Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch in dieser Woche verabschieden SPD und CDU/CSU konkrete Gesetze, die für mehr Gerechtigkeit und für mehr Zusammenhalt in Deutschland sorgen werden. Wir erhöhen das Kindergeld um 10 Euro. Wir verabschieden eine Pflegereform, auf deren Grundlage deutlich mehr Pflegekräfte eingestellt werden und die Pflegekräfte insgesamt besser bezahlt werden. Wir schaffen Arbeitsplätze für Mitbürgerinnen und Mitbürger, die schon sehr lange arbeitslos sind. Und wir sichern die Rente auf dem jetzigen Niveau. Diese Regierung liefert.
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Mit der heutigen Rentenreform vollziehen wir einen grundsätzlichen Richtungswechsel. Die alte Rentenformel sah vor, dass die Rente geringer steigt als die Löhne. Die neue Rentenformel stellt sicher: Die Renten steigen wie die Löhne.
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Wir sichern damit ein Rentenniveau auf dem heutigen Level. Das ist wirklich eine sehr entscheidende Weichenstellung. Zusätzliche Vorsorge über Betriebsrenten oder privat ist eine gute Sache – wenn sie eben ergänzend gedacht ist, nicht ersetzend. Das ist der entscheidende Punkt für uns.
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Denn die gesetzliche Rentenversicherung ist und bleibt die zentrale Säule im deutschen Rentensystem.
Die Rentenreform folgt einem einfachen Prinzip: Wer ein Leben lang arbeitet, der verdient auch einen anständigen Lebensabend, der verdient eine Rente, von der er auch leben kann.
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Ich betone: Ich benutze den Begriff „verdient“ bewusst. Denn die Rente ist kein Almosen, und sie ist auch kein Luxus. Die Rente ist der gesellschaftliche Lohn für ein Leben voller Arbeit. Für die Mehrheit der Bevölkerung ist übrigens die gesetzliche Rente ihr größtes Vermögen. Sie bleibt die sicherste Form der Altersversorgung.
Uns ist die Stärkung der umlagefinanzierten Rente ja auch deswegen so wichtig, weil die Systeme, die vor allem auf private Absicherung ausgerichtet waren, letztendlich alle in der Finanzkrise deutlich gestrauchelt sind. Das ist ganz eindeutig der Fall gewesen.
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Im Gegensatz zu den privaten steht die gesetzliche Rente blendend da. Würde man aus Beiträgen und Rentenansprüchen in der gesetzlichen Rente die Rendite berechnen, ergäbe sich ein stabiler Ertrag von 2 bis 3 Prozent pro Jahr, verlässlich und frei von Schwankungen. Das ist auf dem Kapitalmarkt momentan nicht zu kriegen, um es sehr deutlich zu sagen.
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Die umlagefinanzierte Rente ist deswegen der kapitalgedeckten überlegen.
Ich spreche jetzt in diesem Hohen Haus auch etwas aus, was vielleicht nicht alle gerne hören: Entweder wir sichern heute das Rentenniveau auf dem jetzigen Stand bis zum Jahr 2025 und nach dem Willen der SPD auch weiter darüber hinaus,
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oder wir lassen zu, dass die Renten immer weiter sinken und entwertet werden.
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Wenn wir das aber zulassen, muss die junge Generation einem solchen System irgendwann das Vertrauen entziehen. Denn warum sollte ausgerechnet die junge Generation jahrzehntelang Beiträge zahlen, wenn sie am Ende keine Sicherheit darüber hat, was sie rausbekommt? Das ist doch Unsinn.
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Deswegen ist aus meiner Sicht die Sicherung des Rentenniveaus in diesem System auch wichtig im Sinne der Generationengerechtigkeit. Ein garantiertes Rentenniveau schafft für die junge Generation nämlich die Sicherheit, dass sie sich eben am Ende auch auf dieses System der gesetzlichen Rentenversicherung verlassen kann.
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Jetzt sagen manche, das sei nicht finanzierbar. Das ist ein ziemlich scheinheiliges Argument.
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Denn niemand wird ja wohl bestreiten, dass das Geld für eine auskömmliche Rente im Jahre, sagen wir, 2040 auch immer irgendwo herkommen muss. Die einzige Frage ist doch: Was ist der beste und der gerechteste Weg, dies dann zu finanzieren? Soll die heutige Arbeitnehmergeneration sowohl die Renten von heute finanzieren und gleichzeitig privat noch die eigene Rente aufstocken? Damit würden viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer komplett überfordert. Oder soll auch die heutige Arbeitnehmergeneration sich darauf verlassen können, dass auch sie im Alter eine von ihren Kindern und dann auch durch zusätzliche Steuermittel finanzierte Rente bekommt? Die Frage ist doch nicht, ob, sondern die Frage ist, wie wir die Renten und die Garantie eines Rentenniveaus in Zukunft finanzieren. Darüber lohnt sich jeder Streit; gar keine Frage.
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Das, was wir heute beschließen, ist finanziert. Bis 2025 ist das Rentenniveau klar gesichert.
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Wir steigen darüber hinaus in die Bildung einer Demografierücklage ein.
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Damit schaffen wir die Voraussetzung, um den Steueranteil zur Finanzierung der Rentenversicherung systematisch auf- und ausbauen zu können.
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Das wird wahrscheinlich auch der Weg der Zukunft sein. Darüber wird aber in der Rentenkommission noch weiter diskutiert werden.
Wenn es aber etwas gibt, was wir klären müssen, dann ist das doch die Frage: Wollen wir in Zukunft wirklich auf die gesetzliche Rentenversicherung als wesentliche Säule unseres Rentensystems setzen, ja oder nein?
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Einen Weg zur Finanzierung werden wir in einem reichen Land wie Deutschland sicherlich finden, und zwar einen gerechten, wenn es nach der SPD geht.
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Letzter Satz. Wenn es also einen Gradmesser für die soziale Sicherheit in Deutschland gibt, dann ist das aus meiner Sicht eine gute Alterssicherung. Für eine gute Altersversorgung sorgen wir mit diesem Rentenpaket heute und jetzt.
Vielen Dank.
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Ulrike Schielke-Ziesing, AfD, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Bürger! Ab heute Mittag werden wir im Haushaltsausschuss in einer Bereinigungssitzung den Haushaltsplan für das Jahr 2019 abschließend beraten, der dann erwartungsgemäß in den frühen Morgenstunden mit den Stimmen der kleinen Koalition beschlossen werden wird. Ich besitze zwar keine funktionstüchtige Glaskugel, bin mir aber sicher, dass wir auch in diesem Jahr wieder eine schwarze Null erreichen werden.
Diese schwarze Null ist auch ein Verdienst des Ministers Heil, der das Kunststück vollbrachte, zwar einiges zu beschließen, aber keinen Cent dafür aus seinem eigenen Haushalt dazuzugeben. Mütterrente II, Aufwertung der Beiträge von Geringverdienern und Erhöhung der Zurechnungszeiten bei Erwerbsminderungsrenten machen im Jahr 2019 rund 4,2 Milliarden Euro aus. Dies alles sind versicherungsfremde Leistungen und sollten daher aus Steuermitteln gezahlt werden – werden sie aber nicht. Die Kosten dafür müssen die gesetzlich Versicherten und Rentner alleine übernehmen.
Am Montag hatten wir im Ausschuss für Arbeit und Soziales eine Anhörung zu diesem Gesetzentwurf. Die geladenen Experten waren einhellig der Meinung, dass es falsch sei, die entstehenden Mehrausgaben der neu geplanten Maßnahmen aus Beitrags- und nicht aus Steuermitteln zu finanzieren. Es handelt sich hier um gesellschaftspolitische Aufgaben, für die keine Beiträge gezahlt worden sind und die auch Personen begünstigen, die nicht zum Kreis der Beitragszahler gehören. Daher muss die Finanzierung dieser Maßnahmen aus Steuermitteln erfolgen.
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Da nützt es dem BMAS auch recht wenig, eine rund 1 Million Euro teure PR-Kampagne durchzuführen, die den Rentenpakt in ein besseres Licht stellen soll. Schlecht durchdachte Maßnahmen kann man zwar schön verpacken, es bleiben jedoch schlecht durchdachte Maßnahmen.
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Bei den 4,2 Milliarden Euro reden wir nur über die neu hinzugekommenen versicherungsfremden Leistungen. Von den anderen Leistungen reden wir hier noch gar nicht. Bereits bei der ersten Lesung bemängelte ich den Aufwuchs an versicherungsfremden Leistungen, die die gesetzliche Rentenversicherung enorm belasten. Im Haushaltsausschuss sagten Sie mir sinngemäß, Herr Minister Heil, es sei schwierig, versicherungsfremde Leistungen zu bestimmen, und diese würden sich im Laufe der Zeit ändern. Warum machen Sie denn nicht den ersten Schritt und erstellen in Zusammenarbeit mit der gesetzlichen Rentenversicherung einen Katalog, in dem die versicherungsfremden Leistungen definiert werden? Selbstverständlich könnte ein solcher Katalog in bestimmten Abständen aktualisiert werden. Aber dann hätten Sie endlich mal eine Übersicht darüber, welche belastende Wirkung Ihre politischen Geschenke auf die Rentner und auf die Beitragszahler haben.
Ich komme aus Mecklenburg-Vorpommern, und ich kann Ihnen sagen, dass die Menschen dort den Glauben an die Politik der SPD aus gutem Grund verlieren. Die Rentenhöhe sinkt, und die Preise für Miete sowie Lebensunterhalt steigen, und die Zukunft der gesetzlichen Rente ist unter den derzeitigen Bedingungen ungewiss. Gerade jetzt, in dieser wirtschaftlich starken Phase, wäre eine Korrektur der jahrzehntelangen Eingriffe in die gesetzliche Rentenversicherung möglich. Daher fordere ich Sie, Herr Minister Heil, auf, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen und die versicherungsfremden Leistungen aus Steuermitteln zu finanzieren, damit die gesetzliche Rentenversicherung zukunftssicher bleibt.
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiler?
Gerne als Kurzintervention, mit Ihrer Genehmigung.
Na ja, Sie können nur eine Zwischenfrage gestatten.
Eine Zwischenfrage würde ich nicht gestatten.
Also nein.
Genau.
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Die Erziehung von Kindern ist Grundvoraussetzung für den Generationenvertrag. Die Zeiten der Kindererziehung sollten daher unsere besondere Anerkennung erhalten, und durch einen Freistellungsbetrag bei der Anrechnung auf die Grundsicherung im Alter sollte gezielt die Altersarmut in dieser Personengruppe bekämpft werden. Wir fordern daher die Bundesregierung auf, möglichst zeitnah einen Gesetzentwurf für die Änderung des SGB XII vorzulegen, der eine angemessene Anrechnungsfreistellung für die Mütterrente vorsieht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner ist Hermann Gröhe, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Minister! Heute ist ein starker Tag für die gesetzliche Rentenversicherung, weil wir sie zielgerichtet und mit Augenmaß klug weiterentwickeln und damit Solidarität und Gerechtigkeit in diesem Land stärken. Wir tun dies auf einer guten Grundlage, denn die deutsche Rentenversicherung steht gut da: Wir erwarten im nächsten Jahr deutliche Rentenerhöhungen. Wir haben prall gefüllte Rentenkassen. Wir werden am Ende des Jahres voraussichtlich mit einer Steigerung der Beitragseinnahmen von 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr rechnen können. Wir konnten in den letzten Jahren übrigens auch einen leichten Anstieg des Rentenniveaus beobachten. Die gesetzliche Rentenversicherung ist ein starkes Stück Sozialstaat.
Ich erlaube mir angesichts so mancher Bemerkung den Hinweis: Diese gesetzliche Rentenversicherung verdankt ihre wesentliche Gestalt der Rentenreform Konrad Adenauers. Ein starkes Stück deutscher Sozialstaat made by CDU!
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Meine Damen, meine Herren, so einfach ist das, und darauf sind wir stolz.
Nun geht es um eine kluge Weiterentwicklung. Da warne ich vor Alarmismus in zwei Richtungen, einmal vor der Behauptung, das alles sei unfinanzierbar. Wenn die Wirkung eines Gesetzes, das bis 2025 ausgerichtet ist, in manchen Medien bis 2060 dargestellt wird und damit der Eindruck erweckt wird, die so addierten Belastungen müsse man einem heutigen Haushaltsvolumen gegenüberstellen, dann ist dies alles andere als seriös.
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Und übrigens, solche Unkenrufe gab es schon 1957.
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Es wurde behauptet, dass eine baldige Unfinanzierbarkeit das ganze Werk Adenauers gefährden werde. Unsinn!
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Ich warne aber auch – das sage ich deutlich – vor einer anderen Richtung des Alarmismus, nämlich vor der Behauptung, als ob es unter der Wirkung der gesetzlichen Rentenversicherung gleichsam so etwas wie eine nahezu flächendeckende Altersarmut gäbe. Wenn ungefähr 3 Prozent der Menschen über 65 eine ergänzende Grundsicherung oder Grundsicherung brauchen, dann zeigt das, dass das Rentensystem funktioniert.
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Das zeigt uns aber auch, dass wir uns gezielt um diese Menschen kümmern müssen. Das tun wir beispielsweise, wenn wir uns heute Nachmittag mit Langzeitarbeitslosigkeit als einer der wesentlichen Ursachen für Altersarmut beschäftigen werden; das tun wir, wenn wir uns im Rahmen des nächsten Rentenpakts mit der Situation kleiner Selbstständiger beschäftigen werden.
Wir dürfen also nicht das Rentensystem insgesamt schlechtreden aus fragwürdigem Alarmismus von der einen oder anderen Seite, sondern müssen gezielt dort ansetzen, wo wir Verbesserungen brauchen. Und das tun wir.
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Ich nenne hier als Erstes die Erwerbsminderungsrente. Wenn wir aufgrund der Altersentwicklung der Gesellschaft in den nächsten Jahren bis 2031 das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre erhöhen – das ist richtig; wir bejahen das –,
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dann wird es trotz aller Anstrengungen im Bereich Reha, wo wir besser werden müssen, und im Bereich betrieblicher Gesundheitsförderung, wo wir besser werden müssen, sicherlich auch Menschen geben, die aus gesundheitlichen Gründen nicht so lange arbeiten können. Wenn sich dann die Berechnung für die Erwerbsminderungsrente am steigenden Renteneintrittsalter ausrichtet, dann stärken wir die Solidarität in der Rentenversicherung und unterstützen Menschen, die nicht länger arbeiten können. Ein gutes Stück mehr Solidarität!
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Wir freuen uns des Weiteren zusammen mit 10 Millionen Müttern und Vätern über die Verbesserung bei der Mütterrente, meine Damen, meine Herren.
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Für uns besteht der Generationenvertrag nicht aus dem Hin- und Herschieben von Finanzleistungen, sondern aus dem Füreinandereinstehen der Generationen. Ein Generationenvertrag lebt nur, weil Millionen Mütter und Väter die Mühen des Aufziehens und der Ausbildung von Kindern auf sich nehmen. Dies verdient mehr Anerkennung, auch in der Rente. Das setzen wir heute durch, meine Damen, meine Herren.
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Weil eben wieder die alten Schlachten rund um das Thema „versicherungsfremde Leistungen“ geschlagen wurden, möchte ich hier sagen: Klar ist doch, dass der Steuerzuschuss längst auch die Funktion der Beitragsstabilisierung hat, längst auch sozialen Ausgleich befördert und heute schon über den sogenannten versicherungsfremden Leistungen liegt. Insofern werden da immer wieder Schlachten der Vergangenheit geschlagen.
Wir entlasten Menschen mit einem Einkommen von unter 1 300 Euro im Monat, ohne ihre Rentenanwartschaft zu kürzen. Also: Jene Bezieher geringer Einkommen, die von Steuerentlastungen nichts haben, werden bei den Sozialversicherungsbeiträgen entlastet.
Natürlich sind auch die beiden Haltelinien ein Ausdruck dafür, dass wir bis 2025 – ich sage auch gleich was zur Zeit danach – die faire Balance zwischen Beitragszahlern und Rentenempfängern, also zwischen Generationen, sichern. Auch da gibt es einen falschen Alarmismus. Die Zahlen von heute zeigen, dass es eines erhöhten Bundeszuschusses voraussichtlich erstmalig überhaupt im Jahr 2025 bedürfen wird und dieser dann unter der bis dahin angesparten Demografiereserve liegen wird. Wer das für unseriös finanziert hält, der sollte einfach mal in die Zahlen schauen.
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Zur Situation nach 2025 sage ich: Das Grundprinzip, das uns bis dahin leitet, muss uns natürlich auch danach leiten. Es geht um Generationengerechtigkeit. Es geht darum, auskömmliche Sicherheit im Alter mit dem Schutz der jungen Generation und der Wirtschaftskraft unseres Landes vor Überforderung zu verbinden. Das wird keine leichte Aufgabe für die Zukunft; ansonsten hätte es keine Rentenkommission gegeben.
Ich bin Minister Heil sehr dankbar, dass er beim Zusammentreten dieser Kommission ausdrücklich vor Denkverboten gewarnt hat. Das Ziel einer fairen Balance zwischen den Generationen ist ja, wie ich denke, zwischen uns unstrittig. Von daher geht es um die Frage, welcher kluge Maßnahmenmix dies am besten gewährleistet. Dabei bleibt die gesetzliche Rentenversicherung ein zentraler Bestandteil. Genauso ist aber Tatsache, dass heute schon fast 60 Prozent der Rentnerinnen und Rentner eine betriebliche Altersversicherung haben, dass wir in der privaten Alterssicherung zwar nicht da sind, wo wir sein wollten, aber viel besser sind, als oft gesagt wird. Deswegen wird für uns im Hinblick auf das Alterssicherungsniveau der Blick auf alle drei Säulen und auch eine bessere Information über die Versorgung in den drei Säulen zentral sein müssen; denn es geht ja darum, dass die Menschen ihre gesamte Alterssicherung im Blick haben.
Ich will mir doch die Bemerkung erlauben: Eine Fixierung allein auf das gesetzliche Rentenniveau ist deswegen schon irreführend – das wissen alle Experten –, weil die Bezugnahme auf das Durchschnittsgehalt etwa mit sich gebracht hat, dass während der Finanzmarktkrise 2009/2010, als die Löhne nach unten gingen, das Rentenniveau durch die 50‑Prozent-Decke schoss, ohne dass irgendeine Rentnerin oder ein Rentner einen Cent mehr hatte. Insofern muss da schon etwas genauer hingeschaut werden. Ich glaube, wir haben dazu in der Rentenkommission eine gute Gelegenheit.
Heute jedenfalls gehen wir einen ganz wichtigen Schritt hin zur Zukunftsfestigkeit unserer gesetzlichen Rente.
Herzlichen Dank.
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Johannes Vogel, FDP, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in abschließender Lesung ein Rentenpaket der Großen Koalition, dessen Gesamtcharakter klar ist. Da will ich zitieren: „sehr bedenklich … teuer, ungerecht und kurzsichtig … keine nennenswerten Auswirkungen auf das Risiko steigender Altersarmut, für das es weit zielgenauere Lösungen gibt“. – „Es wird ein zentraler Mechanismus der Rentenreform von 2004 außer Kraft gesetzt, nämlich der Nachhaltigkeitsfaktor …“ – Die „Tragfähigkeit der Rentenversicherung“ wird „aufs Spiel gesetzt“. – Das sind Zitate aus der Expertenanhörung von Montag. Nicht von irgendwem, sondern von Mitgliedern Ihrer eigenen Rentenkommission,
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und unter anderem von dem Wissenschaftler, der für das Bundesfinanzministerium die Tragfähigkeitsberechnung für die gesetzliche Rentenversicherung macht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist unverantwortlich. Deshalb ist dieses Rentenpaket falsch.
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Halten wir noch mal fest, was Sie hier machen.
Erstens. Rund 90 Prozent der Ausgaben dieses Rentenpakets helfen eben nicht zielgerichtet gegen Altersarmut.
Zweitens. Sie manipulieren die Rentenformel und kündigen damit den Konsens auf, dass die Lasten des demografischen Wandels fair über die Generationen verteilt werden sollen.
Drittens. Sie können nicht erklären, wie das langfristig finanziert werden soll.
Es ist ja grotesk, liebe Kollegin Nahles, zur Finanzierung zu sagen, das sei alles gesichert. Kurzfristig greifen Sie einfach in den Topf der Beitragszahler und brauchen die Reserve auf, die dort vorhanden ist. Langfristig, gerade weil Sie mit der Gießkanne das Geld ausschütten, werden die Kosten explodieren.
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Halten wir doch mal fest: 2030 sind wir schon bei Gesamtkosten von einer Viertelbillion Euro durch dieses Paket. Das sagen nicht wir, sondern das sagt die Deutsche Rentenversicherung höchst selbst. Alleine 2035 wären das 80 Milliarden Euro zusätzlich im Jahr.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, soll der Beitragssatz für die Jüngeren explodieren?
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Setzen Sie auf wundersame Brotvermehrung? Sollen alle Bürger bis 70 arbeiten? Wollen Sie die Steuern erhöhen? Das wären 2035 schon zusätzlich 6 Prozentpunkte Mehrwertsteuer.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, exakt diese Fragen haben wir Ihnen von Anfang an gestellt. Heute beraten wir das Rentenpaket in dritter Lösung –
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in dritter Lesung, und Sie bleiben immer noch jede Antwort schuldig. Das ist unverantwortlich gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, die sich auf die langfristige Stabilität der Rente verlassen können müssen.
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Herr Kollege Vogel, der Kollege Ernst würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Aber sehr gerne.
Lieber Kollege Vogel, Sie haben gerade davon gesprochen, dass die Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung explodieren würden, wenn der Vorschlag Realität wird, den wir heute beraten. Ist Ihnen eigentlich klar, dass die demografischen Entwicklungen so, wie sie sind, auch für die private Rentenversicherung gelten? Oder glauben Sie, dass die Leute dort nicht älter werden?
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Und ist Ihnen klar, dass der wesentliche Unterschied zwischen der privaten und der gesetzlichen Rentenversicherung darin besteht, dass bei der gesetzlichen Rentenversicherung der Beitrag paritätisch aufgebracht wird, nämlich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geteilt wird, wohingegen bei der privaten Rentenversicherung die Jungen diesen Beitrag alleine zu bezahlen haben?
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Können Sie mir von daher folgen, dass die Beitragssteigerungen bei der privaten Rentenversicherung, die notwendig sind, weil auch die Leute in der privaten Rentenversicherung älter werden, deutlich höher sein werden, als das bei der gesetzlichen Rentenversicherung zu erwarten ist?
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Lieber Kollege Ernst, offenbar haben Sie einen Grundmechanismus unserer gesetzlichen Rentenversicherung nicht verstanden.
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Bei einer umlagefinanzierten Rente wird nämlich anders als bei einer kapitalgedeckten gar kein Geld für den Einzelnen angespart,
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sondern es wird insofern zwischen den Generationen verteilt, als dass die Generation, die heute arbeitet, die Rente derjenigen zahlt, die in Rente ist.
Lieber Kollege Ernst, man muss sich entscheiden: Bei einer dynamischen, umlagefinanzierten Rente kann man entweder dafür sorgen, dass die Renten in dem Maße wie die Löhne steigen – eins zu eins –, oder man kümmert sich darum, dass man die Folgen der Alterung der Gesellschaft in den Griff bekommt. Beides gleichzeitig geht nicht. Dasselbe Geld kann man nicht zweimal ausgeben.
Von der Bundesregierung – anders als von der Linkspartei –
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würde ich mehr erwarten als eine Milchmädchenrechnung, wenn es in der Politik um die langfristige Finanzierung von Renten geht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Der Linkspartei können wir das ja noch durchgehen lassen, aber die Große Koalition müsste schon den Anspruch haben, eine Politik zu machen, die in Jahrzehnten denkt, nicht in Legislaturperioden. Leider tun Sie das Gegenteil, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Dabei hätten wir doch solche Chancen. Wir könnten gemeinsam auf die Rentenpolitik die 2000er-Jahre aufbauen, anstatt diese rückabzuwickeln.
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Lassen Sie uns doch dafür sorgen, dass wir gezielt gegen Altersarmut vorgehen,
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sodass jemand, der lange gearbeitet hat, sicher nicht aufs Sozialamt muss. Davon steht im Rentenpaket aber nichts drin.
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Lassen Sie uns die kapitalgedeckte Vorsorge endlich besser machen, wie uns die Schweiz, die Niederlande und Schweden das erfolgreich vormachen. Lassen Sie uns endlich einen flexiblen Renteneintritt einführen, wie die Skandinavier uns das erfolgreich vormachen. Das wäre moderne Rentenpolitik.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, Sie haben sich offenbar für einen entgegengesetzten Weg entschieden, und das erfüllt uns ernsthaft mit großer Sorge.
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Aber man muss zur Kenntnis nehmen, was offenbar die Motivation dahinter ist, nämlich eine parteipolitische. Leider ist es aber auch eine kurzsichtige.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie haben sich offenbar entschieden, die Linkspartei – Klaus Ernst und Kollegen – einholen zu wollen.
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Ich verrat Ihnen was: Diesen Überbietungswettbewerb werden Sie ohnehin niemals gewinnen können, wenn Sie verantwortungsvolle Politik machen wollen. Kehren Sie lieber um!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, alle drei Kandidaten für den Parteivorsitz der CDU haben sich kritisch zu Ihrer Rentenpolitik eingelassen. Friedrich Merz sagt,
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dass die Politik nicht länger zulasten der jungen Generation gehen darf. Jens Spahn fragt, wann wir uns endlich ehrlich machen in der Rentenpolitik. Annegret Kramp-Karrenbauer lässt sich kritisch ein zum Rentenvorstoß von Olaf Scholz, dessen Grundlagen Sie aber heute ins Gesetz schreiben.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, lieber Paul Ziemiak und die Jüngeren, lieber Ralph Brinkhaus, lieber Carsten Linnemann und diejenigen, die für wirtschaftliche Vernunft stehen wollen,
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lieber Jens Spahn ganz persönlich:
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Heute ist die Chance, dass Sie sich ehrlich machen. Das hieße aber, dieses Rentenpaket abzulehnen.
Vielen Dank.
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Matthias Birkwald, Fraktion Die Linke, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Vogel, mit der Rede haben Sie gezeigt, dass die FDP im Interesse der Beschäftigten, der Jungen, der Mittelalten und der Rentnerinnen und Rentner wirklich niemals Verantwortung für die Alterssicherung in diesem Lande haben sollte.
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Die „FAZ“ meldete gestern – Zitat –:
Koalition lässt Beitragssenkung ausfallen
Der Rentenbeitrag könnte auf 18,2 Prozent sinken ...
– doch das Rentenpaket verhindert diese Entlastung. – Zitat Ende.
In der „Bild“-Zeitung hieß es:
Experte warnt vor Renten-Sauerei
Mit den GroKo-Plänen müssen wir bis 72 arbeiten!
Dieser angebliche Experte – das war Ihr Experte –
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heißt Professor Börsch-Supan.
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Er steht der Versicherungswirtschaft und den Arbeitgebern sehr nahe, und er betreibt Angstmache, die mit dem Rentenpaket, über das wir hier heute diskutieren, in Wirklichkeit nichts zu tun hat. In eine Glaskugel zu schauen, um zu erfahren, was bis 2060 sein wird, und dann Milliardenhorrorzahlen zu verbreiten, ist unseriös. Darauf, meine Damen und Herren, sollten wir alle nicht hereinfallen.
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Es reicht, wenn Herr Vogel, die FDP und Teile der Union das tun.
Meine Damen und Herren, andersherum wird ein Schuh daraus. Bei der Rente geht es um die Wertschätzung von Lebensleistung.
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Das heißt unter anderem: Bei der Rente geht es erstens darum, dass Menschen nach einem langen Arbeitsleben ein Leben in Würde führen können und nicht in Armut leben müssen.
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Herr Kollege Birkwald, der Kollege aus der AfD würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Birkwald, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Wir teilen ja Ihre Ansicht, dass ein Leben im Alter in Würde möglich sein muss; aber dafür muss natürlich die Finanzierung stehen. Sie haben gerade einen Sachverständigen kritisiert, der von einer anderen Fraktion benannt worden ist. Diesen Sachverständigen will ich nicht verteidigen; aber Sie sagten, es gebe keine Glaskugel, in die man bis 2060 schauen könne. Bestreiten Sie, dass wir ab 2025 ein massives demografisches Problem in der Rentenversicherung bekommen werden,
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was übrigens auch das Statistische Bundesamt sagt? Und würden Sie das Statistische Bundesamt als unseriös bezeichnen, wenn es für 2060 einen Altersquotienten von 61 in der ersten Variante bzw. 65 in der zweiten Variante prognostiziert?
Herr Kollege Kleinwächter, wir haben einen demografischen Wandel – den leugnet auch Die Linke nicht –; aber der demografische Wandel ist kein Grund dafür, den Menschen die Renten zu kürzen, sofern man es richtig macht.
Sie haben das Thema „Altenquotient“ angesprochen. Das haben Sie auch in Ihrer Zwischenfrage in der ersten Lesung gemacht. Dazu darf ich Ihnen heute sagen: Als Bismarck im Jahre 1889/90 die Rentenversicherung eingeführt hat,
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waren 10,2 Menschen im Alter von 20 bis 65 Jahren für die Finanzierung eines Rentners oder einer Rentnerin zuständig. Im Jahr 1916 wurde die Regelaltersgrenze bei 65 Jahren eingeführt. Da waren immer noch 10 für einen Rentner zuständig. Bei der von Herrn Gröhe eben angeführten Einführung der dynamischen Rentenversicherung durch Konrad Adenauer waren es 5,2. Das heißt, wir haben von 1889/90 bis 1957 einen riesigen demografischen Wandel gehabt. Trotzdem lag die Regelaltersgrenze bei 65 Jahren. Heute sind wir bei 2,9 und im Jahr 2060 werden wir bei 1,7 sein. Sie müssen aber festhalten, dass wir in den 70er- und 80er-Jahren keine Arbeitszeitverlängerungen hatten, sondern Arbeitszeitverkürzungen, trotz demografischen Wandels, und wir hatten damals sogar Lohnsteigerungen. Die Älteren erinnern sich noch an Herrn Heinz Kluncker von der Gewerkschaft ÖTV; der war doppelt so dick wie ich. Er hat Lohnerhöhungen von 13 Prozent gefordert. 10 Prozent hat er bekommen mit der entsprechenden Rentenerhöhung.
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Das heißt, wenn wir die Produktivität und das Wirtschaftswachstum fair verteilen und die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen endlich wieder ihren fairen Anteil an der Alterssicherung bezahlen, dann können wir das finanzieren.
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Ich sage Ihnen: Professor Börsch-Supan rechnet mit einem Altenquotienten von 20 bis 65. Leider haben aber alle in diesem Haus, außer der Linken, die unsägliche Rente erst ab 67 beschlossen. Dann muss man die zwei Jahre Beschäftigungszeit mehr aber auch den Erwerbstätigen zurechnen. Das tut er aber nicht. Deswegen ist das unseriös. Und mit einem Wanderungssaldo von 200 000 zu rechnen – nach den vergangenen drei Jahren auf die nächsten 40 Jahre – ist auch unseriös.
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Damit ich hier nicht übertreibe, Herr Präsident, sage ich ganz zum Schluss: Sie können ja alle einmal den Test machen.
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Rechnen Sie sich einmal geistig ins Jahr 1976 zurück, und überlegen Sie, was man damals für heute voraussagen konnte und was nicht. Genau so wäre es, wenn man heute ins Jahr 2060 guckt.
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Ich sage Ihnen: Eine gute Rente ist finanzierbar, wenn wir es richtig anfassen.
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Jetzt will ich weitermachen. – Bei der Rente geht es zweitens darum, dass Menschen im Alter ihren im Berufsleben erarbeiteten Lebensstandard in etwa halten können.
Bei der Rente geht es drittens darum, dass Frauen und Männer, die Kinder erziehen, für diese Leistung in den ersten drei Lebensjahren des Kindes so viel Rente erhalten müssen, als wenn sie in dieser Zeit durchschnittlich verdient hätten – in gleicher Höhe in Ost und West und egal, wann die Kinder geboren wurden. Ich sage: Die Erziehungsleistung der vielen Frauen und der wenigen Männer muss uns das wert sein.
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Bei der Rente geht es viertens darum, dass Menschen, die zu krank zum Arbeiten sind, in der Rente so gestellt werden, als wenn sie bis zu ihrem 65. Geburtstag gesund durchgearbeitet hätten. Kranke dürfen nicht mit Abschlägen, also mit Rentenkürzungen für ihren unfreiwilligen Renteneintritt bestraft werden.
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Fünftens benötigen Menschen, die in unserem Land gezwungen waren, zu geringen oder zu niedrigen Löhnen zu arbeiten, einen guten Ausgleich in der Rente.
Ja, das alles kostet Geld, Geld der Arbeitnehmenden, Geld der Arbeitgebenden und Geld der Steuerzahlenden. Wenn alle bereit sind, ihren fairen Anteil zu zahlen, ist das finanzierbar. Ich habe es Ihnen ja gerade zum Teil vorgerechnet.
Alle fünf Punkte sind derzeit nur Forderungen der Linken, der Sozialverbände und der Gewerkschaften. Aber, sehr geehrter Herr Bundesminister Hubertus Heil, ich erkenne ausdrücklich an, dass Sie sich auf den Weg gemacht haben.
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Sie haben bei vier von fünf Punkten mit diesem Gesetzentwurf immerhin die halbe Wegstrecke geschafft. Gut so.
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Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, Sie stoppen mit dem Rentenpakt nur den Sinkflug des Rentenniveaus, und das auch nur bis 2025. Das ist zu wenig. Um den Lebensstandard im Alter zu sichern, brauchen wir wieder ein höheres Rentenniveau. Gewerkschaften und Sozialverbände sehen das auch so. Der Sozialverband Deutschland und wir Linken fordern 53 Prozent Rentenniveau.
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Eine Standardrentnerin hätte dann 122 Euro mehr. Das ist finanzierbar, auch im Jahr 2030.
Zur sogenannten Mütterrente. Die Leistung, ein vor 1992 geborenes Kind zu erziehen, ist genauso viel wert wie die Leistung, ein nach 1992 geborenes Kind zu erziehen. Dazu bräuchte es aber drei Entgeltpunkte und nicht zweieinhalb, also 96 Euro Rente für jedes Kind und nicht nur 80 Euro für die älteren. Und die Mütterrente muss komplett aus Steuermitteln finanziert werden. Kindererziehung geht uns alle an.
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Das fordern der Bundesrat und wirklich alle Fachleute. Also machen Sie es bitte!
Und sorgen Sie unbedingt dafür, dass Adoptiv- und Pflegeeltern auch wirklich Mütterrente erhalten. Das tun Sie mit diesem Gesetz nämlich nur sehr bedingt. Zur Not sollen die leibliche Mutter und die Adoptivmutter eben beide die Mütterrente erhalten. Das ist nicht linksradikal, nein, das hat der Bundesrat gefordert. Also tun Sie es bitte!
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Zur Erwerbsminderungsrente. Sie heben nun die Zurechnungszeit in einem Schritt bis zur Regelaltersgrenze an. Im vergangenen Jahr hatten Sie das noch über sieben Jahre gestreckt. Ich hatte das scharf kritisiert, weil Erwerbsminderungsrentner mit monatlich nur knapp 5 Euro mehr im ersten Jahr abgespeist wurden. Darum hat Die Linke sofort nach der Bundestagswahl einen Antrag eingebracht, um die Zurechnungszeit in einem Rutsch bis 65 anzuheben. Das tun Sie nun. Gut. Wenn die Menschen in Zukunft 70 Euro netto mehr im Monat haben, sage ich: Links wirkt, gut gemacht.
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Aber auch nach der neuen Regelung lassen Sie nur den zukünftig Kranken eine Verbesserung bei der Rente zukommen. Sie lassen die 1,8 Millionen heutigen Erwerbsminderungsrentner nun zum dritten Mal hintereinander leer ausgehen. Das darf auf gar keinen Fall so bleiben, auf gar keinen Fall!
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Liebe Koalition, Ihre Ignoranz in diesem Punkt ist wirklich unglaublich. In der Sachverständigenanhörung im Ausschuss haben Ihnen nicht nur der Deutsche Gewerkschaftsbund, der VdK, der SoVD und fünf Professoren gesagt, dass Sie dringend etwas für die Bestandsrentner tun müssen. Auch der Bundesrat hat Sie zum Handeln aufgefordert. Recht hat er. Viele Erwerbsminderungsrenten liegen unter dem Sozialhilfesatz. Hier geht es oft um Schicksalsschläge. Viele haben auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr. Das geht so nicht. Da müssen wir unbedingt ran.
Ich sage Ihnen: Wir Linken sind offen für eine Debatte darüber, ob die Abschaffung der Abschläge für alle die zielführende Lösung ist. Der Weg ist mir egal; aber das Ziel muss sein, dass alle Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner, die heutigen und die künftigen, ein Leben führen können, das sie nicht in Armut hält. Würde ist wichtig. Darum geht es.
Danke schön.
({16})
Jetzt erteile ich das Wort Markus Kurth von Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Rentenfinanzen sind gut. Das freut uns auch als Opposition, weil es die Leistungsfähigkeit des umlagefinanzierten Systems der Alterssicherung unterstreicht und deutlich macht.
({0})
Es ist durchaus vernünftig, 15 Jahre nach der Rürup-Kommission eine Neubewertung und eine Akzentverschiebung vorzunehmen, die auch das Rentenniveau und seine längerfristige Sicherung in den Mittelpunkt stellt; denn die gesetzliche Rente ist mehr und muss mehr sein als eine bessere Sozialhilfe. Sie ist eine Einkommensversicherung – Andrea Nahles hat das hier im Grundsatz übrigens ganz richtig ausgeführt –, die als solche auch für die Mittelschicht attraktiv sein muss. Für Menschen, die ein halbwegs geschlossenes Erwerbsleben haben, muss sie deutlich mehr darstellen als nur etwas über Grundsicherung.
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Es ist auch keinesfalls so, lieber Johannes Vogel, dass die Rentenfinanzierung in den letzten Jahren völlig aus dem Ruder gelaufen sei.
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Es gibt eine Größe, die man im Zusammenhang mit den Ausgaben für die gesetzliche Rentenversicherung berücksichtigen muss, nämlich die Wirtschaftsleistung dieses Landes, erbracht durch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
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Jetzt will ich hier nicht zu viele Zahlen nennen, aber ganz ohne komme ich auch nicht aus. Der Anteil der Rentenausgaben am Bruttoinlandsprodukt lag die ganzen letzten Jahre bei 9,1 Prozent der Wirtschaftsleistung. Im Jahr 2003 lag der Anteil der Rentenausgaben bei 10,5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Der Anteil ist also zurückgegangen und dann stabil geblieben, und das, obwohl die Zahl der Rentnerinnen und Rentner größer geworden ist. Das heißt also, Rentnerinnen und Rentner haben sehr wohl ihren Beitrag zur Konsolidierung geleistet und sind auch dabei.
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Ähnliches gilt auch für den Bundeszuschuss.
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Heißt das jetzt aber, dass man sozusagen das Geld mit vollen Händen zum Fenster rauswerfen kann oder dass man nicht so genau hingucken muss, wenn man eine langfristige Niveaustabilisierung betreibt? Nein, mitnichten. Da muss ich wirklich an die Adresse der SPD, aber auch an die Adresse der Union sagen: Auf Nachhaltigkeit und eine längerfristige Finanzierung scheinen Sie keinen besonderen Wert zu legen,
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nicht bis 2025 und erst recht nicht für den Zeitraum danach.
Wenn ich hier höre, dass Sie eine Demografiereserve anlegen wollen, damit das Niveauversprechen für das Jahr 2025 gehalten werden kann, wenn dann leider die Nachhaltigkeitsrücklage leergelaufen ist, dann verweise ich mal auf das, was die Vorsitzende der Deutschen Rentenversicherung an diesem Montag in unserer Anhörung gesagt hat. Sie hat nämlich gesagt, sie weiß gar nichts von einer Demografiereserve. Sie liegt jedenfalls nicht bei ihr. Diese Reserve ist eine Absichtserklärung,
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die Sie auf ein Papier geschrieben haben und die jeder nächste Finanzminister auch wieder ändern kann.
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– Frau Roßbach von der Deutschen Rentenversicherung hat gesagt, sie kann zur Demografiereserve gar nichts sagen;
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denn ihr ist dazu nichts bekannt. – Das ist doch mal eine Aussage.
