Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/28/2018

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger stehen der Organspende positiv gegenüber. Und dennoch sind die Spendenzahlen 2017 auf einen Tiefpunkt von 797 Organen gesunken. Gleichzeitig hat die Zahl der Bürgerinnen und Bürger, die einen Organspendeausweis besitzen, nach einer Befragung unserer Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zugenommen: von 17 Prozent 2008 auf immerhin 36 Prozent 2018. Warum ist das nun so? Forscher des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein haben auf der Suche nach Gründen Behandlungsfälle ausgewertet und eine Studie erstellt. Das Ergebnis ganz kurz: Die mangelnde Spendenbereitschaft ist nicht das Hauptproblem. Der Schlüssel sind vor allem die Kliniken, denen oft Zeit und Geld fehlt, Organspender zu identifizieren. Genau deswegen ist es für mich so wichtig, dass wir uns zuerst auf die Verbesserung der Rahmenbedingungen in der Organspende und die Behebung der strukturellen Defizite konzentrieren. Mit unserem Entwurf eines Gesetzes für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende machen wir die Kliniken fit für eine bessere Zukunft. ({0}) Um was geht es? Wir werden zum Beispiel die Stellung der Transplantationsbeauftragten stärken, potenzielle Spender werden somit besser identifiziert. Wir wollen eine leistungsgerechte Bezahlung der Entnahmekrankenhäuser und vor allem eine flächendeckende neurochirurgische und neurologische konsiliarärztliche Rufbereitschaft, die dafür sorgt, dass erstmals auch Patienten, die in kleinen Krankenhäusern versterben, als Spender identifiziert werden. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gilt nun, die positive Einstellung unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger zur Organspende zu stärken. ({1}) Das Ziel muss sein, Menschen verstärkt zur freiwilligen Spende zu motivieren. Aus meiner Sicht müssen wir vor allem die Aufklärung verbessern. Dazu gehört eine regelmäßige Information, die zur Organspende ermutigt. Dafür ist meines Erachtens die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in hohem Maße geeignet. ({2}) Organspende und Transplantationsmedizin müssen verstärkt Thema in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung sein. ({3}) In der Folge wäre eine Beratung über die Organspende durch Haus- und Fachärzte für mich sicherlich wünschenswert. Ich bin auch davon überzeugt, dass die stets widerrufliche Hinterlegung der Spendenbereitschaft in einem gesicherten Register, einer Datenbank, mehr Sicherheit für alle Beteiligten bietet. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eins ist mir aber ganz wichtig: Wir müssen die Organspende als eine bewusste und freiwillige Entscheidung beibehalten, die weder erzwungen werden darf noch von der Gesellschaft erwartet werden kann. ({5}) Ich will nicht, dass das Selbstbestimmungsrecht des Menschen auf ein nachträgliches Veto reduziert wird. Eine Widerspruchslösung, die davon ausgeht, dass einem Menschen Organe entnommen werden dürfen, wenn er nicht ausdrücklich widersprochen hat, führt meines Erachtens in die falsche Richtung. ({6}) Ein solcher Vorschlag ist, jedenfalls für mich, nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen sowie mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit vereinbar. ({7}) Und genau deshalb setze ich mich dafür ein, dass wir die jetzige Zustimmungslösung beibehalten. Der freiheitliche Staat darf meines Erachtens auch keine Entscheidungspflichten schaffen. Eine Widerspruchslösung würde dies zwangsläufig nach sich ziehen. Statt Unentschiedenheit als eine Freigabe der eigenen Organe zu bewerten, wäre es besser, eine stets widerrufliche Entscheidung in einer Datenbank zu speichern. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Maag, die vier Minuten sind vorüber. Vielen Dank.

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Gehrke, AfD. ({0}) Ich gebe den Rednern jeweils 15 Sekunden vor Ablauf der vier Minuten ein Zeichen und bitte, das ernst zu nehmen: Nach vier Minuten ist die Redezeit „over“. ({1})

Prof. Dr. Axel Gehrke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004725, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke schön, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte reißt alte Wunden auf. Durch die geplante Einführung der Widerspruchslösung wird die Organspende zur staatlich sanktionierten Organentnahme. Die Widerspruchslösung verbessert nur scheinbar die Situation der Lebenden, aber erhöht das Leid der Trauernden. In der gesamten Organspendedebatte gibt es zwei Seiten: eine helle und eine dunkle. Über die helle Seite wird hier sicher ausgiebig gesprochen werden. Es ist die Seite, die auf die inzwischen 12 000 Menschen abhebt, die dringend auf ein Spenderorgan warten. Wir alle kennen die Bilder von Kindern, die nach einer Transplantation wieder fröhlich in die Kamera lachen. Es ist beglückend, auf dieser hellen Seite zu stehen und als Operateur, Kliniker oder Pharmazeut am Erfolg dieser medizinischen Meisterleistungen mittelbar oder unmittelbar beteiligt zu sein. Großartig, dass es diese Möglichkeiten gibt, und hoffentlich schreitet der medizinische Fortschritt weiter voran. Demgegenüber steht die dunkle Seite. Ich bin gespannt, wie häufig diese heute im Plenum angesprochen wird. Ich bin der festen Überzeugung, dass, wenn wir die Widerspruchslösung einführen, der Staat dem Bürger dann die im neuen Gesetz geforderte umfassende Aufklärung auch wirklich umfassend schuldet; denn der besorgte Bürger wird nachfragen. Was gehört zu einer umfassenden Aufklärung? Es ist nicht die Hirntotdebatte, die im Internet geführt wird. Als langjährig auf Intensivstationen tätiger Arzt kann ich versichern, dass eine Patientin oder ein Patient mit einer langanhaltenden Nulllinie in den Gehirnströmen niemals – wirklich niemals – eine Chance hat, weiterzuleben. Ausnahmslos alle Schauermärchen hielten einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Diese Menschen sind Sterbende, die nur noch durch Apparate am Leben gehalten werden. Nach Ausschalten der Apparate tritt unweigerlich und in kurzem zeitlichen Abstand der Tod ein. Hier beginnt die Grauzone, die den Menschen zu Recht Sorge macht, nämlich die Organentnahme. Ich zitiere eine betroffene Mutter aus dem Internet: Wir dachten: Der stirbt jetzt, und dann entnehmen sie die Organe. Dass das im Sterben passiert, war uns ja gar nicht bewusst. Warum haben wir nicht gefragt: „Was genau passiert denn da?“, bevor wir eingewilligt haben? – Bei einer Widerspruchslösung wird nicht einmal das mehr möglich sein. Deswegen wird die Widerspruchslösung meiner Meinung nach eher zu noch weniger Organspenden führen als die derzeitige Entscheidungslösung, bei der sich Menschen individuell und häufig über einen längeren Zeitraum genau informiert haben und in voller Kenntnis dessen sagen: Jawohl, ich möchte anderen Menschen helfen und über meinen Tod hinaus der Menschheit nützlich sein. Ich stelle meine Organe aus selbstlosen Motiven zur Verfügung. – Das ist eine bewundernswerte Haltung, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Ob das umgekehrt bei der Widerspruchslösung mit gleicher positiver Grundhaltung geschehen wird, bezweifle ich. Es gibt nicht zu wenig Spender. 70 Prozent der Befragten – eben wurde von 80 Prozent gesprochen; ich kenne die Zahl 70 Prozent – äußerten sich positiv zur Organspende. Es sind die Mängel bei der Organisation und Mängel bei der Betreuung und nicht bei der Methode der Auswahl, die dazu führen, dass wir zu wenig Spender haben. Das hat ja im Übrigen auch die Delegationsreise des Gesundheitsausschusses gezeigt, worüber heute sicher noch berichtet wird. Die Widerspruchslösung ist dagegen voller Baustellen, vor allem wird sie sich nie von dem Verdacht der Begehrlichkeiten Dritter befreien können. Das beginnt schon bei sogenannten organprotektiven Maßnahmen, also Maßnahmen, die beim Sterbenden ergriffen werden, um die zu transplantierenden Organe zu schützen. Wer hat mehr Rechte – der zukünftige Empfänger oder der Sterbende? Wie steht es mit Verfügungserklärungen vieler Menschen, das Leben nicht unnötig zu verlängern, das heißt, die Geräte abzuschalten, auch wenn der Hirntod noch nicht eingetreten ist?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Gehrke, auch Ihre Redezeit –

Prof. Dr. Axel Gehrke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004725, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zum Schluss.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

– ist leider abgelaufen.

Prof. Dr. Axel Gehrke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004725, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Dann bedanke ich mich sehr herzlich. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karl Lauterbach, SPD. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Worum geht es hier? Über 10 000 Menschen warten in Deutschland auf ein Organ, und sie warten zum Teil im Angesicht des Todes. Es sind auch viele Kinder betroffen. Ich weiß, dass das heute noch oft gesagt wird, aber ich bin jemand, der damit tatsächlich Erfahrung hat. Ich habe über Jahre hinweg für das Kuratorium für Heimdialyse eine Studie mit über 15 000 Menschen, die dialysepflichtig waren, geleitet. Damals habe ich mit vielen Menschen gesprochen, die auf ein Organ warteten. Der Dialysepatient weiß, dass er sterben kann, während er auf der Warteliste steht. Jeder Fünfte, der in Deutschland auf der Warteliste steht, stirbt, während er wartet. Es sterben auch viele Kinder, während sie warten. Das ist unnötiges Leid. Jeder, der die Dialyse bekommt, weiß, dass er darüber hinaus auch gesundheitliche Schäden davonträgt. Viele Jahre Dialyse bedeuten ein deutlich erhöhtes Demenzrisiko. Viele Jahre Dialyse bedeuten, dass die Gefäße geschädigt werden. Das wissen Dialysepatienten. Somit geht es nicht nur darum, den Tod zu verhindern, der verhinderbar wäre, sondern es geht auch darum, verhinderbares Leid zu verhindern. Das können wir aus meiner Sicht mit der Widerspruchslösung tun – wie es die meisten europäischen Länder getan haben. Selbstverständlich brauchen wir eine deutlich verbesserte Organisation der Organspende. Ich habe mich selbst bei den Koalitionsverhandlungen dafür eingesetzt. Ich habe dafür gekämpft, und ich bin dankbar, dass Minister Spahn das jetzt umsetzt. Das ist unbedingt notwendig, wird aber alleine nicht ausreichen. Länder wie Spanien, Frankreich, England und Italien haben drei- bis viermal so viele Organspender bezogen auf 1 Million Einwohner als wir. Wir werden die Situation mit einer besseren Logistik verbessern; das wird aber niemals reichen, um die Not in Deutschland, die zunimmt – die Wartelisten werden länger; es wird ja mehr ältere Menschen und weniger potenzielle Spender geben –, zu lindern. Daher müssen wir aus meiner Sicht das Optimum erreichen. Das sage ich als Arzt wie als Politiker. Wir müssen uns mit dem, was wir schaffen können, auseinandersetzen. Die Widerspruchslösung ist auch ethisch richtig. Es geht nicht darum – Frau Maag, ich schätze Ihre Einlassungen sonst sehr –, dass hier jemand zur Organspende gezwungen werden soll. Vielmehr geht es darum, dafür zu sorgen, dass sich jeder damit beschäftigt. Das ist in der Tradition von Immanuel Kant, der, vereinfacht ausgedrückt, gesagt hat, dass die Maxime des eigenen Handelns die Grundlage eines allgemeinen Gesetzes werden könnte. ({0}) Was ist denn die Maxime eines jeden, der ein Organ benötigt? Er erwartet, dass er dann auch ein Organ bekommen kann. Umgekehrt muss er zumindest auch bereit gewesen sein, sich einmal mit der Frage zu beschäftigen. ({1}) Es geht nicht um die Zustimmung. ({2}) – Genau, das ist ein Element der Selbstbestimmung. ({3}) Jeder, der sich dann dagegen entschieden hat, ist trotzdem weiter Empfänger, hat keine Nachteile. Ich will nur, dass man sich damit beschäftigt. Das ist aus meiner Sicht, zugespitzt gesagt, nicht zu viel verlangt. ({4}) Denn jeder, der erlebt, dass das eigene Kind ein Organ benötigt, der verlangt auch von anderen, dass sie sich damit beschäftigen, der wünscht sich zum Teil auch, dass er selbst sich mehr damit beschäftigt hätte. Die meisten, die ein Organ benötigen, bedauern es, dass sie sich selbst nie damit beschäftigt haben. Wir wollen ja eine doppelte Sicherheit. Wenn die Angehörigen eines Menschen, der zur Spende ansteht, der Meinung sind, dass dieser Mensch nicht mehr bereit gewesen wäre, zu spenden, dann können sie immer noch sagen: Nein, wir wissen, dass er das zum Schluss nicht mehr wollte. – Dann wird das Ganze also sozusagen noch durch ein Sicherheitsnetz aufgefangen. Somit schaffen wir eine Regelung, die das Leid verhindert, den unnötigen Tod verhindert, aber gleichzeitig auch vor Fehlern und Missbrauch schützt. Das ist aus meiner Sicht eine Regelung, die gut in unsere Zeit passt. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir haben bei den Organspendezahlen in Deutschland ohne Zweifel ein Problem. Zu viele Menschen warten auf ein lebenswichtiges Spenderorgan, und es gibt immer weniger Organspenden. Doch die Ursache dafür liegt nicht in der mangelnden Spendebereitschaft der Bevölkerung. Ganz im Gegenteil: Sie ist in den letzten Jahren gestiegen, also haben sich die Menschen auch damit beschäftigt, Herr Lauterbach. ({0}) Das Problem sind vielmehr der arbeitsintensive Klinik­alltag und der verbesserungswürdige Organisationsablauf in den Kliniken, ({1}) und das muss selbstverständlich auch geändert werden; da sind wir uns doch alle einig. ({2}) Meine Damen und Herren, ich spreche hier heute als Vertreterin meiner Fraktion mit einer großen Vehemenz gegen die Widerspruchslösung, aus vollstem Herzen; denn für uns missachtet die Widerspruchslösung das Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger. ({3}) Es verkehrt die freie Entscheidung, ein Organ spenden zu wollen – wir reden von einer Spende –, genau ins Gegenteil. Dass der Staat auf Organe ohne Einverständnis zugreifen will, indem er einen unterlassenen Widerspruch als Zustimmung wertet, kann ich als Freie Demokratin nicht akzeptieren. ({4}) Die Widerspruchslösung beschneidet nach unserer Ansicht Grundrechte und hebelt vor allem den Grundsatz aus, dass jeder medizinischen Behandlung zugestimmt werden muss. ({5}) Meine Damen und Herren, es kann doch nicht sein, dass wir nach der Datenschutz-Grundverordnung für jedes Bild, das wir im Internet hochladen und auf dem ein anderer drauf ist, eine Unterschrift, eine Zustimmung brauchen ({6}) und bei einer so wichtigen Frage wie der Organspende, bei der es um den eigenen Körper geht, Schweigen als Zustimmung gelten soll. Das ist doch fast schon absurd. ({7}) Das deutsche Recht geht überhaupt vom Grundsatz aus, dass Schweigen keinerlei Erklärungswert besitzt und deshalb ohne rechtliche Bedeutung ist. Meine Damen und Herren, ich finde, es ist Ausdruck des Respektes vor der individuellen Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger, dass wir gerade bei so wichtigen Themen wie der Organspende eine ausdrückliche Zustimmung voraussetzen. ({8}) Wir sind gegen die Widerspruchslösung; ich glaube, das habe ich mehr als deutlich gemacht. Wir sehen aber trotzdem auch weiteren Handlungsbedarf; denn wir müssen feststellen, dass die unverbindliche Form der Entscheidungslösung nicht zu einer Erhöhung der Zahl der Organspenden geführt hat. Deshalb sollte unserer Meinung nach die Entscheidungslösung verbindlicher ausgestaltet werden. Eine verpflichtende Entscheidungslösung, wie wir sie unterstützen, würde bedeuten, dass bei Beantragung behördlicher Dokumente angegeben werden muss, wie man sich bei der Frage der Organspende entscheidet. Dazu müssen die Meldebehörden verpflichtet werden, volljährige Personen zu befragen, ob man der Organspende oder der Gewebespende zustimmt oder nicht oder ob man es bewusst offenhält. Auch das ist für uns eine wichtige Möglichkeit. Meine Damen und Herren, Handlungsbedarf bei der Organspende besteht. Es sind aber bei weitem noch nicht alle Maßnahmen getroffen worden, die unterhalb der Widerspruchslösung notwendig sind. Die verpflichtende Entscheidungslösung, wie wir sie befürworten, wäre ein maßvoller Kompromiss zwischen dem Handlungsbedarf auf der einen Seite und dem Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger auf der anderen Seite. Nur so kann den Menschen vermittelt werden, was Organspende bedeutet, nämlich das Leben eines anderen Menschen zu retten. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Katja Kipping, Fraktion Die Linke, ist die nächste Rednerin. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutlich mehr Menschen hoffen auf eine Organspende, als Spenderorgane zur Verfügung stehen. Diese Menschen haben Träume und Angehörige, die zusammen mit ihnen hoffen und bangen. Insofern müssen wir etwas tun. Fakt ist, in Krankenhäusern, die unter Personalmangel leiden und unter Profitdruck stehen, sind die Bedingungen für eine gute Organisation von Organspenden deutlich schlechter. Auch deshalb steht meine Partei Die Linke an der Seite der Beschäftigten, wenn sie zu Recht sagen: Mehr von uns ist besser für alle. ({0}) Nun geht es bei dieser Debatte nicht nur um Fragen der Gesundheitspolitik, sondern auch um grundlegende ethische Fragen: Wo enden staatliche Zugriffsrechte? Was tun, wenn grundlegende Persönlichkeitsrechte miteinander in Konflikt geraten: Hier das Recht eines jeden, über die Integrität seines Körpers zu entscheiden, dort die Hoffnung derjenigen, die auf ein Spenderorgan warten? Ich finde es gut, dass in dieser Debatte nachdenkliche Stimmen und mahnende Worte zu Gehör kommen. Ich selbst bin Inhaberin eines Organspendeausweises und werbe ausdrücklich dafür; denn ich persönlich finde die Vorstellung tröstlich, dass nach meinem Tod womöglich eines meiner Organe einem anderen Menschen weitere Lebensjahre bescheren kann. Auch wenn ich für mich eine klare Entscheidung getroffen habe, so habe ich starke Bedenken gegen die Widerspruchslösung von Jens Spahn. Diese Bedenken haben vor allem mit folgender Frage zu tun: Besteht die Gefahr, dass irgendwann der berechtigte Wunsch, die Zahl der zur Verfügung stehenden Spenderorgane zu erhöhen, dazu führt, dass der Todeszeitpunkt so definiert wird, dass er die größtmögliche Ausbeutung ermöglicht? Die Diskussionen über die medizinischen Verbrechen in der NS-Zeit, der Nazizeit in Deutschland haben dazu geführt, dass hierzulande bei ärztlichen Behandlungen das Prinzip der informierten Einwilligung als Voraussetzung für jeden Eingriff gilt. ({1}) Aber dieses Prinzip der informierten Einwilligung ist durchbrochen, wenn alle, die nicht widersprechen, automatisch als Spender gelten. Sicherlich wird man bei vielen davon ausgehen können, dass ein nicht wahrgenommener Widerspruch eine Zustimmung ist – bei mir ist das zum Beispiel der Fall –, aber das wird niemals auf alle zutreffen. Wir können ahnen, dass es eher die einkommensärmeren und die bildungsferneren Schichten sind, die dieses Recht auf Widerspruch nicht in dem Maße wahrnehmen werden. Dem gegenüber stehen die Hoffnungen all jener, die auf ein Spenderorgan warten, und ihrer Liebsten. Das wiegt schwer. In der Abwägung dieser beiden Seiten werbe ich für das Modell der verbindlichen wiederkehrenden Abfrage. Eine Umsetzungsform hat eine Gruppe von Abgeordneten der verschiedenen Parteien um Annalena Baerbock vorgeschlagen. Wir schlagen vor, dass jedes Mal, wenn der Reisepass oder der Personalausweis beantragt wird, die Antragstellenden abgefragt werden. In der Regel liegen zwischen Beantragung und Abholung des Ausweises einige Wochen. In dieser Zeit könnten auch gezielt medizinische Beratungsstellen aufgesucht werden, die ergebnisoffen informieren. Dieses Modell der verbindlichen wiederkehrenden Abfrage kann sowohl die zur Verfügung stehende Zahl der Spenderorgane erhöhen, es entspricht dem Prinzip der informierten Einwilligung, und es ermöglicht Menschen, im Laufe ihres Lebens ihre Entscheidung zu überdenken und zu verändern. Ja, wir alle müssen in dieser Frage eine schwere Abwägungsentscheidung treffen. Ich meine, die verbindliche regelmäßige Abfrage in Verbindung mit einer ergebnisoffenen guten Beratung wird den schwerwiegenden Argumenten beider Seiten am besten gerecht. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Annalena Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin. ({0})

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal herzlichen Dank für diese Debatte; denn sie macht deutlich, dass wir in angespannten Zeiten sehr ernsthaft als Deutscher Bundestag über schwierige ethische Fragen reden – und das in einer Orientierungsdebatte, wo wirklich Argumente gegeneinander abgewogen werden. Wir haben die Situation – das wurde gerade angesprochen –, dass Menschen wirklich in tiefster Sorge um ihre Mutter, ihr Kind oder ihre Verwandten auf Organspenden warten – das sind derzeit etwa 12 000 –, im letzten Jahr aber nur 797 Spenden zur Verfügung standen. Das ist eine Situation, in der Politik handeln muss, weil es dringenden Handlungsbedarf gibt. ({0}) Das Gute in dieser Situation ist, dass 84 Prozent unserer Bevölkerung sagen: Ja, wir möchten spenden. – Das haben wir bei ganz, ganz wenigen Themen. Zugleich haben aber nur 39 Prozent diese Entscheidung bewusst getroffen. Um diese Diskrepanz geht es, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wir müssen als Gesetzgeber eine Lösung finden, um diese Diskrepanz zu schließen, und zwar auf Grundlage dessen, dass Menschen tagtäglich sterben, wir aber auch eine historische und ethische Verantwortung mit Blick auf das Selbstbestimmungsrecht eines jeden einzelnen haben. ({1}) Ich finde es sehr richtig, dass das Gesundheitsministerium im Oktober einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, durch den erst einmal die Zusammenarbeit und vor allen Dingen die Situation in den Krankenhäusern mit Blick auf die Organspende verbessert werden sollen. Das ist essenziell für jegliche weitere gesetzliche Änderung. ({2}) Allerdings wird auch dieses Gesetz die Lücke zwischen den 39 Prozent, die einen Spenderausweis haben, und den 84 Prozent, die eigentlich Spenderinnen und Spender sein wollen, nicht schließen. Deswegen gibt es weiteren Handlungsbedarf, und zwar jetzt, weil eben jeden Tag Menschen sterben. Ich habe eine große Sorge in Bezug auf die Widerspruchslösung, und zwar, dass die Spendebereitschaft der 84 Prozent dadurch zerstört wird, dass man Menschen jetzt zwingt, aktiv Nein zu sagen. ({3}) Es ist ja nicht so, dass alle Nein sagen können. Manche Menschen sind dazu nicht in der Lage. Das ist nicht die breite Masse unserer Bevölkerung; aber es gibt Menschen, die eben dazu nicht in der Lage sind. Außerdem haben wir in allen anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Datenschutz-Grundverordnung, als Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler dieses Landes durchgesetzt, dass man aktiv zustimmen und nicht widersprechen muss. Das bei so einer tiefethischen Frage anders zu machen, halte ich – das gilt auch für viele andere, die das hier schon angesprochen haben – für falsch. ({4}) Wir haben einen eigenen Vorschlag gemacht – Katja Kipping, Matthias Miersch und etliche Kolleginnen und Kollegen von der Union haben es angesprochen –; denn wir müssen sagen, wie es gehen soll, wenn wir die Widerspruchslösung für schwierig halten. ({5}) Wir haben uns da an etwas orientiert, was ein ehemaliger Nobelpreisträger vorgeschlagen hat, und zwar, zu sagen: Wir müssen verankern, dass es auch eine Frage von Solidarität in der Gesellschaft ist. Wenn jeder Einzelne von uns erwartet, dass er im Notfall ein Organ bekommt, dann können wir erwarten, dass man sich entscheiden muss, ob man selber Spenderin oder Spender ist; das müssen wir deutlich machen. ({6}) Wir schlagen deswegen eine verbindlichere Lösung vor als die, die von Frau Maag hier angesprochen wurde. Wir sind ja noch in der Diskussion, wie verbindlich es sein soll. Wir glauben aber, es muss eine verbindliche Abfrage geben. Damit wir alle Menschen in unserem Land erreichen, sollte diese Abfrage stattfinden, wenn diese einen Personalausweis beantragen. Man könnte das auch beim Arzt machen. Aber viele Menschen gehen gar nicht zum Arzt. Es gibt Hundertausende, die gar nicht krankenversichert sind. – Ich komme gleich zum Schluss, Herr Präsident. – Aus unserer Sicht muss das verbindlich sein. Deswegen wollen wir das mit der Personalausweisbeantragung verbinden. Wenn man seinen Personalausweis beantragt, kriegt man alle Informationen und hat dann Zeit. Wenn man den Ausweis abholt, muss man sich entscheiden, und zwar geheim; elektronisch ist das alles möglich. Dann kann man auch sagen, man möchte nicht; das ist der große Unterschied zum Widerspruch. Man kann auch sagen: Ich kann mich heute nicht entscheiden. Ich komme noch einmal wieder. – Das Ganze muss in einem zentralen Melderegister gemeldet werden, so wie das bei einer Knochenmarkspende üblich ist. ({7}) Ich glaube, so schließen wir die Diskrepanz zwischen den 84 Prozent und den 39 Prozent. Ich freue mich auf die weitere Debatte. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Jens Spahn, CDU/CSU. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werbe, wie andere auch, immer wieder dafür, dass wir als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes argumentativer, besser, sachlicher, auch mit Wertschätzung des Gegenargumentes miteinander debattieren, damit wir vielleicht lernen, es an manchen Stellen besser zu machen als in der öffentlichen Debatte in den letzten Monaten und Jahren. Ich finde, ein Beispiel für eine Debatte, bei der wir uns das zutrauen dürfen, aber vielleicht auch zumuten müssen, ist genau diese Debatte, die wir heute hier über die Organspende führen. Dieses Thema treibt mich um – als Gesundheitspolitiker, aber auch als Mensch, der, wie viele Kolleginnen und Kollegen hier, regelmäßig in Kontakt mit Menschen ist, die auf ein Organ warten, mit Menschen, die ein Or­gan geschenkt bekommen haben, deshalb überglücklich sind und sich jetzt umso engagierter in diese Debatte einbringen. Aufklärung, Bewusstseinsbildung, Einladung zur Entscheidung – das wäre ohne Zweifel der Weg, der auch mir als Christdemokraten erst einmal näherläge. Aber auch ich befand mich da in den letzten Jahren in einem Prozess. Die Regelung, wie sie heute ist, hat die Mehrheit des Hauses vor einigen Jahren gemeinsam beschlossen. Aber wir müssen eines konstatieren: Wir hatten im letzten Jahr erneut einen Tiefstand bei der Organspende: nicht einmal 800 Organspender im Jahr 2017. Wir haben – es ist schon gesagt worden – über 10 000 Menschen, die warten. Vor allem könnte jeder von uns morgen selbst in der Situation sein, auf eine Organspende angewiesen zu sein. Wir haben – das ist schon gesagt worden – als Bundesministerium für Gesundheit bzw. als Bundesregierung darauf reagiert, indem wir einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, der die Abläufe in den Kliniken betrifft: mehr Zeit, mehr Geld, mehr Ressourcen, um potenzielle Organspender identifizieren zu können. Und wir führen – losgelöst davon – diese, wie ich finde, wichtige Debatte über die Widerspruchslösung oder andere Möglichkeiten, zu verbindlicheren Entscheidungen zu kommen. Ich wünsche mir sehr, dass wir diese Debatte – so, wie sie heute begonnen hat – sehr breit und ausführlich führen; denn ich finde, es gibt gewichtige Argumente auf beiden Seiten, die eben auch gewogen werden sollten. Ich will im Übrigen ausdrücklich sagen: Unser Angebot seitens des Bundesministeriums an alle, die Unterstützung bei der konkreten Formulierung eines Gesetzentwurfs brauchen, steht. Wenn es darum geht, einen Gesetzentwurf zu schreiben, kann es immer gut sein, noch einmal drüberzuschauen, um zu sehen, wie es sich einfügt. Eines freut mich besonders: Allein die Debatte, die wir in den letzten Wochen geführt haben und die auch – das bekomme ich in vielen Diskussionen mit – am Mittagstisch, auf der Arbeit, in der Nachbarschaft geführt wird, hat offenkundig schon dazu geführt – das ist jedenfalls die Einschätzung der Deutschen Stiftung Organtransplantation angesichts der gestiegenen Zahlen in den letzten Wochen –, dass da ein neues Bewusstsein entstanden ist. Das ist doch erst einmal eine schöne Rückmeldung. Eine gut geführte Debatte verändert das Bewusstsein und die Einstellung. ({0}) Deswegen allein lohnt es sich schon, diese Debatte miteinander zu führen. Der Leitgedanke ist: Wie können wir die Zahl der Spender erhöhen? Ich selbst halte hier – nach langem Nachdenken – die erweiterte Widerspruchslösung für die richtige Antwort. Das heißt, dass zu Lebzeiten natürlich jeder selbst Nein sagen könnte und auch über ein solches neues Gesetz informiert werden müsste. Natürlich müssten wir jeden Bürger, jede Bürgerin anschreiben und – im Zweifel mehrmals – darüber informieren, damit Gelegenheit besteht, zu reagieren. Sollte jemand nicht zu Lebzeiten reagiert haben, dann sollten die Angehörigen immer noch im Sinne des oder der Verstorbenen entscheiden oder widersprechen können. Dafür erarbeiten wir gerade einen Gruppenantrag. Ich finde, das Nein aussprechen zu müssen, ist in einem Land, in dem so viele warten – es gibt 10 000 Wartende –, zumutbar. Ich will dazu abschließend, Herr Präsident, eines sagen: Das einzige Recht, das dabei beschnitten würde, wäre das Recht, sich keine Gedanken zu machen. Es ist keine Organabgabepflicht, ({1}) und ich fände es fair, wenn das in der Debatte auch nicht immer wieder behauptet würde; ({2}) denn manchmal geht dadurch schon Vertrauen verloren. Etwas, wozu man konsequenzlos Nein sagen kann, ist keine Pflicht. Es wäre lediglich eine Pflicht zum aktiven Freiheitsgebrauch, es wäre eine Pflicht, sich Gedanken zu machen. Ich finde, angesichts der vielen Tausenden Wartenden kann man eine solche Pflicht einer freien Gesellschaft zumuten. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Paul Podolay, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Paul Viktor Podolay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004855, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Das Thema Organspende ist ein sehr emotionales Thema für ein Parlament. Historisch wurde die erste Herztransplantation der Welt am 3. Dezember 1967 von Christiaan Barnard in Kapstadt in Südafrika durchgeführt. Ich rede hier als jemand, der vermutlich als einziger der Abgeordneten genau vor 50 Jahren als Mitglied im zwölfköpfigen Operationsteam bei der ersten Herztransplantation in Mittel- und Osteuropa mitwirkte. Es war am 9. Juli 1968 an der Uniklinik in Bratislava, und ich war gerade 22 Jahre alt. Das waren damals die Anfangszeiten in der Transplantationsmedizin. Ich habe erlebt, wie schwierig es war, die Familie des verunglückten Spenders zu überzeugen, das Herz des hirntoten Unfallopfers freizugeben. Letztlich war es ein Pfarrer, der die Familie überzeugte, da diese sehr christlich war. Zu dieser Zeit gab es weder Spenderausweise noch gesetzliche Regelungen. Es war schlicht medizinisches Neuland. Meine Überzeugung ist, dass wir die Zahl der benötigten Spenderorgane reduzieren und nicht immer nach mehr streben sollten. Dieser Medizinzweig ist zu einem riesigen Wirtschaftszweig für die Kliniken mutiert. Eine Herztransplantation in Deutschland kostet etwa 170 000 Euro, Stand 2012. Deshalb ist der Vorstoß von Bundesminister Spahn, die Praxis der Organentnahmen spenderseitig in eine Widerspruchslösung umzukehren, um mehr Organe zu generieren, meiner Meinung der falsche Weg. Viel wichtiger wäre es, wesentlich mehr auf die Gesundheitsvorsorge zu setzen und hier auch zu investieren. Somit könnte man die Zahl der Patienten, die ein Organ benötigen, senken. Ausgenommen hierbei sind natürlich Unfallopfer und Menschen mit angeborenen Fehlbildungen, die ein Organ brauchen. Bei der Gesundheitsprävention sollten wir schon in der Schule anfangen und die Kinder über eine gesunde Ernährung und Lebensweise aufklären – Fastfood lässt grüßen. Aufklärung und Vorsorge sind besser, als sich die Gesundheit selbst zu ruinieren und dann auf eine Organspende zu hoffen. Dahin sollte sich das gesamte Gesundheitswesen entwickeln. Es sollten nicht immer mehr Organspenden forciert werden. Liebe Mitbürger, kümmern Sie sich mehr um Ihre Gesundheit. In vielen Fällen liegt es auch in Ihrer Hand. Es gibt gute Gründe, unsere Ernährungsgewohnheiten infrage zu stellen. Da wäre zunächst die eigene Gesundheit – wie ernähren wir uns aktuell? Aus Achtung vor dem Leben des Menschen ist es nicht legitim, ohne explizite Einwilligung des Betroffenen, seinem Leib Organe zu entnehmen. Jeder sollte nach Möglichkeit persönlich eine Entscheidung treffen und sich für oder gegen eine Organspende aussprechen. Eine politische Festlegung aber, welche jeden zum potenziellen Organspender machen würde, ohne dass dieser explizit eingewilligt hätte, wäre eine staatliche Grenzüberschreitung, die der besonderen Würde des Menschen nicht entspricht. Deshalb muss jeder Mensch selbst entscheiden, ob er Organspender sein möchte. Der Staat darf das per Gesetz nicht vorschreiben. Es ist eine höchst private, aber auch ethische Entscheidung, und das soll auch künftig so bleiben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Kerstin Griese, SPD, ist die nächste Rednerin.

