeschoben wurde. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD: Machen Sie bitte keine Politik mit dem Enddatum der Untersuchungen. ({8}) Es muss uns doch um maximale Aufklärung und nicht um Regierungs- oder Behördenschutz gehen. Wir müssen doch der Frage nachgehen, welche Rolle islamistische Netzwerke und deren Beobachtungen im In- wie im Ausland beim Attentat gespielt haben. Auch wollen wir die Rolle des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums ganz genau klären und herausarbeiten, wie sich Mängel an der Sicherheitsarchitektur abstellen lassen. Es ist vorhin schon einmal gesagt worden: Das GTAZ existiert seit 2004, doch die Lage hat sich bis heute gravierend verändert. Man muss überlegen, ob es überhaupt noch in unsere Zeit passt oder ob wir nicht dringend notwendige Veränderungen vornehmen müssen. ({9}) Wir müssen Verantwortlichkeiten klar benennen, egal wo diese vielleicht liegen. Das müssen wir herausarbeiten. Lassen Sie uns im Geschäftsordnungsausschuss deshalb nach einer tragfähigen Lösung suchen, die unserem Aufklärungsanspruch tatsächlich gerecht wird. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Armin Schuster für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war Mitglied in zwei Untersuchungsausschüssen zum Thema NSU-Mordtrio. Liebe Frau Mihalic und Frau von Storch, ich habe die Hoffnung, dass wir den Geist, den diese beiden Untersuchungsausschüsse atmeten, auch dieses Mal hinbekommen, weil die Untersuchungsgegenstände in bestimmter Weise vergleichbar sind: Wir haben Tote und Verletzte zu beklagen, und die Angehörigen tragen ein immenses Leid. Ich finde es angesichts dessen nicht passend, wenn wir uns in parteipolitischen, kniebohrerischen Diskussionen ergehen. Ich könnte jetzt sagen: Herr Kauder hat euch im Januar 2017 die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses angeboten. – Aber lassen wir das. ({0}) Ich glaube, dieser Untersuchungsausschuss hat den Auftrag, notwendige Sachaufklärung zu betreiben, Frau von Storch. ({1}) Wir sollten nicht einen Grund herbeireden, der wirklich fachlicher Unfug ist. Die Attentäter vom Bataclan und Stade de France in Paris vergleiche ich mit einem IS-Kommandounternehmen; so dezidiert war dieser Anschlag vorbereitet. Albakr in Dresden war vom IS geführt. Hochwahrscheinlich stellen wir in diesem Untersuchungsausschuss fest, dass auch Anis Amri stark geführt war. Mohammed Atta war ein Student und Flugschüler. Was will ich damit sagen? Der IS hat 1 001 Möglichkeiten, Legendenbildung zu betreiben und – leider – professionell Terroranschläge zu begehen. Dass er jetzt Flüchtlinge nimmt, soll genau dem Zweck dienen, den Sie an diesem Rednerpult gerade erfüllt haben. Der IS begeht zwei Anschläge in einem: Er begeht den Anschlag und sorgt dafür, dass Kräfte wie Sie behaupten, die Anschläge seien von Flüchtlingen begangen worden, die Flüchtlinge seien schuld. ({2}) Das, meine Damen und Herren, ist einfach unfachmännisch. Deswegen lade ich Sie ein – ich lade Sie wirklich ein –: Lassen Sie uns Sachaufklärung betreiben. Frau von Storch, mir hat gefallen, dass Ihre Rhetorik nicht durchgängig skandalisierend war. Sie waren manchmal richtig fachlich. ({3}) Ja, wir müssen die justiziellen Systemprobleme erkennen. Wir müssen fragen: Warum gab es keine Sammelverfahren? Wie stark war das Netzwerk um Amri? Wie wurde geführt? – Das alles müssen wir feststellen. ({4}) Aber das hat nichts mit Asylverfahren zu tun. Die Frage ist: Können wir die Bundesanwaltschaft besser ausrüsten? Können wir das GTAZ stärken oder was auch immer? Das nenne ich Sachaufklärung. Dieser Untersuchungsausschuss hat eine ganz entscheidende Frage zu klären: Stellen wir uns einmal vor, alle individuellen Einzelfehler, die Herr Jost in Berlin, die der Untersuchungsausschuss in NRW und die Taskforce des PKGr schon aufgeklärt haben, wären nicht vorgekommen: Hätte dann das System funktionieren können, das System einer föderalen Sicherheitsarchitektur, in der knapp 40 Behörden für diesen Fall zuständig waren? Diese Frage müssen wir im Bund klären. Die kann niemand anders klären. Die Nordrhein-Westfalen haben auf ihren Fall geguckt und die Berliner auf ihren. Unsere Aufgabe ist es, die Frage zu stellen: Funktioniert eigentlich das System? ({5}) Ich bin den Jamaika-Sondierern und den GroKo-Sondierern sehr dankbar. Ich zitiere nur einmal die GroKo-Sondierungsergebnisse – bei den Jamaika-Sondierungen war es ähnlich –: Wir müssen wissen, ob für Terrorgefährder gemeinsame Standards, verbindlicher Umgang, einheitliche Praxis und klare Zuständigkeiten geschaffen werden müssen. – Dieser Untersuchungsausschuss hat die hervorragende Möglichkeit, die Koalitionsverhandlungen und, wenn es zur GroKo käme, das anschließende Regierungshandeln sehr wertvoll zu unterstützen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Schuster, achten Sie bitte auf die Zeit. Ich kann jetzt auch keine Fragen oder Ähnliches mehr zulassen.

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich lasse aber die Frage zu.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das ist aber zu spät.

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Schade.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wenn das Minus erscheint – das wissen Sie als erfahrener Kollege –, dann ist es vorbei.

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, dieser Untersuchungsausschuss wird eine wertvolle Arbeit leisten, wie andere auch. Eines ist ganz wichtig: Der Respekt gegenüber Opfern und Angehörigen, denen immenses Leid zugefügt wurde, gebietet es, dass wir schonungslos aufklären. Ich hoffe, wir tun es gemeinsam und sachorientiert. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu ihrer ersten Rede im Bundestag hat die Kollegin Dr. Wiebke Esdar für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Wiebke Esdar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Seit dem menschenverachtenden Terroranschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz ist knapp über ein Jahr vergangen. Zwölf Menschen sind damals mitten aus dem Leben gerissen worden. Angehörige verloren ihre Liebsten. Freundinnen und Freunde wurden für immer getrennt. Viele weitere Personen wurden verletzt oder schwer verletzt und sind bis heute traumatisiert. Am 19. Januar 2017 hat dann der 18. Deutsche Bundestag innegehalten und seine Trauer um die Toten und das Mitgefühl für die Verletzten und Hinterbliebenen der Opfer zum Ausdruck gebracht. Gerade diesen Menschen, die unfassbares Leid erfahren mussten, sind wir Antworten schuldig, Antworten auf die Fragen, ob und wie dieser Terroranschlag hätte verhindert werden können. ({0}) Unser Respekt ihnen gegenüber gebietet es jetzt, sachlich zu bleiben, ganz genau hinzusehen, zu bohren und nicht lockerzulassen, bis alles – ich meine, wirklich alles – lückenlos aufgeklärt ist. Ebenso sind wir es ihnen schuldig, auch zu überlegen, wie wir die Hilfen für Opfer und ihre Angehörigen in Zukunft verbessern können. ({1}) In den Tagen und Wochen nach dem Anschlag überschlugen sich die Schlagzeilen. Bis heute kommen immer mehr Details über den Attentäter, seine Vorgeschichte und den Umgang mit ihm durch zahlreiche Behörden an die Öffentlichkeit. Auf Landes- und Bundesebene begann die systematische Aufarbeitung bereits. Neue Erkenntnisse wurden gewonnen. Aber es sind natürlich längst nicht alle Fragen geklärt; viele von ihnen wurden heute in der Debatte schon angesprochen. In diesem Hause werden wir darum tief in die Hintergründe und vermutlich auch in Abgründe blicken müssen. Für uns alle stellt sich natürlich insbesondere die Frage, welche Rolle die Bundesbehörden, etwa das Bundesamt für Verfassungsschutz, in der Zusammenarbeit mit den Ländern Nordrhein-Westfalen, Berlin und Baden-Württemberg gespielt haben. Mich treibt aber auch die Frage um, warum das Wissen in diesem so wichtigen Fall offenbar nicht zwischen den Behörden geteilt