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Für das Jahr 2040, für das Herr Scholz das Rentenniveau ebenfalls stabilisieren will, haben Sie kein vernünftiges Angebot. Ich finde es fast schon dramatisch, wenn der Finanzminister und Vizekanzler solche Niveausicherungsversprechungen macht, es aber noch nicht einmal schafft, im jetzigen Haushalt wenigstens bis 2025 ausreichend Vorsorge für das Rentenpaket zu treffen, das Sie jetzt hier verabschieden. Das merken die Leute.
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Dann möchte ich noch etwas zu einigen Bestandteilen dieses Rentenpakets sagen. Also, es kommen ja sowieso schon genug Herausforderungen auf die gesetzliche Rentenversicherung durch andere Gesetze zu, die Sie jetzt im Umfeld dieses Gesetzes verabschieden. Die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung ist prima, das ist ja gut; sie wird aber dazu führen, dass das Rentenniveau rein rechnerisch sinkt, weil eben das Einkommen der Arbeitnehmer steigt. Die Einführung der Parität in der Krankenversicherung unterstützen wir sehr; sie wird aber dazu führen, dass die Rentenversicherung schon im nächsten Jahr 1,4 Milliarden Euro Mehrausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung hat. In ähnlicher Weise wirkt natürlich die Erhöhung des Beitrags zur Pflegeversicherung, die heute Abend beschlossen werden wird. So, das ist schon mal eine ganze Menge.
Dann sind wir uns alle einig, dass die 1,5 Milliarden Euro kostenschwere Verbesserung bei der Erwerbsminderungsrente sinnvoll ist und kommen soll.
({12})
Da haben wir schon einiges zusammen.
Da frage ich mich: Muss man an dieser Stelle jetzt wirklich noch die sogenannte Mütterrente systemwidrig draufpacken und damit eine sehr langfristige Kostenbelastung verursachen? Wo bleibt denn da der vielgerühmte Wirtschaftsflügel, der Berufsjugendliche und selbsternannte Anwalt der jungen Generation, Jens Spahn, wenn es darum geht, wenigstens eine vernünftige Finanzierung der Mütterrente, wenn man sie schon macht, sicherzustellen?
({13})
Nichts ist von denen zu hören.
Der Wirtschaftsflügel der Union hat sich vor vier Jahren wahnsinnig über die Rente mit 63 aufgeregt, weil es ja schlecht sei, wenn die Arbeitnehmer früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Die Mütterrente II, die jetzt kommen soll, wird viel teurer als die Rente mit 63 vor vier Jahren. Wo hört man denn da was vom Wirtschaftsgeflügel der Union? Gar nichts! Nichts hört man!
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Dazu können Sie überhaupt nichts sagen.
Ich bin jetzt leider mit meiner Redezeit auf der Zielgeraden.
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Herr Kollege Kurth, Sie sind nicht auf der Zielgeraden, Sie sind darüber.
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Setzen Sie auf Bündnis 90/Die Grünen,
({0})
Bürgerversicherung, Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit bei der Rentenfinanzierung. Dann wird das auch klappen.
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Jetzt hat das Wort der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist ein wichtiger Tag für soziale Sicherheit und für den sozialen Zusammenhalt in Deutschland, weil wir ein Kernversprechen des Sozialstaates erneuern, nämlich dafür zu sorgen, dass sich die Menschen nach einem Leben voller Arbeit wieder auf eine auskömmliche Alterssicherung verlassen können. Das ist der wesentliche Fortschritt dieses Gesetzes.
({0})
Wir haben hier eine lebhafte Debatte; dazu will ich gleich etwas sagen. Aber erst einmal komme ich zum Inhalt des Gesetzes, über den hier von der Opposition nur begrenzt gesprochen wurde.
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Worum geht es denn? Erstens. Es geht darum, dass wir das Rentenniveau in den nächsten Jahren tatsächlich sichern, damit die Einkommen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und von Rentnerinnen und Rentnern nicht entkoppelt werden. Das ist kein Geschenk, meine Damen und Herren. Das ist eine Anerkennung der Lebensleistung von Menschen, die hart gearbeitet haben. Hören Sie von der Opposition auf, von „Geschenken“ zu reden!
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Zweitens. Wir verbessern mit der Mütterrente die Anrechnung der Kindererziehungszeiten, die stärker berücksichtigt werden. Auch das ist kein Almosen, sondern eine Anerkennung der Leistung von Menschen, die Kinder erzogen haben. Was denn sonst, meine Damen und Herren?
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Wir sichern zukünftig mit einer Verbesserung der Anrechnungszeiten bei der Erwerbsminderungsrente diejenigen ab, die einfach nicht mehr können. Herr Kollege Birkwald, wenn es nach mir ginge, dann würden wir auch über den Bestand reden. Ich muss nur sagen, dass es jetzt schon einmal ein Fortschritt ist, dass Sie diese Verbesserung anerkannt haben. Dafür danke ich Ihnen ganz herzlich. Das ist faire Opposition.
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Drittens. Wir entlasten Geringverdiener, die es tatsächlich nicht leicht haben, von Beiträgen, ohne dass sich ihre sozialen Anwartschaften für die Rente verschlechtern. Das ist der Rentenpakt für Deutschland, meine Damen und Herren. Das sichert sozialen Zusammenhalt.
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Ich will der Opposition einiges sagen. Herr Vogel, mal ganz grundsätzlich: Wer sich hier wie die FDP aus der Regierungsverantwortung stiehlt
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und so redet, der disqualifiziert sich selbst für diese Debatte.
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Wer all das kritisiert und dabei verschweigt, welche Alternativen er im Köcher hat, der muss sich auch fragen lassen, was das ist, was er macht. Sie haben viel über Kosten geredet. Keine Frage, auch wir reden über die Finanzierung; dazu will ich gleich einen Satz sagen. Aber wer von allem den Preis kennt und von nichts mehr den Wert, der weiß nicht, was der Wert der gesetzlichen Rentenversicherung ist.
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Das ist ein gutes System. Es muss die tragende Säule sein.
Der entscheidende Unterschied zwischen Ihnen und dieser Koalition ist: Wir wollen, dass die gesetzliche Rente neben der privaten und der betrieblichen Rente, die ergänzend kommen sollen, die tragende Säule der Alterssicherung bleiben soll. Sie wollen die Rente schwächen, wir wollen sie stärken. Das ist der Unterschied.
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Menschen für Menschen, Generation für Generation, im Interesse übrigens von Eltern, aber auch von Großeltern und Kindern, darum geht es. Sie spielen die Generationen gegeneinander aus. Ich will Ihnen das einmal sehr deutlich sagen, Herr Vogel: Ihre Art und Weise ist, den Menschen zu verschweigen, was Sie wollen. Sie wollen eine stärkere Privatisierung der Rente. Dann sagen Sie das hier doch ganz offen. Wir gehen einen anderen Weg, und das ist gut für Deutschland.
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Herr Bundesminister, der Kollege Vogel würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
({0})
Danke für die Verlängerung meiner Redezeit, Herr Kollege.
({1})
Lieber Herr Kollege, lieber Herr Bundesminister, lieber Hubertus Heil, an dieser Stelle kann ich das aber so nicht stehen lassen; denn was wir wollen, ist – um das klar zu sagen –, die Politik zu verteidigen und die Rentenformel zu sichern, die die SPD in ihrer Regierungsverantwortung in den Nullerjahren in diesem Land selbst eingeführt hat,
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weil sie einmal verstanden hatte, dass es notwendig ist, die Rente stabil zu halten für alle Generationen. Ich lasse mir vieles entgegenhalten, aber nicht, dass wir Generationen gegeneinander ausspielen. Generationen gegeneinander auszuspielen, das tut nicht derjenige, der auf Tatsachen hinweist, sondern das tut derjenige, der Tatsachen schafft, und das ist die Große Koalition, das sind Sie, das bist Du ganz persönlich.
({1})
Herr Kollege Vogel, Sie haben verschwiegen, dass wir in diesem Gesetz beides schaffen, nämlich eine Sicherung des Rentenniveaus und eine Sicherung der Beitragssatzstabilität. Vielleicht könnten Sie eines anerkennen: Die Sicherung der Altersvorsorge hat nicht nur mit der Frage zu tun, was wir im Rentensystem selbst machen. Es ist notwendig, die Stellschrauben richtig zu stellen; das machen wir heute. Aber es geht um die Frage, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt.
({0})
Sie wissen ganz genau, dass die Prognosen aus den Jahren 2003 und 2004, die die Entwicklung des Arbeitsmarktes betrafen – der Rentenpolitik damals unterlegt –, viel pessimistischer waren, als sich dann – Gott sei Dank – der Arbeitsmarkt in Deutschland tatsächlich entwickelt hat. Deshalb sage ich Ihnen: Ja, wir haben eine demografische Herausforderung in den nächsten Jahren. Aber diese können wir meistern, wenn wir in der Rente das Richtige tun, wenn wir die Finanzierung sichern und wenn wir gleichzeitig dafür arbeiten, dass Wachstum, Produktivität und Erwerbsbeteiligung möglichst aller in diesem Land möglich sind. Wenn das möglich ist, dann müssen wir die Generationen nicht wie Sie gegeneinander ausspielen. Sie verhetzen das an dieser Stelle, indem Sie die gesetzliche Rente madig machen. Das kann ich Ihnen nicht durchgehen lassen, Herr Vogel; das müssen Sie sich auch mal sagen lassen.
({1})
Sie sind verbunden mit der privaten Versicherungswirtschaft; sagen Sie das doch mal ganz offen. Die mit Ihnen verbündeten Initiativen, die heute als bezahlte Lobbyisten hier in Berlin gegen die Rentenpolitik Stimmung machen, sind keine Menschen, die das Gemeinwohl im Blick haben. Das sind Interessenvertreter, und mit denen sind Sie im Bunde, Herr Vogel. Das kann man Ihnen nicht ersparen.
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– Nein, das muss jetzt mal deutlich ausgesprochen werden. Wer ständig die gesetzliche Rentenversicherung krankenhausreif redet, wie Sie das tun,
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und sich dann als Notarzt anbietet, disqualifiziert sich für eine vernünftige Rentenpolitik. Das kann ich Ihnen nicht durchgehen lassen.
({4})
Zum Schluss. Dieser Rentenpakt ist ein erster und großer Schritt. Wir werden im nächsten Jahr die Grundrente einführen und die Selbstständigen in das System der Alterssicherung einbeziehen. Wir werden auch die Weichen über 2025 hinaus stellen. Ja, die Rentenpolitik, die wir machen, kostet Geld, gar keine Frage. Aber die entscheidende Frage lautet: Ist es der Gesellschaft etwas wert, die Alterssicherung in diesem Land für alle Generationen verlässlich zu gestalten? Herr Vogel, es gibt Nationen in Europa, die für die Alterssicherung anteilig mehr ausgeben. Wir sind ein starkes Land. Den sozialen Zusammenhalt zu sichern durch eine verlässliche Altersvorsorge, ist eine gute Investition in die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Deshalb ist heute ein guter Tag für die soziale Sicherheit und den Zusammenhalt unseres Volkes.
Herzlichen Dank.
({5})
Jürgen Pohl, AfD, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Herr Minister! Sehr geehrte Kollegen!
({0})
Liebe Gäste! Vor uns liegt ein Rentenpaket, das angeblich zur Verbesserung der sozialen Situation der Rentner beitragen soll. Ich sage bewusst „angeblich“. Denn die Wahrheit ist: Für die Rentner verbessert sich im Grunde nichts. Aber es gibt eine zweite Wahrheit in diesem Paket, eine innere Wahrheit. Es ist – jetzt hören Sie genau zu! – das Eingeständnis der SPD ihres vollständigen Scheiterns in sozialen Fragen.
({1})
Liebe Sozialdemokraten, wer ist denn seit 1998 fast durchgängig für die Rentenpolitik in diesem Land zuständig? Richtig, das sind Sie, Genossinnen und Genossen. Die Rentenkatastrophe von morgen ist also Ihr Werk.
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Und nun müssen Sie erkennen, welchen Murks Sie in der Vergangenheit verzapft haben. Aber mit ein bisschen Kosmetik – das sage ich Ihnen – werden Sie die Katastrophe nicht abwenden können.
({3})
– Das ist Inhalt.
Lassen Sie mich nur einmal drei folgenschwere Fehler aufzeigen. Erstens. Sie haben den Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt, also eine grundsätzliche Dämpfung der jährlichen Rentenerhöhung.
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Zweitens. Sie haben die Rente mit 67 eingeführt.
Drittens. Sie haben – noch viel schlimmer; davon sprechen heute nur wenige – die Agenda 2010 durchgesetzt. Das heißt, Sie haben die Menschen in Leiharbeit getrieben und so einen riesigen Niedriglohnsektor geschaffen, mit der Folge, dass mit diesen miserablen Löhnen die Menschen unmöglich ausreichende Rentenanwartschaften erarbeiten können. Das haben Sie gemacht.
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Kurzum: Sie haben Politik der Altersarmut betrieben. Das ist Ihr Werk.
Und jetzt wollen Sie ein bisschen an der sozialpolitischen Stellschraube drehen, aber bloß deshalb, weil Ihnen massenhaft die Wähler weglaufen, weil Ihnen längst jegliche Glaubwürdigkeit in sozialen Fragen fehlt.
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Fangen wir mit der Glaubwürdigkeit an. Zur Glaubwürdigkeit gehört, den Wählern die Wahrheit zu sagen.
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Seit fast 30 Jahren wird den Ostrentnern die Angleichung ihrer Renten an die Westrenten versprochen. Dann sagen Sie Ihren Wählern doch bitte, dass die jetzt geplante Angleichung bis 2025 eine Rentenkürzung sein wird,
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weil gleichzeitig der Hochwertungsfaktor wegfällt und die Brüder und Schwestern im Osten wieder einmal den Kürzeren ziehen werden.
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Das sagen Sie ihnen bitte einmal!
({10})
– Das ist kein Schwachsinn. – Wir Ostdeutsche fordern die sofortige Angleichung der Renten bei Beibehaltung des Hochwertungsfaktors für die Zeit, für die er noch gebraucht wird.
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Liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, die Brückenfrauen aus Artern haben mich um Rat gefragt: „Warum tut die SPD so etwas?“ Die Brückenfrauen sind eine streitbereite Gruppe von Frauen, die sich für das Gemeinwohl einsetzt. Sie fragen, warum sie als Mütter, die ihre Kinder vor 1992 geboren haben, schlechter behandelt werden.
({12})
Wollen Sie diesen Müttern sagen, dass wir kein Geld für sie haben? Wir von der AfD fordern die volle Mütterrente für alle Kinder und vor allem die Freistellung der Mütterrente von der Inanspruchnahme bei der Grundsicherung.
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Meine Damen und Herren von der SPD, Ihre Wähler sind auch die in der DDR geschiedenen Frauen. Obwohl diese kämpfend bis vor die UNO gezogen sind, verweigern Sie als SPD diesen Frauen die Gerechtigkeit. Wir als AfD fordern einen Härtefallfonds für den fehlenden Versorgungsausgleich der DDR-Geschiedenen. Sie machen gar nichts. Was ist mit der Zusatzversorgung der DDR-Reichsbahner? Das sind 100 000 ehemalige Beschäftigte, die Sie im Regen stehen lassen. Bei der Wiedervereinigung wurden sie vergessen, genauso wie andere: Bergleute, Postler, Krankenschwestern und Künstler. Für die machen Sie nichts.
Liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, warum Sie keiner mehr wählt, ist jetzt kein Geheimnis mehr. Ich stehe hier vor Ihnen als Vertreter einer neuen Volkspartei, der Partei der Arbeiter und Angestellten.
({14})
Ich sage Ihnen: Wir machen es besser.
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Sie können noch 20 solcher vollkommen untauglichen Rentenkonzepte auf den Weg bringen; aber Ihr Abstieg zur Splitterpartei wird dadurch nicht aufgehalten.
Danke schön.
({16})
Max Straubinger, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
({0})
– Frau Kollegin Hendricks, ich habe dem Kollegen Max Straubinger das Wort erteilt.
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Er spricht jetzt.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir bringen heute ein Gesetzgebungsverfahren zum Abschluss, das der sozialen Sicherung der Menschen in unserem Lande dient sowie der Altersversorgung bzw. der Anerkennung von Lebensleistungen in besonderem Maße gerecht wird. Gleichzeitig wird eine bessere Absicherung der Menschen erfolgen, die aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen am Arbeitsprozess und am Erwerbsleben nicht mehr teilnehmen können.
Ich glaube, wir alle dürfen stolz sein – das gesamte Haus darf stolz sein –, dass es uns in diesem wirtschaftlichen Umfeld ermöglicht ist, weitere große soziale Leistungen in puncto Alterssicherung und -vorsorge der Menschen auf den Weg zu bringen.
({0})
Besonders als CSU-Politiker bin ich stolz, dass wir hiermit die Mütterrente weiter ausbauen, dass damit ein halber Rentenpunkt für vor 1992 geborene Kinder zur Anrechnung kommt und dass es gleichzeitig zu einer Verbesserung bei der Erwerbsminderungsrente kommt.
Wenn der Kollege Birkwald und andere Kollegen, auch solche von der SPD, hier immer wieder fragen: „Was ist dann mit den Bestandsrentnern bei der Erwerbminderungsrente?“, so muss man schon anerkennen, dass es in der Vergangenheit grundsätzlich andere Voraussetzungen gab, um eine Erwerbsminderungsrente zu bekommen. Bis 2002 gab es keine Abstriche, und deshalb galt die Zurechnungszeit nur bis zum 55. Lebensjahr – zu Recht. Gleichzeitig haben wir in der Vergangenheit die Zurechnungszeit ständig angepasst. Auch deshalb ist die Kürzung um 10,8 Prozent unter den versicherungsmathematischen Gesichtspunkten richtig, die wir hier mit berücksichtigen wollen. Wir legen damit einmal mehr die Grundlage dafür, das Rentenniveau zu sichern.
Lieber Kollege Vogel, Sie haben von Manipulation geredet. Das möchte ich zurückweisen.
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Es muss erlaubt sein, in einem Rentenversicherungssystem immer wieder Anpassungen vorzunehmen. In der SPD hat man zunächst einem kleinen Irrglauben angehangen. 1998 wurde unter Rot-Grün der sogenannte demografische Faktor, der unter Bundesminister Blüm eingeführt worden ist, ausgesetzt. Dann ist 2004 ein Nachhaltigkeitsfaktor eingebaut worden.
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Knapp 15 Jahre später ist es dennoch richtig – darin gebe ich dem Kollegen Markus Kurth recht –, darüber nachzudenken, ob hier nicht auch ein Veränderungsbedarf besteht. Dazu sage ich Ja, werte Kolleginnen und Kollegen. Denn es ist auch richtig, etwas immer wieder anzupassen. Das hat die CDU/CSU-FDP-Regierung getan; da haben Sie nicht von Manipulation gesprochen. Jetzt begegnen Sie uns mit dem scharfen Vorwurf der Manipulation. Das ist unmöglich. Dies sage ich ganz offen.
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Werte Kolleginnen und Kollegen, es ist heute sehr deutlich geworden, dass der zweiten und der dritten Säule ein großes Misstrauen entgegengebracht worden ist: einmal von der Kollegin Nahles, jetzt auch von Bundesminister Heil. Dafür habe ich kein Verständnis. Wenn der Kollege Birkwald immer darauf setzt, Lebensstandardsicherung einzufordern, so waren wir uns doch immer einig, dass die Lebensstandardsicherung im Alter drei Säulen hat:
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einmal die gesetzliche Rente, dann die betriebliche Altersversorgung und die private Vorsorge. Ich kann nicht verstehen, dass heute in diesem Haus die betriebliche Altersversorgung und die private Vorsorge in ein schiefes Licht gesetzt werden, weil sie auf Kapital setzen.
Frau Kollegin Nahles, die Anlagen für eine Zusatzvorsorge für im öffentlichen Dienst Beschäftigte, die Anlagen hinsichtlich der betrieblichen Altersversorgung und auch die Anlagen hinsichtlich der privaten Vorsorge fußen auf der Kapitalanlage. Wenn Sie heute darzulegen versuchen, das System der gesetzlichen Rentenversicherung sei besser und wettbewerbsfähiger als die Kapitalanlagen, so muss ich das zurückweisen. Denn die Kapitalanlagen verzinsen sich derzeit mit rund 2,5 Prozent, obwohl wir insgesamt eine niedrige Verzinsungsrate zu verzeichnen haben. Sie sind stabil; sie stellen einen stabilen Pfeiler dar.
Herr Bundesminister, ich habe kein Verständnis für Ihre Aussagen, die Sie gegenüber dem Kollegen Vogel getroffen haben, dass er hier sozusagen ein Vertreter der Kapitalanlagegesellschaften sei und so spreche.
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Nein, Sie müssen als Bundesminister durchaus respektieren, was die Kapitalanlagegesellschaften auch für die Alterssicherung der Menschen bei uns bedeuten
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und dass es sich dabei nicht um eine mafiaähnliche Organisation handelt. Das muss ich Ihnen hier schon mit auf den Weg geben.
Ich glaube, wir haben hier einen sehr guten Kompromiss zwischen der Union, CDU und CSU, und der SPD gefunden. Ich bitte alle, hier dementsprechend die Zustimmung zu erteilen.
In diesem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. – Herr Präsident, die Redezeit habe ich nicht ausgeschöpft.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die FDP die Abgeordnete Gyde Jensen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stehe hier heute stellvertretend für die junge Generation, die sich wünschen würde, dass wir das hier heute nicht verabschieden.
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Das Rentenpaket mit den Versprechungen des Finanzministers kostet, geschätzt bis 2030 – das haben wir schon gehört –, eine viertel Billion Euro – wahnsinnig viel Geld, das für Investitionen in die Zukunft fehlt. Statt mehr in die Zukunft zu investieren, macht die Große Koalition unverantwortliche milliardenschwere Wahlgeschenke.
({1})
Die Frage der Finanzierung lagern Sie lieber in eine Kommission aus. Ich verstehe nicht, warum Sie diese Kommission überhaupt einsetzen, wenn Sie die Ergebnisse dieser Kommission gar nicht abwarten – alles getreu Ihrem Motto „Nach uns die Sintflut“.
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Der Zuschuss des Bundes zur Rentenversicherung ist der mit Abstand größte Posten im Bundeshaushalt. Es ist aber heute schon klar, dass Sie Erwartungen wecken, die unfinanzierbar sind. Selbst bei gleichbleibend guter Konjunktur wie der derzeitigen – wir haben gestern erst gehört, dass die Wirtschaftsweisen ihre Prognose gesenkt haben – ist dieses Vorgehen nicht nur naiv, sondern auch grob ungerecht gegenüber der jungen Generation, die es am Ende bezahlen muss.
({3})
Meine Damen und Herren, an dieser Prioritätensetzung können wir ablesen, wie unwichtig das Thema Generationengerechtigkeit dieser Großen Koalition und der Bundesregierung ist.
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Finanzminister Scholz hat sogar selbst einmal darauf hingewiesen, es gehe um die Balance zwischen den Leistungen für die Älteren und den Belastungen für die Jüngeren.
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Was ist denn daraus geworden? Bei der Nachhaltigkeit der Rente schneidet Deutschland übrigens international mittlerweile genauso schlecht ab wie bei den Bildungsausgaben. Beides belastet vor allem die Jungen.
({6})
Zudem ist Bildung die soziale Frage des 21. Jahrhunderts, eine Frage, die darüber entscheidet, wie durchlässig eine Gesellschaft ist und wie Aufstiegschancen genutzt werden können.
({7})
Mit immer höheren Belastungen, die Sie hier heute wahrscheinlich beschließen werden, und viel zu geringen Investitionen verspielen Sie genau diese Aufstiegschancen kommender Generationen.
Meine Damen und Herren, ich möchte gern, dass Sie auch eines verstehen: Mit Ihren Vorschlägen zur Rente begeben Sie sich in einen Wettlauf mit Populisten – einen Wettlauf, den Sie nicht gewinnen können. Populisten werden immer mehr fordern und weiter falsche Versprechungen machen, für die sie am Ende selbst gar nicht einstehen müssen. Das sehen wir in Italien, das sehen wir in Polen. Das will ich für dieses Land nicht.
({8})
Sie machen Versprechungen, die niemals jemand wird halten können. Sie schaden so dem Vertrauen in die Politik und in die Demokratie insgesamt.
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Wir müssen die Rente enkelfit machen. Wir müssen Zickzacklebensläufe mit bedenken und einbeziehen,
({10})
die starre Altersgrenze endlich aufheben und ein Rentensystem aufbauen, in dem ich nach dem Baukastenprinzip entscheiden kann, wie ich Vorsorgeelemente – gesetzlich, privat und betrieblich – individuell kombiniere.
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Das Wichtigste: Ich möchte gerne wissen – heute schon, online –, wie meine Rente in ein paar Jahren aussehen könnte. Ich will nicht in 20 Jahren von der Rentenversicherung einen Brief kriegen, wo drinsteht, was ich erwarten kann. Ich will das jetzt wissen.
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Ihr Konzept geht an dieser Sache vollkommen vorbei und wird den Herausforderungen in einer ständig sich verändernden Welt nicht im Ansatz gerecht. Es wird wirklich Zeit, dass hier Generationengerechtigkeit auf die Tagesordnung kommt und zum Leitbild Ihrer Politik wird. Das passiert leider nicht. Ich appelliere an die jungen Politikerinnen und Politiker in der Großen Koalition: Überlegen Sie sich das noch mal mit dieser Verabschiedung.
Danke.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Ralf Kapschack.
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Ich bitte Sie ganz herzlich um etwas mehr Ruhe, damit wir den beiden letzten Rednern in dieser Debatte noch folgen können. – Bitte sehr, Herr Kapschack. Sie haben das Wort.
Sehr freundlich, Herr Präsident. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Ich war neulich mit dem Kollegen Vogel bei der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.
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Für einen Sozi ist das ja nun wirklich kein Heimspiel; aber das war interessant. Da ging es nämlich um Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit, und das ist ja auch der Kern der Debatte, die wir hier heute führen.
Ist das, was wir heute verabschieden, richtig und notwendig, um auch Jüngeren die Aussicht auf eine ordentliche Rente zu garantieren, oder ist es völlig falsch? Es gibt darüber nach wie vor nicht nur einen Dissens zur Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, sondern wir haben in der Debatte gesehen: Darüber gibt es auch einen grundlegenden Dissens mit der FDP. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft macht wieder mit viel Geld Propaganda und verunsichert Menschen mit Halb- und Unwahrheiten.
({1})
Ein wesentliches Instrument, um gute Rente zu gewährleisten, ist eine gute Arbeitsmarktlage. Darüber sind sich, glaube ich, alle hier im Haus einig. Aber das alleine reicht nicht.
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Die SPD ist zutiefst davon überzeugt, dass die Entscheidung, das Rentenniveau zu stabilisieren, eine Entscheidung auch im Interesse der jüngeren Generation ist.
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Deshalb halten wir es auch für sinnvoll, das Niveau über 2025 hinaus zu stabilisieren, auch wenn wir das jetzt mit dem Koalitionspartner leider nicht hinbekommen. Nachhaltigkeit hat nicht nur etwas mit Zahlen, mit Geld zu tun; Nachhaltigkeit hat auch etwas mit dem Schutz und der Stärkung bewährter Strukturen zu tun. Die gesetzliche Rente ist eine solche Struktur. Sie steht für ein zentrales Versprechen des Sozialstaats: Sie steht für Sicherheit und Solidarität.
Nun ist die Stabilisierung des Niveaus nicht in erster Linie ein Instrument, um Altersarmut zu bekämpfen; das stimmt. Aber es hat schon etwas damit zu tun.
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Denn würden wir das Rentenniveau weiter sinken lassen, müssten künftig Frauen und Männer immer länger arbeiten, um eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu erhalten. Ist das Generationengerechtigkeit?
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Nein, das ist es eben nicht, und das hat mit Wertschätzung von Lebensleistung nichts zu tun.
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Deshalb ist nicht nur das Argument, hier würden Alte auf Kosten der Jungen bedient, sachlich falsch. Es wird auch der Eindruck erweckt, eine ordentliche gesetzliche Rente sei nicht zu finanzieren, und im Umkehrschluss würde Nichtstun auch nichts kosten.
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Das ist genauso falsch. Ich nehme lieber Geld in die Hand, um eine ordentliche Rente zu gewährleisten, als Grundsicherung zu finanzieren.
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Wir machen jetzt einen großen Schritt, um die gesetzliche Rente zu stärken: Wir verbessern die Mütterrente und die Rente wegen Erwerbsminderung. Der Minister hat darauf hingewiesen, dass es durchaus auch Überlegungen gibt, etwas für den Bestand zu tun. Nächstes Jahr gehen wir die Grundrente an, um die Lebensleistung von Menschen zu honorieren, die lange gearbeitet, aber wenig verdient haben.
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Und wir beziehen Selbstständige in die gesetzliche Rente mit ein – ein längst überfälliger Schritt.
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Wir machen die gesetzliche Rente zukunftsfest. Darüber sind wir in der Tat unterschiedlicher Meinung. Weil die Absicherung im Alter eine zentrale Frage des Vertrauens in Staat und Politik ist, ist es richtig, dass wir dafür auch mehr Steuergeld in die Hand nehmen. Sicherheit durch Solidarität, darum geht es, nicht mehr und nicht weniger.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Es ist erstaunlich, was man in einer solchen Debatte alles zum Thema Rente vortragen kann. Aber bevor wir jetzt namentlich abstimmen, bitte ich doch alle mal herzlich, zu gucken, über was wir denn wirklich nachher abstimmen.
Erstens. Wir verbessern für die Zukunft die Berechnung der Erwerbsminderungsrente, also der Rente, die ich bekomme, wenn ich vorzeitig wegen Krankheit oder Unfall aus dem Erwerbsleben ausscheiden muss. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist eine der wichtigsten Nachrichten für die junge Generation, die jetzt ins Arbeitsleben eintritt: Wenn es euch eines Tages, was Gott verhüten möge, nicht möglich sein sollte, bis zum Schluss zu arbeiten, dann bekommt ihr eine Erwerbsminderungsrente, von der man auch leben kann und bei der man nicht verhungern muss. Das ist eine Botschaft für die jungen Leute.
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Zu dem Zweiten, worüber wir abstimmen: In dem Bereich, in dem relativ wenig verdient wird, nämlich zwischen 450 Euro und 1 300 Euro monatlich, ermäßigen wir die Beiträge zur Sozialversicherung. Denn Steuerentlastungen nutzen diesen Leuten, die eh noch keine Steuern zahlen, gar nichts. Wir rechnen ihnen aber auf ihrem Rentenkonto einen höheren Anspruch zu. Auch das ist eine wichtige Nachricht für alle jungen Leute, die in einen Beruf einsteigen und am Anfang noch wenig verdienen, oder für junge Mütter und Väter, die wegen Kindererziehung aus dem Beruf teilweise aussteigen und nur Teilzeit arbeiten: Ihre Rentenansprüche in der Zukunft stärken wir. Eine wichtige Nachricht für die jungen Leute!
({1})
Deswegen verstehe ich diese Debatte über Generationengerechtigkeit, was junge Leute anbelangt, überhaupt nicht. Dieses Rentenpaket enthält zwei wichtige Punkte, für die all die stimmen müssen, denen es wirklich ernst ist mit den Interessen der jungen Generation. Dieses Rentenpaket ist zuallererst ein Angebot an die jungen Leute. Wer die Interessen der jungen Leute vertritt, muss heute mit Ja stimmen.
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Drittens. Ja, wir verbessern die Mütterrente für all diejenigen, die vor 1992 Kinder geboren haben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, da geht es doch um Väter und Mütter, die ihre Kinder in Zeiten erzogen haben, in denen es noch keinen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gab. Da gab es noch keinen Rechtsanspruch auf U‑3-Betreuung. Da gab es noch kein Elterngeld. Das heißt, man musste in der Regel wegen Kindererziehung zumindest teilweise, wenn nicht ganz zu Hause bleiben. Jetzt muss ich mal Folgendes fragen: Gibt es nicht aus der heutigen Sicht, aus der Sicht der heutigen Generation, auch unter den Abgeordneten, nichts Gerechteres, als endlich diesen Müttern und Vätern ihre Kindererziehungsleistung stärker anzuerkennen als in der Vergangenheit?
({3})
Jetzt zum Thema Finanzen. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir beraten über dieses Rentenpaket in einer Situation, in der wir am Ende dieses Jahres bei der gesetzlichen Rentenversicherung eine Rücklage in Höhe von 38 Milliarden Euro haben werden. Eine solch hohe Rücklage hatten wir seit ewigen Zeiten nicht mehr. Gleichzeitig haben wir einen Rentenversicherungsbeitrag, der bei 18,6 Prozent liegt. Wenn wir das mit den vergangenen Jahren und Jahrzehnten vergleichen, erweist er sich als ein historisch niedriger Rentenversicherungsbeitrag. Das liegt natürlich daran, dass unser Arbeitsmarkt boomt, dass jeden Tag neue, zusätzliche sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in diesem Land geschaffen werden. In dieser Zeit eine solche Jammerorgie, was die Finanzen anbelangt, anzustimmen, ist völlig ungerechtfertigt. Die Rentenversicherung steht stärker und finanziell besser da als je zuvor.
({4})
Richtig ist: Mit dem, was wir heute beschließen, werden Mehrausgaben generiert; aber Mehrausgaben, die zu höheren staatlichen Zuschüssen führen. Ab dem Jahr 2022 kommt zusätzlich eine halbe Milliarde jährlich dazu. Im Jahr 2025 wird nach den heutigen Berechnungen zum allerersten Mal die vorgesehene Zusatzfinanzierung durch den Bund notwendig werden, wahrscheinlich in einer Höhe von 1,6 Milliarden Euro. 1,6 plus 0,5 macht zusammen 2,1 Milliarden Euro im Jahr 2025. Das ist nicht einmal 1 Prozent der Gesamtausgaben der Rentenversicherung. Bei einem solchen zusätzlich notwendigen Zuschuss von einer finanziellen Katastrophe zu reden, ist doch schlicht gaga, Entschuldigung. Das werden wir doch noch hinbekommen, wenigstens 1 Prozent mehr Steuermittel in die Rente zu geben.
({5})
Trotzdem: Richtig ist auch, dass wir in den Jahren nach 2025 in besonders starkem Maße spüren werden, dass sich unsere Gesellschaft verändert. Die Zahl der Seniorinnen und Senioren wird erfreulicherweise deutlich zunehmen. Aber es werden nicht genauso viele junge Leute neu ins Arbeitsleben eintreten.
({6})
Deswegen ist es richtig, dass wir uns auf diese Situation ganz besonders vorbereiten.
({7})
Deshalb haben wir mit der Rentenkommission eine Kommission eingesetzt, die genau dafür ein verlässliches, zukunftsfestes Modell entwickeln soll.
({8})
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich rate uns dringend, dafür nicht die alten Schlachten zwischen kapitalgedeckter und umlagefinanzierter Altersversorgung zu schlagen. Wir brauchen beides. Im Übrigen haben wir auch beides gemacht. Wir haben in der letzten Legislaturperiode mit Andrea Nahles und Wolfgang Schäuble ein Betriebsrentenstärkungsgesetz geschaffen, das am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten ist.
({9})
Dabei machen wir zwei besonders gute Angebote. Das Erste ist: Wir machen eine Refinanzierung einer rein steuerfinanzierten Betriebsrente für Niedrigverdiener. Zwei Drittel dessen, was der Arbeitgeber gibt, kann er sich über die Steuer wieder zurückholen. Nur, im Bundesfinanzministerium, Frau Staatssekretärin Hagedorn, wartet man sehnsüchtig auf die massenhaften Anträge für diese Rückerstattung. Ich kann nur sagen: Liebe Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, holt beim Finanzamt endlich die Kohle ab, die wir bereitgestellt haben, um stärkere Betriebsrenten zu bekommen!
({10})
Das Zweite ist: Wir haben den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden einen Sonderweg, das sogenannte Sozialpartnermodell, eröffnet, nämlich über Tarifverträge verstärkt Altersvorsorge zu machen. Meine Damen und Herren, wir haben heute den 8. November. Das Inkrafttreten des Gesetzes war am 1. Januar. Es ist höchste Zeit, dass uns wenigstens der erste Tarifvertrag zur Stärkung der betrieblichen Altersrente, die wir möglich gemacht haben, auf den Tisch gelegt wird. Meine Aufforderung an Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften ist: Verhandelt endlich das, von dem ihr unbedingt wolltet, dass wir es ins Gesetz schreiben!
({11})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn man alles das zusammenrechnet, was wir in dieses Gesetz hineingeschrieben haben, dann bleibt eine Botschaft: Wir stärken die gesetzliche Rente. Wir machen sie generationengerecht. Es gibt nur gute Gründe, diesem Rentenpaket zuzustimmen. Darum bitte ich Sie herzlich.
Vielen Dank.
({12})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung. Ich bitte um die nötige Aufmerksamkeit und Konzentration, damit alle richtig abstimmen können. Bleiben Sie bitte sitzen! Ich bitte um Einstellung der Gespräche im Lobbybereich bei der Urne, die auf der Westseite steht; sonst muss ich Sie alle bitten, Platz zu nehmen.
Wir haben zunächst eine Abstimmung in der zweiten Beratung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5586, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/4668 und 19/5412 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf mit der Mehrheit der Abgeordneten von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und gegen die Stimmen von AfD, FDP und Grünen angenommen.
Jetzt kommen wir zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Die Fraktion der FDP hat namentliche Abstimmung verlangt. Deshalb bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Auf der linken Seite des Hauses fehlt noch ein Schriftführer der Opposition. – Vorn beim Rednerpult fehlt noch ein Schriftführer der Opposition. – Jetzt eröffne ich die Abstimmung.
Gibt es Kollegen oder Kolleginnen, die ihre Stimmkarte noch nicht eingeworfen haben? Letzte Möglichkeit! – Weitere Personen, die noch nicht abgestimmt haben, sehe ich nicht. Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Jetzt bitte ich Sie alle, für die weiteren Abstimmungen Platz zu nehmen und die Gespräche einzustellen.
({0})
Ich darf Sie noch mal bitten, die Gespräche einzustellen und Platz zu nehmen, damit wir die weiteren Abstimmungen durchführen können. Das gilt auch für die Kollegen der AfD und der FDP, auch für den Vizepräsidenten Kubicki.
Bevor wir die nächste Abstimmung durchführen, weise ich darauf hin, dass mehrere schriftliche Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung eingegangen sind.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/5601. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Fraktion der Linken ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses abgelehnt.
Dann kommen wir zu Tagesordnungspunkt 4 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 19/5586. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/4843 mit dem Titel „Anrechnungsfreistellung der Mütterrente beziehungsweise der Rente für Kindererziehungszeiten bei der Grundsicherung im Alter“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Damit ist der Antrag mit den Stimmen von Linken, SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der AfD abgelehnt. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zu einer weiteren Abstimmung. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5586 die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/29 mit dem Titel „Vollständige Gleichstellung und gerechte Finanzierung der Kindererziehungszeiten in der Rente umsetzen – Mütterrente verbessern.“ Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Mit den Stimmen von CDU/CSU, Grünen, SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und AfD ist die Beschlussempfehlung damit angenommen und der Antrag abgelehnt.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/31 mit dem Titel „Die Erwerbsminderungsrente stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Enthaltung der Grünen und der AfD gegen die Stimmen der Linken ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der SPD, CDU/CSU und der FDP angenommen und der Antrag abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/5526 mit dem Titel „Gesetzliche Renten sichern und Altersarmut bekämpfen“. Jetzt wird nicht über die Beschlussempfehlung, sondern über den Antrag abgestimmt. Wer stimmt für diesen Antrag? – Das ist die Fraktion Die Linke. Wer stimmt gegen diesen Antrag? – Damit ist der Antrag mit den Stimmen der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen aller anderen Fraktionen des Hauses abgelehnt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach allem, was wir von offizieller Seite über den Global Compact for Migration zu hören bzw. nicht zu hören bekamen, können wir davon ausgehen, dass es sich um einen völlig belanglosen Vertrag handelt, der außerdem für die Unterzeichner absolut unverbindlich ist: nur eine Willenserklärung, kaum der Rede wert. Deswegen war es auch nicht nötig, die Öffentlichkeit im Vorfeld zu informieren. Bei einer Podiumsdiskussion in Dresden Ende Oktober wurden die Chefredakteure von ARD und ZDF auf diesen Pakt angesprochen und wussten beide von nichts.