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass wir das Thema Organspenden mit einer Orientierungsdebatte starten. Diesen Weg sind wir schon einmal gegangen, als wir in der letzten Wahlperiode über assistierten Suizid diskutiert haben. Das war gut und ist auch jetzt gut; denn wir brauchen Zeit, um schwierige ethische Fragen zu klären. Oft sind es auch sehr persönliche Fragen. Wir sind uns alle einig, dass wir mehr Organspenden brauchen. Ich habe lange überlegt, zu welcher Position ich neige. Ich melde mich heute zu Wort, weil ich für eine verpflichtende Entscheidungslösung plädieren möchte. ({0}) Zum einen hat mich das, was die Befürworter der Widerspruchslösung vertreten, nicht in Ruhe gelassen. Das Ziel ist richtig: Wir brauchen mehr Organspender, aber ich denke, der Staat, der Gesetzgeber, kann das nicht verordnen. ({1}) Es wäre eben keine Spende mehr, es wäre eher eine „Organabgabe“. Organspende heißt ja auch, dass man sich aus Nächstenliebe, aus Humanität, Vernunft oder Überzeugung – oder wie man es definieren will – entscheidet, zu helfen, und deshalb zu Lebzeiten festlegt, dass alle bzw. welche Organe nach dem eigenen Tod gespendet werden können. Organspende ist ein Geschenk. ({2}) Pauschal vorzugeben, dass all diejenigen, die nicht widersprechen, Organspender sind, geht meines Erachtens zu weit. Das missachtet das Selbstbestimmungsrecht in einer so persönlichen Frage. ({3}) Zum anderen will ich nicht, dass alles so bleibt, wie es ist, und wir einfach nur ein paar Broschüren mehr verteilen. Aufklärung und Information müssen auch zu selbstbestimmtem Handeln führen. Wie wichtig es ist, Leben retten zu können, damit muss sich jeder beschäftigen; denn Organspenden retten Leben. Ich finde, der Staat, der Gesetzgeber darf jeden Menschen in bestimmten Situationen auffordern, sich mit dem Thema Organspende zu beschäftigen und sich zu entscheiden. Meine eigene Erfahrung ist, dass man einen Anstoß braucht, um sich mit den schweren Fragen von Leben und Tod zu beschäftigen. Kaum jemand macht das von alleine. Ich gestehe gerne: Ich habe einen Organspendeausweis, weil mich unser damaliger Fraktionsvorsitzender Frank-Walter Steinmeier mit seiner Nierenspende an seine Frau sehr beeindruckt hat. Damals habe ich begonnen, darüber nachzudenken. Auch wenn es sich um eine Lebendspende handelte, hat mir sein Handeln gezeigt: Du musst was tun. Als wir schon einmal im Bundestag darüber diskutiert haben, 2012, haben wir entschieden, dass die Krankenkassen mit der Post Informationen und Organspendeausweise verschicken. Trotzdem stagnierte die Zahl der Organspenden, sie ist sogar gesunken. Ich sage deshalb: Wir müssen mehr tun als bisher, damit sich die Zahl der Organspenden erhöht. Ich will und ich werbe dafür um Unterstützung, dass wir klar gesetzlich festlegen: Jeder Mensch soll sich bei der Ausstellung seines Führerscheins, bei der Verlängerung des Personalausweises oder Reisepasses fragen lassen müssen, ob er oder sie Organspender wird. Mithilfe guter Informations- und Beratungsangebote muss man sich dann entscheiden: Ja oder nein? Oder – ich glaube, diese Möglichkeit wird es auch geben müssen – man muss sich eingestehen, sich noch nicht entscheiden zu können. Man weiß aber, dass man im Leben noch mal gefragt werden wird, dass diese Frage wiederkommt, und damit ist das Thema präsent. Deshalb plädiere ich für die verpflichtende Entscheidungslösung, damit Menschen sich für eine echte Organspende freiwillig entscheiden können, aber eben auch entscheiden müssen, wenn sie zum Bürgeramt gehen. Ich hoffe sehr, dass dadurch mehr Menschen Organspender werden. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entscheidung zur Organspende muss jeder Mensch selbst fällen. Unsere Aufgabe als Gesetzgeber muss es aber sein, regelmäßiger, gezielter, besser zu informieren und dafür zu sorgen, dass sich jeder Mensch damit beschäftigt, auch mehrmals, um eine Entscheidung zu treffen, um Leben retten zu können durch eine Organspende. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Katrin Helling-Plahr, FDP, ist die nächste Rednerin. ({0})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Großmutter hat mich als Kind ein ums andere Mal mit der Maxime „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“ zur umgehenden Erledigung meiner Aufgaben ermahnt. ({0}) Wenn ich sehe, dass laut aktueller Repräsentativbefragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 84 Prozent der Menschen in Deutschland einer Organspende positiv gegenüberstehen, aber nur 36 Prozent über einen Organspendeausweis verfügen, scheinen viele eher nach Mark Twain zu verfahren: Verschiebe nicht auf morgen, was genauso gut auf übermorgen verschoben werden kann. Das ist bei Fragen, die erst im Zusammenhang mit dem eigenen Ableben relevant werden, ja auch allzu verständlich. Wenn aber dadurch schließlich die Angehörigen vor die Frage einer Organspende gestellt werden, ist das für diese nicht nur extrem belastend, sondern sie entscheiden sich in dieser konkreten Trauersituation dann auch überdurchschnittlich häufig gegen eine Organspende. Deshalb müssen wir uns der Herausforderung stellen und die Schere zwischen denjenigen, die zur Spende bereit sind, diese Bereitschaft aber noch nicht dokumentiert haben, und denjenigen, die sich auch tatsächlich bekennen, schließen. Eingedenk sinkender Spenderzahlen und überlanger Wartelisten ist der Schluss, dass alle bisherigen Bemühungen nicht ausreichend waren, unausweichlich. Auch wenn die Problematik nicht monokausal zu betrachten ist, müssen wir im Hinblick auf die Frage „Zustimmungslösung, verpflichtende Entscheidungslösung respektive Widerspruchslösung“ den nächsten Schritt gehen. Ich wünsche mir, dass wir hier pragmatisch vorgehen. Ich finde, dass die Widerspruchslösung gut vertretbar ist. In der Abwägung Selbstbestimmungsrecht in Form positiver Zustimmung auf der einen und Leib und Leben der Betroffenen auf der anderen Seite kann man zu dem Ergebnis kommen, dass Freiheit in Verantwortung auch bedeuten kann, sich proaktiv dazu bekennen zu müssen, nicht Spender sein zu wollen. Andererseits aber bin ich schon der Auffassung, dass wir bei einem solch massiven Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht behutsam vorgehen müssen. Dass wir das mildeste Mittel zur Steigerung der Spenderzahl wählen müssen. Dass wir verpflichtet sind, zunächst den Weg zu gehen, der die Menschen weniger in ihrem Selbstbestimmungsrecht belastet. Das bedeutet, dass wir verpflichtet sind, den Weg der verpflichtenden Entscheidungslösung zu gehen, bevor wir die Widerspruchslösung aufrufen. ({1}) Es ist unseren Bürgern zuzumuten, dass sie, etwa bei der Ausgabe von Ausweisdokumenten, dazu angehalten werden, verbindlich eine Erklärung zur Organspende abzugeben. Diese Entscheidung rettet dann Leben. Bereits die Notwendigkeit zur Entscheidung wird die Schere zwischen Spendebereiten und Spendebekennern schließen. Im gleichen Zuge müssen wir zwingend und dringend ein Organspenderegister schaffen. Wenn jemand sich dafür – oder auch dagegen – entscheidet, Spender sein zu wollen, dann muss sichergestellt sein, dass seine Entscheidung auch respektiert wird. Das ist nicht nur ethisch und rechtlich geboten, es ist auch die beste vertrauensbildende Maßnahme für Organspenden. Derzeit kommt es immer wieder vor, dass Organspendeausweise nicht aufgefunden werden. Wir sollten deshalb dringend und ganz unabhängig von der Lösung, die wir hier finden, die zusätzliche Möglichkeit schaffen, sich digital und unkompliziert als Spender registrieren zu können. ({2}) Sehr geehrte Damen und Herren, sorgen wir dafür, dass die Menschen sich entscheiden. Dann haben wir im Ergebnis mehr Spender, weniger Belastungen für die Angehörigen und mehr Selbstbestimmung. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Petra Sitte, Fraktion Die Linke, ist die nächste Rednerin. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe für meinen Beitrag ausdrücklich die Perspektive der Betroffenen übernommen, also beispielsweise eben jener 11 000 Menschen, die aktuell auf eine Organspende warten, um zu überleben oder auch ihr Leben zu verlängern. Ich denke auch daran, dass jeden Tag in diesem Land drei Menschen sterben, weil es für sie kein Spenderorgan gab. Man ahnt durchaus, wie entmutigend das auf Erkrankte wirken muss, aber auch für uns ist es eher ernüchternd und bedrückend. Für den Rückgang der Zahl der Organspenden gibt es, wie schon angeführt, viele Gründe, sie sind sehr komplex, und es gibt keine linearen Wirkungen zwischen ihnen. Daher bin ich zu der Auffassung gekommen, dass wir möglichst alle Faktoren, die einen Anstieg der Zahl von Spenderorganen versprechen könnten, verbessern sollten. ({0}) Ich möchte mich in meinem Beitrag mit einer Kritik an der Widerspruchslösung auseinandersetzen, nämlich dem Vorwurf, sie würde in Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrechte von Spendern und Spenderinnen eingegriffen. Vergleichen wir doch einmal die Situation derer, die auf ein Organ warten, mit der Situation jener, die ihnen helfen könnten. In wenigen Fällen geht es um Lebendspenden; aber diese Spender stehen heute auch nicht im Fokus, sondern jene Menschen, die erst nach ihrem Ableben helfen könnten. Die Wartenden führen ein Leben, das eingeschränkt und weniger selbstbestimmt verläuft. Setzen wir jetzt diese Einschränkung ins Verhältnis zu dem Erfordernis, einer Organspende widersprechen zu müssen, dann, meine ich, ist es durchaus verantwortbar. Dieser Umstand schränkt doch beispielsweise mein oder Ihr Leben, Ihre Lebensführung, meine Selbstbestimmung und unsere Persönlichkeitsrechte real in keiner Weise ein. ({1}) So, wie man mit Blick auf den Organspendeausweis aktiv werden muss, so muss man eben auch aktiv werden im Zusammenhang mit der Widerspruchslösung. Viele haben das ja getan, und sie haben es zum Teil auch in Gesprächen mit ihren Familien getan. Wenn 84 Prozent der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger die Organspende positiv bewerten, dann, meine ich, ist es doch berechtigt, mit der Widerspruchslösung an dieser Mehrheit anzuknüpfen. ({2}) Ja, es stimmt, es ist eine Güterabwägung; da haben die Kollegen völlig recht. Aber ist es wirklich grundrechtlich eine bedenkliche Zumutung, diesen Widerspruch zu Lebzeiten kundtun zu müssen? Haben wir als Gesetzgeber nicht die Rechte einer Minderheit von Erkrankten, die uns gegenüber zunächst erst mal schlechtergestellt sind, vor allem zu schützen? Da sehe ich durchaus eine Schutz­aufgabe des Staates für Leib und Leben von Menschen. Um es überspitzt zu sagen: Da sehe ich eher eine Zumutung für die Wartenden, die auf unsere Einsicht angewiesen sind oder dieser ausgeliefert sind. Bei einer Entscheidungslösung sind die Chancen für sie eben geringer, wie wir festgestellt haben. ({3}) Eingedenk dessen halte ich eine Widerspruchsregelung für keine Bevormundung. Sollte es doch jemand so sehen – nach Bewertung der Beiträge scheint es ja so –, frage ich, ob diese nicht zumutbar und auch verhältnismäßig ist. Was ist denn das für eine Freiheit, die sich nur auf sich selbst bezieht? ({4}) Es geht nicht um die singuläre Einführung der Widerspruchslösung; das reicht nicht. ({5}) Leben weiterzugeben braucht tätiges Mitgefühl, Aufklärung, Ausfinanzierung des gesamten Systems, Entscheidungstransparenz und Kontrolle. Ich danke Ihnen ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich 15 Jahre alt war, habe ich einen sehr nahen Menschen dadurch verloren, dass er von einem Auto – sie war auf dem Fahrrad unterwegs – getötet wurde. Die Eltern mussten sich der Frage stellen: Spenden wir die Organe unseres Kindes? Das war das erste Mal, dass ich mich bewusst mit Organspende beschäftigt habe. Inzwischen trage ich seit Jahrzehnten meinen Organspendeausweis immer bei mir. Ich habe mich als Ärztin vertieft mit diesen Fragen beschäftigt und jüngst gelernt – ich dachte, ich bin schon zu alt zur Organspende –, dass auch die Organe von über 90-Jährigen Leben retten können. Das Thema geht uns also wirklich alle an. Warum ist es dann so schwer, darüber zu sprechen und nachzudenken? – Weil es bei der Beschäftigung mit der Organspende immer auch um die Beschäftigung mit unserem eigenen Tod geht! Gleichzeitig geht es aber um das Leben, und darum ist es so elementar, dass wir die Organspenderaten in Deutschland verbessern. Wie kann das gelingen? Um das herauszufinden, sind wir kürzlich mit dem Gesundheitsausschuss in Spanien, beim Organspendeweltmeister, gewesen. Was ist deren Erfolgsrezept? Die Antwort war eindeutig: Organisation. ({0}) Außerdem sind die Verankerung in der medizinischen Ausbildung und das Vertrauen der Bevölkerung elementar. Welchen Anteil am Erfolg Spaniens hat die Widerspruchsregelung? ({1}) Keinen; denn dort wird die Zustimmungslösung praktiziert. ({2}) Das hat mich überrascht. Die Spanier betonten sogar, die Grundlage für das große Vertrauen der Bevölkerung sei gerade die Freiwilligkeit. ({3}) Es geht also offensichtlich um den Dreiklang aus Strukturen, Ausbildung und Freiwilligkeit. Jüngst hat eine Studie der Universität Kiel gezeigt, das Problem zu geringer Organspenderaten in Deutschland liegt daran, dass zu selten Spendeorgane identifiziert und gemeldet werden. Da liegt der Hebel, ({4}) und dafür sieht der aktuelle Gesetzentwurf des Bundesgesundheitsministeriums richtige Strukturreformen vor. Zusätzlich, über diese Vorschläge hinausgehend, muss das Wissen um Organspende fest in die medizinische und pflegerische Ausbildung verankert werden. ({5}) Außerdem, so meine ich, brauchen wir ein Organspenderegister. Alle Bürgerinnen und Bürger werden regelmäßig informiert und gebeten, nicht verpflichtet, sich mit ihrer Entscheidung – „Ja“, „Nein“, „Weiß nicht“; wobei „Weiß nicht“ im Fall der Fälle „Nein“ hieße – einzutragen. Dabei sind aus meiner Sicht drei Punkte grundlegend: Es muss moralisch als gleichwertig gelten, ob sich jemand dafür oder dagegen entscheidet, Spender zu sein. ({6}) Die Bürgerinnen und Bürger tragen sich selbst ein und können ihre Entscheidung jederzeit selbstständig ändern. Es muss sichergestellt werden, dass alle ihre Entscheidung frei und selbstbestimmt treffen können, und dazu gehört auch das Recht auf Nichtentscheidung. ({7}) Zentral dafür ist die Ansprache. Ob das bei einer Meldebehörde sein kann, darüber, meine ich, müssen wir noch mal nachdenken. In Frankreich und Lettland sank die Zustimmung zur Organspende im Übrigen nach Einführung der Widerspruchslösung. Wann gingen die Organspenderaten in Spanien nach oben? Genau dann, als die Strukturen verbessert wurden. Das muss unser Ziel sein; ({8}) denn Organspende rettet Leben. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Hermann Gröhe, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Wer einmal mit Menschen gesprochen hat, die auf ein Organ warten oder gewartet haben, mit ihren Angehörigen, mit Eltern von Kindern, die dringend auf ein Spenderorgan angewiesen sind, der wird diese Begegnungen nicht vergessen: diese Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung, dieses Warten, gerade wenn eine Krankheitssituation sich zuspitzt, auf den erlösenden Anruf und die Verzweiflung, wenn das Telefon still bleibt. Ich denke aber auch an meine Begegnungen mit deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der World Transplant Games, dieser kraftvollen Demonstration neugewonnenen Lebensmutes, neugewonnener Lebenskraft nach einer Transplantation. Gleichwohl – dies sage ich sehr bewusst – lehne ich eine Widerspruchslösung ab, ({0}) weil ich der festen Überzeugung bin: „Damit erreichen wir nicht eine Verbesserung der vorhandenen Probleme“, weil ich in der Tat der Überzeugung bin, dass eine solche Entscheidung sich im Widerspruch zu grundlegenden Prinzipien der Medizinethik und der Patientenrechte befinden würde. Wir haben doch mit den schweren Anstrengungen der letzten Jahre Erfolg gehabt, nachdem Skandale das Vertrauen in die Organspende erschüttert haben. Es ist schon gesagt worden, dass sich in den letzten Jahren die Zahl der Inhaber von Organspendeausweisen von 22 Prozent auf 36 Prozent massiv erhöht hat. Übrigens sind auch die über 80 Prozent, die der Organspende positiv gegenüberstehen, keineswegs irrelevant, weil sie keinen Ausweis ausgefüllt haben. Schon heute erfolgt eine große Zahl von Organentnahmen aufgrund der Auskunft der Angehörigen im Hinblick auf den vermuteten Willen der betroffenen Personen. Insofern: Wiewohl der Ausweis das Ganze erleichtert, ist diese positive Entscheidung von großer Relevanz. Es geht also darum, diese Zustimmung in wirkliche Organspenden umzusetzen, also aus dem Willen eine Organspende werden zu lassen. ({1}) Ich bin dankbar, dass wir hier in den Koalitionsvereinbarungen ganz wichtige Schritte vereinbart haben und dass der Bundesgesundheitsminister die Umsetzung in dieser Weise vorantreibt. Dies ist gut und richtig, meine Damen und Herren. Wenn wir hier Vorschläge sammeln, wie wir etwa im Hinblick auf die Abfrage nach einer Entscheidung noch besser werden können, dann, finde ich, sind das sehr lohnende Vorschläge. Aber eines möchte ich schon sagen: Mit Hinweis auf das Ausland ist schon deutlich geworden, dass wichtige Länder, die rechtlich eine Widerspruchslösung haben, etwa Österreich und Spanien, de facto über die Befragung der Angehörigen eine Zustimmungslösung praktizieren. ({2}) Was aber häufig übersehen wird, ist, dass viele Länder mit deutlich höheren Organspendezahlen eine Organentnahme auch nach dem Herztod erlauben. Es sind in den Niederlanden über 50 Prozent, in Belgien über 30 Prozent, in Spanien über 25 Prozent, in denen ein Organ nach dem Herztod entnommen wird. Dies wird aber bei uns vom Ethikrat wie der Bundesärztekammer wegen der Frage der Grenzziehung zwischen Wiederbelebbarkeit einerseits und Endgültigkeit andererseits abgelehnt. ({3}) Insofern zieht nicht jeder Verweis auf gute Zahlen in anderen Ländern. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wünsche mir, dass Menschen sich dieser Entscheidung stellen. Ich wünsche mir, dass sie eine Entscheidung treffen, auch um ihren Angehörigen diese Entscheidung im Fall der Fälle zu erleichtern, abzunehmen. ({4}) Aber ich sage sehr deutlich: Auch wer sich dieser schwierigen Entscheidung verweigert, verliert nicht sein Selbstbestimmungsrecht. ({5}) Dieses Selbstbestimmungsrecht wird nicht von uns qualifiziert, sondern individuell wahrgenommen. Das machen wir zum Ausgangspunkt aller Überlegungen in Medizinethik und Patientenrecht. Meine Damen, meine Herren, eine Organspende ist ein Geschenk aus Liebe zum Leben. Das setzt Freiwilligkeit und Zustimmung voraus. Dabei sollte es bleiben. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Robby Schlund, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Werte Gäste auf den Rängen, insbesondere unsere Thüringer und sächsischen Gäste, die sich für die Organspende besonders interessieren! Widerspruch ist einfach. Im Vergleich dazu ist eine bewusste Entscheidung immer mit allen damit verbundenen Konsequenzen zu treffen. Wissen Sie auch, warum? Weil Sie dann, wenn Sie sich bewusst für etwas entscheiden, für alle möglichen Folgefehler auf keinen Schuldigen zeigen können. Die bewusste, freie Entscheidung setzt vor allem eines voraus: ein hohes Maß an Selbstverantwortung, eine Selbstverantwortung, die nach allen Abwägungen, allem Wenn und Aber und allen damit zusammenhängenden Konsequenzen eine Entscheidung herbeiführt. Das, meine Damen und Herren, ist Freiheit, Entscheidungsfreiheit. Es ist ein Stück selbstverantwortliche, demokratische Mitbestimmung unserer Bürger in Deutschland. Seien wir uns doch dessen bewusst, und schaffen wir wieder Vertrauen in das System Organspende, statt einfach zu hoffen, dass niemand widerspricht. Dazu gehört vor allem, den Menschen in unserem Land zu erklären, wie alles abläuft und wie bewusst eine Entscheidung zur Organspende zu treffen ist. Der Hirntod ist ein sicheres Zeichen für den Tod eines Patienten. Nur dann kann ein Organ entnommen werden. Aber wie sicher ist denn die Hirntoddiagnostik in Deutschland? Das Transplantationsgesetz, § 5, regelt, dass zwei dafür qualifizierte Ärzte unabhängig voneinander in drei Stufen über den Hirntod und dessen Unumkehrbarkeit entscheiden. Diese Ärzte sind nicht an Entnahme und Übertragung der Organe beteiligt. Danach erfolgt eine Meldung an die Deutsche Stiftung Organtransplantation und an Eurotransplant. Erst bei der Entnahmeoperation wird endgültig entschieden, ob ein Organ wirklich zur Transplantation geeignet ist oder nicht. So weit, so gut und logisch nachvollziehbar. Doch laut einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ aus dem Jahr 2014 werden in deutschen Krankenhäusern manchmal Menschen fälschlicherweise für hirntot erklärt. Die Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes erfordern hohen Sachverstand. Die Ärzte werden zum Teil unzureichend dazu ausgebildet. Das ist der Vorwurf. So zum Beispiel bei einem Kleinkind: Organe wurden entnommen, ohne dass der Hirntod korrekt diagnostiziert wurde. Es sind acht weitere Fälle in den vergangenen Jahren bekannt geworden. In zwei großen Städten in Deutschland wurden bei Herztransplantationen 23 von 26 Patientenfälle offenbar manipuliert. Genau deshalb haben die Menschen eine unzureichende Bereitschaft zur Organspende. Aber wir werden mit einer Widerspruchslösung eben kein Vertrauen per Gesetz erzwingen können. Das hohe Gut des Selbstbestimmungsrechts des Menschen muss erhalten bleiben. Gestalten Sie die Verfahrensweisen professioneller. Dann erhalten Sie auch das Vertrauen der Menschen in die Organspende zurück. Fangen wir erst einmal an, ein vernünftiges Entscheidungsregister einzuführen, das lange überfällige Dialyseregister ins Leben zu rufen und mit dem Transplantationsregister zu verknüpfen. So wird ein Schuh draus. Schnüren Sie ein Maßnahmenpaket, das die hirntodfeststellenden Ärzte besser befähigt! Motivieren Sie freiwillige Organspender mit extra Bonuspunkten auf der Priorisierungsliste! Ich persönlich wünsche mir, dass der hohe Standard der bewussten Entscheidung in Deutschland erhalten bleibt; denn die Organspende ist nun einmal eine Spende. Und Spenden sind zumindest für mich immer freiwillig. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Schlund. – Nächste Rednerin: Sabine Dittmar. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Entscheidung für oder gegen eine Organspende ist zweifelsohne eine sehr persönliche, setzt sie doch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod voraus. Jeder Einzelne von uns muss für sich selbst die Frage beantworten, ob er mit seinem Tod neues Leben, neue Hoffnung schenken will. Angesichts der dramatischen Zahlen ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Über 11 000 schwerstkranke Patienten und Patientinnen warten auf ein lebensrettendes Organ. Die durchschnittliche Wartezeit für ein Spenderorgan ist bei uns drei- bis fünfmal so hoch wie in unseren Nachbarländern. Teilweise warten, bangen oder hoffen die Patienten über zehn Jahre, und doch versterben Tag für Tag drei bis vier Patienten, weil es kein passendes Organ gab. Ich habe während meiner praktischen Arbeit als Ärztin einige Patienten und deren Familien begleitet und weiß um die Dramatik der Situation. Ich weiß aber auch und kenne die Dramatik der Situation, wenn Angehörige am Sterbebett nach einer möglichen Zustimmung zur Organspende gefragt werden und in dieser emotional sehr schwierigen Situation völlig überfordert sind. Deshalb halte ich es für dringend geboten, dass jeder Einzelne von uns eine persönliche Entscheidung trifft und diese dokumentiert. Laut Umfragen – es wurde schon erwähnt – sind 84 Prozent der Deutschen bereit für eine Organspende; aber bedauerlicherweise hat weniger als die Hälfte dies auch tatsächlich dokumentiert. Das zeigt für mich zweierlei: erstens, dass wir mit allen bisherigen Maßnahmen, Aufklärungskampagnen, Informationskampagnen, regelmäßigem Zusenden des Organspendeausweises durch die Krankenkasse, gescheitert sind, und zweitens, dass wir angesichts der bekannten Zahlen effizient und schnell handeln müssen. Effizient handeln bedeutet für mich nicht, dass wir lediglich zusätzliche Infobriefe durch die Bundeszentrale verschicken lassen, oder auch nicht, dass wir alle zehn Jahre bei der Passbeantragung nachfragen. Effizient handeln bedeutet für mich, dass die Bürgerinnen und Bürger aktiv aufgefordert werden, sich für oder gegen Organspende zu entscheiden und diese Entscheidung zu dokumentieren. In dieser expliziten Aufforderung muss auch deutlich auf die Konsequenz der Nichtentscheidung hingewiesen werden. Wenn keine dokumentierte Entscheidung, kein dokumentierter Widerspruch vorliegt, dann ist von einer Zustimmung zur Organspende auszugehen, es sei denn, den Angehörigen ist ein anderer, mutmaßlicher Wille bekannt. Ich halte diese Form der Widerspruchslösung für einen zumutbaren und für einen wichtigen Baustein, um Organspendezahlen zu erhöhen. Ich denke, wer eine solche Regelung ablehnt, der muss auch die Frage beantworten, warum wir dann Spenderorgane aus Eurotransplant-Ländern mit Widerspruchslösung annehmen. Auch dieses moralische Dilemma gilt es zu klären. ({0}) Mir ist natürlich bewusst, dass wir allein mit der Einführung der Widerspruchslösung nicht alle Probleme lösen. Deshalb ist es wichtig, dass wir im nächsten Jahr das Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen in unseren Krankenhäusern auf den Weg bringen. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Ich möchte nicht noch mal erleben, dass ich bei einem Besuch in einem Krankenhaus mit Dialyseabteilung und mit neurologischer Intensivstation bei meiner Nachfrage nach dem Transplantationsbeauftragten einen fragenden Blick ernte, und ich möchte auch nicht noch mal erleben, dass verzweifelte Eltern mit ihrem herzkranken Sohn nach Spanien umziehen, weil sie sich dort bessere Chancen erhoffen, zeitnah ein rettendes Organ zu bekommen. ({1}) Genau das ist vor 14 Tagen in meinem Wahlkreis passiert.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, Frau Präsidentin. – Ich denke, wir brauchen beides: strukturelle, gute Voraussetzungen in den Krankenhäusern und die Widerspruchslösung; denn dann wird die Organspende beim nicht umkehrbaren Ausfall der Gehirnfunktion –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– nicht zur Ausnahme, sondern zum Normalfall. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner: Dr. Andrew Ullmann. ({0})

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute über nichts Abstraktes, nichts Theoretisches; wir reden über Menschen, die schwer krank sind und Organe benötigen. Wir reden über Angehörige und Freunde, die auch betroffen sind. Wir reden über Ängste, Sorgen und den Tod. Wir reden von Menschen, die auch bereit sind, nach dem Tod Gewebe oder Organe für Schwerkranke zur Verfügung zu stellen und damit ein Leben zu retten. Wir haben die Zahlen bereits gehört; aber es lohnt sich, sie zu wiederholen: 10 407 Menschen waren Ende 2017 auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Von dieser Liste sterben zwei bis drei Menschen pro Tag; das sind bis zu 21 Personen pro Woche. Reale Zahlen, brutale Wirklichkeit: zwei bis drei Personen pro Tag. Wir sind als Politiker problemorientiert und versuchen, diese Probleme zu lösen. Die klare Interpretation dieses Problems, dieser Daten: Wir brauchen mehr Spender. Die Widerspruchslösung geht davon aus, dass Freiwilligkeit in diesem Bereich nicht funktioniert. Die Menschen sollen so entmündigt werden, wenn es darum geht, etwas Gutes zu tun. Die Perspektiven bei dieser Diskussion sind aber vielfältig. Die scheinbar so einfache und nachvollziehbare Widerspruchslösung löst so manches Problem nicht und wirft weitere Probleme auf. Gibt es weitere Fakten, die wir in die Waagschale legen sollten oder gar müssen? Die belegbaren Daten gehen weiter und in die Tiefe und sind schwerer zu verstehen. Im „Deutschen Ärzteblatt“ vom Sommer dieses Jahres haben ärztliche Wissenschaftler um Dr. Kevin Schulte aus dem Universitätsklinikum in Kiel eine wichtige und interessante Studie zu diesem Thema veröffentlicht. Die Ergebnisse der Studie sind, klar und einfach gesagt: Wir haben nach dieser Studie ganz klar eine Zunahme der Zahl von potenziellen Organspendern und im Gegenzug einen Abfall der Zahl von Organentnahmen. Die Studie zeigt weiter, dass es krasse Unterschiede zwischen Uniklinika bei der Kontaktaufnahme mit potenziellen Organspendern gegeben hat. Zusammenfassend zeigt die Studie also klare Erkennungs- bzw. Meldedefizite der Entnahmekrankenhäuser. Die Studie zeigt klar, wo politischer Handlungsbedarf besteht. Die Strukturprobleme in den Krankenhäusern müssen angegangen werden, nicht nur monetär, sondern auch personell. Wenn die Stellung des Transplantationsbeauftragten aufgewertet wird, dieser Beauftragte freigestellt wird und die Bezahlung bei der Entnahme der Organe adäquat erfolgt, wird das zu einer höheren Rate von Organentnahmen führen. ({0}) Für die heutige Diskussion gibt es eine bessere Möglichkeit als die Widerspruchslösung: eine obligatorische Abfrage zur Organspendebereitschaft, zum Beispiel durchgeführt bei der Ummeldung beim Einwohnermeldeamt oder bei der Beantragung eines Personalausweises. Das wäre eine Möglichkeit, die die Selbstbestimmung wahrt und die Organspendebereitschaft nachweisbar dokumentiert. Die möglichen Antworten würden die gleichen bleiben, wie sie bereits heute im Organspendeausweis stehen: „Ja“, „Nein“ oder „Angehörige entscheiden“. Auch ein „weiß nicht“ wäre legitim. Änderungen wären zu jedem Zeitpunkt möglich. Aber nur wer zustimmt, gilt als potenzieller Organspender. Kein gesetzlicher Entscheidungsdruck wie bei der Widerspruchslösung, auch kein moralischer Druck, nur eine obligatorische Frage beim Behördengang! Obwohl ich als Arzt grundsätzlich auf ein Ja hoffe, sage ich als Politiker ganz klar: Zur Selbstbestimmung gehört auch, sich nicht entscheiden zu müssen; denn jede Entscheidung sollte gleichwertig sein. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. – Verfassungsrechtlich und orientiert an meiner freiheitlichen Lebensphilosophie habe ich massive Probleme damit, wenn wir eine Zustimmung ohne ausdrückliche Willenserklärung des Einzelnen annehmen. Das schürt Ängste, schreckt womöglich ab. Das menschliche Subjekt wird so zum Ersatzteillager degradiert. Das ist ein tiefer Einschnitt in die verfassungsmäßig garantierte Selbstbestimmung. So bitte nicht! Danke sehr. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Andrew Ullmann. – Nächster Redner: Harald Weinberg. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte den Fokus der Debatte an der Stelle auf etwas anderes legen: weg von den Zustimmungsverfahren. Ich selber halte das nicht für das Hauptproblem, und ich bin der Meinung, der Blick auf die anderen Länder und die Praxen der anderen Länder zeigt das auch. Wenn man das mal betrachtet: Auf 1 Million Einwohner kommen in Deutschland 10,3 Spender, auf 1 Million Einwohner kommen in Dänemark 17,1 Spender und in Spanien 43,4 Spender. Das ist bereits gesagt worden. Das ist de facto das Vierfache von dem, was wir in Deutschland haben. Das hat, glaube ich, auch relativ viel mit der Frage zu tun, wie das Ganze organisiert und insgesamt auch strukturiert ist, und es hat auch etwas damit zu tun – darauf will ich als Erstes kommen –, was wir aus der Krankenhauslandschaft in Deutschland ein Stück weit gemacht haben. Wir haben zugelassen, dass Krankenhäuser mehr und mehr wie Unternehmen agieren und das Ganze durch das Finanzierungssystem weitgehend kommerzialisiert ist. Da gibt es dann in der Tat Interessenkonflikte, gerade bei kleinen und mittleren Krankenhäusern, in einem ganz hohen Maß, weil das Nadelöhr unter den gegebenen Wettbewerbs- und Finanzierungsbedingungen die Organisation und Finanzierung der Organentnahme nach Identifikation eines Spenders ist. Das muss man sich noch mal ein bisschen anschauen. Das ist ein aufwendiger Prozess. Es geht da um mehrere Tage. Es geht nicht einfach nur um einen Tag; es geht um mehrere Tage. Es geht in den Krankenhäusern, wo die Entnahme stattfindet, um mehrere Fachdisziplinen, die einbezogen werden müssen. Es geht um zahlreiche Untersuchungen, die durchgeführt werden müssen, auch Untersuchungen an dem potenziellen Spender. Und es geht um die Belegung von Operationssälen und Intensivbetten über einen langen Zeitraum. Bei kleinen und mittleren Krankenhäusern sind die OPs logischerweise, wenn man so will, ein Stück weit die Werkbank des Krankenhauses, und es gibt entsprechende Einnahmeausfälle. Nur die Organentnahme als einzelne Maßnahme wird pauschal erstattet, die entgangenen Einnahmen werden nicht ausgeglichen. Hier setzt der erste Entwurf des Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende, der jetzt vorgelegt worden ist, an. Das ist durchaus gut so, und das ist auch anerkennenswert. ({0}) Wir haben aber das Problem, dass die Diskussion, die wir insgesamt führen, auch in der Öffentlichkeit, der Medienöffentlichkeit in Deutschland im Wesentlichen von der Frage der Zustimmungsregelung dominiert wird, und die Fragen, die ich angesprochen habe – vielleicht sind sie nicht hip genug –, nicht im Fokus stehen. Das sind aber meines Erachtens die zentralen Fragen. ({1}) Den richtigen Drive bekam das Thema erst durch die Debatte um die Widerspruchslösung. Ich halte diese Debatte in Bezug auf die Spendenbereitschaft, die ja bereits mehrmals genannt worden ist, für überbewertet. Ich will zumindest noch auf zwei weitere Aspekte hinweisen. Da ist zunächst einmal das Problem, dass das Ganze beschwert wird durch die Skandale, die es in der Vergangenheit gegeben hat. Das muss man sehen. Es hat allerdings auch entsprechende Gegenmaßnahmen gegeben. Die DSO wird nun deutlich besser kontrolliert und beaufsichtigt. Wir haben allerdings vor den Gerichten durchaus erlebt, dass sich Skandale wie zum Beispiel in Göttingen in Luft aufgelöst haben. Auch das muss man sehen. Aber das Ganze hängt natürlich noch deutlich nach. Der andere Aspekt. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir bei der Spendenbereitschaft nicht nur die Sachinformation in den Vordergrund stellen sollten. Für viele Menschen ist es ein hochemotionales Thema. Auch diese emotionalen Zugänge muss man im Rahmen der Beratungsmöglichkeiten ein Stück weit in den Fokus nehmen. ({2}) Meine persönliche Position, was die Zustimmungsregelung betrifft, darf ich am Ende auch darstellen: Ich bin für die erweiterte Zustimmungsregelung mit obligatorischer Beratung in zeitlichen Abständen. Ich finde es interessant: Es war ein Transplantationsmediziner, der das Wechselseitigkeitsmodell in die Diskussion gebracht hat – auch darüber könnte man meines Erachtens nachdenken –: Wer bereit ist, einen Spenderausweis zu tragen, bekommt im Spenderregister entsprechende Bonuspunkte, wenn er selber in die Situation gerät, dass er Spenderorgane braucht.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das wäre eine Sache, über die man nachdenken kann. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Harald Weinberg. – Nächste Rednerin: Katja Keul. ({0})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bislang gibt es in dieser Debatte zumindest einen Konsens, und zwar einen Konsens darüber, dass postmortale Organspenden wünschenswert sind, um das Leben der Empfänger zu retten. Ich finde es wichtig, das festzustellen, da auch diese Position nicht selbstverständlich oder denklogisch zwingend wäre. Konsens ist außerdem, dass es strukturelle Defizite in den Krankenhäusern gibt, die in jedem Falle beseitigt werden müssen, um Organspenden zu fördern. Die meisten von uns gehen außerdem davon aus, dass die tatsächliche Spendenbereitschaft grundsätzlich höher ist als die dokumentierte Spendenbereitschaft. Um diese Differenz zu verringern, wollen nun die Vertreter der Widerspruchslösung das ausdrückliche Einverständnis durch eine gesetzliche Fiktion ersetzen. Ich möchte mich darauf konzentrieren, aufzuzeigen, warum die Widerspruchslösung nicht mit unserer Verfassung, namentlich mit Artikel 1 Grundgesetz, in Einklang zu bringen ist und deswegen ausscheiden muss. ({0}) Nach der Widerspruchslösung muss jemand eine Organentnahme nach Eintreten des Hirntodes dulden, wenn er zu Lebzeiten nicht widersprochen hat. Der Hirntod an sich beendet aber nicht automatisch jeden Grundrechtsschutz, sondern verändert ihn lediglich in seinem Gehalt. Das über den Tod hinaus wirkende Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen bewirkt, dass lebzeitige Entscheidungen und Verfügungen über den eigenen Körper und seine Organe auch nach dem Tode zu achten sind. Durch den Hirntod wird der Mensch nicht zu einem bloßen Objekt. Das ist und bleibt Kern der Menschenwürde des Artikels 1 Grundgesetz. ({1}) Die Entnahme der Organe ist daher ein schwerwiegender Eingriff in höchstpersönliche Rechte, der auch nach Eintritt des Hirntods gerechtfertigt werden muss. Eine Rechtfertigung läge in jedem Falle dann vor, wenn es sogar eine Pflicht zur Duldung der Organentnahme gäbe, also eine Art Solidaritätspflicht nach dem Motto: Da jeder potenzieller Empfänger sein kann, muss man auch immer potenzieller Spender sein. Dabei wird zunächst einmal verkannt, dass gerade nicht jeder auch zwangsläufig Empfänger fremder Organe sein möchte. Auch dafür ist mindestens der mutmaßliche Wille der Betroffenen zu ermitteln. Außerdem steht einer solchen Pflicht gerade Artikel 1 Grundgesetz entgegen, der uns untersagt, einen Menschen zum Objekt, das heißt zu einem Mittel zum Zweck, zu machen, und zwar auch dann, wenn der Zweck die Rettung eines anderen Menschenlebens sein soll. ({2}) Eine Pflicht zur Organspende ungeachtet der ethischen, religiösen oder sonstigen Anschauungen eines Menschen scheidet daher aus. Es wird auch nicht besser, wenn mit einer gesetzlichen Vermutung aus einem Schweigen eine Zustimmung gemacht werden soll. Nichts spricht dafür, dass Menschen, die ihren Willen nicht dokumentiert haben, eine bewusste Entscheidung getroffen haben. Im Gegenteil: Die Zahlen sprechen dafür, dass sie sich mit dem Thema noch gar nicht befasst haben. Ihnen trotzdem eine Spendenbereitschaft zu unterstellen, wäre eine Verletzung ihres Selbstbestimmungsrechts und ihrer postmortalen Würde. ({3}) Für die Unverhältnismäßigkeit eines solch schwerwiegenden Eingriffs ohne Zustimmung des Betroffenen oder der Angehörigen spricht auch die Tatsache, dass es andere, weniger eingriffsintensive Maßnahmen gibt, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Beheben wir zunächst die bekannten strukturellen Defizite und erhöhen dadurch das Vertrauen der Menschen in die mit der Organspende beauftragten Institutionen. ({4}) Und dann lassen Sie uns darüber sprechen, wie wir künftig die Spendenbereitschaft in regelmäßigen Abständen bei geeigneter Gelegenheit abfragen. Hier sind verschiedene Modelle denkbar: vom Hausarztbesuch bis zur Beantragung eines Personalausweises. Allerdings sollten wir bedenken, dass staatlicher Zwang auch kontraproduktiv wirken kann ({5}) und wir dann eine negative Entscheidung möglicherweise für lange Zeit festgeschrieben haben. Stellen wir also sicher, dass die Bürgerinnen und Bürger gut informiert werden. Trauen wir ihnen Verantwortungsbewusstsein zu, und achten wir vor allem ihr Selbstbestimmungsrecht im Umgang mit ihrem Tod. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katja Keul. – Nächster Redner: Dr. Georg Nüßlein. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Erstens müssen wir doch feststellen, dass bestehende Strukturen und Verfahren in der Bundesrepublik Deutschland erkennbar versagt haben. Das gilt auch für die erweiterte Zustimmungslösung. Das ist Fakt. ({0}) Zweitens. Ich verstehe, was die Kollegin gerade eben zur Verhältnismäßigkeit juristisch vorgetragen hat. Aber, meine Damen und Herren: Daraus abzuleiten, jetzt einen langwierigen Prozess kleiner Schritte einzuleiten, halte ich mit Blick auf die vielen Betroffenen, die leiden, für nicht den richtigen Weg. Aus Sicht von jemandem, der auf ein Spenderorgan wartet, gibt es keine Zeit zu verlieren. Ich sage Ihnen ganz offen, dass ich für die Widerspruchslösung bin, weil ich der festen Überzeugung bin, dass das Recht auf Selbstbestimmung nicht in unzulässiger Weise angetastet wird. Den Kritikern geht es im Kern nur um das Recht, sich nicht mit Tod und Organspende beschäftigen zu müssen, also nur um einen ganz kleinen Teil der Selbstbestimmung. Ich will gar nichts dazu sagen, wie lebensfremd es ist, sich damit nicht beschäftigen zu wollen. Aber, meine Damen und Herren, wenn die Widerspruchslösung zum Tragen käme, wäre es in Zukunft genau umgekehrt: ({1}) Die, die der Spende aufgeschlossen gegenüberstehen, müssen sich nicht mit der Thematik beschäftigen und müssen sich nicht entscheiden. Nun will ich an dieser Stelle, auch mit Blick auf die Zeit, nicht die vielen juristischen Argumente zur Verfassungsmäßigkeit bemühen, aber ich bitte, zwei Fälle in Augenschein zu nehmen, die der Thematik ziemlich nahekommen: Das sind das Testament und die Patientenverfügung. Schreibe ich kein Testament, bin ich einverstanden mit der Erbfolge, die der Gesetzgeber vorgibt. Mache ich keine Patientenverfügung, bin ich einverstanden damit, dass lebenserhaltende Maßnahmen getroffen werden, ich am Schluss an Maschinen hänge. ({2}) Übrigens ist das in der Konsequenz für den Betroffenen noch viel weitergehender als die Organspende bei Hirntod. ({3}) Angesichts der Widerspruchslösung sprechen Kirchen von einem Paradigmenwechsel. Ich sage Ihnen: Genau diesen Paradigmenwechsel will ich. Es ist bei uns der Normalfall, dass man, wenn man krank wird und ein Organ braucht, dann darauf hofft, eines zu bekommen; leider Gottes vielfach umsonst. Dann kann und muss es doch, meine Damen und Herren, der Normalfall sein, dass man grundsätzlich zur Spende bereit ist. ({4}) Deshalb ist es naheliegend, dass die Widerspruchslösung den Widerspruch als den Normalfall definiert. Das ist mir ein Anliegen. Ich zitiere die Kirchen: Sie sprechen, wie ich meine, zu Recht, von der Organspende als Akt der Nächstenliebe. Meine Damen und Herren, für einen Christenmenschen ist die Nächstenliebe nicht der Ausnahmefall, sondern der Normalfall. Deshalb bin ich der festen Überzeugung: Wir sind auf einem guten Weg, wenn wir hier sehr umfassend darüber nachdenken, wie man das Verfahren reformieren kann. Natürlich muss man dazu Vertrauen schaffen. Ich bin froh, dass hier bisher noch niemand aufgetreten ist, der generell über das Hirntodkonzept diskutiert. Auch ich sehe, dass es Skandale, Allokationsskandale gegeben hat. Man muss ganz klar sagen: Es hat sie auch deshalb gegeben, weil wir zu wenig Spenderorgane haben. Deshalb macht es Sinn, dass wir diese Diskussion hier vertiefen, sodass wir am Schluss, glaube ich, zu einem Ergebnis kommen, das die Situation so oder so verbessern wird. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Nüßlein. – Nächster Redner: Jörg Schneider. ({0})