wurde, Stichwort „Handflächenabdrücke“. Als Psychologin ist für mich zudem eine der spannendsten Fragen, wie wir es schaffen können, dass Radikalisierungsprozesse bei jungen Menschen künftig frühzeitig und so zuverlässig erkannt werden, dass wir diesen dann angemessen begegnen können. ({2}) Meine Damen, meine Herren, 13 Monate nach dem Anschlag debattieren wir heute über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Ich bin froh, dass es für dieses wichtige Anliegen zumindest im Grundsatz eine breite Mehrheit gibt. Im Kern verfolgen doch alle Anträge dasselbe Ziel: Der Ausschuss soll sich ein umfassendes Bild von dem schrecklichen Terroranschlag, möglichen Mittätern und Hintermännern verschaffen. Außerdem sollen Empfehlungen im Hinblick auf konkrete Systemveränderungen bzw. -verbesserungen erarbeitet werden; denn uns allen ist klar, dass sich so ein furchtbarer Anschlag nicht wiederholen darf. ({3}) Auch wenn die vier Anträge im Detail unterschiedlich formuliert sind, bin ich zuversichtlich, dass die Beratungen im Geschäftsordnungsausschuss, wenn wir alle verbal ein bisschen abrüsten, zu einem guten Ergebnis führen werden. Auf der Arbeitsebene haben wir in den letzten Wochen bereits einige Fortschritte in Richtung eines gemeinsamen Antrags erzielt. ({4}) Wir als SPD sind auf jeden Fall dazu bereit, und wir setzen dabei auf den Kooperationswillen und die Kooperationsbereitschaft der übrigen Fraktionen. Im Zuge dieser Gespräche bietet sich aus meiner Sicht zum Beispiel an, die Aspekte der Prävention und der Deradikalisierung als Teil der Schlussfolgerungen zu ergänzen. Meine Damen, meine Herren, der Anschlag am 19. Dezember 2016 war ein Angriff auf unser friedliches Zusammenleben in einer bunten und weltoffenen Gesellschaft. Wir dürfen nicht zulassen, dass Terror, Hass und Angst dieses Zusammenleben in Deutschland zerstören. ({5}) Lassen Sie uns darum gemeinsam hier im Bundestag kritisch, sachlich und fundiert aufklären. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich bin der Überzeugung, dass es gut ist, dass wir uns hier im Deutschen Bundestag mehr als ein Jahr nach dem schrecklichsten islamistisch motivierten Anschlag, den wir in Deutschland bislang erleben mussten, offenkundig einig sind, dass wir einen Untersuchungsausschuss einrichten. Ich bin aber auch der Überzeugung, dass es wichtig ist, dem Eindruck entgegenzutreten, dass wir erst mit diesem Untersuchungsausschuss mit der Aufklärung dieses schrecklichen Attentats beginnen. Wir haben uns in der letzten Legislaturperiode viele Stunden im Innenausschuss mit diesem schrecklichen Attentat und den Vorkommnissen beschäftigt, und wir haben uns insbesondere auch im Parlamentarischen Kontrollgremium sehr intensiv mit dem Anschlag vom Breitscheidplatz beschäftigt. Wir haben eine Taskforce eingerichtet, und ich bin der festen Überzeugung – das hat gerade dieser Fall gezeigt –, dass sich das neue Instrument der Taskforce bewährt hat. Die Taskforce war nämlich die erste Gruppe, die einen Abschlussbericht zutage gefördert hat. Wir haben auch schon in der abgelaufenen Legislaturperiode – es ist mir wichtig, das zu betonen – sehr schnell Konsequenzen gezogen – sowohl im Hinblick auf gesetzgeberische Maßnahmen als auch im Hinblick auf eine Veränderung des Verwaltungshandelns. Wir haben zum Beispiel das Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht verabschiedet, wodurch die mögliche Dauer des Ausreisegewahrsams von vier auf zehn Tage verlängert wurde und die Voraussetzungen für die Abschiebehaft – das war ein großes Problem bei Anis Amri – deutlich reduziert wurden. Wir haben die Möglichkeit geschaffen, dass Asylbewerber, die nicht bereit sind, ihre Identität preiszugeben, mit einer Residenzpflicht versehen werden. Auch im Hinblick auf das Verwaltungshandeln haben wir vieles verbessert. Es gibt jetzt im Bundeskriminalamt ein Bewertungssystem, anhand dessen evaluiert wird, wie gefährlich bestimmte Personen tatsächlich sind. Das ist auch ein großer Fortschritt. Diese gesetzgeberischen Maßnahmen haben ihre Erfolge gezeitigt; das möchte ich in aller Deutlichkeit betonen. Im letzten Jahr sind 60 Gefährder erfolgreich aus Deutschland abgeschoben worden. Das ist auch ein Erfolg dieser schon vorgenommenen gesetzgeberischen Veränderungen nach dem schrecklichen Anschlag vom Breitscheidplatz. ({0}) Gleichwohl dürfen wir nicht stehen bleiben. Mein Wunsch an diesen Untersuchungsausschuss ist, dass er nicht, wie vielleicht andere Untersuchungsausschüsse in vergangenen Legislaturperioden, nur als Plattform für parteipolitischen Klamauk oder für parteipolitischen Schlagabtausch dient. ({1}) Mein Wunsch ist, dass wir sehr konstruktiv detaillierte Fragen stellen, dass wir natürlich auch kritisch fragen, welchen Verbesserungsbedarf es in unserer Sicherheitsarchitektur weiterhin gibt, die natürlich auch aufgrund des Föderalismus mit Problemen behaftet ist. Ich bin auch der Überzeugung, dass wir uns intensiv mit der Frage beschäftigen müssen, welchen Verbesserungsbedarf es beim Informationsaustausch noch gibt – sowohl innerhalb Deutschlands als auch zwischen uns und den Nachrichtendiensten und Sicherheitsbehörden von befreundeten Ländern. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns natürlich auch sehr intensiv mit der Frage beschäftigen müssen, wie wir in Europa mit Gefährdern umgehen. Gibt es einheitliche Standards? Welchen deutlichen Verbesserungsbedarf gibt es im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum? Das alles sind berechtigte und notwendige Fragen, denen intensiv nachgegangen werden muss. Ich bin aber auch der Überzeugung, dass wir diesen Untersuchungsausschuss nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag strecken und tagen lassen sollten. Es geht bei diesem Untersuchungsausschuss nämlich darum, dass wir relativ schnell konkrete Konsequenzen, Schlussfolgerungen und Empfehlungen zutage fördern. Die Aufgabe dieses Untersuchungsausschusses ist es aus meiner Sicht nicht, dass wir uns in Vorverurteilungen und in gegenseitige und häufig vielleicht auch vorschnelle Schuldzuweisungen ergehen. Es geht auch, wie gesagt, nicht darum, einen vermeintlich parteipolitischen Profit aus diesem Untersuchungsausschuss zu ziehen. ({2}) Die gemeinsame Aufgabe dieses Untersuchungsausschusses ist es, noch vorhandene Defizite und den notwendigen Veränderungsbedarf zu detektieren und dem dann schnell Rechnung zu tragen. Das ist, glaube ich, der gemeinsame Auftrag, den wir alle haben. ({3}) In diesem Sinne kann ich für unsere Fraktion, für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, nur noch sagen, dass es natürlich unser Wunsch ist, dass wir zu einem gemeinsamen Untersuchungsauftrag kommen. Wir werden deshalb im Geschäftsordnungsausschuss für Änderungswünsche und Änderungsanträge anderer Fraktionen offen sein. Unser Ziel ist es, dass als Ergebnis dieses Untersuchungsausschusses die Sicherheit in unserem Land erhöht wird. Auch wenn es keine hundertprozentige Sicherheit gibt und auch wenn es keine hundertprozentige Gewähr dafür gibt, dass sich nicht wieder ein Terroranschlag in Deutschland ereignet, werden wir alles dafür tun, unsere Sicherheitsbehörden so auszustatten und ihnen das notwendige Rüstzeug an die Hand zu geben, dass ein Terroranschlag in Deutschland mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit vermieden wird. In diesem Sinne hoffe ich auf konstruktive und sachliche Gespräche. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/455, 19/229, 19/418 und 19/248 an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Karlheinz Busen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004690, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im letzten Jahr hat das ZDF eine Sendung gebracht, die mich total schockiert hat, und zwar über den Lebendtiertransport durch die Länder Europas auf dem Weg in die Türkei und nach Ägypten. Dass das Thema schon so alt ist, habe ich nicht gewusst. Aber diese Reportagen gibt es schon seit 1990. Damals wurden speziell die außereuropäischen Tiertransporte in den Blick genommen. Dabei ist spätestens seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes aus 2015 klar: Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die Einhaltung der europäischen Standards und Regeln zum Schutz von Tieren beim Transport bis zum endgültigen Zielort sicherzustellen, auch dann, wenn sich der Zielort außerhalb der EU befindet. ({0}) Insbesondere im Sommer, also kurz vor dem islamischen Opferfest, stehen die Tiere auf den Lastwagen oft sehr lang bei einer ständigen Hitze von über 40 Grad an den EU-Außengrenzen. Rast- und Futterplätze, die angefahren werden könnten, gibt es kaum. Viele Tiere stehen das nicht durch und verenden. Irgendwann platzt einem da als Zuschauer der Kragen. Tiertransporte unter diesen Bedingungen müssen gestoppt werden. ({1}) Noch viel qualvoller ist es für Tiere an einigen Verladestationen außerhalb Europas. Die Reportage zeigt unter anderem, wie Rinder, an einem Bein hängend, von Schiffen aufs Festland befördert werden. Durch ihr eigenes Gewicht brechen sich die Tiere ihre Beine. Trotz gebrochener Knochen werden sie weitergetrieben. Das wurde auch schon 1990 gezeigt. Wenn Tiere unnötig leiden müssen, sind auch gegen diese Transporte Maßnahmen zu ergreifen – bis hin zur Versagung von Transportgenehmigungen. ({2}) Gleichzeitig sehen wir Freien Demokraten unsere landwirtschaftlichen Betriebe, die ihre Tiere umsorgen und auch sachgerecht transportieren. Den wenigen schwarzen Schafen unter den Transporteuren müssen wir das Handwerk legen. Sie beschmutzen eine ganze Branche. ({3}) Tiertransporte sind selbstverständlich auch in der Zukunft allein schon aus Gründen der Zucht und der Spezialisierung der Betriebe unerlässlich. Die grünen Forderungen nach einem generellen Tiertransportverbot oder starren Vorgaben sind weltfremd und praxisuntauglich. ({4}) Das grüne Weltbild passt einfach nicht zur Realität. Ganz bezeichnend ist auch, dass dieses Thema von uns Freien Demokraten auf die Tagesordnung gebracht wurde und kurze Zeit später plötzlich ein Antrag von den Grünen hinzukam. ({5}) Das zeigt: Bei den wirklichen Problemen packen wir Lösungen an; dazu brauchen wir keine Dauermoralisierer aus der grünen Ecke. ({6}) Meine Damen und Herren, lassen Sie uns dringend nötige Verbesserungen beim Tiertransport angehen und unwürdige Tiertransporte stoppen. ({7}) Ich bitte Sie darum, der Überweisung unseres Antrages an den Ausschuss zuzustimmen. Danke. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Alois Gerig das Wort. ({0})

Alois Gerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004040, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vom Grundsatz her ist es gut, dieses Thema hier aufzusetzen. Ja, ich bin mir sogar sicher: Es ist gar nicht nötig, dass wir uns dabei besonders stark abgrenzen. Wir haben alle das gleiche Ziel. Nur eines will ich gleich kritisieren: Es ist schade, dass wir heute Abend, an dem wenige Hundert Meter von hier entfernt die Internationale Grüne Woche eröffnet wird, agrarische Themen im Parlament debattieren müssen. ({0}) Es ist gute parlamentarische Gepflogenheit, dass wir dieses nicht tun. Ich habe zwar Verständnis dafür, dass eine erste Rede gehalten werden soll. Ich bitte Sie, die Sie hier als Fraktionen oder Abgeordnete neu sind, dass wir im nächsten Jahr darauf aber vielleicht ein bisschen Rücksicht nehmen. ({1}) Landwirtschaftliche Nutztierhaltung im Allgemeinen und Lebendtiertransporte – seit dieser genannten ZDF-Sendung – im Besonderen sind zweifelsohne sensible Bereiche in unserer Gesellschaft. Eigentlich sollen EU-Richtlinien mit strikten und weitreichenden Vorschriften sowie die Kontrollen der Veterinärbehörden in den Mitgliedstaaten sicherstellen, dass der Tierschutz bei jedem Transport gewährleistet ist. Insbesondere bei Transporten, deren Ziele außerhalb der Europäischen Union liegen, sind schwerwiegende Missstände aufgefallen. Die ZDF-Fernsehbilder vom 21. November vergangenen Jahres haben viele Menschen – ich muss sagen: auch mich persönlich – tief berührt, ja, entsetzt. Keine Frage: Derartige Tiertransportpraxis ist Tierquälerei und mit ethischen Grundsätzen der Europäischen Union – und Deutschlands schon gar nicht – nicht vereinbar. Für die CDU/CSU sind diese Zustände nicht akzeptabel. Es bedarf wirksamer Maßnahmen, diesen kriminellen Verstößen gegen Tierschutzrechte einen wirksamen Riegel vorzuschieben und dem Leid der Tiere somit ein Ende zu bereiten. Eigentlich bestehen mit der Tierschutztransportverordnung bereits umfangreiche europäische Regelungen zum Transport von lebenden Tieren. Insbesondere für die Versorgung mit Futter und Wasser, die Temperatur im Fahrzeug, die Ladedichte sowie Ruhepausen gibt es strenge Reglements. Hervorzuheben ist, dass bei Transporten von über acht Stunden der Transportunternehmer der zuständigen Behörde einen Transportplan vorlegen muss. Die Transportfahrzeuge müssen ein Navigationssystem haben, das Fahrtroute, Fahrtdauer ebenso wie die Temperatur im Fahrzeuginneren aufzeichnet und dokumentiert. Die Behörden haben also umfangreiche Möglichkeiten, im Vorhinein und Nachhinein die Langstreckentransporte von lebenden Tieren zu kontrollieren und etwaige Verstöße zu ahnden. Warum kommt es trotz dieser an sich vernünftigen Bestimmungen zu den erheblichen Tierschutzverletzungen? Der neu einzusetzende Bundestagsausschuss für Ernährung und Landwirtschaft muss dieser Frage sehr rasch auf den Grund gehen, und das wird man dort tun. Solange der Tierschutz bei Tiertransporten nicht wirksamer kontrolliert wird, halte ich es für absolut notwendig, den Export von Schlachttieren in Drittstaaten auszusetzen. ({2}) Ich bin unserem Bundesminister Christian Schmidt dankbar dafür, dass er die Probleme bei Tiertransporten lange vor dem ZDF auf dem Schirm hatte. Gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus Dänemark und den Niederlanden forderte unser Minister nämlich schon 2014 gegenüber der EU eine stärkere Begrenzung und bessere Kontrollen von Tiertransporten. Der Vorschlag der Bundesregierung, die Transportdauer von Schlachttieren auf maximal acht Stunden zu begrenzen, stieß bei der EU-Kommission leider bisher auf taube Ohren. Wir müssen in dieser Angelegenheit in Brüssel weiter am Ball bleiben, um Verbesserungen für die Tiere zu erreichen. Die Zusammenarbeit zwischen den Kontrollbehörden der einzelnen Mitgliedstaaten ist ein wichtiger Baustein beim grenzüberschreitenden Handel, um Tierschutzverstöße aufzuspüren und zu ahnden. Eine Begrenzung der Transporte auf maximal acht Stunden sollte weiterhin angestrebt werden. Denn Lebendtransport ist für Tiere in jedem Fall mit Stress verbunden. Es gibt ja Alternativen: So könnte man statt der lebenden Schlachttiere viel leichter das Fleisch geschlachteter Tiere exportieren, wir hätten darüber hinaus die Kontrolle über den Schlachtvorgang im eigenen Land, und es ist auch nicht schlecht, zu wissen, was da geschieht. Ein generelles Exportverbot für lebende Tiere halte ich hingegen nicht für richtig. Ein solches Verbot würde nicht nur Schlachttiere, sondern auch Zuchttiere treffen. Beim Transport von Zuchttieren ist die Gefahr von Verstößen weitaus geringer. Schließlich haben die Züchter, die Abnehmer und der Transporteur ein großes Interesse daran, dass die Tiere für ihre weitere Verwendung gesund am Bestimmungsort ankommen. Mit dem Export von Zuchttieren können wir in Europa zudem einen Beitrag leisten, die Landwirtschaft bei unseren Handelspartnern im Nahen Osten zu stärken. Auf alle Fälle gehören Lebendtiertransporte oben auf die Agenda der Tierschutzpolitik. Eine Bekämpfung von Tierschutzverstößen ist auch im Sinne der landwirtschaftlichen Tierhalter – das hat mein Vorredner bereits angesprochen –: Es besteht die Gefahr, dass die genannten Missstände der gesamten Branche angerechnet werden, also auch der übergroßen Mehrheit von Landwirten und Tiertransportunternehmen, die alle Vorschriften einhalten und ihre Tiere gut behandeln. Sie produzieren Lebensmittel mit den allerhöchsten Qualitätsstandards und haben es definitiv nicht verdient, an den Pranger gestellt zu werden. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns in diesem Sinne zur Grünen Woche ausschwärmen, wo sich in den nächsten zehn Tagen das Who’s who der Ernährungsbranche trifft und wo auch wir die Gelegenheit haben, zu einem – und das ist sehr wichtig – noch besseren Verständnis zwischen der Ernährungsbranche und den Verbrauchern beizutragen. Ihnen allen einen schönen Abend! Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Susanne Mittag für die SPD-Fraktion. ({0})