Meine Damen und Herren, Bismarck hat einmal gesagt:
Wenn irgendwo zwischen zwei Mächten ein noch so harmlos aussehender Pakt geschlossen wird, muss man sich sofort fragen, wer hier umgebracht werden soll.
({0})
Wenn dieser Global Compact bloß eine politische Erklärung ist, die keinerlei Folgen für die nationalen Parlamente und die Gesetzgebung hat, warum regt sich dann plötzlich überall Widerstand dagegen? Warum wollen ihn die USA, Australien, Ungarn, Österreich, Polen und Kroatien nicht unterzeichnen? Warum diskutiert man in Italien, Dänemark und der Schweiz darüber, es ebenfalls nicht zu tun? Sind das alles Populisten? Wohl kaum.
Die Antwort steht im Pakt. Diese globale Vereinbarung – so heißt es dort – sei nur ein Meilenstein unserer Bemühungen. Migration wird in diesem Dokument ausschließlich als Quelle von Wohlstand und nachhaltiger Entwicklung dargestellt. Kein Wort davon, dass Migration Länder auch destabilisieren kann. Der Unterschied zwischen der Suche nach Asyl und der Suche nach einem besseren Leben wird verwischt. Der gesamte Text beschreibt Migrationspolitik ausschließlich aus der Sicht von Migranten.
({1})
Zitat: Alle unsere Länder – das ist dort zu lesen – werden zu Herkunfts-, Transit- und Zielländern. – Was für ein Märchen. Die meisten der Unterzeichnerländer werden niemals Zielländer von Migranten.
({2})
Die Interessen der Aufnahmegesellschaften bleiben dagegen völlig unerwähnt. Dieses Dokument ist der erste Schritt, Migration zu einem Menschenrecht zu machen, das Staatenrecht übersteigt und zu Völkergewohnheitsrecht wird.
({3})
Zitat:
Wir verpflichten uns, die im Globalen Pakt niedergelegten Ziele und Verpflichtungen im Einklang mit unserer Vision und unseren Leitprinzipien zu erfüllen …
Allein die Formulierung „Wir verpflichten uns“ kommt in dem Papier Dutzende Male vor. Etwa:
Wir verpflichten uns, sicherzustellen, dass alle Migranten ungeachtet ihres Migrationsstatus ihre Menschenrechte durch einen sicheren Zugang zu Grundleistungen wahrnehmen können.
Weniger empfindsame Gemüter nennen das Einwanderung in die Sozialsysteme.
({4})
Dazu will sich die Bundesregierung also verpflichten, allerdings „unverbindlich“. „Unverbindliche Verpflichtungen“, meine Damen und Herren, das ist ein hölzernes Eisen. Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank: Für wie dumm halten Sie uns alle und Ihre Wähler draußen eigentlich?
({5})
Schon heißt es: Mit der Unterzeichnung des Global Compact allein ist es noch nicht getan. Die Bundesregierung muss sofort mit der Umsetzung beginnen, und das hat sie im Auswärtigen Ausschuss ja bereits angekündigt – ganz unverbindlich natürlich.
({6})
Nicht rechtlich bindend, nur politisch erwünscht – wir kennen diese Art schleichender Rechtsumwandlung auf politischem Wege inzwischen zur Genüge.
Die Öffnung der Grenze im September 2015 war auch nicht rechtlich bindend, im Gegenteil: Das war ein Rechtsbruch,
({7})
aber ein politisch erwünschter. Und schon gibt es erste Juristen, die ihn als rechtens darstellen. Die Übernahme von Schulden anderer EU-Länder war ein klarer Bruch des Maastricht-Vertrages, aber eben politisch erwünscht. Politische Setzungen verwandeln sich gleichsam unter der Hand in geltendes Recht.
Österreichs Kanzler Kurz – wohl kein Populist – sieht die Gefahr, dass die Ziele des Paktes in künftige Gerichtsurteile einfließen und somit unsere souveräne Migrationspolitik eingeschränkt wird.
({8})
Warum sieht die deutsche Kanzlerin diese Gefahr nicht? Weil genau das ihr Ziel ist? Ist das auch Ihr Ziel, liebe Kollegen von der CDU/CSU? Der Meilenstein, von welchem dieser Pakt spricht, steht auf dem Wege zur Preisgabe der Souveränität unseres Landes.
({9})
Millionen von Menschen aus Krisenregionen werden angestiftet, sich auf den Weg zu machen. Linke Träumer und globalistische Eliten wollen unser Land klammheimlich aus einem Nationalstaat in ein Siedlungsgebiet verwandeln.
({10})
– Das Geschrei ist offensichtlich Zustimmung.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, diesem Vertrag nicht beizutreten und dem entsprechenden Dokument nicht zuzustimmen. Er dient nicht deutschem Interesse, und das haben wir hier zu wahren.
Ich bedanke mich.
({11})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
({0})
Deutschland hat sich nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs entschlossen,
({1})
die großen Herausforderungen der Zeit international anzugehen, und wir sind damit sehr gut gefahren. Wir organisieren unseren militärischen Schutz im Bündnis mit vielen Nationen; wir organisieren unsere Wirtschaft international; wir organisieren den Umweltschutz international, und wir werden die Herausforderungen der Migration nur mit einem internationalen Ansatz bewältigen können.
({2})
Vor welchen Herausforderungen stehen wir bei der Migration im Kern? Warum ist der Migrationsdruck nach Europa und nach Deutschland so hoch? Ist er so hoch, weil die Standards in der Welt zu verschieden sind oder weil die Standards in der Welt zu einheitlich sind?
({3})
Die Standards in der Welt sind zu unterschiedlich. Muss es also unser Ziel sein, diese Standards anzunähern, oder muss es unser Ziel sein, diese Unterschiede zu vergrößern? Unser Ziel muss es sein, die Standards anzunähern.
({4})
Deshalb ist es erforderlich, dass man sich die Frage, wie wir mit Migranten in dieser Welt umgehen, weltweit stellt. Deshalb ist es erforderlich, dass man miteinander ins Gespräch kommt,
({5})
dass man über die Ziele nachdenkt, dass man diese Ziele zu Papier bringt, auch dann, wenn sie rechtlich nicht verbindlich sind und die nationale Souveränität nicht einschränken. Denn wer die Diskussion über die gemeinsamen Ziele niemals beginnt, wird niemals zu gemeinsamen Standards gelangen.
({6})
Es gibt eine Fraktion, die der Überzeugung ist: Wenn sich am Ende 180 Staaten dieser Welt dem Dokument anschließen, dann müsse das nach dem Prinzip gehen, dass jeder einzelne Satz von Deutschland vorgegeben und von den anderen 179 Staaten abgenickt wird.
({7})
Meine Damen und Herren, entweder ist das totales Unverständnis internationaler Zusammenhänge – im Übrigen im großen Unterschied zu Otto von Bismarck –
({8})
oder es ist das blanke Unvermögen.
({9})
Es ist einfach unbeschreiblich.
({10})
Wenn Sie glauben, wir könnten in einem solchen Compact den anderen 179 Ländern jedes Komma und jedes Wort vorschreiben, dann ist das Ausdruck von nationalem Größenwahn.
({11})
Wir müssen die Standards weltweit angleichen. Es ist die Rede davon, dass Zugang zu Grundleistungen und zur Gesundheitsversorgung geschaffen wird. Ich sage Ihnen: Das sind Mindeststandards, die in Deutschland längst umgesetzt sind. Wir müssen aber sicherstellen, dass sie auch in anderen Teilen der Welt umgesetzt werden.
({12})
Ich könnte die Liste der wichtigen Punkte – Gesundheitsversorgung, Grundleistungen – lange fortsetzen. Fluchtursachenbekämpfung, Bekämpfung der Schleuserkriminalität, Grenzsicherung, Identitätsfeststellung und Rückführung – das alles wird in diesem Pakt adressiert.
({13})
Ich will fragen: Gibt es jemanden klaren Verstandes, der ernsthaft glaubt, dass weniger Migranten nach Deutschland kommen, wenn sie in anderen Ländern keinen Zugang zu Grundleistungen haben?
({14})
Gibt es jemanden klaren Verstandes, der ernsthaft glaubt, dass weniger Migranten nach Deutschland kommen, wenn sie anderenorts keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben? Mitnichten. Wer für den Globalen Migrationspakt ist, der schafft die Voraussetzungen dafür, dass die Anreize, nach Deutschland zu kommen, zurückgehen;
({15})
denn die Menschen werden sich dann entschließen, in den anderen Ländern zu bleiben, wo die Standards angehoben werden.
Herr Harbarth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Renner?
Nein. –
({0})
Wer sich entschließt, den Globalen Migrationspakt zu bekämpfen, der schafft die Voraussetzungen dafür, dass Menschen andere Länder verlassen werden, um nach Europa, um nach Deutschland zu kommen. Dann kann man sich fragen, warum. Entweder bekämpft er den Pakt, weil er die internationalen Zusammenhänge nicht versteht
({1})
oder weil er sagt: Parteipolitisch fahre ich eigentlich mit dieser Angstmache
({2})
vor Migration gar nicht so schlecht.
({3})
Die AfD hat außer der Angstmache vor Migration in keinem einzigen Politikbereich irgendeine auch nur ansatzweise brauchbare Lösung präsentiert.
({4})
Der politische und der geistige Horizont dieses Hauses darf niemals an den deutschen Außengrenzen enden.
({5})
Das werden wir als Unionsfraktion niemals zulassen.
({6})
Deshalb werden wir für diesen Pakt stimmen – im Interesse Deutschlands. Und wer gegen diesen Pakt stimmt, handelt gegen das nationale Interesse Deutschlands.
({7})
Herzlichen Dank.
({8})
Die Kollegin von Storch von der AfD erhält Gelegenheit zu einer Kurzintervention.
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Harbarth, ich habe ein paar Nachfragen, die ich gerne stellen möchte. Erstens. Warum besteht die Bundesregierung auf der Zeichnung dieses Paktes? Wenn er doch so unverbindlich ist, dann muss man ihn nicht zeichnen.
({0})
Zweitens. Völkerrechtliche Verträge sind in der Regel nie rechtlich bindend; sie sind immer politisch bindend
({1})
und entfalten so die Wirksamkeit, die sie entfalten sollen – am Recht vorbei.
({2})
Drittens. Glauben Sie ernsthaft, dass es auf diesem Globus ein Land gibt, das diesen ganzen Verpflichtungen, die darin stehen – gerade weil sie unverbindlich sind –, nachkommen wird? Welches Land der Welt wird die Leistungen für Asylbewerber und Migranten, vor allen Dingen für Migranten, auf das Niveau von Deutschland heben wollen und können? Und wer wird das tun?
({3})
Das ist doch denklogisch ausgeschlossen und an Dummheit nicht mehr zu überbieten.
Ich glaube, dass Sie hier tatsächlich versucht haben, an den Augen der Bevölkerung vorbei zu handeln.
({4})
Es glückt Ihnen nicht; denn wir debattieren heute auf Antrag der AfD darüber. Sie haben versucht, diesen Meilenstein, wie Herr Dr. Gauland gesagt hat, an der Öffentlichkeit vorbei zu schieben.
Die zentrale Frage aber bleibt: Warum werden hier nur die Rechte der internationalen Migranten adressiert? Warum werden keine Pflichten von Migranten formuliert?
({5})
Es werden nur Verpflichtungen für uns formuliert. Warum wird gesagt, dass Migration weltweit immer gut und positiv ist? Die AfD sagt: Migration ist nicht per se positiv. Migration muss unseren Interessen dienen.
({6})
Das Asylrecht ist ein Hilfsrecht, ja. Aber Migration hat den deutschen Interessen zu dienen. Dieser Pakt dient nicht unseren Interessen. Dieser Pakt ist die größte Gefahr, die sogar Sie in dieser Legislatur heraufbeschworen haben. Das will ganz schön viel heißen.
({7})
Herr Dr. Harbarth, bitte.
Ich habe im Sommer ein Flüchtlingslager in Jordanien besucht.
({0})
Ich habe dort gesehen, wie die Menschen in diesem armen Land leben. Vielleicht lachen Sie jetzt noch einmal. Ich weiß nicht, was es über den Besuch eines Flüchtlingslagers zu lachen gibt.
({1})
Ich habe dieses Flüchtlingslager in Jordanien besucht. Ich habe dort erlebt, wie die Menschen weit entfernt von deutschen Standards leben. Aber ich habe auch erlebt, wie der Umstand, dass sie Nahrung erhalten, dass sie eine medizinische Grundversorgung haben und dass die Kinder beschult werden, dazu führt, dass diese Menschen sagen: Wir kommen nicht nach Europa, sondern wir bleiben in Jordanien.
({2})
Wir müssen daraus etwas lernen. Wir müssen dafür sorgen, dass in möglichst vielen Ländern der Welt die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Menschen sich nicht auf den Weg nach Europa machen. Dem wird leider Ihr Vorgehen nicht gerecht. Sie wollen nicht, dass die Standards in diesen Ländern angehoben werden.
({3})
Das ist, mit Verlaub, in hohem Maße töricht.
({4})
Dann komme ich auf Ihre Ausführungen zu völkerrechtlichen Verträgen zurück. Ich kann mir sie eigentlich nur so erklären, dass das Völkerrecht heute in vielen Bundesländern nicht mehr zum Kernbereich der juristischen Ausbildung gehört.
({5})
Wenn Sie einmal das Grundgesetz aufschlagen würden, dann könnten Sie dort das Gegenteil dessen lesen, was Sie soeben ausgeführt haben. Aber die Unrichtigkeit dieser Behauptung fügt sich nahtlos in die Reihe all der Unrichtigkeiten und Falschbehauptungen ein, mit denen Sie dieses Land seit langem überziehen.
({6})
Wir fahren fort in der Debatte. Das Wort hat der Stellvertretende Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Joachim Stamp.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der AfD-Fraktion enthält zwar lauter falsche Behauptungen,
({0})
aber dennoch ist es gut, dass er vorliegt. Denn er zeigt uns jetzt quasi einmal öffentlich, amtlich, was in diesem Land von Verschwörungstheoretikern und rechten Trollen derzeit durch die sozialen Medien geblasen wird. Bei Facebook und bei Twitter kann man das sehen.
({1})
Aber, meine Damen und Herren, was beispielsweise bei WhatsApp passiert, sehen wir nicht.
({2})
Wir haben in Brasilien gesehen, wohin das führt. Sie, Herr Gauland, gehen mit Ihren Gesinnungsgenossen hin und verunsichern mit falschen Informationen die Bevölkerung. Das ist schäbig.
({3})
Aber, meine Damen und Herren, ich sage auch: Es wäre längst Aufgabe der Bundesregierung gewesen, sachlich und öffentlich über den UN-Migrationspakt aufzuklären.
({4})
Sie haben zu lange geschwiegen und damit überhaupt erst die Möglichkeit für die Verschwörungstheoretiker geschaffen, ihren Propagandafeldzug in den sozialen Medien zu starten.
({5})
Nutzen wir doch jetzt hier die Gelegenheit, um einmal die Fakten klarzustellen.
Erstens. Die AfD-Fraktion behauptet, der globale Pakt für Migration sei ein Angriff auf die nationale Souveränität. Völlig falsch!
({6})
Im Gegenteil wird im Text bereits zu Beginn festgeschrieben, dass alle Länder in ihrer Migrationspolitik völlig souverän bleiben, meine Damen und Herren.
({7})
Zweitens. Die AfD behauptet, der Text sehe ein Menschenrecht auf Migration vor. Wiederum völlig falsch! Der Pakt bekennt sich zu den allgemeinen Menschenrechten. Das auch zu tun, sollte, glaube ich, für jeden anständigen Demokraten in diesem Haus eine Selbstverständlichkeit sein.
({8})
Ein Menschenrecht auf Migration gibt es nicht und wird auch in diesem Text nicht gefordert.
({9})
– Da können Sie sich noch so aufregen. Ich sage Ihnen übrigens: Schönen Gruß aus Düsseldorf, ich habe dort auch mit Ihren Kollegen zu tun. Die befinden sich dort auf einem ähnlichen Niveau. Wir halten das aus, meine Damen und Herren.
({10})
Herr Stamp, gestatten Sie eine Zwischenfrage von der AfD?
Nein. – Aber ich möchte Ihnen eines sagen zum Thema Menschenrechte – gerade das ist vielleicht spannend für Sie –: Wenn den Menschenrechten weltweit Geltung verschafft würde, dann könnten wir viel einfacher abschieben. Aber so weit reicht wahrscheinlich Ihr Horizont nicht, meine Damen und Herren.
({0})
Drittens. Die AfD-Fraktionsvorsitzende behauptet, der Pakt öffne der millionenfachen Einwanderung aus Afrika Tür und Tor. Auch das ist natürlich völlig falsch. Das Gegenteil ist richtig. Sie haben es vielleicht noch nicht begriffen, an wen sich dieser Pakt in erster Linie richtet.
({1})
Es geht um 190 Länder. Schauen Sie sich einmal die Situation an. Fahren Sie einmal in die betreffenden Länder. Ich habe das getan.
({2})
Wenn Sie sich einmal die Situation der Binnenmigranten dort ansehen, dann stellen Sie fest: Das ist eine ganz andere Situation. Wir erfüllen hier in Deutschland längst alle Standards, die in diesem Text stehen. Andere Länder sind weit davon entfernt. Wenn sich diese Länder auch nur ein Stück weit in unsere Richtung entwickeln, dann sinkt damit natürlich der Migrationsdruck auf Deutschland; das ist völlig logisch.
({3})
Sie behaupten, meine Damen und Herren, viertens, das Ganze sei ein Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes. Auch das ist völlig falsch. Das kann schon allein deshalb nicht sein, weil gleich zu Beginn des Textes klargestellt wird, dass der Pakt eben nicht rechtsverbindlich ist, sondern eine Absichtserklärung zur besseren Regelung weltweiter Migration darstellt. Ich habe gerade ausgeführt, wie wichtig es ist, dass wir gerade mit Blick auf die Standards etwas für die vielen tun, die als Binnenflüchtlinge oder als Flüchtlinge in den Nachbarländern leben, damit sie sich in ihrer Not nicht auf den Weg nach Europa machen. Ich dachte eigentlich immer, das wäre Ihr Anliegen. Sie entlarven sich hier als reine Verschwörungstheoretiker und sind gar nicht an der Sache interessiert.
({4})
Fünftens. Die AfD behauptet, der Pakt fördere die illegale Migration. Völlig falsch! Im Gegenteil: Wenn Sie sich einmal die Mühe machen würden, den Text zu lesen, dann würden Sie feststellen, dass es genau darum geht, die illegale Migration zu bekämpfen.
({5})
Ich will Ihnen etwas sagen: Ich stehe als Flüchtlingsminister in Nordrhein-Westfalen jeden Tag in der Verantwortung, auch was das Thema Abschiebungen angeht,
({6})
auch was das Thema „Abschiebung von Gefährdern und Kriminellen“ angeht. Wir leisten etwas, während Sie nur dumm daherreden, meine Damen und Herren.
({7})
Als jemand, der in der Praxis Tag für Tag damit zu tun hat, möchte ich Ihnen sagen, dass das, was in dem Pakt zum Datenaustausch oder zur Identitätsklärung drinsteht, natürlich einen Riesenvorteil für die Praxis bedeutet. Dann würde es uns auch viel einfacher fallen, Gefährder und Kriminelle viel schneller loszuwerden. Sie sind diejenigen, die das verhindern wollen.
({8})
Meine Damen und Herren, die Behauptungen der AfD sind falsch, und das müssen wir gemeinsam vertreten und erklären. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung. Ich warne allerdings auch davor, den UN-Migrationspakt zu überschätzen. Er ist eben nicht verbindlich, sondern eine Absichtserklärung – eine richtige Absichtserklärung –; deshalb sollten wir ihn nicht überschätzen. Insofern stehen wir auch weiterhin in der Pflicht, tatsächlich etwas dafür zu tun, dass wir eine geordnete Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik hier in Deutschland hinbekommen.
({9})
Vor diesem Hintergrund bin ich der FDP-Bundestagsfraktion ausgesprochen dankbar, dass sie jetzt noch einmal darauf hingewiesen hat, wie wichtig es ist, dass wir ein Einwanderungsgesetz bekommen, das unterscheidet zwischen individuell Verfolgten, zwischen Kriegsflüchtlingen und denjenigen, die dauerhaft kommen wollen, die wir uns aber wie jedes andere Einwanderungsland auch selber aussuchen wollen, meine Damen und Herren.
({10})
Wir brauchen in vielen Punkten schnelle Lösungen. Deswegen wiederhole ich unsere Forderung nach einem nationalen Migrationsgipfel von Bund, Ländern und Kommunen.
Die Bundesregierung hat zu lange ihre Zeit verplempert mit unnötigen Auseinandersetzungen über 30, 40 Leute, die an der Grenze zurückgeführt werden, oder über die Karriere von Herrn Maaßen. Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche! Setzen wir uns mit den Kommunen, mit den Ländern, mit dem Bund an einen Tisch! Bringen wir die notwendigen Dinge auf den Weg! Ich sage das von Länderseite, ich sage es für Nordrhein-Westfalen: Wenn die Bundesregierung hier nicht aus den Puschen kommt, dann werden wir in den Ländern das selbst in die Hand nehmen.
Danke schön.
({11})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Christoph Matschie für die Fraktion der SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Umgang mit einer weltweit wachsenden Zahl von Flüchtlingen, von Migranten gehört sicherlich zu den größten Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaften stehen. Unser Land hat das in den letzten Jahren auch in besonderer Weise erlebt. Wir haben dazu eine sehr intensive, auch emotionale Debatte gehabt. In dieser Debatte sind mindestens zwei Dinge klar geworden:
Erstens. Wir brauchen einen offenen und ehrlichen Umgang mit diesem Thema.
Zweitens. Wir können die Probleme, die sich mit weltweiter Migration verbinden, nur international gemeinsam lösen. Nationale Regelungen allein helfen hier nicht weiter.
({0})
Zuerst zur offenen und ehrlichen Debatte. Die AfD hat nicht nur heute im Parlament beantragt, diesen internationalen Vertrag abzulehnen, sondern sie hat eine Kampagne im Internet
({1})
und in den sozialen Medien gestartet.
({2})
Sie behauptet darin, dass der Pakt zu einer massenhaften Zuwanderung nach Deutschland führt. Sie behauptet, mit dem Pakt werde die nationale Souveränität unseres Landes
({3})
und unser Selbstbestimmungsrecht ausgehebelt.
({4})
Schaut man in den Text dieser Vereinbarung, so wird eines ganz schnell klar: Ihre Behauptungen sind frei erfunden.
({5})
Oder auf Deutsch: Die AfD verbreitet Lügen.
({6})
Und warum verbreitet die AfD Lügen? Weil sie glaubt, je größer die Angst vor Migranten in diesem Land ist, desto größer der politische Vorteil für die AfD.
({7})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist schäbig, und das ist verantwortungslos.
({8})
Herr Kollege Matschie, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Renner?
Nein, gestatte ich nicht. – Worum geht es in dem Pakt wirklich? Warum liegt der Pakt in unserem deutschen Interesse? Die Zahl der Menschen, die ihr Land verlassen, wächst.
({0})
Nach Angaben der Vereinten Nationen leben mittlerweile etwa 260 Millionen Menschen außerhalb der Grenzen ihrer Heimatländer.
({1})
Und deshalb haben sich die Staaten in den Vereinten Nationen vor zwei Jahren gemeinsam auf den Weg gemacht, einen solchen internationalen Pakt zu erarbeiten. Die Ziele, die Grundsätze dieses Paktes finden sich jetzt genau in dem Text wieder. Es geht also nicht darum, Tor und Tür zu öffnen, sondern es geht darum, Migration besser zu regulieren. Das ist der Kern dieser Vereinbarung.
({2})
– Schauen Sie in die Ziele hinein, Nummer 2, lesen bildet.
Dazu gehört auch ausdrücklich, „nachteilige Triebkräfte“ für Migration – so steht es im Pakt – zu verringern. Mit anderen Worten: Der Druck, die eigene Heimat zu verlassen, soll abgebaut werden. Das führt nicht zu mehr Migration, das soll zu weniger Migration führen.
({3})
Zu den Zielen gehört auch der verstärkte Kampf gegen Schleuser – Ziel Nummer 9 –, gegen Menschenschmuggel – Ziel Nummer 10. Dazu gehört ein sicheres und koordiniertes Grenzmanagement – Ziel Nummer 11. Im Gegensatz zu den Behauptungen der AfD geht es also darum, illegale Migration einzudämmen. Der Pakt fordert eine bessere internationale Zusammenarbeit für eine geordnete und reguläre Migration.
({4})
Im Gegensatz zu den Behauptungen der AfD legt der Pakt ausdrücklich fest, dass jedes Land weiterhin souverän bleibt. Zu den leitenden Prinzipien gehört – ich darf zitieren –:
Der Globale Pakt bekräftigt das souveräne Recht der Staaten, ihre nationale Migrationspolitik selbst zu bestimmen ...
({5})
Die AfD versucht jetzt, die Vereinbarung gegen den ausdrücklichen Vereinbarungstext auszulegen.
({6})
Sie liest das Gegenteil heraus, und das ist so grotesk wie unsinnig. Was Sie machen, ist Verschwörungstheorie pur, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Der Vertrag redet auch über die positiven Seiten von Migration; denn es gibt neben der ungewollten, neben der erzwungenen Migration auch gewollte Migration. Es gibt wirtschaftlich starke Regionen, die Fachkräfte brauchen. Es gibt Menschen, die neue Herausforderungen suchen. Es gibt Menschen, die ihre Lebensbedingungen selbst verbessern wollen. Das ist nichts Neues. Das zieht sich auch durch unsere deutsche Geschichte immer wieder. Dazu gehört auch unser wirtschaftlicher Erfolg. Das kann man auch in anderen Regionen der Welt beobachten. Schauen Sie einmal ins Silicon Valley! Dort sind 50 Prozent aller Gründer von Start-ups nicht in den USA geboren, sondern eingewandert.
({8})
Zuwanderung, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Innovation gehören eben auch zusammen, werte Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Das alles macht klar: Der Pakt für eine geordnete und sichere Migration liegt in unserem deutschen Interesse. Deshalb hat die Bundesregierung intensiv an diesem Pakt mitgearbeitet.
({10})
Deshalb wird Deutschland auch im Dezember diesem Pakt zustimmen. Da können Sie hier noch so laut schreien, wie Sie wollen.
({11})
Der AfD geht es nicht um unser Land. Mit Ihrer verleumderischen Kampagne wollen Sie nur eines: Angst und Hass schüren in diesem Land.
({12})
Dagegen setzen wir uns zur Wehr.
({13})
Gestatten Sie mir einen letzten Gedanken. Morgen werden wir hier im Bundestag an den 9. November erinnern und damit auch an die Reichspogromnacht 1938.
({14})
Es begann damit, dass Bürger, dass jüdische Bürger als andersartig, als fremd diffamiert wurden.
({15})
Es begann damit, dass Menschen ausgegrenzt wurden. Es begann damit, dass Menschen für alle Probleme im Land verantwortlich gemacht wurden.
({16})
Und dann brannten jüdische Geschäfte, brannten jüdische Häuser, brannten Synagogen. Und am Ende stand millionenfacher Mord.
({17})
Das ist die Geschichte, an die wir morgen erinnern.
({18})
Und heute leben in diesem Land 20 Millionen Menschen, die eine Zuwanderungsgeschichte haben, 20 Millionen Menschen, die unsere Nachbarn sind, manche seit Generationen, manche erst neu.
({19})
Was die AfD mit ihrer Hetzkampagne tut, ist im wahrsten Sinne des Wortes Feuer legen. Sie hetzen Menschen gegeneinander auf.
({20})
Die Lehre aus dem 9. November und der daraus folgenden schrecklichen Geschichte steht in Artikel 1 unseres Grundgesetzes:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
({21})
Das muss unser Grundsatz bleiben, bei allem, was wir tun.
({22})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist die Abgeordnete Sevim Dağdelen von der Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Linksfraktion im Bundestag hat die Verhandlungen zum UN-Migrationspakt von Anfang an begrüßt. Migration ist ein globales Thema, und es ist höchste Zeit, dass wir auch eine internationale Verständigung zu einem solch globalen Thema haben.
({0})
Jetzt aber führt Rechtsaußen eine regelrechte Angstkampagne gegen diese UN-Erklärung. Sie führen hier Argumente an, wie etwa: Infolge dieses Paktes würden Millionen Menschen nach Deutschland zuwandern. – Das hält der Realität schlicht nicht stand.
({1})
Und es verwundert umso mehr, als die AfD die Möglichkeit einer Beteiligung an den Debatten der UNO in New York nicht wahrgenommen hat, als dieser Pakt verhandelt wurde. Ja wo waren Sie denn mit Ihrer Kritik?
({2})
Den Boden für diese schäbige Angstkampagne der AfD hat allerdings diese Bundesregierung mit ihrer Informationspolitik bereitet.
({3})
Ich war im zurückliegenden Jahr dreimal als einzige Abgeordnete des Deutschen Bundestages bei den Debatten und Verhandlungen des Migrationspaktes in New York. Immer wieder wurde seitens der Bundesregierung gesagt, dass das auch im Bundestag und in Deutschland öffentlich debattiert werden würde. Nichts davon ist passiert. Das finde ich wirklich unverantwortlich.
({4})
Frau Dağdelen, gestatten Sie eine Zwischenfrage von der AfD?
Nein.
Keiner der Punkte übrigens, die wir als Linke angemahnt haben, wurde aufgenommen. Es geht beim Migrationspakt eben nicht um die Bekämpfung der Ursachen von Flucht und Migration. Weder ein Stopp der Rüstungsexporte noch ein Stopp der zerstörerischen Freihandelsabkommen mit den Ländern des Südens haben in den Pakt Eingang gefunden. Menschen verlassen ihre Heimat aber nicht freiwillig. Sie haben auch ein Recht darauf, nicht zu migrieren.
Ich sage Ihnen von der AfD: Sie geben vor, die Ursachen von Migration und Flucht zu bekämpfen. Aber wer von Freihandelsabkommen und Rüstungsexporten nicht sprechen möchte, der sollte dann auch zur Bekämpfung von Fluchtursachen schweigen.
({0})
Die Stimmen der afrikanischen und lateinamerikanischen Länder mit ihrer Forderung nach Ursachenbekämpfung und Finanzierung wirtschaftlicher Entwicklung in den Herkunftsländern wurden in New York nicht gehört. Diese Länder haben zu Recht die Fixierung auf die – Zitat – Nutzbarmachung von „Humankapital“ für den reichen Norden kritisiert. Sie riefen nach globaler Gerechtigkeit, aber was sie jetzt bekommen, ist ein Braindrain, eine Abwanderung ihrer Fachkräfte. Dieser Braindrain zugunsten der Profite großer Konzerne dient letztendlich der Enteignung der Länder des Südens.
({1})
Ich finde, dieses neoliberale Nützlichkeitsdenken ist zynisch.
Ein letztes Wort an die AfD: Gerade in puncto Braindrain ist Ihre Kritik am Migrationspakt unredlich und heuchlerisch. Denn Sie fordern ja Einwanderung nach Nützlichkeitskriterien des großen Kapitals nach dem Vorbild Kanadas. Das ist Ihr Denken: Nützlichkeitsrassismus. Das hat Die Linke schon früher abgelehnt, und wir werden es wieder ablehnen.
({2})
Sehen Sie der Wahrheit ins Auge:
({3})
Deutschland ist seit der Gründung des Kaiserreichs 1871 ein Einwanderungsland. Hören Sie auf, im Namen einer völkischen Ideologie den Migrantinnen und Migranten gleiche Rechte zu verweigern! Hören Sie auf mit Fake News!
({4})
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Abgeordnete Filiz Polat.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass vom rechten Rand Hetze, Rassismus und Verschwörungstheorien kommen,
({0})
ist bei Fragen der Migration nicht neu und leider auch nicht überraschend.
({1})
Ich stimme Ihnen zu, Herr Minister Stamp: Die Bundesregierung hat es versäumt, frühzeitig der rechten Propaganda eine eigene leicht verständliche Erzählung über den UN-Migrationspakt entgegenzusetzen.
({2})
Das hat anscheinend auch Teile der Union in ihrem klaren Bekenntnis zum UN-Migrationspakt verunsichert. Insofern war Ihre Rede heute, Herr Kollege Harbarth, für unsere Fraktion eine gute Rede, ein klares Signal. Die Stimme der Vernunft hat sich gestern in Ihrer Fraktion durchgesetzt. Vielen Dank dafür.
({3})
– Auch wenn ich sonst kein Interesse daran habe, bitte ich um die Aufmerksamkeit Ihrer Fraktion, Herr Gauland.
Warum die Stimme der Vernunft? Die rechte Allianz, angeführt in Deutschland von der AfD, fährt eine der populärsten Verschwörungstheorien auf und bewegt sich hierbei im Kontext der Neuen Rechten, aber auch der Identitären Bewegung,
({4})
im Netzwerk der Rassisten in Europa und im Übrigen auch der rechtsextremen Alt-Right-Bewegung in den USA. Das wurde in Ihren Reden deutlich. Aber interessanter sind die Redebeiträge außerhalb des Parlamentes auf Ihren jeweiligen Webseiten, auf den Wahlkampfveranstaltungen in Bayern und wahrscheinlich jetzt auch in Sachsen. Ich bitte das Bundesinnenministerium und seine nachgelagerten Behörden, hier genauer hinzuschauen.
Sie suggerieren, dass eine Elite, angeführt von den USA und dem Staat Israel, Migrantinnen und Migranten ansiedeln will mit dem erklärten Ziel, die weiße Rasse auszulöschen. Diese krude und verfassungsfeindliche Bewegung ist beschämend und in ihrem Kern tief antisemitisch und schlicht menschenfeindlich.
({5})
Wir sagen ganz klar in alle Richtungen innerhalb und außerhalb des Parlamentes: Wer dazu schweigt, wer da nicht widerspricht, stimmt zu, meine Damen und Herren.
({6})
Frau Polat, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Renner von der AfD?
Nein.
Lassen Sie mich eine konkrete Zahl nennen: Erstmals seit der Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention haben sich 192 Staaten auf gemeinsame internationale Standards für globale Migrationsbewegungen und die Stärkung der Rechte von Migrantinnen und Migranten verständigt. Bündnis 90/Die Grünen – Herr Stamp, Sie müssen sich nicht auf den AfD-Antrag beziehen, Sie können sich auf unseren Antrag beziehen – begrüßt den UN-Migrationspakt.
({0})
Er ist ein Meilenstein und ein Erfolg – Herr Minister Maas, Sie haben es selbst gesagt – für den Multilateralismus.
({1})
Der Migrationspakt setzt klare und faire Leitlinien für internationale Migrationsbewegungen. Der Migrationspakt stärkt und schützt die Rechte von Migrantinnen und Migranten, insbesondere die von Frauen und Kindern; denn nach wie vor gelten die universellen Menschenrechte, Herr Gauland, für viele oftmals leider nur auf dem Papier. Menschenhandel und Zwangsarbeit sind weltweit Realität. 46 Millionen Menschen sind in ausbeuterischer Zwangsarbeit gefangen, beispielsweise als Hausangestellte, auf dem Bau oder in der Landwirtschaft. Ich komme aus Niedersachsen, ich weiß, wovon ich spreche.
Ein wichtiges Ziel des Migrationspaktes – das ist das Ziel Nummer 17 – ist die Beseitigung aller Formen der Diskriminierung. Für uns ist es absolut unverständlich, dass dieses Ziel infrage gestellt wird. Das sollten wir doch alle verfolgen, oder etwa nicht, Herr Gauland? Es ist umso unverständlicher, dass Österreich – Sie haben Österreich genannt –
({2})
die Bekämpfung der Diskriminierung als Begründung für seinen Ausstieg aus dem Pakt geliefert hat. Das ist befremdlich. Was ist das für eine Botschaft? Wie kann man dagegen sein?
({3})
Wir wollen die CDU, vor allem die Kollegen, die Mitglieder der WerteUnion sind, aber auch Herrn Wendt, inständig davor warnen, sich der rechten Allianz gegen den Migrationspakt anzuschließen und damit den Schulterschluss mit den Rechtspopulisten Kurz, Orban und Trump zu suchen. Der Pakt wahrt nationale Souveränität. Er setzt globale Standards, vor allem für Arbeitsmigrantinnen und -migranten weltweit. Das ist sinnvoll, und deshalb wollen wir uns in der Bundesrepublik die Leitlinien nicht nur zu eigen machen, sondern wir wollen sie auch konsequent umsetzen. Deshalb – noch einmal –: Lassen Sie sich nicht von den Rechten treiben oder, wie Herr Gauland einst sagte, „jagen“. Schließen Sie sich nicht der Koalition der Unwilligen an. Vielleicht noch einen Satz dazu: Herr Dobrindt hat nach dem Wahldebakel der CSU anscheinend dazugelernt und unterstützt den Migrationspakt.
Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen der sächsischen CDU, jetzt sind Sie gefragt. Machen Sie sich nicht zu Erfüllungsgehilfen der AfD, sonst erwecken Sie den Eindruck, dass Sie doch eine Koalition mit dieser Partei anstreben. Frau Bellmann aus Mittelsachsen, das ist auch an Sie persönlich gerichtet.
({4})
Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen erwartet von der Bundesregierung die zügige Umsetzung des Migrationspaktes in Deutschland. Dafür haben wir konkrete Forderungen im Antrag formuliert. Ob es Ihnen tatsächlich ernst ist mit diesem Pakt, sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesregierung, und er nicht nur zu einer leeren Worthülse verkommt, wird sich spätestens bei Vorlage des Einwanderungsgesetzes zeigen. Wir werden genau darauf achten, ob die Ziele und die Standards des Migrationspakts darin berücksichtigt werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Frank Steffel für die CDU/CSU.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde die Debatte heute wichtig und richtig. Ich finde sie übrigens auch gut und hoffe, dass viele Menschen zuschauen. Ich finde es auch richtig, dass sich der Deutsche Bundestag vor der Beschlussfassung in Marrakesch Ende November dieses Jahres noch einmal sehr ausführlich mit einem Antrag der Koalitionsfraktionen zu diesem Thema beschäftigen wird.
({0})
Denn die Menschen haben zu Recht die Erwartung, dass wir uns mit einem so bedeutenden Thema auch hier im Bundestag beschäftigen, obwohl wir formal nicht zustimmungspflichtig sind.
({1})
Meine Damen und Herren, nicht jede Abkürzung stimmt, und das stört mich auch bei dem, was wir hier heute diskutieren. Dort steht: „GCM – Global Compact for Migration“. Die eigentliche Formulierung lautet: „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“. Vielleicht sollten wir bei den Begriffen anfangen. Denn das heißt übersetzt: Globaler Pakt bzw. globale Vereinbarung für sichere, geregelte und regelgerechte, regelkonforme Migration.
({2})
Das ist ein großer, großer Unterschied.
({3})
Insofern hat Ihr Vorbild Lenin völlig recht: Sprache fördert Bewusstsein. Lassen Sie uns klar darüber reden, worüber wir reden; dann verstehen es die Menschen auch einfacher. Wir reden heute über sichere, geregelte und regelkonforme Migration
({4})
und eben nicht über ungeregelte, unsichere und nicht regelkonforme Migration, die ja in den vergangenen Jahren eines der großen Probleme auf dieser Welt und auch in Deutschland war.
Das Ziel dieses globalen Paktes für geregelte, für regelkonforme Migration ist es, dass die Menschen in allen Ländern dieser Welt in ihrer Heimat bleiben können, weil es Lebensperspektiven gibt, weil es wirtschaftliche Perspektiven gibt, weil Fluchtursachen bekämpft werden, weil Krieg und Terror bekämpft werden.
({5})
Und wenn sie denn ihre Heimat verlassen müssen, dann sollen sie in möglichst vielen Ländern gleiche Rahmenbedingungen, bessere Rahmenbedingungen vorfinden; mein Kollege Harbarth hat in einer sehr gelungenen Rede darauf hingewiesen. Es geht um den Zugang zu Gesundheitssystemen, und zwar nicht nur in Europa.
({6})
Wo sollen denn kranke Migranten hin, wenn in vielen Ländern der Welt der Zugang zum Gesundheitssystem für Migranten eben nicht sichergestellt ist?