Jörg Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004880, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Auch ich möchte mich für die Zustimmungslösung aussprechen. Ich bin Organspender, trage diesen Ausweis mit mir herum. Nur: Werde ich ihn auch dabeihaben, wenn sich tatsächlich mal eine solche Situation ergibt? Ich denke, wir brauchen zunächst einmal so etwas wie ein elektronisches Register; das wurde von einigen Vorrednern schon angesprochen. Wenn ich einen Behördengang mache, werde ich gefragt: „Möchtest du Organspender werden?“ – mit den Auswahlmöglichkeiten: „Ja“, „Nur für bestimmte Organe“, „Nein“. Ich muss vielleicht auch sagen können: Nein, ich möchte diese Frage nie wieder in meinem Leben gestellt bekommen. – Und ich kann auch sagen: Ich habe mir noch keine Gedanken darüber gemacht, fragt mich beim nächsten Mal. – Diese Entscheidung muss widerruflich sein. Ich glaube, wenn wir das hinkriegen, dann haben wir eine sehr gute Chance, dass wir tatsächlich viel mehr Menschen, die heute schon ihre Organe spenden würden, tatsächlich auch zu einer Abgabe einer Erklärung bewegen können. ({0}) Der zweite Aspekt, auf den ich hinaus möchte, ist die Verbesserung der Organisation in den Kliniken, in denen Entnahmen stattfinden. Ich war Mitglied der Parlamentariergruppe, die sich unter anderem in Spanien informiert hat; da haben wir eine Menge Anregungen aufgenommen. Dort gehört die Vorbereitung der Organentnahme zum Ausbildungsrepertoire der Intensivmediziner. Sie wissen, wie sie einen potenziellen Spender erkennen können, welche Maßnahmen getroffen werden müssen, um eine Spende vorbereiten zu können. Dazu gehört auch, dass ich Menschen in den Krankenhäusern dahin gehend ausbilde, dass sie mit Angehörigen Gespräche führen können, um über eine vorliegende Entscheidung zu informieren, aber letztendlich auch, um dort, wo keine Entscheidung vorliegt, wo es vielleicht um minderjährige Spender geht, eine Entscheidung einzuholen. Wir müssen uns natürlich auch Gedanken darüber machen, die Kliniken, in denen Organe entnommen werden, finanziell besser auszustatten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, wenn wir darauf verzichten, uns auf dieses dünne Eis der Widerspruchslösung zu begeben, wenn wir einfach dafür sorgen, dass wir das Vertrauen der Menschen in diesem Land erhalten, dann haben wir mit der Zustimmungslösung und einer besseren Organisation in den Entnahmekliniken tatsächlich eine reelle Chance, das Ziel, das wir alle erreichen wollen, zu erreichen, nämlich mehr Menschenleben durch Organspenden zu retten. Ich danke Ihnen. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jörg Schneider. – Nächste Rednerin: Ulla Schmidt.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich beteilige mich an den Debatten über die Frage „Organspende“ seit mehr als einem Vierteljahrhundert hier in diesem Parlament. Und immer hat das Parlament mit all seinen Mitgliedern darum gerungen, was eigentlich die beste Lösung ist, wie wir die Bereitschaft der Menschen, Organe zu spenden, mit der tatsächlichen Zahl an Organspenden zusammenbringen – und die gleichen Vorschläge wie heute sind immer wieder gekommen. Es hat immer wieder auch Fortschritte gegeben, aber es hat auch Eingriffe und Rückschritte gegeben, die oft vom Äußeren her bedingt waren. Ich sage mal: Die Menschen sind es auch wert, dass wir diese Diskussion führen; denn auf ein Spenderorgan zu warten und keines zu bekommen, ist in der Regel mit einem Todesurteil gleichzusetzen. Trotzdem glaube ich, dass wir uns genau ansehen müssen, was welche Wirkung hat. Immer wieder kam die Widerspruchslösung zur Sprache. Ich bin nach vielen Diskussionen gegen die Widerspruchslösung, weil ich die Befürchtung habe, dass uns die Einführung der Widerspruchslösung in dem Glauben wiegen würde, damit wäre alles geregelt. Das ist es nicht. ({0}) Es gibt Erfahrungen mit der Widerspruchslösung in anderen Ländern. Die Organspenderzahlen in Mecklenburg-Vorpommern waren zu meiner Zeit als Gesundheitsministerin höher als in Österreich, das eine Widerspruchslösung hatte. Es gab auch andere Länder, die die Widerspruchslösung hatten – und trotzdem waren die Organspenderzahlen gering. Es trifft zu, was hier heute gesagt wurde: Entscheidend ist die Organisation im Krankenhaus. ({1}) Entscheidend ist, ob es Transplantationsbeauftragte gibt, die freigestellt sind, die nicht am Versorgungsprozess beteiligt sind, die die Zeit haben, mit Menschen zu reden. Denn es ist schwierig, als behandelnder Arzt oder Krankenpfleger zu fragen: Ist Ihr Angehöriger eigentlich Organspender? – Wir brauchen dafür Menschen, die gelernt haben, mit den Angehörigen zu reden. Ich war auf vielen Veranstaltungen, wo mir Angehörige gesagt haben: Wir waren eine Woche auf der Intensivstation; aber, wissen Sie, niemand hat uns angesprochen. Wir hätten doch Ja gesagt. – Deshalb ist das, was im Kabinettsentwurf vom Gesundheitsminister vorgesehen ist, richtig. Wir müssen darüber sprechen, wie wir die Organisation verbessern, wie wir mit den Transplantationsbeauftragten umgehen und wie wir die Entnahmekrankenhäuser stabil finanzieren. Und wir sollten darüber diskutieren, wie wir das noch besser machen können, als es im jetzigen Entwurf vorgesehen ist. ({2}) Ich teile die Meinung all derer, die sagen: Es ist in unserer Rechtsordnung nicht vorgesehen, dass Nichtssagen Zustimmung ist. Ich kenne solche Fälle nicht. Wir haben gehört – das ist hier und auch vom Vorsitzenden des Ethikrats zu Recht gesagt worden –, dass es nicht sein kann, bei der Weitergabe unserer Daten die Zustimmung, und zwar die aktive Zustimmung, zur gesetzlichen Voraussetzung zu machen, aber da, wo es um eine Organspende geht, zu sagen: Wenn du schweigst, bedeutet das Ja. – Das kann es nicht geben – und ich glaube auch nicht, dass wir damit weiterkommen werden. ({3}) Ich spreche hier auch in meiner Funktion als Bundesvorsitzende der Lebenshilfe. Was ist denn mit den Menschen, die schwere psychische Beeinträchtigungen haben? Was ist mit den Menschen mit geistigen Behinderungen oder anderen Beeinträchtigungen? Ich sage Ihnen aus meiner Erfahrung: Diese Menschen sind oft emotional nicht in der Lage, eine solche Entscheidung zu treffen. Sind die automatisch Organspender oder -spenderinnen? Was machen wir dann? Auch diese Fragen müssen wir in diesem Parlament beraten; denn auch Menschen mit Behinderungen, Menschen, die sich nicht entscheiden wollen, Menschen, die psychisch sehr schwer krank sind, haben ein Recht auf Selbstbestimmung. Lassen Sie uns darüber reden! Dann finden wir am Ende vielleicht eine bessere Lösung, als wir sie jetzt haben. Danke schön. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ulla Schmidt. – Nächster Redner: Wolfgang Kubicki. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001235, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal muss ich sagen: Das ist eine wirklich bemerkenswerte Debatte, die wir hier führen. Denn ich stelle fest, dass es, und zwar quer durch alle Fraktionen, zu dem Thema, um das wir uns gerade bemühen, unterschiedliche Auffassungen gibt. Das gilt auch für meine Fraktion. Die Behauptung, wir seien für eine eindeutige, verpflichtende Entscheidungslösung, ist unzutreffend. Nahezu die Hälfte meiner Fraktion hat eine andere Auffassung. Aber das ist auch gut so; denn das Thema berührt – Frau Keul hat es gesagt – die Würde des Menschen unmittelbar. Es geht um eine höchst persönliche Entscheidung. Ich komme noch dazu, warum das auch für die weitere Debatte wichtig ist. Ich habe mir nie vorstellen können, dass ich Ihnen, Frau Schmidt, einmal zustimmen würde. Aber die Suggestion, die aufgebaut wird, mit der Widerspruchslösung würde man die Zahl der Organentnahmen erhöhen, ist falsch. ({0}) Ich könnte jetzt auch sagen: Wir haben einfach zu wenig Gehirntote; denn das Transplantationsgesetz schreibt vor, dass Organe zum Zweck einer Transplantation nur entnommen werden dürfen, wenn der Hirntod festgestellt wurde. Ein solcher Fall – das sagen Mediziner – tritt aber nur ein, wenn der Körper mittels maschineller Beatmung mit Sauerstoff versorgt wird, da ohne eine solche Maßnahme in kurzer Zeit alle Organfunktionen erlöschen würden. Da beginnt ein dramatisches juristisches Problem. Jeder ärztliche Eingriff ist rechtswidrig, es sei denn, er wird durch die Zustimmung des Patienten legitimiert. Wenn man sich aber nun die Frage stellt, was eigentlich in der Phase passiert, in der der Mediziner entscheiden muss, ob eine Maßnahme noch der Wiederherstellung des Patienten dient oder eine organprotektive Maßnahme ist, die dazu dient, die Organe zu erhalten, die man für die Transplantation braucht, dann stellt man fest, dass man für diese Phase auch eine positive Zustimmung des Patienten braucht, solange er lebt; denn diese Phase ist durch das Recht nicht mehr gedeckt. ({1}) Ich sage allen Beteiligten: Dem deutschen Recht ist es fremd, Schweigen als Zustimmung zu werten; das kennen wir nicht. ({2}) Das geht tatsächlich auch nur mit Freiwilligkeit, mit Zustimmung der jeweils Betroffenen zu ihren Lebzeiten bei vollem Bewusstsein ihrer Kräfte. Es gibt übrigens ein weiteres Problem, das noch gar nicht angesprochen worden ist: Was machen wir mit denjenigen, die Organe spenden wollen, aber eine Patientenverfügung verfasst haben, in der festgehalten ist, dass lebensverlängernde Maßnahmen nicht mehr eingesetzt werden dürfen, wenn die Therapie aussichtlos ist? ({3}) Was gilt dann, die protektive Maßnahme oder die Patientenverfügung? Ich will nur sagen: Diese Probleme bewältigen wir durch die Widerspruchslösung in keiner Weise. ({4}) Zur verpflichtenden Entscheidungslösung. In diesem Fall widerspreche ich, dass der Staat das Recht hat, die Menschen zu bitten oder zu verpflichten, überhaupt eine Erklärung abzugeben. Was machen wir denn mit denjenigen, die sagen: „Ich gebe gar keine Erklärung ab“, nicht im Sinne von: „Ja, Nein, Enthaltung“, sondern von: „Ich gebe keine Erklärung ab. Ich will mich gegenüber niemandem in dieser Frage offenbaren, weil der Legitimationsdruck sonst so stark wird, dass ich mich moralisch dafür rechtfertigen muss, dass ich nicht bereit bin, meinen Körper oder Teile meines Körpers zu opfern, um andere Leben zu retten“? Unter diesen Legitimationsdruck darf der Staat die Menschen nicht setzen. ({5}) Deshalb widerspreche ich auch vehement der verpflichtenden Entscheidungslösung. Werben wir dafür, dass Menschen sich bereitfinden, Organe zu spenden! Klären wir auf! Dann ist viel mehr dafür getan, als wenn wir eine Diskussion über die Widerspruchslösung führen oder über die Frage, ob wir Menschen verpflichten können, sich zu offenbaren. Ich glaube, wir sind bei der Diskussion auf einem guten Weg, und wir werden auch eine vernünftige Lösung finden. Ich selbst werde weder einer Widerspruchslösung noch einer verpflichtenden Entscheidungslösung zustimmen. Herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Wolfgang Kubicki. – Nächste Rednerin: Kathrin Vogler. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Frau Schmidt, das Thema Organspende ist eines, das den Bundestag immer wieder beschäftigt, und das auch zu Recht; denn über 10 000 Menschen stehen auf den Wartelisten für ein Spenderorgan, und für jeden Einzelnen und jede Einzelne von ihnen ist das die letzte Hoffnung auf Leben und Lebensqualität. Wer sich dafür entscheidet, nach seinem Tod als Organspenderin oder Organspender zur Verfügung zu stehen, der leistet einen Akt der individuellen Solidarität mit einem wildfremden Menschen, aber eben auch einen Dienst an der Gesellschaft. Ich finde, deswegen haben diese Personen ihrerseits Anspruch auf Anerkennung und Wertschätzung. Es ist eben keine Selbstverständlichkeit oder nach dem Tode eintretende Bürger- und Bürgerinnenpflicht, sondern ein Ausdruck individueller Selbstbestimmung in sozialer Verantwortung. Das Bewusstsein dafür ist in den letzten Jahren gewachsen, was sich in der zunehmenden Zahl von Organspenderausweisen, aber auch in einer überwiegend positiven Haltung der meisten Menschen zur Organspende nach dem Hirntod ausdrückt. Angesichts dessen, Herr Spahn, habe ich mich schon sehr gewundert, dass Sie als Gesundheitsminister, der diese positive Entwicklung ja kennen müsste, sich im Sommer dieses Jahres für die Einführung einer Widerspruchsregelung ausgesprochen haben. Um noch einmal klarzumachen, was das bedeutet: Das würde bedeuten, dass jemand, der zu Lebzeiten keine Erklärung zur Organspende abgegeben hat, dann automatisch als Organspenderin oder Organspender gelten würde, wohingegen es heute so ist, dass vor einer Organentnahme der mutmaßliche Wille des Verstorbenen erkundet werden muss. Auch die Angehörigen werden in diese Klärung einbezogen. Wenn nicht geklärt werden kann, wie die Person zur Organspende gestanden hat, dann dürfen keine Organe entnommen werden. Ich finde, dieses Vorgehen entspricht der Menschenwürde und der Selbstbestimmung, die in unserer Rechtsordnung auch über den Tod hinaus zu respektieren sind. ({0}) Wozu sonst hätten wir denn Bestimmungen zum Umgang mit Toten wie etwa § 168 Strafgesetzbuch, der eine Störung der Totenruhe mit bis zu drei Jahren Haft bedroht? Vor diesem Hintergrund, finde ich, müsste schon eine Widerspruchsregelung aus ähnlich hochstehenden Rechtsgütern zu begründen sein, und das ist sie aus meiner Sicht aus mehreren Gründen nicht. Eine Widerspruchsregelung ist weder notwendig noch überhaupt geeignet, um das Ziel einer besseren Versorgung mit Spenderorganen und damit eben auch von mehr Überlebensmöglichkeiten für die Menschen auf der Warteliste zu erreichen. ({1}) Aus der bereits mehrfach angesprochenen Studie der Universitätsklinik Kiel geht hervor, dass im Jahr 2015 von 27 258 Todesfällen in Krankenhäusern, die für eine Organspende infrage gekommen wären, überhaupt nur 2 245 – das sind gerade einmal 8,2 Prozent – an die zuständige Stiftung Organtransplantation gemeldet wurden. Und nur bei 3,2 Prozent kam es dann tatsächlich zur Entnahme von Organen. Diese Quote entwickelt sich genau rückläufig zu der Bereitschaft der Bevölkerung. Der Anteil der Menschen mit Organspendeausweis hat sich von 22 Prozent im Jahr 2012 auf 32 Prozent im Jahr 2016 erhöht und in den letzten zwei Jahren noch weiter. Wenn die Realisierungsquote trotzdem nur bei 3,2 Prozent liegt, dann zeigt das doch, dass es in den Krankenhäusern selbst sehr viele praktische, konkrete Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Bevor diese nicht ausgeschöpft sind, sollte man nicht an eine Widerspruchsregelung denken. ({2}) Aus meiner Sicht ist es wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Ökonomisierung der Krankenhäuser durch die verhängnisvollen Fallpauschalen dazu führt, dass Intensivbetten und OPs mit lukrativem Patientengut – was für ein schrecklicher, menschenfeindlicher Begriff! – ausgelastet sein müssen. Eigentlich müssten wir dort ansetzen. Dafür sehe ich aber leider keine Mehrheit. Eine Widerspruchslösung könnte sogar gegenteilige Effekte haben.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie an Ihre Redezeit!

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Deshalb möchte ich dafür werben, dass wir uns gemeinsam um eine bessere Information und Beratung zur Organspende, aber vor allem auch um eine bessere Organisation in den Krankenhäusern bemühen. Ich danke Ihnen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kathrin Vogler. – Nächste Rednerin: Sylvia Kotting-Uhl.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich will nicht darüber reden, was die Lösung sein könnte und ob die Widerspruchsregel irgendetwas zur Lösung beitragen könnte. Hier schließe ich mich Kirsten Kappert-Gonther, meiner Fraktionskollegin, an, die auch für mich dargelegt hat und die auch dargestellt hat, wie wichtig die Freiwilligkeit ist, wenn wir die Anzahl der Spenden erhöhen wollen. Ich glaube aber, dass es noch einen ganz anderen, mindestens genauso gravierenden Grund wie den der eventuellen Nutzlosigkeit gibt, die Widerspruchsregel nicht zu praktizieren. Mir geht es hier um das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern und Bürgerinnen. Ich bin ein Mensch, der selten stolz ist auf etwas; aber ich bin stolz auf unser Grundgesetz. Ich finde es eine großartige Leistung, dass dieses Grundgesetz aus den Erfahrungen schwärzester Zeiten heraus den Menschen mit seiner unveräußerlichen Würde in den Kern unserer Verfassung stellt. ({0}) Aber Ethiken, die auf der Menschenwürde und den daraus abgeleiteten Menschenrechten fußen, geraten zunehmend – und das nicht erst heute – und in weiten Teilen der Welt durch utilitaristische Ethiken unter Druck, Utilitarismus, der den Nutzen für die Gesellschaft im Vordergrund sieht und das zum ethischen Maßstab macht. Was ist das Beste für die Gesamtgesellschaft? Eine nachvollziehbare Ethik, aber sie nimmt dem Menschen im Kern die Würde und ersetzt sie durch den Wert. Welchen Wert hat der Mensch für die Gesellschaft? Wir stehen, wenn wir politische Entscheidungen herbeiführen müssen, sehr oft zwischen den beiden Polen „Prinzipien“ und „Pragmatismus“ und müssen unseren Weg finden. Sehr oft haben es die Prinzipien schwer, weil es immer sehr verlockend ist, genau dem nachzugehen, was in der Situation, in der ich etwas lösen möchte, am besten erscheint. Es ist dann oft ein harter Kampf auf der Seite der Prinzipien – und eines dieser Prinzipien ist eben die Menschenwürde. ({1}) Manchmal ist es so, dass man um des hehren Prinzips Menschenwürde willen das Gefühl hat, man müsse sein Herz ausschalten, man dürfe seinem Bauchgefühl nicht mehr folgen. Wo wäre das stärker der Fall als in dem Umfeld, über das wir jetzt reden, wo es um Wartelisten von Menschen geht, die auf Leben hoffen, wo es um Eltern geht, die, wenn sich kein Spenderorgan für ihr Kind findet, ihrem Kind beim Sterben zuschauen müssen? Ich glaube, es ist nichts härter als das. Also geht es am Ende doch um Solidarität? Sollen wir solidarisch sein mit all denen, die warten? Geht es um den Nutzen für die Gesellschaft? Und wer Nein sagt, ist unsolidarisch, ist nicht bereit, etwas für die Gesellschaft zu tun? Nein, ich glaube, dass es an dieser Stelle mehr als an vielen anderen Stellen darum geht, den Kern unseres Grundgesetzes, die Menschenwürde mit dem Recht auf persönliche Freiheit und Selbstbestimmung, zu verteidigen. ({2}) Und: Spende muss Spende bleiben. Ich kann aber nicht von Spende reden, wenn ich es deutlich und dokumentiert klarmachen muss, falls ich diese Spende gar nicht leisten will. Damit führen wir den Begriff ad absurdum. Das heißt, wir müssen – wie auch immer die genaue Lösung, die dieser Bundestag letztlich finden wird, dann aussieht – bei der Zustimmung bleiben. Die Zustimmung muss abgefragt werden und nicht der Widerspruch. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sylvia Kotting-Uhl. – Nächster Redner: Stephan Pilsinger. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass wir heute über das Thema Organspende sprechen, begrüße ich sehr. Die Bedeutung wird an den aktuellen Organspendezahlen in Deutschland deutlich; denn diese sind erschreckend niedrig, und das darf nicht so bleiben. Daher bin ich Herrn Bundesminister Spahn auch äußerst dankbar, dass er sich dieses Themas angenommen und den Entwurf eines Gesetzes für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende erarbeitet hat. ({0}) Der Gesetzentwurf baut auf einer zentralen Erkenntnis auf: Die niedrigen Organspendezahlen sind auf Probleme im Prozess der Organspende zurückzuführen. Hieraus werden im Gesetzentwurf dann die richtigen Schlüsse gezogen. Umso unverständlicher ist es für mich, dass darüber hinaus die doppelte Widerspruchslösung gefordert wird. Das halte ich für kontraproduktiv, da eine Verbesserung der Prozesse die Widerspruchslösung geradezu überflüssig macht. ({1}) Ein Blick auf die weltweite Situation zeigt, dass es unterschiedliche Lösungen mit unterschiedlichen Erfolgen gibt. So haben zum Beispiel die USA mit der Zustimmungslösung hohe Organspendezahlen erreicht. In Schweden ist die Zahl gespendeter Organe trotz Einführung der Widerspruchslösung stagniert. Das zeigt deutlich: Wir können nicht ohne Weiteres behaupten, die Widerspruchslösung würde automatisch zu besseren Organspendezahlen führen. So einfach ist es nun einmal nicht. ({2}) Die USA und Schweden legen vielmehr den Schluss nahe, dass die schlechten Organspendezahlen auf Probleme im Prozess der Organspende zurückzuführen sind; das sagen auch die meisten Experten sowie eine Studie des Uniklinikums Kiel. Die Widerspruchslösung verfehlt nicht nur wahrscheinlich ihr Ziel, sie ist auch ethisch mehr als bedenklich. Sie verstößt gegen unsere Werte. Man kann ein bloßes Nichtssagen nicht einfach als Zustimmung werten. ({3}) Eine Organspende muss immer freiwillig sein; darauf weist schon der Begriff „Spende“ hin. Die Widerspruchslösung würde aber eine Pflicht zur Organspende begründen, der sich die Bürgerinnen und Bürger nur durch den rechtzeitig erklärten und dokumentierten Widerspruch entziehen könnten. Einen solchen Paradigmenwechsel, der die Integrität des Körpers infrage stellt, dürfen wir nicht zulassen. ({4}) Wenn wir schließlich an die Verwandten eines verstorbenen potenziellen Organspenders denken, wird es bei der doppelten Widerspruchslösung gänzlich paradox. Die Hinterbliebenen werden nach wie vor in einer emotionalen Extremsituation mit der Frage der Organspende ihres Verwandten konfrontiert. Sie würden nicht mehr, wie aktuell, gefragt: „Dürfen wir die Organe Ihres Verwandten entnehmen?“, sondern: Dürfen wir die Organe Ihres Verwandten nicht entnehmen? Menschen in einer solchen Extremsituation, beispielsweise nach einem Autounfall, das zu fragen und indirekt zu nötigen, ihre Angehörigen als Organspender freizugeben, finde ich grundfalsch. ({5}) Aus praktischen, aus rechtlichen, vor allem aber aus ethischen Gründen bin ich daher für die Beibehaltung der Entscheidungslösung. Sinnvoll fände ich eine Lösung, bei der alle Bürgerinnen und Bürger bei einer einheitlichen Gelegenheit, zum Beispiel der Ausstellung eines Personalausweises, gefragt werden, ob sie Organspender sein möchten. Diese Lösung wahrt zudem das Selbstbestimmungsrecht, die Würde des Menschen sowie die Integrität des Körpers. Auch würde sie Verwandte in emotionalen Ausnahmesituationen entlasten, da der Wille des Verstorbenen dokumentiert ist. Wir müssen für beides kämpfen: mehr Organspenden und absolute Freiwilligkeit bei den Spendern. Das ist miteinander vereinbar. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Stephan Pilsinger. – Nächster Redner: Detlev Spangenberg. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Chirurg Christiaan Barnard, der 1967 die weltweit erste Herztransplantation durchgeführt hat, wurde schon erwähnt; 1969 folgte Rudolf Zenker, der die erste Herztransplantation Deutschlands durchgeführt hat. Es waren medizinisch-technische Ereignisse, aber ohne Erfolg für die Empfänger: Sie starben wenige Tage nach den Transplantationen als Pioniere der Wissenschaft. Natürlich war das eine medizinische Revolution; aber die Spender finden keine Erwähnung, keiner kennt die Spender. Das hat sich inzwischen zum Glück verändert: Der Spender wurde stärker ins Blickfeld gerückt. Es gibt kein medizinisches Gebiet, in dem Vertrauen, Moral, Ethik und der Glaube an die „Götter in Weiß“ stärker zur Geltung kommen müssen als hier. Insbesondere ist zu beachten, dass Skandale hier eine ungeheure Wirkung haben und mit einem großen Verlust an Vertrauen in die Transplantationsmedizin verbunden sind, zumal es hier um Weiterleben und Sterben geht. Die Organtransplantation ist nicht mit unnötigen, überflüssigen medizinischen Handlungen zu vergleichen, vorgenommen aus wirtschaftlichen Erwägungen; denn bei der Organtransplantation geht es um Leben oder Tod, hier besteht ein unmittelbarer Bezug. Der Spender, meine Damen und Herren, ist als Individuum zur Selbstaufgabe bereit. Das heißt, da ist ein Mensch, der sich hochherzig und beseelt zu einer Hilfeleistung bereit erklärt, im Vertrauen darauf, anderen im Sterben etwas von sich zu geben. Zur Widerspruchslösung sei gesagt – das wurde hier schon betont –: Schweigen bedeutet in unserem Rechtssystem grundsätzlich Nein. Der Vergleich mit den Fällen, in denen Schweigen eine Rechtskraft erwirkt – zum Beispiel beim Mahnbescheid oder beim Erbe –, passt hier nicht; denn hier ist immer ein direkter Bezug vorhanden: Jemand wird aufgefordert, zu handeln oder zu reagieren, und wenn er nicht reagiert, kann eine formale Rechtskraft eintreten. Bei der Widerspruchslösung sieht es aber anders aus: Da wird vorausgesetzt, dass sich jemand vielleicht sein ganzes Leben damit beschäftigen muss, was beim Sterben mit ihm passieren kann. Er muss handeln, wenn er etwas nicht möchte, obwohl ihm dies vielleicht gar nicht bewusst ist. Es ist auch nicht zumutbar und kaum durchführbar, die Informiertheit eines jeden zu gewährleisten, sodass er über den Wiederspruch zur Organspende – als notwendig ablehnend wirkende Handlung – eine Entscheidung treffen kann. Es ist so zu sehen, dass eine fehlende Willenserklärung eben keine Erklärung ist, weil dann keine Willenserklärung abgegeben wurde und somit auch kein Einverständnis vorliegt. Im Gegensatz dazu stellt der Spenderausweis eine nicht empfangsbedürftige Willenserklärung dar, die der Empfänger, hier die Transplantationsklinik, annehmen kann oder auch nicht. Fazit: Die Widerspruchslösung erfordert eine umfassende Aufklärung. Sie könnte sogar die Spendenbereitschaft zurückgehen lassen, weil jemand im Zweifelsfall eine Ablehnung formuliert, die er später oder unter anderen Umständen vielleicht gar nicht erklärt hätte. Bei der Einführung der Widerspruchslösung kann man nicht mehr – das wurde schon gesagt – von einer Spende sprechen; denn die Spendenbereitschaft wurde nicht erklärt. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine allgemeine, staatlich, gesetzlich angeordnete Organentnahme, der man widersprechen kann. Ich denke, wir sollten bei der eindeutigen Einverständniserklärung bleiben. Das ist rechtlich sauber und berücksichtigt das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Einzelnen. Die Widerspruchsregelung ist somit abzulehnen. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Spangenberg. – Nächste Rednerin: Hilde Mattheis. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zahlen sind hier mehrfach genannt worden; auch die Notwendigkeit, die Zahl der Spenden zu erhöhen, ist vielfach erwähnt worden. Insofern ist es für mich unverständlich, dass wir an dieser Stelle eine Debatte führen, die eigentlich den Kern dessen, was schon in einem Gesetzentwurf vorliegt, ein Stück weit überdeckt: ({0}) Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende wollen wir dafür sorgen, dass es zu einer Erhöhung der Organspendezahlen kommt. Es war umso unverständlicher, dass der Minister, der den Gesetzentwurf vorgelegt hat, diese Debatte lostritt. Ich will die Zahlen noch einmal nennen: 12 000 Menschen warten auf eine Organspende. Damit ist über das ganze Elend schon alles gesagt. Angehörige bangen um ihre Kinder oder Ehepartner. Das ist alles unglaubliches Leid. Natürlich ist das Leid auf der anderen Seite genauso unglaublich, nämlich in einem Krankenhauszimmer gefragt zu werden: Steht der Angehörige zur Organspende zur Verfügung? Was sagen Sie? – Mit der doppelten Widerspruchslösung würden wir vor allen Dingen die Angehörigen vor eine schwierige Aufgabe stellen. Man müsste ihnen sagen: Ihr Vater, Ihre Mutter hat nicht widersprochen. Wie sehen Sie das? – Das Problem ist, dass wir auf dieser Grundlage eine Organspende provozieren, die ich unter anderem aus ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten nicht möchte. Lassen Sie uns doch bitte die zentralen Fragen klären: Wie kriegen wir es hin, dass auch kleinere Krankenhäuser die Entnahme im Blick haben? In kleineren Krankenhäusern verstirbt die Hälfte aller Menschen in Deutschland. Das sind die Todesfälle, um die es geht. Das muss man im Blick haben. Wie kriegen wir es hin, dass die Krankenhäuser die Entnahme nicht nur als unwillige Pflichtaufgabe empfinden, sondern sich der Sache annehmen und sagen: „Ja, damit wird ein wichtiger medizinischer Beitrag geleistet“? ({1}) Und: Wie kriegen wir es hin, dass die Vergütung stimmt? Als Reisende nach Spanien und Dänemark komme ich auf die Erfahrungswerte in diesen Ländern zu sprechen. Aus den Gesprächen, die wir dort geführt haben, und auch aus den entsprechenden Untersuchungen geht hervor: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Widerspruchslösung und der Zahl der Organspenden oder der Zustimmungslösung und der Zahl der Organspenden. Es liegt allein an den Strukturen. ({2}) Wie kriegt man es hin, dass in den Entnahmekliniken Transplantationsbeauftragte wirklich eingebunden sind, dass Intensivmedizinerinnen und Intensivmediziner den Blick darauf haben und geschult sind, dass sie sich in der Ausbildung entsprechendes Wissen aneignen können? Wie kriegen wir es hin, dass in einem Team auch Pflegerinnen und Pfleger dabei sind und christlicher bzw. theologischer Beistand sichergestellt ist? Denn niemand von uns möchte sich vorstellen, in irgendeinem kahlen Krankenhauszimmer zu sitzen und mit dieser Frage allein zu sein. Egal ob er widersprochen oder sich entschieden hat: Niemand möchte mit dieser Frage allein sein. Er möchte medizinische Auskunft sowie ethischen oder religiösen Beistand haben. Dafür müssen wir sorgen. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Hilde Mattheis. – Nächste Rednerin: Dr. Claudia Schmidtke. ({0})

Prof. Dr. Claudia Schmidtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004879, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bürgerinnen und Bürger meines Wahlkreises haben mich nicht in erster Linie als Politikerin in dieses Hohe Haus gewählt, sondern als Ärztin. Diese Biografie hat eigene Begegnungen mit Menschen hervorgebracht, die ein Recht haben, an diesem Pult vertreten zu werden. Es geht um Menschen, deren Leben von einem neuen Organ abhängt, weil ihr eigenes Organ schwach oder beschädigt ist. Wenn beispielsweise die Nieren versagen und sie dialysepflichtig werden, dann wissen sie, dass ihre Chancen bei uns nicht gut stehen. Im Durchschnitt warten sie acht bis zehn Jahre; viele Patienten sterben in dieser Zeit. Diese Menschen wissen, dass ihre Chancen außerhalb Deutschlands besser wären. Im Ausland leben 50 Prozent der Nierenpatienten mit einem Transplantat, hierzulande sind es 20 Prozent. Diese Menschen haben seit Jahren einen gepackten Koffer zu Hause stehen und warten sehnlichst auf den erlösenden Anruf. Währenddessen wissen sie, dass ausländische Parlamente früher einen Systemwechsel eingeleitet und somit die Chancen für ihre Mitbürger verbessert haben. Meine verehrten Damen und Herren, es ist höchste Zeit, dass der Deutsche Bundestag nun auch seiner Verantwortung für diese Menschen gerecht wird und ihnen ihre Chance auf ein verlängertes Leben verbessert. ({0}) Wir sollten nicht vergessen: Jeder von uns und jeder unserer Angehörigen kann plötzlich dieser Mensch sein. Wir haben mit dem Entwurf eines GZSO einen kleinen Schritt auf den Weg gebracht, der allerdings bei weitem nicht ausreicht. Zu der viel zitierten Studie des Kollegen Feldkamp aus Kiel muss man sagen: Sein Fazit ist, die Zahl der gespendeten Organe könnte gesteigert werden, und das ist eine Analyse von Sekundärdaten. Das dürfen wir nicht vergessen. Auch mehr Aufklärung wird keinen Erfolg bringen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung investiert schon seit Jahren viele Millionen Euro in Informationen und in Werbung. Seit 2012 sind es 43 Millionen Euro, allein in diesem Jahr 5,7 Millionen Euro. Ebenso die Krankenkassen: Der GKV-Spitzenverband hat ausgerechnet, dass die Kassen für jeden zusätzlichen potenziellen Organspender 1 Million Euro investieren mussten, und das, obwohl in Umfragen – wir haben es gehört – 84 Prozent der Menschen Organspende befürworten und 70 Prozent spenden würden. Wir wissen also, dass die Aufklärungsarbeit keinen hinreichenden Erfolg hat. Wir wissen, dass eine verbesserte Infrastruktur nur dann sinnvoll ist, wenn sie auch genutzt werden kann. Und wir wissen, dass jeden Tag drei Menschen sterben, während sie auf ein Organ warten. ({1}) Wer behauptet, dass es zu früh sei, um eine Widerspruchsregelung anzustreben, den muss ich fragen: Wo­rauf warten wir? Die Menschen, die betroffen sind, haben keine Zeit. ({2}) Ich fühle mich hier und jetzt als Anwältin unserer Patienten. Hier und heute orientieren wir uns als frei gewähltes Parlament, als Abgeordnete nach unserem Gewissen. Ich stehe für die Widerspruchsregelung, für einen Systemwechsel. Heute kann nur die ausdrückliche, schriftliche Bereitschaft des Verstorbenen oder die Wiedergabe des mutmaßlichen Willens durch den nächsten Angehörigen eine Organspende ermöglichen, mit der, wie beschrieben, unzureichenden Bilanz für diejenigen, die auf ein lebensrettendes Organ warten, auch mit der unerträglichen Belastung für die Angehörigen, die gerade eine geliebte Schwester, den Ehemann oder die Tochter verloren haben, deren mutmaßlichen Willen zu ergründen; von der Belastungssituation der Ärzte, die im Moment des Todes die entscheidende Frage stellen müssen, nicht zu sprechen. Die Widerspruchsregelung bedeutet, dass grundsätzlich jeder von uns im Todesfall als Organspender erkannt wird, doch bleibt die Spende ebenso freiwillig wie bisher; denn jeder von uns hat die Möglichkeit, zu Lebzeiten zu widersprechen, jederzeit, einfach, barrierefrei. Auch das Vetorecht für die Angehörigen, zum Beispiel, wenn der Verstorbene noch kurz vor dem Ableben seine Willensänderung mitteilte, bleibt erhalten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, jährlich sterben in unserem Land Tausende Menschen, weil sie zu lange auf ein lebensrettendes Organ warten mussten. Ich denke, daran sollten wir auch denken. Danke schön. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Claudia Schmidtke. – Nächster Redner: Helge Lindh. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Wörter beschäftigen mich die ganze Zeit, wenn ich über die heutige Diskussion nachdenke. Das eine Wort ist „Grenze“ oder „Schwelle“, lateinisch „limen“, Liminalität. Wir sprechen in diesem Hause sehr oft – ich glaube, zu oft – über Grenzen, dies ist aber eine Diskussion, in der man über Grenzen und die Verschiebung von Grenzen durchaus sprechen sollte. Das Zweite ist der Ruf eines Und-dennoch. Das kommt mir immer wieder in den Sinn. Eigentlich bin ich versucht, der Widerspruchslösung, auch der erweiterten, zuzustimmen, wenn ich die Zahlen derer sehe, die betroffen sind. Dennoch widerspreche ich dieser Widerspruchslösung. Ich erlebe in meinem Umfeld konkret zwei Lebenssituationen: Menschen, die man womöglich, wenn die Ankündigungen stimmen, retten könnte oder mit einer entsprechend wirkungsvollen Widerspruchslösung hätte retten können. Ich ringe mit der Verantwortung, die ich trage, wenn ich dieser widerspreche. Dennoch tue ich das, weil ich denke: Ich muss es mir – ich kann nur für mich sprechen – nicht einfach, sondern besonders schwer machen, schwerstmöglich machen. Deshalb bin ich zum jetzigen Zeitpunkt – das sage ich nicht abschließend, sondern ich sage „zum jetzigen Zeitpunkt“ – nicht überzeugt von einer erweiterten Widerspruchslösung. Ich glaube, es ist sinnvoll, nicht zu einfachen Kausalitäten zu folgen. Es wurde darauf hingewiesen, dass es keinen direkten Zusammenhang gibt zwischen der Zahl derjenigen, die einen Organspendeausweis haben, und der Zahl derjenigen, die spenden. Es gibt auch keine eindeutigen Zusammenhänge zwischen der Widerspruchslösung und der Zahl der Spenden. Es wurde auf Spanien hingewiesen und auch auf die Tatsache, dass dort de jure eine Widerspruchslösung gilt, aber in der Praxis, de facto, die Zustimmungslösung praktiziert wird. Ich glaube, dass wir, um einen ethischen Kompass zu haben, in die Praxis der Situation hinein müssen, das heißt, dass wir uns auseinandersetzen müssen mit den Defiziten des klinischen Settings, der Situation unmittelbar vor Ort – das ist nicht zu ersetzen durch eine Debatte über Widerspruchslösung oder Entscheidungslösung –: Was spielt sich in den Krankenhäusern ab? Was gibt es für Strukturen? In welcher Situation sind die Transplantationsbeauftragten? Wie sind die finanziellen Bedingungen? Aber auch das reicht nicht. Ich glaube, wir müssen unmittelbar ans Bett, in die Situation; denn die Transplantationsmedizin hat etwas verändert in uns allen, hat unseren Begriff des Todes und auch unsere Begriffe des Sterbens und des Lebens verändert. Ich denke, diese Veränderung ist gesellschaftlich von uns noch nicht vollzogen. Solange diese Veränderung von unserem Bewusstsein nicht vollzogen ist, bin ich skeptisch und bremsend hinsichtlich jeder Form einer erweiterten Widerspruchslösung. Die Technologie macht Dinge möglich, die es vorher nicht gab. Das entlässt uns aber nicht aus der Verantwortung, diese Dinge auch ethisch nachzuvollziehen. Wir diskutieren hier regelmäßig über die Folgen von Digitalisierung, und wir fordern auch, dass man sozial und ethisch darauf Antworten findet. Aber dann müssen wir das erst recht in dieser Frage, in der Technologie fundamental in unsere Vorstellungen vom Leben eingreift. Das heißt nicht etwa, gegen Transplantationsmedizin zu sein, mitnichten – ich bin ein ganz deutlicher Befürworter –; aber es heißt, sich klarzumachen, dass wir einen Raum geschaffen haben, den es vorher so nicht gab, und dass wir uns sehr genau mit den Situationen auseinandersetzen, was es denn bedeutet, wenn es einerseits eine Patientenverfügung gibt und andererseits einen Organspendeausweis. Diese Situation ist jetzt schon Realität, jetzt schon sind Angehörige, sind Pflegekräfte, sind Ärzte und die Betroffenen konfrontiert, in diesen Situationen zu entscheiden.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Daher plädiere ich dafür, jetzt, in diesem Moment, die Wege einer Entscheidungslösung nachzuvollziehen, mit einer zunächst moralischen Verpflichtung, sich zu entscheiden und zu verhalten, ohne zu richten, wie jemand entschieden hat, und dies in dem Bewusstsein, dass womöglich in zwanzig oder dreißig Jahren wir, vielleicht ich selber, eine andere Entscheidung treffen werden, –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Lindh, kommen Sie bitte zum Schluss.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– weil wir sehen, dass die Gesellschaft diesen Schritt vollzogen hat und bereit ist für eine Widerspruchslösung. Dies ist aber im jetzigen Moment nach meinem Verständnis nicht der Fall. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner: Rudolf Henke. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In der Zeit meiner Weiterbildung zum Arzt für Innere Medizin habe ich selbst in einer Dialyseabteilung gearbeitet. Ich habe selber Patientinnen und Patienten betreut, die auf der Warteliste standen, die auf eine Organübertragung warteten. Ich kann mich an Zeiten erinnern, wo Patientinnen und Patienten, die auf dieser Warteliste standen, gestorben sind, und ich weiß um die Schwierigkeit des Gesprächs mit den Hinterbliebenen, wenn man dann gefragt wird: Warum kann dieses Gesundheitssystem nicht die optimale Versorgung für diese Menschen bereitstellen? – Die Ausgangslage, finde ich, ist klar – Claudia Schmidtke hat sie beschrieben –: Menschen, die dringend auf ein Organ angewiesen sind, hilft einzig und allein eine Organspende; das ist verständlich und klar. Deswegen, finde ich, ist in erster Linie die Frage nach der Wirksamkeit der Maßnahmen, die wir treffen, zu stellen. Was hilft wirklich? Rudolf Virchow, der große Berliner Pathologe und Mitglied des Deutschen Reichstags hat einmal gesagt: „Politik ist nichts anderes als Medizin im Großen.“ Diese Debatte führt uns ein bisschen zu der Frage: Welche Therapie ist richtig? Wenn wir – Stephan Pilsinger hat das gesagt – die weltweite Situation analysieren, dann zeigt sich, dass es unterschiedliche Lösungen im Prinzipiellen mit unterschiedlichen Erfolgen gibt. Ich nenne zum Beispiel die USA, in der es die Zustimmungslösung gibt, mit hohen Organspendezahlen – viel höheren als in Deutschland. Außerdem haben wir die Erkenntnis gewonnen, dass es in Spanien pro forma zwar eine Widerspruchslösung im Gesetzblatt gibt, tatsächlich aber – der Gesundheitsausschuss ist ja extra nach Spanien gereist, um dort mit den Leuten vor Ort zu reden – eine Zustimmungslösung praktiziert wird, mit der sich viermal so hohe Spendenzahlen realisieren lassen, als das in unserem Land gelingt. ({0}) Deswegen, glaube ich, müssen wir uns für jede der Lösungen, über die wir reden, natürlich die Fragen stellen: Ist sie verhältnismäßig? Ist sie verfassungsrechtlich begründbar? – Noch wichtiger sind aber die Fragen: Ist sie wirksam? Ist sie geeignet? ({1}) Ist sie in der Tat dazu in der Lage, mehr Spenden zu realisieren, als das heute der Fall ist? Es ist dokumentiert, dass 36 Prozent der Menschen in Deutschland einen Organspendeausweis haben. Deshalb, glaube ich, ist der Ansatzpunkt eine Veränderung der Realität in den Krankenhäusern, die dafür sorgt, dass wenigstens diese 36 Prozent der Menschen, die bereit sind, sich als Spender zur Verfügung zu stellen, diesen Willen tatsächlich erfüllt bekommen, wenn sie den Hirntod erleiden. ({2}) Das ist heute in vielen Fällen nicht der Fall, und ich glaube, das müssen wir unbedingt ändern. Weil die Zeit nur für dieses zentrale Argument reicht, will ich nur noch zwei Abschlussbemerkungen machen. Ich finde, wir sollten uns jetzt auf den Gesetzentwurf konzentrieren, den Jens Spahn in den Deutschen Bundestag einbringen wird. Weil eben in einer Rede von einem Spender die Rede war, bei dem die Hirntoddiagnostik falsch gewesen wäre, will ich auch sagen, dass die Qualität der Hirntodfeststellung in Deutschland gut und die Hirntoddiagnostik sicher ist. Auch in diesem Fall hat sich später gezeigt – das hat die DSO genau analysiert –, dass der Spender bei der Organentnahme tatsächlich hirntot gewesen ist. Ein letzter Gedanke, den ich noch äußern will: Wir sollten uns hinsichtlich der Lebendspende noch einmal mit Spanien befassen. Ich glaube, dass wir Über-Kreuz-Lebendspenden und im Ringtausch organisierte Lebendspenden wie in Spanien möglich machen sollten. ({3}) Auch das, glaube ich, ist etwas, was wir für die Menschen leisten können, die auf der Liste stehen und warten, warten, warten. ({4}) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Henke. – Nächste Rednerin: Leni Breymaier. ({0})