Susanne Mittag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004355, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich hoffe, Sie bleiben noch einen kleinen Moment. Es geht mit diesem Thema noch ein kleines bisschen weiter. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die schon erwähnten Aufnahmen aus der TV-Reportage „Geheimsache Tiertransporte“ – so hieß sie nämlich – haben nicht nur mich schockiert, sondern auch viele Bürgerinnen und Bürger – auch wenn jetzt nicht mehr so viele hier anwesend sind – wie sicherlich auch alle hier im Saal, die nun zu Recht fordern, diese elenden Langstreckentransporte in außereuropäische Anrainerstaaten endlich zu beenden. Auch Vertreter der deutschen Landwirtschaft sehen das so und unterstützen diese Forderung. Das ist nämlich auch zum Schaden der Landwirtschaft und nicht gut für ihr Image. Welche Grausamkeiten unsere heimischen Tiere in ihren Zielländern außerhalb der Europäischen Union erleiden müssen, ist nur schwer in Worte zu fassen. So werden Rindern nach dem Entladen die Sehnen an den Beinen durchgetrennt, damit sie nicht weglaufen können, oder ihnen werden die Augen ausgestochen, damit sie sich nicht orientieren und weglaufen können. Nach einer tagelangen Fahrt, eingepfercht im Lkw, und der Malträtierung beim Entladen – beispielsweise werden die Tiere an einem Bein aufgehängt und heruntergeworfen, weil das einfacher ist – werden unsere Tiere oft nicht artgerecht und ohne jede Betäubung geschlachtet. Das sind keine Einzelfälle. Wir alle sind uns einig – das bringen auch die Anträge zum Ausdruck; dafür bin ich dankbar –, dass dies nicht ansatzweise etwas mit unseren Grundsätzen eines artgerechten Umgangs zu tun hat. Insbesondere an der bulgarisch-türkischen Grenze kommt es immer wieder zu tierschutzrelevanten Problemen. So leiden die Tiere aufgrund elend langer Wartezeiten häufig unter Hunger, Durst und extremen Temperaturen. Viele Tiere überstehen diese Tortur erst gar nicht, sondern verenden bereits vor der Ankunft. Das ist insbesondere bei Schlachttieren der Fall. Aber diese Verluste sind einkalkuliert. Beim Handeln besteht also schon unbedingter Vorsatz. Es ist im Plan. Wer nun denkt, dass solche Tiertransporte nicht so häufig stattfinden und daher eine zu vernachlässigende Größe sind, täuscht sich. Von 2013 bis 2016 hat sich die Anzahl der Rindertransporte in den Libanon verdreifacht, in die Türkei sogar verzehnfacht. Gab es 2013 rund 90 Rindertransporte, waren es 2016 fast 1 000. Auch die durchschnittliche Transportdauer hat sich erhöht. Lag sie 2013 noch um die 42 Stunden, waren es 2016  70 Stunden. Es dauert also länger. Damit verlängern sich auch die Qualen der Tiere. Anstatt unsere Tiere sehenden Auges auf eine lange und oft grausam endende Reise zu schicken, sollten die Tiere – das wurde schon vorgeschlagen – lieber in Deutschland tierschutzgerecht geschlachtet und dann das gefrorene Fleisch transportiert werden. Wir diskutieren beim Tierschutz über Haltungsbedingungen und alle möglichen Verbesserungen, Stichwort „Tierwohl“. Aber hier werden sehenden Auges seit Jahr und Tag derartige Transporte in Kauf genommen, nach dem Motto: Da das im Ausland stattfindet, brauchen wir uns nicht zu kümmern. Wie im Antrag der Grünen richtigerweise festgestellt wird, hat der Europäische Gerichtshof bereits 2015 in einem Urteil bekräftigt, dass die europäischen Tierschutzstandards bis zum Bestimmungsort eingehalten werden müssen. Die Tiere werden also nicht in einem rechtsfreien Raum transportiert. Ihr Wohl muss auch in außereuropäischen Ländern sichergestellt werden. Darum geht es in beiden Anträgen. Sie gehen in die richtige Richtung, wenn Sie fordern, bei Nichteinhaltung unserer Standards den Lebendtiertransport in Drittstaaten zu stoppen. In den letzten Jahren wurde immer wieder eine Überarbeitung der europäischen Transportverordnung angekündigt. Bundesminister Christian Schmidt hat sich zwar in Briefen an den zuständigen EU-Kommissar gewandt, Handfestes ist allerdings bislang nicht dabei herausgekommen. Anschreiben ersetzen nicht das tatsächliche Tätigwerden. Anschreiben reichen nicht aus. Schön ist zwar, dass die EU-Kommission eine Tierschutzplattform eingerichtet hat, wo eine Untergruppe speziell Vorlagen für Tierschutz und Tiertransporte erarbeiten soll. Aber diese Untergruppe arbeitet noch nicht. Auch hier ist eine zeitnahe Handlungsempfehlung nicht zu erwarten. Alles scheint sich sehr lange hinzuziehen. Positiv ist, dass das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft eine Delegation des türkischen Landwirtschaftsministeriums zu einer gemeinsamen Besichtigung von deutschen Kontrollstellen eingeladen hat, damit ähnliche Anlagen auch in der bulgarisch-türkischen Grenzregion gebaut und die Tiere besser versorgt werden können. Hier braucht es aber konkrete Umsetzungszeiträume und eine Finanzierung. Nur Gucken reicht nicht. Insbesondere die EU-Kommission ist gefordert, an Grenz ­ übergängen zusätzliche Kontrollpunkte und Einrichtungen zu installieren, um die Wartezeiten zu verringern und die Tiere mit Futter und Wasser zu versorgen, und das nicht nur an einer Stelle. Der Wille der EU-Mitgliedstaaten allerdings, ordnungsrechtliche Veränderungen an der europäischen Tierschutzverordnung vorzunehmen, war bislang überhaupt nicht zu erkennen. Die Interessen der Mitgliedstaaten driften zu weit auseinander. Momentan dürfen zum Beispiel Schweine 24 Stunden durchgängig transportiert werden. Erst dann muss eine Ruhepause eingelegt werden. Die Forderung der Grünen, EU-weit die Transportzeiten von Schlachttieren auf acht Stunden zu begrenzen, ist richtig und wird immerhin von der Bundesregierung auf EU-Ebene vertreten. Aber eine Einigung ist noch immer nicht vorhanden. Darüber hinaus müssen Änderungen an der zulässigen Ladungsdichte – das wurde schon erwähnt –, der Temperaturregelung und der Kontrollwege vorgenommen werden. Einem ausgewachsenen Rind stehen lediglich 1,6 Quadratmeter zur Verfügung, und es darf bei Temperaturen von 0 bis 35 Grad transportiert werden. Oftmals herrschen aber in den Sommermonaten an der bulgarisch-türkischen Grenze über 40 Grad, und im Winter liegen die Temperaturen weit unter der Frostgrenze. Die Ladedichte muss so angepasst werden, dass jedes Tier sowohl stehen als auch liegen kann. Es ist schon total elitär, wenn sich ein Tier während dieser ganzen Zeit einmal hinlegen kann. Notwendig und ein tatsächlicher Fortschritt wäre es sicherlich auch, wenn die Fahrtrouten der Tiertransporte in Echtzeit an die zuständigen Behörden übermittelt würden, ({0}) um Kontrollen effektiver ausgestalten und etwaige Verstöße gegen Transportauflagen, die andauernd stattfinden, schneller ahnden zu können und den Tierschutz dann sofort durchzusetzen. ({1}) Bislang können die Daten nämlich nur im Nachhinein ausgewertet und Strafen rückwirkend ausgesprochen werden. Ansonsten können die Verstöße weiterhin nur bei punktuellen Kontrollen auf Transportstrecken eher zufällig festgestellt werden, und da werden sehr oft Mängel bemerkt. In diesem Zusammenhang müssen nicht nur die Fahrer