({7})
Wo sollen denn Familien mit Kindern hin, wenn Kinder von Migranten in vielen Ländern dieser Welt keinen Zugang zu Bildung haben, wenn es keine Grundsicherung gibt?
({8})
Also muss doch unser Interesse sein, mit einer internationalen Vereinbarung in möglichst vielen Ländern dieser Welt sicherzustellen, dass die Rahmenbedingungen, wenn denn Migration unvermeidbar ist, besser werden und nicht alle Menschen, nicht viele Menschen nach Europa und insbesondere nach Deutschland kommen.
({9})
Herr Steffel, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Renner?
Ich gestatte von jedem eine Zwischenfrage; selbstverständlich. – Bitte.
Danke schön, dass Sie mir das Wort erteilen. – Ich mache es ganz kurz: Ich will diesen Schwurbeleien und diesen Wortverdrehungen, die wir seit einer Stunde hier hören, gar nicht so wahnsinnig viel hinzufügen.
({0})
Ich will einfach nur eine Frage, eine gespaltene Frage stellen: Erklären Sie doch bitte einmal, was die Grundlage Ihrer Politik in diesem Bereich ist. Ich gebe Ihnen zwei Alternativen: Ist es, weil Sie das Fremde so sehr lieben, oder ist es Grundlage Ihrer Politik, weil Sie das Eigene so sehr hassen? Bitte geben Sie darauf eine Antwort.
({1})
Ich bedanke mich sehr für Ihre Frage, Herr Kollege. – Ich will Ihnen sagen, was die Grundlage unserer Politik ist. Die Grundlage unserer Politik ist es, die großen Herausforderungen dieses Planeten nicht alleine zu lösen, sondern gemeinsam mit 200 Ländern auf dieser Welt. Das ist die erste Grundlage.
({0})
Die zweite Grundlage ist, dass wir neben diesem Compact für gesteuerte, geregelte Migration dringend einen Compact with Africa – mit Afrika – brauchen. Dafür arbeitet unser Entwicklungshilfeminister. Die Bundeskanzlerin war gerade mit elf afrikanischen Ländern dabei, dafür zu sorgen,
({1})
dass Krieg, Terror und Fluchtursachen bekämpft und Perspektiven geschaffen werden.
({2})
Private Investitionen in Afrika sollen dazu führen, dass Millionen und Hunderte Millionen von Menschen eine Perspektive in ihrer Heimat haben.
({3})
Übrigens: Auch dagegen ist die AfD.
({4})
Die AfD ist auch dagegen, dass wir den Entwicklungshilfeetat ein weiteres Mal erhöhen, um Perspektiven zu verbessern und Investitionen in diesen Ländern zu stärken.
({5})
Die AfD ist auch gegen humanitäre Hilfe.
({6})
Wenn Menschen richtig im Dreck sind, dann gehen Sie zu Herrn Assad und kriechen ihm in den Hintern, statt sich für humanitäre Hilfe für diese Menschen einzusetzen.
({7})
Ich nenne Ihnen den nächsten Punkt. Wir sind – nach einer ganz schwierigen Abwägung; das gilt für jeden einzelnen Abgeordneten –
({8})
eben auch für Auslandseinsätze der Bundeswehr, die Sie ablehnen; denn wir wollen Krieg und Terror in diesen Regionen bekämpfen und dafür sorgen, dass die Menschen in ihrer Heimat sicher wohnen können.
({9})
Meine Damen und Herren, ja, wir sind für bilaterale Abkommen. Wir glauben, dass Staaten versuchen sollten, möglichst viel miteinander zu vereinbaren.
({10})
Und wir sind für multilaterale Abkommen auch im Rahmen der UN, weil natürlich Staaten miteinander versuchen sollten, weltweite Standards bei Klima, bei Handel, aber auch bei Menschenrechten und Migration zu schaffen.
({11})
Und gegen all das sind Sie. Und wissen Sie, was mein Verdacht ist? Sie sind dagegen, weil es Ihnen parteipolitisch nutzt.
({12})
Denn am Ende, wenn Sie das alles ablehnen, machen sich mehr Menschen auf den Weg nach Europa, auf den Weg nach Deutschland. Das führt dann dazu, dass Sie Ihre dumpfen Vorurteile weiter bedienen können und parteipolitisch davon profitieren. Das ist die eigentlich niederträchtige Schweinerei Ihrer Politik.
({13})
Ich glaube, dass die Mehrheit der Menschen – insofern ist es gut, dass wir heute darüber reden – diese Politik nicht will. Wir müssen daher alle offensiver darüber reden
({14})
und hier im Deutschen Bundestag mit Ihnen darüber streiten. Sie sollen Ihre Zwischenfragen ruhig stellen; denn auch Ihre Frage war entlarvend.
({15})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin davon überzeugt – und auch das Thema überlasse ich nicht Ihnen –, dass diese Vereinbarung mit 180 Nationen dieser Welt im deutschen Interesse liegt und Deutschland nutzt.
({16})
Wer zustimmt, dient Deutschland, und wer es plump ablehnt, schadet Deutschland und widerspricht deutschen Interessen, und das ist in diesem Hause zuallererst die AfD.
Herzlichen Dank.
({17})
Nächster Redner ist Martin Hebner für die Fraktion der AfD.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte kommt auf Antrag der AfD zustande;
({0})
denn die Bundesregierung wollte diese Debatte über den globalen Pakt für Migration schlichtweg vermeiden.
Vom Auswärtigen Amt wird mitgeteilt: Herkunfts-, Transit- und Zielländer vereinbaren – angeblich völlig unverbindlich – nur die Steuerung von Migration. – Das ist falsch. Sie wissen alle, dass die seinerzeit unverbindliche UN-Menschenrechtserklärung heute zwingendes Recht ist. Und der globale Pakt definiert Migrantenmenschenrechte, einschließlich des Rechts auf Migration in das Land der Wahl des jeweiligen Migranten.
({1})
Meine Damen und Herren, er zielt direkt darauf ab, bindendes Recht, Völkerrecht zu werden, Ius cogens zu sein. Eine Ratifizierung braucht es nicht. Österreich hat das erkannt und verweigert die Annahme. Klug und besonnen erklärt Österreich zusätzlich den Pakt für sich als rechtlich nicht verbindlich. „Persistent Objector“ heißt das im Völkerrecht. Man muss klare Einwanderungsregeln zwischen Staaten gestalten und darf nicht individuelle Migrantenmenschenrechte erfinden und damit den Rahmen des Völkerrechts erweitern.
({2})
Meine Damen und Herren, im Verhältnis der Staaten geht es immer um Interessen. 55 afrikanischen Staaten beispielsweise sind eine Macht. Das jährliche Bevölkerungswachstum Afrikas von über 30 Millionen Menschen entspricht der Bevölkerung aller Benelux-Länder zusammen, und das Jahr für Jahr. Glauben Sie, dass der globale Pakt hier ein einziges Problem Afrikas oder gar Deutschlands löst?
({3})
Meinen Sie, dass die im Globalen Pakt vereinbarte Meinungszensur, dass Migration nur positiv dargestellt werden darf, ein einziges Problem Afrikas oder Deutschlands löst?
({4})
Meinen Sie, dass es für Deutschland hilfreich ist, die derzeit mindestens 19 Petitionen zum Globalen Pakt im Petitionsausschuss weiterhin gezielt politisch zu unterdrücken?
({5})
Meinen Sie, dass es Afrika hilft, wenn illegale Migration durch schlichte Registrierung der Migranten über die IOM und die UN zur legalen, also gesteuerten Migration umdefiniert wird?
({6})
Meinen Sie, dass es keine Kriminalität mehr gibt, wenn Täter nicht mehr nach äußeren Merkmalen erfasst und geordnet strafrechtlich verfolgt werden dürfen?
({7})
Wir Bürger und Deutsche wollen selbst und souverän über die Zulassung von Migration nach Deutschland entscheiden.
({8})
Deutschland ist eine Nation, kein bloßes Siedlungsgebiet.
({9})
Herr Hebner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Polat?
Nein. – Wir sind ein Rechtsstaat, halten Menschenrechte ein und fordern deren Einhaltung.
Spezielle Migrantenmenschenrechte, wie sie der Globale Pakt erfindet, gibt es nicht.
({0})
Die direkte Verwerfung, die mit seiner geplanten Umsetzung verbunden sein wird, wird unser schon jetzt arg geschundenes Land bis zur Unkenntlichkeit verändern. Wir brauchen ein valides Einwanderungsgesetz, aber keinen Migrationspakt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Die Gelegenheit zu einer Kurzintervention erhält die Abgeordnete Claudia Moll von der SPD.
Sehr geehrter Herr Hebner, ich habe nicht wie Sie eine Universität besucht. Ich habe auch keine Akademie besucht. Meine Akademie war das Leben.
({0})
– Das ist lustig, ne? Lachen Sie nur! – Wissen Sie, was ich gelernt habe? Ich habe gelernt, dass es nicht wichtig ist, was man hat, wer man ist, was man besitzt oder woher man kommt, sondern dass nur wichtig ist, was einen als Menschen ausmacht.
({1})
Wissen Sie, was ich gerade tue? Ich schäme mich fremd,
({2})
dass wir hier mit diesem Lügenantrag unsere Zeit verschwenden. Ich schäme mich so etwas von fremd, dass wir diesen Antrag in diesem Haus besprechen müssen. Haben Sie ihn überhaupt vernünftig durchgelesen?
({3})
– Ja, beschimpfen Sie mich ruhig. Das können wir gleich gerne unter vier Augen tun. Dann darf ich nämlich sagen, was ich will. Am liebsten würde ich nämlich noch etwas ganz anderes sagen.
({4})
Bevor Sie antworten, Herr Hebner, gebe ich der Kollegin Polat ebenfalls die Gelegenheit zu einer Kurzintervention. Sie können dann auf beide zusammen antworten.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich möchte an die Stellungnahme der Kollegin anschließen. Es geht hier nicht nur darum, dass dies ein Lügenantrag ist. Aus dem Büro des Kollegen Abgeordneten Hebner sind mehrere Petitionen lanciert worden, die zutiefst antisemitisch sind
({0})
und um deren öffentliche Mitzeichnung gebeten wird. Ich fordere auch die Fraktionen der Koalition auf, dem Antrag nicht zu entsprechen, dass diese Petitionen öffentlich behandelt werden, weil sie zutiefst antisemitisch sind.
({1})
Sie kommen aus dem Büro des Kollegen Hebner und entsprechen der AfD-Kampagne, Verschwörungstheorien voranzutreiben. Zudem ist eine Mitarbeiterin der Bundestagsverwaltung diffamiert worden. Dazu müssen Sie sich erklären. Die Frage ist, ob Sie den entsprechenden Mitarbeiter entlassen haben.
({2})
Herr Hebner.
Meine Damen und Herren, das, was gerade hier geäußert wurde, war ein wunderschönes Potpourri aus a) Emotionen und b) Falschaussagen.
({0})
Wir wollen das einmal der Reihe nach durchgehen.
Jeder hier, auch wenn er keine Universität besucht hat, ist selbstverständlich gleichberechtigt.
({1})
Aber deswegen pauschal etwas zu verunglimpfen, liebe Frau Kollegin, ist nicht richtig.
Dann haben Sie gerade etwas von „antisemitisch“ erzählt. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Israel diesem Globalen Pakt für Migration nicht beitreten wird.
({2})
Ganz dezidiert: Israel und dort maßgebliche Leute bezeichnen diesen Pakt als Pakt der Wölfe, und in ein Land, in dem man Schafe hat, lässt man keine fremden Wölfe hinein. Das tut man nicht. Von daher hat Israel das ganz klar abgelehnt.
Sie sagen, wir seien antisemitisch. Dann müssten Sie auch sagen, dass Australien, USA, Tschechien und Polen, Österreich, Ungarn, Kroatien etc. antisemitisch sind. Ich habe nächste Woche einen Termin mit dem Schweizer Botschafter. Er ist für Sie bestimmt auch antisemitisch, wenn er sich gegen einen Pakt, der sein Land schädigt, wendet.
({3})
Schauen Sie, wir machen nichts anderes, als dass wir die Interessen unseres Landes – genauso wie andere Länder – wahrnehmen.
({4})
Dazu sind wir als Volksvertreter definitiv verpflichtet.
({5})
Ich möchte die Kollegen der anderen Fraktionen auf diese Verpflichtung explizit hinweisen.
Zu den Petitionen. Da hat sich bei einer Petition ein Mitarbeiter entschuldigt, weil er irgendetwas als Antwort veröffentlicht hat. – Meine Damen und Herren, hier werden öffentliche Petitionen im Interesse Deutschlands zurückgehalten, einen Pakt zu behandeln, und zwar mit der Aussage, das würde den interkulturellen Dialog gefährden. Das heißt, wir dürfen uns als Deutsche nicht mehr zu einem Pakt, den Deutschland abschließt, melden, weil er mit dem Ausland geschlossen wird. Meine Damen und Herren, das ist grober Unfug, was hier passiert.
({6})
Der Kollege, der ein Antwortschreiben mit Namen veröffentlicht hat, ohne also den Namen herauszunehmen, hat sich dafür explizit entschuldigt, und zwar mündlich und schriftlich.
({7})
Man kann aber eines bitte nicht machen: Es kann nicht sein, dass man glaubt, aufgrund eines einzelnen Problems eine gesamte Diskussion stoppen zu können. Könnte es eventuell sein, dass Sie mit diesem vorgeschobenen Argument nur die gesamte Diskussion unterdrücken wollen? Könnte es eventuell sein, dass Ihnen das aus ideologischen Gründen gerade zupasskommt? Ich will auch darauf hinweisen: Es gibt viele Petitionen, unter anderem eine von Frau Vera Lengsfeld. Frau Lengsfeld hat mitnichten jemanden – darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel – antisemitisch behandelt. Also bitte keine solche Pauschalbehauptung!
Herzlichen Dank.
({8})
Meine Damen und Herren, auch wenn während der Debatte ein Teil des Lichts ausgegangen ist, scheint es mir hell genug zu sein, um mit der Debatte fortzufahren.
Als Nächster hat das Wort der Abgeordnete Dr. Lars Castellucci für die Fraktion der SPD.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum bekämpft die AfD mit dieser Kraft die Vereinbarung, die uns vorliegt?
({0})
Ich erinnere an ein Zitat von Herrn Gauland aus dem Jahr 2015. Ich zitiere Sie wirklich nicht gerne, aber Sie haben damals gesagt:
Natürlich verdanken wir unseren Wiederaufstieg in erster Linie der Flüchtlingskrise. Man kann diese Krise ein Glück für uns nennen. Sie war sehr hilfreich.
({1})
Sie sperren sich gegen diesen Pakt und gegen diese Vereinbarung, weil Sie die Probleme, die wir haben, gar nicht beseitigen wollen. Sie leben vielmehr von den Problemen. Wo Sie keine Probleme sehen, malen Sie sie extra an die Wand.
({2})
Sie verhalten sich wie ein Arzt, der seinen Patienten Gift verabreicht, in der Hoffnung, dass sie kränker werden und das Wartezimmer voll machen. Ihre Politik macht dieses Land krank!
({3})
In diesem Global Compact geht es um ganz wichtige Aufgaben, denen wir uns gemeinsam stellen. Es geht darum, die Staaten zu unterstützen, damit niemand aus Not fliehen muss. Das ist doch unsere vordringliche Aufgabe, der wir uns stellen müssen.
({4})
Es geht darum, die Menschenrechte weltweit durchzusetzen, dass wir keine Menschen erster und zweiter Klasse haben, dass Migrantinnen und Migranten keine Menschen zweiter Klasse sind, sondern dass wir auch für sie die Menschenrechte überall durchsetzen.
({5})
Sie wissen doch, wie es in den Lagern bestellt ist, dass die Menschen in die Prostitution getrieben werden, dass sie versklavt werden. Solange wir solche Zustände auf der Welt dulden, werden wir der Migration nicht Herr. Deswegen müssen wir Lösungen finden.
({6})
Dieser Pakt soll die Steuerung und Ordnung im Bereich der Migration verbessern. Es ist das erste Mal, dass sich die Weltgesellschaft in dem Durcheinander, in dem sie sich befindet, aufmacht, gemeinsam auf der Ebene der Vereinten Nationen die Fragen der Migration zu lösen. Das ist ein großartiger Schritt. Wir freuen uns, wenn dieser Pakt im Dezember verabschiedet werden kann.
({7})
Herr Castellucci, gestatten Sie eine Zwischenfrage des AfD-Abgeordneten Kleinwächter?
Wir haben schon gehört, was diese Zwischenfragen bringen. Das bringt nichts. Deswegen lasse ich sie nicht zu.
({0})
Man kann in diesem Land gerne und jederzeit eine andere Meinung haben, aber man sollte bei der Wahrheit bleiben. Sie tun so, als ob das alles geheim gewesen wäre. Das Gegenteil ist der Fall: Alle Dokumente dieser Verhandlungen sind öffentlich. Wir Abgeordnete waren sogar eingeladen, nach New York, nach Genf, ins Auswärtige Amt zu kommen und mitzudiskutieren. Von Ihren Kollegen habe ich da niemanden gesehen. Wir Abgeordnete waren sogar eingeladen, nach New York, nach Genf, ins Auswärtige Amt zu kommen und mitzudiskutieren. Von Ihren Kollegen habe ich da niemanden gesehen.
({1})
Und warum habe ich da niemanden von Ihnen gesehen? Weil Sie gemerkt hätten, dass Sie mit Ihrer Hetze völlig isoliert sind, weil die Weltgesellschaft sich aufmachen will, Probleme zu lösen, und nicht, Probleme zu schüren.
({2})
Sie behaupten, wir würden zur Migration anstiften. Das Gegenteil ist der Fall: Wir wollen mit diesem Pakt Migration steuern und ordnen. Das ist unsere Aufgabe, und das steht in diesem Pakt.
({3})
Sie behaupten, dass wir unsere Souveränität aufgeben würden. Jetzt verraten Sie den Leuten doch mal, wie man mit einem unverbindlichen Pakt,
({4})
der nicht mal unterschrieben wird, staatliche Souveränität aufgibt. Ihr Redner hat gerade nicht mal einen völkerrechtlichen Vertrag von einer einfachen Vereinbarung unterscheiden können.
({5})
Gehen Sie erst mal in irgendein juristisches Seminar zur Nachhilfe! Es ist doch peinlich, was Sie hier abliefern.
({6})
Es gibt ein Recht auf eigene Meinung, aber es gibt kein Recht auf eigene Fakten. Ich will, dass Sie bei der Wahrheit bleiben. Bleiben Sie bei der Wahrheit! Das ist Ihre Verantwortung als Abgeordnete.
({7})
Sie spielen mit der Angst der Menschen.
({8})
Sie schüren die Ängste der Menschen.
({9})
Jetzt passiert aber etwas ganz Erstaunliches, nämlich, dass Sie selbst Angst verspüren. Ihr Kollege Herr Höcke spricht sogar von „politischer Bettnässerei“; denn bei Ihnen geht die Angst um, dass Sie vom Verfassungsschutz beobachtet werden könnten, weil man gar nicht so genau weiß, wo denn die Verfassungsfeinde unter Ihnen sind, die Leute, die schon in den Ländern beobachtet worden sind.
({10})
Jetzt geben Sie plötzlich Gutachten in Auftrag und schauen, wie Sie aus der Nummer wieder herauskommen.
Ich will Ihnen mal eines sagen: Wie soll man es denn nennen, wenn vom Mahnmal der Schande die Rede ist? Wie soll man es denn nennen, wenn von Umsiedlung die Rede ist, von Umvolkung, wenn man von Siedlungsgebiet spricht?
({11})
Wie soll man es denn nennen, wenn permanent Nazijargon in diesem Hohen Haus gepflegt wird? Das nenne ich verfassungsfeindlich.
({12})
Sie missbrauchen dieses Haus. Sie missbrauchen das Thema. Und das Schäbigste ist: Sie missbrauchen am Ende die Menschen für Ihre verfassungsfeindliche Agenda.
({13})
Alle großen Fragen unserer Zeit, in erster Linie die Sicherung des Friedens, dann der Klimawandel und auch die Migration, werden wir nur in internationaler Zusammenarbeit, mit internationaler Verständigung beantworten können. Der Globale Pakt ist ein großer Schritt in diese Richtung. Er findet unsere volle Unterstützung.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Gökay Akbulut für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Funktion dieser Debatte für die AfD ist doch ganz klar: Sie merken, dass Ihr einziges Thema „Merkel muss weg“ von den Menschen im Land nicht mehr als zentral angesehen wird, und schon wollen Sie die nächste Sau durchs Dorf treiben.
({0})
Eine Angst- und Fake-News-Kampagne soll Ihr Thema wieder in die Schlagzeilen bringen, weil Sie zu Renten, Mieten, Einkommen und guter Arbeit einfach nichts zu sagen haben.
({1})
Ohne das Thema Migration wären Sie doch völlig aufgeschmissen. Ihre Rassenfantasien und Ihre Umsiedlungsszenarien können Sie einfach in die Tonne kloppen!
({2})
Wer sich Ihre Seiten im Netz anguckt, der sieht, dass Sie eine Kampagne mit Ihren Freunden von „PI-News“, „Compact“ und „Ein Prozent“ hochziehen wollen. „Umvolkung“ dürfen Sie zwar nach Ihrem Gutachten zum Verfassungsschutz nicht mehr sagen, aber genau diesen Quatsch wollen Sie den Leuten mit Ihrer Angstkampagne einreden. Damit werden Sie aber nicht durchkommen.
({3})
Dieser Antrag gibt mir Gelegenheit, darauf einzugehen, dass die AfD mit der Kampagne, die sie hier gestartet hat, nicht erfolgreich sein wird; denn Deutschland wird den UN-Migrationspakt unterstützen, und das ist auch gut so. Ihre rechte Hetzkampagne wird nicht erfolgreich sein; sie ist zum Scheitern verurteilt. Stattdessen wird Deutschland im Dezember in Marrakesch für die Annahme des Paktes stimmen, und das an der Seite von mehr als 190 Nationen.
({4})
Der geplante Pakt ist ein Eingeständnis, dass globale Migration und ihre Herausforderung nur in internationaler Kooperation gestaltet werden können. Er setzt sich für die Unteilbarkeit der Menschenrechte für alle Menschen ein, und das in Zeiten, in denen der politische Diskurs um Migration weit rechts geführt wird. Ein sehr gutes und wichtiges Zeichen!
({5})
Der Migrationspakt ist ein Schritt in die richtige Richtung und ein positives Beispiel dafür, wie man Migration international gestalten könnte, und da müssen wir hin.
Dass der Pakt rechtlich nicht bindend ist, sehe ich sogar eher kritisch. Gerade in den Punkten, in denen er sich für gleiche Rechte für alle Menschen einsetzt, würde ich mir eine stärkere Bindungswirkung wünschen. Die Linke tritt daher für verbindliche internationale Abkommen zum Schutze von Migrantinnen und Migranten ein, verbunden mit einer echten Fluchtursachenbekämpfung. Deshalb sind wir ganz klar dafür, dass sich Deutschland für die Annahme des Global Compact for Migration einsetzt.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Abgeordnete Thorsten Frei für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist nicht das erste Mal, dass wir im Deutschen Bundestag über diese globale Vereinbarung einer regulären, sicheren und ordnungsgemäßen Migration beraten. Am 19. April haben wir schon einmal darüber beraten. Aber nicht nur Parlamentsdebatten, auch öffentliche Debatten bieten die Gelegenheit, über solche Themen zu sprechen. Und beim Thema „Global Compact“ gibt es überhaupt nichts, was wir verschämt unter den Scheffel stellen sollten. Stattdessen sollten wir darüber sprechen, dass diese Vereinbarung nur ein Teil der Lösung für die Migrationsherausforderungen in der Welt und bei uns ist. Sie ist ein Mosaikstück, das dafür notwendig ist.
({0})
Ich will zu Beginn auf einige Punkte des Pakts hinweisen.
Erstens. Es ist ein rechtlich nicht bindender Kooperationsrahmen, und das ist durchaus sinnvoll. Wir brauchen nicht nur bindendes Völkerrecht, sondern es ist auch wichtig, dass man über Kooperationsmöglichkeiten sprechen kann, darüber, gemeinsame Probleme gemeinsam zu lösen.
Zweitens gibt es selbstverständlich weiterhin eine klare Trennung zwischen legaler und illegaler Migration. Darüber hinaus wird klar statuiert, dass es das souveräne Recht der Staaten ist, auf ihrem Hoheitsgebiet Migrationspolitik zu regeln und zu gestalten. Genau dabei bleibt es.
({1})
Wenn Sie die Frage stellen, warum wir das eigentlich machen, muss man antworten: Ja, weil wir auf eine globale Herausforderung auch eine globale Antwort brauchen.
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Das ist aber in der Tat nicht das Einzige. Wir wissen ganz genau, dass wir bei diesen Herausforderungen auf allen Ebenen der Politik ansetzen müssen: Das gilt für die Landespolitik, das gilt für die Bundespolitik, das gilt für den europäischen Rahmen und eben auch für den internationalen Rahmen.
({3})
Herr Kollege?
Ich würde gerne, wenn Sie einverstanden sind, Herr Präsident, zunächst auf die Punkte eingehen, die mir wichtig sind.
Natürlich gibt es auch auf nationaler Ebene noch jede Menge zu tun; das wissen wir. Es wäre natürlich zu wünschen – Frau Polat, wenn Sie uns schon ungebetene Ratschläge erteilen –, dass die Grünen im Bundesrat nicht länger verhindern, dass Staaten, aus denen die Menschen nahezu keine Anerkennung als Flüchtlinge bei uns erhalten, zu sicheren Herkunftsstaaten werden und die Menschen tatsächlich wieder dorthin abgeschoben werden können.
({0})
Das ist etwas, wo die Grünen dazu beitragen, dass ein Problem in Deutschland nicht gelöst werden kann, das gelöst werden könnte.
({1})
Natürlich ist es richtig, dass wir auf europäischer Ebene weiter daran arbeiten müssen, den Grenzschutz effektiver zu gestalten und hier zu besseren Lösungen zu kommen. Aber klar ist doch, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass wir es bei der Migration mit einem so gewaltigen Thema zu tun haben, dass wir miteinander im Gespräch sein müssen. Wenn wir über Flüchtlingszahlen im vergangenen Jahr von knapp 70 Millionen Menschen sprechen, wenn wir von Migrantenzahlen bei der UN von 258 Millionen Menschen sprechen – das sind 3,3 Prozent der Weltbevölkerung –, dann kann man doch nicht so tun, als würde uns das nichts angehen, als müssten wir nicht mit Herkunfts-, Transit- und anderen Ländern sprechen.
Darauf zielt dieser Compact ab. Schauen Sie sich die Zielsetzungen doch einmal an. In Ziel Nummer 4 geht es darum, dass die Staaten die Menschen mit rechtlich klaren Identifikationspapieren ausstatten. In Ziel Nummer 9 geht es um die gemeinsame Bekämpfung von Schleuserkriminalität. Ziel Nummer 11 ist ein gemeinsamer und koordinierter, integrierter Grenzschutz. Es würde uns in der Tat helfen, wenn auch zwischen afrikanischen Ländern Grenzschutz stattfinden würde, wenn auch dort Schleuserkriminalität bekämpft würde, weil, wenn Sie auf Migration erst an den Grenzen Deutschlands oder Europas reagieren, Sie der Herausforderung nicht gerecht werden. Deswegen muss man früher ansetzen. Genau das ist unser Punkt. Dabei geht es beispielsweise auch darum, dass wir Fluchtursachenbekämpfung betreiben und damit dafür sorgen, dass die Migration eingedämmt werden kann. Das ist die Zielsetzung dieses Paktes, und er wird dieser Herausforderung auch gerecht.
Klar ist doch, dass nicht jeder einzelne Punkt dieser 10 Leitlinien und 23 Zielsetzungen unseren Vorstellungen entsprechen muss. Das ist ein Kompromiss. Das war ein zweijähriges Ringen zwischen unterschiedlichen Interessen.
({2})
– Frau von Storch, ich habe Ihnen doch gerade eben vier oder fünf Punkte benannt, mit denen klar die Zielsetzung erreicht wird, die wir als Zielland der Migration verfolgen müssen.
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Das ist das, was die Bundesregierung in den Verhandlungen proaktiv eingebracht hat.
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Das ist das Ergebnis unserer Politik. Deshalb ist es richtig, dass wir nicht an der Seite stehen, sondern mitmachen, wenn es darum geht, internationale Migrationsherausforderungen so zu gestalten, dass sie auch unseren Interessen gerecht werden.
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Deshalb werden wir dem auf Basis eines eigenen Antrags, den wir noch in diesem Monat stellen werden, zustimmen.
Herzlichen Dank.
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Als nächste Rednerin hat das Wort die fraktionslose Abgeordnete Dr. Frauke Petry.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir debattieren heute über den UN-Migrationspakt. Das Fazit der bisherigen Diskussion ist, dass die meisten Redner – von der Linken bis zur Union – Flucht- und sonstige Wanderungsbewegungen permanent durcheinanderbringen, so wie seit Jahren. Sie haben also wenig gelernt.
Nachdem es also nicht gelungen ist, den Bürgern weiszumachen, jeder Mensch auf der Suche nach einem besseren Leben sei ein Flüchtling, für den Asylrecht oder die Genfer Flüchtlingskonvention anzuwenden ist, muss nun eine Vereinbarung geschaffen werden, die de facto und allmählich bisher nicht existente Rechte für jeden wanderungswilligen Menschen festschreibt. Dabei widersprechen zahlreiche Passagen aus dem Compact genau dem Katalog an Menschenrechten, auf dem er angeblich basiert.
Ein Beispiel: Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Es gibt ein Menschenrecht auf Freizügigkeit im eigenen Land. Man darf seine Heimat verlassen, und man darf natürlich dahin zurückkehren. So weit, so gut, aber eben auch nicht mehr. Von der linken Parlamentshälfte ist kein politischer Realismus zu erwarten; das wissen wir. Dass aber auch CDU/CSU und FDP offenbar unfähig sind, zu erkennen, dass kein globales Dokument jemals in der Lage sein wird, Auswanderung oder Exil schönzureden – und das ist Migration, nichts anderes –, das ist beschämend. Auswanderung und Exil im Ausland sind keine Problemlösungen. Sie sind immer nur ein Ventil für politische Konflikte, die dadurch mitnichten gelöst werden – das wissen Sie –; im Gegenteil, sie wachsen durch Wanderungsbewegungen weiter.
({0})
Migration, also Exil oder Auswanderung, zerreißt Familien und Freundeskreise, destabilisiert Herkunfts- und Zielländer. Das kann nicht unser Ansinnen sein. Deswegen ist auch die Hypothese im Pakt falsch, es ginge darum, verbindlich zu konstatieren, Migration sei in der Summe positiv. Nein, meine Damen und Herren, das ist Bürgerverdummung. Das ist komplett falsch.
Wenn der Pakt also dazu dienen soll, die Umsetzung der Menschenrechte in all den Ländern zu befördern – das hat uns Herr Harbarth erklärt –, in denen sie nicht funktionieren, dann erklären Sie den Bürgern, warum das mit diesem Pakt plötzlich gelingen soll, wo doch selbst die allgemeinverbindliche Erklärung der Menschenrechte dies bisher nicht bewirken konnte.
So, wie ich die westlichen Demokratien verstehe, sind wir im Bundestag den Wählern, den Bürgern dieses Landes verpflichtet, so wie es in allen anderen Demokratien auch der Fall ist. Laut einer repräsentativen Umfrage ist ein Drittel der Deutschen für diesen Pakt, ein Drittel ist dagegen, und ein Drittel weiß es nicht. Anerkannte westliche Demokratien, darunter neun europäische Staaten und Israel, werden diese Vereinbarung nicht unterschreiben. Ich schlage vor, dass alle Abgeordneten dieses Hauses die verbleibenden Wochen bis zur Abstimmung in ihren Wahlkreisen nutzen, um über die 32 Seiten des Dokuments mit ihren Wählern zu diskutieren. Danach treffen wir uns hier wieder. Wir werden sehen, wie sich die Stimmung im Land entwickelt hat.
Herzlichen Dank.
({1})
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Michael Kuffer für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es ist die Politik von CDU und CSU, die Zuwanderung zu steuern, sie zu begrenzen bzw. an unseren nationalen Interessen auszurichten. Wir haben mit der Obergrenze einen klaren Rahmen gezogen, und wir haben mit den Vereinbarungen der Koalition von Anfang Juli zur Zurückweisung im Transitverfahren gezeigt, dass wir bereit sind, dafür effektive nationale Maßnahmen zu ergreifen.
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Aber wenn man im Ergebnis eine nachhaltige Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung erreichen will, dann geht das nur im Zusammenspiel von nationalen und internationalen Maßnahmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das EU-Türkei-Abkommen funktioniert, und es hat einen wesentlichen Beitrag zum Rückgang der Flüchtlingszahlen geleistet. Wir brauchen solche Abkommen mit weiteren Staaten, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent. Sie wissen, dass wir als Bundesrepublik für die Rücknahme von Personen nach der Zurückweisung im neuen Transitverfahren bereits bilaterale Abkommen abgeschlossen haben und dass wir weitere solcher Vereinbarungen brauchen und schließen werden. Schließlich werden wir auch das Aufenthaltsrecht von Fachkräften auf der Schiene der Fachkräftezuwanderung davon abhängig machen, dass mit den jeweiligen Herkunftsstaaten ebenfalls Rücknahmeabkommen bestehen.
Sie sehen also: Wichtige Instrumente der Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung sind, auch wenn sie nationalen Ursprungs sind, von Übereinkünften auf transnationaler und auf internationaler Ebene abhängig. Wer nationale Maßnahmen fordert, muss wissen, dass er diese nur im Konzert mit internationalen Maßnahmen in die Tat umsetzen kann. Oder es bleibt eben ein Täuschungsversuch. Genau mit diesem Täuschungsversuch sind Sie heute aufgeflogen, Herr Gauland. Sie sind aufgeflogen, weil Sie kein einziges inhaltliches Argument vorbringen konnten. Deswegen haben Sie sich in dieser Debatte heute bis auf die Knochen blamiert.
({1})
Das ist ganz einfach erklärbar. Deshalb war es gut, dass die Sache einmal im Parlament coram publico verhandelt wird,
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dass Sie sich den Argumenten stellen müssen und nicht länger nur in den dunklen Ecken der sozialen Medien in immer nur eine Richtung feuern und ohne Argumente unterwegs sein können.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich ist der Druck auf Staaten mit hohen Standards wie die Bundesrepublik Deutschland ungleich höher als auf Staaten mit niedrigen Standards. Und genau da setzt der Global Compact an.
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Genau hier wird deutlich, wie sehr der Pakt den deutschen Interessen der Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung entspricht. Wir wollen den Schleusern das Handwerk legen und Menschen ohne Bleibeperspektive von vornherein davon abhalten, sich auf den Weg über das Mittelmeer zu machen.
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Genau das entspricht der Zielrichtung des Global Compact.
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Ziel 9: Verstärkung der grenzübergreifenden Bekämpfung der Schleusung von Migranten.
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Es ist unsere Politik, Fluchtursachen zu bekämpfen. Genau das entspricht der Zielrichtung des Global Compact. Ziel 2: Minimierung nachteiliger Triebkräfte und struktureller Faktoren, die Menschen dazu bewegen, ihre Herkunftsländer zu verlassen.
Wir wollen wissen, wer zu uns kommt, damit wir an funktionierenden Grenzen sauber unterscheiden können zwischen denjenigen, die unsere Hilfe in der Not brauchen, und denjenigen, die dieser Hilfe nicht bedürfen und sie missbrauchen wollen, zwischen denjenigen, deren Aufenthalt in unserem Land unseren Interessen dient, und denjenigen, die unseren Interessen zuwiderhandeln.
Genau das entspricht der Zielsetzung des Global Compact: Ziele 4 und 11: Sicherstellung dessen, dass alle Migranten über den Nachweis einer rechtlichen Identität und ausreichend Dokumente verfügen sowie integriertes, sicheres und koordiniertes Grenzmanagement. Ich füge hinzu: auf der Basis einer nationalen Definition dessen, was reguläre und was irreguläre Migration ist.
({8})
Das ist nämlich genau der Kern dieses Compact.
Wir wollen eine zügige Aufenthaltsbeendigung und Rückführung von den Menschen, deren Bleiberecht endet.
({9})
Wir wollen uns dabei weniger mit den Herkunftsstaaten herumärgern. Genau das entspricht der Zielrichtung des Global Compact: Ziel 21: Zusammenarbeit beim Rückkehrmanagement.
Und ja, natürlich benennt der Global Compact nicht nur repressive Maßnahmen, sondern auch Maßnahmen zur Gewährleistung von Standards. Das Entscheidende ist nur – damit komme ich zum Ende –, dass Deutschland alle diese Standards ausnahmslos längst erfüllt. Weil andere Staaten sie nicht erfüllen, war der Migrationsdruck auf Deutschland in der Vergangenheit zu hoch. Deshalb liegt es im ureigenen deutschen Interesse, international zu einer Angleichung der Standards zu kommen.
Deshalb sage ich Ihnen als letzten Satz: Ich hätte nichts dagegen, wenn der Global Compact rechtlich bindend wäre.
({10})
Deutschland hätte dabei nichts zu befürchten, sondern nur etwas zu gewinnen.
Vielen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bitte ohne Doktortitel, das führt schnell zu Komplikationen. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte, die wir jetzt führen, schließt sich an sich sehr gut an die Debatte an, die gerade zum Global Compact for Migration geführt wurde.
Es geht darum, dass wir jetzt endlich das parlamentarische Verfahren eröffnen, was die Umsetzung eines wichtigen Anliegens der Regierungskoalition anbelangt, nämlich die vier Länder Tunesien, Algerien, Marokko und Georgien als sichere Herkunftsstaaten einzustufen. Das ist ein wichtiger Punkt im innenpolitischen Bereich des Koalitionsvertrages.
Die Bundesregierung hat schnell gehandelt. Das Bundesinnenministerium hat den Gesetzentwurf auf den Weg gebracht. Aus unserer Sicht geht von diesem Gesetzentwurf sehr wohl ein richtiges und gutes Signal aus. Es hat sich bereits bei der Einstufung der sechs Westbalkanländer im Jahr 2016 bewährt: Die Zahlen der Asylanträge aus diesen Ländern sind nach der Einstufung als sichere Herkunftsländer signifikant zurückgegangen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Ähnliches auch der Fall sein dürfte, wenn wir die vier genannten Länder als sichere Herkunftsstaaten einstufen.
({0})
Alleine im vergangenen Jahr sind insgesamt 15 000 Asylverfahren von Angehörigen aus diesen vier Ländern durchgeführt worden. Das bedeutet: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hatten bei 15 000 Verfahren sehr sorgfältig zu prüfen, ob ein Asylbewerberstatus oder der Status als Flüchtling oder als subsidiär Schutzberechtigter zu gewähren ist. In der überwiegenden Zahl der Verfahren waren die Bescheide negativ: Bei den Bewerbern aus Georgien betrug die Anerkennungsquote gerade mal 0,6 Prozent, bei Marokko 4,1 Prozent, bei Algerien 2,0 Prozent und bei Tunesien 2,7 Prozent. Das bedeutet, der überwiegende Teil der Bewerber aus diesen vier Ländern hatte von vornherein keine Perspektive, einen Schutzstatus zuerkannt zu bekommen.
Deshalb ist es aus unserer Sicht nur logisch und sachgerecht, dass wir diese Länder als sichere Herkunftsstaaten einstufen. Es gibt in all diesen vier Ländern keine Gruppenverfolgung. Es gibt keine systematische Verfolgung. Es gibt auch keine unmenschliche oder unwürdige Behandlung oder Bestrafung von Personen, sodass es aus Sicht der Bundesregierung keine Gründe gibt, diese Einstufung der vier Länder nicht vorzunehmen.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben gerade sinngemäß behauptet, es gäbe in den Ländern, über die wir heute sprechen, keine systematische und keine Gruppenverfolgung.
Jetzt möchte ich Sie mit etwas konfrontieren und fragen, ob Ihnen das bekannt ist, dass nämlich in den drei Ländern in Nordafrika, über die wir sprechen, Marokko, Algerien und Tunesien, Homosexualität mit bis zu drei Jahren Haft bestraft wird, dass es allein in Tunesien in diesem Jahr 70 Verurteilungen deswegen gegeben hat und dass die Bundesregierung auf meine Anfrage geantwortet hat, dass ihr die Zahl über die Verurteilungen in Algerien noch nicht einmal bekannt sei. Das heißt, in diesen Ländern findet eine strukturelle Diskriminierung und Verfolgung gerade von sexuellen Minderheiten statt. In dieses Klima kommen Sie mit einem Gesetzentwurf, der diesen Menschenrechtsverletzungen quasi ein Gütesiegel erteilt.