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute über Organspenden, weil wir möchten – so habe ich die bisherige Debatte verstanden –, dass sich die Zahl der Organspenden in Deutschland erhöht. Persönlich habe ich früh gelernt, dass vergangenes Leben anderen nützlich sein kann. Mein Vater spendete seinen Leichnam der Pathologie der nächsten Uniklinik – mit allen Verirrungen für uns Hinterbliebene. Er hat diesen Wunsch geäußert, er hat ihn verschriftlicht, und dieser Wunsch wurde von uns selbstverständlich erfüllt und nicht hinterfragt. Unser aller Leben ist geprägt von Forschungen und dem Mut der Generationen vor uns. Ich finde, man kann, Ulla Schmidt, von jedem gesunden Menschen erwarten, dass er sich mit der Frage „Will ich im Falle meines Todes ein Organ oder mehrere Organe spenden?“ auseinandersetzt. Die Schwierigkeit besteht oft darin, dass wir es nicht mit lebenserfahrenen, reifen potenziellen Spende­rinnen und Spendern, sondern mit jungen Menschen zu tun haben, die sich im Gegensatz zu meinem Vater mit ihrer eigenen Endlichkeit vielleicht noch nicht auseinandergesetzt haben. Im Falle des Falles sind die nächsten Angehörigen dann mit der Situation in der Regel überfordert. Darum bin ich nach der Debatte heute doch eher auch für die Widerspruchslösung: Ich muss mich erklären, wenn ich nicht spenden will. Ich muss das nicht begründen, und ich muss mich auch nicht rechtfertigen, aber ich muss mich entscheiden. ({0}) Ich würde noch weiter gehen – das kam heute schon ein paarmal –: Warum soll sich ein volljähriger Mensch nicht bereits bei der Beantragung seines Personalausweises erklären? Man könnte ein J für Ja, ein N für Nein einführen und beim Ja vielleicht mehrere Kategorien, also bestimmte Organe Ja, andere nicht. Wir diskutieren heute leidenschaftlich über die Widerspruchslösung oder über die Entscheidungslösung. Wir schauen dabei die mehrheitlich viel höheren Zahlen der Spenderinnen und Spender in den unterschiedlichen Ländern an. Ich bin von der hohen Zahl der Organspende­rinnen und ‑spender in Spanien beeindruckt – wir haben die Zahl heute schon gehört –: Sie lag 2016 pro 1 Million Einwohnerinnen und Einwohner bei fast 44 Organspendern. In Deutschland waren es in der gleichen Zeit keine 11. Diese Zahl ist einfach zu wenig. Darum debattieren wir heute hier. Wir machen das alles mit dem Ziel, die erbärmlich niedrige Zahl der Organspenden in Deutschland zu erhöhen. ({1}) Wir wollen Schluss machen mit diesem eklatanten Spendermangel, den wir haben. Er kostet Leben: zwei bis drei Menschenleben pro Tag. ({2}) Womöglich gibt es aber auch heute schon weitere Ansätze, um diesem Ziel näherzukommen, und zwar jenseits der Entscheidung dieses Parlaments. In Deutschland ist natürlich jede Klinik verpflichtet, mögliche Spender an Eurotransplant zu melden. Aber was heißt das für eine normale Klinik oder gar für gewinnorientierte Häuser? Sie müssen im Zweifel mitten in der Nacht mindestens ein komplettes OP-Team zusätzlich bereithalten, um die Explantation durchzuführen. Wie ich aus Fachkreisen höre, ist es so, dass dieser Aufwand nicht genügend honoriert wird. Ganz sicher will ich niemandem etwas unterstellen. Aber vielleicht führt das auch dazu, dass in Notsituationen entschieden wird: Lassen wir den Aufwand bleiben. Entscheidungsregelung hin, Widerspruchsregelung her: Ein lokaler Koordinator, wie er in den 188 Krankenhäusern in Spanien üblich ist, könnte hier sehr hilfreich sein. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie bitte an die Redezeit.

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Genau, dann höre ich jetzt einfach auf und freue mich auf die weitere Debatte.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön.

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Breymaier. – Nächster Redner: Michael Brand. ({0})

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das hier ist etwas, was nützt, was nicht wehtut und was auch ein ganz gutes Gefühl vermittelt: ein Organspendeausweis. ({0}) Ich selbst habe einen solchen Ausweis seit vielen Jahren. Ich möchte die Debatte damit einleiten, dass ich alle Kolleginnen und Kollegen einlade, die sich noch nicht entschieden haben, und alle Zuschauer, die dieser Debatte folgen. Als Christ weiß ich um das Leben nach dem Tod. So bin ich sicher, dass viele von denjenigen, die Organe gespendet haben, sich daran freuen werden, dass andere durch ihre Spende überleben konnten. Ich habe mich im Übrigen bei diesem Organspendeausweis für einen von der Deutschen Palliativ-Stiftung entschieden. Es ist bislang der einzige Ausweis, in dem das Thema Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht ausdrücklich thematisiert ist. Ich glaube, auch dort ist es wichtig, zu Lebzeiten für Klarheit zu sorgen; denn bei der Organentnahme braucht es eben lebenserhaltende Maßnahmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn der Staat ein Problem lösen will, darf er nicht mit unverhältnismäßigen Mitteln reagieren. Bevor man tiefe Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht und die Würde des Menschen vorschlägt, sollte man analysieren, wo genau das Problem liegt, und dann Lösungen mit Augenmaß anbieten. Mir stellt sich in dieser Orientierungsdebatte eine ganz simple, eine zentrale Frage, nämlich: Warum eigentlich ist die prinzipielle Bereitschaft zur Organspende so groß und die konkrete Bereitschaft zur Umsetzung so gering? Ursache dieser Entwicklung sind nicht etwa immer weniger potenzielle Organspender, wie oft vermutet wird. 2018 ist die Zahl der Spender sogar um über 15 Prozent gestiegen. Es handelt sich vielmehr um organisatorische Probleme in den Kliniken. Meine Sicht ist erstens – da geht es gerade nicht um die Frage der Effizienz – das zentrale Thema Vertrauen der Bürger in die Verfahren der Organspende; denn es gab ja Missbrauch. Dieses Vertrauen erreichen wir über Transparenz, indem wir über Vorteile, die Fragen und auch die gelösten Probleme umfassend informieren. ({1}) Zweitens. Nicht allein die hehren Forderungen nach mehr Organspenden werden das Problem lösen. Wir müssen auch die Hausaufgaben im Gesundheitssystem präzise erledigen. Der Gesetzentwurf unseres Gesundheitsministers weist absolut in die richtige Richtung, wobei ich klar sagen will: Es ist keine „nationale Aufgabe“, wie es der Minister beschrieben hat, sondern eine höchst individuelle Entscheidung, die jeder für sich selbst treffen muss. Drittens. Ob es wirklich eine generelle gesetzliche Änderung und damit einen generellen gesetzlichen Eingriff mit großem bürokratischen Aufwand und wieder einmal mit vielen Fragen zur Rolle des Staates gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern benötigt, ist für mich noch nicht vollständig geklärt; dafür führen wir diese Orientierungsdebatte. Was spricht eigentlich dagegen, dass dieses Gesetz, das ja alle in der Debatte gelobt haben, nicht erst einmal Wirkung entfalten darf und dass wir gleichzeitig unsere Anstrengungen erhöhen? ({2}) Dann kann man sich noch immer für Alternativen entscheiden, die ohne gravierende Grundrechtseingriffe auskommen, wie zum Beispiel die verpflichtende Entscheidungslösung, eine Entscheidungspflicht der Bürger etwa bei der Ausstellung von Ausweisen oder beim Führerschein, gegebenenfalls mit einem Spendenregister. Über das alles sollten wir noch diskutieren. Ich weiß allerdings – das zeigen die Erfahrungen aus anderen Ländern wie Schweden –, dass die Problemlösung nicht einfach in der Widerspruchslösung liegt. ({3}) Abgesehen von Effizienz und besseren Abläufen kann mit einer intelligenten und ehrlichen Kommunikation – darin bin ich mir ziemlich sicher – die prinzipielle Bereitschaft so vieler Millionen Menschen zur Organspende hin zu konkretem Handeln verändert werden. Wir haben bekanntlich einen technikaffinen Gesundheitsminister. Es gibt ganz ohne Gesetzesänderungen – neben all den notwendigen Maßnahmen, die ich gerade erwähnt habe – kurzfristige und effektive Mittel. Lieber Jens Spahn, wie wäre es eigentlich, wenn wir mit Facebook oder mit anderen Kanälen einmal positive Schlagzeilen machten? Wie wäre es, wenn wir seitens des Gesundheitsministeriums eine wirksame Kampagne auf die Beine stellten, die über ein paar Monate hinweg versucht, die große Bereitschaft in der Bevölkerung zu konkreten Organspenderausweisen zu machen? ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Ende.

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! – Es ist ein Unterschied, ob ich alle zwei Jahre von meiner Krankenkasse ein technisches und auch etwas liebloses Schreiben bekomme oder ob ich hin und wieder auf das Thema aufmerksam gemacht werde. Vielleicht gelingt es an diesem Beispiel, eine wirklich positive Geschichte zu einer Geschichte von vielen zu machen. Wenn man andere Optionen hat, die das Problem besser und schneller lösen können, dann sollte man diese nutzen, und zwar möglichst schnell; denn das rettet konkret Leben. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Brand. – Nächster Redner: René Röspel.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fast am Ende einer, wie ich finde, sehr guten Debatte kann man sicherlich zusammenfassend feststellen, dass wir einig sind im Ziel, das wir erreichen wollen, nämlich mehr Organspenden bereitzustellen, aber sehr uneins in der Einschätzung sind, welcher Weg dorthin der beste ist: die Widerspruchslösung oder die Entscheidungslösung. Über diese Frage ist schon vor über zehn Jahren in einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages diskutiert worden. Wir haben uns damals angeschaut, warum es so große Unterschiede zwischen Deutschland und Spanien gibt, was die Organspendebereitschaft angeht. Wir haben uns auch Deutschland selbst genau angeschaut. Wir haben festgestellt: Es gibt Unterschiede zwischen den Bundesländern, vor allen Dingen zwischen städtischen und ländlichen Regionen sowie zwischen Regionen, in denen Krankenhäuser gut aufgestellt sind, und den Regionen, in denen Krankenhäuser nicht gut aufgestellt sind; das sage ich, ohne einen Vorwurf zu erheben. Wir sind überwiegend zu der Einschätzung gekommen: Tatsächlich sind das Kernproblem die Organisation und die Unterstützung der Krankenhäuser. Deswegen ist der Gesetzentwurf, über den diskutiert wird, der richtige Ansatz, um das Kernproblem zu lösen. ({0}) Worüber ich mich tatsächlich wundere, ist, dass schon die Frage nach der Widerspruchslösung gestellt wird. Ich bin von diesem Weg nicht überzeugt – das will ich ausdrücklich sagen –, ({1}) und zwar aus zwei Gründen. Erstens glaube ich, dass diese Verfahrensweise mit der rechtsstaatlichen Auffassung, die wir haben, nicht übereinstimmt. Ich glaube, dass es sogar verfassungswidrig ist, anzunehmen, dass jemand, der sich nicht äußert, eine Entscheidung getroffen haben soll. Zu Recht und mit Verve kämpfen wir doch dafür, dass jemand am Telefon oder an der Haustür keinen Vertrag abschließt, nur weil er sich nicht äußert, sondern dass Zustimmung erforderlich ist, dass der Betreffende zum Beispiel unterschreiben muss, ob er den Telefonanbieter wechselt. ({2}) Das darf doch bei der Organspende wahrlich nicht anders sein. ({3}) Der zweite, fast viel wichtigere Punkt ist, dass in der Organspende wie in keinem anderen Feld, das das Ende des Lebens betrifft – vielleicht gilt es auch noch für die Patientenverfügung –, das Vertrauen der Menschen in einem Bereich, wo sie im Umgang mit dem Tod auf Dritte oder vielleicht auch Weitere angewiesen sind, eine Rolle spielt. Ich stelle immer wieder fest – wie Sie vielleicht auch –, dass viele Menschen mit Organspenden zwar einverstanden sind und sie gut finden, dass es aber, wenn es um sie selbst geht, auch ein großes Misstrauen gibt, was vielleicht daran liegt, dass es einige wenige Fälle und Skandale gab, in denen Organtransplantationen sehr negativ in der Presse dargestellt wurden. Es geht dabei um wenige von vielen Tausend Organtransplantationen. Diese wenigen Fälle haben die Menschen auch verunsichert: Werde ich vielleicht nicht bis zum Schluss oder bis zur Gesundung gepflegt, weil man meine Organe braucht? Das ist eine Befürchtung, von der ich finde, dass sie nicht berechtigt ist. Unsere Aufgabe ist es, dagegen zu argumentieren und mehr Vertrauen zu schaffen. Ich glaube, dass es eine Katastrophe für das Vertrauen wäre, wenn der erste Fall auftritt, dass jemand, der eigentlich nicht Organe spenden wollte und nicht widersprochen hat – aus welchen Gründen auch immer; ich gebe zu, dass ich in meinem Stadtteil zwar Entsprechendes erwarten möchte; aber die Realität ist sicherlich nicht so, dass jeder Mensch selbstbestimmt darüber entscheidet und darüber nachdenkt, ob er Organspender werden will oder nicht –, eine Organentnahme an sich vornehmen lassen muss. Ich glaube, das wäre genau der GAU, der eintreten könnte. Deswegen wäre die Widerspruchslösung an dieser Stelle ein zusätzlicher großer Vertrauensverlust, den wir unbedingt vermeiden müssen. ({4}) Ich komme zum Ende. Ich finde, dass dieser Gesetzentwurf die richtige Bahn einschlägt und dass wir mehr daransetzen müssen, dass das Vertrauen in Organspenden berechtigterweise größer wird. Deswegen spreche ich mich ausdrücklich für eine Entscheidungslösung aus. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, René Röspel. – Nächster Redner: Oliver Grundmann. ({0})

Oliver Grundmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004283, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal danke, dass wir die Debatte heute im Bundestag führen; das ist schon lange überfällig. Jeden Tag versterben Menschen, weil die Wartelisten zu lang sind und weil keine lebensrettenden Organe bereitstehen. Uns alle hier eint, dass wir die Spenderquote mit lebensrettenden Organen in unserem Land erhöhen wollen. Da haben wir schon einen sehr guten Gesetzentwurf. Aber den weiteren Schritt, die Frage der Widerspruchslösung, schieben wir vor uns her. Die Spendenbereitschaft ist bei der Widerspruchslösung deutlich höher, und sie steigt deutlich an. Das ist erwiesen. ({0}) Das können wir auch sehen, wenn wir uns die 20 umliegenden EU-Staaten anschauen, die nämlich diese Lösung haben. Fast alle europäischen Nachbarn haben dieses Konzept übernommen, eben weil es funktioniert. Wir führen jetzt hier eine theoretische, eine hochmoralische Diskussion über die Freiheit des Individuums. Aber was für eine Idee von Freiheit ist es, zu sagen: „Ich habe die Freiheit, wegzuschauen; wenn Tausende Menschen leiden und sterben, ist mir das egal; ich muss mich damit ja nicht beschäftigen“? Letzten Sonntag zur besten Sendezeit wurde bei „Anne Will“ mit Leidenschaft und mit Herzblut das bedingungslose Grundeinkommen diskutiert. Da ist es plötzlich super, wenn der Staat in das Leben eingreift, wenn es darum geht, die Taschen zu füllen. Aber umgekehrt ist es zu viel verlangt, sich einmal im Leben zu entscheiden, ob wir unserem Land, unserer Gemeinschaft auch etwas zurückgeben und damit Leben retten. Gerade einmal 10 Organspender kommen auf 1 Million Einwohner. Wenn ich mir so manchen Leitartikel der letzten Wochen anschaue oder ich so manchen Kollegen höre, dann bin ich schlichtweg fassungslos. Ich zitiere: „Der Leib ist kein Ersatzteillager.“ Das schrieb der ansonsten so hochmoralisierende Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“. Weiteres Zitat: „Sterben und sterben lassen“. Das schrieb Thomas Fischer auf „Spiegel Online“. Ich erspare uns jetzt, aus dem Artikel mit diesem Titel zu zitieren. Aber ich frage mich: Hat einer von denen, die sich da in ihrer Gleichgültigkeit sonnen, das qualvolle Leben, das qualvolle Warten auf Leben oder Tod einmal selbst erlebt – in der eigenen Familie, bei engen Freunden oder vielleicht auch bei den eigenen Kindern? Wissen Sie, wie grausam das ist, wenn Bangen und Hoffen umsonst waren, wenn das rettende Organ einfach nicht rechtzeitig gekommen ist? Ich selbst habe Wochen und unzählige Nächte in der Kinderonkologie verbracht. Mitzubekommen, dass im Nebenzimmer ein Kind verstirbt, hilflos zu versuchen, dessen Eltern zu trösten, mit denen man noch gebangt hat und auch gehofft hat, dass es gut wird, das ist mit das Schrecklichste, was einem passieren kann. Ich kenne niemanden, der in solch einer Situation auch nur eine einzige Sekunde auf die Frage verschwendet, ob es vom mündigen Bürger zu viel verlangt sei, einmal im Leben diese eine Entscheidung zu treffen. Deshalb unterstütze ich aus tiefster Überzeugung die erweiterte Widerspruchslösung bei der Organentnahme. Bis wir das erreicht haben, lade ich jeden Menschen ein, diesen Organspendeausweis, den ich seit dem Jahr 2012, nach dieser Zeit auf der Kinderonkologie, bei mir trage, am Herzen zu tragen. Ich hoffe, dass viele Menschen dieser Lösung folgen und das unterstützen. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Oliver Grundmann. – Nächster Redner: Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bereitschaft, Organe zu spenden, ist eine ausgesprochen anerkennenswerte. Den Spendern und auch den Angehörigen gebührt dafür großer Dank. Die Entscheidung für eine solche Spende setzt besonderes Vertrauen und Transparenz der Prozesse voraus. Die Istsituation heute ist eine solche, dass einst in starkem Maß verlorengegangenes Vertrauen langsam zurückkehrt, aber die nach wie vor sehr große Diskrepanz zwischen Bedarf und Angebot führt uns zu der Debatte, die wir heute führen. Ein Satz – Zitat –: Wir können verlangen, dass sich jeder aktiv erklärt, der seine Organe im Todesfall nicht für das Leben anderer Menschen hergeben möchte. Dem kann ich leider nicht zustimmen. An dieser Stelle möchte ich mich gern auf Sie, Frau Keul, berufen und für den Beitrag von Ihnen danken, den ich im Hinblick auf die Ausführungen zum Grundgesetz vollumfänglich unterstützen kann. In unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist die Würde des Menschen unantastbar. Das ist ein hohes Gut, das wir uns gegeben haben. So wie ich mich als Bürger entscheiden kann, eine Wahl zu treffen – eine Wahl für ein Parlament, eine Wahl für viele andere Dinge –, so muss ich auch die Wahl haben können, wie ich mit meinem Körper umgehen möchte. ({0}) Ebenso wenig dürfen wir uns bei der Organspende allein vom Gesichtspunkt des medizinisch Machbaren leiten lassen; vielmehr müssen wir den Menschen als Individuum, als Körper-Geist-Seele-Einheit, betrachten. Was heute vielleicht ein bisschen zu kurz gekommen ist: Es geht auch um die Bedürfnisse der Angehörigen und des Spenders selbst, um dessen Würde, darum, wie ein solcher Prozess in einer Klinik abläuft und wie es danach weitergeht. Wir brauchen den breiten gesellschaftlichen Konsens darüber, ab wann wir von Hirntod reden oder wie wir das definieren wollen. Wenn wir über strukturelle Veränderungen und quasi über die Arbeit an strukturellen Verbesserungen sprechen, dann lassen Sie uns das ganz gezielt tun: Lassen Sie uns sprechen über die Qualifikation der Teams, die es in den Krankenhäusern gibt! Lassen Sie uns sprechen über Ischämiezeiten der Organe, über Transportvoraussetzungen, über die komplexen Bewertungen, ob ein Organ überhaupt geeignet ist – denn der Spender muss auch von gewissen körperlichen Voraussetzungen her zum Empfänger passen – und wer tatsächlich befähigt ist, solche Entscheidungen zu treffen! Vorhin ist angesprochen worden, dass wir hier in Deutschland, wo wir uns derzeit quasi nicht entscheiden müssen, auch Organe annehmen, die aus Ländern kommen, die eine Widerspruchslösung eingeführt haben. Ja, das ist richtig. Andersherum ist es aber heute auch gängig, sodass deutsche Organe ins Ausland gehen, sprich: der Austausch auf europäischer Ebene nicht von dem System abhängig ist, das wir eingeführt haben. Selbst größere Häuser – das müssen wir auch berücksichtigen, wenn wir bei den Strukturen sind – sind heute kaum in der Lage, noch mehr Transplantationen durchzuführen, als sie aktuell durchführen, da schlicht das qualifizierte Personal fehlt und die Kliniken – da sind wir wieder bei dem Punkt des Geldes – es sich einfach nicht leisten können, Operationssäle einfach vorzuhalten. Das geht – Stand heute – nicht. Wenn auf der einen Seite 600 Notfallambulanzen in kleineren Häusern geschlossen werden sollen mit der Begründung, dass sie nicht in der Lage sind, einen Schlaganfall zu diagnostizieren, gleichzeitig mehr Kliniken zu dem hochkomplexen Explantations- oder Transplantationsprozess befähigt werden sollen, dann haben wir, glaube ich, noch einen weiten Weg vor uns, das in die Tat umzusetzen. Zum Schluss noch einmal zurück. Die Nachsorge muss in den Fokus gerückt werden. Es ist wichtig, dass das Spender-Empfänger-Paar eine zukunftsfähige Verbindung darstellt und dass vor allen Dingen die Betreuung der Angehörigen des Spenders in den Fokus rückt; denn das kommt immer wieder viel zu kurz. Und für diese Leute ist es sehr wichtig, die Gewissheit zu haben, dass sie mit dieser Entscheidung etwas Gutes getan haben. Danke. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Mieruch. – Nächster Redner: Axel Müller. ({0})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für mich als Strafrichter war es ein Geschenk, dass unsere Verfassungsväter im Artikel 102 des Grundgesetzes die Todesstrafe abgeschafft haben. ({0}) Damit musste ich niemals über Leben und Tod entscheiden. Aber heute geht es um Leben oder Tod. Es ging häufiger um lebenslänglich. Aber als oberstes Prinzip galt dabei immer für mich, dass ich mich erst ganz am Ende eines längeren und intensiven Prozesses der Entscheidungsfindung entschieden habe und mein Urteil gefällt habe, das allen gerecht zu werden versuchte: dem Opfer und seinen Angehörigen genauso wie dem angeklagten Täter. Aus diesem Grunde möchte ich Ihnen heute sagen, dass ich nach wie vor unentschieden bin. Ich befinde mich noch in der Entscheidungsfindung, gewissermaßen in der Beweisaufnahme. Aber eines ist klar: Trotz allen Vorwissens nach Aktenlage muss man die heutige Debatte auf sich wirken lassen. Ich zolle an dieser Stelle allen meinen Vorrednern und Vorrednerinnen größten Respekt für das, was sie hier heute in diesem Hohen Haus gesagt haben. ({1}) Die Entscheidung Zustimmungs- oder Widerspruchslösung fällt mir – das merken Sie –, der ich es doch eigentlich gewohnt sein müsste, mich entscheiden zu können, sehr schwer. Denn hier geht es um den Ausgleich zwischen höchst unterschiedlichen Interessen. Auf der einen Seite steht das Selbstbestimmungsrecht des möglichen Spenders über seinen Körper und auf der anderen das Interesse des Kranken, eine Überlebenschance zu bekommen. Wir haben im geltenden Transplantationsgesetz eine Entscheidungslösung festgeschrieben. Wir müssen jedoch feststellen, dass es zu wenige Spender gibt. Und auch ich hoffe natürlich, dass die auf den Weg gebrachten und hier mehrfach angesprochenen Verbesserungen in der Organisation zu mehr Spenderorganen führen werden. Um die Beantwortung der entscheidenden, vorgelagerten Frage, wie wir die Bereitschaft zur Spende feststellen, kommen wir aber nicht herum. Ich habe daher versucht, entscheidungserhebliche Fragen, so wie ich es gelernt habe, zu stellen. Eine davon lautet: Wie würde ich mich eigentlich als Kranker fühlen, wenn ich auf einer Warteliste stünde und die Diagnose hätte, dass ich sterben würde, wenn ich nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Spenderorgan bekomme, zugleich aber feststellen müsste, dass die Liste lang ist und die zu erwartenden Spenderorgane wenige? Alle acht Stunden – das wurde schon mehrfach gesagt – stirbt in diesem Land ein Mensch, weil ein Spenderorgan nicht vorhanden ist. Ist es da nicht fair, einfach zu sagen, dass grundsätzlich jeder einwilligt, es sei denn, er widerspricht? Mit dieser scheinbar einfachen und kurzen Antwort kann und will ich mich jedenfalls nicht zufrieden geben. Es ist auch angeklungen: Schweigen ist eben keine Willenserklärung. Ich habe mich an das erinnert, was ich gelernt habe: Welches Motiv steckt hinter einer Entscheidung bzw. Nicht-Entscheidung? Ist es Vorsatz oder ist es fahrlässige Gedankenlosigkeit? Als gläubiger Christ habe ich gehofft, dass meine Kirche mir eine Antwort geben würde. Diese sieht in der Organspende einen Akt der Nächstenliebe. Dieser verlange jedoch, dass der Spender sich ausdrücklich entscheidet. Nur eine ausdrückliche Zustimmung werde dem gerecht, also klar: Entscheidungslösung. Ich habe mich dann allerdings daran erinnert, dass Jesus Christus in der Bergpredigt das Gebot der Nächstenliebe universal verstanden hat. Das heißt: Grundsätzlich trägt jeder von uns die moralische Pflicht in sich, als Spender zur Verfügung zu stehen. Das wäre die Widerspruchslösung. Nach der heutigen Debatte steht für mich fest: Wir als Gesellschaft und jeder Einzelne von uns ist durch unsere ganz individuelle Entscheidung gefordert, bewusst – und somit mit Vorsatz – darüber nachzudenken, wie wir diesem Gebot, diesem Akt der christlichen Nächstenliebe am besten gerecht werden – gleich welchen Weg wir gehen: Widerspruchslösung oder Zustimmungslösung. Ich bedanke mich. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Axel Müller. – Nächster Redner: Thomas Rachel.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit unseren Kirchen bin ich der Auffassung, dass die Organspende eine besondere „Tat der Nächstenliebe über den Tod hinaus“ sein kann. Aus Sicht der vielen Betroffenen, die sehnsüchtig auf ein Spenderorgan warten, ist es zu begrüßen, dass wir die Zahl der Organspenden in Deutschland erhöhen möchten. Aber um dieses Ziel zu erreichen und Veränderungen vorzunehmen, müssen wir eine präzise Ursachenforschung anstellen. Ebenso müssen die ethischen Fragestellungen und Probleme von Anfang an in die Diskussion einbezogen werden. Die Organtransplantationen sind zwar auf einem historisch niedrigen Niveau, nicht aber die Spendenbereitschaft in unserer Bevölkerung. Die Spendenbereitschaft liegt immer noch bei stolzen 80 Prozent. Und immerhin besitzt ein Drittel der Deutschen einen Organspendeausweis. Das zeigt aber doch, dass es im bestehenden System noch ganz massive strukturelle Probleme gibt. ({0}) Das neue Transplantationsgesetz ist ein wichtiger erster Schritt zur Verbesserung der Situation. Aber es ist eben ein erster Schritt. Ich glaube, wir brauchen weitere Schritte. Ich will einen in meinen Augen zentralen Punkt nennen: Wir brauchen unbedingt die Schaffung eines zentralen Registers, ({1}) also eines zentralen Registers, in dem alle freiwilligen Organspender aufgeführt sind, sodass sie auch identifiziert werden können. Damit bin ich auch schon beim Thema Widerspruchslösung. Ein bisschen wundert es mich: Wieso debattieren wir eigentlich über die ethisch diskussionsfähige und -würdige, ethisch aber auch hochproblematische Widerspruchslösung, bevor wir überhaupt unsere Hausaufgaben bei den organisatorischen Verbesserungen der Transplantationsabläufe abgeschlossen haben? ({2}) Wenn man die Organspende auf der Basis des christlichen Menschenbildes als einen besonderen Akt der Nächstenliebe versteht, so ist hiermit in notwendiger und unverzichtbarer Weise der Gedanke der christlichen Freiheit und Freiwilligkeit verbunden. Es widerspricht dem ethischen Freiheitsgebot, wenn das persönliche Selbstverfügungsrecht erst wieder durch einen zusätzlichen Widerspruchsakt zurückverlangt werden kann. Ein solch massiver staatlicher Eingriff in das Persönlichkeitsrecht wäre auf der Basis einer christlichen Würdevorstellung des Menschen kaum schlüssig zu begründen. Die Widerspruchslösung würde 80 Millionen Bundesbürger zunächst einmal zu Organspenden verpflichten. Eine Organspende, die Pflicht ist, ist aber keine Spende mehr. ({3}) Im Übrigen lässt sich bisher in keinem Land der Erde ein klarer Wirkungszusammenhang zwischen der Einführung einer Widerspruchsregelung und dem Anstieg der Organspenden nachweisen. ({4}) Insofern lehne ich die Einführung der Widerspruchslösung ab. Sie ist schlicht und einfach nicht freiheitsbasiert. Ich plädiere stattdessen für die Entscheidungslösung, also die Möglichkeit, Ja zu sagen, die Möglichkeit, Nein zu sagen oder sich überhaupt nicht entscheiden zu müssen. Und da es keine Pflicht zur Entscheidung gibt, sollte man es eine „Befragungslösung“ nennen. Von Zeit zu Zeit sollten die Bürgerinnen und Bürger immer wieder befragt werden, zum Beispiel bei der Erneuerung ihres Passes. Ich bin der festen Überzeugung: In einer solchen Befragungslösung, konsequent auf der Basis des Freiwilligkeitsprinzips, könnte viel Positives für jene liegen, die sehnlichst auf ein Spenderorgan warten. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Thomas Rachel. – Nächster Redner: Dr. Heribert Hirte.