von Tiertransporten, sondern auch Spediteure und diejenigen, die die Spediteure beauftragen, mehr in die Verantwortung genommen werden, die Kontrollen ausgeweitet und die Verstöße stärker geahndet werden. ({2}) – Mal ist das ganz richtig. Die EU-Tierschutztransportverordnung räumt den nationalen Gesetzgebern ausdrücklich die Möglichkeit ein, eine strengere und umfassende Regelung in Bezug auf rein innerstaatliche Tiertransporte zu erlassen. Deswegen ist es völlig unverständlich, dass Bundesminister Christian Schmidt hier in der vergangenen Wahlperiode trotz mehrfacher Aufforderung nicht nur von unserer Fraktion ({3}) – halten Sie den Ball mal flach – ({4}) völlig untätig dabei geblieben ist, die Transportdauer auf vier Stunden zu begrenzen. Wenn er es nicht macht, dann macht er es nicht. ({5}) – Ja, das werden Sie auch noch verstehen. Es reicht auch nicht, den zuständigen EU-Kommissar zum Handeln aufzufordern und dann, wie auf meine Anfrage erfolgt, darzustellen, dass man unmittelbar leider nichts machen kann. Der Wille zum Handeln hier vor Ort ist entscheidend, und den konnte ich bislang leider nicht erkennen. ({6}) Wie die Anträge richtigerweise zum Ausdruck bringen, darf die Verantwortung für unsere Nutztiere nicht einfach an der EU-Außengrenze enden. Kann kein artgerechter Umgang mit den Tieren während der Transporte, dem Entladevorgang und insbesondere der Schlachtung in Drittstaaten garantiert werden, müssen Tiertransporte aus Deutschland ausgesetzt werden. ({7}) Denn auch in anderen Wirtschaftsbereichen gibt es anerkannte innerstaatliche Verantwortung für Handlungen im Ausland. Denken wir einmal an Endverbleibskontrollen nach Waffenverkäufen oder an die Bereiche Bekleidung, Technik, Tiernahrung. Da muss dann auch einmal nachgeschaut werden, was im Ausland abläuft. Wie ich zu Beginn sagte, müssen sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene Möglichkeiten geprüft werden, Tiertransporte durch Fleischtransporte zu ersetzen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Mittag, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Susanne Mittag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004355, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sofort. – Denn derartiges Vorgehen der Zielländer kann offenkundig nicht abgestellt werden. Ausfuhrgenehmigungen werden schließlich nicht automatisch erteilt – hoffe ich. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu seiner ersten Rede im Bundestag hat der Abgeordnete Thomas Ehrhorn für die AfD-Fraktion das Wort. ({0})

Thomas Ehrhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004707, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein Grundsatz ethischen Handelns, dass wir eben nicht alles das, was wir aufgrund von Überlegenheit und Macht tun können, auch tun dürfen – einfach deshalb, weil Überlegenheit und Macht immer auch etwas mit Verantwortung zu tun haben. Der Umgang mit anderen Lebewesen, die uns schutzlos ausgeliefert sind, ist insoweit auch ein Gradmesser für die moralische Integrität einer Gesellschaft; ({0}) deshalb gibt es zu Recht ein Tierschutzgesetz, und deshalb sollte es unser Anspruch sein, derartige Gesetze nicht nur auf ein Stück Papier zu schreiben, sondern auch ihre Einhaltung einzufordern und durchzusetzen, und deshalb ist der Rechtsprechung des EuGH zu diesem Thema auch ohne Wenn und Aber zuzustimmen. Was diese Rechtsprechung bedeutet, was sie aussagt, haben wir heute schon einmal gehört. Durch die Entscheidung C-424/13 des EuGH von April 2015 wissen wir, dass die Tiertransportvorgaben der EG-Verordnung Nr. 1/2005 für den Export lebender Tiere aus der EU heraus auch außerhalb der EU-Grenzen, also bis an den Bestimmungsort, zu gelten haben. Die Verpflichtung zur Einhaltung dieser Bestimmungen endet also nicht, wie manche vielleicht meinen, an den EU-Außengrenzen, und zwar egal, ob der Transport in die Türkei, nach Ägypten oder in den Libanon geht. Warum ist dieses Urteil so wichtig? Es ist deshalb so wichtig, weil wir feststellen müssen, dass Empathie mit anderen Lebewesen in einigen Ländern dieser Welt eher unüblich ist. Sollte jemand sagen, dass sei nicht unser Problem, dann antworte ich: Doch, dies betrifft uns. Es betrifft uns genau in dem Moment, in dem wir Lebendtiertransporte in diese Länder zulassen. Es betrifft uns, weil wir unserer Verantwortung an dieser Stelle leider nicht gerecht werden. Es betrifft uns, weil wir bewusst die Augen vor dem unendlichen Leid und den unnötigen Grausamkeiten verschließen, die daraus resultieren. Es betrifft uns, weil wir eine gute und eine richtige Rechtsprechung des EuGH an dieser Stelle leider nicht umsetzen. Welche Folge dies für den Tierschutz hat, wurde durch die Bilder der bereits erwähnten ZDF-Reportage „37 Grad“ auf grausamste Weise verdeutlicht. Diese Bilder haben sich tief in das Bewusstsein vieler Bürger eingebrannt. Sie haben zu Recht zu einem Aufschrei der Empörung in der Bevölkerung geführt. In der Tat sind wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestags gefordert, alles Erdenkliche zu tun, damit sich diese Bilder in der Zukunft nicht wiederholen. ({1}) All das führt aber auch zu einer sehr unbequemen Frage, nämlich zu der Frage, warum wir den Tieren dieses Martyrium bis heute nicht erspart haben, warum wir sie nicht tierschutzgerecht in deutschen Schlachthöfen schlachten und das Fleisch, wie es der Vorredner angedeutet hat, exportieren? Das ist die Frage, um deren Beantwortung sich leider viele Kollegen und Kolleginnen aus politischer Korrektheit herumdrücken. Einer der Hauptgründe ist nämlich, dass in vielen Ländern, in welche wir die Tiere lebend liefern sollen, diese aus religiösen Gründen halal, das heißt ohne Betäubung, geschlachtet, also geschächtet werden. Zu diesem allertraurigsten Teil der Wahrheit gehört leider auch, dass das nicht nur in Ägypten, nicht nur im Libanon und nicht nur in der Türkei passiert, sondern tausendfach direkt vor unseren Augen in der Bundesrepublik Deutschland. ({2}) Deshalb kann ich den Damen und Herren von der FDP, die Sie hier einen so tollen Antrag formulieren, die Frage genauso wenig ersparen wie den Kolleginnen und Kollegen der Grünen, die sich so gerne für Krötentunnel einsetzen und auch mal den Bau einer wichtigen Straße wegen der Flugroute von Fledermäusen verhindern. Ich frage Sie alle: Wo sind Sie gewesen mit Ihren Demon­strationen und Ihren Protestschildern gegen die Aushebelung des deutschen Tierschutzes? ({3}) Aber es ist nie zu spät. Gern organisiere ich nachträglich für Sie einen Protestmarsch durch Berlin gegen das betäubungslose Schächten in unserem Land, welches jeden Tag stattfindet. ({4}) Dann können Sie zeigen, wie ernst es Ihnen mit dem Tierschutzgedanken in der Bundesrepublik Deutschland ist. Ich ahne allerdings, dass die Wenigsten von Ihnen bereit sein werden, bei einer solchen Demonstration an meiner Seite mitzulaufen. ({5}) Wir von der AfD meinen es jedenfalls ernst mit dem Tierschutzgedanken, und zwar auch dann, wenn der politische Diskurs anstrengend und unbequem wird. Darauf dürfen Sie sich heute und in Zukunft verlassen. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ZDF-Dokumentation „Geheimsache Tiertransporte“ vom 21. November 2017 hat viele erschüttert – und das wirklich zu Recht. Aber leider sind diese katastrophalen Missstände nicht neu; sie sind länger bekannt. Klar ist, dass der Schutz der Tiere beim Transport vom Beginn bis zum Ende gesichert werden muss, auch wenn der Zielort außerhalb der EU liegt; das ist hier mehrfach gesagt worden. Darauf hat auch der EuGH noch einmal hingewiesen. Das war wichtig. Es stellt sich deswegen eigentlich nur die Frage: Ist er bei Tiertransporten aus der Bundesrepublik gesichert? Wenn nein: Können wir etwas dafür tun, dass er gesichert wird? Wenn es nicht möglich ist, dann müssen diese Exporte unterbleiben. Punkt. ({0}) Darüber werden wir auch im Ausschuss noch weiter diskutieren. Nur sollten wir, ehrlich gesagt, nicht so tun, gerade nach dem Vorredner, als ob in der EU und in unserem Land in Sachen Tierschutz und auch bei Tiertransporten alles in Ordnung wäre. Es gibt nämlich – das weiß ich als Tierärztin – auch hier genug Dinge, über die wir reden müssen und die wir abstellen müssen. Deswegen müssen wir auch vor unserer eigenen Tür kehren. Dabei darf es nicht nur um Symptome gehen; wir müssen über die Ursachen reden. Deshalb ist die Grundfrage: Warum müssen Nutztiere überhaupt so lange transportiert werden? Bei Zuchttieren gibt es künstliche Besamung und Embryotransfer. Beim Schlachttier stellt sich diese Sinnfrage natürlich verschärft. Warum müssen Tiere zur Schlachtung über Tausende von Kilometern transportiert werden, wenn sie doch vor Ort geschlachtet werden könnten und dann das Fleisch exportiert werden könnte? Die Frage ist schon mehrfach gestellt worden. Dabei scheint mir persönlich und uns Linken die regionale Schlachtung, Verarbeitung und Vermarktung immer noch der sinnvollste Weg zu sein. ({1}) Das wäre nicht nur tierschutzgerechter, sondern es wäre auch ökologischer und im Hinblick auf den Klimaschutz sinnvoller. Es wäre übrigens auch sozial sinnvoll; denn es würde Arbeitsplätze in den ländlichen Räumen schaffen. ({2}) Zu den Ursachen hinter den Problemen gehört – auch das muss hier gesagt werden – die Exportstrategie der deutschen und der europäischen Tierhaltung. Sie hat fatale Folgen: vor unserer Haustür, weil hier Tierbestände gehalten werden, die zur Versorgung gar nicht gebraucht werden, aber die Gewässer und Grundwässer belasten, in viehdichten Regionen übrigens auch die Böden. In den Importländern werden lokale Strukturen zerstört, weil sie im unfairen Handel nicht bestehen können. Und: Die Tiere müssen, wie gesagt, über lange Strecken transportiert werden. Aus unserer Sicht ist dieser Transport grundsätzlich absurd, weil weder die sozialen noch die Tierrechte eingehalten werden. Deswegen finde ich: Für ein paar Cent mehr Tiere durch die Welt zu schicken, ist grundsätzlich falsch; das muss aufhören. ({3}) Unnötige Tiertransporte finden auch in unserem Land statt, zum Beispiel weil die Wege zum nächsten Schlacht­hof immer länger werden. Die Schlachthöfe werden immer größer. Die Einzugsgebiete dieser Schlachthöfe müssen größer werden. Damit werden auch die Wege immer länger. Ich finde, das macht keinen Sinn. Leidtragende sind in diesem Fall nicht nur die Tiere, sondern tatsächlich auch die Tierhaltungsbetriebe, die von den großen Strukturen gegeneinander ausgespielt werden. Selbst Kollege Röring hat dieser Tage zu Protokoll gegeben, dass er diese Praxis der Schlachtkonzerne kritisiert. Die Linke hat das aber schon lange und immer wieder thematisiert. Ich will auch daran erinnern, dass diese großen Konzerne, ob es nun Schlachtkonzerne oder andere Strukturen sind, uns als Gesetzgeber erpressbar machen. Deswegen muss das geändert werden. Wir brauchen wieder andere Strukturen. Wir können nicht zulassen, dass es in dem Bereich immer mehr Konzentration gibt. ({4}) Bereits 2011 hatte Die Linke einen Antrag mit dem Ziel einer deutlichen Reduzierung der Transportzeiten gestellt. Regionale Verarbeitung und Vermarktung würden gestärkt werden. Wir haben in der Bundesrepublik auch Vollzugsprobleme. 2015 hat das Thünen-Institut uns, Bund und Ländern, sehr viele Hausaufgaben aufgegeben, zum Beispiel weil es an Personal in den Veterinärämtern fehlt, weil bundeseinheitliche Befundkataloge fehlen, weil ungeklärte Zuständigkeiten vorliegen, Verstöße strafrechtlich nicht verfolgt werden und Staatsanwaltschaft und Richterschaft nicht die nötigen Fachkenntnisse haben, um in der Sache richtig zu entscheiden. Insofern muss hier einiges passieren. Wir können das nur gemeinsam erreichen, müssen es aber erreichen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Tackmann, können wir das bitte in die Ausschussberatungen verschieben?

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mein letzter Satz: Das sind wir nicht nur den Tieren schuldig, sondern auch den Betroffenen in den Behörden, in den Ämtern. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Friedrich Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Ehrhorn, Wahrheit und Klarheit leiten uns hier im Parlament und nichts anderes. Betäubungsloses Schlachten ist in Deutschland verboten – Punkt, Herr Ehrhorn! ({0}) Jeden Tag werden stolze Mastbullen, hochtragende Rinder irgendwo in Europa auf Sattelschlepper verladen. Sie sollen irgendwo in der Ferne geschlachtet werden oder Milch produzieren. Veterinäre unterzeichnen Dokumente, und die oft über 5 000 Kilometer führende Tour geht los. Um den Schutz dieser Tiere zu gewährleisten, gibt es eine umfangreiche EU-Verordnung, die ausdrücklich auch außerhalb der EU gilt. Allerdings, meine Damen und Herren: Viele Spediteure, Veterinäre und Tierhändler scheren sich wenig um diese schwache Verordnung. Diese Verordnung erlaubt zum Beispiel einen 29-Stunden-Dauertransport bis zum ersten Abladen. Was tatsächlich auf diesen Viehtransportern abläuft, führen uns zahlreiche Berichte wie der erwähnte immer wieder vor Augen: unerträgliches Leid in einem erschütternden Ausmaß, Tiere, die auf den Lkws jämmerlich an Metallstangen lecken, häufig apathisch und völlig dehydriert zusammenbrechen, hochtragende Jungrinder, die in völlig überladenen und verdreckten Transportern eine Frühgeburt erleiden, während Leidensgenossinnen auf sie koten und urinieren, weil es zu eng ist, Tiere, die beim Verladen im EU-Ausland gequält und mutwillig Leiden und Schmerzen ausgesetzt werden. Das ist die harte Realität. Deshalb, Herr Busen, haben wir uns in der letzten Legislatur als Agrarausschuss – das müssen Sie nicht wissen – in das diesjährige Partnerland der Internationalen Grünen Woche, Bulgarien, aufgemacht, ({1}) um uns selbst ein Bild von den Zuständen an der Außengrenze, am zweitgrößten Grenzübergang der Welt – Kapitan Andreewo – zu machen. ({2}) Der Übergang ist wegen seiner chronischen Überlastung berüchtigt. Es reihen sich über mehrere Kilometer – sechs Kilometer sahen wir, als wir dort waren – Transporter an Transporter. Die für Tiertransporte vorgesehene Priority Lane ist durch Lkws blockiert, in denen die Fahrer schlafen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Ostendorff, ich habe die Uhr angehalten und stelle Ihnen die Frage, ob Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Nolte zulassen.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne. Das verlängert meine Redezeit, das ist immer gut.

Jan Ralf Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004842, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Kollege, Sie haben eben gesagt, dass das betäubungslose Schlachten in Deutschland verboten sei. Bestreiten Sie, dass eine Ausnahmegenehmigung aus religiösen Gründen erfolgen kann und das Bundesverfassungsgericht diese Regelung mit einem Urteil von 2006 bestätigt hat?