({0})
Ich möchte Sie fragen, was Sie künftig dafür tun, damit diesen vulnerablen Gruppen ein ordentliches Verfahren gewährleistet wird, oder ob Ihnen das einfach egal ist, weil in Ihrem Gesetzentwurf im Gegensatz zu dem Gesetzentwurf der FDP zum Beispiel noch nicht einmal vorgesehen ist, dass es für diese vulnerablen Gruppen eine ordentliche Rechtsberatung gibt.
Sehr geehrter Herr Kollege, ich danke Ihnen ganz herzlich für die Frage, weil sie mir die Möglichkeit gibt, intensiver darzulegen, dass es eben nicht so ist, wie Sie es darstellen, dass nämlich Bewerbern aus sicheren Herkunftsländern kein ordnungsgemäßes und rechtsstaatliches Verfahren zuteilwird. Das Gegenteil ist der Fall: Selbstverständlich bleibt es auch bei Bewerbern aus sicheren Herkunftsstaaten bei einer Individualprüfung. Jeder einzelne Asylantrag wird natürlich individuell geprüft. Nur die Verfahren sind etwas verkürzt. Das ist durchaus auch ein Vorteil.
Es besteht natürlich auch für Bewerber aus sicheren Herkunftsstaaten die Möglichkeit, gegen einen negativen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu klagen, sich mit allen rechtsstaatlichen Mitteln, die auch anderen abgelehnten Bewerbern zur Verfügung stehen, zur Wehr zu setzen. Es stimmt also nicht, was immer fälschlicherweise behauptet wird, nämlich dass Bewerber aus Ländern, die als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden, kategorisch gar kein Verfahren bekommen oder dass deren Anträge pauschal abgelehnt werden. Das Gegenteil ist der Fall. Es bleibt bei einer individuellen Prüfung, selbstverständlich auch bei vulnerablen Personen.
Es ist uns ein wichtiges Anliegen – und wir werden dieses Anliegen demnächst konkret umsetzen –, nicht nur die Rechtsberatung für vulnerable Personen, sondern auch die Asylverfahrensberatung insgesamt deutlich zu verbessern. Da passiert schon sehr viel Gutes in den Erstaufnahmeeinrichtungen, gerade in den neuen AnKER-Einrichtungen, die mittlerweile in Betrieb sind. Wir können sicherlich für eine neutrale und unabhängige Beratung noch mehr tun. Aber ich sage ganz offen: Die Beratung muss auch in die Richtung gehen, dass gerade den Personen, bei denen von vornherein und mit großer Wahrscheinlichkeit klar ist, dass der Asylbescheid negativ sein wird, sehr frühzeitig Perspektiven einer freiwilligen Rückkehr in das Heimatland – auch mit finanzieller Hilfe – eröffnet werden.
Es geht also nicht nur darum, Asylverfahrensberatung in die Richtung zu betreiben, dass man die Verfahren möglichst in die Länge zieht und möglichst alle rechtsstaatlichen Mittel ausschöpft. Vielmehr sollte Asylverfahrensberatung nach unserer Auffassung auch in die Richtung gehen, dass man frühzeitig Perspektiven einer Rückkehr in das Heimatland aufzeigt.
Wie gesagt, es bleibt bei einer individuellen Prüfung der Anträge auch aller Bewerber aus sicheren Herkunftsstaaten. Aber ich bin der Überzeugung, dass es gerade vor dem Hintergrund der starken Belastung und der hohen Anzahl an noch offenen Verfahren durchaus sachgerecht ist, dass wir die Kapazitäten im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf die Länder fokussieren, bei denen die Anerkennungsquoten deutlich höher sind als bei den vier genannten Ländern Georgien, Algerien, Marokko und Tunesien.
Aus meiner Sicht ist durchaus auch wichtig, zu erwähnen, dass diese vier Länder selbst den Wunsch geäußert haben, als sicheres Herkunftsland eingestuft zu werden. Es ist sehr wohl eine gewisse Anerkennung der Entwicklung in diesen Ländern, wenn man sie als sichere Herkunftsländer einstuft. Das gilt aus meiner Sicht auch für die drei Maghreb-Länder. Natürlich gibt es da in rechtsstaatlicher Hinsicht noch Defizite; das möchte ich gar nicht leugnen. Aber es gibt in diesen drei Maghreb-Ländern, wie schon von mir ausgeführt – das wird durch die entsprechenden Länderberichte des Auswärtigen Amtes untermauert –, keine strukturelle Gruppenverfolgung. Es besteht die Möglichkeit, das dortige Justizsystem in Anspruch zu nehmen.
Herr Staatssekretär, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Polat? – Das würde dazu beitragen, Ihre Redezeit zu verdreifachen.
Es muss keine Verdreifachung sein. Dennoch lasse ich die Frage sehr gerne zu.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Parlamentarischer Staatssekretär Mayer, das passt ganz gut an dieser Stelle. Ich möchte die Frage des Kollegen Lehmann wiederholen. Sie sind in Ihrer Antwort nur in Teilen auf seine Frage eingegangen. Er hat sich explizit auf die Gruppenverfolgung in den genannten Herkunftsländern bezogen. Das Bundesverfassungsgericht sagt ganz klar: Ein Land ist nicht als sicher einzustufen, wenn Gruppenverfolgung belegt ist. – Mein Kollege hat gesagt, dass es nicht nur eine strukturelle Diskriminierung gibt, sondern dass die homosexuelle Identität auch strafbewehrt ist. Was sagen Sie dazu? Aus unserer Sicht ist hiermit das Kriterium, das das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil erwähnt hat, nicht erfüllt.
({0})
Sehr geehrte Frau Kollegin Polat, für uns als Bundesinnenministerium ist der Länderbericht des Auswärtigen Amtes von entscheidender Bedeutung. Die Länderberichte des Auswärtigen Amtes bezüglich der drei Maghreb-Länder beinhalten klar die Aussage, dass es keine strukturelle Gruppenverfolgung von Homosexuellen gibt. Vor diesem Hintergrund spricht aus unserer Sicht überhaupt nichts dagegen, diese drei Länder als sichere Herkunftsstaaten einzustufen. Ich bin der festen Überzeugung, dass dies ein wichtiges politisches Signal ist. Wir erwarten davon die klare Wirkung, dass die Zahl der Anträge aus diesen Ländern in der Folge zurückgehen wird.
({0})
Ich möchte nachdrücklich für den Gesetzentwurf der Bundesregierung werben. Ich bin froh, dass dieser Gesetzentwurf nun die parlamentarischen Beratungen erreicht hat und im parlamentarischen Verfahren ist; denn aus unserer Sicht ist wichtig, dass wir möglichst zeitnah diesen Gesetzentwurf so weit gedeihen lassen, dass aus ihm Gesetzeskraft erwachsen kann, um dann die entsprechenden positiven Wirkungen zu haben, und zwar sowohl in verwaltungstechnischer Hinsicht, was die Entlastung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge anbelangt, als auch im Hinblick auf die Signalwirkung in Richtung der vier genannten Länder.
Ich freue mich auf eine konstruktive und intensive Befassung mit diesem Gesetzentwurf.
({1})
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär Mayer. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort Lars Herrmann von der AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als parlamentarischer Neuling, der ich nun einmal bin, lernt man nicht nur jeden Tag, sondern fast stündlich etwas Neues hinzu. Viele Abläufe unseres Parlamentsbetriebes erklären sich jedoch recht schnell von allein und sind auch nachvollziehbar, selbst wenn man nicht die hellste Kerze auf der Torte ist. Über das Vorgehen beim von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Einstufung von Georgien, Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsländer war ich jedoch etwas länger erstaunt als sonst. Die Bundesregierung lehnte nämlich erst am 18. Oktober 2018 – das ist noch gar nicht so lange her – genau an dieser Stelle einen gleichlautenden Gesetzentwurf der FDP-Fraktion ab. Nun bringt die Bundesregierung diesen als eigene Vorlage in das Parlament ein, welche sie noch vor drei Wochen so vehement abgelehnt hatte.
({0})
Wenn man den Gesetzentwurf der Bundesregierung mit dem der FDP-Fraktion vergleicht, kommt man zu dem Schluss, dass zwei Unterschiede feststellbar sind. Zum einen hat die Bundesregierung offenbar Schwierigkeiten mit dem Alphabet; denn Georgien kommt vor Ghana in der alphabetischen Aufzählung. Das andere betrifft ausschließlich die Aktualität der Berichte, in denen begründet wird, warum diese Staaten sicher sind. Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes im ursprünglichen Entwurf der FDP stammt von Ende Januar 2016. Die Bundesregierung bezieht sich in ihrem Gesetzentwurf auf Lageberichte des Auswärtigen Amtes von Februar 2018 für Algerien, von Januar 2018 für Marokko und von März 2018 für Tunesien. Jetzt müsste man meinen, dass die Bundesregierung bei einem solch elementaren und dringenden Thema ein paar sehr gute und gewichtige Gründe hat, einen inhaltsgleichen Gesetzentwurf zuerst abzulehnen und dafür einen eigenen einzubringen. Dass ein solch schwerwiegender Grund vorliegen könnte, darauf wies der Kollege Detlef Seif aus der CDU/CSU-Fraktion in seiner Rede vom 18. Oktober dieses Jahres sehr deutlich hin. Ich zitiere aus dem Plenarprotokoll von diesem Tag, Seite 6338:
Wir hatten Sie
– damit sind die Kollegen von der FDP gemeint –
gebeten, den Antrag zu schieben, um eventuell auch weitere Länder berücksichtigen zu können, die im Moment in der Prüfung sind. Die FDP hat das abgelehnt. Da bleibt uns heute nichts anderes übrig, als dem Beschlussvorschlag des zuständigen Innenausschusses zu entsprechen. Wir laden Sie aber gerne ein, bei dem Gesetzentwurf der Bundesregierung positiv mitzuwirken.
Nun, sehr geehrter Herr Kollege Seif, ich kann den Gesetzentwurf der Bundesregierung drehen und wenden, wie ich will, aber ich finde leider keine weiteren Länder außer Algerien, Marokko, Tunesien und Georgien. Es bleibt exakt bei den Ländern, die seinerzeit die FDP schon vor drei Wochen vorgeschlagen hatte.
({1})
Ich möchte gerne auf die Begründung im Gesetzentwurf eingehen. Warum sieht die Bundesregierung ausgerechnet bei diesen Staaten die Einstufung als sichere Herkunftsländer als erforderlich? Zuerst führt die Bundesregierung das Argument an, dass in Deutschland noch immer viele Asylanträge gestellt werden, die von vornherein sehr geringe Erfolgsaussichten haben, und diese Anträge daher zügig bearbeitet und entschieden werden können, sodass im Fall einer Ablehnung auch die Rückkehr schneller erfolgen kann. Kommen wir also zu den konkreten Fallzahlen. Im Jahr 2017 nahm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 222 683 Asylanträge an. Davon waren 1,5 Prozent aus Georgien, 1,05 Prozent aus Algerien, 1,06 Prozent aus Marokko und 0,25 Prozent aus Tunesien. Sehr geehrte Damen und Herren, ich wiege satte 106 Kilo.
({2})
Wenn ich 0,25 Prozent abnehme, bin ich immer noch kräftig gebaut. Wie die Bundesregierung hier „viel“ definiert, verwundert mich sehr.
({3})
Es muss also noch andere Gründe geben.
Jetzt zu dem Argument, dass der Aufenthalt in Deutschland schneller beendet wird und die Abschiebung zügig erfolgen kann. Derzeit befinden sich 234 603 ausreisepflichtige Ausländer in Deutschland. Ich meine „Ausländer“ hier nicht abwertend, sondern als Arbeitsbegriff im Sinne des Aufenthaltsgesetzes oder des Asylgesetzes. 234 603, diese Zahl steigt übrigens ständig. Seit 2016 ist sie um 13 Prozent gestiegen, und das ist viel. Mit Stand 30. April 2018 befinden sich rund 4 000 marokkanische, 1 500 tunesische und 3 900 algerische Staatsangehörige in Deutschland, die ausreisepflichtig sind. Die noch nicht erfolgte Abschiebung dieser ausreisepflichtigen Ausländer hängt nicht an der bisher fehlenden Einstufung als sichere Herkunftsländer, sondern ist ein Beleg für die Unfähigkeit der Bundesregierung und das Scheitern der von Frau Merkel ausgerufenen nationalen Kraftanstrengung zur Rückführung.
({4})
Nun könnte man fast meinen, die AfD-Fraktion sei gegen die Einstufung dieser Staaten als sichere Herkunftsländer; aber dem ist nicht so – ganz im Gegenteil. Ich möchte hier noch weitere und nicht ganz unwichtige Gründe darstellen, warum dringend gehandelt werden muss.
Beginnen wir heute ausnahmsweise mit Georgien. Es werden Gruppen der organisierten Kriminalität aus Georgien noch immer als eine der am häufigsten vertretenen Nicht-EU-Nationalitäten gemeldet, die an schwerer und organisierter Kriminalität in der EU beteiligt sind. Georgische Gruppen und organisierte Kriminalität sind äußerst mobil, vorrangig an organisierter Eigentumskriminalität beteiligt, insbesondere an organisierten Einbrüchen und Diebstählen, und sie sind besonders aktiv in Frankreich, Griechenland, Deutschland, Italien und Spanien. Sie stellen eine besondere Bedrohung für die EU dar, weil ihre Aktivitäten oftmals als niedrige Verbrechen abgetan werden, weil die Kontrolle, die sie auf kriminelle Märkte ausüben, stetig zunimmt und sie mit anderen Gruppen der organisierten Kriminalität außerhalb der EU zusammenarbeiten. – Diese Einschätzung stammt aus einem Bericht der Europäischen Kommission vom 20. Dezember 2017 an das EU-Parlament und den Rat.
Nur leider kommt man eben auf europäischer Ebene nicht zu der richtigen Schlussfolgerung, georgische Staatsangehörige erst einmal visumspflichtig zu machen; nein, man versucht das lange und zähe Verfahren über die Regelung für sichere Herkunftsländer und spielt damit nur der georgischen Mafia in die Hände.
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So spricht auch die Kriminalitätsstatistik eine eindeutige Sprache. Dort heißt es:
Der Anteil der Fälle mit Tatverdächtigen aus den Maghreb-Staaten Algerien, Tunesien und Marokko sowie aus Georgien war weiterhin deutlich höher als der Anteil dieser Nationalitäten an der Gruppe der Zuwanderer ...
Bei den Maghreb-Ländern liegt der Anteil an Straftaten, die durch Zuwanderer begangen werden, bei 14 Prozent. Georgische Staatsangehörige begehen 5 Prozent der Straftaten und machen gerade einmal 0,8 Prozent der Zuwanderer aus, aber davor scheint die Bundesregierung die Augen verschließen zu wollen.
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Noch einmal: Es spricht nichts dagegen, Algerien, Marokko, Tunesien und Georgien als sichere Herkunftsländer einzustufen. Jedoch wird der von der Bundesregierung erhoffte Effekt, Deutschland als Zielland unattraktiv zu machen, mit dieser Maßnahme allein nicht funktionieren. Nur wenn gleichzeitig auch der Druck auf die Maghreb-Staaten dahin gehend erhöht wird – und zwar merklich –, dass diese ihre Staatsbürger zurücknehmen – bei Georgien funktioniert das – und Deutschland auch eine konsequente Abschiebungspolitik betreibt, wird eine Verbesserung spürbar sein. Gleichzeitig bringen alle mühevoll durchgeführten Abschiebungen nichts, wenn die Betroffenen problemlos wieder nach Deutschland einreisen können.
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Wir brauchen also auch noch einen effektiven Grenzschutz.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächster hat das Wort der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ist der heute in erster Lesung eingebrachte Gesetzentwurf der abschließende Schritt in Fragen der Steuerung und Ordnung in der Migrationspolitik? Nein. Ist das der entscheidende, abschließende Schritt, mit dem wir sicherstellen, dass Menschen, die keinen Anspruch und letztlich keine Chance auf Schutz haben, gewiss nicht hierherkommen? Nein. Das müssen wir feststellen, wenn wir ehrlich sind. Ist das jetzt ein Grund, aufzutrumpfen oder Genugtuung zu empfinden oder euphorisch zu sein, weil uns das gelingt? Nein. Ist es aber andererseits, wie suggeriert wird, die Abschaffung des individuellen Anspruchs auf Asyl? Nein, gewiss ist es das auch nicht.
Ich plädiere da für viel Ehrlichkeit; denn es ist – wir wissen es genau – ein hochemotionales, hochkontroverses Thema. Wir sehen es an den Kräfteverhältnissen im Bundesrat. Wir sehen es innerhalb der Fraktionen, auch innerhalb derjenigen, die diesen Gesetzentwurf wahrscheinlich mehrheitlich ablehnen werden. Ich selbst habe es im Zusammenhang mit meinem politischen Förderer erlebt, der in den 1990er-Jahren aktiv war, als wir das Asylrecht reformiert haben und im Zuge dessen das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten eingeführt wurde. Er rang damit und wurde Mitglied der SPD. Wir sprechen also über ein kontroverses Thema. Dass es kontrovers ist, ist nicht das Problem. Die Frage ist aber, wie wir darüber miteinander sprechen und was wir einander vorwerfen.
Im Kern geht es – so denke ich, und so sehen wir es – darum, dass wir ein Signal an diejenigen aussenden, die de facto keinen Anspruch und keine Chance haben, hier als Asylbewerber, als Flüchtlinge anerkannt zu werden, die sich aber immer noch in ebendieser Hoffnung hierherbewegen. Wir sind davon überzeugt, dass es nicht Sinn einer Asylpolitik sein kann, Menschen diese Hoffnung zu machen. Das ist eine Illusion, und es ist aus unserer Sicht nicht verantwortungsbewusst, diese Hoffnung zu nähren.
({0})
Vielmehr ist es sinnvoll, in einem Gesamtpaket ohne Scheuklappen und ohne Isolation dieses zu betrachten. Damit ist der Schritt heute, diese vier Länder zu sicheren Herkunftsländern zu machen, gleichzeitig sinnvollerweise damit verbunden, die Gesamtkonzeption von Migrationspolitik zu denken und auch die Frage des Einwanderungslandes und eines Einwanderungsgesetzes als höchst virulent und aktuell zu begreifen.
({1})
Ich denke, wir bewegen uns hier nicht als Technokraten der Migration – das ist in diesem Fall auch gut –, sondern wir sollten uns die betroffenen Menschengruppen anschauen. Das sind mindestens vier, wenn nicht fünf. Da sind zum einen – es wurde eben angesprochen – diejenigen, die tatsächlich Verfolgung erfahren, die schutzbedürftig sind. Unsere Aufgabe ist es, im Rahmen dieser Gesetzgebung sicherzustellen, dass diejenigen hier tatsächlich Schutz finden; denn Ziel dieser Gesetzgebung ist es nicht – das war auch nicht so in anderen Fällen der Deklaration als sichere Herkunftsstaaten –, die Anerkennungsquote zu senken. Das ist nachweislich nicht der Fall. Aber wir haben zu gewährleisten – das ist nachweislich Aufgabe des BAMF und des Bundesinnenministeriums –, dass die vereinbarte spezielle Rechtsberatung für besonders vulnerable Gruppen Realität wird. Das BAMF muss liefern, und wir erwarten, dass es liefert.
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Die zweite Gruppe, die unsere Beachtung verdient, sind diejenigen aus diesen Ländern, die – deshalb enthält dieser Gesetzentwurf eine Stichtagsregelung – hier schon erwerbstätig sind, die eine Ausbildung durchlaufen oder die einen solchen Vertrag bis zum Stichtag abgeschlossen haben. Es wäre ja irrsinnig, diesen nicht die Möglichkeit zu geben, als Integrierte in den Arbeitsmarkt, als in Ausbildung Integrierte dieses Land nicht wieder verlassen zu müssen. Das berücksichtigen wir in diesem Gesetzentwurf.
Eine dritte Gruppe ist zu beachten – sie ist heute nicht das Thema –; aber ich glaube, für einen gesamtheitlichen Blick sollten wir darauf achten. Es gibt schon seit Jahrzehnten viele Menschen aus diesen Ländern in Deutschland, besonders Marokkaner, aber nicht nur diese. Sie haben aber in der Vergangenheit nicht wirklich Angebote von Integrationspolitik von uns erfahren. Wir sollten in dem Gesamtzusammenhang auch sie nicht aus dem Blick verlieren.
Dazu kommt eine vierte Gruppe. Es kann nicht sein – wie ich versuche zu erläutern –, dass wir diejenigen, die in den genannten Ländern wirtschaftlich, akademisch, beruflich keine Perspektive haben, über das Asylrecht hierherholen. Das kann für uns keine Antwort und keine Lösung sein. Weil das so ist, ist aber unsere Verantwortung diejenige, ihnen in ihren Ländern Perspektiven zu eröffnen. Wir sollten schauen, mit welchen Instrumentarien es eben nicht dauerhaft Massenarbeitslosigkeit von gut ausgebildeten Tunesierinnen und Tunesiern gibt. Das eine funktioniert nicht ohne das andere.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Polat? – Ich sehe, dass Sie es zulassen.
Ja, selbstverständlich.
Sehr geehrter Herr Präsident! Jetzt bin ich etwas irritiert. Ich wusste nicht, dass die SPD sich von einem Einwanderungsgesetz verabschiedet hat, das schon im Verfahren ist und das durchaus legale Einreisewege für genau die Gruppe, die Sie gerade genannt haben, vorsieht: Die Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus Marokko, die den Wunsch haben, nach Deutschland zu kommen, sollen durch das Gesetz jenseits des Asylgesetzes die Möglichkeit dazu bekommen. Oder habe ich das jetzt falsch verstanden?
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Frau Polat, Sie haben es falsch verstanden und selbst gerade die Antwort gegeben. Deshalb wies ich ja darauf hin, dass gerade für diejenigen, die nicht über das Nadelöhr der Asylpolitik hierherkommen, es Sinn macht, dass wir Einwanderungspolitik machen.
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– Frau Polat, es ist eine etwas simple Wahrnehmung, das eine gegen das andere auszuspielen. – Ich glaube, der Sinn eines Einwanderungsgesetzes kann doch nicht sein, dass alle Tunesierinnen und Tunesier, die das Land Tunesien schätzen und es aufbauen, nach Deutschland kommen und diesem Land fehlen. Es ist ein Sowohl-als-auch.
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Es ist doch nicht ein Entweder-oder. Diejenigen, die hier arbeiten wollen, werden in einer bestimmten Größenordnung die Möglichkeit dazu haben. Sie werden dauerhaft oder zeitweilig hier bleiben, und sie werden die Menschen in ihrem Land unterstützen. Gleichwohl muss es doch auch unser Interesse sein, dass ganz viele Akademikerinnen und Akademiker die Demokratie und die Wirtschaft in Tunesien aufbauen, dass sie nicht hierherkommen, sondern in ihrem Land Perspektiven haben. Alles andere ist aus meiner Sicht verantwortungslos.
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Ich wollte noch eine fünfte Gruppe nennen. Die fünfte Gruppe sind diejenigen, die hier eben keine Perspektive haben und nicht unter die Schutzberechtigten fallen. Unsere Verantwortung ist es auch, bei diesem Verfahren mit der Vermutungsregelung und mit dem Kriterium „offensichtlich unbegründet“ dafür zu sorgen, dass die Betroffenen nicht als Wirtschaftsflüchtlinge diffamiert werden. Ihr Begehren passt nicht in das Asylsystem, aber es ist nachvollziehbar. Wahrscheinlich würden wir uns in ähnlichen Situationen nicht anders verhalten. Genauso ist es mit Georgiern, die teilweise über Schlepperbanden, teilweise über organisierte Kriminalität, teilweise über Menschenhandel hierhergelangen. Es gibt keinen Grund, sie als die Schuldigen darzustellen, aber es ist deutlich zu machen, dass wir die Wege schließen, aufgrund derer sie in Kriminalität geraten.
Erlauben Sie mir abschließend, die letzten Minuten nutzend, noch etwas Grundsätzliches zu sagen. Diese Veränderung, die teilweise, wie wir eben erlebt haben, hochemotional diskutiert wird, ist ein Anlass, auch einmal Bilanz in Fragen der gesamten Migrations- und Asylpolitik zu ziehen, die wir erleben. Nach jeder Debatte, in der ich hier diskutieren darf, bekomme ich im Regelfall zig Posts, Briefe und Ähnliches, die mich als „zu ausländerfreundlich“ diffamieren, die mir – Highlight der letzten Wochen – ankündigen, man solle mich „an der nächsten Laterne aufhängen“ oder mir „den Kopf abschlagen“. Ich bekomme in geringerer Zahl und auch nicht mit Morddrohungen, was ich schätze, von anderer Seite den Vorwurf, Regelungen wie diese seien Verrat, seien Mord, seien ein Verlassen des humanitären Bodens der Bundesrepublik. Ich glaube, diese Zuspitzung der Debatte tut uns allen und tut diesem Land nicht gut, und wir müssen sie dringend verlassen.
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Es kann nicht weiter sein, dass wir Auseinandersetzungen über soziale Fragen, über zentrale Identitätsfragen dieses Landes allein auf dem Boden der Migrations- und Asylpolitik austragen. Es wird dieses Land auseinanderjagen. Es kann nicht funktionieren. Deshalb leite ich daraus klare Aufträge ab. Diese Vorlage, dieser Gesetzentwurf ist ein Baustein. Später heute werden wir noch einen anderen beraten. Wir können ihn aber nicht ohne Integrationspolitik denken. Das ist auch mein Appell an das Bundesinnenministerium, an Herrn Seehofer, an Herrn Mayer: Sie haben verkündet, Sie wollen Integration betreiben; machen Sie es! Liefern Sie auch in diesem Bereich! Denken Sie beides zusammen! Denken Sie, dass diejenigen, die hier sind, auch Angebote von uns brauchen und wir nicht in den Kategorien „Grenzen zu“, „Augen zu“, „abschieben, fertig“ denken können. Nein, das kann nicht funktionieren. Das ist zudem auch ziemlich unpolitisch.
Ebenso ziemlich unpolitisch ist es aber auch, zu denken, dieses Thema würde keinen bewegen und wäre nicht mit Unsicherheiten verbunden; wir könnten weitermachen wie bisher. Nein, wir müssen zur Kenntnis nehmen, so mein Eindruck, dass ein großer Teil der Bevölkerung dieses Landes Asylrecht will, gleichzeitig aber Unsicherheit, Verängstigung, Unklarheit empfindet, weil Unzufriedenheit herrscht – da müssen wir uns auch an die eigene Nase fassen – mit dem Migrationsmanagement der letzten Jahre. Das war nicht optimal. Das ist uns nicht gelungen. Es ist der Auftrag, zu begreifen, dies besser zu machen.
Letzten Endes ganz unpolitisch ist es aber, nicht nur „Grenzen zu“ zu wollen, sondern – das erleben wir jedes Mal, das haben wir heute auch wieder gehört – die Politik der Integration und des Asyls zu nutzen, Stimmung auf Kosten von Flüchtlingen zu machen, ob sie nun als Wirtschaftsflüchtlinge oder eben Kriminelle verunglimpft werden.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Das ist das Ende der Politik. Deshalb appelliere ich an uns alle: Bringen wir Nüchternheit und Sachlichkeit in dieses Thema! Wagen wir einfach mehr Politik bei der Migration!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Als Nächstes spricht zu uns die Kollegin Linda Teuteberg, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe zu, ich bin nur bedingt überrascht, heute schon wieder an dieser Stelle zu stehen und zum Thema „sichere Herkunftsstaaten“ zu sprechen. Es ist nicht einmal einen Monat her, dass wir hier über genau dieses Thema und einen fast wortgleichen Gesetzentwurf meiner Fraktion beraten haben. „Fast wortgleich“, das ist wichtig. Denn es wurde ja erwähnt: Wir haben tatsächlich die Notwendigkeit besonderer Rechtsberatung für Gruppen, die auch in sicheren Herkunftsstaaten vermehrt von Asylgründen betroffen sind, explizit vorgesehen; denn das ist uns ein wichtiges Anliegen.
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Unser Gesetzentwurf wurde gleichwohl am Ende auch mit den Stimmen der Regierungskoalition hier abgelehnt, aber nicht etwa aus sachlichen Gründen. Ich darf Sie zitieren, Herr Seif. Sie haben hier am 18. Oktober gesagt: „Grundsätzlich sind wir als Union mit dem Antrag der FDP sehr zufrieden.“ Ihre Ablehnung haben Sie damals stattdessen damit begründet, Sie wollten noch mehr Zeit haben, um weitere Staaten in die Liste aufzunehmen und auch um für Ihr Vorhaben im Bundesrat eine Mehrheit zu suchen. Dass es einer gewissen Logik entbehrt, dass Mehrheiten leichter gefunden werden können, wenn man die Liste der Staaten erweitert – geschenkt. Doch heute zeigt sich für jeden sichtbar, dass diese Gründe nur vorgeschoben waren. Was Sie tun wollten und was Sie getan haben, war ein rein taktisches Manöver, um vor der Landtagswahl in Hessen Ihren grünen Wunschpartner zu schonen.
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Das immerhin ist Ihnen gelungen. Aber um welchen Preis? Dass wir Georgien und die Staaten des Maghreb zu sicheren Herkunftsstaaten erklären, ist überfällig. Über die Gründe dafür haben wir hier bereits mehrfach gesprochen. Gesprochen haben wir auch darüber, weshalb an den Ammenmärchen von Grünen und Linken, dass dadurch das individuelle Asylgrundrecht unseres Grundgesetzes infrage gestellt würde, nichts dran ist.
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Auch in Zukunft wird jeder Einzelfall geprüft und das individuelle Asylrecht geschützt. Das ist für uns selbstverständlich. Es wurde ja schon erwähnt, dass die Erfahrungen mit der Einstufung der Westbalkanstaaten genau belegen, dass das Ziel erreicht wird, die Verfahren auf die wirklich schutzbedürftigen Personen zu konzentrieren und zu beschleunigen. Ich wünschte, ebenso selbstverständlich wäre für Grüne und Linke an dieser Stelle auch der Umgang mit der Wahrheit; denn was Sie zu diesem Thema – da knüpfe ich gern auch an die Ausführungen des Kollegen Lindh an – verbreiten, das hat wenig damit zu tun. Falschinformationen zu verbreiten, ist offenbar kein Privileg der Kollegen auf der rechten Seite dieses Hauses.
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Die Einstufung sicherer Herkunftsstaaten ist erprobt und bewährt. Sie ist grundgesetzlich und europarechtlich abgesichert. Sie ist damit ein wichtiges Instrument im Werkzeugkasten der deutschen Migrationspolitik. Es ist unsere Pflicht und unsere Verantwortung, die bestehenden Möglichkeiten zur Ordnung und Steuerung von Migration auch zu nutzen. Das ist unsere Aufgabe, und die nehmen wir hier und heute wahr.
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Wir werden daher hier im Haus, in den Ländern und auch im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern in den nächsten Wochen und Monaten intensiv dafür werben, dass diese Regelung endlich Gesetz wird; denn mit Argumenten allein ist der ideologischen Blockade der Grünen im Bundesrat offenbar nicht beizukommen – das haben wir in den vergangenen Jahren hinreichend deutlich gesehen –, sondern dafür brauchen wir eine öffentliche Debatte mit der vernehmbaren Stimme auch der Bürgerinnen und Bürger. Darum ist es gut, dass jetzt der Gesetzentwurf der Koalition hier im Bundestag eingebracht ist. Ich baue darauf, dass wir hier gemeinsam über die Grenzen von Opposition und Regierung hinweg für dieses Gesetz eintreten; denn in diesem Parlament und unter den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes gibt es eine breite Mehrheit dafür. Dieser Mehrheit sollten wir zum Durchbruch verhelfen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Teuteberg. – Als Nächstes hat das Wort die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Lindh, ich muss wirklich sagen: Wie man so an dem Thema vorbeireden kann, wie Sie es eben in Ihren neun Minuten gemacht haben, ist mir völlig unverständlich
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vor dem Hintergrund, dass es in den Maghreb-Staaten erhebliche Menschenrechtsverletzungen gibt; auf die sind Sie mit keinem Wort eingegangen. Ich denke wirklich: Es muss doch jedem hier die Schamesröte ins Gesicht treiben, wenn man über diese ganzen Menschenrechtsverletzungen einfach so hinweggeht. Ich finde, das ist ein Skandal.
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Im Gesetzentwurf steht, in den Maghreb-Staaten würden keine bestimmten sozialen Gruppen verfolgt. Wir haben es heute schon gehört: Das stimmt einfach nicht. Homosexuelle müssen in allen drei Ländern mit Gefängnisstrafen bis zu drei Jahren rechnen. Die Bundesregierung relativiert es sogar. Auch Herr Mayer hat es heute einfach weggeschwiegen; er hat davon abgesehen, zu diesem Punkt Stellung zu nehmen. Sie sagen in dem Gesetzentwurf: „wenn sie öffentlich sichtbar gelebt wird“, dann wird sie verfolgt. Ich finde es einfach unglaublich zynisch, wenn so argumentiert wird. Die Verfolgung von Homosexualität ist keine Bagatelle, sondern tatsächlich eine Menschenrechtsverletzung.
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Mit Verfolgung müssen übrigens auch Konvertiten, Christen, Atheisten rechnen. Erst im April dieses Jahres wurde der Christ Slimane Bouhafs aus einem algerischen Gefängnis entlassen, nachdem er 20 Monate dort verbringen musste, weil er angeblich den Islam und seine Propheten beleidigt hat.
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Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten von Storch?
Nein. – Sieben Kirchen wurden unter formalen Vorwänden geschlossen. Sind das keine Menschenrechtsverletzungen?
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Amnesty International informiert ausführlich über das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen im Maghreb. Da ist die Rede von Hunderten von friedlichen Demonstranten, die 2017 in Marokko verurteilt wurden, von Massenfestnahmen in der Rif-Region – die Westsahara wurde ja völkerrechtswidrig besetzt –,
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von wiederkehrender unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstranten. Amnesty International dokumentiert 173 Fälle von Folter mit einem – so muss man klar sagen – eindeutigen Foltermuster. In Algerien erhalten Vertreter von Menschenrechtsorganisationen seit 2005 keine Einreiseerlaubnis. Das sagt doch alles, meine Damen und Herren.
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Die Pressefreiheit steht meist nur auf dem Papier. Kritische Journalisten, Blogger werden kriminalisiert, wenn sie zu laute Kritik an den Behörden üben oder gegen die sogenannte öffentliche Moral verstoßen. Von einer unabhängigen Justiz kann überhaupt nicht die Rede sein. Die Justiz ist der Regierung hörig.
Am massivsten werden übrigens Frauen unterdrückt. In Algerien gehen Männer, die minderjährige Mädchen vergewaltigen, straffrei aus, wenn sie ihr Opfer heiraten. Wer behauptet, im Maghreb gebe es praktisch keine asylrelevante Verfolgung, betreibt eine politisch kalkulierte Weißwäscherei brutaler Menschenrechtsverletzungen.
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Herr Mayer, die Einstufung als sicheres Herkunftsland bedeutet, dass alle Asylanträge von dort erst einmal prinzipiell als unbegründet gelten. Im Gesetzentwurf wird auch behauptet, viele Asylanträge aus dem Maghreb hätten „von vornherein sehr geringe Erfolgsaussichten“. Nach dem, wie ich die Menschenrechtslage geschildert habe, kann man einfach nur sagen: Es ist völlig unverständlich, warum das hier nicht ernsthaft diskutiert wird.
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Außerdem stellt die Bundesregierung damit alle Schutzsuchenden aus dem Maghreb unter den Generalverdacht des Missbrauchs; denn wenn man schon vor Beginn eines Verfahrens das Ergebnis vorwegnimmt, verweigert man dem Antragsteller eine unvoreingenommene Prüfung.
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Damit wird dann begründet, warum Sie diese Verfahren beschleunigen. Innerhalb einer Woche werden die dann abgefertigt. Die Antworten auf Kleine Anfragen zeigen übrigens: In diesen Schnellverfahren ist die Anerkennungsquote halb so hoch wie in normalen Verfahren – bei gleichen Herkunftsländern.
Die Regelung der – scheinbar – sicheren Herkunftsländer ist also eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Sie beschneidet nachweislich den Schutzanspruch von Flüchtlingen. Sie erhöht das Risiko, dass Verfolgte abgelehnt und abgeschoben werden. Das ist eine Verhöhnung des Asylrechts und meines Erachtens eine eklatante Missachtung der Lehren aus der deutschen Geschichte.
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Ich will hier noch einmal die Folgen für die Betroffenen aufzeigen. Ihnen bleibt bei einem ablehnenden Bescheid nur eine Woche Klagefrist. Eine aufschiebende Wirkung hat diese Klage nicht, sie muss im Eilverfahren beantragt werden, und das von Menschen, die aufgrund einer strengen Residenzpflicht im Wohnheim praktisch interniert sind und nur eingeschränkten Zugang zu Rechtsanwälten haben.
Für diese Schutzberechtigten – so heißt es im Gesetzentwurf – soll jetzt eine Rechtsberatung aufgebaut werden. Es wäre doch das Mindeste, meine Damen und Herren, diese ebenfalls gesetzlich zu verankern, und zwar für alle Asylsuchenden, und nicht nur unverbindlich anzukündigen.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Ich komme zum letzten Satz. – Jeder einzelne Asylantrag muss unvoreingenommen, fair geprüft werden. Deswegen werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin Jelpke. – Als Nächstes die Kollegin Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Entscheidend – das ist unser Problem mit dem Mittel der sicheren Herkunftsstaaten – ist, dass ein Asylantrag unvoreingenommen geprüft wird – unvoreingenommen! –; denn nur so ist der wirklich individuelle Zugang zum Asylverfahren zu gewährleisten. Ich möchte das noch einmal herausheben, weil immer gesagt wird – Kollege Mayer hat es auch wieder gesagt –: Es findet doch trotzdem eine Prüfung statt, und was regen Sie sich eigentlich so auf?
Mir ist natürlich klar, dass eine Anhörung und auch eine Prüfung stattfinden. Aber wer behauptet, dass diese Anhörung denselben Spielregeln folgt wie eine Anhörung zu nicht eingestuften Ländern, dem unterstelle ich, dass er sich mit dem Ablauf von so einem Asylverfahren noch nicht richtig auseinandergesetzt hat.
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Wenn man nämlich in der Anhörung grundsätzlich davon ausgeht – das tun Sie in Ihrem Gesetzentwurf –, dass Menschen aus diesen vier benannten Ländern grundsätzlich nicht schutzbedürftig sind, widerspricht das dem Gedanken der unvoreingenommenen und damit individuellen Prüfung ganz eklatant.
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Uns geht es darum, dass ein Mensch bei seiner Asylanhörung nicht in die Lage gedrängt wird, das BAMF erst einmal davon überzeugen zu müssen, dass es in mehr oder weniger Einzelfällen in seinem Heimatland auch Verfolgung gibt. Der schutzsuchende Mensch soll sich in seiner Anhörung darauf konzentrieren dürfen, wie alle anderen auch, sein ganz individuelles Schicksal darzulegen, zu erzählen, was ihm widerfahren ist; nicht mehr und nicht weniger ist seine Rolle in diesem Asylverfahren, meine Damen und Herren.
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Deshalb – für alle, die die Spannung nicht bis zum Schluss aushalten können –: Wir lehnen diesen Gesetzentwurf natürlich ab. Der Grund, den ich gerade dargelegt habe, ist nicht der einzige, meine Damen und Herren. Wir haben das Thema gefühlt zum hundertsten Mal seit 2015 hier auf der Tagesordnung, und ich fürchte, dass es auch nicht das letzte Mal sein wird; denn Sie haben Gefallen daran gefunden, die Welt in „sicher“ und „unsicher“ einzuteilen, nicht deshalb, weil sie sich so einteilen lässt, sondern deshalb, weil es Ihre einzige Antwort in der Flüchtlingspolitik zu sein scheint.