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Die Basis unseres Zusammenlebens ist freiwilliges Handeln unserer Bürgerinnen und Bürger. Nur wo freiwilliges Handeln nicht mehr ausreicht oder freiwilliges, selbstbestimmtes Handeln in die Rechte anderer eingreift, darf der Staat überhaupt tätig werden. So will es unser Grundgesetz; so folgt es aus der Menschenwürde, ({0}) und so wird auch das aus Artikel 2 des Grundgesetzes hergeleitete Recht auf freie Selbstbestimmung verstanden. ({1}) Ich halte Organspende für einen Akt gelebter Solidarität. Jedem Menschen, der auch nach seinem Tod anderen Menschen zu einem Weiterleben oder zu verbesserter Gesundheit verhilft oder zumindest verhelfen möchte, gebührt mein ganz persönlicher Dank und die Anerkennung unserer Gesellschaft. ({2}) Gleichzeitig respektiere ich aber die Entscheidung jedes und jeder Einzelnen, der, die – sei es aus religiösen oder anderen Gründen – sich nicht für eine solche Organspende entscheidet oder sich nicht einmal mit dieser Thematik beschäftigen möchte. Diese Debatte stößt weit vor in den Bereich der Grundrechte jedes Einzelnen. Gerade im Lichte des Rechts auf freie Selbstbestimmung muss der Staat zweifelsfrei sicherstellen, dass die Entscheidung des Einzelnen umgesetzt wird. Lassen Sie mich dies ein bisschen näher erläutern. Entgegen der Darstellung mancher, ergibt sich aus dem Grundgesetz gerade keine Grund- oder Solidarpflicht dahin gehend, Organe nach dem eigenen Tod zu „spenden“. Da sich eine solche Pflicht gerade nicht aus dem Grundgesetz ergibt, muss sich ein entsprechendes Gesetz – sei es zur Verbesserung der Zustimmungslösung oder zur Einführung einer sogenannten Widerspruchslösung – an den Grundrechten und der Menschenwürde messen lassen. Grundsätzlich von einer Spendenbereitschaft auszugehen und nur im Fall eines ausdrücklichen Widerspruchs von einer Transplantation abzusehen, erfüllt nicht den staatlichen Schutzauftrag. ({3}) Die Widerspruchslösung verstößt zum einen gegen das zu Lebzeiten bestehende Selbstbestimmungsrecht. Zum anderen verstößt sie gegen die objektivrechtliche Dimension der Würdegarantie in Form des sogenannten postmortalen Schutzes der mit dem Hirntod eigentlich beendeten Grundrechte aus Artikel 2 und Artikel 1 unseres Grundgesetzes. In Deutschland steht es jedem Menschen frei, seine Persönlichkeit nach seinen eigenen Wünschen zu entfalten. Das schließt explizit das Recht ein, sich mit bestimmten Themen nicht zu beschäftigen oder keine Entscheidungen zu fällen. ({4}) Das gilt auch und gerade für die Organspende. Insbesondere schließt das Selbstbestimmungsrecht die Entscheidung über den Umgang und den Verbleib des eigenen Körpers nach dem Tod ein. Zwar ist dieses Recht nicht schrankenlos gewährt; vielmehr kann es durch ein verhältnismäßiges Gesetz eingeschränkt werden. Die Widerspruchslösung überschreitet diese Verhältnismäßigkeit. Meine Kolleginnen und Kollegen, meine Vorredner haben gezeigt, dass die Widerspruchslösung gerade nicht erforderlich ist, das heißt, es stehen vergleichbar effektive, aber mildere Mittel zur Verfügung. Zudem können Widersprüche verloren gehen, Register können Fehler enthalten, oder Menschen – das haben wir in einem anderen traurigen Zusammenhang vor einigen Wochen gehört – können falsch identifiziert werden. Unsere Selbstbestimmungsfreiheit wird durch das Grundgesetz über den Tod hinaus garantiert. Dieser postmortale Schutz wird durch die Widerspruchslösung gefährdet. ({5}) All diese Probleme und Eingriffe in die Intimsphäre können nur mit einer verbesserten Zustimmungslösung vermieden werden. Vertrauen wir deshalb unseren Bürgerinnen und Bürgern, und verbessern wir die Zustimmungslösung. Das ist der richtige Weg. Herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Hirte. – Der letzte Redner: Dr. Matthias Zimmer. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe gegen die Widerspruchslösung zwei Einwände. Die Widerspruchslösung unterstellt zum einen, dass mit dem Tod eines Menschen dieser quasi eine herrenlose Sache werde, über die der Staat dann verfügen kann, wenn keine andere Verfügung vorliegt. Als Christ definiere ich den Menschen zwar als Geist im Körper und damit den Tod als essenzielle und dauerhafte Scheidung beider, jedoch behandeln wir den entseelten Körper danach nicht als leeres Gefäß ohne Wert. Vielmehr behandeln wir ihn mit Respekt, weil in diesem Körper die menschliche Existenz nachwirkt. Diese Nachwirkung ist es, die unseren fortdauernden Respekt vor der Würde des verblichenen Menschen begründet. Ja, wir stellen auch heute noch die Schändung von Leichen unter Strafe, weil wir dem toten Körper Rechte zusprechen. Deswegen darf ohne vorgängige Einwilligung der tote Körper nicht Mittel zum Zweck sein, auch dann nicht, wenn dadurch andere Leben gerettet werden könnten. ({0}) Die Widerspruchslösung unterstellt – zweitens –, es gebe so etwas wie das Obereigentum des Staates am menschlichen Körper. Widerspricht niemand, ist der Körper zur Nutzung freigegeben. Ich finde, das läuft gegen alle abendländischen Traditionen, in denen sich das Eigentumsrecht des Menschen an seinem Körper als grundlegendes Menschenrecht entwickelt hat – und übrigens auch als Voraussetzung, Eigentum als Recht begründen zu können. Der Staat ist nicht Obereigentümer menschlicher Körper. Das wäre die abgewandelte Idee bzw. Rechtsfigur, in der Gott früher einmal als Obereigentümer der Schöpfung angesehen wurde, weil er diese ins Dasein gerufen hat und alles Eigentum nur abgeleitet ist. Der Staat ist aber nicht Gott. Er ist eine Institution, die in Verantwortung vor Gott und den Menschen handelt, also in Demut vor der Schöpfung und in Anerkenntnis von fundamentalen Menschenrechten. Ich befürworte eine, wie ich es ausdrücken würde, assistierte Entscheidungslösung. Dazu gehören aus meiner Sicht zwei Elemente: Beratung und Entscheidung. Ich bin – erstens – sehr dafür, dass wir eine solche Beratung bei Hausärzten abrechnungsfähig machen. Der Hausarzt sollte über die medizinischen Aspekte beraten. Ich bin – zweitens – dafür, dann eine Entscheidung abzufordern, wenn der Einzelne mit dem Staat in Berührung kommt. Dazu ist ja eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht worden. Damit muss aber ausdrücklich gelten: Wer sich nicht entscheidet, hat keine Zustimmung gegeben. ({1}) Eine letzte Überlegung: Könnte es nicht klug sein, die Solidargemeinschaft der möglichen Spender anders zu stellen als die Solidargemeinschaft aller Versicherten? Wenn alle anderen medizinischen Kriterien bei der Beurteilung von Empfängern gleich sind, alle Perspektiven einer nachhaltigen Lebensführung ebenfalls, sollte dann nicht die Bereitschaft, selbst Spender zu sein, ein zusätzliches Kriterium sein können? Sollten wir auf diese Art nicht deutlich machen, dass die Bereitschaft zu einer Organspende Leben retten kann – auch das eigene? Umgekehrt formuliert: Könnte man damit nicht auch die Botschaft senden, dass Solidarität zu erwarten, ohne sie zu geben, dem Solidaritätsgedanken fremd ist? Ich gestehe: Ich habe hier noch keine abschließende Lösung, finde aber, dass wir auch darüber diskutieren sollten. Als letzter Redner dieser Debatte möchte ich sagen: Ich bin Jens Spahn dankbar, dass er diese Debatte losgetreten hat. Das hat dem Deutschen Bundestag die Gelegenheit gegeben, zu zeigen, was in ihm steckt, und das war heute in der Tiefe und der Ernsthaftigkeit dieser Debatte eine ganze Menge. Herzlichen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Zimmer. – Matthias Zimmer war in der Tat der letzte Redner in dieser Debatte. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen haben von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Reden ihrerseits zu Protokoll zu geben. Damit schließe ich eine wirklich bemerkenswerte, intensive Orientierungsdebatte, die uns die weitere Diskussion eröffnet. ({0}) Vielen herzlichen Dank Ihnen allen. Ich rufe den nächsten Tagesordnungspunkt gleich auf, warte aber, bis die Plätze eingenommen werden oder getauscht sind.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Claudia! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ausgezeichnete wirtschaftliche Entwicklung, die gute Lage am Arbeitsmarkt haben positive Wirkungen auf die gesetzliche Rentenversicherung. Das macht der Rentenversicherungsbericht 2018 deutlich, den wir heute im Kabinett beschlossen haben. Im Einzelnen ist es so, dass aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage auch im kommenden Jahr, zum 1. Juli, mit deutlichen Rentenerhöhungen gerechnet werden kann. Davon profitieren 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner in Deutschland, und die Nachhaltigkeitsrücklage der gesetzlichen Rentenversicherung hat ein ordentliches Polster von 38 Milliarden Euro, ein bis dato nicht erreichter Wert. Das Sicherungsniveau vor Steuern beträgt 48,1 Prozent, und aufgrund der von diesem Bundestag mittlerweile beschlossenen doppelten Sicherungslinien werden wir auch dafür sorgen, dass das Rentenniveau bis 2025 nicht unter 48 Prozent absinkt. Das heißt: Das Sicherungsniveau bleibt stabil. Auf der anderen Seite bleibt der Beitrag nach den aktuellen Modellrechnungen dieses Rentenversicherungsberichts in den kommenden Jahren bis 2023 stabil bei 18,6 Prozent. Anschließend steigt der Beitrag leicht an. Jedoch greift auch dort die zweite Sicherungslinie bis zum Jahre 2025 und verhindert, dass der Rentenversicherungsbeitrag den Wert von 20 Prozent überschreitet. Davon profitieren 38 Millionen Versicherte in Deutschland. Das heißt, meine Damen und Herren, diese Modellrechnungen des Rentenversicherungsberichts machen deutlich, dass die beiden Sicherungslinien, die mit den Stimmen der Koalition hier im Deutschen Bundestag beschlossen wurden, wirken – auch auf der Strecke bis 2025. Mir ist wichtig, das zu betonen, weil das hin und wieder ja auch bestritten wurde. Weiterhin hat der Bundestag mehrheitlich beschlossen, dass die Leistungen der Mütterrente in den nächsten Jahren verbessert werden, damit es eine gerechtere Mütterrente gibt, und dass Menschen, die ihren Beruf nicht mehr ausüben können, zukünftig durch eine Verbesserung bei den Erwerbsminderungsrenten stärker unterstützt werden. Der Bundestag hat außerdem mehrheitlich beschlossen, dass Geringverdiener zukünftig weniger Abgaben zahlen, sich dabei in ihren Ansprüchen an die Rentenversicherung aber nicht verschlechtern. Davon profitieren 3 Millionen Menschen. Ich will kurz sagen, dass unberührt davon auch im kommenden Jahr rentenpolitische Veränderungen geplant sind. Zum einen werden wir, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, die sogenannte Grundrente einführen. Dabei geht es um die Besserstellung der Menschen, die ihr Lebtag gearbeitet haben, aber durch zu niedrige Löhne zu geringe Rentenanwartschaften haben. Die wollen wir besserstellen als diejenigen, die in der Grundsicherung sind und nie gearbeitet haben. Zum anderen werden wir die Selbstständigen in den Schutz der Alterssicherungssysteme einbeziehen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will anhand der Systematik dieses Rentenversicherungsberichts deutlich machen, dass wir über drei Schritte reden. Wir haben jetzt die Weichen für den Zeitraum bis 2025 gestellt, und der Bericht gibt uns Hinweise darauf, dass das richtige Entscheidungen waren, die wirken, dass das seriös und solide finanziert ist. Wir haben im nächsten Jahr die beiden Schritte vor, die ich eben benannt habe. Wir wissen aber auch, dass große Herausforderungen im System der Alterssicherung, vor allen Dingen in der gesetzlichen Rente, ab dem Jahre 2025 auf unsere Gesellschaft zukommen – allein deshalb, weil die Generation der sogenannten Babyboomer, das heißt der Jahrgänge der späten 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre, Stück für Stück Leistungen aus der Alterssicherung beziehen wird. Das wird im Zeitraum zwischen 2025 und 2040 die große Herausforderung, und dafür haben wir in diesem Jahr die Rentenkommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ eingesetzt, die Vorschläge machen soll, und zwar rechtzeitig bis zum März 2020, damit wir die Weichen auch über 2025 hinaus stellen können. Diese Bundesregierung ist entschlossen – das machen wir mit dem Rentenbericht deutlich –, einen verlässlichen Generationenvertrag zu organisieren und ein Kernversprechen des Sozialstaats, nämlich dass man nach einem Leben voller Arbeit eine ordentliche Altersabsicherung hat, über die gesetzliche Rentenversicherung zu gewährleisten, und zwar für alle Generationen: für Großeltern, Eltern und Kinder. Ich freue mich auf Ihre Fragen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Minister Hubertus Heil. – Sie wissen, wir fangen jetzt mit der Befragung an. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, im ersten Teil der Regierungsbefragung zunächst Fragen zu dem Themenbereich zu stellen, den Hubertus Heil vorgestellt hat. Sie wissen: je eine Minute für Frage und Antwort. Ich gebe Uwe Witt als Erstem das Wort.

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Minister Heil, leider kann ich mich jetzt bei Ihnen für den Rentenversicherungsbericht erst einmal nicht bedanken, weil wir ihn heute erst um 10 Uhr bekommen haben. Es scheint neue gängige Praxis der Regierung zu sein, dass erst die Presse bedient wird, bevor das Hohe Haus die Unterlagen bekommt. Ein solches Erlebnis hatten wir auch schon im Ausschuss. Kommen wir zur ersten Frage, die ich habe, und zwar: Dem Rentenversicherungsbericht ist zu entnehmen, dass in Seniorenhaushalten 63 Prozent aller Einnahmen aus der gesetzlichen Rentenversicherung kommen, lediglich 22 Prozent aus privaten Alterssicherungssystemen und 15 Prozent aus Hinzuverdienst stammen. Angesichts dieser Tatsache wäre doch eine Erhöhung des Sicherungsniveaus vor Steuern auf 55 Prozent unabdingbar, um Altersarmut in Deutschland zu verhindern. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Heil, eine Minute für Ihre Antwort, und ich übergebe an meinen Kollegen.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege, zum ersten der Hinweis, dass das Bundeskabinett erst heute diesen Bericht beschlossen hat. Er ist unmittelbar danach ins Internet gestellt worden. Nicht nur die Koalitionsfraktionen, sondern alle Fraktionen sind natürlich darüber informiert worden, dass er für diese Befragung zur Verfügung steht. ({0}) Der Sinn der Regierungsbefragung ist, dass wir aus dem heutigen Kabinett berichten. Deshalb, glaube ich, ist das sachgemäß, und daran sollte man auch keinen Zweifel hegen. Zweitens zum Hinweis auf die Frage des Rentenniveaus. Ich bin sehr der Meinung, dass das gesetzliche Rentenniveau eine wichtige Kennziffer ist, damit Rentnerinnen und Rentner von den allgemeinen Lohn- und Gehaltssteigerungen auch profitieren können. Es geht aber nicht um 48 Prozent vom letzten Brutto oder Netto. Deshalb ist bezüglich der Frage zur Vermeidung von Altersarmut der Blickwinkel zu vergrößern und im Übrigen auch darauf hinzuweisen, dass in den von Ihnen zitierten Zahlen eines nicht steckt, nämlich unterschiedliche Lebensverhältnisse von Menschen; so zahlen diejenigen, die zum Beispiel Wohneigentum haben, keine Miete. Zur Vermeidung von Altersarmut ist also die Frage des Rentenniveaus – das nehmen wir als Faktor sehr ernst und stabilisieren es jetzt bei 48 Prozent – tatsächlich als eine Kennziffer relevant. Aber die Frage, ob wir zum Beispiel eine Grundrente einführen, ist mindestens genauso wichtig. Ich kann Ihnen also sagen, dass der Vorschlag von 55 Prozent aus unserer Sicht schlicht und ergreifend nicht finanzierbar ist, aber dass wir das Möglichste tun, um Altersarmut in Deutschland zu verhindern.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Minister. – Jetzt machen wir weiter mit der ersten Frage des Kollegen Johannes Vogel.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Minister, lieber Hubertus Heil, die Bundesregierung ist laut Gesetz verpflichtet – das steht auch im Rentenversicherungsbericht –, dem Bundestag geeignete Maßnahmen vorzuschlagen, wenn die schon bisher gesetzlich normierten Haltelinien gerissen werden. Jetzt entnehmen wir dem Rentenversicherungsbericht und wissen auch, dass durch Ihr Rentenpaket, das heißt durch die Mehrausgaben, die Sie vornehmen – ich finde, mit der Gießkanne –, die Haltelinie eines Beitragssatzes von 22 Prozent im Jahr 2030 gerissen werden wird. Welche konkreten Maßnahmen außer dem abstrakten Verweis auf die Rentenkommission wollen Sie dem Bundestag dagegen vorschlagen? Ob aus der Rentenkommission konkrete Maßnahmen bzw. Vorschläge folgen, ist ja noch offen. Insofern würde ich den gesetzlichen Auftrag an die Bundesregierung so interpretieren, dass Sie jetzt konkrete Maßnahmen vorschlagen müssen, um die Rentenfinanzen langfristig zu stabilisieren. Welche werden das sein?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege Johannes Vogel, es ist tatsächlich so, dass wir uns in der Koalition verständigt haben, für den Zeitraum bis 2025 – angesichts der Tatsache, dass wir bis dahin den Arbeitsmarkt überschauen können und wissen, wie die Finanzen sind – das Notwendige zu tun, um sowohl das Rentenniveau als auch die Beitragssatzstabilität zu gewährleisten. Wir haben die Rentenkommission bewusst eingesetzt, damit sie im März 2020 die Weichen stellt, auch übrigens über 2030 hinaus. Dafür ist genug Zeit. Ich will mir aber noch einen Verweis gestatten. Es steht im Gesetz, dass wir eingreifen müssen, und wir werden angesichts dieser Entwicklung Vorschläge zur Stabilisierung machen. Aber Sie wissen genau wie ich, dass die Frage der Sicherung der Rente, also Rentenniveau und Beitragssatzstabilität, eine Frage von Maßnahmen in der gesetzlichen Rentenversicherung und am Arbeitsmarkt sind. Um es deutlich zu sagen – das zeigt der Bericht ja auch –: Die Entwicklung am Arbeitsmarkt in den letzten Jahren, die viel besser war, als zum Beispiel 2003 oder 2004 erwartet, hat deutlich gemacht, dass es diesen Zusammenhang gibt. Sie können sich darauf verlassen: Wir werden als Bundesregierung Vorschläge für Veränderungen im Rentensystem über 2025 hinaus und damit auch für 2031 machen. Die derzeitigen Daten geben jedoch her, dass unsere Annahmen offensichtlich richtig sind und die Haltelinien bis 2025 wirken.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Der Nächste ist der Kollege Matthias Birkwald.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Bundesminister Heil, lieber Hubertus, in dem Rentenversicherungsbericht findet sich auf Seite 39 die Information, dass in den Jahren 2024 bis 2027 das Gesamtversorgungsniveau aus Riester-Rente und gesetzlicher Rente 53 Prozent erreichen werde. Das beruht aber auf bestimmten Annahmen, die die Riester-Rente betreffen, nämlich dass – erstens – die Riester-Rente in diesem Zeitraum eine 4‑prozentige Rendite abwerfe und – zweitens – die Verwaltungskosten bei nur 10 Prozent lägen; drittens wird von einer jährlichen Anpassung der Riester-Renten ausgegangen, die der Anpassung der gesetzlichen Rente entspricht. Halten Sie diese Annahmen für auch nur annähernd realisierbar und für überzeugend?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege Matthias Birkwald, um es deutlich zu sagen: Das sind Modellrechnungen, und natürlich gibt es in einer Prognose Faktoren, die sehr unterschiedlich ausfallen können. Wir halten das aber für realistische Schätzungen. Gleichwohl will ich dazusagen, dass wir das System der Alterssicherung insgesamt noch mal in der Rentenkommission diskutieren und überprüfen werden. Das betrifft die tragende Säule der Alterssicherung – das ist und bleibt aus meiner festen Überzeugung die gesetzliche Rente – und auch ergänzende Säulen, vor allen Dingen betriebliche und auch private Altersvorsorge. Ich persönlich sehe bei diesen beiden Säulen durchaus Erneuerungs- und Reformbedarf; aber da will ich der Rentenkommission nicht vorgreifen. Wir halten unsere Prognosen für solide; aber es gibt, wie gesagt, keine Gewissheiten, weil es nun einmal Prognosen sind. Um es mit einem großen Mann zu sagen: Prognosen sind immer mit Vorsicht zu genießen, weil sie die Zukunft betreffen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das stimmt. – Kollege Peter Weiß ist der Nächste.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, anlässlich der Anhebung der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung auf künftig 67 Jahre hat das Parlament gebeten, regelmäßig darüber unterrichtet zu werden, wie sich die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entwickelt. Könnten Sie uns dazu etwas sagen? Sind die Erwartungen eher übertroffen worden, oder ist die Erwerbsbeteiligung hier geringer als erwartet?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Lieber Kollege Peter Weiß, wir können dazu durchaus etwas sagen, weil heute mit dem Rentenversicherungsbericht auch der gesetzlich vorgegebene Bericht zur Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre beschlossen wurde. Demnach haben wir eine überaus erfreuliche Entwicklung: Die Erwerbstätigenquote in der Altersgruppe der 60- bis 64‑Jährigen hat sich seit dem Jahr 2000 besser entwickelt als in anderen EU-Ländern, und zwar ist sie von 20 Prozent im Jahre 2000 auf gut 58 Prozent im Jahre 2017 gestiegen. Das ist wirklich eine bemerkenswerte Entwicklung. Das darf uns aber nicht davon abhalten, weiterhin das Möglichste zu tun, damit Beschäftigte erwerbsfähig bleiben und sich der in der Vergangenheit oft in einzelnen Unternehmen praktizierte Jugendwahn nicht weiter ausbreitet. Ich rede jetzt nicht von einer Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters über 67 hinaus, sondern vom Erreichen des realen Renteneintrittsalters. Es hat also Fortschritte in den letzten Jahren gegeben. Das finde ich bemerkenswert. Wenn Sie mich fragen, ist das nicht nur das Ergebnis von Rentenpolitik, sondern auch der Tatsache geschuldet, dass wir wirtschaftlich und beschäftigungspolitisch in Deutschland vorangekommen sind. Aber da ist noch Luft nach oben. Trotzdem ist es eine bemerkenswerte Entwicklung, die besser ist als in anderen EU-Staaten.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Der Kollege Markus Kurth.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Minister Heil, eines vorweg: Damit, dass Sie eine Verzinsung bei der sogenannten Riester-Rente von 4 Prozent für eine solide und vernünftige Einschätzung halten, dürften Sie relativ alleine stehen. ({0}) Nun ist das Rentenniveau die eine Sache. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage: Wie viel wovon? Da muss man den aktuellen Rentenversicherungsbericht mit dem heute bekanntgewordenen Bericht zur Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre in Verbindung bringen. Sie loben da das gestiegene Beschäftigungsniveau Älterer. Was sagen Sie denn zu der Tatsache, dass zwar die Beschäftigung von über 60-Jährigen gestiegen ist, dass aber die überwiegende Zahl von diesen Teilzeit arbeitet oder Minijobs hat; bei Minijobs ist der Anteil Älterer sogar gestiegen. Sie haben also nur eine atypische und naturgemäß nicht so gut bezahlte Beschäftigung, von der man keine Rentenversicherungsbeiträge in nennenswertem Umfang zahlen kann.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Lieber Markus Kurth, lieber Herr Kollege, eine solche Entwicklung geschafft zu haben, ist zunächst einmal ein gemeinsamer Erfolg aus rot-grüner Zeit; wir haben ja damals die entsprechenden Reformen eingeleitet, und andere Regierungen haben sie später durchgehalten. Es ist somit, glaube ich, das gemeinsame Anliegen, dass auch ältere Beschäftigte die Chance haben, am Erwerbsleben teilzunehmen, um damit ihre Anwartschaft in der Rente zu verbessern. Es ist übrigens auch ein Aufwuchs bei sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjobs gelungen. Und es gibt ältere Menschen, die Teilzeit arbeiten. Das finde ich per se aber nicht schlimm, weil wir ohnehin erleben werden, dass sich das Erwerbsvolumen im Erwerbsverlauf weiter unterschiedlich entwickeln wird. Es gibt Menschen, die nach einer guten Ausbildung Vollzeit arbeiten wollen. Es gibt welche, die ein bisschen kürzer treten wollen, weil sie ein Haus bauen oder eine Familie gründen wollen. Es gibt welche, die, wenn die Kinder in die Pubertät kommen, wieder aus guten Gründen Vollzeit arbeiten. Es gibt auch Menschen, die später beispielsweise nicht von hundert auf null in die Rente gehen wollen. Hier geht es auch darum, flexible Übergänge zu ermöglichen. Aber in einem sind wir uns klar: Wir müssen noch mehr tun, damit wir die gute Entwicklung fortsetzen können, damit diejenigen im beschäftigungsfähigen Alter, die arbeiten können und wollen, auch die Möglichkeit haben, am Erwerbsleben teilzunehmen. Es geht dabei um die Frage von Humanisierung der Arbeitswelt und von Beschäftigungsfähigkeit. Es geht aber auch darum, bei Arbeitgebern darauf zu dringen, dass sie Menschen ab 60 nicht einfach aus dem Erwerbsleben herausnehmen und dann noch über Fachkräftemangel jammern.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Die Kollegin Kerstin Tack.

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Schönen Dank. – Herr Minister, lieber Hubertus, meine Frage ist folgende: Ich möchte gerne wissen, ob in die Modellrechnung des Rentenversicherungsberichtes neben dem Rentenversicherung-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz – wenn man das bei Scrabble legt, dann hat man flugs die volle Punktzahl – auch weitere aktuelle Maßnahmen der Bundesregierung eingeflossen sind.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Ja, ich kann bestätigen, dass wir den Rentenbericht auf Basis der im Kabinett beschlossenen Maßnahmen in der Rentenversicherung, auch jetzt im Bundestag mit der Verabschiedung des Betriebsrentenstärkungsgesetzes, beschlossen haben. Weil es für das Rentenniveau relevant ist, haben wir auch die Auswirkungen des Qualifizierungschancengesetzes, über das wir am Freitag im Bundestag debattieren werden, bezogen auf die Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages einbezogen. Dazu kommen die Veränderungen in Form der Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung und die Veränderungen in der Pflegeversicherung. Das heißt, wir haben mithilfe der Deutschen Rentenversicherung die Modellrechnung auf Basis der aktuellsten Daten und der letzten Beschlüsse des Bundeskabinetts projiziert.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Dann machen wir weiter mit dem Kollegen Norbert Kleinwächter.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herzlichen Dank. – Werter Herr Bundesminister, ich möchte ein bisschen sortieren, was gesagt worden ist, auch in Bezug auf die Thematik der Verzinsung der Riester-Verträge. Ist Ihnen die Studie des Instituts für Vorsorge und Finanzplanung bekannt, in der nachgewiesen worden ist, dass 75 Prozent der Riester-Verträge nur eine Rendite zwischen 0 und 2 Prozent erzielen? Wie kommen Sie also in Ihren Prognosen auf die, wie Sie ausgeführt haben, überhöhten Verzinsungsannahmen, obwohl Sie wissen, dass die Nullzinspolitik der EZB, die vom scheiternden Euro verursacht wird, diese niemals ermöglicht? Wir müssen also davon ausgehen, dass ohne Riester die gesetzliche Rente 2030 auf knapp 46 Prozent vor Steuern sinken wird. Das ist insbesondere betrüblich, weil 90 Prozent der Ostdeutschen – das sagen Sie auch in Ihrem Rentenversicherungsbericht – auf die gesetzliche Rente angewiesen sind. Also, was sagen Sie den Ostdeutschen? Ist Ostdeutschland für Sie ein Testgebiet für umfassende Grundsicherung? Und vor allem: Was ist die Hauptursache für die Altersarmut in Deutschland heute: die Riester-Reformen der SPD oder die Einführung und Beibehaltung des Euro?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Um zunächst Ihre letzte Frage zu beantworten: Die Hauptursachen für Altersarmut sind schlechte Löhne, unterbrochene Erwerbsbiografien und die Tatsache, dass Alleinerziehende es verdammt schwer haben. ({0}) Das heißt, Altersarmut ist immer ein Ergebnis von Armut im Erwerbsverlauf. Den Zusammenhang zwischen Erwerbsbiografie und Rente sollten Sie kennen. Die Studie, die Sie genannt haben, kenne ich im Einzelnen nicht, ich bin aber gerne bereit, Ihnen weitere entsprechende Zahlen zu liefern. Ich habe vorhin darauf hingewiesen, dass es mein Anliegen, auch in Bezug auf die Menschen in Ostdeutschland, ist, dazu beizutragen, dass vor allen Dingen die gesetzliche Rentenversicherung die tragende Säule ist. Betriebliche und private Altersvorsorge können nur ergänzend sein, die tragende Säule der Alterssicherung ist die gesetzliche Rente. ({1}) Um da individuell Wahrheit und Klarheit reinzubringen – Sie haben ja abstrakte Überlegungen angestellt –, hat die Koalition sich vorgenommen – das ist technisch nicht ganz einfach; aber wir werden das tun –, säulenübergreifende Renteninformationen zur Verfügung zu stellen, die den Menschen neben Informationen zur gesetzlichen Rente auch Klarheit darüber geben, was sie im Bereich der betrieblichen bzw. privaten Vorsorge zu erwarten haben. Ich glaube, das ist eine wichtige Aufgabe, um zu einer Gesamtschau zu kommen. Ich will Sie aber auch darauf hinweisen, dass sich die Formulierung „Alterseinkünfte“ nicht nur auf die gesetzliche, die betriebliche und die private Altersvorsorge bezieht. Vielmehr gibt es durchaus auch Menschen, die, weil sie Glück hatten, weil sie geerbt haben oder weil sie selbst etwas geleistet haben, keine Miete zahlen müssen, weil sie Wohneigentum haben, und deshalb bessergestellt sind, als das in oberflächlichen Statistiken manchmal den Anschein hat. Das verniedlicht nicht, dass es Menschen gibt, denen es sehr schlecht geht und die im System der Grundsicherung sind. Mein Ziel ist es, diejenigen, die gearbeitet haben, aus der Grundsicherung zu holen. Dem dient unter anderem auch die Einführung der Grundrente, die wir uns für das nächste Jahr vorgenommen haben. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Minister. – Jetzt machen wir weiter mit Uwe Schummer, CDU/CSU-Fraktion.

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mich interessiert Ihre Einschätzung, wie sich langfristig Beitrag und Bundeszuschuss entwickeln werden, und ob so dann langfristig eine geschützte Demografiereserve aufgebaut werden kann.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege Schummer, das ist ein ganz wichtiger Hinweis. Die gesetzliche Rente beruht ja im Wesentlichen immer noch überwiegend auf Beitragsleistungen, in hohem Maße ergänzend aber auch – das ist aufgewachsen – auf steuerlichen Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt, die über den Haushalt des BMAS in die Rentenkasse fließen. Der Rentenbericht macht deutlich, dass wir bis 2025 sehr solide und verlässliche Annahmen haben. Was die Annahmen zum Zuschussbedarf aus Steuern angeht, die dem Rentengesetz, das wir jetzt beschlossen haben, also dem Rentenpakt, zugrunde lagen, ist es sogar so, dass sich die Zahlen aktuell ein bisschen positiver entwickeln als angenommen. Ihre Frage gibt mir auch Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass die doppelten Haltelinien dafür sorgen werden, dass zugunsten der Sozialversicherten und zugunsten des Rentenniveaus, wenn eine dieser Haltelinien verletzt wird, ein Steuerzuschuss aus der Demografiereserve und dem angehobenen allgemeinen Zuschuss geleistet wird – und das ist auch gut so, um einen anderen großen Politiker zu zitieren. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Wir machen weiter mit der nächsten Frage von Matthias W. Birkwald.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. Herr Bundesminister Heil, ich habe jetzt immer wieder gehört, dass die Renten künftig wieder wie die Löhne steigen sollen. Sie schreiben im Rentenversicherungsbericht auf Seite 47 ja, dass bis 2032 nach Ihren Modellrechnungen sie um 38,3 Prozent steigen werden. Wenn ich mir aber die Steigerung der Bruttolöhne in derselben Tabelle anschaue und rechne, dann komme ich auf eine Erhöhung der Löhne im selben Zeitraum um 52,5 Prozent. Jetzt frage ich Sie: Wie wollen Sie verhindern, dass die Lücke zwischen Löhnen/Lebenshaltungskosten auf der einen Seite und gesetzlicher Rente auf der anderen Seite immer größer wird? Denn die Standardrente läge ja nach Ihren Berechnungen 2032 bei 52,5 Prozent Lohnsteigerungen 204 Euro höher, als das im Moment ausgewiesen ist.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Lieber Kollege Birkwald, ich würde das, was Sie angesprochen haben, gerne mit der Idee verbinden, die Herr Kurth genannt hat, weil beides zusammengehört. Das Rentenniveau – das wissen Sie als Rentenexperte Ihrer Fraktion – beschreibt im Wesentlichen das Verhältnis von allgemeiner Lohn- und Gehaltserhöhung zu Rentensteigerungen, und zwar über die Rentenformel immer ein Jahr später. Aber die Frage, die Matthias Kurth ({0}) – Markus –, Franz Müntefering zitierend gestellt hat – Prozent von was? –, ist mindestens genauso wichtig. Wir erleben, dass wir in der letzten Zeit auskömmlichere Renten und stärkere Rentensteigerungen hatten als in der Vergangenheit, weil die allgemeine Lohn- und Gehaltsentwicklung aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage so gut war. In Kombination mit einer vernünftigen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, die zum Beispiel für eine stärkere Tarifbindung und damit auch für eine angemessene Lohn- und Gehaltsentwicklung sorgt, haben wir die Chance, dass sich das ein Jahr später auch für Rentnerinnen und Rentner auszahlt. Mit den Formulierungen zum Halteniveau – 48 Prozent – sichern wir das Rentenniveau ab, damit es nicht nach unten durchschießen kann und dadurch eine Entkopplung der Kaufkraft der Rentnerinnen und Rentner von der Kaufkraft der Menschen, die ein Gehalt beziehen, stattfindet. Dass man sich immer mehr wünschen kann, wie Sie das tun, das kann man verstehen. Aber wir halten das, was wir da machen, für finanzierbar und verantwortbar.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Dann machen wir weiter mit der zweiten Frage von Johannes Vogel.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, lieber Hubertus Heil, du hast eben auf die Frage von zwei Kollegen ausgeführt, dass sich die Beschäftigung Älterer in den letzten Jahren sehr positiv entwickelt hat. Das heißt ja, dass die Menschen im Schnitt nicht nur länger arbeiten können, sondern oft auch länger arbeiten wollen. Jetzt wissen wir auch, dass die Lebenswege sehr unterschiedlich sind. Gleichzeitig wissen wir als Rentenpolitiker, dass es skandinavische Länder gibt, die uns sehr erfolgreich das System eines flexiblen Renteneintritts vormachen, wo jeder selber entscheiden kann, wann er in Rente geht, und gleichzeitig individuell längeres Arbeiten belohnt wird. Wäre das nicht auch ein System, das dem in Deutschland überlegen ist? Warum sollen die Menschen nicht selbst entscheiden können, wann sie in Rente gehen? Deswegen die Frage ganz konkret: Was spricht aus Sicht der Bundesregierung gegen einen flexibleren Renteneintritt nach schwedischem Vorbild? ({0})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege Vogel, ich will eines ergänzen: Viele wollen arbeiten, viele sollen arbeiten, und viele müssen arbeiten, weil natürlich die Systematik gilt: Wenn man sehr früh in den Ruhestand geht, ist das mit Abschlägen in der gesetzlichen Rente verbunden. – Das wissen wir beide. Es braucht deshalb ein differenziertes Bild. Ich finde es erst einmal richtig, dass es hier im Hause offensichtlich einen Konsens gibt, dass wir mit Blick auf die Volkswirtschaft und auch auf den Sozialstaat dafür sorgen wollen, dass möglichst viele, die das können und wollen, auch die Chance haben, überhaupt erst einmal das gesetzliche Renteneintrittsalter zu erreichen; denn das war – ich habe darauf hingewiesen – das Problem in der Vergangenheit. Das hat etwas damit zu tun gehabt, dass es in einzelnen Unternehmen einen Jugendwahn gab und gibt, man also Leute ausgesondert hat, manchmal über sehr auskömmliche Vorruhestandsregelungen. Ich will das gar nicht kritisieren; manchmal hat das im Strukturwandel geholfen. Aber das war die Vergangenheit. Wir haben einen medizinischen Fortschritt, der dazu führt, dass Menschen beschäftigungsfähiger sind, aber eben nicht alle; die Welt ist auch da sehr differenziert. Sie fragten nach Flexibilität beim Übergang. Ich glaube, dass wir diese Debatte führen werden in Deutschland. Aber Sie dürfen nicht unterschlagen, dass es dafür schon einen Ansatz gibt: Die Bundesregierung und dieses Parlament haben in der letzten Legislaturperiode das Flexirentengesetz beschlossen, das einen Anreiz gibt, tatsächlich flexiblere Übergänge zu organisieren. Das wird sicherlich auch Gegenstand der Diskussion der Rentenkommission sein. Was ich mir persönlich nicht vorstellen will und kann, ist eine weitere Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 70 oder 75 Jahre; das hielte ich auch nicht für menschengerecht in Deutschland, ({0}) auch wenn einige Professoren davon träumen mögen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Antje Lezius ist die Nächste.

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Minister, ich möchte noch mal auf das Finanzierungsrisiko eingehen. Der größte Ausgabenposten bei uns im Einzeletat geht in die Rente, es sind über 90 Milliarden Euro. Hier möchte ich gerne wissen: Welche Maßnahmen müssen wir hier unverzüglich vornehmen, wenn wir an die riesengroßen Herausforderungen im Zuge des demografischen Wandels, der Digitalisierung und des Fachkräftemangels denken, der ja nicht erst kommt, sondern schon da ist?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Ich halte den Bundeszuschuss, liebe Frau Kollegin, nicht für ein Finanzierungsrisiko, sondern für den gerechten Beitrag des Staates zum System der Alterssicherung. ({0}) Wir müssen jetzt tatsächlich darüber reden – es geht um die Strecke bis 2025 –, für welche volkswirtschaftliche Art und Weise der Alterssicherung sich unsere Gesellschaft entscheidet. Hier geht es um eine politische Entscheidung; das muss man sehen. Ich habe vorhin darauf hingewiesen – da sind wir bei den Maßnahmen –, dass, wenn wir es als Gesellschaft verlässlich über 2025 hinaus wuppen wollen – insbesondere vor dem Hintergrund, dass demnächst eine größere Zahl von Babyboomern in den Ruhestand geht –, wir vor allen Dingen ökonomisch produktiv sein müssen. Wir haben alle Chancen, wir sind eine starke Volkswirtschaft; aber wir stehen vor Veränderungen. Die Zukunft der Rente entscheidet sich, wie gesagt, beim System der Alterssicherung nicht nur an der Frage: „Wie viel finanzieren wir aus Beiträgen und wie viel aus Steuern?“, sondern auch an der Frage: Wie viele Menschen zahlen eigentlich mit welchen Gehältern ein? Für die Alterssicherungssysteme zentral sind deshalb die Fragen, wie wir es schaffen, am Arbeitsmarkt voranzukommen, wie wir Beschäftigungsfähigkeit erhalten, wie wir durch Qualifizierung auch im digitalen Wandel dafür sorgen können, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von heute auch die Arbeit von morgen machen können, wie wir durch eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie Frauenerwerbsbeteiligung ermöglichen, wie wir Beschäftigungsfähigkeit durch gesunde Arbeit ermöglichen und wie es uns in dieser guten Phase gelingt, auch zum Beispiel Langzeitarbeitslose in Arbeit zu bringen. Das sind zwei Seiten derselben Medaille: der Arbeitsmarkt und die Veränderung in der Alterssicherung. Das ist keine leichte Aufgabe; da machen wir den Menschen auch nichts vor. Ich habe auf die Demografie hingewiesen. Die Demografie ist aber für die Alterssicherung nur ein wesentlicher Faktor. Zur Demografie gehören übrigens Lebenserwartung, Geburtenrate und Zu- und Abwanderung. Das muss man auch immer wissen – auch für den Arbeitsmarkt. Darüber hinaus muss man auch die Produktivität unserer Volkswirtschaft und den wirtschaftlichen Erfolg im Blick haben. Ich finde, in diesen Zeiten des Wandels ist es richtig, dass sich die Menschen wieder auf ein paar Dinge verlassen können, und dazu gehört ein gutes System der Alterssicherung. Wir als Koalition setzen uns jedenfalls genau dafür ein. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Der Kollege Wolfgang Strengmann-­Kuhn.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für die Zulassung der Frage. – Herr Minister, eine kurze Vorbemerkung: Das, was Sie immer „Grundrente“ nennen, hat mit einer echten Grundrechte natürlich nichts zu tun. ({0}) Ich habe noch mal eine Frage zum Gesamtversorgungsniveau und zum Riester-Anteil daran. Auf die optimistischen Annahmen ist ja schon hingewiesen worden. Nicht nur die 4 Prozent Verzinsung sind ja jenseits der Realität und werden auch in Zukunft wahrscheinlich jenseits der Realität sein, sondern auch die Unterstellung, dass tatsächlich alle mit einer Verzinsung von 4 Prozent vorsorgen würden. In der Realität ist es aber nur ein Fünftel der Berechtigten, die vorsorgen. Deswegen die Frage: Wird es an der Stelle demnächst auch mal ähnliche Berechnungen wie die zur Beschäftigungsentwicklung geben, bei denen ja mit positiven und nicht so positiven Szenarien gerechnet wird? Wird an dieser Stelle vielleicht auch mal mit unterschiedlichen Szenarien gerechnet, damit deutlich wird, wie sich unterschiedliche Entwicklungen auswirken könnten, und man der Realität vielleicht etwas näherkommt?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Strengmann-Kuhn, ganz herzlichen Dank für Ihre Frage. – Zu Ihrer Vorbemerkung nur einen Satz: Bitte beurteilen Sie meinen Gesetzentwurf zum Thema Grundrente erst, wenn er vorliegt; ({0}) dann reden wir weiter. Zum Weiteren noch mal der Hinweis, dass es sich um Modellrechnungen handelt, und mein Dank dafür, dass Sie die Zahlen für die gesetzliche Rentenversicherung nicht mit einem Wort angezweifelt haben, weil es im Kern bei diesem Berichtes erst einmal vor allen Dingen um die Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung geht. Das ergibt sich aus dem gesetzgeberischen Auftrag. Dazu gibt es Modellrechnungen, die auch andere Sicherungssysteme wie betriebliche und private Altersvorsorge betreffen. Sie haben vollkommen recht: Nicht jeder hat eine betriebliche oder eine private Altersvorsorge, und über die Verteilungswirkung kann man auch diskutieren. Ich bin aber ein bisschen vorsichtig damit, allen Menschen den Abschluss einer privaten oder betrieblichen Altersvorsorge madig zu reden, weil sich das für einige wirklich auszahlt. Gleichwohl wird es Reformnotwendigkeiten geben; diese werden in der Rentenkommission diskutiert. Dabei geht es um die Verteilungswirkung und die Frage, wie man zu besseren Entwicklungen kommen kann. Ein Element hierbei ist der Dialog mit der Versicherungswirtschaft, damit sie erst mal zu übersichtlichen Standardprodukten kommt. Ich gebe aber zu: Ich glaube, wir werden einen größeren Reformbedarf haben. Das wird auch Gegenstand der Beratungen der Rentenkommission sein. Für die Frage, was die Menschen wirklich haben, ist übrigens die Information aus der säulenübergreifenden Alterssicherung, von der ich vorhin gesprochen habe, viel instruktiver als solche Durchschnittsbetrachtungen, weil die sehr individuell deutlich macht, was man aus der gesetzlichen Rente zu erwarten hat und was man angesichts der betrieblichen oder privaten Vorsorge bekommt. Ich glaube, dass das den Menschen bei der Orientierung, was sie zusätzlich zur gesetzlichen Rente tun sollten, viel weiterhilft. Es gibt aber auch Menschen, die einfach nichts beiseitepacken können – das müssen wir auch ganz offen sagen –, und deshalb bleibe ich dabei: Für mich bleibt die gesetzliche Rente die tragende Säule. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Nächste ist der Kollege Ralf Kapschack.

Ralf Kapschack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004321, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Lieber Hubertus Heil, sehr geehrter Bundesarbeitsminister, im RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz ist die Höhe der Beitragssatzgarantie zur Gewährleistung der doppelten Haltelinie im Jahr 2025 mit 4,9 Milliarden Euro angegeben. Findet sich das auch im Rentenversicherungsbericht wieder?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Da muss ich ein bisschen gucken. – Können Sie noch eine Frage stellen? Dann finde ich das auch. ({0}) – Entschuldigung, ich muss wirklich ein bisschen kramen. ({1}) Ich glaube, dass wir eine wesentlich günstigere Entwicklung haben, als im Gesetzentwurf unterstellt war – das hat was mit der guten wirtschaftlichen Entwicklung zu tun –, sodass sich das Gap, was wir aus Steuermitteln schließen müssen, um die Beitragssatzstabilität und die Haltelinie zu halten, nicht so groß darstellen wird wie noch prognostiziert. Das heißt, dass diese Koalition und auch mein Haus im besten Sinne des Wortes sehr vorsichtig und konservativ und solide gerechnet haben, und wir freuen uns über die positive Überraschung. Das zeigt wieder, dass die Rente, wenn es in Wirtschaft und Arbeit gut läuft, einfacher zu schultern ist.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Lieber Herr Birkwald, wären Sie in der Lage, Ihre nächsten drei Fragen in einer zu stellen, vielleicht mit mehreren Kommas?