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Ausnahme – das müssen Sie nicht wissen – heißt, dass im Beisein eines Kreisveterinärs oder einer ‑veterinärin eine Kurzzeitbetäubung vorgenommen wird, also das Verbot des betäubungslosen Schlachtens, welches in Deutschland gilt, eingehalten wird. Wir gestatten eine Kurzzeitbetäubung an besonderen Tagen unter scharfer Aufsicht. Der Grundsatz gilt: Betäubungsloses Schlachten ist in Deutschland verboten. ({0}) Wir waren beim Grenzübergang Kapitan Andreewo, wo wir uns gemeinsam mit dem Agrarausschuss ganz nah an die Lkw heranbewegen konnten, weil die dortigen Veterinäre außerordentlich kooperativ und hilfreich mit uns gemeinsam das Elend direkt in Augenschein nahmen. Es war ihnen ein großes Anliegen, uns das zu zeigen. Dieses kleine Volk ist mit der Situation nämlich völlig überlastet. Lkws aus Rumänien, Polen, aus dem Baltikum, aber eben auch aus Deutschland – pro Tag stehen 70 Transporter an der Grenze – werden oft erst nach stundenlangem Warten abgefertigt, weil es immer wieder Staus gibt, da die türkischen Kollegen nur tagsüber abfertigen. Wir waren im Frühjahr dort, bei eher angenehmen 30 Grad. Doch ich will mir nicht vorstellen – wie Kollegin Mittag es in ihrem hervorragenden Beitrag geschildert hat –, was im Hochsommer, in der Mittagshitze bei über 40 Grad los ist: kein Schatten, kein Lüftchen, kein Wasser. Warum fahren diese Lkws nicht nachts? Warum kriegen wir es nicht vereinbart, dass im Sommer nachts abgefertigt wird? Es ist schwer, sich mit diesen Bildern zu befassen, und noch schwerer, sich einzugestehen, dass das Leid dort nicht endet. Es geht oft noch tagelang weiter, bis irgendwann die stolzen Tiere am Ende ihrer Tortur mit schweren Schäden ihren letzten Weg entlang geprügelt werden, bis ihr Leid unter Angst und Schmerz endlich beendet wird. Viele Kolleginnen und Kollegen haben sich erschüttert über die aktuellen Bilder geäußert. Über diese grauenvollen Zustände sind wir uns ja einig. Ich denke, das haben Kollege Gerig und Kollegin Mittag sehr deutlich gemacht. Unsere Meinung geht in diesem Punkt überhaupt nicht auseinander. Was wir heute ans Landwirtschaftsministerium richten, worum wir Grüne Sie bitten, ist kein Umsturz, kein Paradigmenwechsel, kein Verunmöglichen jeglichen Tierhandels. Wir fordern, dass Transporte nur dann durchgeführt werden, wenn die rechtlichen Bestimmungen eingehalten werden. Das ist auch der Wunsch der bulgarischen Freunde. ({1}) Wir fordern dabei eine klare Zusammenarbeit. Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt. Alle Verstöße, die dort auftreten, sind gemeldet und bekannt. Beim BMEL können die Kolleginnen und Kollegen abfragen, welche einzelnen Verstöße es gibt. Wir sind es den insgesamt 70 000 Tieren, den hochtragenden Jungrindern, den Mastbullen, den aussortierten Altkühen, die 2016 transportiert wurden, schuldig. Wir brauchen ein Moratorium der Transporte in EU-Drittländer, meine Damen und Herren, das so lange aufrechterhalten werden muss, bis das eklatante Vollzugsdefizit behoben ist. Schönen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Johannes Röring für die CDU/CSU-Fraktion als letzter Redner in dieser Debatte. ({0})

Johannes Röring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im vergangenen November wurde im ZDF ein Bericht ausgestrahlt, der massive Tierschutzverletzungen während des Transportes von lebenden Schlachtrindern in Drittländer sowie deren Schlachtung vor Ort zeigte. Diese Bilder waren erschreckend. Sie haben nicht nur mich erschüttert, sondern uns alle. ({0}) Viele von uns erreichten zahlreiche Mails und Briefe von Bürgerinnen und Bürgern unserer Wahlkreise, die ebenfalls diese Aufnahmen gesehen haben und fassungslos waren. Niemand kann verstehen, wie in diesen Aufnahmen mit Tieren umgegangen wurde – am allerwenigsten unsere deutschen Landwirte, die sich Tag für Tag, Monat für Monat um ihre Tiere kümmern. Das haben auch die Aussagen einer betroffenen Bauernfamilie in dieser Fernsehsendung gezeigt. ({1}) Bei den im Bericht gezeigten Schlachtviehexporten sind zwar nicht in Deutschland, dafür aber in anderen Ländern Tierschutzbestimmungen teilweise brachial missachtet worden. Das Ausmaß der gezeigten Tierschutzverstöße ist für mich erschreckend. Für mich ganz persönlich, aber auch für die gesamte CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind diese Tierrechtsverletzungen vollkommen unakzeptabel. Direkt am Tag der Ausstrahlung habe ich mich in anderer Funktion unmissverständlich zu diesen Vorgängen geäußert. Wenn Tierwohlaspekte bei Schlachtviehtransporten aus der EU trotz klarer EU-Regelungen offenbar kaum noch eine Rolle spielen, sobald die Tiere die EU-Außengrenzen erreichen, dann müssen gesetzliche Rahmen und Regelungen geschaffen werden, die den Transport von Schlachttieren in Drittländer gänzlich verbieten. Tiertransporte sind natürlich generell ein sensibles Thema. Für mich gilt dabei: Nicht allein die Vorgabe der Transportzeit ist entscheidend, sondern auch die Qualität des Transportes und ihre Überwachung. Die eklatanten Verstöße in Drittländern, die in den Fernsehbildern gezeigt wurden – es geht hier nicht nur um den Transport, sondern auch um eklatante Verstöße bei der Schlachtung –, unterstreichen unsere Forderung, die Tierhaltung nicht aus Deutschland zu vertreiben. Eine Verlagerung unserer Nutztierhaltung ins Ausland führt nicht nur zum Verlust von vielen Arbeitsplätzen im vor- und nachgelagerten Bereich, sondern wir haben dann auch keinen Einfluss mehr auf die Haltung der Tiere. Tierschutz spielt anscheinend in anderen Ländern eine andere Rolle, und dort gibt es in dieser Hinsicht eine andere Kultur. Deswegen bin ich dafür, dass wir die Tierhaltung in Deutschland auch behalten. ({2}) Die an mancher Stelle kritisierte räumliche Konzentration der Tierhaltung sorgt dafür, Frau Tackmann, dass die Transportwege äußerst kurz sind, da sich die Schlachtstätten in der Nähe der tierhaltenden Betriebe befinden. Bei uns im Münsterland beträgt die durchschnittliche Transportdauer für ein Schlachtschwein etwa 40 Minuten. Mit der Tierschutztransportverordnung gilt bereits heute eine umfangreiche europäische Regelung zum Transport von lebenden Tieren. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass das Wohl der Tiere bis zum letzten Zielort sichergestellt sein muss. Insbesondere für die zeitlichen Abstände der Versorgung mit Futter und Wasser, die Temperatur im Fahrzeug, die Ladedichte sowie Ruhepausen während des Transportes von Tieren gibt es genaue Vorschriften. Ich fordere die Kontrollbehörden auf, die ganz offenkundigen Lücken zu schließen, und zwar zügig. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft unterstützt den Export von lebenden Tieren nicht. Bei langer Beförderung können Tiere besonderen Belastungen ausgesetzt werden. Deshalb sollte der Transport von Schlachttieren über große Entfernung vermieden bzw. abgeschafft werden. Langzeittransporte von Schlachttieren sollten durch Fleischtransporte ersetzt werden. Diese Position des Bundeslandwirtschaftsministeriums unterstütze ich ausdrücklich. Bereits im Jahr 2014 hat sich Bundesminister Christian Schmidt gemeinsam mit Dänemark und den Niederlanden mit einer Erklärung an die Kommission gewandt. Darin werden eine stärkere Begrenzung und bessere Kontrollen von Transporten gefordert. Dass nun erneut Bilder auftauchen, die eklatante Missstände und Tierschutzverletzungen aufzeigen, ist absolut nicht hinnehmbar. Deswegen unterstützen wir als Fraktion ausdrücklich das BMEL in seinem Einsatz für eine europaweite Begrenzung der Transportzeit auf maximal acht Stunden sowie für eine Revision der europäischen Rechtsgrundlage zum Tiertransport. Dennoch haben wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion Bundesminister Christian Schmidt mit Schreiben vom 23. November 2017 eindringlich gebeten, sich auf europäischer Ebene noch einmal für das Ende des Exports von Tieren zu reiner Schlachtung aus der EU in Drittländer starkzumachen. Christian Schmidt hat sich daraufhin direkt an den zuständigen Kommissar gewandt. Ich sage zum Abschluss: Solange der Tierschutz nicht gewährleistet werden kann, müssen kurzfristig Maßnahmen gefunden werden, um Schlachttiertransporte in Drittländer auszusetzen. Das muss schnell passieren. Ich freue mich auf eine gemeinschaftliche Debatte – das ist, glaube ich, das Gute an dieser Debatte, dass wir uns hier einig sind – im Agrarausschuss des Deutschen Bundestages. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. ({0}) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/435 und 19/448 – darf ich meinen Satz erst einmal beenden? – an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Bevor ich feststelle, ob Sie damit einverstanden sind, nehme ich jetzt erst einmal einen Antrag zur Geschäftsordnung zur Kenntnis.