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Das ist eigentlich das zweite Argument für mich, das ausschlaggebend ist; denn Sie machen diese Frage in zweierlei Hinsicht zu einer populistischen Ansage, zum einen deshalb, weil Sie den Menschen in Deutschland vormachen, dass Sie mit der Einstufung dieser Länder Probleme lösen, dass weniger Flüchtlinge nach Deutschland kommen und anderes. Ich möchte einmal darauf verweisen: Wir reden hier von knapp 6 200 Menschen in diesem Jahr, also einem verschwindend kleinen Anteil innerhalb der Gruppe der Schutzsuchenden in Deutschland. Ich wünschte mir wirklich – das ist die Hauptkritik –, Sie würden so viel Kraft, wie Sie auf die Einstufung als sichere Herkunftsländer verwenden, darauf verwenden, die Integration von Menschen in den Arbeitsmarkt voranzutreiben,
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dafür zu sorgen, dass endlich der Zugang zu Sprachkursen gewährleistet ist, eine anständige Beratung tatsächlich unabhängig und flächendeckend gewährleistet wird; denn das sind die wirklichen Herausforderungen.
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Dazu höre ich von Ihnen wenig bis nichts, und das finde ich arg bedauerlich.
Die zweite Ansage, die Sie machen, ganz bewusst auch forcieren, gilt meiner Fraktion. Immer dann, wenn wir sagen: „Wir lehnen dieses Mittel ab; wir lassen es irgendwo scheitern; wir finden das nicht richtig“, und das auch begründen, gibt es bei der Union diejenigen, die, wie ich finde, mangels Argumenten sagen: „Die Grünen, die sind halt grundsätzlich gegen Abschiebungen, wollen jeden reinlassen, wollen keine Grenzkontrollen, alles ungesteuert, offene Grenzen“, und was weiß ich nicht noch alles. Darauf möchte ich jetzt einmal reagieren; denn diese Vorwürfe sind so billig wie haltlos.
Wir Grünen haben als Einzige in diesem Parlament die Chance wahrgenommen, das Chaos im Bundesamt mit neuen, zugegebenermaßen sehr naheliegenden Vorschlägen zu lösen, parlamentarisch aktiv zu werden.
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Wir haben auch immer gesagt, dass jemand, der politisch nicht verfolgt wird, sich nicht auf das Asylrecht berufen kann. Wenn jemand kein asylunabhängiges Bleiberecht hat, dann ist die Rückkehr in das Heimatland die logische Konsequenz. Aber, meine Damen und Herren, wir sind eine Rechtsstaatspartei, und das heißt für uns, dass wir nicht Umstände konstruieren – genau das passiert mit dieser Einstufung –,
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die zu einer Rückkehr führen. Das ist genau der Punkt: dass wir nicht afghanische Jugendliche aus ihren Berufsschulklassen reißen, um sie in ein Krisenland abzuschieben, dass wir nicht behaupten, in manchen Ländern sei es sicher, nur um dahin abzuschieben, dass wir nicht Menschen aus Krankenhäusern abholen, um sie abzuschieben, oder – wie wir es jetzt von Einzelnen aus der Union hören – Menschen nach Syrien abschieben, weil es innenpolitisch gerade irgendwie passt. Das ist nämlich das Gegenteil von Rechtsstaatlichkeit und Humanität.
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Ich könnte jetzt noch etwas zu Grenzschutz und Steuerung – Familiennachzug ist ein klassisches Steuerungsinstrument – und dem Resettlement-Programm der Vereinten Nationen sagen. All das sehen Sie und wollen Sie nicht.
Bezeichnend ist: Seit 13 Jahren trägt die Union die Verantwortung im Innenministerium. 13 Jahre hatten Sie die Chance, menschenrechtsbasierte Abkommen mit diesen Ländern zu schließen, an der Menschenrechtsbilanz vor Ort wirklich etwas zu verändern; die Chance haben Sie nicht wahrgenommen. Ich frage mich wirklich: Warum schielen Sie eigentlich immer zu den Grünen und suchen unsere Unterstützung für solche Vorhaben? Das kann ich nicht verstehen. Unsere Unterstützung werden Sie auch nicht bekommen.
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Das dritte Argument für unsere Ablehnung bezieht sich auf ein Thema, mit dem Innenpolitiker häufig nicht viel anfangen können: die Außenpolitik. Sie selbst zählen in der Begründung dieses Gesetzentwurfs zahlreiche Menschenrechtsverletzungen in den Ländern, die Sie als sicher einstufen wollen, auf: Berichte über Folter und Misshandlungen in Polizeigewahrsam und Haftanstalten, Straflosigkeit von Beamten in solchen Misshandlungsfällen, die gesetzlich angelegte Verfolgung von Homosexualität, wir haben sie heute schon mehrfach behandelt. Wenn Sie, Herr Kollege Mayer, sich hierhinstellen und sagen: „Das ist nicht systematisch“, dann frage ich mich: Was ist denn systematisch, wenn nicht das im Gesetz niedergeschriebene Verfolgen und Inhaftieren von Homosexuellen? Welche Kategorie erfüllt das?
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Ich verstehe es nicht, und solange Sie keine Antwort auf diese Frage haben, werden wir in dieser Sache auch nicht weiter ins Gespräch kommen können. Im Übrigen sind das allesamt Punkte, die nicht wir als Grüne uns ausgedacht haben, sondern es sind Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts: Es muss Verfolgungsfreiheit im ganzen Land herrschen; die gibt es in allen drei genannten Ländern, über die wir hier diskutiert haben, nicht. Nehmen Sie das bitte endlich zur Kenntnis, und hören Sie auf, uns dafür zu kritisieren, dass wir mit guten Argumenten diesem Vorhaben ein Ende setzen.
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Frau Kollegin Amtsberg, bleiben Sie kurz bei mir. Ich werde ignoriert, ich sehe das schon. – Frau Kollegin Amtsberg, vielleicht darf ich auf Ihre Eingangsbemerkung eingehen und darauf hinweisen: Selbstverständlich haben Sie das Recht, zu fragen, auch wenn Sie noch reden; aber ich bin nicht verpflichtet, diese Zwischenfrage zuzulassen.
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Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Michael Brand.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über was sprechen wir heute hier? Wir sprechen nicht darüber, dass Menschen, die in ihren Heimatländern verfolgt und an Leib und Leben bedroht sind, künftig etwa kein Recht mehr auf Asyl hätten. Wir sprechen auch nicht darüber, dass wir Länder wie Algerien, Marokko, Tunesien und Georgien sich selbst überlassen; das wäre kurzsichtig und auch nicht im Interesse Deutschlands und Europas an mehr Stabilität. Über all das sprechen wir nicht. Wir führen keine Schwarz-weiß-Debatte. Was wir als Koalition wollen, ist, in offensichtlich unbegründeten Fällen, Verfahren zu beschleunigen, indem Anträge zügiger bearbeitet und schneller entschieden werden können, sodass im Falle einer Ablehnung auch die Rückkehr schneller erfolgen kann.
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Zuwanderung besser steuern und begrenzen, beim Erreichen dieses Ziels – das beweisen auch die Zahlen – sind wir deutlich vorangekommen. An offensichtlich unbegründeten Asylverfahren kann doch niemand mit Vernunft Interesse haben. Sie belasten Bund, Länder und Kommunen in vielfacher Hinsicht und gehen im Ergebnis zulasten der tatsächlich schutzbedürftigen Asylsuchenden, da für sie weniger Kapazitäten zur Verfügung stehen. Das Recht auf politisches Asyl gilt aus guten Gründen ausschließlich in Fällen politischer Verfolgung.
Es liegt nicht zuletzt im Interesse der Länder selbst, dass sie als sichere Herkunftsländer anerkannt werden. So war es doch auch bei den Ländern des westlichen Balkans: Die Anzahl aussichtsloser Asylanträge ist hier nachweislich erheblich gesunken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erinnern uns an die Bilder, als die damalige kosovarische Präsidentin am Busbahnhof der Hauptstadt Pristina ihre Bürger eindringlich aufgefordert hat, im Land zu bleiben, weil sie dort gebraucht werden und ihre offensichtlich unbegründeten Anträge keine Aussicht auf Erfolg haben. Deswegen: Die Einstufung bestimmter Länder als sichere Herkunftsstaaten ist verantwortbar und sogar geboten.
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Ungebremste Zuwanderung will niemand, Humanität und Hilfsbereitschaft für verfolgte Menschen hingegen schon. Es geht um das Schicksal von Menschen und um eine bessere Ordnung für Europa. Ich lasse jetzt mal bewusst die Extrempositionen außen vor; denn die kennt man ja schon: Auf der linken Seite spricht die Linke entgegen den Fakten schrill und ideologisch von „Zynismus“ und „blankem Hohn“ – Frau Jelpke hat in der letzten Debatte gesagt, das Recht auf Asyl würde angeblich abgeschafft werden –, und von der rechten Seite kommt genauso schrill und ideologisch die kaltherzige Parole „Das Boot ist voll.“
Ich glaube, dass wir – deswegen haben wir das im Koalitionsvertrag so festgeschrieben – eine angemessene Regelung brauchen. Ich zitiere:
Zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung werden Algerien, Marokko und Tunesien sowie weitere Staaten mit einer regelmäßigen Anerkennungsquote unter fünf Prozent zu sicheren Herkunftsstaaten bestimmt. Der Individualanspruch auf Einzelfallprüfung bleibt unberührt. Gleichzeitig wird durch eine spezielle Rechtsberatung für besonders vulnerable Fluchtgruppen deren besondere Schutzwürdigkeit berücksichtigt.
Das sind die Fakten. Ich finde, das ist eine sehr ausgewogene Regelung, die CDU/CSU und SPD hier gefunden haben. Die FDP hat sich ja auch in diese Richtung geäußert, bei der letzten Debatte noch etwas beeinflusst durch die Hessenwahl, aber geschenkt, die Wahlen sind rum. Auch aus den Reihen der Grünen gab es unterschiedliche Positionen; auch das, Frau Amtsberg, gehört erwähnt. Ministerpräsident Kretschmann spricht anders als Herr Habeck. Und jeder weiß, dass das Vorhaben beim ersten Versuch im Jahr 2016 im Bundesrat gescheitert ist.
Ich möchte die Debatte nicht dazu nutzen, in Schwarz-weiß-Denken zu verfallen, sondern ich möchte die Gelegenheit nutzen, an die Grünen zu appellieren, den Weg im Bundesrat freizumachen; denn Ihre Forderung, die Länder, die ich genannt habe, beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und Stärkung von Zivilgesellschaft zu unterstützen, ist richtig. Deshalb tun wir das ja auch. Die Axt an das Asylrecht zu legen, wäre natürlich falsch, auch da haben Sie recht. Deswegen bleibt der Individualanspruch auf Einzelfallprüfung, auch bei den Verfahren bei sicheren Herkunftsländern, und natürlich dürfen Menschenrechtsverletzungen nicht unter den Teppich gekehrt werden.
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Wenn die Bundesregierung anhand von Rechtslage, Rechtsanwendung und dem Heranziehen der Schutzquoten im Asylverfahren – ich nenne sie noch einmal: 2017 liegen sie bei Georgien bei 0,6 Prozent, bei Algerien bei 2 Prozent, bei Marokko bei 4,1 Prozent, bei Tunesien bei 2,7 Prozent – und der sorgfältigen Prüfung der politischen Verhältnisse zu dem nachvollziehbaren Ergebnis kommt, dass es in diesen Staaten – das muss man differenziert betrachten; es sagt ja keiner, es gebe keine Menschenrechtsverletzungen – generelle, systematische und durchgängige Verfolgung nicht gibt, muss daraus auch eine politische Handlung entstehen und angemessen gehandelt werden.
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Im Übrigen finden Sie auch in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung eine Stellungnahme zu dem, was Sie zum Bundesverfassungsgericht gesagt haben. Ich zitiere abschließend:
Entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts wurde geprüft, ob die Verfolgungsfreiheit landesweit besteht und ob nicht nur bestimmte Gruppen verfolgungsfrei sind, andere Gruppen dagegen verfolgt werden.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das war das Zitat, sehr geehrter Herr Präsident. – Ich denke, dass auch mit dem Koalitionsvertrag der schwarz-grünen Regierung in Baden-Württemberg darauf richtet reagiert worden ist. Deswegen richte ich den Appell an die Grünen im Bund – die eben nicht schwarz-weiß denken sollten, wie links und rechts –, sich zu besinnen, auch jetzt bei den Verhandlungen zwischen Schwarz und Grün in Hessen und auch in Sachsen-Anhalt bei der sogenannten Kenia-Regierung. Ich zitiere die Fraktionsvorsitzende der Grünen nach der letzten Regierungserklärung der Bundeskanzlerin: „Tun Sie endlich, was zu tun ist.“ Ich glaube, dass wir eine sehr ausgewogene Lösung haben. Deswegen: Nicht schwarz-weiß denken, sondern den Weg frei machen. Ich glaube, das ist eine sehr vernünftige Lösung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. Ich weise darauf hin, dass einem nachfolgenden Redner der CDU/CSU-Fraktion die Redezeit um eine Minute gekürzt wird. – Ich rufe als nächste Rednerin die Kollegin Gabriela Heinrich von der SPD-Fraktion auf.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jedes Jahr kommen Menschen aus Tunesien, Algerien, Marokko und Georgien zu uns. Darunter sind viele junge Männer. Sie bringen Hoffnungen mit – auf berufliche Chancen, auf eine Zukunft, die sie in ihrer Heimat eben nicht sehen. Gerade in Nordafrika strömen viele junge Menschen auf den Arbeitsmarkt, häufig gut ausgebildet, aber genügend Arbeitsplätze gibt es für sie in ihren Ländern nicht.
Deshalb versuchen viele, nach Europa zu kommen. Über die Asylanträge von 15 000 Menschen aus diesen Staaten wurde im letzten Jahr in Deutschland entschieden. Für die allermeisten hat die Entscheidung nur eines gebracht: Enttäuschung. Weil das Asylrecht für die meisten nicht der richtige Weg ist. Deshalb ist es gut, das Recht auf Asyl und die Regeln für Erwerbsmigration klar zu trennen. Dabei wird uns in Zukunft das Fachkräftezuwanderungsgesetz helfen. Aus Sicht der SPD ist das ein großer Fortschritt.
2017 lag die Schutzquote für Tunesien, Algerien, Marokko und Georgien – wie schon häufig hier erwähnt – nur zwischen 0,6 und 4,1 Prozent. Anders als behauptet, kommen auch die Gerichte in der Regel zu keiner anderen Entscheidung. Nur in 28 Fällen, das sind 2 Prozent, wurde seitens der Gerichte im ersten Quartal 2018 ein Schutz ausgesprochen.
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Mit dem Gesetz zur Einstufung weiterer sicherer Herkunftsstaaten wollen wir tatsächlich pragmatisch vorgehen. Wir senden damit das Signal aus, dass das Asylrecht nicht der richtige Weg ist, wenn es um Erwerbsmigration geht. Das bedeutet auch: Wir wollen den Menschen aus diesen Staaten keine falschen Hoffnungen machen. Dabei ist für uns als SPD-Bundestagsfraktion besonders wichtig: Eine Einstufung als sicheres Herkunftsland – darüber haben wir heute schon viel debattiert – bedeutet eben nicht, dass niemand mehr aus diesen Ländern Schutz erhalten könnte.
Besonders wichtig ist mir deshalb, dass wir in Zukunft für besonders vulnerable – also besonders verletzliche – Fluchtgruppen eine spezielle Rechtsberatung anbieten werden.
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Das Konzept soll und muss so schnell wie möglich vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ausgearbeitet werden.
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Es wird unter anderem denjenigen helfen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung in Nordafrika verfolgt werden.
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Das ist letztlich der gleiche Weg, den wir grundsätzlich mit einer unabhängigen Verfahrensberatung gehen wollen: Wenn die Antragsteller und Antragstellerinnen von Beginn an beraten werden, wissen sie, was auf sie zukommt. Sie wissen dann, dass sie bei der Anhörung im Asylverfahren alle Fakten auf den Tisch legen müssen. So können wir besser sicherstellen, dass auch in Zukunft Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern Schutz in Deutschland erhalten, wenn sie ihn brauchen, und damit den individuellen Anspruch jedes Einzelnen sichern.
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Meine Damen und Herren, gerade die Probleme in Nordafrika lösen wir nicht durch das Asylrecht. Wir setzen als Große Koalition auf eine starke Entwicklungszusammenarbeit und auf eine Transformationspartnerschaft. Wir fördern Wirtschaftsentwicklung, Ausbildung, Qualifizierung und auch Arbeitsvermittlung, um vor Ort Chancen zu schaffen.
Der vorliegende Gesetzentwurf kann dabei helfen, für alle Beteiligten schneller Klarheit zu schaffen und das Recht auf Asyl und die Erwerbsmigration klarer voneinander zu trennen. Deswegen mein Appell: Lassen Sie in den kommenden Beratungen – und vor allem später auch im Bundesrat – dieses Vorhaben nicht aus Prinzip scheitern.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes hat das Wort der Kollege Stephan Thomae, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Für die Freien Demokraten muss eine richtige Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungspolitik einerseits weltoffen sein, aber andererseits auch klare Regeln setzen. Das erscheint uns bei diesem Gesetzentwurf der Regierung der Fall zu sein. Das erstaunt nicht weiter, weil die Freien Demokraten – Sie haben das schon mehrfach gehört haben – schon im Februar dieses Jahres einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, der nach gleichen Prinzipien vorgeht,
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den aber die Koalition damals noch ablehnte, unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass im Bundesrat noch unklar sei, ob die Mehrheiten dort sicher seien.
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Jetzt, drei Wochen später, sind Sie auch nicht sicherer oder unsicherer geworden. Deshalb liegt es natürlich nahe, anzunehmen, dass das Motiv damals bestand, vor den Landtagswahlen in Hessen den dortigen grünen Koalitionspartner zu schonen.
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Somit wende ich mich an die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Bei aller Wertschätzung denke ich, dass es zunächst einmal gut ist, dass jetzt klargestellt ist: Die Einstufung als ein sicheres Herkunftsland heißt nicht, dass ein Individualanspruch auf Einzelfallprüfung ganz entfällt. Es ist schon einmal gut, dass wir uns darauf verständigen können. Es heißt nur, es gibt eine widerlegliche Vermutung, dass jemand, der aus einem solchen Land stammt, keiner Verfolgung unterliegt, die einen Asylanspruch auslöst.
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Niemand behauptet, dass die Quote null sei, dass es in diesen Ländern keine Verfolgung gebe, die zum Asyl berechtigt. Aber von Herrn Staatssekretär Mayer haben wir auch schon gehört, dass die Anerkennungsquoten dermaßen gering seien – zwischen 0,6 und 1,4 Prozent im Jahr 2017 –, dass jedenfalls die gesetzliche Vermutung bestehe, dass jemand in einem solchen Land keiner Verfolgung unterliegt, die einen Asylanspruch auslöst.
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Natürlich, Frau Kollegin Amtsberg, verstehe ich schon – vielleicht nehme ich jetzt die Antwort auf Ihre Frage vorweg –, dass Sie sagen: Dann ist doch die Anhörung – Sie nannten es – voreingenommen. – Sie forderten, dass jeder Bewerber eine unvoreingenommene Chance erhalten soll, seinen Antrag zu stellen. Aber das heißt doch nicht, dass die Behörde voreingenommen wäre.
Herr Kollege, erlauben Sie trotzdem eine Zwischenfrage der Kollegin Amtsberg?
Natürlich erlaube ich sie.
Vielen Dank, Herr Kollege Thomae, dass Sie die Frage zulassen. Um Sie zu beruhigen: Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Ich war Ihnen aber sehr dankbar, dass Sie eben zumindest richtig dargestellt haben, wo wir die Probleme sehen.
Die unvoreingenommene Prüfung ist das eine. Das andere ist: Man kann ja auch die Auffassung vertreten, dass es gerade für Menschen aus den Ländern, für die die Schutzquote vielleicht vollkommen korrekterweise – das unterstelle ich jetzt mal – sehr, sehr niedrig ist, deutlich aufwendiger ist, Verfolgung nachzuweisen. Aus dieser Vermutung heraus könnte man ja vielleicht auch ableiten, dass man gerade für solche Länder, die als sicheres Herkunftsland eingestuft wurden – also weniger Prüfung, weil man zwar unvoreingenommen, aber sozusagen mit Voraussetzungen ins Asylverfahren geht –, die richtigen Schutzgründe in einem verkürzten Verfahren, das eben anderen Spielregeln folgt, erst recht nicht herausfinden kann. Das wäre die Haltung der Fraktion der Grünen. Ich frage Sie, ob Sie das nachvollziehen können.
Ich jedenfalls teile Ihre Befürchtungen nicht; denn natürlich ist es jedem unbenommen in dem Verfahren in aller Ausführlichkeit darzulegen, weshalb er persönlich doch einer individuellen Verfolgung aus politischen, ethnischen, sexuellen oder religiösen Gründen unterliegt. Das kann er ja in diesem Verfahren tun, das ihm offensteht. Er muss nur in der verkürzten Frist Klage erheben. Aber im Verfahren hat er genau die gleiche Zeit wie der andere auch, seine Gründe darzutun. Von daher verstehe ich Ihren Einwand – das hoffe ich jedenfalls –, teile ihn aber nicht.
Jetzt habe ich nur noch wenig Zeit. Ich will noch einen Punkt hinzufügen, nachdem Sie, Frau Kollegin Amtsberg, sagten: Wir sollten nicht zu viel Zeit und Energie verschwenden und uns nicht immer und immer wieder mit diesem gleichen Thema der sicheren Herkunftsländer beschäftigen. – Es ist aber doch ein Anliegen der Grünen, sich genau denjenigen zuzuwenden, punktgenau sozusagen, die wirklich schutzbedürftig sind. Und das können wir doch eigentlich besser,
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wenn wir uns – auch im Rahmen unserer Integrationsbemühungen – punktgenau auf diejenigen konzentrieren können, die unseres Schutzes wirklich bedürfen. Das ist auch das, was die FDP – die Grünen übrigens auch – mit dem Konzept eines Einwanderungsgesetzbuches, in dem auch ein integrationspolitisches Leitbild enthalten ist, will.
Aus diesem Grunde –
Kommen Sie jetzt zum Schluss, Herr Kollege.
– wird die FDP nicht nur dem heutigen Überweisungsvorschlag zustimmen, sondern auch das Gesetzesvorhaben insgesamt in der Ausschussberatung wohlwollend begleiten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Thomae. – Als Nächstes der Kollege Christoph de Vries, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man der Debatte folgt, könnte man schon fast sagen: Und täglich grüßt das Murmeltier. Das ist ja schon fast ein Déjà-vu vergangener Debatten: Erinnern wir uns an den ersten Anlauf, die Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsstaaten zu deklarieren. Ich glaube, auch bei der Einstufung der Westbalkanstaaten hatten wir damals einen ähnlichen Verlauf. Ein Muster ist immer gleich: Wenn es darum geht, die missbräuchliche Inanspruchnahme des Asylrechts einzudämmen und sich auf die wirklich Schutzbedürftigen zu konzentrieren, dann stoßen wir hier als verantwortungsbewusste Regierungskoalition auf den Widerstand der Grünen in Bundestag und Bundesrat. Das ist leider die traurige Realität, meine Damen und Herren.
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Dass die Westbalkanstaaten seit 2016 als sichere Herkunftsländer gelten, haben wir ja auf grüner Seite allein einem einzigen verantwortungsbewussten Spitzenpolitiker zu verdanken. Denn nur durch die Unterstützung des Ministerpräsidenten Kretschmann, der damals sehr vernünftig agierte und der sich der Verweigerungshaltung seiner Partei widersetzte, konnten die Westbalkanstaaten und einige afrikanische Staaten als sichere Herkunftsstaaten deklariert werden. Daran kann man sehen: Herr Kretschmann betet nicht nur für die deutsche Kanzlerin, sondern er weiß auch, was Vernunft heißt, meine Damen und Herren – und das ist auch gut so.
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Wenn ich mir die Entwicklung der Asylbewerberzahlen aus dieser Region anschaue, dann kann ich nur sagen: Gut so! Das Resultat kann sich ja wirklich sehen lassen. Daran können Sie sich ein Beispiel nehmen, liebe Grüne. Denn wie sieht denn der Faktencheck für den Westbalkan aus? Die Gesamtzahl der Asylanträge aus dieser Region ist seit 2015 um 85 Prozent gesunken. Das zeigt doch, wie wirksam dieses Instrument der Einstufung als sichere Herkunftsstaaten bei der Eindämmung unberechtigter Asylbegehren ist. Und warum ist das so? Weil die Menschen von Anfang an wissen, dass sie keine Bleibeperspektive haben, und sich deshalb erst gar nicht auf den Weg machen. Genau das muss doch in unser aller Interesse sein, meine Damen und Herren.
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Ein anderer Spitzenpolitiker der Grünen wirft uns regelmäßig vor, keine verantwortungsbewusste Politik zu betreiben. Er sagt zur Flüchtlingspolitik – ich zitiere Robert Habeck –: „Dieses Auf-Sicht-Fahren ist das Problem.“ Man habe Deutschland nicht ausreichend auf die Zahl der Flüchtlinge vorbereitet. Ich sage Ihnen: Wenn die Grünen schon 2016 nicht gegen die Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsstaaten gewesen wären, dann hätten wir schon längst schnellere und rechtssichere Asylverfahren bei dieser Personengruppe erreicht.
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Und nicht nur das: Wir hätten uns auch viel mehr um die wirklich schutzbedürftigen Menschen in Deutschland kümmern können, um die Menschen, die tatsächlich von Bürgerkrieg und politischer Verfolgung bedroht und geflohen sind. Wir hätten auch unsere Kapazitäten besser einsetzen können, um diesen Menschen deutlich schneller in unsere Gesellschaft zu verhelfen und sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Robert Habeck – um bei ihm zu bleiben – hat ja nach der Hessenwahl mit sehr breiter Brust gesagt, der Erfolg der Grünen fuße auf Fachlichkeit, auf Sachlichkeit und darauf, dass die Grünen sich am Ende der Populismusskala bewegen würden. Ich sage Ihnen: Unser Land wäre einen großen Schritt weiter, wenn Sie diesem Anspruch auch in der Asylfrage endlich gerecht werden würden, meine Damen und Herren.
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Denn wie Sie da argumentieren, das ist doch nichts als blanker Linkspopulismus, das ist die systematische Ausblendung aller Fakten, und das ist auch ein Ignorieren der gesellschaftlichen Stimmung in Deutschland.
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Die Zahlen sind ja alle genannt worden. Die Einstufung als sicheres Herkunftsland entspricht deutschem Recht, sie entspricht europäischem Recht, sie führt zu einer Beschleunigung der Asylverfahren, und sie hilft, den Aufenthalt von Menschen in Deutschland schneller zu beenden, die aus asylfremden Gründen nach Deutschland gekommen sind. Damit werden wir weniger attraktiv als Zielland, ohne dass wir den Anspruch auf ein individuelles Prüfrecht damit einschränken. Das muss doch auch in unserem Interesse sein. Nun können Sie natürlich sagen: Herr de Vries, andere Partei, das interessiert uns alles nicht, unsere Klientel ist davon ja nicht betroffen.
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Aber Sie können ja auch in Ihre eigenen Reihen schauen, Frau Amtsberg. Selbst Ihre eigenen Leute, die Verantwortung tragen, distanzieren sich ja zum Teil von dieser wirklichkeitsfremden Asyl- und Antiabschiebepolitik.
Ich kann Ihnen ein letztes Zitat Ihres Ministerpräsidenten nicht ersparen. Er hat gesagt, man dürfe sich nicht immer an Themen abarbeiten, bei denen man nichts gewinnen könne, wie etwa die Ausweitung der Einstufung als sichere Herkunftsländer auf die Maghreb-Staaten. Ich sage Ihnen: Recht hat er. Die Grünen können mit einer Ablehnung nichts gewinnen, aber unser Land kann eine Menge verlieren, wenn Sie im Bundesrat weiter blockieren.
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Wir betreiben eine verantwortungsbewusste Migrationspolitik, und ich glaube, es wäre gut, wenn die Grünen endlich auch damit anfangen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege de Vries. – Als letzter Redner hat der Kollege Christoph Bernstiel das Wort: für einen Vier-Minuten-Beitrag.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! In den letzten Jahren hat die Große Koalition zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Migration in unserem Land zu steuern und vor allem illegale Migration zu verhindern. Zu nennen ist hier das EU-Türkei-Abkommen, die Neuregelung des Familiennachzuges für subsidiär Geschützte und die Einstufung der Balkanstaaten als sichere Herkunftsländer.
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Darüber hinaus, liebe Grünen, haben wir die Entwicklungshilfe im Niger erst kürzlich verdoppelt. Wir haben Migrations- und Beratungszentren in Nordafrika eingerichtet. Wir haben im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 1 650 neue Stellen geschaffen, und wir werden weitere 4 500 Stellen entfristen. Wir haben die Rücknahmeverfahren von abgelehnten Asylbewerbern mit zahlreichen Staaten in Afrika verbessert, und wir haben neun AnKER-Zentren eingerichtet, die inzwischen sehr effektiv arbeiten.
Mit diesem Bündel an Maßnahmen ist es uns gelungen, die Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge – da schaue ich einmal zur AfD – von über 745 000 Menschen im Jahr 2016 auf aktuell 142 000 Personen zu senken. Wir sind also auf einem guten Weg. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist uns noch nicht genug. Deshalb planen wir weitere Maßnahmen wie zum Beispiel den besseren Zugriff auf das Ausländerzentralregister, ein Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht und eben die Einstufung von Algerien, Marokko, Tunesien und Georgien als sichere Herkunftsstaaten.
Meine Vorredner haben bereits ausführlich verdeutlicht, warum dieses Gesetz richtig und auch notwendig ist. Als letzter Redner in der Debatte möchte ich deshalb noch einmal die wichtigsten Punkte zusammenfassen und um einen weiteren Punkt ergänzen.
Die Anerkennungsquote für Asylanträge in allen vier genannten Ländern liegt unter 5 Prozent. Das bedeutet: 95 Prozent aller Anträge werden abgelehnt, weil sie die Kriterien für Asyl oder Flüchtlingsschutz nicht erfüllen. Dennoch wurden seit 2017 – damit Sie mal eine Zahl haben – 11 700 Anträge beim BAMF gestellt. Das heißt, die Mitarbeiter müssen sich mit Anträgen beschäftigen, die Kapazitäten binden, und sie haben dadurch keine Möglichkeit, Anträge von Menschen, die wirklich schutzberechtigt sind, intensiver zu prüfen und vor allen Dingen auch schneller zu bearbeiten. Helfen Sie also bitte mit, diese Mitarbeiter im BAMF zu entlasten.
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Denn nachdem ein Staat als sicheres Herkunftsland eingestuft wurde, können Asylverfahren erheblich beschleunigt werden, und auch Abschiebungen werden erleichtert. Die Frist dafür verkürzt sich beispielsweise auf eine Woche.
Ein weiterer wichtiger Punkt war: Das Auswärtige Amt bescheinigt allen vier Ländern, dass sie sicher sind – da schaue ich wieder zu Ihnen von den Grünen –, auch wenn es dort natürlich noch Defizite gibt. Aber wichtig in diesem Zusammenhang ist – das wurde schon mehrfach betont; bitte akzeptieren Sie das auch –, dass der Anspruch auf Individualprüfung nicht erlischt, wenn wir diese Länder als sicher einstufen. Gleichzeitig hat ja die Vergangenheit gezeigt, dass, nachdem wir die Balkanstaaten als sicher eingestuft haben, die Zahl der Antragsteller von dort signifikant gesunken ist. Dieses Signal brauchen wir jetzt auch für die Maghreb-Staaten und Georgien.
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Meine Damen und Herren, es gibt also viele gute Gründe, warum man diesem Gesetz zustimmen sollte. Wenn Sie aber noch immer keinen gefunden haben, dann möchte ich Ihnen gerne noch einen neuen nennen: die Kriminalitätsprävention. Das Bundesfamilienministerium hat Anfang 2017 eine Studie vorgelegt, in der in Niedersachsen untersucht wurde, wie vor allem junge Männer, die keine Aussicht auf Anerkennung als Flüchtling haben, sozusagen durch Gewalt auffallen. Das betrifft besonders Marokkaner, Algerier, Tunesier. Sie stellten 2016 nur 0,9 Prozent der Niedersachsen, sind aber trotzdem für 17,1 Prozent der registrierten Gewalttaten verantwortlich. Genau diesen Flüchtlingen könnten wir in Zukunft schon in ihren Heimatländern klarmachen, dass ein Antrag auf Asyl in Deutschland wenig Chancen auf Erfolg hat, und wir könnten sie damit an ihrer Einreise hindern.
Da ich jetzt schon fast am Ende meiner Redezeit bin, überspringe ich einmal die Tatsache, dass Frontex an der Grenze zu Marokko über 65 Tonnen Rauschgift beschlagnahmt hat. Das wurde übrigens mit Geld erworben, das kriminelle Schleuserbanden mit Flüchtlingen verdienen, die sie über das Mittelmeer schleusen.
Zusammenfassend möchte ich sagen, dass es ein gutes Gesetz ist und dass es mehr Gründe gibt, die dafür sprechen als dagegen. Dennoch gibt es immer wieder ideologisierte Gegenstimmen im Bundesrat. Ich hoffe, dass es dieses Mal nicht so ist. Ich setze auch darauf, dass wir in meinem Bundesland Sachsen-Anhalt, in dem die Grünen neben CDU und SPD mitregieren, diesmal eine Zustimmung hinbekommen. Ich freue mich auf die Beratungen in den Ausschüssen.
Danke.
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Herr Kollege, herzlichen Dank. Sie haben jetzt meine Langmut extrem beansprucht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/5314 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das höre und sehe ich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich gerne eine geschäftsleitende Bemerkung machen. Wir hängen etwas in der Debatte. Wenn die Tagesordnung so abgearbeitet wird, wie vorgesehen, dann würden wir morgen früh um 3 Uhr fertig sein. Angesichts der Bedeutung des morgigen Tages bitte ich die Parlamentarischen Geschäftsführer dringend darum, sich Gedanken darüber zu machen, ob diese Verfahrensgestaltung sinnvoll ist und ob es nicht Möglichkeiten der Verkürzung gibt. Das ist eine ganz herzliche Bitte. Das betrifft übrigens auch die Mitarbeiter dieses Hauses, die morgen früh alle um 9 Uhr wieder hier sein müssen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute debattieren wir abschließend den Antrag der Fraktion Die Linke gegen das sogenannte 2-Prozent-Ziel, das heißt einen Antrag gegen Investitionen für mehr Sicherheit. Es ist gut, dass wir diesen Antrag mit Mehrheit ablehnen werden; denn er ist ideologisch aufgebaut. Deswegen ist noch einmal deutlich herauszuheben, was im Parteiprogramm der Fraktion Die Linke steht, nämlich ein Ausstieg Deutschlands aus der NATO und die Auflösung der NATO.
Meine Damen und Herren, die NATO ist das erfolgreichste Verteidigungsbündnis und garantiert uns Sicherheit, Frieden und Freiheit.
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Deswegen ist es nicht zu verstehen, warum die Grünen diesem Antrag zustimmen wollen.
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Es geht ja darum: Wer für den Antrag der Linken ist, ist gegen die Solidarität im Bündnis. Das würde einen verhängnisvollen deutschen Sonderweg bedeuten. Wir als Union stehen für eine verantwortungsvolle Sicherheitspolitik. Wir wollen, dass Deutschland im Bündnis fest verankert ist und dass wir Sicherheitspolitik gemeinsam mit unseren Partnern gestalten: mit den Vereinten Nationen, mit der NATO und mit der Europäischen Union.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch einen Gruß nach Helsinki richten. Dort hat die Europäische Volkspartei Manfred Weber mit deutlicher Mehrheit zum Spitzenkandidaten gewählt. Herzlichen Glückwunsch! Auf ein gutes Miteinander!
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Es ist Grundlage der deutschen Außenpolitik, dass wir gemeinsam agieren. Die elf Monate, in denen wir im Ausschuss über diesen Antrag debattiert haben, zeigen wie in einem Brennglas, was um uns herum passiert: Der Konflikt in der Ukraine dauert an. Russland setzt seine Nachbarn weiter unter Druck. Selbst neutrale Staaten wie Schweden und Finnland suchen die Nähe zur NATO. Es ist augenscheinlich, dass das Manöverbegehren Russlands offensiv ausgelegt ist. Es ist augenscheinlich, dass Russland massiv in Modernisierung und in Aufrüstung investiert. Deswegen macht uns der INF-Vertrag zurzeit so viele Sorgen. Der INF-Vertrag beinhaltet ja ein Verbot der nuklearen Mittelstreckensysteme. Es gibt Anlass zur Sorge, dass Russland dieses Abkommen zurzeit unterläuft. Alle sind aufgefordert, hier ein besseres Miteinander zu finden.
Wir müssen jedenfalls die Sicherheitspolitik wieder in den Mittelpunkt unserer politischen Betrachtung stellen; und diese Sicherheitspolitik hat zwei Ausrichtungen: Dialog und militärische Stärke. Deswegen ist es gut, dass wir ein deutliches Signal für die Bündnisverteidigung senden, dass wir das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr nach der Konzeption der Bundeswehr und nach dem Weißbuch aufgebaut haben. Deutschland steht zu den Verpflichtungen. Deswegen sind wir auch für unsere baltischen Partner vor Ort mit der sogenannten Vornepräsenz, mit dem Air Policing, das heißt mit der Luftraumüberwachung, weil die drei baltischen Staaten selbst keine Luftraumüberwachung durchführen können. Deswegen ist es auch gut, dass mit dem Manöver „Trident Juncture“ in Norwegen deutlich gezeigt wird, wie die Zusammenarbeit funktioniert, wie wir besser werden können, um ein deutliches Signal der Stärke zu zeigen. Deutschland übernimmt die Führung für VJTF in den Jahren 2019 und 2023.
Aber allein die NATO ist nicht der Garant, sondern wir müssen zusätzlich unsere Systeme nutzen – die Vereinten Nationen, die Europäische Union –, um auch auf dem afrikanischen Kontinent für Stabilität Sorge zu tragen. Denn das sind unsere unmittelbaren Nachbarn, ebenso wie der Nahe Osten. Deswegen ist es gut, dass wir mit einer eigenen Irak-Mission für Stabilität in der Ausbildung sorgen und unseren Beitrag mit den AWACS-Fähigkeiten im Kampf gegen den furchtbaren „Islamischen Staat“ leisten. Dieser Kampf war erfolgreich und sichert uns auch hier Frieden und Freiheit, meine Damen und Herren.
Deswegen ist es wichtig, als klares Ziel zu haben, 2 Prozent des BIP in das Verteidigungsbudget zu investieren. Das ist auch im Koalitionsvertrag so festgelegt: gemeinsam mehr Geld für die Sicherheit, gemeinsam in und mit der NATO die Sicherheit Deutschlands stärken. Das ist der richtige Weg.
Wir freuen uns auf die Haushaltsgespräche und hoffen, dass dort die Grundlage für eine funktionsfähige Streitkraft gesetzt wird. Stärke und Zusammenhalt sind gute konservative Werte. Nur wer schwach ist, läuft Gefahr, angegriffen zu werden. Deswegen ist Frieden das Ergebnis von Stärke und nicht von Schwäche. Wir jedenfalls stehen für diese Sicherheitspolitik, für die Sicherheit unseres Landes. Und wir danken unseren Soldatinnen und Soldaten für ihren Beitrag für Frieden und Freiheit. Deswegen lehnen wir den Antrag der Fraktion Die Linke ab.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Rüdiger Lucassen, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Eigentlich kann Die Linke den Antrag zurückziehen.
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Die Linke will, dass die Bundesregierung das 2-Prozent-Ziel zum Wiederaufbau der Bundeswehr nicht umsetzt.
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Das tut die Bundesregierung sowieso nicht. Sie hat sich dazu zwar vor vier Jahren verpflichtet, aber was interessiert Bundeskanzlerin Merkel ihr Geschwätz von gestern. Und noch besser: Ministerin von der Leyen setzt stattdessen ein eigenes Ziel, nämlich nur noch 1,5 Prozent vom BIP. Aber auch diese neue Zielmarke, liebe Genossen, wird die Regierung nicht einhalten. Seien Sie ganz gewiss: Was Die Linke will, eine entmilitarisierte Bundeswehr, setzt die CDU um. Das ist Deutschland im Jahr 2018!