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Aber selbstverständlich, Herr Präsident. – Herr Bundesminister Heil, es ist so: Es sollen 400 Millionen Euro statt der zunächst angenommenen 4,9 Milliarden Euro sein, auf die sich Kollege Kapschack bezogen hat. Deswegen sage ich, dass das doch alle Behauptungen der FDP, dass die Stabilisierung des Rentenniveaus den Steuerzahler massiv belasten wird, Lügen straft. Erste Frage: Sehen Sie deshalb nicht einen Spielraum für die Anhebung des Rentenniveaus? Zweite Frage – weil Sie gerade eben zum Thema Grundrente gesprochen haben –: Darf ich aus Ihrer Antwort schließen, dass Sie derzeit nicht nur ein Modell zur Einführung der Grundrente prüfen? Denn das genannte Modell würde nach dem, was bisher bekannt geworden ist, nur eine Verbesserung von 814 Euro brutto Grundsicherungsgesamtbedarf auf 895 Euro, also immer noch im Armutsbereich, bringen. Deswegen meine Frage: Prüfen Sie nur die 10‑prozentige Aufschlagslösung oder auch andere Lösungen für die Grundrente? Für meine letzte Frage reicht die Zeit nicht mehr, Herr Präsident, weil ich innerhalb der vorgegebenen Minute bleiben will.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Da kann man nichts machen. ({0})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Ihrer Bemerkung zur FDP will ich nicht widersprechen. In Beantwortung Ihrer ersten Frage will ich deutlich machen, dass wir angesichts dieser Entwicklung trotzdem vorsichtig sein müssen, welches Rentenniveau wir den Menschen langfristig tatsächlich garantieren können. Ich finde es einen guten und richtigen Kraftakt, dass wir jetzt erst mal ein Rentenniveau von 48 Prozent sichern. Der Bericht beweist auch: Wenn wir die Haltelinien, die viel kritisiert wurden, nicht eingeführt hätten, dann wäre vor dem Jahre 2025 das Rentenniveau von 48 Prozent bereits unterschritten worden. Das sage ich mal denjenigen, die immer bestritten haben, dass das so ist. Gleiches gilt für die Beitragssatzstabilität von 20 Prozent. Die beiden Haltelinien wirken also, und sie sind richtig. Man kann darüber diskutieren, wie man das weiterentwickelt. Das tut die Rentenkommission. Dafür werden wir auch Vorschläge machen. Ihre letzte Frage, Herr Birkwald? ({0}) – Zur Grundrente. – Wir sind im Moment in einem sehr intensiven Dialog, weil das keine Sache ist, die man einfach aus dem Ärmel schüttelt; sonst hätten ja meine Vorgängerinnen – Frau von der Leyen hat solche Diskussionen geführt, auch Andrea Nahles – im politischen Raum schon ein Modell durchsetzen können. ({1}) – Bei aller Schlaumeierei: Wer sich mit den einzelnen Modellen beschäftigt, weiß, dass wir mit vielen Stellen, den Grundsicherungsämtern und der Rentenversicherung, auch mit kommunalen Stellen, zu reden haben und wir die beste Lösung zu finden haben, um Menschen, die lange gearbeitet haben, ein Plus gegenüber denen zu geben, die nicht gearbeitet haben, damit sie nicht auf Grundsicherungsniveau hängen bleiben. Das nutzt vor allen Dingen Frauen, weil sie sehr oft durch niedrige Löhne schlechte Anwartschaften haben. Dazu werde ich im nächsten Jahr Vorschläge machen. Wir sind noch in der Abstimmung. Lassen Sie sich überraschen, Herr Birkwald. ({2}) – Na ja, das muss ja solide vorbereitet sein. Die Erwartungshaltung, dass man in der Politik einen Schalter in der Alterssicherung drückt und man am nächsten Tag ein Modell hat, ist nicht seriös. Deshalb habe ich gesagt: Wir machen in diesem Jahr den Rentenpakt und in 2019 den zweiten Schritt mit der Einführung der Grundrente und der Einbeziehung der Selbstständigen in das System der Alterssicherung. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Peter Aumer.

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, ich würde gerne an die Frage anschließen. Könnten Sie vielleicht noch mal darstellen, wie sich die Renten längerfristig entwickeln werden? Sie haben die Haltelinien angesprochen. Wir haben in der letzten Sitzungswoche dazu etwas beschlossen. Es wäre sehr schön, wenn Sie darauf eingehen könnten.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Kollege Aumer, immer unterstellt, dass die jetzige Gesetzeslage, was nicht wahrscheinlich ist, auch noch 2025, 2026, 2027 gilt, ergibt sich aus dem Rentenbericht folgende Modellrechnung: Wir können davon ausgehen, dass, wie gesagt, bis 2025 das Rentenniveau durch die beiden Haltelinien bei 48 Prozent bleibt und der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen wird. Ich habe vorhin beschrieben: Der Beitrag bleibt nach unseren Berechnungen bis 2023 sogar beim jetzigen Niveau von 18,6 Prozent und wird dann leicht ansteigen. Aber, wie gesagt, bis zum Jahre 2025 greift die Haltelinie, und der Beitragssatz wird nicht über 20 Prozent steigen; ohne Haltelinie würde er bei über 20 Prozent liegen, und auch das Rentenniveau würde vor 2025 unter 48 Prozent sinken. Die ganze Entwicklung würde sich ohne gesetzgeberische Veränderung auch über 2025 hinaus in dieser Tendenz fortsetzen, und zwar bis zum Jahr 2032, glaube ich, Johannes Vogel, hin zu einem Beitragssatz, der dann eben oberhalb von 22,1 Prozent läge. Wir reden also über einen längeren Zeitraum. Daraus ergibt sich die Systematik unseres politischen Vorgehens. Wir haben jetzt bis 2025 entschieden. Wir nehmen nächstes Jahr die Verbesserungen vor, von denen ich gesprochen habe. Wir müssen dann die Weichen weiter stellen, weil es eine Frage von Solidität ist, die Weichen auch über Legislaturperioden hinaus zu stellen. Da es daran manche Zweifel gegeben hat, haben wir die Rentenkommission eingesetzt; genau das ist der Grund. Diese Kommission ist mit Sozialpartnern sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sehr heterogen zusammengesetzt; denn man braucht für eine langfristige Orientierung unseres guten Systems verlässliche und valide Hinweise. Aber wir haben im März 2020 den Spielraum, gesetzgeberisch – möglichst in dieser Legislaturperiode – auch über 2025 hinaus die Weichen zu stellen. Dann müssen wir auch die 2030er-Jahre ins Auge fassen. Wie ich beschrieben habe, ist die demografische Entwicklung in diesem Zeitraum nicht hundertprozentig vorherzusehen. Aber bis 2040 ist er sehr wahrscheinlich relativ überschaubar. Wie wir wissen, ist 2025 bis 2040 der Zeitraum, in dem die Generation der sogenannten Babyboomer in Rente geht. Danach entspannt sich das Ganze ein bisschen, wenn es so weitergeht. Denn mein Jahrgang, der 1972er-Jahrgang, ist weniger geburtenstark als der 1964er-Jahrgang, und das setzt sich fort. Dazwischen wurde die Pille eingeführt. Das ist der Hintergrund, warum sich die geburtenschwachen Jahrgänge fortsetzen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gut; ich glaube, das war sehr ausführlich. Ist damit auch die Frage beantwortet, die Sie stellen wollten, Herr Vogel? – Nein, dann müssen Sie sie noch stellen. Es war ein Versuch.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Johannes Vogel.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Hubertus Heil, du hast eben wunderbar ausgeführt, dass sich auch die Bundesregierung zu flexiblen Übergängen in die Rente bekennt, und dann auf die Flexirente verwiesen. Nun wissen wir alle, dass die sogenannte Flexirente weit entfernt ist von einem wirklich flexiblen Renteneintritt, wie es uns Schweden oder Norwegen erfolgreich vormachen. Auf diese Frage habe ich noch keine Antwort: Wir haben in Schweden ein System, bei dem jeder selbst entscheiden kann, wann er in Rente geht. Ich stelle ganz konkret die Frage an die Bundesregierung – bitte nicht hinter der Rentenkommission verstecken; auch in anderen Bereichen machen Vertreter der Bundesregierung laufend Vorschläge zu Fragen, über die die Rentenkommission berät –: Spricht aus Sicht der Bundesregierung etwas gegen das schwedische System eines flexiblen Renteneintritts, falls ja, was, und, falls nein, warum macht sich die Bundesregierung nicht dafür stark? ({0})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege, es ist immer ganz schwierig, Einzel­elemente aus sozialen Sicherungssystemen anderer Länder eins zu eins zu übertragen, weil man den Gesamtzusammenhang sehen muss. Wie Sie wissen, gibt es im Bereich der privaten Altersvorsorge in Schweden einen Staatsfonds und ein Obligatorium, aber keine mitverdienende Versicherungswirtschaft, um ein Beispiel zu nennen. Der schwedische Wohlfahrtsstaat macht eine ganz andere Steuerpolitik als der deutsche Staat, die stärker am Bürgerstatus und weniger am Erwerbsstatus in der Sozialversicherung ansetzt. Das heißt, die einzelnen wohlfahrtsstaatlichen Modelle sind immer von der jeweiligen Fahrtrichtung abhängig. Deshalb kann ich Ihnen nicht versprechen, dass wir Dinge eins zu eins übertragen. Aber ich bin gerne bereit, über flexible Übergänge zu reden. Wenn wir über flexible Übergänge reden, dann in beide Richtungen. Wenn der Erkenntnisfortschritt Ihrer Partei darin besteht, dass sie inzwischen nicht mehr für eine weitere Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters ist, dann kann ich sagen: Im Himmel ist mehr Freude über einen reuigen Sünder als über 100 Gerechte. ({0}) „99 Gerechte“ heißt es korrekt, um die Bibel zu zitieren, Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Absolut, die Bibel immer. – Der Nächste ist Max Straubinger.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Trotz persönlicher Bekanntheit, Herr Bundesminister Heil: Von manchem Fragesteller wurde die private Altersvorsorge auf vielfältige Weise in Zweifel gezogen. Ist es unter Generationengesichtspunkten nicht wichtig, die gesetzliche Rentenversicherung aufrechtzuerhalten sowie private und betriebliche Altersvorsorge zu betreiben, um zukünftige Generationen von zusätzlichen Beitragslasten zu befreien, die anderweitig durch die gesetzliche Rentenversicherung, zumindest wenn es um die Sicherung des Lebensstandards geht, abgedeckt werden müssten? Können Sie bestätigen, dass die Einlagen in den betrieblichen Altersvorsorgesystemen genauso wie in den privaten Altersvorsorgesystemen trotz aller Zinsmutmaßungen, die hier getroffen wurden, über die lange Laufzeit hinweg und angesichts der eingegangenen Versprechungen sich mit 2,5 Prozent verzinsen und damit eventuelle Einbußen bei der gesetzlichen Rentenversicherung leicht abdecken?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege Straubinger, ich bin der festen Überzeugung, dass die gesetzliche Rente die tragende Säule sein soll, und ich habe überhaupt nichts gegen ergänzende private und vor allen Dingen auch betriebliche Altersvorsorge. Je mehr die Menschen im Alter haben, desto besser für die Menschen, was ihre Kaufkraft, ihren Lebensstandard und ihre Möglichkeiten eines würdigen Lebens im Alter betrifft. Aber ich bleibe nach wie vor dabei: Das umlagefinanzierte gesetzliche Rentensystem muss die tragende Säule bleiben. Wir haben als Koalition gemeinsam in der letzten Legislaturperiode mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz auch für Betriebsrenten eine ganze Menge getan. Wir haben dazu noch keine ganz validen Informationen, weil dieses Gesetz erst zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten ist; aber es gibt ein paar positive Hinweise, wie sich das entwickelt. Ich sage Ihnen noch eins: Ich würde mir sogar noch mehr Betriebsrenten in Deutschland zusätzlich zur gesetzlichen Rente wünschen. Deshalb wäre es schön, wenn wir den Effekt der Doppelverbeitragung bei der gesetzlichen Krankenversicherung mal ein bisschen zurückstutzen würden, und zwar auf Betreiben des Bundesgesundheitsministeriums selbst, wenn es solche Vorschläge gibt. ({0}) Da sind wir uns ja einig: Das ist eine Bremse hinsichtlich der Ausbreitung von betrieblicher Altersvorsorge. Und: Es gibt auch die Private. Die sollte niemand, wenn sie gut funktioniert, als zusätzliche Einnahmequelle madig machen. Das sage ich auch Herrn Straubinger, der sich da mit Sicherheit – gut versichert – gut auskennt. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Jetzt frage ich noch den Kollegen Weiler: Sind alle Fragen beantwortet oder nicht? – Bitte.

Albert Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004439, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Minister, sehr geehrter Kollege Heil, die Presse hat Meldungen rausgeschickt, dass die Renten im Westen um 3,18 Prozent und im Osten um 3,91 Prozent erhöht werden sollen. Dazu hätte ich einfach gerne die Auskunft, ob das in naher Zukunft so sein soll; für die Menschen ist das nämlich wichtig. An dieser Stelle noch ein Dankeschön, dass Sie gesagt haben, dass die gesetzliche Rentenversicherung die tragende Säule ist. Ich glaube, das ist wichtig für den Sozialstaat und auch für die Menschen, die jetzt einzahlen; denn dann wissen sie, dass sie im Nachgang noch was rauskriegen. – Danke schön.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herzlichen Dank. – Zu Ihrer Schlussbemerkung nur die Bemerkung: Wir müssen im Diskurs in diesem Parlament – ich finde ihn übrigens sehr gut und sehr informiert – zur Kenntnis nehmen, dass es draußen welche gibt, die die gesetzliche Rente tatsächlich so madig machen und krankenhausreif reden, dass jeder glaubt, sie funktioniere nicht mehr. Die gesetzliche Rentenversicherung ist eines der besten Sicherungssysteme, die uns in der deutschen Geschichte eingefallen sind. ({0}) Einige, die die gesetzliche Rentenversicherung krankenhausreif reden, haben durchaus sehr spezielle Interessen, warum sie das tun. Diesen Verweis wollte ich mir gestatten. Zu der Frage der Rentenerhöhung für das nächste Jahr: Ja, die Zahlen, die Sie für Ost und West, was Rentensteigerungen betrifft, zitiert haben, stimmen auf Basis der Modellrechnung. Aber da es eine Modellrechnung ist, ist die genaue Entscheidung im Frühjahr nächsten Jahres auf Basis der dann abgerechneten Zahlen zu treffen. Sie können aber davon ausgehen, dass wir bei der guten wirtschaftlichen Lage auch im nächsten Jahr – Gott sei Dank wie in diesem Jahr – nach früheren Durststrecken wieder kräftige Rentenerhöhungen in Deutschland haben werden. Das, finde ich, ist keine Gnade und kein Geschenk, sondern angemessen, weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Lohn- und Gehaltssteigerungen gut verdienen. Das schlägt sich auch bei Rentnerinnen und Rentnern nieder. Sie haben es übrigens auch verdient. Das ist keine Gnade, es ist ein Ergebnis von Lebensleistung. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Minister. – Wir kommen dann zum zweiten Teil der Befragung. Der erste Fragende ist Stephan Brandner.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Liebe Bundesregierung, einem Facebook-Eintrag auf der Seite der Bundesministerin Barley, deren Seite mit der Seite des Bundesjustizministeriums verlinkt ist, war zu entnehmen, dass sich Frau Barley offenbar am 21. November 2018 mit dem umstrittenen Herrn George Soros getroffen hat. Dieses Treffen ist unter anderem durch ein offizielles Foto des Ministeriums, das sich interessanterweise auf der offenbar privaten Seite der Frau Barley befindet, dokumentiert. Den dortigen Ausführungen war zu entnehmen, dass in diesem Gespräch – ich zitiere – „die Bedeutung einer lebendigen #Zivilgesellschaft für die Zukunft unserer #Demokratie“ debattiert worden sei. Wobei mit „unserer Demokratie“ ja wohl die Demokratie in Deutschland gemeint ist. Mich interessiert in diesem Zusammenhang, was die Gründe dafür waren, Herrn Soros als Gesprächspartner auszuwählen, von wem die Initiative für dieses Gespräch ausging und welche konkreten Inhalte und Ergebnisse dieses Gespräch hatte.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrter Herr Kollege, unter Demokraten – die sitzen in der Bundesregierung – ist es üblich, dass man sich mit Menschen aus unterschiedlichen Bereichen der Welt auseinandersetzt, wobei man nicht immer die Meinung von anderen Menschen, mit denen man sich auseinandersetzt, teilt. Wenn dieser Hinweis bei Facebook so getätigt worden ist, dann verstehe ich das unter anderem als einen Hinweis auf die Tatsache, dass es Rechtsradikale auf der Welt gibt, die am Beispiel von Herrn Soros durchaus mit antisemitischem Unterton Weltverschwörungstheorien beschreiben, was in einer europäischen Demokratie durchaus Folgen gehabt hat. Das zeigt sich, wenn Sie sich beispielsweise die innenpolitische Entwicklung Ihrer Gesinnungsfreunde in Ungarn anschauen. Ich meine nicht nur die Regierung, sondern auch die anderen, die es an dieser Stelle gibt. Deshalb ist es in Ordnung, sich mit bestimmten Leuten auseinanderzusetzen und zu treffen, übrigens nicht, um immer ihrer Meinung zu sein, sondern um verschiedene Meinungen auszutauschen. Aber im speziellen Fall geht es mit Sicherheit um einen Vorgang, der auch die innenpolitische Situation in Ungarn betrifft. Ich kann Ihnen sagen: Angesichts dessen, was an antisemitischem Dreck im Internet so unterwegs ist, finde ich es gut, dass man da auch durch ein Gespräch ein Zeichen setzt. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Olaf in der Beek.

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, wie bewertet die Bundesregierung den neuesten Vorschlag der Monopolkommission aus dem 77. Sondergutachten, den europäischen Emissionshandel auf weitere Sektoren auszuweiten? Zitat – mit Genehmigung des Präsidenten –: Das europäische Emissionshandelssystem EU-ETS sollte allerdings gestärkt werden. Ich zitiere weiter: Dazu sollte die Einbeziehung weiterer Sektoren in den Zertifikatehandel in Betracht gezogen werden, da über die so erfolgende einheitliche Preissetzung für Treibhausgasemissionen sektorübergreifend dort Emissionen vermieden würden, wo dies die geringsten Kosten verursacht. Will sich die Bundesregierung, wie empfohlen, für eine Ausweitung des ETS auf weitere Sektoren in der EU einsetzen und/oder mit einer Ausweitung auf nationaler Ebene beginnen? Falls nein, warum nicht?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege, ich habe in der letzten Legislaturperiode als Parlamentarier in diesem Haus Wirtschafts- und Energiepolitik gemacht. Ich muss jetzt versuchen, mein Wissen aus dieser Zeit aufzurufen, und kann Ihnen nur ganz grundsätzlich für die Bundesregierung sagen, dass wir den Emissionshandel für ein marktwirtschaftliches Instrument zur Verhinderung von klimaschädlichen Treibhausgasemissionen halten. Sie kennen die Debatte im europäischen Rahmen und wissen, dass Entscheidungen dazu getroffen worden sind. Wir haben uns keine abschließende Meinung zu einzelnen Empfehlungen der Monopolkommission gebildet, aber orientieren uns auch national an dem, was wir uns völkerrechtlich verbindlich an Minderungszielen im Bereich Klimaschutz gesetzt haben. Dabei ist der Emissionshandel ein Instrument neben anderen, und die große Aufgabe wird sein, wenn ich die Kollegen aus dem Ministerium für Wirtschaft und Energie und dem Umweltministerium richtig verstanden habe, in den nächsten Jahren die Voraussetzungen für den Bereich der Sektorkopplung zu schaffen zwischen den verschiedenen Sektoren, die gefordert sind, um die ehrgeizigen Klimaschutzziele für unsere Industriegesellschaft, unseren Kontinent und die Welt zu erreichen. ETS ist ein Instrument, aber nicht das einzige.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Nächste: der Kollege Harald Ebner.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Präsident. – Am Montag haben uns, ich glaube, weltweit, Berichte über die Geburt erster mit CRISPR/Cas9 genmanipulierter Babys in China überrascht. Ich kann mir vorstellen, dass das auch die Bundesregierung beschäftigt, vielleicht sogar im Kabinett. Deshalb meine Frage: Welche Haltung hat die Bundesregierung hierzu, welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus diesen Berichten, und wie steht sie zum Vorschlag des Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats, Professor Dabrock, eine internationale Kontroll- und Aufsichtsbehörde analog der Internationalen Atomenergie-Organisation ins Leben zu rufen, um dieses so wichtige Thema auf die richtige Ebene zu hieven?

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Minister.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrter Herr Kollege Ebner, ohne dass wir als Bundesregierung dazu eine abgestimmte Position haben, sind wir alle in der Bundesregierung durch unseren Amtseid auf das Grundgesetz und auf Artikel 1 – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – verpflichtet. Das gilt übrigens nicht nur für den Geltungsbereich des Grundgesetzes, sondern das ist auch unsere außen- und sicherheitspolitische Auffassung, unsere globale Auffassung, auch in multilateralen Zusammenhängen. Deshalb ist das, wenn die Berichte stimmen sollten, mit Sicherheit etwas, was von dieser Bundesregierung abgelehnt wird. Es entspricht nicht unseren ethischen Standards und auch nicht unserer grundgesetzlichen Verpflichtung, so stark in das menschliche Leben einzugreifen, wie das offensichtlich – die Berichte sind noch recht vage – da geschehen ist. Wir haben uns zum Vorschlag von Professor Peter Dabrock, dem Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats, noch keine abschließende Meinung gebildet. Ich persönlich bin allerdings der Auffassung – wir werden das vor allen Dingen mit dem Justiz- und dem Außenministerium zu besprechen haben –, dass wir versuchen sollten – versuchen sollten! –, ethische Standards für den Umgang mit menschlichem Leben, also der roten Gentechnik, auch im Völkerrecht zu verankern. Das ist jedenfalls unsere Auffassung. Man könnte auch sagen: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen könnte mit einer solchen Art des Umgangs mit menschlichem Leben kollidieren. Aber das ist meine persönliche Meinung.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Als Nächstes die Kollegin Beatrix von Storch.

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke, Herr Präsident. – Herr Minister, Minister Spahn hat aktuell gegenüber der „Rheinischen Post“ gesagt, dass die Moscheen nicht mehr aus dem Ausland finanziert werden dürften, auch nicht über Umwege. Minister Seehofer hat gerade die islamischen Gemeinden aufgerufen, sich von ihren ausländischen Geldgebern zu lösen. Ich frage deswegen die Bundesregierung: Ist die Bundesregierung dem Grunde nach der Ansicht, dass die Auslandsfinanzierung von Moscheen beendet werden soll?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Abgeordnete, ich kann Ihnen nur so viel sagen – ich war an der Islamkonferenz nicht beteiligt; sie hat unter Federführung des Bundesinnenministers stattgefunden –, dass es eine sehr lebhafte Debatte über die Frage von Religion in diesem Land gibt. Wir brauchen einen Dialog der Religionen. Aber wenn wir einzelne Regelungen treffen sollten, gelten diese für alle Religionen. Was uns miteinander beschäftigen sollte, ist der Versuch, dafür zu sorgen, dass Religionen im Inland nicht für politische Zwecke und für nationale Interessen aus dem Ausland missbraucht werden. Solche Erscheinungen gibt es. Mit denen muss sich unsere Gesellschaft auseinandersetzen. Aber die Religionsfreiheit gilt über Grenzen hinweg. Ich sage als evangelischer Christ: Auch meine Kirche finanziert Aktivitäten im Ausland, zum Beispiel im Rahmen von Missionarsarbeit oder von Entwicklungszusammenarbeit. Bei der Frage, wie wir es mit der Finanzierung von Religionen über Grenzen hinweg halten, müssen wir immer über eine gewisse Reziprozität nachdenken. Deswegen ist dieser Punkt nicht einfach aufzulösen. Es handelt sich um einen Debattenbeitrag meines Kollegen Spahn und nicht um eine abschließende Haltung der Bundesregierung.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Dr. Martin Neumann ist der Nächste.

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – In einem ersten Anlauf sollte ja heute der Bericht der WSB-Kommission vorliegen. Die Bundesregierung hat das Mandat der Kohlekommission zeitlich verlängert, um insbesondere in den Kohleregionen im Bereich Strukturwandel nachzulegen. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass es hierbei vor allem um Fragen der Finanzierung geht? Und ist sie auch der Auffassung, dass die hierfür im Bundeshaushalt vorgesehenen 1,5 Milliarden Euro für die laufende Legislaturperiode ausreichend sind? Wenn nicht, also wenn die Frage negativ beantwortet wird: Wie möchte sie die möglichen Entschädigungen an Kraftwerksbetreiber und die Finanzhilfen für die betroffenen Regionen gegenfinanzieren?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege, ich kann Ihnen sehr gut darauf antworten, weil wir an der Arbeit dieser Kommission mit insgesamt vier Bundesministerien beteiligt sind. Das betrifft das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, das Bundesministerium für Umwelt, das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat sowie das Bundesarbeitsministerium. Die Kommission ist unabhängig, aber sie soll Empfehlungen machen. Es gab in der letzten Woche eine Sitzung mit intensiver Debatte. Wir sind uns mit der Kommission einig, dass erst einmal Vorschläge für die strukturelle Entwicklung von Regionen, die durch die Veränderung von Energiepolitik im Strukturwandel sind, im Vordergrund stehen. Das betrifft vor allem die Lausitz, das Mitteldeutsche Revier, das Rheinische Revier. Es gibt noch ein kleineres Revier, nämlich das Helmstedter Revier in Niedersachsen. Uns ist es daher wichtig, deutlich zu machen, dass wir die Menschen in diesen Regionen im Strukturwandel nicht alleinelassen. Dafür werden wir auch Mittel zur Verfügung stellen. Auf welche Art und in welcher Höhe, ist angesichts der Frage, was sinnvoll ist, auf der Basis von Kommissionsvorschlägen zu überprüfen. Deshalb können wir Ihnen keine abschließende Aussage zu Zahlen machen. Aber der klare Hinweis ist: Die Kommission hat, wenn Sie so wollen, zwei große Aufträge: zum einen, den Strukturwandel in den Regionen zu gestalten, und zum anderen, Beiträge zum Klimaschutz im Bereich der Verstromung von Kohle zu leisten. Diese Punkte versuchen wir in der Kommission zu klären. Wir haben sie bewusst heterogen zusammengesetzt, aber wir haben auch darauf geachtet, dass nicht über die Menschen, sondern mit den Menschen in der Region gesprochen wird. Als jemand, der aus seiner Brandenburger Zeit die Situation beispielsweise in der Lausitz sehr gut kennt, weiß ich, dass die Menschen eine klare Perspektive für Wirtschaft und Arbeitsplätze brauchen. Dass wir die Region nicht alleinelassen dürfen, ist die feste Überzeugung der gesamten Bundesregierung.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Wir müssen ein bisschen auf die Zeit achten. Ich bitte um kurze Fragen und kurze Antworten, sonst kommen wir nicht durch. – Jetzt der Kollege Lars Herrmann.

Lars Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004748, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Bei der Bundespolizei wurden Pausen eingeführt aufgrund einer Arbeitsrichtlinie der EU. Die Kollegen waren schwer „begeistert“, weil man jetzt nach sechs Stunden Dienst 30 Minuten Pause machen musste. Das bedeutete, auch 30 Minuten länger auf der Arbeit zu bleiben. Deswegen war dies nicht ganz so prickelnd. Erschwerend kam hinzu, dass man gemerkt hat, dass die Einsatzfähigkeit beeinträchtigt ist. Denn es ist schlecht, Pause zu machen, wenn draußen gerade Straftaten begangen werden. Deswegen hat das Bundesministerium des Innern eine Ausnahme gemacht und die Arbeitszeitverordnung ausgesetzt. Es hat fünf Jahre gedauert, bis man endlich die operativen Kräfte der Bundespolizei von dieser seltsamen Pausenregelung ausgenommen hat. Meine Frage: Wann können auch die Tarifbeschäftigten der Bundespolizei an dieser Ausnahmeregelung im operativen Dienst partizipieren, sodass sie keine Pause mehr zu machen brauchen?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege, ich kann Sie auf Folgendes hinweisen: Die Bundespolizei leistet eine ausgezeichnete Arbeit für unser Land und hat den Rückhalt des gesamten Parlaments verdient. ({0}) Sie ist in die Bekämpfung von Extremismus in diesem Land eingebunden, aber vor allen Dingen übernimmt sie im Rahmen der Sicherung gemeinsam mit den Landespolizeien vielerlei Aufgaben. Ich kenne die Regelungen, die Sie beschrieben haben, aus eigener Kenntnis, aus Gesprächen mit Freunden, die bei der Bundespolizei arbeiten. Ich kann Ihnen aber keine Details dazu geben, weil ich dazu das Gespräch mit dem Bundesinnenminister suchen müsste. Ich bitte den Herrn Präsidenten, wenn es möglich ist, den Kollegen Staatssekretär aus dem Innenministerium zur Ergänzung dazu zu Wort kommen zu lassen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Aber nur, wenn er das kurz beantworten kann.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Herr Präsident, sehr kurz. – Den Vorgang kenne ich weniger als der Kollege Heil. Das Thema ist mir in Bezug auf die Tarifbeschäftigten persönlich nicht bekannt. Ich sage aber zu, dass ich es im Haus prüfen und Ihnen eine Antwort zukommen lasse.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Der Kollege Till Mansmann.

Till Mansmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004815, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Minister Heil, im Koalitionsvertrag 2018 steht, wie bereits im Koalitionsvertrag 2013, kein Wort von Veränderungen bei der Möglichkeit zur Sanktionierung von Arbeitslosen. Was stimmt Sie, Herr Minister Heil, optimistisch, dass Sie nicht wie Ihre Vorgängerin im Amt in dieser Frage erneut an der Unionsfraktion scheitern?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Lieber Kollege, Grundlage für die Arbeit einer Koalition ist der Koalitionsvertrag; der gilt. Aber wir können in Gesprächen durchaus gemeinsam zu weiteren Auffassungen kommen. Deshalb setze ich immer auf Überzeugungsarbeit in der Praxis. Damit Sie meine Auffassung zum Thema „Sanktion in der Grundsicherung“ kennen: Ich bin dafür, dass wir uns sehr kritisch anschauen, wo Sanktionen als bürokratisch und arbeitsmarktpolitisch sinnlos wahrgenommen werden. Die Praktiker sagen uns, dass das beispielsweise bei den Sanktionen für die unter 25-Jährigen der Fall ist. Deren Sanktionen sind schärfer als bei 26-Jährigen. Ich finde, wir sollten sie gleichstellen und 24-Jährige nicht schärfer als 25-Jährige sanktionieren. Die Praktiker aus der Bundesagentur für Arbeit, aus den Jobcentern, aus den gemeinsamen Einrichtungen mit den Kommunen, sagen uns zudem, dass es keinen Sinn macht, die Kosten der Unterkunft für Sanktionen heranzuziehen. Ich bin aber nicht gegen jede Form von Mitwirkungspflicht. Zum Beispiel bei Terminversäumnissen – das ist der Regelfall –, finde ich, dass es Konsequenzen haben sollte, wenn jemand das fünfte, siebte oder achte Mal nicht zum Amt geht; das ist meine Auffassung. Das werden wir in der Koalition diskutieren. Es gab in der letzten Legislaturperiode, wie Sie sich erinnern, schon einmal 15 Bundesländer, die das genauso gesehen haben; eines nicht. ({0}) Aber der Fortschritt ist unaufhaltsam, weil sich die Kraft von guten Argumenten nicht aufhalten lässt. Das ist meine sehr positive Wahrnehmung von demokratischen Gesellschaften. Das heißt, wir werden solche Vorschläge zur Weiterentwicklung machen. Wir sind uns aber in der Bundesregierung, glaube ich, sehr einig, dass wir das System weiter entbürokratisieren und dafür sorgen müssen, dass wir vor allen Dingen Menschen aus der Grundsicherung rausholen; denn das ist das Wichtigste, wenn wir über die Grundsicherung für arbeitslose Menschen in Deutschland sprechen. Dafür haben wir gerade das Gesetz zur Einführung eines sozialen Arbeitsmarktes beschlossen. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Liebe Kollegen, wir sind jetzt ein bisschen in Zeitdruck; denn wir haben insgesamt nur 90 Minuten für die Fragen. Ich bitte um kurze Fragen und kurze Beantwortung. – Christian Wirth.

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Herr Minister, die Bundesregierung hat 2 500 Bescheide gegen Flüchtlingsbürgen in Höhe von etwa 21 Millionen Euro erwirkt. Auf eine Kleine Anfrage der AfD wurde mitgeteilt, dass etwa 670 000 Euro bezahlt wurden und der Restbetrag derzeit nicht vollstreckt wird. Meine Frage: Gibt es hierfür Rechtsgründe, oder soll zukünftig auf die Forderung verzichtet werden? Können dann analog Artikel 3 des Grundgesetzes zum Beispiel auch Steuerzahler und GEZ-Zahler darauf vertrauen, dass die Bundesregierung Forderungen nicht mehr beitreibt? – Vielen Dank.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Zu Ihrer letzten Bemerkung rate ich dazu, Äpfel nicht mit Birnen zu vergleichen. Zu Ihrer ersten Frage gebe ich den Hinweis, dass wir gerade in laufenden Gesprächen zwischen Bund und Ländern sind, um das Problem zu lösen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Jetzt habe ich noch drei Fragen von der FDP, von den Kollegen Luksic, Strasser und Jung. – Bitte kurzfassen.

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Frage betrifft das Thema Fahrverbote, wo das Bundesumweltministerium federführend ist. Minister Scheuer hat die Bundesländer angeschrieben und eine Überprüfung der Messstationen angeregt. Er hat letztens in der Befragung der Bundesregierung gesagt, er halte das für ein Problem, woraufhin das Bundesumweltministerium das anhand verschiedener Punkte explizit verneint hat. Auch auf Ebene der Bundesländer wollen die Verkehrsminister – mit Ausnahme von grün regierten Ländern – die Messstationen überprüfen lassen. Die Umweltministerkonferenz sieht es anders. Daher die Frage an die Bundesregierung: Hält sie das für ein Problem, und, wenn ja, was wird wann wie überprüft? Vor dem Hintergrund, dass beispielsweise Umweltministerin Höfken in Mainz, wo nachgewiesenermaßen eine Messstelle falsch platziert ist, in „Spiegel Online“ meint, das sei kein Problem, und sich der niedersächsische Umweltminister Lies in Bezug auf Oldenburg hingegen dafür offen zeigt, frage ich: Wie ist da die abgestimmte Haltung der Bundesregierung? Wie sieht der genaue Fahrplan aus?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege, erstens, wir sind uns miteinander einig – das ist auch die Haltung der Bundesregierung –, dass, wo immer es geht, wir Fahrverbote verhindern wollen. Die Bundesregierung hat sich auf gesetzgeberische Maßnahmen verständigt, zum Beispiel die BImSchV minimalinvasiv anzupassen. Das ist eine Maßnahme, die wir, neben dem zwischen Bund und Ländern beschlossenen Paket, besprochen haben. Wir werden auch diese Thematik miteinander besprechen – wir kennen die Diskussion über Messstationen, übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa – und werden Ihnen entsprechende Informationen zukommen lassen, wenn wir dazu eine Haltung entwickelt haben.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Herr Strasser.

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister, Sie können die Frage auch an Herrn Staatssekretär Krings weitergeben, weil sie relativ konkret ist und ich auch gerne eine konkrete Antwort aus dem Bundesinnenministerium hätte. Ich hatte hier an dieser Stelle vor etwa einem Jahr mit dem Staatssekretär Schröder die Problematik „Personenbegleiter Luft“ in der Bundespolizei bereits diskutiert. Damals gab es erste Anzeichen für Probleme. Die Bundespolizei hat gewarnt: Wir haben zu wenig Freiwillige, die an diesen Rückführungen teilnehmen, zumal die Beamtinnen und Beamten ja auch besonderen Belastungen, psychisch wie körperlich, ausgesetzt sind und auch keine entsprechende Zulage bekommen. Herr Schröder hat mir damals gesagt, es gebe keine Erhöhung, das sei nicht geplant und es werde dauernd evaluiert. Nachdem im letzten Jahr die Berichte der Bundespolizei zugenommen haben und der Bedarf und die Dringlichkeit noch einmal betont worden sind, möchte ich Sie – Sie evaluieren ja dauernd – an dieser Stelle noch mal fragen: Ist es erstens immer noch die Haltung der Bundesregierung, dass keine Erhöhung der Anzahl der Personenbegleiter Luft stattfinden soll? Und zweitens: Treten Sie als Bundesregierung konkret dafür ein, dass diesen Beamtinnen und Beamten eine Zulage bezahlt wird, und, wenn ja, in welcher Form, also pauschaliert für die Tätigkeit an sich oder pauschaliert für jeden einzelnen Flug oder abgerechnet nach den jeweiligen Einsatzstunden? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie vorhin gesagt: Die Bundespolizisten leisten einen super Job. – Dann freuen sie sich sicherlich auch, wenn sie eine entsprechende Anerkennung für ihre Mehrarbeit bekommen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Minister, wollen Sie antworten?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Präsident, Sie entscheiden. Ich würde darum bitten, dass Herr Kollege Krings antwortet.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Dann machen wir das so.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Herr Präsident! Herr Kollege, vielen Dank für die Frage. Zunächst einmal: Sie haben insinuiert, dass wir nicht ausreichend Personenbegleiter Luft finden würden. Dazu will ich deutlich sagen: Auf jedem Flug, der stattfindet, sind mindestens – auch aktuell – so viele Personenbegleiter Luft anwesend wie Abzuschiebende. Es kann sein, dass noch zusätzliche Polizeivollzugsbeamte ohne diese besondere Ausbildung dabei sind. Das will ich nur vorwegschicken. In der Tat ist die Entscheidung, die Sie anmahnen, noch nicht getroffen; aber es gibt Überlegungen dazu. Ich kann noch nicht sagen, in welcher Weise das erfolgt. Ich persönlich werde mich sehr dafür einsetzen, dass wir hier zu einer Zulage kommen; aber die Überlegungen sind noch nicht abgeschlossen. Es wurde noch keine Entscheidung getroffen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Letzte kurze Frage: der Kollege Christian Jung.

Dr. Christian Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004769, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Minister, es gab in der vergangenen Woche eine Klausurtagung des Aufsichtsrats der Deutschen Bahn. Wir alle hier im Parlament versuchen ja, dass die Deutsche Bahn besser wird, dass mehr Menschen und Güter transportiert werden. Was mich als Berichterstatter für den Bundesverkehrswegeplan und für Bahninfrastruktur insgesamt sehr fasziniert, ist, dass der Vorstand der Deutschen Bahn, Herr Dr. Lutz und vor allem Herr Pofalla, es nicht geschafft haben, dort einen Zukunftsplan vorzulegen, der dann auch vom Aufsichtsrat verabschiedet worden ist. Wie beurteilen Sie diese Lage der Deutschen Bahn? Warum, meinen Sie, konnte dieser Zukunftsplan nicht jetzt schon verabschiedet werden?

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Minister.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Kollege, ich habe keine Kenntnisse über die Sitzung des Aufsichtsrats der Deutschen Bahn AG und frage, Herr Präsident, ob ich das Verkehrsministerium bitten darf, dazu Stellung zu nehmen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gut. Dann beende ich an dieser Stelle die Befragung der Bundesregierung. Wir kommen zum nächsten Tagesordnungspunkt.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Die Antwort war Nein, Herr Kollege. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Minister, wir haben alles verstanden. Vielen Dank.