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Die AfD-Fraktion bezweifelt die Beschlussfähigkeit des Bundestages gemäß § 45 der Geschäftsordnung und bittet um sofortige Überprüfung. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir haben für diesen Fall Regeln, ({0}) und diese Regeln halten wir an dieser Stelle ein. ({1}) Da von hier vorne durch den Sitzungsvorstand die Anzahl der Abgeordneten zwecks Feststellung der Beschlussfähigkeit in dieser Weise nicht festzustellen ist, bitte ich jetzt alle Kolleginnen und Kollegen, den Saal zu verlassen. Wir kommen zum Hammelsprung, welcher gleichzeitig der Feststellung der Beschlussfähigkeit dient. ({2}) Es kommt also – für diejenigen, die noch nicht so lange dabei sind; in dieser Legislatur hatten wir meines Wissens diese Situation noch nicht – § 51 unserer Geschäftsordnung entsprechend zur Anwendung. Wenn Sie den Saal verlassen haben – das erkläre ich auch denjenigen, die noch nicht wissen, wie es funktioniert; alle anderen können das schon einmal zügig tun, damit wir vorwärtskommen –, sammeln Sie sich bitte dort drüben, in der Westlobby. Wir haben Vorsorge getroffen. Sie können den Saal durch alle Türen wieder betreten; wir haben ja keine Sachabstimmung. Also: Sie werden beim Betreten des Saales gezählt. Wenn ich am Ende der Abstimmung weiß, wie viele Abgeordnete an ebendieser Abstimmung teilgenommen haben, wird der Sitzungsvorstand feststellen, ob die Beschlussfähigkeit gegeben ist oder nicht. Wenn diese nicht gegeben wäre, haben wir auch hierfür Vorsorge getroffen. Ich bitte diejenigen, die das Verfahren noch nicht beherrschen, vielleicht in der Zwischenzeit in der Geschäftsordnung nachzulesen, wie es weitergeht. Zuallererst bitte ich Sie, den Saal zu verlassen. Man kann auch auf dem Weg nach draußen notwendige Gespräche führen. ({3}) Ich bitte im Übrigen die Schriftführerinnen und Schriftführer, die für diesen Fall vorgesehen sind, ihren Arbeitsplatz an den Türen in der Westlobby einzunehmen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die offensichtlich noch großen Bedarf an Abstimmung haben, diese Abstimmung so langsam, aber sicher in die Westlobby zu verlegen. Ich bitte gleichzeitig darum, mir zu signalisieren, ob alle drei Türen mit den notwendigen Schriftführerinnen und Schriftführern besetzt sind. Das ist nämlich die zweite Voraussetzung für eine solche Abstimmung. Die erste Voraussetzung ist, dass der Saal leer ist. Da bitte ich jetzt die Kolleginnen und Kollegen Parlamentarier, sich aus dem Saal zu entfernen. Ich kann die Abstimmung erst dann eröffnen, wenn tatsächlich alle Parlamentarier den Saal verlassen haben. Die Türen auf den anderen Seiten sind schon verschlossen; das heißt, es kann auch keiner wieder hereinkommen. ({4}) Ich sehe, dass ein Großteil der Kolleginnen und Kollegen schon hinter der letzten Stuhlreihe angelangt ist. Ich bitte diejenigen, die was auch immer hier vorne noch zu erledigen hatten, sich zu den Ausgängen der Westlobby zu begeben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit für ein paar geschäftsleitende Hinweise. Ich lese Ihnen die wörtliche Formulierung für den Fall, der hier gerade eingetreten ist, aus der Geschäftsordnung vor. Ich bitte darum, dass eine Schriftführerin mir hilft, dafür zu sorgen, dass ich über Mikrofon auch in der Lobby zu hören bin. – Bin ich auch in der Lobby zu hören? ({5}) – Ich danke Ihnen für diesen Hinweis. Ich verlese § 45 Absatz 2 unserer Geschäftsordnung: Wird vor Beginn einer Abstimmung die Beschlußfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages bezweifelt und auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht oder wird die Beschlußfähigkeit vom Sitzungsvorstand im Einvernehmen mit den Fraktionen bezweifelt, so ist in Verbindung – das ist jetzt wichtig – mit der Abstimmung die Beschlußfähigkeit durch Zählung der Stimmen nach § 51, im Laufe einer Kernzeit-Debatte im Verfahren nach § 52 – das kommt jetzt hier nicht infrage – festzustellen. Der Präsident kann die Abstimmung auf kurze Zeit aussetzen. Diese kurze Zeit haben wir jetzt gerade in Anspruch genommen. Soweit ich es überblicke, haben fast alle Kolleginnen und Kollegen den Saal verlassen. Jetzt kommen wir zu der Komplikation. Ich korrigiere mich: Sie können jetzt nicht durch alle Türen gleichzeitig zur Feststellung der Beschlussfähigkeit hereinkommen. Wir müssen, wie ich es gerade verlesen habe, die Feststellung der Beschlussfähigkeit mit der ausstehenden Abstimmung – die hatte ich schon aufgerufen – über die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/435 und 19/448 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse verbinden. Jetzt kommt die Herausforderung: Diejenigen, die der Überweisung ebendieser Drucksachen zustimmen, betreten den Saal gleich, wenn ich diese Abstimmung eröffne, durch die Tür, über der das Wort „Ja“ zu lesen ist. Diejenigen, die beabsichtigen, dieser Überweisung nicht zuzustimmen, kommen durch die Tür mit dem „Nein“. Sollte es Kolleginnen und Kollegen geben, die nicht wissen, ob sie der Überweisung zustimmen wollen oder nicht, die sich also enthalten wollen, dann kommen diese Kolleginnen und Kollegen durch die Tür „Enthaltung“. Ist das vom Grundsatz her verstanden worden? – Sie werden an der Tür, durch die Sie den Saal betreten, also hinsichtlich Ihres Abstimmungsverhaltens gezählt und registriert. Indem wir die Abstimmungsergebnisse an der Ja-Tür, an der Nein-Tür und an der Enthaltungs-Tür zum Schluss summieren, stellen wir gleichzeitig fest, wie viele Abgeordnete überhaupt an der Abstimmung teilgenommen haben. Dann können wir überprüfen, ob das für die Beschlussfähigkeit notwendige Quorum erreicht ist oder ob die Vermutung der antragstellenden Fraktion richtig ist, dass die Beschlussfähigkeit im Moment nicht gegeben ist. Haben Sie alles verstanden? – Prima. Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer am angegebenen Ort? – Wunderbar. Wenn sich herauskristallisieren sollte, dass der Andrang an einer Tür besonders groß ist, bitte ich, dass sich diejenigen, die den Saal durch diese Tür betreten haben, möglichst bald in die Reihen ihrer Fraktion nach vorn begeben, damit dann auch die nachrückenden Kolleginnen und Kollegen zügig abstimmen können. Ich eröffne die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer an den Türen, mir ein Signal zu geben, ob sie noch Kolleginnen und Kollegen sichten, die nicht an der Abstimmung teilnehmen konnten. Nach unserer Wahrnehmung sind die Türen nicht mehr ganz so überfüllt. Wir können von hier vorne aber nicht erkennen, ob irgendjemand daran gehindert wird, den Saal zu betreten, bzw. ob die Menschen, die in der Westlobby unterwegs sind, gar keine Abgeordneten sind. Ich bitte darum, die Abstimmung voranzutreiben. – Es sind noch Abgeordnete dabei, den Saal zu betreten, entnehme ich Ihren Zeichen. Deute ich das Zeichen richtig? – Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mir das Ergebnis zu übermitteln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist zumindest offensichtlich, dass für jeden anwesenden Kollegen und jede anwesende Kollegin ein Sitzplatz vorhanden ist. Insofern bitte ich darum, bevor ich zum Abstimmungsergebnis komme, dass alle einen solchen Platz einnehmen, um den Verhandlungen hier entsprechend folgen zu können. ({6}) Ich erinnere auch an unsere Verabredung, was das Thema „Foto- und Filmaufnahmen im Plenum des Bundestages“ anbetrifft. ({7}) Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben mir das Ergebnis der Abstimmung durch Auszählung mitgeteilt: An der Abstimmung haben 312 Kolleginnen und Kollegen teilgenommen. ({8}) Ich bitte darum, mir zu ermöglichen, das vollständige Abstimmungsergebnis bekannt zu geben. ({9}) 312 Kolleginnen und Kollegen haben für die Überweisung der Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse gestimmt. Da zur Beschlussfähigkeit des Deutschen Bundestages jedoch 355 Stimmen erforderlich sind, stelle ich erstens fest, dass damit die Ausschussüberweisung der Vorlagen, welche wir hier debattiert haben, nicht beschlossen ist. Gleichzeitig stelle ich fest, dass das Haus nicht beschlussfähig ist. Infolge der Beschlussunfähigkeit hebe ich die Sitzung gemäß § 45 Absatz 3 unserer Geschäftsordnung aber noch nicht auf; denn bevor ich das tue, muss ich Ihnen formal erklären, was noch zu beachten ist. Außerdem muss ich noch klären, wann wir wie weitermachen. Deswegen bitte ich um Geduld. Wenn wir uns heute Abend schon so versammelt haben, sollten wir darüber reden, wie die Geschäftsordnung nicht nur auszulegen, sondern exakt umzusetzen ist. Nach parlamentarischer Übung ist die Sitzung infolge der Beschlussunfähigkeit auch dann aufzuheben, wenn keine Zweifel an der Beschlussunfähigkeit geäußert wurden. Das in § 45 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages genannte Merkmal des Bezweifelns der Beschlussfähigkeit ist entbehrlich, da die Nichtanwesenheit von mehr als die Hälfte der Mitglieder bereits zahlenmäßig erfasst wurde. Ich bin immer noch dabei, Ihnen zu erklären, was unsere Geschäftsordnung für diesen Fall vorsieht. – Wenn ich gleich entsprechend der Geschäftsordnung die Sitzung aufhebe – und dazu bin ich gezwungen –, könnte der Präsident des Deutschen Bundestages, Herr Dr. Wolfgang Schäuble, nach § 20 Absatz 5 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages sofort, in dieser Minute für den heutigen Tag eine weitere Sitzung mit derselben Tagesordnung, die wir ja schon einmal vereinbart haben, einberufen. Ich habe gerade vom Präsidenten des Deutschen Bundestages die Nachricht bekommen, dass er, wenn ich die Aufhebung der Sitzung entscheide, nicht beabsichtigt, heute eine weitere Sitzung des Deutschen Bundestages einzuberufen. ({10}) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 19. Januar 2018, 9 Uhr, ein. Die heutige Sitzung ist auf der Grundlage des gerade festgestellten Abstimmungsergebnisses aufgehoben. (Schluss: 23.19 Uhr)