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Die Bundesregierung hält sich nur noch an Verträge und Gesetze, wenn es ihr in den Kram passt. Diese gesichtslose Masse an treuen Gefolgsleuten hier im Parlament macht das alles mit. Das Prinzip „Selbstbetrug“ nach Art des Hauses von der Leyen setzt sich fort: Zielmarken setzen, schwer leserliche Konzeptionen herausgeben – und danach wird nichts in die Tat umgesetzt.
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Jüngstes Beispiel: das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr. Sehr geehrte Kollegen von der CDU, haben Sie sich mal die Mühe gemacht und die Kosten der dort genannten Vorhaben addiert? Offenbar nicht. Denn sonst könnten Sie erkennen, dass die dort gelisteten Beschaffungsvorhaben weit über die 1,5-Prozent-Marke Ihrer Ministerin hinausgehen.
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In Ihrem eigenen Finanzplan ist das alles nicht hinterlegt. Eine klassische Luftnummer.
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Gestern im Ausschuss sagte die Ministerin dazu – ich zitiere –: „Das ist alles noch nebulös.“
An dieser Stelle will ich Folgendes sagen: Ich bin seit einem Jahr Abgeordneter des Deutschen Bundestages.
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Ich hätte nie gedacht, mit welcher Schamlosigkeit und teilweise Frechheit eine Ministerin sich hinstellt und sagt, dass die Planungen ihres eigenen Hauses „noch nebulös“ seien.
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Und das Schlimmste daran: Die Abgeordneten der CDU beklatschen diese zur Schau gestellte Unzulänglichkeit noch.
Fünf Jahre ist Ursula von der Leyen jetzt im Amt, länger als jeder ihrer fünf Vorgänger. Aber außer Programmen für Kitas, eine unsinnige Arbeitszeitverordnung, Beschimpfung der Soldaten, sie hätten ein Haltungsproblem, und Razzien in Kasernen wegen alter Panzerbilder hat sie nichts erreicht.
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Der Zustand der Bundeswehr hat sich kein Stück verbessert.
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Für das Manöver in Norwegen musste wieder die gesamte Truppe nach Material durchsucht werden.
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Die Verantwortung dafür sieht die Ministerin bei anderen: bei ihren Vorgängern, ja sogar bei den NATO-Partnern, wie sie gestern erklärt hat. Die hätten nämlich auch zu viel reduziert. Welch eine Chuzpe!
Dann die sogenannten Trendwenden: Wo ist das neue Personal? Im Beschaffungsamt, in der Cyberabwehr, in der restlichen Truppe. Die Auslandseinsätze in Afghanistan, in Mali. Raumgewinne nur noch durch die Taliban und andere Islamisten. Keine Erfolge, nirgends. Ihre großangekündigte Rüstungskooperation mit Frankreich bei einem neuen Kampfjet: bereits am Ende, bevor sie richtig angefangen hat.
Unsere Bundeswehr wieder aufzubauen, wird unendlich viel Kraft und Geld kosten.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
2 Prozent des BIP werden da kaum reichen. Leicht wird das nicht, aber wir werden es machen. Verlassen Sie sich darauf.
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Als Nächster spricht zu uns der Kollege Dr. Fritz Felgentreu, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dieser allgemeinen Tirade wollen wir mal zum Thema zurückkehren.
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Das Thema ist die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses in Reaktion auf einen der üblichen Anti-NATO-Anträge der Linken. Ich will das mal so sagen, weil der Aufhänger, den die Linken wählen, in diesem Fall das 2-Prozent-Rüstungsziel der NATO, ihnen doch in Wirklichkeit relativ egal ist. Sie sagen heute, liebe Kollegin Sommer, Sie seien gegen das 2-Prozent-Ziel, aber eigentlich sind Sie gegen die NATO.
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Alle Ihre NATO-Anträge sind Variationen ein und desselben Themas: Deutschland raus aus der NATO, NATO auflösen.
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Das ist Ihr sicherheitspolitisches Alleinstellungsmerkmal, und aus gutem Grund werden Sie damit auch in Zukunft allein bleiben.
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Denn die NATO, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch heute, fast 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und in einer Phase neuer Risiken und Konflikte, das Rückgrat der europäischen Sicherheit. Sie ist tatsächlich das erfolgreichste Sicherheitsbündnis in der Geschichte,
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wenn wir den Erfolg eines solchen Bündnisses daran messen, dass es möglichst vielen Menschen einen möglichst stabilen Frieden sichert. Deshalb ist es kein Zufall, dass Länder, deren Frieden und Sicherheit gestört oder zerbrochen worden sind, Länder wie die Ukraine oder Georgien, die Mitgliedschaft in der NATO als wichtigstes Ziel ihrer Außenpolitik definieren.
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Mir ist das im Oktober auf einer Reise nach Litauen noch einmal sehr deutlich geworden. Wie Sie wissen, führt dort die Bundeswehr die in ständig wechselnder Zusammensetzung übenden NATO-Truppen in der Stärke eines Bataillons. Die im NATO-Jargon „Enhanced Forward Presence“ genannten Einheiten garantieren den Ländern an der NATO-Ostflanke, dass das Bündnis dort permanent sichtbar an der Seite der kleinen Armeen steht, die im Baltikum für die Landesverteidigung zuständig sind.
Bei meinen Gesprächen dort haben unsere litauischen Verbündeten immer wieder zum Ausdruck gebracht, wie erleichtert sie darüber sind, dass die NATO ihre Verantwortung so ernst nimmt. Wer nämlich in unmittelbarer Nachbarschaft eines so viel größeren, stärkeren und dabei nachweislich zum Einsatz militärischer Gewalt bereiten Nachbarn lebt,
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wie Russland das nun einmal ist, dem braucht man den Wert der NATO nicht lange zu erklären, Herr Neu.
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Ein solches Bündnis preiszugeben, wäre auch für uns sträflicher Leichtsinn. Wir sind ein reiches Land mit über 80 Millionen Menschen. Wir leben mitten auf dem allzeit unruhigen Kontinent Europa, ohne durch natürliche Grenzen vor auswärtiger Gefahr geschützt zu sein. Trotzdem leisten wir uns eine historisch einmalig kleine Armee von unter 200 000 Soldatinnen und Soldaten. Das ist das Ergebnis von über 60 Jahren Mitgliedschaft in diesem starken Bündnis und – vollkommen richtig – auch in der Europäischen Union. Weil wir die NATO haben, kommen wir mit einer kleinen Armee aus; weil wir wissen, dass wir uns im Notfall auf dieses Bündnis verlassen können, das stärker ist als jeder denkbare Gegner.
Aber, meine Damen und Herren, dieser hohe Grad an Sicherheit ist eben keine Selbstverständlichkeit. Er verlangt uns auch etwas ab. Wir können uns nur so lange auf unsere Verbündeten verlassen, solange sich unsere Verbündeten auf uns verlassen können. Deshalb geht die Mitgliedschaft in der NATO mit Verpflichtungen einher:
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mit der Verpflichtung, unseren militärischen Beitrag zur Bündnisverteidigung zu leisten, selbstverständlich mit finanziellen Verpflichtungen und auch mit der Pflicht, mit unseren Partnern, zum Beispiel der Türkei, über den richtigen politischen Weg für die NATO zu debattieren und, wo das notwendig ist, auch zu streiten.
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Denn wir sind ein Bündnis freier Länder,
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keine Vasallen, die Gefolgschaft leisten. Auch das ist eine Stärke der NATO.
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Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein, es ist zu spät für Zwischenfragen.
Schade.
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Was bedeutet das für die Investitionen in die Bundeswehr, zu denen wir uns gegenüber der NATO bekannt haben? Wir bewegen uns auf eine NATO-Quote von 2 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung zu. Die Koalition hat sich darauf verständigt, dass wir bis 2024 1,5 Prozent erreichen wollen. Wie es danach weitergeht, wird die Zukunft zeigen. Für die SPD jedenfalls gilt: Wir haben kein 2-Prozent-Ziel, wir haben ein 100-Prozent-Ziel.
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Wir wollen eine Bundeswehr, die mit Personal, Waffen und Gerät in vollem Umfang so ausgestattet ist, wie sie es ihrer Struktur nach schon heute sein müsste.
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Um dieses Ziel zu erreichen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird die Koalition der Bundeswehr schon mit dem Haushalt 2019 über 4 Milliarden Euro mehr zur Verfügung stellen als im vergangenen Jahr.
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Was den Einsatz dieser Mittel angeht, so setzt die SPD-Fraktion auf die Stärke des Staates. Die Landesverteidigung ist die ureigentliche hoheitliche Aufgabe der Staatsgewalt. Das dafür Notwendige, so unsere feste Überzeugung, muss der Staat alleine tun können, das heißt, ohne sich von externen Beratern abhängig zu machen.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Felgentreu. – Als Nächstes die Kollegin Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde gerade schon gesagt: Die Forderung der Linken „Raus aus der NATO“ ist nicht neu. Ich darf die Linken als Antragsteller daran erinnern, dass das sogenannte „aim to … guideline“ von 2 Prozent des BIP beschlossen wurde, nachdem die russische Aggressionspolitik durch die Annexion der Krim und den Beginn des Konflikts in der Ostukraine für die NATO zunehmend zu einem Bedrohungsszenario wurde.
({0})
Daher erneuerten die Staatschefs der NATO-Staaten auf ihren Gipfeltreffen in Wales und Warschau die Zusage, den Wehretat in ihren Ländern diesem Ziel anzunähern. Die Linke penetriert immer wieder,
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dass das System NATO auf Krieg angelegt sei und sie daher abgeschafft gehöre.
Das Thema Frieden, liebe Kollegen der Linken, ist für Sie nämlich nur dann wichtig, wenn es gegen die NATO und gegen die USA geht.
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Und kommen Sie mir nicht mit Donald Trump – da kriege ich das große Gähnen –: Das war schon immer linke US-Politik.
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Selbst Barack Obama – er war keine drei Monate im Amt – hat die Linke als – Zitat – „Kriegstreiber mit Charisma“ bezeichnet; na, immerhin. Die „FAZ“ titelte zu Recht: „Der neue alte Feind“ der Linken.
Bei Russland messen Sie als Linke mit anderem Maß.
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Für eine Verurteilung der Besetzung der Ostukraine und der Annexion der Krim fand sich bis heute bei Ihnen keine Mehrheit. Sie sollten sich schämen.
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Das NATO-Bündnis ist seit 63 Jahren ein wesentlicher Pfeiler deutscher Sicherheitspolitik. Wir sind eingebettet in Artikel 5 des Vertrages, und das ist auch gut so. Als die NATO gegründet wurde, waren die Folgen des Zweiten Weltkriegs allgegenwärtig. Deshalb haben sich westliche Staaten zur Absicherung dieses jungen, so fragilen Friedens zusammengeschlossen.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Neu?
Herr Kollege Neu, Sie sehen heute so schick aus. Sind Sie mit dem Motorrad gekommen? – Nein, ich erlaube die Zwischenfrage nicht.
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Bereits sechs Jahre später wurde die junge Bundesrepublik Teil der NATO. Deutschland steckte da noch in den Kinderschuhen. Die Aufnahme in das Westbündnis war für Deutschland und seine Zukunft von historischer Bedeutung.
Die heutigen 29 Mitgliedstaaten bieten nicht nur Schutz, sondern sie sind auch dafür zuständig, dass die Welt stabil bleibt. Das System kollektiver Sicherheit verhindert nämlich auch nationale Alleingänge, die die Welt immer nur ins Unheil gestürzt haben.
Meine Damen und Herren, es gab die Bundeswehr nie ohne die NATO, und es wird sie auch nicht außerhalb der NATO geben. Die Parteien, die ein Problem damit haben, seien daran erinnert: Wir haben auch an anderer Stelle steigende Verteidigungsausgaben zugesagt, nämlich im Rahmen der Europäischen Union. Wenn man in einem Bündnis Verantwortung übernimmt, kann man nicht gemeinsam etwas aushandeln und sich dann vom Acker machen. Verlässlichkeit ist eine wesentliche Voraussetzung des Zusammenhalts. Es ist bedauerlich genug, dass die Bundesregierung das in Bezug auf den Irak genau so gemacht hat: erst verhandeln, aber dann weg vom Fenster.
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine starke Bundeswehr voller Einsatzbereitschaft in einer funktionierenden europäischen Verteidigungsunion und, ja, in einem stabilen transatlantischen Bündnis. Deswegen brauchen wir auch erhöhte Verteidigungsausgaben.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Deutschland ist den Kinderschuhen von 1955 entwachsen. Deutschland ist Gott sei Dank erwachsen. Wir müssen auch für uns Verantwortung übernehmen. Wenn man Frieden in Freiheit sichern will, bedeutet das, liebe Kollegen von den Linken, dass wir uns sogar für die Freiheit derjenigen einsetzen, die dieses kollektive Bündnis zerstören wollen.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Strack-Zimmermann. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke die Kollegin Heike Hänsel.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier findet wieder eine Märchenstunde erster Güte statt.
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Ich möchte eines ganz klar feststellen: Wir haben es oft genug gemacht, wir haben die Krim jedes Mal als völkerrechtswidrig verurteilt.
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Und im Gegensatz zu Ihnen setzen wir uns für die territoriale Integrität aller Staaten ein; das möchte ich hier klar festhalten, weil Sie hier ständig mit Ihren neu aufgewärmten Geschichten kommen.
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Interessant finde ich auch, dass die AfD neuerdings der Bundesregierung dabei hilft, ihren Aufrüstungshaushalt zu kaschieren. Das ist eine ganz neue Rolle; das finde ich auch sehr interessant.
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Denn in der kommenden Sitzungswoche will die Bundesregierung den größten Anstieg des Rüstungshaushalts seit Ende des Kalten Krieges beschließen lassen. Sie folgt damit einer Aufrüstungslogik, die die NATO bereits 2014 beschlossen hat, mit dem Ziel, die Militärausgaben auf jeweils 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Nach Schätzungen würde das bedeuten, dass je nach Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik pro Jahr zwischen 70 und 80 Milliarden Euro für militärische Zwecke ausgegeben würden. Das wäre nahezu eine Verdopplung der jetzigen Militärausgaben. Wir halten das außenpolitisch und innenpolitisch für falsch und gefährlich.
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Herr Felgentreu, wenn ich Sie höre, dann stelle ich fest: Das ist das Gegenteil von dem, was Andrea Nahles und Sigmar Gabriel immer sagen, nämlich: kein 2-Prozent-Ziel, weg von der Aufrüstung.
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Sie erzählen hier etwas ganz anderes. Man sieht auch: Die Bundesregierung kommt diesem Ziel immer näher. Der Fahrplan liegt nämlich bei den NATO-relevanten Ausgaben bei fast 60 Milliarden Euro bis 2023. Und jetzt soll Frau von der Leyen zu ihrem Rekordhaushalt in diesem Jahr auch noch 320 Millionen Euro obendrauf bekommen.
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Wir wollen diesen Rüstungswahnsinn stoppen.
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Diese Hochrüstungspolitik der NATO trägt nämlich nicht zu mehr Sicherheit in Europa und in der Welt bei.
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Im Gegenteil: Die NATO-Staaten haben mit ihrer Kriegspolitik schon viel zu viele Länder zerstört. Schauen Sie sich den Irak an. Schauen Sie sich Afghanistan an. Schauen Sie sich Libyen oder den Norden Syriens und die Überfälle der Türkei dort an. All das muss endlich ein Ende haben.
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Diese Politik richtet sich auch eindeutig gegen Russland. Wir halten das für friedensgefährdend in Zeiten,
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in denen der INF-Vertrag über atomare Abrüstung von Trump aufgekündigt wird und die NATO immer weiter an Russland heranrückt. Sie wird eine neue weltweite Rüstungsspirale in Gang setzen; das werden wir sehen. Deshalb: Wir wollen nicht zurück in den Kalten Krieg à la Herr Otte und Ihrer Abschreckungspolitik.
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Wenn wir uns die Ausgaben anschauen, sehen wir: Die NATO-Staaten allein in der EU geben fast 300 Milliarden Euro für Rüstung aus. Russland gibt 60 Milliarden Euro für Rüstung aus. Diese Zahlen sprechen ihre eigene Sprache.
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Genau deswegen fordern wir vertrauensbildende Maßnahmen.
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Wir wollen nicht, dass aus Nachbarn Feinde gemacht werden.
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Wir wollen die Idee des gemeinsamen europäischen Hauses aufbauen, statt aufzurüsten.
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Das 2-Prozent-Ziel übrigens – darüber spricht kaum jemand – würde Deutschland zur größten Militärmacht in Europa machen. Wer kann das eigentlich ernsthaft wollen?
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In diesen Tagen begehen wir das Ende des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren. Das führt uns doch vor Augen, wohin ein hochgerüstetes Deutschland zweimal im letzten Jahrhundert geführt hat: in die Katastrophe.
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Unsere Geschichte mahnt uns: Abrüstung ist das Gebot der Stunde.
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Wir benötigen das Geld dringend für soziale Sicherheit statt für militärische Unsicherheit. Allein mit den Ausgaben für neue Kampfschiffe könnten über 250 00 bezahlbare Wohnungen gebaut werden.
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Die Bundesregierung gibt jetzt viel Geld aus, damit ihre Panzer auf panzerfesten Straßen schnellstmöglich von West nach Ost fahren können. Aber die Dörfer, durch die diese Panzer fahren, die haben nicht mal genügend Hebammen für die Grundversorgung. Die haben keine Krankenhäuser mehr, keine Busverbindung.
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Da ist alles marode. Davon haben die Menschen die Schnauze voll. Die Menschen dort wollen endlich soziale Sicherheit.
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Da wende ich mich auch an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Wenn Sie sich ernsthaft in der GroKo, wie Sie es ja ständig beteuern, erneuern wollen, dann kümmern Sie sich um die Lebensinteressen der Menschen und haben Sie den Mut, heute mit uns gegen das 2-Prozent-Aufrüstungsziel der NATO zu stimmen.
({22})
Es gibt viel wichtigere Ziele, für die wir uns einsetzen müssen. Die Bundesregierung hat den nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen zugestimmt. Aber da ist immer kein Geld da.
({23})
So ist es zum Beispiel beim UN-Ziel, den Hunger auf der Welt auszuradieren bis 2030. Davon höre ich nichts in diesem Haushalt.
({24})
Dafür benötigen wir nur ein Drittel von dem, was die NATO-Staaten jedes Jahr für Rüstung ausgeben.
Und: Sie erfüllen auch nicht Ihren eigenen Koalitionsvertrag. Da steht zum Beispiel, Deutschland wird neue Initiativen für Rüstungskontrolle und Abrüstung ergreifen. Wo, bitte schön, sind denn Ihre Initiativen? Ich sehe überall nur Aufrüstung: in Deutschland, in Europa, in der NATO.
({25})
Das ist eine völlig unglaubwürdige Politik, die Sie hier machen.
({26})
Wenn Herr Außenminister Heiko Maas von der SPD letzte Woche im „Spiegel“ schreibt, er möchte Abrüstung und Rüstungskontrolle und Deutschland bleibt Friedensmacht, dann frage ich mich: Wo leben Sie denn eigentlich, Herr Außenminister?
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Ja. – Diese Bundesregierung ist Rüstungsexportweltmeister, und sie will zur größten Militärmacht werden.
({0})
Wir werden uns mit vielen Menschen dagegenstellen, die letztes Wochenende übrigens auf die Straße für Abrüstung gegangen sind und gemeinsam mit den Gewerkschaften die Kampagne „Abrüsten statt aufrüsten“ gestartet haben.
({1})
Ich kann nur alle auffordern, sie zu unterstützen. Man kann dafür seine Unterschrift leisten unter http://abruesten.jetzt/ . Das ist die Botschaft.
Danke.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Jürgen Trittin.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich den Vorrednern lausche, muss ich sagen: Wir führen hier keine Debatte über die NATO. Man kann auch für die NATO sein, ohne für hemmungslose Aufrüstung zu sein.
({0})
Am kommenden Sonntag jährt sich zum 100. Mal das Ende des Ersten Weltkrieges – ein Krieg, in den mein Großvater noch gezogen ist
({1})
unter der Parole: Jeder Schuss ein Russ’. Jeder Stoß ein Franzos’. – Das ist etwas, was wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können. Und da muss es uns doch besorgen, dass im letzten Jahr die weltweiten Militärausgaben auf 1,74 Billionen Dollar angestiegen sind. Das ist doch das Problem, mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben.
({2})
Es muss uns doch besorgen, wenn die größte und stärkste Militärmacht der Welt – und das ist die NATO – bei dieser Aufrüstungsentwicklung an vorderer Front mitspielt. Das wird so ein bisschen kaschiert von Ihnen. Aber die Erklärung von Wales lautet ja: Wir wollen darauf abzielen, das zu erreichen.
({3})
Wissen Sie, was das heißt? Das hat ungefähr den rechtlichen Gehalt von der Zeile: „Danach lasst uns alle streben brüderlich mit Herz und Hand.“
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– Nein, das ist 2014 beschlossen worden.
Das Problem, das Sie daraus gemacht haben, ist, dass Sie aus einer unverbindlichen Absichtserklärung plötzlich eine bindende Haushaltsrichtlinie gemacht haben. Sie haben sich das zu eigen gemacht. Das hat überhaupt gar nichts mit Russland zu tun.
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Das war schlicht und ergreifend eine Antwort auf das Vorgehen des größten NATO-Zerstörers überhaupt, nämlich Donald Trump.
({6})
Um Donald Trump zu beschwichtigen, um einen Handelskrieg abzuwenden,
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haben sich Frau Merkel, die SPD und die CDU die allgemeine Absichtserklärung von Wales in der Interpretation Donald Trumps zu eigen gemacht, nämlich dass das die Beiträge zur NATO sind, die man zu leisten habe. In dieser Logik argumentieren Sie heute hier.
({8})
Wenn man dann über die Frage spricht, ob das überhaupt nötig ist – diese Frage muss ja beantwortet werden –,
({9})
müssen Sie doch auf das Argument eingehen: Wo ist die Fähigkeitslücke, die die NATO gegenüber Russland hat?
({10})
Die NATO gibt 14-mal so viel für Verteidigung aus wie Russland. Wenn man den Anteil der Amerikaner und der Kanadier rausrechnet, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass die europäischen NATO-Mitglieder dreimal so viel ausgeben wie Russland.
({11})
Das ist die Realität. Und wenn Sie dann immer noch glauben, dass eine Fähigkeitslücke vorhanden ist, dann sage ich Ihnen: Diese Fähigkeitslücke hat nicht mit mehr Geld zu tun, sondern damit, dass wir das Geld falsch ausgeben, Frau Ministerin.
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Man muss es an dieser Stelle sagen: Sie haben sich vorgenommen, den Rüstungsetat um ein Drittel zu erhöhen. Das haben Sie hier eben vorgetragen. Wenn Sie das 2‑Prozent-Ziel umsetzen, dann wird Deutschland alleine mehr für Rüstung ausgeben als Russland,
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mehr ausgeben als die Atommächte Großbritannien und Frankreich. Ich glaube, dieser Weg, auf dem wir uns hier bewegen, ist falsch.
({14})
In den letzten Tagen habe ich oft gelesen, warum CDU und SPD bei Wahlen so schlecht abschneiden. Als gemeinsame Erklärung gab es: Sie streiten zu viel. Darüber sollten Sie einmal nachdenken.
({15})
Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass Sie deswegen verlieren, weil es viele Punkte gibt, an denen Sie sich zu einig sind. Dies ist eines der Beispiele, wo Sie sich zu einig sind.
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Und erzählen Sie mir nicht, liebe Genossinnen und Genossen, dass ihr das 2‑Prozent-Ziel nicht mögt.
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Da lese ich aber anderes. Ich habe dieser Tage einen Aufsatz eures ehemaligen Außenministers gelesen, der gesagt hat: 1,5 Prozent sind gut, das machen wir auch – das ist das, was ihr in der Koalition beschlossen habt –, und dann nehmen wir noch einmal 0,5 Prozent und geben die in einen europäischen Verteidigungsfonds, dann ist man bei den 2 Prozent. – Ich sage: Da liegt euer Problem, dass ihr in diesen Fragen vor den Schwarzen einknickt und genau das macht, was sie vorher gesagt haben, nur mit fünf Jahren Verspätung.
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Ich glaube, dass das ganz schwierig wird. Wir hatten gestern eine Debatte zum Thema INF-Vertrag und werden dieses Thema auch gleich wieder debattieren. Das Außenministerium – das sozialdemokratisch geführte Außenministerium, Heiko Maas, SPD –
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weigert sich, öffentlich zu erklären, dass, wenn der INF-Vertrag aufgekündigt würde, die Bundesregierung keine Stationierung von nuklearen Waffen – hier: Mittelstreckenraketen – in Deutschland zulassen wird. Das wurde strikt verweigert. Ich sage Ihnen: Das ist nicht mehr 1918, das ist 1981, was da passiert. Die Sozialdemokratie hält fest an der nuklearen Teilhabe, sie weigert sich, auszuschließen, dass nukleare Mittelstreckenraketen hier stationiert werden sollen. Damit bewegen Sie sich wieder in der Helmut Schmidt’schen Logik der Abschreckung.
({20})
Und Abschreckung, das ist ein Konzept, das man auf Englisch zu Recht mit „MAD“ abkürzt; das ist nämlich die Bedrohung mit gegenseitigem Selbstmord. Wir alle haben gedacht, dass wir diesen Irrtum langsam überwunden hätten. Aber bei euch scheint das nicht der Fall zu sein.
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Vielen Dank, Herr Kollege Trittin. Es ist Ihnen gelungen, die Kollegin Strack-Zimmermann richtig in Wallung zu bringen. Das ist ja schon mal was. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Jens Lehmann, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf den NATO-Gipfeln in Wales und Warschau sind wir die Verpflichtung eingegangen, unsere Verteidigungsausgaben in den nächsten zehn Jahren in Richtung 2 Prozent des BIP zu steigern. An diesem Ziel wollen und werden wir festhalten.
Dafür gibt es gute Gründe. Angesichts der veränderten außenpolitischen und sicherheitspolitischen Lage in der Welt brauchen wir eine starke Bundeswehr mit der bestmöglichen Ausstattung und Ausrüstung – zum Schutz unserer Soldaten und unserer Sicherheit. Die Bundeswehr ist Teil der außenpolitischen Handlungsfähigkeit Deutschlands und wichtiger Grundpfeiler des Bündnisses. Wir haben den Anspruch, weltweit für Frieden und Freiheit zu sorgen. Diesem müssen wir in letzter Konsequenz auch mit militärischen Mitteln Gewicht verleihen. Nur so können wir glaubwürdig sein, glaubwürdig in den Augen der Bündnispartner, aber auch glaubwürdig in den Augen von Terroristen oder Aggressoren.
Seit der Wiedervereinigung wurde der Verteidigungshaushalt heruntergekürzt. Von rund 2,4 Prozent des BIP Anfang der 90er wurde der Etat bis Anfang 2000 mehr als halbiert, was mit dazu führte, dass 2002 auf dem NATO-Gipfel in Prag erstmals eine Vereinbarung über einen bestimmten Beitrag vom BIP getroffen wurde. Mit dem Ergebnis dieser Sparpolitik sind wir heute konfrontiert: Die Bundeswehr muss an allen Ecken und Enden knapsen und für größere Übungen oder Einsätze Material zusammenklauben. Unsere Soldatinnen und Soldaten machen es irgendwie möglich, das benötigte Material zur Verfügung zu haben, wie wir es zurzeit in Norwegen sehen. Das ehrt sie, aber es ist eine Mangelverwaltung und unwürdig für ein Land, das wirtschaftlich so gut dasteht wie Deutschland.
Meine Damen und Herren, für Frieden und Freiheit in der Welt einzutreten, bedeutet auch, Investitionen zu tätigen, zum einen in Entwicklungshilfe, zum anderen im militärischen Bereich, um deren Erfolg und den Schutz der Zivilbevölkerung langfristig zu sichern. Auch dies bekämpft Fluchtursachen.
Als Abgeordneter und letztendlich Verantwortlicher möchte ich keinen Soldaten der Bundeswehr mit mangelhafter Ausrüstung in einen Einsatz schicken. Ich möchte auch niemanden in einen Einsatz schicken, der vorher mit mangelhafter Ausrüstung ausgebildet wurde. Deshalb müssen wir eine auskömmliche Finanzierung sicherstellen. Indem die Bundesregierung den Verteidigungshaushalt deutlich erhöht hat, trägt sie diesem Erfordernis Rechnung. Das ermöglicht, hohle Strukturen aufzufüllen und die Ausrüstung unserer Streitkräfte auf einen normalen, einsatzbereiten Stand zu bringen.
Meine Damen und Herren, was wären die Folgen eines grundsätzlichen Abrückens vom 2‑Prozent-Ziel? Für mich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder haben wir eine Bundeswehr als Teil der NATO, die finanziell so aufgestellt ist, dass sie ihre Aufgaben erfüllen kann, oder Sie finden eine Mehrheit und schaffen die Bundeswehr ab und verteidigen unsere Werte allein mit der Friedenstaube in der Hand. Den Weg der Antragsteller einer mangelfinanzierten Bundeswehr auf Kosten der Sicherheit unserer Soldaten lehnen wir selbstverständlich ab.
Meine Damen und Herren, aufgrund der angespannten Situation – zum Beispiel in der Ukraine, in Nordafrika oder im Nahen und Mittleren Osten – kann kein Zweifel daran bestehen: Auf uns muss als Bündnispartner Verlass sein. Dazu gehört Planbarkeit bei den finanziellen Beiträgen im Sinne des 2‑Prozent-Ziels. Werte Antragsteller, auch Sie kommen doch in den Genuss des Schutzes von NATO und Bundeswehr und genießen Ihr Leben in Frieden und Freiheit.
({0})
Oder wie gedenken Sie, den Staaten im Baltikum oder den gepeinigten Menschen beizustehen, die unter gewalttätigen Regimen leiden? Die jetzt beschlossene deutliche Steigerung des Verteidigungshaushaltes ist der richtige Weg, zunächst auf 1,5 Prozent des BIP bis 2024, wie es die Bundeskanzlerin zugesichert hat.
({1})
– Zunächst. – Damit machen wir unsere Hausaufgaben für das Wohl unserer Soldaten, unserer Bevölkerung und für das Gelingen der Zusammenarbeit in der NATO. Werte Kollegen der Linken, es stünde Ihnen gut zu Gesicht, Ihre ideologischen Grabenkämpfe nicht länger auf dem Rücken unserer Soldaten auszutragen.
({2})
Deutschland ist ein verlässlicher Bündnispartner. Gemäß ihrem politischen Gewicht und als eine der wirtschaftlich stärksten Nationen muss die Bundesrepublik am Weg zum 2‑Prozent-Ziel festhalten. Deshalb lehnt meine Fraktion Ihren Antrag ab.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Gerold Otten, AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag der Linken ist überflüssig, weil es sich beim 2-Prozent-Ziel nicht um eine rechtlich verbindliche Verpflichtung handelt, sondern um eine politische Willenserklärung aller NATO-Staaten, den Verteidigungsausgaben endlich wieder mehr Bedeutung beizumessen.
Ein Blick zurück in die Entstehungsgeschichte dieser Absichtserklärung zeigt aber auch interessante Aspekte in Bezug auf das Erinnerungsvermögen der daran beteiligten Parteien. Es war nämlich SPD-Verteidigungsminister Struck, der bereits 2002 in Prag einer unverbindlichen Erklärung zustimmte, dass 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts für die Verteidigung aufzuwenden sind. Außenminister war damals übrigens der Grüne Joschka Fischer.
({0})
Zwölf Jahre später in Wales war es dann SPD-Außenminister Steinmeier, der das 2-Prozent-Ziel mitunterzeichnete. Aus dem 2-Prozent-Ziel sind nun dank der Querelen in der Bundesregierung gerade noch 1,5 Prozent geworden, und die auch erst in 2024, wobei es mehr als fraglich ist, ob diese Quote dann überhaupt erreicht wird.
Betrachtet man die Änderungsanträge der Linken zum Einzelplan 14, dann wird deutlich, was Sie eigentlich anstreben: Sie wollen keine Bundeswehr, Sie wollen auch aus der NATO austreten. Das sind Ihre realitätsfernen Motive.
({1})
Es geht Linken und Grünen in ihrer Ideologie auch gar nicht um Realität. Ihre Vision vom universellen Frieden wollen Sie durch verordnete Abschaffung von Rüstungsausgaben erreichen. Das ist aber angesichts der Verhältnisse völlige Realitätsverweigerung.
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Solange auf dieser Welt Kräfte existieren, die unsere Art, zu leben, zutiefst verachten und bekämpfen, müssen wir in der Lage sein, uns zu verteidigen. Das sind die Realitäten.
Dabei sind Linke und Grüne scheinheilig. Sie verachten den Wert von Staatlichkeit in Form einer Armee, profitieren aber gleichzeitig von der Sicherheit, die ihnen der organisierte Staat gewährt; denn ohne Sicherheit kann kein politisches Gemeinwesen existieren.
({3})
Beim vieldiskutierten 2-Prozent-Ziel geht es aber auch gar nicht um Auf rüstung, sondern es geht um Aus rüstung; denn welche Mittel nötig sind, die Bundeswehr wieder in die Lage zu versetzen, ihren verfassungsmäßigen Auftrag zu erfüllen, nämlich den der Verteidigung, wird nicht am Erreichen der 2-Prozent-Zielmarke gemessen, sondern das wird im Fähigkeitsprofil der Bundeswehr definiert.
Mit dem aktuellen Mittelansatz im Haushaltsjahr 2019 sowie der mittelfristigen Finanzplanung sind aber weder die geplanten Zwischenschritte in 2023 bzw. 2027 noch die Umsetzung der nationalen Ambitionen 2032 zu erreichen. Schon in diesem Jahr klafft eine deutliche Lücke zwischen geplanten und notwendigen Ausgaben. Dieser Fehlbetrag wird von Jahr zu Jahr größer. Allein der Investitionsstau bei der Beschaffung von Munition beläuft sich heute bereits auf mehr als 20 Milliarden Euro.
Dank des Fähigkeitsprofils der Bundeswehr kennen wir die notwendigen Kosten für die Auffüllung der hohlen Strukturen der Streitkräfte. Die Bundesregierung hält sich aber aus Rücksicht auf die SPD auch hier nicht an ihre eigenen Planungen und Vorgaben. Die AfD hat in den Haushaltsberatungen mehrfach darauf hingewiesen und entsprechende Anpassungen vorgeschlagen – leider erfolglos.
({4})
Das ist insofern bemerkenswert, als die Union damit gegen die eigenen Berechnungen des Verteidigungsministeriums stimmte, das ja bekanntermaßen von einer CDU-Ministerin geleitet wird – wobei Leitung in dem Fall eher fraglich sein dürfte.
({5})
Ich fasse kurz zusammen: Der Antrag der Linken ist nicht nur unnötig, substanzlos und ideologiebasiert, sondern gleicht auch einer außenpolitischen Geisterfahrt. Deutschland würde damit bei den NATO-Partnern unberechenbar werden wie ein unsicherer Kantonist.
Meine Damen und Herren, die AfD ist die Partei der Sicherheit,
({6})
ohne die politische Freiheit nur ein sinnentleerter Begriff ist.
({7})
Unsere Richtschnur in Fragen der Sicherheit ist die der Realpolitik. Wir lehnen daher den unsinnigen und ideologiegetriebenen Antrag der Linken ab und stimmen der vorliegenden Beschlussempfehlung zu.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank. – Schönen guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die nächste Rednerin: Siemtje Möller für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Am Wochenende konnte ich als eine der wenigen Abgeordneten – neben anderen aus der CDU- und SPD-Fraktion, namentlich die Kollegen Hitschler und Oswin Veith; Herr Albani war, glaube ich, auch da – bei meinem Besuch der NATO-Übung „Trident Juncture“ live erleben, was es heißt, gemeinsam in einem Bündnis zu verteidigen.
Vor Ort, bei den Soldatinnen und Soldaten der 1. Panzerdivision, bei den Sanitätseinheiten und vor allen Dingen bei den Logistikeinheiten, habe ich erlebt, wie gemeinsame Verteidigung funktionieren kann, sollte und – ja – auch, warum sie nötig und zweckmäßig ist.
Warum also ist Verteidigung innerhalb eines Bündnisses heute nötig und zweckmäßig? Sicher, die Kritik an der NATO ist legitim, auch das Betonen der Reformnotwendigkeit und das Befragen, wohin die Reise mit der NATO gehen soll. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass die Welt sich verändert hat und wir uns an diese Veränderungen anpassen müssen – innerhalb gemeinsamer Bündnisse.
Es ist bestimmt sogar so, dass auch unser sogenannter Westen nicht fehlerlos war und ist. Dennoch ist die Welt im Umbruch, und auf uns allein gestellt, wären wir den Bedrohungen nicht gewachsen.
({0})
Noch dazu ist es Teil unseres Staatsverständnisses, über Bündnisse, also über Freunde in der Not, mehr Sicherheit für unser Land herzustellen. Denn nur, wer über verlässliche Partnerschaften tiefe Beziehungen zu anderen Ländern aufbaut, kann den Frieden bewahren.
({1})
Es ist daher vollkommen richtig, aktiver Teil der NATO zu sein und innerhalb der NATO Teil der Strukturen, der Kommandostäbe zu sein und einen Teil der Verantwortung zu tragen.
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Bei der beeindruckenden NATO-Übung „Trident Juncture“ wurde mir aber auch klar: So etwas haben wir seit vielen Jahren, seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht. Gemeinsame Verteidigung kann man nicht einfach festschreiben und dann nie üben. Erst in der Praxis kann man feststellen, welche Defizite es gibt – wie sie sich auch immer wieder zeigen: bei der bisherigen Struktur, Probleme mit dem Material, Probleme bei der Ersatzteillage. Die mangelhafte Ersatzteillage kommt nicht nur zu Hause bei jedem Besuch zur Sprache, sondern zeigt sich auch im Übungsbetrieb und im Grundbetrieb in Deutschland immer wieder. Und ja, auch in den Einsätzen zeigt sie sich. Vor allem diese mangelhafte Ersatzteillage ist über die Maßen strapaziert worden.
In der Praxis vor Ort in Norwegen hat sich auch gezeigt, welche Veränderungen wir jetzt, wo Landes- und Bündnisverteidigung als Auftrag wieder zum Tragen kommen, durchlaufen müssen.
Diesen Herausforderungen lässt sich nicht – „nur“, muss ich dazu sagen – mit mehr Geld begegnen. Davon bin ich überzeugt, lieber Jürgen Trittin; das werden Sie aus unserer Fraktion auch nicht anders hören. Sie lassen sich meistern durch die Verbesserung der Prozesse: in der Planung, in der Strukturierung und vor allen Dingen in der Beschaffung, im Zusammenwirken zwischen Industrie, militärischer Expertise und Verwaltung.
Tatsächlich ist dies auch das, was ich im Gespräch mit den Amerikanern, wenn man in eine tiefer gehende Diskussion einsteigt, immer wieder höre: Es geht um Fähigkeiten, um Materialbeiträge, nicht um abstrakte Zahlen, die von den eigentlichen Forderungen nach verlässlichen Beiträgen und auch den eigentlichen Problemen, die es zu beheben gilt, ablenken.
({3})
Mir ist es wichtiger, dass Deutschland durch mehr Verantwortung in der Sicherheitspolitik wahrgenommen wird – und nicht, weil wir viel Geld ausgeben. Unser Ziel muss es sein, die Bundeswehr gut aufzustellen. Wir müssen in unseren Bündnissen unsere Beiträge leisten, ja; denn nur gemeinsam mit unseren Bündnispartnern können wir Teil einer schlagkräftigen Sicherheitsstruktur sein. Um hier erfolgreich zu sein, müssen wir unsere Prozesse, vor allen Dingen die Beschaffungsprozesse, reformieren.
Ich möchte einen Teil meiner Redezeit jetzt noch auf den Kommentar zum INF-Vertrag verwenden. Lieber Jürgen Trittin, Heiko Maas tut alles, damit der INF-Vertrag erhalten bleibt. Ich betone das: Er tut alles dafür, damit es nicht zu einer Stationierungsdebatte kommt, die Sie hier jetzt recht mutwillig herbeiführen wollen.
({4})
Der Antrag der Linken ist meiner Meinung nach abzulehnen, weil er der Vielschichtigkeit der Thematik nicht gerecht wird, was ich ausreichend ausgeführt habe.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Möller. – Nächster Redner in der Debatte: Dr. Marcus Faber für die FDP-Fraktion.