Dorothee Mantel (Gast)

Politiker ID: 11003586

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal vielen herzlichen Dank an die Fraktionen der Koalition, dass sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben. Es gibt uns noch mal die Möglichkeit, zu schauen, was im Moment digitalpolitisch los ist. Wir hatten heute schon spannende Themen. Zum einen haben wir erfahren, dass die CEBIT nächstes Jahr nach über 30 Jahren eingestellt wird. Ich habe vorhin im Netz gelesen, dass man das als Mitglied der Bundesregierung nicht begrüßen darf. Ich sage ganz offen: Ich finde es richtig, zu bestimmten Zeiten auch mal den Stecker zu ziehen und zu fragen: Welche Geschäftsmodelle haben sich überholt? Was hat sich bewährt? Versucht man, neue Wege zu gehen? Versucht man, an der einen oder anderen Stelle das Thema Digitalisierung im Messebereich oder auf andere Art neu darzustellen? Ich glaube schon, dass es für unseren Messestandort auch eine Chance sein kann und dass es, weil wir in den Messen da weltweit führend sind, mehr Licht als Schatten gibt. An dieser Stelle möchte ich mich für 30 spannende Jahre, die ich nicht immer, aber viele davon persönlich vor Ort erleben durfte, bei allen bedanken, die zum Erfolg in Hannover beigetragen haben. ({0}) Wir haben heute im Kanzleramt die Grundprinzipien des „Contract for the web“ gezeichnet. Gemeinsam mit meiner Kollegin Katarina Barley haben wir uns entschieden, diesen Weg mitzugehen, um uns eine „Magna Charta für das Internet“ zu geben. Ich habe heute der World Wide Web Foundation auch zugesichert, dass die Unterschrift nur der Beginn war. Wir werden uns jetzt in den Arbeitsprozess einbringen und selbstverständlich auch vor Ort sein und natürlich an allen Calls, an allen Arbeiten teilnehmen. Ganz herzlich darf ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausschuss Digitale Agenda bedanken, die heute vor Ort waren und das Ganze mit unterstützt haben. Es geht nicht nur darum, eine engere Verzahnung zwischen uns, zwischen dem Parlament, der Wirtschaft und der Wissenschaft zu haben. Heute wurde auch ganz besonders deutlich, wie stark wir alle in die Bevölkerung hineinwirken müssen, damit jede Bürgerin und jeder Bürger sich als Teil einer digitalen Bewegung sieht, die das Internet so gestaltet, wie es vom Erfinder Tim Berners-­Lee gedacht war: nämlich das Beste für die Menschen zu erreichen und das Schlechteste in dem Bereich einzudämmen. Ich glaube, wir sind in Deutschland auf einem sehr guten Weg. ({1}) Wir haben in den letzten sechs Monaten sehr viel neu gemacht – nicht nur durch die Schaffung meiner Position, sondern ganz besonders durch die Schaffung des Digitalkabinetts. Ich muss sagen: Ich bin ganz begeistert, in welcher Art das Digitalkabinett tagt, nicht nur bei den Sitzungen im Kanzleramt, sondern ganz besonders vor zwei Wochen, als wir uns zwei ganze Tage Zeit genommen haben, um in Rahmen einer Klausurtagung zu tagen. Es war richtig, dass wir uns entschieden haben, nicht ins altehrwürdige Meseberg zu gehen. Stattdessen waren wir im Hasso-Plattner-Institut und haben uns vom HPI eine Menge zeigen lassen. Wir haben uns aber nicht nur mit uns selbst beschäftigt, sondern hatten – so war unsere Tagesordnung – ein weiteres Gremium eingeladen, nämlich die beiden Vorsitzenden der Datenethikkommission. Zudem hatten wir hatten Gespräche mit europäischen Nachbarn, von denen wir viel lernen können – leider nicht in jedem Fall; Stichwort „Brexit“. Wir hatten Gäste aus Großbritannien eingeladen, die uns spannende Einblicke in den Bereich der digitalen Verwaltung gegeben haben. Vom Government Digital Service in London, der seit vielen Jahren besteht, waren wir beeindruckt. Aber wir hatten auch unseren neugegründeten Digitalrat zu Gast und hatten alle Mitglieder des Digitalrats – ich sage es mal ein bisschen flapsig – auf die Mitglieder der Bundesregierung gehetzt. Warum? Weil ich glaube, dass nur in diesem Austausch miteinander, in diesem Sparring und in dem Antreiben wahnsinnig viel entstehen kann. Das war auf jeden Fall eine sehr gewinnbringende Begegnung. Das Schöne beim Digitalkabinett ist, dass sich jede einzelne Bundesministerin, jeder einzelne Bundesminister bei jedem Thema einbringt und auch das eigene Haus als Digitalministerium empfindet. Ich hoffe, dass wir noch sehr viele Veranstaltungen dieser Art haben werden, damit sich auch die Bundesregierung als Ganzes als digitale Regierung sieht. Es geht Schlag auf Schlag weiter. Nächste Woche findet der Digital-Gipfel statt. Unter anderem war der Anlass zur Aktuellen Stunde, über diese ganzen digitalpolitischen Maßnahmen noch mal zu sprechen. Und auch da möchte ich mich ganz herzlich beim Bundeswirtschaftsministerium, besonders beim Bundeswirtschaftsminister bedanken. Die Zusammenarbeit zwischen dem Bundeskanzleramt und dem federführenden Bundeswirtschaftsministerium ist hervorragend – wie auch die Zusammenarbeit mit allen anderen Häusern. Wer sich das Programm – das Angebot, die Themen, die da bespielt werden – schon mal angeschaut hat, wird feststellen: Der Digital-Gipfel wird sicherlich in der nächsten Woche ein Highlight werden. Die persönliche Anmerkung sei mir gestattet: Ich freue mich, dass er in Nürnberg stattfindet. Ich schreibe mir das jetzt gar nicht auf die Fahne; aber es ist schön, dass wir in Franken den Digital-Gipfel nächste Woche erleben werden. Ich hoffe, dass viele auch da sind. Ich habe festgestellt habe, dass es an der einen oder anderen Stelle eine kommunikative Verwirrung gab; deswegen darf ich mit dem digitalpolitischen Thema der Stunde beginnen, das man diese Woche nicht aussparen darf: 5G. Bei diesem Thema ist meines Erachtens in den letzten Tagen viel durcheinandergegangen. Anders als es vielfach wahrgenommen wurde, gibt es keinen Streit um das Ziel. Wir wollen nach wie vor 5G-Leitmarkt werden, und wir wollen natürlich flächendeckend 5G. Ich denke, das ist selbstverständlich, da widerspricht sich niemand in den Aussagen. Und selbstverständlich benötigen wir eine zukunftsfähige Mobilfunkversorgung, weil wir alle Regionen, alle Haushalte, alle Unternehmen gleichermaßen von der Digitalisierung profitieren lassen wollen – und selbstverständlich nicht nur in den großen Ballungszentren, sondern ganz besonders da, wo es am dringendsten notwendig ist, nämlich im ländlichen Raum. Deswegen ist für uns die kommende Frequenzversteigerung ein erster sehr wichtiger Baustein für den Einstieg in diese 5G-Technologie. Dabei vergessen wir den ländlichen Raum nicht. Ganz im Gegenteil: Es werden jetzt auch Frequenzen exklusiv für innovative Industrieanwendungen zur Verfügung gestellt. Das ist mir sehr wichtig, auch für unsere sogenannten Hidden Champions; wobei ich es schöner fände, wir würden sie nicht mehr „Hidden Champions“ nennen, weil wir sie ja nicht verstecken, sondern eigentlich ins Schaufenster stellen wollen. Wir haben bundesweit großartige kleine und mittelständische Unternehmen, die auch diese Frequenzen nutzen können. Zum Thema „5G an der Milchkanne und in der Ackerfurche“: Das ist heute schon möglich. Sie können sich darauf verlassen, dass die Bundesregierung daran arbeitet, Deutschland zum 5G-Leitmarkt zu machen. ({2}) Wir haben auch viel zum Thema „künstliche Intelligenz“ gehört. Wir haben eine Regierungsstrategie für „KI made in Germany“ beschlossen, um moderne und sichere, gemeinwohlorientierte KI-Anwendungen, auch auf Basis unseres europäischen Wertekanons, ins Leben zu rufen, weil wir auch sehen, dass die volle Entwicklung des KI-Potenzials bei der Wirtschaft und in der Forschung liegt. Unsere Aufgabe ist es, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, unsere sehr gute Ausgangsposition zu stärken – gerade in der Grundlagenforschung. Das wird uns auch von allen Forscherinnen und Forschern so beschrieben, das bestätigen die Universitäten; aber wir müssen natürlich auch noch an den Ausgründungen arbeiten und da noch etwas mehr Unternehmer- und Gründergeist wecken. Wir werden auch mindestens noch 100 zusätzliche KI-Professuren an unseren Hochschulen schaffen. In einem ersten Schritt werden wir 3 Milliarden Euro investieren. Wir wollen aber auch, dass diese 3 Milliarden Euro noch aufgestockt werden: Das heißt, aus der Wissenschaft, aus der Wirtschaft wird es – konservativ gerechnet – mindestens noch mal zu einer Verdoppelung der Mittel kommen. Daran werden wir in den nächsten Jahren arbeiten. Bei dem Transfer der Anwendungen in der Industrie können wir meines Erachtens noch eine Schippe drauflegen, sodass wir die noch zu schwache Dynamik beim Wachstums- und Gründungsgeschehen stärken können. Deswegen werden wir nächste Woche diese KI-Strategie, für die wir im Sommer die Eckpunkte vorgestellt haben und die wir auf unserer Klausurtagung verabschiedet haben, auf dem Digital-Gipfel vorstellen; denn sie ist ein ganz zentraler Baustein unserer Umsetzungsstrategie. Ich will abschließend – irgendwie dachte ich: neun Minuten dauern länger; ({3}) haben Sie was getrickst, Herr Präsident? nein! es kommt mir vor, als wären es drei Minuten gewesen – noch das Thema „moderner Staat“ ansprechen. Das liegt mir sehr am Herzen; denn wir können nicht nur sagen, was die Wissenschaft und die Wirtschaft leisten müssen, sondern wir müssen uns auch fragen: Was können wir selber tun? Ich freue mich, dass unser Onlinezugangsportal seit dem 20. September in einer Betaversion – revolutionär in Deutschland – verfügbar ist, die alle Bürgerinnen und Bürger agil testen können – einige wenige Anwendungen; der Bund und auch einige Bundesländer. Mein Wunsch wäre, dass wir es schaffen, so modern auch in der Verwaltung zu sein, dass wir nicht den typisch deutschen Weg gehen und immer 110 Prozent nicht machen, sondern mal mit 80 Prozent anfangen und es dann hochskalieren. Das ist auf jeden Fall unser Ansatz. Unser Ziel ist es, dass alle Verwaltungsdienstleistungen 24/7 vom Sofa aus erreicht werden können. Mein ganz persönlicher großer Wunsch ist – auch daran arbeite ich jeden Tag –, dass das nicht erst 2022 der Fall ist. Wir können also noch ehrgeiziger werden. Vielen Dank. Ich freue mich auf die Diskussion. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Nächster Redner ist Uwe Schulz für die AfD. ({0})

Uwe Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004888, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, nächste Woche findet er statt, der Digital-Gipfel des Wirtschaftsministers. Dazu die heutige Aktuelle Stunde – so viel Selbstmarketing muss und darf erlaubt sein. Aber auch die AfD ist guter Dinge; denn das Ministerium schreibt treffend: Digitalisierung betrifft uns alle – Unternehmen wie Bürgerinnen und Bürger, Wissenschaft wie Gesellschaft. Das stimmt – gut erkannt! Das sehen wir exakt genauso. Diese Einsicht ist die Grundlage, um digitale Zukunft erfolgreich zu gestalten. Es wird auch höchste Zeit, dass sich etwas bewegt; denn bisher befand sich die Bundesregierung eher im permanenten Ankündigungsmodus. Daher schneidet Deutschland in den internationalen Vergleichen zu Innovation und Digitalisierung nicht gut ab. Aber das ist ja kein Wunder; denn hört man genau hin, erkennt man, dass Politiker unter „Digitalisierung“ eher so etwas verstehen wie das Einscannen von alten Familienfotos, von Papierbildern, die aus dem analogen Schuhkarton entsorgt werden, um ihr weiteres Dasein auf einem digitalen Speichermedium zu fristen. In vielen Ländern hat man aber verstanden, dass Digitalisierung viel mehr ist. Digitalisierung ist dort eine Geisteshaltung, ein – wie es auf Neudeutsch heißt – Mindset, um die Bürger auf das Neue vorzubereiten, um sie mitzunehmen. Bei uns glauben einige, man könne die Digitalisierung nach Belieben anhalten oder einfach mal entschleunigen, etwa dann, wenn man es nicht schafft, die notwendigen Rahmenbedingungen zu setzen. Aber nein, meine Damen und Herren, es gibt keinen Ausstieg aus der Digitalisierung, auch dann nicht, wenn das ganze neumodische Zeug zu gefährlich zu werden droht. Daher ist Mut gefragt. Die Politik muss endlich die richtigen Akzente setzen. Vor allem muss sie Klartext darüber reden, dass nur derjenige mitgenommen werden kann, der versteht, was um ihn herum geschieht. ({0}) Da sind wir wieder beim Mindset, bei der Geisteshaltung, die jeder Einzelne von uns entwickeln muss, wenn er Digitalisierung leben will. Meine Damen und Herren, Deutschland hat an Bodenhaftung verloren. Demut ist ein Fremdwort geworden, und die, die sich Elite nennen, fühlen sich moralisch so schön überlegen – immer und überall. Kaum einer dieser Leute nimmt wahr, dass unser Land mittlerweile eher belächelt oder verspottet wird. Auch beim Thema „Innovation“ und bei der Digitalisierung ist das so. So sagt etwa die österreichische Wirtschaftsministerin Schramböck im „Spiegel“: Was die Digitalisierung angeht, sind wir Österreicher die besseren Deutschen Tatsache ist: Die Österreicher haben es weitaus besser verstanden als die Deutschen, die Digitalisierung als Summe vieler innovativer Werkzeuge zu nutzen. Die Verwaltung dort funktioniert weitgehend über digitale Anwendungen – vom Rechtswesen bis zum Bürgerservice online. Für Unternehmen gibt es eigene Lösungen. Selbst Gründungen via Internet sind möglich. Und das Beste: Alle Portale laufen übergreifend für den Bundesstaat Österreich und alle neun Bundesländer – und das, obwohl auch in Österreich föderale Strukturen herrschen, die ja in Deutschland so gerne als Ausrede für die Unmachbarkeit genutzt werden. Föderale Zwänge? Überwunden, meine Damen und Herren: Österreich, du machst es besser. Weitere Beispiele für digitalreife, für wirklich innovative Länder finden sich zuhauf. Diese Länder haben gemeinsam, dass sie einen konstanten Weg der Optimierung gehen. Sie verschlanken sich kontinuierlich und sehen Digitalisierung als gewollte Innovation. Geschickt agieren die Politiker dieser Länder. Sie digitalisieren von oben nach unten. Sie beginnen mit den originären Abläufen der Staatsverwaltung und bieten innovative Lösungen aus ihrem eigenen Kompetenzgebiet. Sie erzeugen Vorbildwirkung, wie es jede gute Führungskraft tut. Im Gegenzug erkennt der Anwender einen Nutzen und einen Wert und versteht irgendwann, dass Digitalisierung mehr ist, als auf einem iPhone rumzudaddeln. So entsteht der digitalreife Bürger, der Mensch mit zukunftsfähiger Geisteshaltung. So entwickelt sich auch innovatives Unternehmertum. Aber dazu braucht es wirklich politische Führungskräfte – keine Verwalter und keine Bürokraten. Ich komme zum Ende. Es ist klar: Ein Land wie das unsrige ist hoch kompliziert, und nicht alles, was woanders funktioniert, klappt auch bei uns. Aber es ist wie überall: Alles fängt im Kopf an, Stichwort „Geisteshaltung“. Und wenn ich dann höre, wie eine Staatssekretärin am vergangenen Montag in einer Anhörung der Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ sagt: „Wir sind im Ministerium noch nicht so weit, wir haben erst wenige Gesetze dazu gemacht“, dann sage ich nur: Digitalisierung kann man nicht per Gesetz anordnen. Ganz klar: Falsches Mindset der Person! Ganz klar: Falsche Führungskraft! So gestaltet man die digitale Zukunft jedenfalls nicht erfolgreich. Aber schauen wir mal, was nach dem Digital-Gipfel passiert. Vielen Dank. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Jens Zimmermann. ({0})

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde, die CDU/CSU und SPD beantragt haben, bildet quasi den parlamentarischen Auftakt zum Digital-Gipfel, der in der kommenden Woche in Nürnberg stattfindet. Wenn ich mir anschaue, wie viele parlamentarische Debatten wir seit der Sommerpause zum Thema Digitalisierung hatten, wenn ich mir anschaue, wie viele Aktivitäten die Bundesregierung seit März entwickelt hat, dann muss ich sagen: Das Ziel, die digitale Zukunft in Deutschland erfolgreich zu gestalten, ist ein großes Ziel, eine wichtige Aufgabe. Aber wir sind in dieser neuen Koalition auf einem sehr guten Weg. Das heißt nicht, dass keine Aufgaben mehr vor uns liegen, aber das heißt, dass wir unser Licht nicht unter den Scheffel stellen sollten, dass wir da, glaube ich, besser sind, als das manche immer darstellen wollen. Es wurden einzelne Punkte herausgegriffen. Wir hatten gerade eben im Ausschuss Digitale Agenda eine Anhörung zum Thema Blockchain. Das ist eine wichtige Technologie. Da gibt es spannende neue Felder. Ein Punkt ist mir dabei wichtig: Wenn wir die digitale Zukunft in Deutschland erfolgreich gestalten wollen, dann müssen wir auch Antworten auf die Frage liefern und ein Bild davon entwickeln, wie diese Zukunft aussehen soll. Denn es ist am Ende des Tages zu wenig, wenn wir einfach so durch die Gegend laufen à la „Digitalisierung ist für alle gut“. Das ist nicht so. Es gibt auch viele Menschen da draußen, die Angst vor Digitalisierung haben, die Sorge haben, dass es am Ende auch ihren Arbeitsplatz erwischen könnte. Das ist keine Frage des Mindsets, sondern ich finde: Das ist berechtigt. Wir haben in der Geschichte unseres Landes immer wieder Strukturwandel erlebt. Wir haben es auch immer wieder geschafft, Strukturwandel zu meistern. Aber es wäre falsch, zu suggerieren, dass wir das einfach mal mit links machen. So ist es nämlich nicht. Deswegen sagen wir als SPD-Bundestagsfraktion: Es ist entscheidend und es ist wichtig, dass wir diese Ängste, die es auch gibt, ernst nehmen. ({0}) Wir haben dazu – ich habe es schon gesagt – gemeinsam mit dem Koalitionspartner in der Bundesregierung viele Dinge auf den Weg gebracht. Gerade heute haben wir – die Staatsministerin hat es gesagt – den „Contract for the web“ unterzeichnet. Wir waren mit dem Ausschuss beim Internet Governance Forum in Paris. Das sind wichtige Dinge, weil die Zukunft des Netzes, die Zukunft der Digitalisierung natürlich international entschieden wird, auch durch Standardisierung. Es ist eben sehr wichtig, dass wir uns da einmischen. Deswegen begrüße ich es ausdrücklich, dass das Internet Governance Forum im nächsten Jahr in Deutschland, in Berlin, stattfinden wird. Das ist seit der UN-Klimaschutzkonferenz in Bonn die erste UN-Konferenz, die in Deutschland stattfindet. Auch das ist ein ganz wichtiges Signal. Wir haben aber darüber hinaus uns auch mit Fragen der Infrastruktur zu beschäftigen. Gerade diese Woche haben wir uns sehr intensiv über das Thema der Vergabe der 5G-Lizenzen gestritten. Wenn ich mir anschaue, wie die einzelnen Aussagen dazu so rüberkommen, meine ich: Wir sind da nicht auf dem schlechtesten Weg. Wenn die einen sagen: „Das ist immer noch nicht genug“ und die Netzprovider sagen: „Das ist alles viel zu viel, eigentlich müssten wir jetzt noch Geld bekommen, damit wir das ausbauen“, dann zeigt das, dass wir, was die Austarierung angeht, glaube ich, ganz gut unterwegs sind. Morgen werden wir hier im Deutschen Bundestag versuchen, das Grundgesetz zu ändern, um eine bessere Kooperation bei der digitalen Bildung zu ermöglichen. Und da bin ich wieder an dem Punkt, dass wir die digitale Zukunft auch gestalten müssen. Bildung ist dabei ganz entscheidend. Ich finde es gut und richtig, dass der Bund, wenn die Grundgesetzänderung hier beschlossen ist und wenn sich der Bundesrat – ich sehe einmal in Richtung Baden-Württemberg, liebe Grünen – am Ende auch einen Ruck geben wird, endlich Geld zur Digitalisierung der Schulen bereitstellen kann. Morgen ist hoffentlich ein guter Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Wir haben darüber hinaus eine ganze Menge weiterer Themen. Die Staatsministerin hat es schon angesprochen: Wir haben die Umsetzungsstrategie zur Digitalisierung, und wir haben die KI-Strategie. Wir diskutieren intern gerade darüber, wie es mit der Blockchain-Strategie weitergeht. – Es ist sehr viel auf den Weg gebracht worden. Anders, als es die Kritikerinnen und Kritiker immer sagen, ist es auch mit ordentlich Geld unterlegt. Ich akzeptiere es, wenn gleich jemand an das Rednerpult treten und sagen wird: Ja, aber es könnte immer noch mehr sein. – Ja, das ist richtig. Es könnte immer noch mehr sein. ({2}) Aber wir machen das, und ich finde, wir sind auf einem sehr guten Weg. Deswegen fahre ich auch mit einem guten Gefühl zum Digital-Gipfel nach Nürnberg. Herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Abgeordnete Manuel Höferlin. ({0})

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Anlass dieser Aktuellen Stunde ist der IT-Gipfel in der kommenden Woche in Nürnberg. Wenn ich sehe, wie viele Gesprächsrunden, Räte und Gipfel es in Deutschland allein zur Digitalisierung in der letzten Zeit gab, habe ich manchmal den Eindruck: Wir haben mehr Gipfel als die Schweiz, aber schlechtere Netzabdeckung als Rumänien. So kann das aber nicht bleiben. ({0}) Nachdem die CEBIT heute leider das Aus verkündet hat, ist der IT-Gipfel in der nächsten Woche die letztverbleibende Messe, bei der die Bundesregierung die Projekte, die sie vorhat, vorstellen kann. Es ist interessant, wie die Wortwahl in der vorherigen Einlassung war. Ich höre zum Beispiel, dass immer wieder gesagt wird: „Wir wollen das und das machen“, oder: „Wir sind auf einem guten Weg“. Ich stelle fest, dass es der Bundesregierung an vielen Stellen gar nicht an einer hervorragenden und präzisen Problemanalyse mangelt. Ich habe den Eindruck, dass sowohl der Koalitionsvertrag als auch die Digitalisierungspapiere, die entstehen, hervorragende Problemanalysen sind. ({1}) Nur leider mangelt es an Konsequenzen daraus und vor allen Dingen – das ist das Entscheidende – an der Umsetzung einer Strategie, die koordiniert quer durch alle Gebiete läuft. ({2}) Wenn wir uns die Umsetzungsstrategie anschauen, die auf dem IT-Gipfel wahrscheinlich präsentiert wird, dann gibt es dort 111 Einzelvorhaben in 13 Ministerien mit – ich weiß nicht, ob es 111 sind – vielen unterschiedlichen Zeitplänen. Das ist genau das, was wir in den letzten Jahren immer – übrigens fraktionsübergreifend – festgestellt haben: dass wir zu viele Einzelvorhaben haben, die nicht koordiniert laufen. Ich erwarte auch von der Bundesregierung, dass diese Prozesse nachher gesteuert werden. Das ist die Aufgabe, die die neue Koalition – der Kollege Zimmermann hat sie so genannt – leisten wollte, nämlich eine neue Koordination an einer zentralen Stelle. Ich habe manchmal den Eindruck, dass dies immer noch nicht gelingt, und wir beobachten sehr genau und sehr präzise, was hier passiert. Glauben Sie denn wirklich – um auf einige Projekte einzugehen –, dass Sie mit dieser Analyse und den mangelnden Umsetzungsplänen die Verwaltung mit allen Leistungen bis 2022 digital umstellen können, wenn Sie es in den letzten fünf Jahren noch nicht einmal geschafft haben, zehn Prozesse zu digitalisieren? Glauben Sie denn wirklich, dass sich Prozesse dadurch digitalisieren lassen, dass Sie eine Suchmaschine über nicht vorhandene Verwaltungsdienstleistungen installieren? ({3}) Das ist nicht die Lösung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man so wirklich weiterkommt. Kommen wir zum Punkt „gigabitfähige Netze der Zukunft“. Das Thema 5G-Netze ist angesprochen worden. Mal ganz abgesehen davon, dass die Diskussion schräg ist und manchmal an den Problemen vorbeiläuft! Wir reden bei der aktuellen 5G-Versteigerung ja gar nicht über Flächendeckung, sondern über hochbreitbandige Netze in Zentren; das wird oftmals falsch kommuniziert. Aber das ist doch das Netz der Zukunft. Selbstverständlich müssen wir einen Plan haben, wie wir die 5G-Netze in die Fläche bekommen. Dass es mit diesen Frequenzen nicht geht, sieht jeder Techniker sofort ein. Aber es muss doch einen Plan geben, und den gibt es nicht. ({4}) – Nein, den gibt es nicht. Die nächsten 5G-Frequenzen, die frei werden, sind 2025 frei. – Das ist der Plan der Zukunft; aber wenn das Ihr Plan ist, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, dann ist es ein schlechter Plan. ({5}) Bei der KI-Strategie – das wurde bei ihrer Vorstellung deutlich – geht es im Kern darum, mehr Geld in Forschung zu stecken. Da liegt aber nicht das Problem, das wir in Deutschland haben. Unser Problem liegt nicht in der Umsetzung von Forschung in noch mehr Forschung, sondern in der Umsetzung von guter Forschung in das Doing. Wir müssen das endlich auf die Kette kriegen. ({6}) Sie hätten also mehr Geld in den Transfer stecken müssen. Es mangelt also an einer Gesamtstrategie. Viele wissen es hier – ich sage es noch einmal –: Ich glaube, dass die Digitalpolitik strukturell falsch aufgestellt ist. Wir haben es vorgeschlagen und tun es immer wieder: Wir brauchen ein Digitalministerium, ({7}) das sowohl steuert als auch koordiniert und eigentliche Verantwortlichkeiten zusammenführt. Wenn der digitale Wandel gelingen soll, dann müssen wir eine Strategie, einen Gesamtplan samt Umsetzungs- und Zeitplan entwickeln. Ich spreche hier gerne von Projekten; denn sie haben – viel stärker als Gesetzgebungsverfahren – einen zeitlichen Kontext. Damit solche Projekte umgesetzt werden können, müssen sie aus einem Guss sein und wirklich aufeinander abgestimmt werden. Wir brauchen nicht 111 Einzelprojekte. ({8}) Liebe Freunde von der Großen Koalition, hören Sie in Ihren Reihen nicht auf diejenigen, die glauben, 5G müsse nicht an jeder Milchkanne verfügbar sein. Auch in Ihren Reihen gibt es Menschen, die Visionen haben und bereit sind, Pläne zu machen. Sie sprechen manchmal über Flugtaxis. Ich bin sicher, auch die werden bald fahren; ({9}) zumindest werden sie hier entwickelt und fliegen dann irgendwo anders in der Welt. Wenn wir Glück haben, werden sie irgendwann auch hier fliegen. Wir als Freie Demokraten im Bundestag werden Ihnen jedenfalls weitere gute Ideen liefern. ({10}) Sehen Sie uns als Serviceopposition an. Wir empfehlen Ihnen unsere Positionspapiere und Anträge der nächsten Zeit. Darüber werden wir dann reden können. Herzlichen Dank. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die Kollegin Anke Domscheit-Berg. ({0})

Anke Domscheit-Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004703, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Aktuelle Stunde widmet sich dem Digital-Gipfel, bei dem kommende Woche die Bundesregierung der Industrie ihre Strategien zur künstlichen Intelligenz und zur Umsetzung der Digitalen Agenda präsentiert. Für die Zivilgesellschaft gibt es einen solchen Gipfel nicht; Digitalisierung betrachtet die Bundesregierung primär aus der Sicht der Wirtschaft. Weil die Zivilgesellschaft kaum Beteiligungsmöglichkeiten bekommt, kann sie ihre Perspektive auch nicht einbringen, und die Folge ist das Fehlen einer klaren Gemeinwohlorientierung. ({0}) Das größte Problem ist allerdings, dass der Strategie der Bundesregierung keine Vision zugrunde liegt, welche Art digitaler Gesellschaft sie damit eigentlich erreichen möchte. Genau genommen fehlt selbst die Strategie. Man muss nicht, wie ich, jahrelang Strategieberaterin gewesen sein, um zu wissen, dass ein Papier nicht dadurch zur Strategie wird, dass jemand „Strategie“ obendrauf schreibt. ({1}) Was uns als Strategie zur Umsetzung der Digitalen Agenda vorgelegt worden ist, grenzt an intellektuelle Beleidigung. Kein roter Faden verbindet die Themenfelder, keine Systematik strukturiert ihren Inhalt, den Schlagwörter und Allgemeinplätze prägen. Inhalte wie Netzneutralität, Open Access oder Governance-Strukturen fehlen, dafür gibt es 22‑mal „Blockchain“, 40‑mal „künstliche Intelligenz“ und 56‑mal den besonders nichtssagenden Begriff „Cyber“. ({2}) Man kommt sich vor wie im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“, wenn mal wieder große Ziele verkündet werden, die sich inzwischen anhören wie die drölfzigste Ankündigung der Eröffnung des Flughafens BER. Man kann sie einfach nicht mehr glauben. ({3}) Bis vor zehn Jahren war ich viele Jahre Unternehmensberaterin mit Schwerpunkt E‑Government. Ich war begeistert, als im Jahr 2000, dem Geburtsjahr meines Sohnes, die Bundesregierung beschloss, bis 2005 alle internetfähigen Dienstleistungen der Bundesverwaltung online zu stellen. 2004 – mein Sohn war inzwischen vier Jahre alt – stieß ich bei der Bundesagentur für Arbeit das Vorhaben „Kindergeld online“ an, dessen erste Stufe noch im Ausfüllen eines Onlineformulares, Ausdrucken, Unterschreiben und Briefabschicken bestand; die zweite Stufe sollte papierlos sein. Mein Sohn ist inzwischen volljährig; „Kindergeld online“ erfordert immer noch einen Brief mit Ausdruck, Unterschrift usw. Das ist der Fortschritt von 18 Jahren. ({4}) Man nannte uns früher das Land der Ideen; jetzt nennt uns der „Spiegel“ in seiner aktuellen Ausgabe das Land der Wartemarken. ({5}) Andere nennen uns das Land der Funklöcher, der Kupferkabel und der Bildung, die in der Kreidezeit stecken geblieben ist. ({6}) Apropos Funklöcher. Im Beirat der Bundesnetzagentur, dem ich angehöre, haben wir am Montag die Forderung verabschiedet, die Bundesregierung möge gemeinsam mit Bundesnetzagentur, Bundesrat und Bundestag ein Gesamtkonzept zum Mobilfunknetzausbau erarbeiten; das gibt es nämlich auch noch nicht. Und weil es keins gibt, kommt auch kein nationales Roaming für 5G, ({7}) also die Möglichkeit, dort, wo mein Telekomanbieter kein Netz hat, das Netz eines anderen Anbieters zu nutzen. Und weil es auch früher keine Strategie dafür gab, sollen die Auflagen der Bundesnetzagentur für die 5G-Lizenzversteigerung Funklöcher im 4G-Flickenteppich stopfen. ({8}) Die Bundesregierung erklärt, Deutschland zum Leitmarkt für 5G machen zu wollen, aber nennt wie die Bundesnetzagentur in ihren 5G-Versteigerungskriterien nicht ein einziges Ziel, bis wann und wo sie eine 5G-Versorgung erreichen will. Mit dieser Nichtstrategie wird die Bundesregierung Deutschland genauso zum 5G-Leitmarkt machen, wie sie das beim Glasfaserausbau geschafft hat – also gar nicht. ({9}) Sie ist gut darin, Papier mit Buzzwords vollzuschreiben und Gremien zu gründen, aber sie ist kurzsichtig in der Planung und frei von Visionen. So werden brennende soziale Fragen unzureichend oder gar nicht adressiert. ({10}) Gestern Abend erzählte mir ein Vorstandsmitglied eines Industrieunternehmens, dass er 3 800 Gabelstaplerfahrer entlassen muss, weil zur Industrie 4.0, dem Vorzeigeinnovationsbereich Deutschlands, eben auch autonome Gabelstapler gehören. Laut Bundesagentur für Arbeit gibt es zurzeit 68 000 Gabelstaplerfahrerinnen und Gabelstaplerfahrer in Deutschland, die das gleiche Schicksal erwartet. 800 000 Berufskraftfahrerinnen und Berufskraftfahrer kommen eines Tages dazu, weil autonome Autos sie ersetzen. Was tut die Bundesregierung, um sich diesen Folgen der Digitalisierung zu stellen? ({11}) Plant sie ein Pilotprojekt für ein bedingungsloses Grundeinkommen, ja oder nein? Das wüsste ich gerne mal. ({12}) – Traurig, traurig. – Denkt sie über eine grundlegende Bildungsreform nach für echtes lebenslanges Lernen? Wie will sie Menschen die Zukunftsangst nehmen? Sie werden doch kaum leugnen, dass die vorhanden ist. Ich frage mich, woran es liegt, dass diese Themen ignoriert werden: an der Orientierung, an kurzfristigen Umfragen, an mangelnder Kompetenz, an fehlendem Weitblick, an allem zusammen? ({13}) Ich weiß es nicht. Beim Digital-Gipfel wird das alles jedenfalls auch wieder nicht passieren. Es wird Dialoge geben. Uns als Linksfraktion reicht das aber nicht. ({14}) Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen nicht ins Strafrecht gehören. § 219a gehört endlich abgeschafft. ({15}) Vielen Dank. ({16})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dieter Janecek von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Die Nachrichten der letzten Tage sind vielleicht ein wenig ein Sinnbild für den Zustand der Digitalisierung in Deutschland: Die Bundesregierung hat erst vor kurzem – so war es zumindest zu vernehmen – das Ziel aufgegeben, im ländlichen Raum für ein schnelles mobiles Internet zu sorgen, Stichwort „Milchkanne und 5G“. Heute ist zu lesen: Die CEBIT gibt auf. Manche von uns waren vor 20 Jahren schon dort und haben vielleicht etwas Wehmut. Das ist aber auch ein Zeichen dafür, was nicht mehr funktioniert. Die schlechteste Nachricht – da müssen Sie sich jetzt ganz tapfer in die Augen schauen – ist aber: Unser E-Government-Minister heißt Horst Seehofer. ({0}) Während die österreichische Wirtschaftsministerin durchs Land zieht und uns – ich würde nicht sagen: fast schon verhöhnt – einen kleinen Wink gibt, wie man die digitale Verwaltung gestalten und aufs Smartphone bringen könnte, was irgendwie auch plausibel ist, ist Horst Seehofer unser E-Government-Minister. Mein Eindruck in den ersten Monaten seiner Amtszeit war, dass er andere Prioritäten hatte – und das ist noch eine höfliche Beschreibung des Drives, der in diesem Bereich herrscht. ({1}) Ich glaube, wenn wir die Digitalisierung nicht deutlich ambitionierter gestalten, dann werden wir von ihr gestaltet. Dieser Problematik müssen wir uns ernsthaft stellen. Unsere Souveränität als Staat und Gesellschaft, unsere Freiheit und Mündigkeit als Bürgerinnen und Bürger, Wertschöpfung und Arbeit, ökologische Chancen und Risiken, soziale Schieflagen – all das wird wesentlich davon abhängen, ob und wie wir die digitale Transformation gestalten. Schauen wir uns einmal die einzelnen Felder an: Beim Thema KI haben wir jetzt eine Strategie; so wird es zumindest genannt. 3 Milliarden Euro werden ausgegeben. Das ist das Versprechen. ({2}) – Zusätzlich zu dem, was heute für die Grundlagenforschung ausgegeben wird. – Natürlich hat man da, wenn man nach China oder in die USA schaut, Tränen in den Augen; da halten wir nicht mit. Die Problematik bei dieser Technologie ist aber, dass wir auch Ziele und Anwendungen brauchen, nicht nur ein Sammelsurium an Vorschlägen, wie wir es in so vielen Bereichen haben, zum Beispiel bei der Digitalen Agenda. Natürlich freuen wir uns, dass im Rahmen der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ das Thema Ökologie – das haben wir ja selber mit verankert – erwähnt wird. Aber wo sind die nötigen Maßnahmen und Projekte, um zum Beispiel, wie in Frankreich, eine KI-Strategie einzusetzen, bei der eine Säule die ökologische Wirtschaft ist? Es wäre doch ein Ziel, für die deutsche KI-Strategie ein solches Ziel zu formulieren. ({3}) Um bei dem Thema zu bleiben: Hier in Berlin haben vor wenigen Tagen über 2 000 Menschen auf der Konferenz „Bits & Bäume“ die Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit zusammen diskutiert. Wir reden hier manchmal über die Klimakrise, ein Thema, das im Koalitionsvertrag übrigens weniger vorkam als Blockchain; das ist auch ein Zeichen, allerdings weniger von digitaler Stärke als von Prioritätensetzung. Daher frage ich hier ernsthaft: Warum schaffen wir nicht offensiv eine technologische Strategie zur Bekämpfung der Klimakrise mit künstlicher Intelligenz? Auch das wäre doch mal ein Ziel. ({4}) Das Energiesystem smarter machen, unsere Mobilität intelligenter steuern, im ländlichen Raum neue Geschäftsmodelle in die Fläche bringen, damit die Menschen auf ihr Zweitauto verzichten können – das wären Elemente einer Digitalisierungsstrategie, die die Menschen mitnimmt. Sinnvoll wäre es auch, eine Green-IT-Strategie zu haben; denn wir wissen, dass die Anwendung von KI, von 8K, von 4K, von Netflix den Stromverbrauch im Bereich Internet steigern. Wir werden also einen steigenden Energieverbrauch haben. Auch da brauchen wir eine Strategie. Wo ist die? ({5}) Kommen wir zum sozialen Bereich, und schauen wir nach Schweden und Großbritannien. Dort gibt es große soziale Innovationsstiftungen. Auch wir Grüne fordern so etwas. In UK gibt es zum Beispiel eine interessante Anwendung: Wenn ein Mensch einen Herzinfarkt hat, registriert das Handy das und übermittelt die Information an jemanden in der Nähe, der ihm helfen kann. Das ist eine Anwendung, die nicht vom Markt gesetzt worden ist, sondern von einer sozialen Innovationsstiftung. Solche sozialen Innovationen müssen wir aktiv fördern. Dafür reicht uns nicht eine Agentur für Sprunginnovationen. Dafür brauchen wir einen Ansatz, der breiter ist. Auch das fehlt. ({6}) Digitalisierung und Gemeinwohl müssen wir zusammendenken. Es gibt eine ganze Reihe von Einzelbeispielen, die mir immer wieder einfallen. Ein guter Fortschritt ist das, was der Bundesrat gerade durchgesetzt hat: die Gemeinnützigkeit von Freifunkinitiativen. – Dafür können wir einmal gemeinsam applaudieren und sagen: Das ist etwas, was uns voranbringt. ({7}) Aber wie ist es mit einem E-Ticket für den ÖPNV, flächendeckend in ganz Deutschland? Wie schaut es mit der Digitalisierung der Bahn aus? Warum denken wir bei 5G eigentlich immer an die Autobahn? Die meisten Menschen lesen in der Bahn. Die können ja nicht beim Autofahren Zeitung lesen oder arbeiten. ({8}) Wo ist da die Digitalisierungsstrategie? Die Digitalisierung der Justiz, die Unterstützung von E-Sport – es gibt so viele Probleme, so viele Herausforderungen, und wir reden immer nur über die großen Schlagworte, über die große Strategie. Was uns fehlt, sind Anwendungen, was uns fehlt, sind Strategien, was uns fehlt, sind Ziele, was uns auch fehlt, sind Werte. Da müssen wir zusammenkommen. In diesem Sinne unterstützen wir Sie. Aber machen Sie bitte nicht nur Strategien im Großen, sondern kommen Sie endlich auch mal ins Kleine. Vielen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Nadine Schön für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur was sich wandelt, bleibt bestehen – in diesem Satz steckt sehr viel Wahres, und er passt auch gut zum Thema der heutigen Debatte, der Digitalisierung. Gerade als Christdemokraten, als konservative Partei wollen wir das bewahren, was uns wichtig ist. Das sind die Werte, die uns leiten; das ist der soziale Zusammenhalt in unserem Land; das sind Sicherheit und Wohlstand. All das ist nicht selbstverständlich. In Zeiten fundamentaler Veränderung, die wir erleben, auch durch die Digitalisierung, steht vieles davon infrage. Die Digitalisierung ist eine der größten Veränderungen unserer Zeit. Viele vergleichen sie mit der industriellen Revolution, und das ist nicht übertrieben. Sie fordert uns und all das, was wir wertschätzen und für schützenswert halten, heraus. Die Geschichte zeigt, dass bei Revolutionen die Karten neu gemischt werden. Derjenige ist erfolgreich, der bereit ist, Dinge zu ändern, um das zu bewahren, was ihm wichtig ist. Wenn wir also bewahren wollen, was uns wichtig ist, müssen wir den Wandel gestalten, müssen wir offen sein, Dinge zu verändern, und Neues wagen. Was meine ich damit? Wir müssen die Art, wie wir Innovationen hervorbringen, ändern. Unsere Stärke in Deutschland ist ja die Perfektion. Das ist auch nicht schlecht. Aber Perfektion braucht Zeit. Wir müssen uns daran gewöhnen und den Mut haben, Dinge schneller auf den Markt zu bringen und danach erst zu optimieren; sonst werden immer andere vor uns sein. Das gilt für den wirtschaftlichen Bereich, der mehr und mehr mit Laboren und Start-ups arbeitet und damit den Mut zeigt, Neues zu testen, auch wenn es unfertig ist und auch wenn völlig unklar ist, ob man damit Erfolg hat. Das gilt auch für den öffentlichen Bereich. Deshalb finde ich es großartig, dass das Kanzleramt dafür gesorgt hat, dass wir beim Bürgerportal mit einem Prototyp starten. Das gab es noch nie; das machen wir als Staat zum ersten Mal. Spannend ist auch, was im Cyber Innovation Hub des Bundesverteidigungsministeriums passiert. Hier werden ganz neue Wege der Beschaffung ausgetestet. Auch hier ist man einfach mal mutig, probiert etwas Neues. Das brauchen wir im öffentlichen Bereich viel mehr. Denn das Glück ist mit den Mutigen, und dazu gehört, dass man mal etwas ausprobiert. Was wir in Deutschland auch lernen müssen, ist, zu scheitern. Scheitern ist eigentlich eine Chance. Aber für uns als Gesellschaft ist es eine Riesenherausforderung, damit umzugehen. Neues wagen müssen wir auch bei der Art, wie wir arbeiten; denn in der künftigen Arbeitswelt werden wir immer vernetzter arbeiten. Die Zeiten von starken Hierarchien sind vorbei. Wir haben leider Regulierung, Regelungen, die uns daran hindern, agil zu arbeiten: das Arbeitszeitgesetz, die Arbeitsstättenverordnung, um nur zwei konkrete Beispiele zu nennen. Die öffentliche Verwaltung mit ihren Laufbahnen macht es uns schwer, neu zu denken. Auch hier müssen wir ran, und das tun wir. Das Bundeskanzleramt hat in der neuen Digitalabteilung ganz frische Köpfe eingestellt, die auf die Hälfte ihres bisherigen Gehalts verzichten, um für den Staat zu arbeiten. Das Kanzleramt arbeitet auch, etwa beim Bürgerportal, mit Start-ups zusammen. Das ist super, das müssen wir öfter machen. Wir brauchen die Querdenker auch in der Verwaltung. Es ist gut, dass wir den Mut haben und hier vorangehen. ({0}) Menschen, die mal angestellt, mal in der Verwaltung, mal selbstständig arbeiten, wird es in Zukunft viel häufiger geben. Aber unsere Sozialversicherungssysteme sind darauf überhaupt nicht eingestellt; da wird davon ausgegangen, dass man entweder Angestellter oder Beamter oder Selbstständiger ist. Dass man im Lebensverlauf öfter wechselt, sehen die Sozialversicherungssysteme nicht vor. Auch das muss sich ändern. Das werden wir in Zukunft stärker brauchen. Wir müssen viel stärker dahin kommen, dass wir die Probleme, die es in der Welt, in Deutschland gibt, mit digitalen Möglichkeiten lösen. Dazu muss man aber auch die Kompetenz haben, die Chancen zu sehen und die digitalen Möglichkeiten zu kennen. Das heißt, wir müssen ein ganz anderes Wissen implementieren. Das fängt in der Schule an. Schüler müssen heute als vierte Grundkompetenz – neben Lesen, Rechnen und Schreiben – wissen, wie man mit digitalen Möglichkeiten Probleme löst. Dieter Janecek hat eben Großbritannien erwähnt: „Computing“ heißt das in Großbritannien. Das ist genau der richtige Weg, den wir auch in Deutschland brauchen, damit die nächsten Generationen mit den digitalen Möglichkeiten arbeiten und eben nicht, wie bisher, das erst im Berufsleben lernen. Die Bundesregierung hilft den Ländern bei der digitalen Ausstattung, indem wir im Rahmen des DigitalPakts Schule 5 Milliarden Euro in die digitale Infrastruktur investieren. Wir erwarten, dass sich dann auch in den Lehrplänen, in den pädagogischen Konzepten etwas ändert. Mit MILLA, der Weiterbildungsplattform, die in unserer Fraktion mit erfunden wurde, wollen wir ein ganz neues Tool schaffen, damit jeder einzelne Arbeitnehmer Möglichkeiten hat, sich selbst weiterzubilden, und damit – das ist genau das, was Frau Domscheit-Berg gesagt hat – diejenigen, deren Beruf es in 10 oder 20 Jahren nicht mehr geben wird, neue Chancen haben. Das ist wichtig in einer digitalen Gesellschaft. ({1}) Blockchain, KI, das sind neue Technologien, die wir schnell auf die Straße bringen müssen, damit wir die Chancen nutzen und den Nachstand, den wir gegenüber etwa den USA und China haben, schnell aufholen. Wir haben hier Chancen; die müssen wir nutzen. Es ist eine Frage der Gestaltung. Wir wollen gestalten, weil wir der Meinung sind, dass wir gute Chancen in Deutschland haben und es vieles Gutes gibt, was wir bewahren wollen. Wir gehen es an mit Optimismus und Selbstvertrauen. Nur was sich wandelt, bleibt bestehen. Packen wir es gemeinsam an! ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Uwe Kamann. ({0})

Uwe Kamann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004772, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Besucher! Wenn man etwas „Gipfel“ nennt, ist es immer wichtig: Klimagipfel, G-20-Gipfel, EU-Gipfel, Mobilfunkgipfel. Der Digital-Gipfel 2018 in Nürnberg markiert gerade die Schwelle zu einer radikalen Neugestaltung unserer Wirtschaft, ja, unseres Lebens, und er befasst sich genau mit dem Thema, das diese Neugestaltung bewirken wird: künstliche Intelligenz, „KI“ genannt. Es gibt eine aktuelle Studie des Instituts für Innovation und Technik, nach der allein im produzierenden Gewerbe innerhalb der nächsten fünf Jahre eine zusätzliche Bruttowertschöpfung von 31,8 Milliarden Euro erzielt wird. Damit ist der Digital-Gipfel in diesem Jahr tatsächlich eine äußerst bedeutende Gipfelkonferenz für die Zukunft unseres Landes. Doch vorerst befinden wir uns noch im Tal und ringen um den Aufstieg. Um den Anschluss an China und die USA zu finden, fehlt uns bekanntlich die Gigabitinfrastruktur. Die einzurichten, hat die Bundesregierung über viele Jahre verschlafen. Ohne Glasfaservernetzung kein 5G, keine Anwendungsmöglichkeit für KI, keine Nutzung in der Fläche! Deshalb hoffe ich, dass vom Digital-Gipfel deutliche Impulse für die flächendeckende Finanzierung ausgehen werden und dass das Thema im Anschluss an die Arbeitsgruppen breit in die Politik und die Gesellschaft getragen wird und es nicht verplätschert. Entscheidend für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist jetzt der politische Wille. Politische Weichenstellungen und entsprechend unterfütternde Budgets bringen die KI hierzulande weiter nach vorne. Die Industrie hat längst begriffen, welche Möglichkeiten sich eröffnen. Jetzt muss die Bundesregierung zeigen, ob sie Schritt halten kann. Sie muss Rahmenbedingungen schaffen, die ermöglichen, was nötig und vorstellbar ist. NRW will, wie gestern von Herrn Pinkwart verkündet, einen Schwerpunkt für KI schaffen und stellt 25 Millionen Euro bereit. Damit sollen nächstes Jahr unter anderem sechs KI-Professuren ausgeschrieben werden. Das sind erste wichtige Schritte, aber es darf nicht dabei bleiben. ({0}) – Die Lösung ist wenigstens gut, aber es müsste mehr sein. Richten Sie ihm das bitte von mir aus. ({1}) Das weltgrößte Chemieunternehmen BASF verfügt über einen der raren Supercomputer, die im sogenannten Petaflop-Bereich operieren. „QURIOSITY“, also „Neugier“ – so heißt der Computer –, vollzieht 1,75 Billiarden Rechenoperationen in der Sekunde. Der Rechner sucht übrigens mithilfe von Simulationen nach neuen Molekülen – unter anderem für Waschmittel. Rund 60 Prozent aller Superrechner weltweit sind bei der Industrie im Einsatz. Sie benötigt diese Rechenkapazitäten und ist bereit, zu investieren. Was sagt uns das? Wäre es nicht naheliegend, diese Lust an Innovationen und Investitionen in Ihre Bereitschaft aufzunehmen? Wäre es nicht sinnvoll, gemeinsam mit der Industrie eine Vielzahl von Partnerschaften einzugehen? Ich hoffe sehr, dass auch dies beim Digital-Gipfel stark thematisiert wird. Wir haben die Chance, mithilfe der KI immense Fortschritte zu machen. Das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz ist weltweit die Nummer eins. Das Cyber Valley in Baden-Württemberg und weitere Cluster versammeln die erforderliche Intelligenz. Wichtig ist mir aber die Förderung regionaler Kompetenzzentren, die dezentrales Wissen in die Industrie hineintragen – und besonders in den Mittelstand. Die digitale Transformation verändert die Gesellschaft tiefgreifend: durch neue Geschäftsmodelle und nutzbringende Anwendungen für Landwirtschaft, Produktion, Verkehr und Medizin. Hier wird es Anwendungen geben, die unser Leben verlängern – Stichworte „telemetrische Operationen“, „Nanoroboter“ und „neue Röntgentechnologien“. Lassen Sie mich positiv mit einem technischen Wunder schließen: Der NASA-Roboter „InSight“ ist auf dem Mars gelandet – nach einer Reise über rund 485 Millionen Kilometer. Das, meine Damen und Herren, ist KI bei der Arbeit. Wer hier beim Telefonieren noch ständig in Funklöcher fällt, glaubt ja kaum, dass die Kommunikation über solche Distanzen tatsächlich möglich ist. ({2}) – Diese haben Sie in der Regierung anscheinend kontinuierlich. – Der mitgeführte Bohrer, genannt Marsmaulwurf, der sich bis zu 5 Meter tief in den Boden wühlen kann und Informationen liefern wird, ist in Deutschland gebaut. ({3}) Das sollte uns gemeinsam Hoffnung geben. Hightech und Motivation schaffen Bewundernswertes – mit Neudenken und Querdenken. Das fehlt uns in der trägen Politik in hohem Maße. Im Übrigen sind wir Freunde der Völkerverständigung und des friedlichen Zusammenlebens. ({4}) Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Gustav Herzog. ({0})

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Konkreter Anlass für diese Aktuelle Stunde ist der Digital-Gipfel nächste Woche in Bayern. Ich gönne es Ihnen. Aber es ist gut, dass wir uns bei unserer eigenen Konzeption an Rheinland-Pfalz orientiert haben und keine Digitalministerin haben, sondern ein Digitalkabinett. Ich glaube, es ist gut so, dass wir alle Ministerien in die Verantwortung nehmen und sie nicht isolieren. Also, sich an Rheinland-Pfalz orientieren war eine gute Sache. Jetzt erwarte ich auch den Beifall von FDP und Grünen. Immerhin sind wir dort zusammen in einer Koalition. ({0}) Eine Reihe von meinen Vorrednern hat gefragt, wie es denn aussähe, wir kämen ja nicht zur Umsetzung. Die letzte Woche und diese Woche sind die Wochen der Umsetzung. Mit der Verabschiedung des Haushalts letzte Woche haben wir einiges in Gang gesetzt. Diese Woche gehen wir mit der Grundgesetzänderung, mit dem Fonds und mit dem DigitalPakt auf diesem Weg weiter. ({1}) Ich will vom Digital-Gipfel in die Niederungen der Infrastruktur gehen. ({2}) All das, was wir an digitaler Veränderung in der Gesellschaft beschrieben haben, wird nur möglich sein, wenn wir eine entsprechende Infrastruktur haben. Weil alle in dieser Woche von 5G sprechen, will ich das natürlich auch machen, aber im Zusammenhang mit vier weiteren Bausteinen. Erstens. Der Ausbau der Breitbandnetze mit Glasfasern ist zwingende Voraussetzung für 5G. Ohne Glasfaser wirklich bis ins letzte Dorf wird es dort kein 5G geben. Das ist eine der zwingenden Voraussetzungen. Darüber hinaus – zweitens – sind die Funklöcher zu schließen. Ich erwarte von dieser Stelle aus, dass die Mobilfunker ihre Zusage aus einem weiteren Gipfel, nämlich aus dem Mobilfunkgipfel, gegenüber Bundesminister Scheuer einlösen, die Hälfte aller Funklöcher auf eigene Rechnung zu schließen. ({3}) Das Dritte. Wir haben in dieser Woche die Frequenzen vergeben. Wer hier ein Gesamtkonzept angemahnt hat, der hat noch nicht einmal das Beiblatt der Bundesnetzagentur gelesen. Auf Seite 1 steht schon, dass diese Frequenzvergabe nur im Zusammenhang mit weiteren Frequenzen zu sehen ist, die wir 2020/21 vergeben. Das sind Flächenfrequenzen. Diese runden das Bild ab. Also, wir sind hier insgesamt auf einem guten Weg. ({4}) Das sage ich auch deshalb, weil diese Frequenzen notwendig sind, um auch den ländlichen Raum so zu versorgen, wie wir das wollen, nämlich gleichwertig. ({5}) In Richtung der linken Seite des Parlamentes, weil es auch schon angesprochen worden ist: Die Versteigerung ist nicht einnahmeorientiert, sondern versorgungsorientiert. Das Bundesfinanzministerium hat uns keinesfalls aufgefordert, die Bundesnetzagentur anzuhalten, dass möglichst viel Geld hereinkommt, sondern es soll möglichst viel Versorgung im Land stattfinden, in den Ballungsräumen genauso wie im ländlichen Raum. ({6}) Aber all diese Dinge brauchen – viertens – natürlich auch Produkte, die verkauft werden, bei denen dann die Mobilfunker wieder Geld verdienen, um ihre Investitionen zu bezahlen. Deswegen ist es Zeit, dass wir Modellregionen einrichten und Anwendungen entwickeln. Kollege Janecek hat gesagt, man könne doch auch etwas im Bereich der Ökologie machen. Ich will Ihnen ein konkretes Beispiel nennen; denn wir sind über die Phase der Ankündigungen lange hinaus. In Kaiserslautern gibt es das europäische Forschungszentrum von John Deere. Warum? Dort gibt es das Deutsche Zentrum für Künstliche Intelligenz und etwas weiter Richtung Rhein ein großes Chemieunternehmen. Dort haben wir sozusagen die Ballung all dessen, was man braucht, um im ökologischen Bereich mit künstlicher Intelligenz wirklich etwas Gescheites zu machen. Ich skizziere es Ihnen konkret: Der autonome Traktor fährt über den Acker. Seine Kameras nehmen die Pflanzen auf. Die Bilderkennung identifiziert in Echtzeit, welche Schäden an den Pflanzen vorhanden sind. Die Sensoren steuern die Spritzdrüsen so exakt, dass das Pflanzenschutzmittel wirklich nur dort ausgebracht wird, wo es dringend notwendig ist. Das ist Hightechökologie made in Kaiserslautern. Das ist der richtige Weg. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben die passende Strategie. Die Planungen liegen auf dem Tisch. Das Geld stellen wir bereit. Wir packen es. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Maik Beermann, CDU/CSU. ({0})

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Herzog, ich bin dankbar, dass Sie sozusagen auf der Schlussetappe Ihrer Rede die digitale Landwirtschaft angesprochen haben; denn genau darauf möchte ich meine Rede beziehen. Sie haben nun konkret eine Schleppermarke erwähnt, deren Traktoren grün sind und gelbe Felgen haben. Das mache ich jetzt nicht. Aber diese Marke ist tatsächlich gut dabei; da haben Sie völlig recht. Die Digitalisierung der Landwirtschaft ist ein spannendes Thema, gerade für jemanden wie mich, ein Kind aus dem ländlichen Raum, aus einem Dorf mit 420 Einwohnern. Man braucht sich dabei nicht an der Aussage hochzuziehen, man brauche nicht unbedingt an jeder Milchkanne 5G. Milchkannen gibt es schon lange nicht mehr. Wir sind viel weiter. Es gibt hochtechnologisierte landwirtschaftliche Betriebe, die genau auf das, worüber wir sprechen, angewiesen sind. Da ich nicht genau weiß, ob die Digitalisierung der Landwirtschaft – sie ist ein Teil unserer Wirtschaft – auf dem Digital-Gipfel eine so große Rolle spielen wird, wie sie es verdient, ist mir dieses Thema ein Herzensanliegen. Warum? Vor zwei Tagen gab es eine Pressemitteilung von Bitkom und dem deutschen Bauernverband: Bauern sind Vorreiter der Digitalisierung. – Man muss neidlos anerkennen, dass die Landwirtschaft ein wichtiger Wirtschaftszweig bei uns ist. Wir reden über Industrie 4.0 und viele andere Dinge. Aber die Landwirtschaft hat es einfach gemacht. Nun kommen wir zum Teil an den Punkt, wo wir mitgestalten müssen. Die Landwirtschaft hat Fragen an die Politik, und wir müssen entsprechend tätig werden. Ich habe mir die Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung genau angeschaut und finde das, was dort drinsteht, gut, gerade zu Smart and Precision Farming bzw. zur digitalisierten Landwirtschaft. Ein großer Erfolg, wie ich finde, ist, dass wir nicht nur über Thinktanks diskutieren, sondern nun erstmalig auch über Practicetanks, über Ausprobierfabriken, über Experimentierfelder im Bereich der Landwirtschaft; diese sollen geschaffen werden. Meine Bitte ist, diese flächendeckend einzurichten. In Rheinland Pfalz oder im Rheingau gibt es viel Wein. Dort brauchen wir ein Experimentierfeld für die Weinbäuerinnen und Weinbauern. Bei uns in Niedersachsen, dem Agrarland Nummer eins in Deutschland, gibt es Schweinemast und Kühe, die gemolken werden müssen, aber auch Ackerbau. Dort können wir viele Dinge machen. Die Ackerbauregionen in Mecklenburg-Vorpommern und in Brandenburg bieten weitere Experimentierfelder, um Dinge auszuprobieren. Aus meiner Sicht stellt das alles einen wichtigen Fortschritt dar. Wir wollen satellitengestütztes Monitoring auf allen landwirtschaftlichen Flächen unterstützen. Wir wollen in diesem Zusammenhang die digitale Kompetenz der Verbraucherinnen und Verbraucher fördern; denn wir sind ganz klar der Meinung, dass Lebensmittel irgendwann nur noch verkauft werden können, wenn man weiß, woher sie kommen. ({0}) Der Verbrauchergedanke wird letztendlich viel stärker werden. Deshalb ist es notwendig, die Verbraucherinnen und Verbraucher mitzunehmen. Wir wollen die Potenziale der Digitalisierung im Bereich der digitalisierten Landwirtschaft für eine bessere Ressourceneffizienz und für die Biodiversität nutzen. Wir müssen schonender und effizienter mit Boden und Wasser umgehen. Für all das ist die Digitalisierung hilfreich. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine repräsentative Umfrage von Bitkom für den Deutschen Bauernverband sagt aus, dass 88 Prozent der Landwirte angeben, dass die Ressourceneffizienz in der Landwirtschaft durch digitale Technologien erhöht wird. 86 Prozent der Landwirtinnen und Landwirte meinen, dass durch digitale Technologien eine umweltschonendere landwirtschaftliche Produktion ermöglicht wird. Das sind doch Dinge, die auch Sie, Herr Kollege Herzog, angesprochen haben, Stichwort „Pflanzenschutzspritze“, die aufgrund von Bilderkennungstechniken wirklich nur die Pflanze heraussucht, die tatsächlich Unterstützung braucht, sowohl beim Pflanzenschutz als auch bei der Nährstoffaufnahme. Das sind Dinge, die uns einfach voranbringen und die Landwirtschaft vielleicht wieder ein Stück weit näher an den Verbraucher heranführen, weil man erkennt: Dort bewegt sich relativ viel. Was ist noch wichtig? Ich habe schon gesagt, dass Lebensmittel in einigen Jahren vermutlich nur noch mit Angaben zu ihrer Entstehungsgeschichte verkauft werden können. Bernhard Krüsken, Generalsekretär des Deutschen Bauernverbandes, sagt uns, dass der Einsatz digitaler Technologien die Akzeptanz moderner Landwirtschaft in der Öffentlichkeit steigert; genau so ist es. Das müssen wir dementsprechend auch nutzen. Ich glaube aber, wir brauchen noch ein bisschen mehr. Darauf möchte ich noch kurz eingehen. Wir brauchen aus meiner Sicht ein Kompetenzzentrum zur Digitalisierung in der Landwirtschaft, beispielsweise an das 5G Lab in Dresden angeschlossen, weil dort Forschungsergebnisse konkret ausgewertet und wissenschaftlich begleitet werden können. Wir brauchen für die Landwirtschaft eine kostenlose Bereitstellung von Geodaten, von Betriebsmitteln und auch von Wetterdaten. Es ist ungemein wichtig, dass die Landwirte auf diese Dinge zugreifen können, um die Technologien in der Fläche konkret einsetzen zu können. Wir brauchen dazu eine Sicherstellung, dass die Schlepper- und Maschinenkommunikation durch einheitliche Schnittstellen vollzogen wird. Es darf also nicht nur der grüne Trecker mit den gelben Felgen funktionieren, sondern Anbauteile in gelber und grüner Farbe müssen dementsprechend überall kompatibel und interoperabel sein. Das ist ganz, ganz wichtig. Jetzt kommen wir noch zu einer Sache; denn wir hatten gerade eine Anhörung zur Blockchain-Technologie. Auch Blockchain-Technologie in der Landwirtschaft ist megainteressant, nämlich dann, wenn die Blockchain-Technologie Lieferketten, beispielsweise im Bereich der Getreidelieferkette, optimiert. Auch das ist möglich. Das zeigt einfach, was neue Technologien für die Landwirtschaft auf den Weg bringen. Zum Abschluss. Was wichtig ist, ({1}) – genau, „Internet auf dem Feld“ –, ist, lieber Manuel Höferlin, eine Acker-Cloud, damit genau die Dinge, die ich eben kurz angerissen habe, funktionieren. Daran lassen Sie uns bitte gemeinsam arbeiten. Wenn wir da an einem Strang ziehen, dann machen wir was Gutes draus. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist der Kollege Falko Mohrs für die Fraktion der SPD. ({0})

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was haben wir aus der Diskussion zu diesem wichtigen Ereignis der nächsten Woche bisher gelernt? Erstens. Unsere Wirtschaft, unser Land ist leistungsstark. Wir sind innovativ, und wir gehen voran. Zweitens. Die Kritik der Opposition ist absolut berechenbar. Ihnen fällt eigentlich nichts anderes ein, als aus dem Phrasendrescher immer wieder neue Dinge aus „zu wenig“, „zu spät“, „zu langsam“ zu machen. Das ist berechenbar, und das ist doch schon ziemlich schwach. ({0}) Mein Gefühl ist: Sie sind vielleicht unsicher bei dieser ganzen Geschichte. Vielleicht macht Ihnen Unsicherheit auch Angst. Neues kann Angst machen; so ist das. Dabei fordert gerade diese Zeit Klarheit, Orientierung und Verantwortung. ({1}) Natürlich ist es so, dass die Innovationen, über die wir heute reden, nicht mehr die physischen Innovationen wie Buchdruck und Dampfmaschine sind; vielmehr sind die heutigen Innovationen vielleicht auch schwieriger zu begreifen. Da geht es nämlich um Daten. Es geht um Geschäftsmodelle. An dieser Stelle müssen wir mutig Verantwortung übernehmen und nach vorne gehen. Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass Sie in Ihren Reden eher davor kapituliert haben, weil Sie bejammern, dass keine Strategie vorhanden ist. Da kann ich Ihnen nur sagen: Das stimmt nicht. Ich werde Ihnen gleich noch ein paar Dinge dazu erzählen. Deswegen ist es so deutlich, dass der Digital-Gipfel, der nächste Woche in Nürnberg stattfindet, ein deutlich sichtbares Zeichen dafür ist, dass wir den Blick nach vorne werfen, dass wir den Dialog von Wirtschaft, von Wissenschaft und von Politik führen. Das ist wichtig, um die richtigen Lösungen zu finden. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Digital-Gipfel greift das Thema „künstliche Intelligenz“ auf – wir haben das mehrfach gehört –, das der Motor der digitalen Wertschöpfung ist. Unsere Bundesregierung hat als erste Bundesregierung die KI-Strategie für Deutschland entwickelt und stellt sie ins Zentrum unserer Innovationspolitik und dieses Gipfels. KI hat enorme ökologische, soziale und ökonomische Potenziale. Ich wiederhole an dieser Stelle, was ich mehrfach gesagt habe: Technologischer Fortschritt ist nie Selbstzweck; er muss immer dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen. Meine Damen und Herren, mit der KI-Strategie verfolgen wir genau diese Ziele. Wir verfolgen erstens das Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit von Deutschland zu sichern. Wir sind auf dem Weg, dass Deutschland und Europa führender Standort in der Entwicklung und Anwendung von KI werden. Studien belegen auch die Wichtigkeit; denn durch den gezielten Einsatz von KI können wir in Deutschland die Wachstumsrate unserer Wirtschaft bis zum Jahr 2035 von durchschnittlich 1,4 Prozent auf 3 Prozent ansteigen lassen. Das machen wir, indem wir – Sie haben es erwähnt – Milliarden investieren in Forschung, in Entwicklung, in 100 neue Lehrstühle an deutschen Universitäten, indem wir den Wissenstransfer beschleunigen durch Hubs, durch Innovationszentren und durch geförderte KI-Trainer für den Mittelstand. Wir haben auch das Budget für das EXIST-Programm zur Gründung von Start-ups, unter anderem im KI-Bereich, verdoppelt. Ich denke, das macht deutlich, dass wir hier nicht nur in Überschriften denken, sondern über ganz konkrete Verbesserungen reden, um KI in Deutschland voranzubringen. ({3}) Als Zweites geht es darum, eine verantwortungsvolle Entwicklung und Nutzung von KI sicherzustellen. Das bedeutet auch, dass wir Daten dort, wo es sinnvoll ist, wo es möglich ist, veröffentlichen, um Innovationen zu ermöglichen. Wir wollen entsprechende Anreize schaffen, die das Teilen von Daten belohnen. Wir wollen eine intelligente Infrastruktur für KI-Anwendungen schaffen und dabei das Setzen von Datenstandards beschleunigen. Ein Beispiel dafür ist das Data Intelligence Hub eines großen innovativen deutschen Unternehmens mit einer Schnittstellenfunktion als Marktplatz genau für diese Daten. Es geht – ich habe es erwähnt – nicht nur um Daten und Geschäftsmodelle. An dieser Stelle – das ist der dritte wichtige Punkt – geht es natürlich um Köpfe. Es geht darum, digitales Grundwissen, digitale Bildung abzusichern. Es mag verwundern, aber an dieser Stelle muss ich die Teile der Opposition dann doch mal loben – gewöhnen Sie sich aber bitte nicht daran! –, die sich in den letzten Tagen doch zu einer Meinungsänderung durchringen konnten, sodass wir das Kooperationsverbot – ein schreckliches Wort; noch schlimmer ist es in der Realität – hier im Bundestag morgen hoffentlich abschaffen können, sodass endlich in Köpfe, in digitale Infrastruktur und in Coding, in Medienkompetenz von Schülerinnen und Schülern, in die Zukunft in unserem Land investiert werden kann. Das ist hier das Wichtige. ({4}) Meine Damen und Herren, haben wir also keine Angst, haben wir Mut, setzen wir die richtigen Rahmenbedingungen, stellen wir die richtigen Weichen, und entscheiden wir auch auf diesem Digital-Gipfel über die Zukunft unseres Landes! ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Ronja Kemmer für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Ronja Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir den Diskurs zur Digitalisierung in unserem Land in diesen Tagen anschaue, dann fällt auf, dass immer wieder auch mantrahaft wiederholt wird, wir würden die Digitalisierung verschlafen, wir hätten keinen klaren Kompass. An dieser Stelle kann ich nur ganz klar sagen: Nein! Wir sind hellwach, und wir bringen die Dinge entscheidend voran. ({0}) Noch nie war die digitalpolitische Debatte so intensiv wie jetzt. ({1}) Noch nie waren wir so stark unterwegs, die digitale Transformation in unserem Land zu gestalten und auch umzusetzen. ({2}) Klar ist aber auch: Wir werden den wirtschaftlichen Wohlstand und die Lebensqualität in unserem Land nur dann sichern können, wenn wir die vollen Potenziale der Digitalisierung in unserem Land entsprechend nutzen. Das bedeutet, Deutschland zum Gewinnerstandort zu machen. Nehmen wir das Beispiel „künstliche Intelligenz“: Forscherinnen und Forscher entwickeln KI-Lösungen von Weltformat bei uns im Land. Beim autonomen Fahren, bei der Unterstützung medizinischer Diagnosen sind wir vorn mit dabei. Auch in anderen Bereichen – Beispiel: 3-D-Druck – sind unsere Unternehmen führend. Was wir aber brauchen, ausgehend von der guten Spitzentechnologie, die wir haben – die Staatsministerin hat das vorher auch angesprochen –, ist die Transformation, die Transformation von der Forschung, von der Grundlagenforschung konkret in die Anwendung in der Wirtschaft in Form von Ausgründungen. Auch dafür steht der Digital-Gipfel in der kommenden Woche mit seinen Plattformen und Aktivitäten. Denn es ist am Ende eben nicht nur ein Tag, an dem mal kurzzeitig das Digitale aufleuchtet, sondern es ist das Highlight des gesamten Prozesses, der über das ganze Jahr andauert und bei dem viele Akteure mitwirken. Mit dem Koalitionsvertrag haben wir einen starken Fokus auf sämtliche digitale Themen gesetzt. Es ist eben nicht richtig, dass dort kein roter Faden wäre. Er zieht sich vielmehr durch alle Bereiche. Mit der Umsetzungsstrategie, die schon angesprochen wurde, haben wir konkret nicht nur eine Problemanalyse oder irgendeine Form von Ankündigung vorgelegt. Nein, wir haben auch Maßnahmen konkret festgeschrieben. Wir haben entsprechende konkrete Zeitpläne aufgestellt. Diese sind auf der Webseite „digital-made-in.de“ nachzuverfolgen. Klar ist auch: Der Prozess wird dynamisch bleiben. Die Dinge sind nicht statisch, noch weniger im Bereich der digitalen Transformation. Wenn wir uns die fünf Handlungsfelder anschauen, dann sehen wir, dass der Bereich der digitalen Kompetenzen entscheidend sein wird. Mit dem DigitalPakt Schule haben wir eines der großen Megaprojekte in dieser Legislatur auf den Weg gebracht, das nach langer politischer Vorarbeit auf der Zielgeraden ist. Wir nehmen als Bund 5 Milliarden Euro in die Hand, um hier einen kräftigen Modernisierungsschub für alle Schulen in Deutschland zu leisten. Wir reden von verschiedenen Maßnahmen hinsichtlich der Infrastruktur: von der WLAN-Ausleuchtung der Schulgebäude und von dem Aufbau von Schul-Clouds. Aber wir reden eben auch davon – das gehört zum DigitalPakt mit dazu –, dass die Lehrkräfte ein Schlüssel sind, digitale Kompetenzen sinnvoll zu vermitteln. Deswegen ist es auch so wichtig, dass die Länder in ihrer Verantwortung die digitalen Inhalte in die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte integrieren. Ich bin überzeugt davon: Wenn wir unser Land in eine erfolgreiche digitale Zukunft führen wollen, dann wird das eben nur gehen, wenn wir eine gute digitale Bildung als Grundlage auch für künftige Generationen schaffen. An dieser Stelle darf man der Opposition vielleicht auch noch sagen, nachdem schon mit Blick auf die Grundgesetzänderung viel gedankt wurde, dass neben der Kritik, dass der DigitalPakt Schule so lange braucht, das Errichten von neuen Hürden nicht dazu beigetragen hat, bei der Grundgesetzänderung zügig voranzukommen. Aber gut ist, dass es jetzt geschieht. ({3}) Es bleibt festzuhalten: Der DigitalPakt Schule ist auf der Zielgeraden, und wir hoffen, dass ab 1. Januar des nächsten Jahres die Mittel an die Schulen im Interesse der Schülerinnen und Schüler und der Lehrkräfte fließen und zur Verfügung stehen. ({4}) Das andere mitentscheidende Thema ist die KI-Strategie; sie wurde schon angesprochen. Vorletzte Woche hat die Bundesregierung ihr Strategiepapier vorgelegt. Dazu will ich sagen: Von Bildung und Forschung über Wirtschaft, Arbeit und Umwelt bis hin zu gesellschaftlichen Fragen deckt die KI-Strategie alles ab. Wir haben nebenbei mit der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“, die auch seit Herbst arbeitet, ein gutes und wichtiges Format. Diese Kommission wird die KI-Strategie weiterentwickeln und Handlungsempfehlungen aussprechen; sie wird sich vor allem mit Fragen von morgen und übermorgen beschäftigen. Wenn uns das in einem guten Miteinander in der Enquete-Kommission gelingt, dann bin ich mir sicher, dass wir hier einen guten und starken Beitrag für die digitale Gestaltung der Zukunft unseres Landes einbringen. Danke schön. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Hansjörg Durz für die CDU/CSU. ({0})

Hansjörg Durz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nächste Woche findet der erste Digital-Gipfel in dieser Wahlperiode statt. Auf diesem Kongress zeigt die Bundesregierung traditionell ihre Aktivitäten in Sachen Digitalisierung. Obwohl die Regierung erst seit März im Amt ist, sind die Fortschritte seit dieser Zeit doch beachtlich. Es ist deutlich Dynamik spürbar – im Übrigen auch deswegen, weil CDU, CSU und SPD im Koalitionsvertrag ein umfassendes und richtig gutes Digitalkapitel verhandelt haben. Der Digital-Gipfel steht unter dem Motto „Künstliche Intelligenz – ein Schlüssel für Wachstum und Wohlstand“. Die KI-Strategie, die auf dem Digital-Gipfel vorgestellt wird, ist ein Bestandteil der Umsetzungsstrategie Digitalisierung, die das Bundeskabinett Mitte November auf einer Klausurtagung beschlossen hat. Wer einen Blick in die Strategie wirft, wird darin viele ganz konkrete Maßnahmen entdecken, um genau zu sein – ich wiederhole es gerne – 111 konkrete Maßnahmen. Der Vorwurf, den wir in der Debatte mehrfach gehört haben, ist: Zu wenig konkret, es muss mehr sein. – Wir haben in der Debatte aber auch gehört, dass die Regierung immer diese Vorwürfe hört, egal von welcher Fraktion die Regierung gestellt wird. ({0}) Dann gibt es noch den Vorwurf, die Umsetzungsstrategie sei zu wenig strukturiert. Derjenige oder diejenige, die diesen Vorwurf äußert, muss aber offensichtlich noch nie einen Blick hineingeworfen haben. In der Umsetzungsstrategie sind die zentralen digitalpolitischen Schwerpunktvorhaben in fünf Handlungsfelder zusammengeführt. Wie konkret die Umsetzung dieser Maßnahmen angegangen wird, sehen wir allein in diesen Tagen. Das erste Handlungsfeld heißt „Digitale Kompetenz“. Der DigitalPakt Schule ist darin die vielleicht bedeutendste Maßnahme. Vor wenigen Tagen wurde der Durchbruch bei der Grundgesetzänderung erzielt, morgen entscheiden wir hier im Bundestag über diese Grundgesetzänderung, damit der Bund gemeinsam mit den Ländern die digitalen Kompetenzen an rund 43 000 Schulen in Deutschland stärken kann. Auf dem Digital-Gipfel ist übrigens von Schulen aus der Praxis ganz konkret zu erleben, wie moderner Unterricht heute aussehen kann. Das zweite Handlungsfeld lautet „Infrastruktur und Ausstattung“. Am Montag – das haben wir mehrfach in der Debatte gehört – wurden die Weichen für die Schlüsseltechnologie 5G und eine deutliche Verbesserung des Mobilfunknetzes insgesamt gestellt. Vorher gab es die Anmerkung, die Bahn würde nicht entsprechend berücksichtigt werden. Die Ziele sind klar konkretisiert: bis Ende 2022 die wichtigsten Schienenwege mit 100 Megabit pro Sekunde zu versorgen und bis Ende 2024 alle Schienenwege mit 50 Megabit. ({1}) Übrigens möchte ich mich dem auch anschließen. Wer die Presse verfolgt, sieht: Es gibt Kritik von allen Seiten. – Da kann die Lösung gar nicht so ganz verkehrt sein. Hinsichtlich des angesprochenen Gesamtkonzepts – auch da gab es Kritik – wurde am Montag beschlossen, dass es bis Mitte 2019 vorgelegt werden muss, weil auch wir den flächendeckenden Versorgungsauftrag sehen und wir dabei schneller vorangehen müssen. ({2}) Auf dem Digital-Gipfel werden mit Sicherheit viele Diskussionen über die Mobilfunknetze der Zukunft geführt werden. Das dritte Handlungsfeld ist „Innovation und digitale Transformation“. Es ist vielleicht nicht so sehr im Fokus der Öffentlichkeit, allerdings nicht weniger bedeutend. Am vergangenen Freitag wurde mit dem Haushalt 2019 hierzu ein ganzer Strauß an Maßnahmen von den Koalitionsfraktionen beschlossen. Um zum Beispiel junge Menschen, die sich aus den Hochschulen und Forschungseinrichtungen heraus selbstständig machen wollen, noch stärker zu fördern, haben wir die Haushaltsmittel für das Existenzgründerprogramm EXIST verdoppelt. Auf dem Digital-Gipfel können Sie übrigens Unternehmer erleben, die mit EXIST gestartet sind. Außerdem wird es auf dem Digital-Gipfel, wie jedes Jahr, Raum für die Initiative „Plattform Industrie 4.0“, ein Aushängeschild der deutschen Wirtschaft, geben, das wir mit dem Haushalt 2019 übrigens noch stärker fördern als in der Vergangenheit. Die KI-Strategie ist angesprochen worden, aber auf dem Digital-Gipfel wird bereits ein Ausblick auf die Blockchain-Strategie der Bundesregierung gegeben, die Mitte 2019 folgen soll. Gerade eben gab es eine öffentliche Anhörung zum Thema Blockchain. Dort haben wir deutlich gemacht bekommen, dass wir hier in Berlin ein globales Zentrum für Blockchain haben. Etwa 70 Start-ups werden wir mit der Strategie, die im Sommer vorgestellt wird, weiter unterstützen und mit ihnen das Thema weiter vorantreiben. ({3}) Aber auch zum vierten Handlungsfeld „Gesellschaft im digitalen Wandel“ wird es auf dem Gipfel umfangreiche Themen, insbesondere im Zusammenhang mit der Datenethikkommission, geben. Zum fünften Handlungsfeld „Moderner Staat“ haben wir heute in der öffentlichen Anhörung gehört, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ihre Blockchain-Anwendungen konkret vorantreibt. Es sind also viele Anwendungen. Es wird eben nicht nur über Chancen, Möglichkeiten, Risiken und Verantwortungen von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz auf dem Digital-Gipfel diskutiert, sondern ganz konkrete Anwendungen werden erlebbar. Zusammenfassend muss man deutlich sagen: Ein Besuch auf dem Digital-Gipfel in Nürnberg lohnt sich, auch um die Arbeit unserer Digitalminister und vor allem die erfolgreiche Arbeit unserer Staatsministerin für Digitalisierung zu erleben. Vielen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Auch Ihnen vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich beende die Aktuelle Stunde und stelle fest, dass unsere Tagesordnung damit heute erschöpft ist. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 29. November 2018, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Kommen Sie gut nach Hause. (Schluss: 19.30 Uhr)