({0})
– Das muss man uns körpersprachlich mitteilen.
({1})
– Das machen wir nach Herrn Faber. Jetzt ist Dr. Faber an der Reihe, und dann gibt es eine Kurzintervention. – Herr Dr. Faber, bitte.
Sie können gerne nach mir alle eine Kurzintervention vornehmen. – Frau Hänsel, Sie wollte ich sowieso gerade noch mal ansprechen. Ich habe mich schon sehr gewundert: Sie sprechen hier in diesem Haus von einer Märchenstunde, dabei ist es doch Ihre Fraktion, die diesen Antrag auf die Tagesordnung gesetzt hat.
({0})
Diese Märchenstunde habe ich bisher auch nur bei Ihnen gesehen; denn Sie sprechen von dem Respekt für die territoriale Integrität der Staaten; das ist gut, da bin ich völlig bei Ihnen.
({1})
Aber ich habe von Ihnen recht wenig zur territorialen Integrität Georgiens gehört
({2})
oder zur territorialen Integrität der Ukraine.
Ich sage Ihnen eins: Ich war vor zwei Wochen in Litauen zusammen mit General Vollmer, unserem Inspekteur des Heeres. Wenn Sie mit den Litauern sprechen, stellen Sie fest: Für sie ist Sicherheit nichts Selbstverständliches, auch nichts Abstraktes. Sie fühlen sich als ein Land mit 2,5 Millionen Einwohnern von ihrem größten Nachbarn konkret bedroht. Sie sind sehr froh, dass sie Mitglied der NATO sind und dass wir dort vor Ort sind.
({3})
Wir als Deutschland haben mit dieser Bundesregierung in dieser Parteienkonstellation 2014 die Zusage gemacht, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Diese Zusage hat diese Bundesregierung 2016 wiederholt. Wir haben jetzt das Jahr 2018, und jetzt soll das nicht mehr gelten. Jetzt spricht die Bundesregierung von Ausgaben in Höhe von 1,5 Prozent des BIP für Verteidigung. Das müsste Ihnen von der Linken eigentlich entgegenkommen. Mich hingegen wundert das sehr; denn die anderen 28 NATO-Staaten arbeiten darauf hin, 2 Prozent ihres BIPs für Verteidigung auszugeben.
({4})
Der 29. NATO-Staat, Deutschland, die größte Volkswirtschaft in Europa, sagt: Nein, 1,5 Prozent sind irgendwie auch 2 Prozent. – Das sind sie aber eben nicht.
Frau von der Leyen, stellen Sie sich nur eine Minute lang vor, Sie würden zusammen mit Herrn Scholz ein Haus bauen wollen, und Sie verabreden, jedes Jahr jeweils 500 Euro zur Seite zu packen, damit Sie in zehn Jahren ein Haus haben.
({5})
Nach vier Jahren kommt Herr Scholz zu Ihnen und sagt: Frau von der Leyen, es ist gut, dass Sie das machen; aber ich packe nur 300 Euro zur Seite. – Das würden Sie wahrscheinlich nicht so gut finden. Nach zehn Jahren hätten Sie dann auch nicht dieses Haus, das Sie zusammen bauen wollten, sondern Sie hätten vielleicht ein Haus ohne Dach. Dann würde es reinregnen. Wir als Freie Demokraten wollen, dass die NATO ein stabiles Haus ist, in das es nicht reinregnet.
({6})
Deswegen stehen wir zum 2-Prozent-Ziel der NATO. Wir würden uns wünschen, dass diese Bundesregierung das auch täte; denn Deutschland muss ein verlässlicher Partner in Europa sein. Wir müssen die Bundeswehr ausrüsten; darum geht es. Die hohlen Strukturen der Bundeswehr sind zu füllen.
Dazu stehen wir als Freie Demokraten. Wir wollen 3 Prozent des BIP für vernetzte Sicherheit ausgeben, 2 Prozent für Verteidigung, 0,7 Prozent für Entwicklungshilfe, und wir wollen auch in die diplomatischen Beziehungen investieren. Deswegen lehnen wir den Antrag der Linksfraktion ab.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Dr. Faber. – Weil der Kollege Faber schon am Pult stand, wollte ich ihn nicht zurückschicken. Deswegen kommen jetzt die Kurzinterventionen von Jürgen Trittin und von Frau Hänsel. – Frau Möller, die Kurzinterventionen beziehen sich auf Ihre Rede. Sie haben im Anschluss selbstverständlich die Möglichkeit, zu antworten. – Jürgen Trittin, bitte.
Liebe Frau Möller, ich habe mich zu der Kurzintervention gemeldet, weil Sie mit Ihrer Rede schon fertig waren. Sonst hätte ich Sie gefragt.
Ich darf Ihnen und werde Ihnen nicht sagen, was gestern zumal in geheimer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses diskutiert wurde. Auf der Tagesordnung stand die Frage: Wie geht die Bundesrepublik Deutschland mit der Aufkündigung des INF-Vertrages oder einer möglichen Suspendierung um? In diesem Zusammenhang kann ich aus den Äußerungen insgesamt – ich würde mich freuen, wenn ich Unrecht behielte – nur die Schlussfolgerung ziehen, dass das sozialdemokratisch geführte Bundesaußenministerium die Aussage, dass es eine Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa ablehnt, bisher verweigert, weil Sie von der SPD das wohl nicht für klug halten.
({0})
Das ist die Sache. Darauf habe ich hingewiesen.
Ich gelte in meiner Partei ja gelegentlich als rot-grünes Fossil.
({1})
– Die Bezeichnung „Fossil“ ehrt einen.
({2})
Daher werden Sie mir verzeihen, wenn ich sage, dass ich darüber erschrocken bin – ich bedauere ausdrücklich, dass ich das sagen muss –, dass die Sozialdemokratie in Deutschland aus der Debatte der 80er-Jahre über die Nachrüstung und die Unlogik der Abschreckung so wenig gelernt hat, dass sie sich in dieser Frage bisher nicht positioniert hat, jedenfalls nicht in Person des Bundesaußenministers.
({3})
Vielen Dank, Jürgen Trittin. – Jetzt Frau Hänsel. – Frau Möller, Sie haben dann nachher ein bisschen mehr Zeit für die Antwort. – Frau Hänsel, bitte kurz.
Ja, danke schön. – Ich wollte bei der SPD-Kollegin einfach noch mal nachfragen. Wir haben den Antrag gestellt, das 2-Prozent-Ziel abzulehnen. Im Wahlkampf haben Sie immer gesagt, Sie lehnen dieses 2-Prozent-Ziel ab. Wenn man Andrea Nahles heute fragt, sagt sie, sie lehnt es ab. Auch Sigmar Gabriel lehnt es ab usw. Aber Sie sind auf dem Pfad dahin. Sie machen eine totale Aufrüstungspolitik. Dabei haben Sie in Ihrem Koalitionsvertrag festgehalten: Wir sind für Abrüstung; Deutschland braucht Abrüstungsinitiativen. Deshalb meine Frage: Wo sind Ihre Abrüstungsinitiativen? Können Sie mir Beispiele nennen, wo Sie sich für Abrüstung einsetzen? Und wie verhalten Sie sich jetzt konkret in der Abstimmung über das 2-Prozent-NATO-Aufrüstungsziel?
Vielen Dank. – Jetzt Frau Möller, bitte schön.
Lieber Jürgen Trittin, Sie haben gerade eigentlich das wiederholt, was Sie schon in Ihrem Redebeitrag gesagt haben. Ich möchte dazu genau dasselbe sagen, was ich auch in der Debatte über Syrien und eine mögliche Beteiligung der Bundeswehr gesagt habe: Wir sind da noch nicht. Es gilt, alles zu tun, damit dieser Zustand nicht eintritt. Und genau das tut Heiko Maas.
({0})
Wir reden doch keine Stationierungsdebatte herbei, sondern wir sagen: Wir sind da noch nicht, und wir tun alles, damit der Vertrag erhalten bleibt. Sie können es mir glauben – ich weiß, dass das bei Heiko Maas in guten Händen ist –: Wir tun alles dafür!
({1})
Liebe Frau Hänsel, vielen Dank für diese Frage. Ich habe es in meinem Redebeitrag deutlich gesagt: Wir werden den Antrag ablehnen, weil er der Thematik und der Komplexität dieser Diskussion nicht gerecht wird. Wir haben immer gesagt: Wir lehnen das 2-Prozent-Ziel in dieser Abstraktion ab.
({2})
Dazu stehe ich. Sie haben die Formulierung „2 Prozent“ in meinem Redebeitrag nicht gehört, weil ich sie bewusst nicht benutzt habe, weil ich die Diskussion für eine vorgeschobene halte, weil sie am eigentlichen Ziel vorbeigeht.
({3})
Das Ziel muss sein, eine gut ausgerüstete, gut ausgebildete Bundeswehr zu haben mit Strukturen und Prozessen dahinter, sodass es funktioniert und wir unsere gut ausgebildeten Soldatinnen und Soldaten guten Gewissens in einen Einsatz schicken können. Über abstrakte Zahlen zu sprechen, behebt das Problem nicht. Aber Ihr Antrag behebt das Problem auch nicht, und deswegen lehnen wir diesen Antrag ab.
Vielen Dank, Frau Möller. – Nächste Rednerin: Karin Strenz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern habe ich wieder eine Besuchergruppe aus meinem Wahlkreis empfangen. Wann immer Besuchergruppen da sind, zieht sich ein Thema wie ein roter Faden durch die Unterhaltungen: Sicherheit. Sicherheit war noch vor Jahren etwas scheinbar Selbstverständliches. Das Thema wurde oftmals furchtbar müde belächelt. Heute ist das ein Thema, welches die Gemüter erhitzt und ganz reale Sorgen um das Heute und auch das Morgen markiert. Ich meine, zu Recht.
Angesichts der vielen Konflikte in unserer Welt, die durch die Medienberichterstattung schon morgens am Frühstückstisch in die Küchen flimmern, im Auto aus dem Radio schallen, die ersten Seiten unserer Zeitungen zieren und als Eilmeldungen die Displays unserer Handys verstopfen, sind wir alle heute sensibler. All das hat dem Wort „Sicherheit“ endlich wieder die wahre Bedeutung zurückgegeben. Friedlich und frei leben, jetzt und auch in den kommenden Generationen, ist endlich wieder ein Thema.
Es ist unsere Verpflichtung als Parlament, für die Bürgerinnen und Bürger die bestmögliche Sicherheitsstruktur zu schaffen. Das Wie müssen wir allerdings verständlich erklären und darum werben, dass unsere Idee von Sicherheit auch vom Souverän mitgetragen wird. Das ist nicht immer leicht oder einfach, aber unumgänglich und notwendig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, in Ihrem Antrag vermisse ich leider genau diesen Aspekt, der in meinen Augen ein elementarer Bestandteil unseres täglichen Miteinanders ist. Gewissermaßen bleiben Sie sich treu, indem Sie jedwede militärische Maßnahme konsequent ablehnen, Herr Dr. Neu. Damit suggerieren Sie, dass ausschließlich mit den Instrumenten der Entwicklungshilfe und der Diplomatie sich die Welt zum Besseren wenden lassen würde. Das tut sie aber nicht. Ich wünschte, es wäre so. Das ist auch einer der Gründe, warum wir hier nach den Debatten über Mandatierungen namentlich abstimmen: Damit in der Bevölkerung jeder weiß, wer wo steht. Das ist ein Zeichen der Transparenz, und das halte ich für ausgesprochen wichtig.
Aber wir Politiker müssen bei Entscheidungen auch klare Antworten geben. Wir müssen mit Sinn und Verstand erklären und klar definierte Ziele erkennen und festlegen. Das verlangen nicht nur unsere Bürger, sondern auch die Truppe und ihre Angehörigen. Nicht immer hat man – jetzt rede ich von mir persönlich – bei solchen Entscheidungen Flugzeuge im Bauch, sondern hin und wieder schlägt einem eine solche Entscheidung auch kräftig auf den Magen. Dennoch ist es für unsere Bundeswehr wichtig, dass wir mit großer Mehrheit entscheiden, da die Soldatinnen und Soldaten täglich für uns Gesundheit und Leben aufs Spiel setzen. Also gebührt ihnen ganz besonders großer Respekt vor ihrer Leistung, und sie verdienen das größte Maß an Sicherheit bei der Ausübung ihrer Tätigkeit für uns.
({0})
Wie gewährleisten wir das? Durch die – das klingt etwas abstrakt; das wurde schon gesagt – schrittweise Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf bis zu 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis zum Jahr 2024.
Aber ein Wort zur Genese. Der damalige Außenminister – Klammer auf: SPD; Klammer zu – und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat an genau dem NATO-Gipfel 2014 in Wales teilgenommen, hat die Umsetzung der Beschlüsse zu diesem Ziel mit vorbereitet und unterstützt. Zitat Steinmeier aus der „Welt“ vom 16. Juni 2017: „Deutschland muss seine militärischen Fähigkeiten stärken.“ Das mag in der SPD nicht jeder so gesehen haben – sieht es auch heute noch nicht – und erklärt möglicherweise die angezogene Handbremse des sozialdemokratischen Finanzministers.
Es gibt aber keine Alternative zur Einhaltung von internationalen Vereinbarungen. Alles andere wäre ein Bruch, der Verlust von Glaubwürdigkeit und ein irreparabler Anflug von Beliebigkeit, den wir uns als Bundesrepublik Deutschland in einer so fragilen Welt wie der heutigen nicht leisten sollten; denn mehr Konflikte bedeuten auch mehr Engagement, und zwar auf mehreren Ebenen. Der vernetzte Ansatz beschreibt das sehr gut. Deshalb müssen wir mehr investieren. Die Frage nach der Notwendigkeit stellt sich für meine Fraktion überhaupt nicht.
({1})
Ein Wort zu PESCO und der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das Wir in Europa gefällt mir dabei am allerbesten. Es ist auch eine Form der Emanzipation. Frau Strack-Zimmermann, ich meine gar nicht, wir seien schon aus den Kinderschuhen rausgewachsen. Ich glaube, damit fangen wir erst richtig an. Das Wir, das Ziel dieser Maßnahme, bedeutet Vernetzung, Aufbau und gleiche Standards; Standards bei Material, Ausrüstung und Ausbildung. Unsere Bundeswehr muss in die Lage versetzt werden und auch in der Lage sein, jederzeit und bestmöglich auf unterschiedliche Verantwortlichkeiten zu reagieren.
Gut beraten ist die Gemeinschaft, wenn jedes NATO-Mitglied seine eigenen Fähigkeiten steigert, um die NATO in ihrer Gesamtheit zu stärken. Ich möchte an dieser Stelle einen großen Dank an unsere Bundeswehr aussprechen; denn mein Eindruck vor Ort im Wahlkreis hat sich bestätigt: Die Truppe ist hochmotiviert. Sie verrichtet ihren Dienst für unser Land aus Überzeugung, auch unter nicht optimalen Umständen.
({2})
Deshalb muss mit den steigenden Anforderungen im Zuge der sicherheitspolitischen Gefährdung auch ein personeller und materieller Anstieg einhergehen. Das muss unser Ziel sein. Die Union unterstützt die verantwortungsvolle Haltung der Bundesregierung und will in Zukunft dann auch die Umsetzung der 2-Prozent-Vereinbarung.
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich bin gleich fertig.
Nein, nicht gleich, sondern schnell.
Ich bin sofort fertig.
Sofort.
Das ist ein Versprechen im Sinne der Sicherheit. – Noch ein einziger Satz zu Frau Hänsel. Natürlich gibt es wichtige, sehr wichtige Ziele. Aber ich glaube, keines können wir ohne Sicherheit im Land umsetzen.
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Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Da wir weit hinter unserem Zeitplan sind, bitte ich Sie: Halten Sie sich an die Redezeiten.
Die Kolleginnen und Kollegen möchte ich darauf hinweisen, dass wir gerade eine Bundestagsdebatte führen. Es ist schon bemerkenswert, dass viele Kollegen nicht einmal ihren eigenen Fraktionskollegen zuhören, sondern andere Gespräche führen. Diese mögen ja interessant sein. Aber wir hier oben sind der Meinung, dass wir dann einfach die Sitzung unterbrechen, bis Sie Ihre Gespräche beendet haben.
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Das gilt hier für die Mitte der CDU/CSU-Fraktion. Das gilt ebenso für da hinten: Auch die Weinbauern sind heftig dabei.
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Das gilt auch für SPD und Linke.
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– Doch, ich habe gesehen, wer dabei war, zum Beispiel Herr Heil. Ich würde Herrn Heil jetzt nicht unbedingt zur Linken zählen.
Nächster Redner in der Debatte: Dr. Karl-Heinz Brunner aus Illertissen für die SPD-Fraktion.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Wenn ich am kommenden Samstag wieder in meinem Wahlkreis bin und auf dem Wochenmarkt mit den Menschen über dieses Thema und die heutige Debatte spreche, dann kann ich sogar verstehen, wenn sie zu mir sagen: Was macht ihr denn da überhaupt? Über was redet ihr denn da? Was ist das überhaupt für eine Diskussion? – Diese Diskussion ist heute in manchem Bereich absolut absurd.
Ich sage das, liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade deshalb, weil mit großer Hingabe vom 2-Prozent-Ziel gesprochen wird und offensichtlich der eine oder andere überhaupt nicht weiß, wovon er redet. Deshalb möchte ich gerne das Beispiel des Kollegen Faber aufnehmen, um ein bisschen Wahrheit reinzubringen.
Richtig ist es, dass dann, wenn man sich gegenseitig verspricht: „Jeder gibt 500 Euro“, jeder dann auch diese 500 Euro gibt. Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden gegenüber Ihrer Bank folgendes Versprechen im Rahmen der Finanzierung Ihres Hauses geben: Ich zahle das Darlehen immer nur in Raten in Höhe von 2 Prozent meines Einkommens ab. – Was würde diese Bank sagen, wenn Sie kein Einkommen mehr haben und nichts mehr zum Ausgeben da ist?
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Daher würde die Bank Ihren Vorschlag ganz schnell ablehnen, und die Angelegenheit wäre erledigt.
Warum sage ich das, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren? Weil es 2 Prozent von irgendetwas nicht gibt. Das Bruttoinlandsprodukt kann nach oben und kann auch deutlich nach unten gehen.
Ich erinnere mich sehr gut an den Chart von Verteidigungsministerin von der Leyen: Die Verteidigungsausgaben waren im Jahr 2008 prozentual am höchsten, weil es diesem Land damals am schlechtesten ging. Seien wir doch glücklich darüber, dass wir derzeit ein hohes Bruttoinlandsprodukt haben, das es uns ermöglicht, nahe an 1,5 Prozent bei den Ausgaben für die Verteidigung zu kommen, das es uns ermöglicht, auch die ODA-Quote zu erhöhen, das es uns ermöglicht, das zu erledigen, was wir erledigen müssen, nämlich unseren Soldatinnen und Soldaten Material zur Verfügung zu stellen, Ausrüstung auf den Hof zu stellen und nicht wie beim A400M immer nur nachzubessern, sondern den Auftrag im Land und im Bündnis ordnungsgemäß zu erledigen. Ich glaube, das hat die Koalition, das haben wir Sozialdemokraten sauber hingekriegt. Das haben wir geliefert, und das ist wirklich gut für dieses Land und für die Sicherheit Deutschlands.
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Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich halte die 2-Prozent-Debatte auch deswegen für vollkommen absurd, da ich trotz aller gut gemeinten Papiere aus dem Verteidigungsministerium – das Weißbuch, die Konzeption der Bundeswehr, um nur einige zu nennen – immer nur feststelle, was uns fehlt, nämlich die Antwort auf eine entscheidende Frage in diesem Land. Die Frage ist: Was will Deutschland sicherheitspolitisch eigentlich?
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Wo sind unsere politischen Interessen? Wo sind unsere technologischen Interessen? Wo sind unsere standortpolitischen Interessen? Wo sind die verteidigungspolitischen Interessen Deutschlands? Wo wollen wir hin? Ich sage ganz deutlich: in eine friedliche Zukunft. Aber wir müssen das definieren. Andere Länder, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bezeichnen dies als nationale Sicherheitsstrategie.
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Mir ist es egal, wie wir sie bezeichnen. Aber wir brauchen sie in diesem Land. Wir brauchen diese Debatte darüber mit der Bevölkerung, mit dem Parlament. Wir müssen sprechen und debattieren, um festzuschreiben, wo es in diesem Land sicherheitspolitisch hingeht. Ich glaube, dazu sind wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, nicht nur aufgerufen. Das ist unsere Pflicht und Schuldigkeit.
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Das müssen wir mit aller Transparenz in diesem Land, in einer großen Demokratie, erreichen.
Wenn dazu die heutige Debatte gedient hat, spreche ich gerne über 1,5 Prozent, über 1,7 Prozent oder über 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn wir aber nur über Prozentzahlen sprechen, dann halte ich die Debatte für müßig, bedanke mich jetzt aber trotzdem recht herzlich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Karl-Heinz Brunner. – Nächster Redner: Mario Mieruch.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Thema „2 Prozent Rüstungsausgaben“: Von links wird auf den Emotionsknopf gedrückt und erklärt, dass die deutschen Rüstungsausgaben damit die höchsten auf dem europäischen Kontinent wären. – Sie haben recht. Das entspricht – simple Prozentrechnung nach Mathematik in Klasse 7 – dem Anteil der größten Volkswirtschaft, die wir nun einmal sind.
Aber wir wollen nicht über Prozentrechnung sprechen, sondern über die Wurzeln dieser 2-Prozent-Klausel. Diese liegen nicht in Wales oder in Warschau, sondern sie liegen bei der damaligen NATO-Erweiterung im Jahr 2002. Der Anspruch, mit dem wir damals an Aufnahmeaspiranten herangetreten sind, war, dass die neuen Länder nur beitreten können, wenn sie einen signifikanten militärischen Beitrag leisten. Das heißt aber natürlich auch, dass sich die bisherigen NATO-Mitglieder tunlichst an ihre eigenen Regeln halten sollten. Eigentlich traurig, dass man so etwas überhaupt erwähnen muss. Aber in der letzten Zeit gewinnt man immer öfter den Eindruck, dass wir es mit Regeln und Verträgen nur noch dann haben, wenn wir sie anderen vorhalten können.
So werfen wir den Griechen zum Beispiel immer wieder den Verstoß gegen EU-Verträge vor. Aber im Gegensatz zu Deutschland hält Griechenland seine NATO-Verpflichtungen ein.
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Auch so ein kleines Land wie Estland übererfüllt mit 2,4 Prozent die NATO-Forderung. Dagegen sind unsere 1,5 Prozent, auf die man sich irgendwann einmal geeinigt hat, leider ein Armutszeugnis.
Wir haben die Bundeswehr jahrelang systematisch kaputtgespart und sind selber schuld, wenn es jetzt teuer wird. Ich habe Mitte der 90er-Jahre, als ich selber gedient habe, die Mangelverwaltung erleben müssen. Wer billig kauft, kauft zweimal; das weiß oben auf den Tribünen jeder.
Selbst wenn wir den NATO-Beschluss nur als Richtlinie auffassen, muss man doch einsehen, dass dieses Rüstungsziel für uns erstrebenswert ist. Denn Trump hat deutlich gemacht, dass amerikanische NATO-Truppen kein Geschenk sind. Sie sind im wahrsten Sinne ein Deal. Die Stabilität Europas erhalten am Ende nicht nur Wirtschaftsvereinbarungen, sondern auch – so weh das dem einen oder anderen tun mag – amerikanische Truppen. Wir reden oft von der Verantwortung Deutschlands in der Welt, von der Verlässlichkeit Deutschlands als Partner. Heute können wir zeigen, dass wir dieser nachkommen. Daher lehnt die blaue Partei den Antrag der Linken ab.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Mieruch. – Der letzte Redner in dieser Debatte, dem Sie jetzt bitte Ihr Gehör schenken, ist Eckhard Gnodtke für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Nach 37 Milliarden Euro im Jahr 2017 und 38,5 Milliarden Euro im Jahr 2018 wird der Verteidigungsetat im Jahr 2019 bei 42,9 Milliarden Euro liegen. Der Etat wird sich 2019 insoweit gegenüber 2018 um 11,2 Prozent erhöhen. Damit bewegen wir uns zwar immer noch nicht so massiv auf das für 2024 gesteckte Ziel zu, wie wir uns das erhofft hatten. Die Eckdaten des Verteidigungshaushalts 2019 machen jedoch einen großen Schritt hierzu aus. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die in der NATO zusammengeschlossenen Länder handlungs- und verteidigungsfähig sein und bleiben müssen, eben weil es um die Fähigkeit zur Verteidigung des eigenen Landes im Bündnis – und es geht nur im Bündnis – geht.
Deutschland wiederum ist in den Verteidigungsplanungen der NATO fest verankert und geht damit politisch verbindliche Verpflichtungen ein. Grundlage der Planungen der NATO sind zunächst einmal – Sie kennen das – die NATO-Fähigkeitsziele. Bricht man diese NATO-Fähigkeitsziele auf unsere nationalen Belange herunter, so kommt man sehr schnell zum Fähigkeitsprofil der Bundeswehr 2018. Aus den veröffentlichten Grundzügen dieses Fähigkeitsprofils geht hervor, dass eine Entwicklung des Fähigkeitsprofils in drei Zwischenschritten, nämlich über die Jahre 2023 über 2027 bis 2031, Folgendes vorsieht – ich nenne nur die wichtigsten Punkte –: Bis 2023 legt das Fähigkeitsprofil den Schwerpunkt auf die Aufgaben Deutschlands als Rahmennation der NATO-Speerspitze – VGTF –, für die Deutschland eine vollausgestattete Brigade stellen muss. Im Zusammenhang zum Beispiel mit der Ausrüstung dieser Brigade – ich denke aber auch an die NATO-Übung in Norwegen – muss es darum gehen, mit dem zusätzlich benötigten Geld sogenannte hohle Strukturen zu füllen. Das heißt, das Ausleihen von Großgerät zwischen den Verbänden mit dem damit verbundenen Earmarking muss auf mittlere Sicht schlichtweg der Vergangenheit angehören. Dann wird es in Zukunft um die Digitalisierung – besser noch: die Cyberverteidigung – gehen.
Des Weiteren – auch dies kann man dem veröffentlichten Teil des Fähigkeitsprofils entnehmen – sind Kapazitäten im Weltraum zu schaffen bzw. zu belegen für satellitengestützte Überwachung und für vernetzte Luftverteidigungsanlagen.
Schließlich wird es darum gehen, das zu Ende zu bringen, womit wir in diesem Jahr beschaffungsmäßig ziemlich weit gekommen sind, womit wir aber noch nicht ganz am Ziel angelangt sind, nämlich allen Soldaten eine vollständige persönliche und hochmoderne Ausstattung bzw. Ausrüstung zukommen zu lassen, also auch den Soldatinnen und Soldaten, die hier in Deutschland ihren Beitrag zur Landesverteidigung leisten, und eben nicht nur denen, die im Ausland eingesetzt sind.
All dies – und das ist keine neue Erkenntnis; das wird immer wieder gesagt – wird Geld, sehr viel Geld kosten.
Werte Kolleginnen und Kollegen, vorhin wurde auf die Äußerung von Frau Nahles verwiesen; ich habe mir das zufälligerweise aufgeschrieben. Sie hat gesagt, dass die Bundeswehr in den letzten zehn Jahren heruntergespart worden sei auf ein Niveau, „wo die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz teilweise sogar gefährdet sind, weil ihnen notwendige Ausstattung fehlt“. Weiter sagte sie:
Wir tun alles, um die Bundeswehr auf dieser Ebene auch zu unterstützen. Aber wir sind auch nicht bereit, den Verteidigungshaushalt so zu steigern, wie das von einigen gefordert wird. 2‑Prozent-Ziele usw. sind illusorisch und unterstützen wir nicht.
Dazu kann ich eigentlich nur Sie, werte Frau Kollegin Möller, zitieren. Sie haben vorhin auf das Fähigkeitsprofil und die Fähigkeiten der Bundeswehr verwiesen. Wenn man gemäß dem Fähigkeitsprofil die Bundeswehr unterstützen will, so kommt man nicht wegen des 2‑Prozent-Ziels als abstrakte Größe – das haben auch Sie, Herr Dr. Brunner, gesagt –, sondern aufgrund dessen, was zu beschaffen und zu veranlassen ist, wohl zwingend in Richtung der Summe, die dann 2024 2 Prozent des BIP ausmachen wird. Warten wir es ab! Wie auch immer, eine Steigerung um gut 11 Prozent der Mittel für den Haushalt 2019 im Vergleich zu 2018 ist schon einmal eine entscheidende Wegmarke. Entscheidend werden im nächsten und im übernächsten Jahr die dann folgenden Haushaltsberatungen und der daraus hervorgehende Etat sein.
Insgesamt sind wir auf einem guten Weg. Unterstützen Sie uns bitte dabei, indem Sie im nächsten Jahr einem Wachstum des Verteidigungsetats genauso wie in diesem Jahr zustimmen. Für heute bitte ich Sie darum, den Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Gnodtke. – Frau Möller hat Sie leider nicht gehört, weil sie mit Herrn Kahrs geredet hat. Aber gut, dann gibt es auch keine Kurzintervention.
Ich schließe die Aussprache.
Uns liegen zur Abstimmung mehrere Erklärungen gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung vor.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Zwei-Prozent-Rüstungsziel der NATO ablehnen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1033, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/445 abzulehnen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion Die Linke namentlich ab. Ich bitte, wie gewohnt, die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen und uns mit Winkelementen zu zeigen, ob die Urnen da sind – Herr Lehrieder macht das richtig – und ob die Plätze besetzt sind. – Wir sind übereinstimmend der Meinung, dass alles okay ist. Deswegen eröffne ich jetzt die Abstimmung über die Beschlussempfehlung.
Gibt es Kolleginnen oder Kollegen, die ihre Stimme noch nicht abgegeben haben? – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte, wie gewohnt, die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Ich darf darauf hinweisen: Die Abstimmung ist beendet. Das heißt, alle Kolleginnen und Kollegen können die Plätze wieder einnehmen und ihre Gespräche woanders führen, damit wir fortfahren können
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Ein Ereignis wird im politischen Sprachgebrauch schnell als „Meilenstein“ bezeichnet. Die Zahl solcher Meilensteine weckt gewisse Zweifel, ob das immer berechtigt ist. Als jedoch 1987, also mitten im Kalten Krieg, der Vertrag über das Verbot bodengebundener Mittelstreckenraketen geschlossen wurde, war das zweifellos ein Meilenstein. Der INF-Vertrag liefert den Beleg dafür, dass Verständigung in Zeiten extremer Konfrontation möglich ist, dass alle Seiten sicherer leben, wenn gegenseitiges Misstrauen überwunden wird. Michail Gorbatschow und Ronald Reagan wussten dies, als sie den Vertrag unterzeichneten. Und daran sollten sich auch diejenigen erinnern, die heute in Washington und Moskau politische Verantwortung tragen.
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Von der Logik der Entspannungspolitik ist die Welt heute leider meilenweit entfernt. Bittere Bestandsaufnahme, mit der wir uns aber nicht abfinden dürfen, ist: Die multilateralen Regelwerke werden löchriger, und wir drohen auf eine Zeit zuzusteuern, in der gerade Nuklearwaffen keinerlei Beschränkungen mehr unterliegen. Diese Entwicklung kommt nicht aus dem Nichts. Schon Präsident Obama forderte vor Jahren Russland auf, die Vorwürfe einer möglichen Verletzung des INF-Vertrags auszuräumen. Wir stehen dazu mit Russland in einem engen Dialog. Ich habe meinen russischen Kollegen Lawrow darauf angesprochen und ihn aufgefordert, gerade jetzt, in dieser Diskussion, in der die Kündigung des Vertrages zu befürchten ist, volle Transparenz herzustellen. Nächste Woche tagt die Hohe Arbeitsgruppe für Sicherheitspolitik, deren Wiederaufnahme wir im Mai in der Bundesregierung beschlossen haben. Auch dort werden wir diese Themen ansprechen. Das war auch unsere Botschaft beim NATO-Russland-Rat, der auch auf unser Betreiben letzte Woche getagt hat. So viel zum Thema Dialog mit Russland.
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Gegenüber den USA setzen wir uns dafür ein, den von Präsident Trump angekündigten Ausstieg nicht vorschnell zu vollziehen, sondern gemeinsam mit uns Europäern die verbleibenden Spielräume zum Erhalt des Vertrages auszuloten. Auch darüber habe ich mit meinem amerikanischen Kollegen gesprochen, und unser Staatssekretär ist zur Stunde in Washington, um diese Gespräche fortzuführen. Warum tun wir das? Wir wollen den INF-Vertrag behalten, weil wir nicht wollen, dass Deutschland oder irgendein anderes Land in Europa zum Schauplatz einer nuklearen Aufrüstungsspirale wird.
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Deshalb brauchen wir diesen Vertrag.
Aber das reicht uns noch nicht; denn wir verfolgen in der Abrüstungspolitik keine fossilen Prinzipien. Wir wollen noch mehr, und wir brauchen auch noch mehr. So wichtig der INF-Vertrag für die globale Rüstungskontrollarchitektur ist, sein Erhalt alleine würde Frieden in Europa noch nicht sichern.
Wir stehen in der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik vor einer völlig neuen Situation und vor vielen neuen Herausforderungen. Der Ost-West-Gegensatz ist längst nicht mehr die eine bestimmende Frage. Asymmetrien haben längst zugenommen. Länder wie China rüsten ihre Raketen- und Nukleararsenale deutlich auf, ohne dass dies in irgendeiner Weise von Vertrauensbildung begleitet wäre. Durch die rasante technologische Entwicklung verschwimmen zudem die Grenzen zwischen konventionellen und nuklearen Bedrohungen. Auch die Entwicklung immer neuer Waffensysteme vergrößert die Unberechenbarkeit und beeinflusst das sogenannte strategische Gleichgewicht.
Wir brauchen mehr internationale Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik.
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Dabei stehen vier Punkte im Zentrum unserer Politik:
Wir brauchen – erstens – einen offenen Austausch zwischen den USA, Europa und Russland über die Sicherheit in Europa. Voraussetzung dafür ist, dass die Europäische Union mit einer Stimme spricht. Erst wenn wir das Bewusstsein schaffen, dass wir in Europa in einem gemeinsamen Raum der Sicherheit leben, werden wir nach außen wirklich handlungsfähig sein.
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Gerade hier brauchen wir eine europäische Ostpolitik. Ziel ist, gemeinsam mit unseren östlichen Nachbarn in der Europäischen Union auf unsere östlichen Nachbarn jenseits der EU-Außengrenzen zuzugehen. Letzten Endes geht es um die unteilbare Sicherheit aller Europäer.
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In diesem Verständnis sollten wir den Austausch miteinander und auch mit den USA und Russland suchen. Ziel muss sein, durch gegenseitige Transparenz längst verlorengegangenes Vertrauen wieder aufzubauen.
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Dabei können wir an die positiven Erfahrungen aus der von uns angestoßenen Initiative zur konventionellen Rüstungskontrolle im Rahmen der OSZE anknüpfen; denn dauerhafte Sicherheit auf unserem Kontinent kann es nur mit- und niemals gegeneinander geben.
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Ich möchte alle Punkte ansprechen, die nicht nur bei uns, sondern auch an anderer Stelle in Europa diskutiert werden: Uns besorgt die Stationierung nuklearfähiger Raketen in Kaliningrad. Wir können auch nicht die Augen davor verschließen, dass unsere östlichen Partner in Europa darüber noch mehr besorgt sind. Ebenso wichtig ist, dass sich der Austausch eben nicht in gegenseitigen Schuldzuweisungen erschöpft; in diesem Stadium befinden wir uns gerade. Denn: Aus zwei Monologen entsteht noch lange kein vernünftiger Dialog.
Wir wollen – zweitens – die Diskussion über ein umfassendes, internationales Transparenzregime für Raketen und Marschflugkörper voranbringen; denn egal ob im Nahen und Mittleren Osten oder in Ostasien: Schon der Wettlauf um solche Waffen lässt die Konflikte weltweit eskalieren.
Rüstungskontrolle muss – drittens – wieder Kernbestandteil der internationalen Diplomatie werden. Man hatte nicht den Eindruck, dass das in den letzten Jahren der Fall gewesen ist. Deshalb werde ich in den nächsten Tagen Gespräche in Peking dazu nutzen, um auch dort für Transparenz und Rüstungskontrolle zu werben; denn da ist es bitter notwendig.
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Wir müssen – viertens – dafür sorgen, dass völkerrechtliche Standards mit der Entwicklung hochmoderner Waffenarten Schritt halten. Was wie Zukunftsfantasie klingt, ist in Teilen bereits tödliche Realität. Vollautonome Waffensysteme, die außerhalb jeglicher menschlicher Kontrolle töten, gehören weltweit geächtet. Das ist das Ziel einer Initiative bei den Vereinten Nationen, die wir als Bundesregierung bereits auf den Weg gebracht haben. Und ich würde mich freuen, wenn diese Initiative vom ganzen Haus unterstützt werden würde.
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Meine Damen und Herren, die Frage menschlicher Kontrolle stellt sich aber auch bei anderen neuartigen Systemen wie Hyperschallwaffen oder weltraumgestützten Waffen. Darüber wird nicht nur diskutiert; sie werden längst schon entwickelt. Bei einer Konferenz in Berlin im kommenden Jahr wollen wir uns mit Fragen zur Regulierung solcher Waffensysteme international beschäftigen. Und wir werden im nächsten Jahr unseren Sitz im Sicherheitsrat dafür nutzen, damit das auch dort Thema wird.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden Verbündete für all das brauchen, Verbündete, um die weltweiten Aufrüstungstendenzen zu stoppen. Wir werden daran arbeiten, dass Abrüstung international wieder in den Vordergrund gerückt wird. Und dabei müssen wir Friedensstifter sein;
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denn letztlich ist eine Lehre der Entspannungspolitik weiter gültig: Nur Verlässlichkeit und Transparenz schaffen Vertrauen, und nur Vertrauen schafft Sicherheit.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Heiko Maas. – Nächster Redner: Armin-Paulus Hampel für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Liebe Gäste im Deutschen Bundestag! Wer den INF-Vertrag verstehen will, muss die Geschichte der Abrüstungs- und Limitationsgespräche in den 1970er- und 1980er-Jahren kennen.
Der INF-Vertrag war einer davon, sozusagen der krönende Abschluss. Es gab aber auch SALT I. Es gab START I, START II und New START. Es gab MBFR-Verhandlungen in Wien. Sie sind alle erfolgreich gelaufen. Warum? Weil man eine Sache damals auf westlicher Seite, im Osten sowieso, berücksichtigt hat: nämlich dass Sie, wenn Sie den Frieden wollen, auch die Rüstung dafür haben müssen, um abzuschrecken. Das ist das eigentliche Erfolgsgeheimnis aller Verhandlungen damals gewesen. Die westlichen Nationen, die NATO-Staaten, hatten eben in jeder Schublade, abgestuft, das notwendige Potenzial, um einen möglichen Gegner von einem Angriff abzuhalten. Das war der eigentliche Grund für die Erfolgsgeschichte der Abrüstungsverhandlungen in den 1970er- und 1980er-Jahren, meine Damen und Herren.
Auf der anderen Seite standen diejenigen, die mit Friedensmut und Friedensinitiative glaubten, die Welt schönreden zu können. Sie erinnern sich an die Demonstration in Bonn: 350 000 Menschen gegen die Nachrüstung. Das Gegenteil war der Fall: Nicht die Friedenspolitik der Bewegten, bis hin zu Willy Brandt, war das Entscheidende – das wird ja heute in der Geschichtsdarstellung so schön umgedreht –, sondern das Beharren auf der Position, dass wir, wenn die Russen damals ihre SS 20 nicht abgerüstet hätten, mit einer Pershing dagegengehalten hätten. Das hat den Frieden in Europa erhalten – das und nichts anderes.
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Es war ja ein sozialdemokratischer Bundeskanzler, der mit dem NATO-Doppelbeschluss genau das klar erkannt hat. Meine Herren von der Sozialdemokratie, ich kann Ihnen nur sagen: Früher hatten Sie einen Schmidt, heute haben Sie Schulz, und deswegen sind Sie auf dem Weg zur 5-Prozent-Hürde.
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Wir reden heute in der Tat allerdings von einer Situation, in der der INF-Vertrag letztendlich seine Wirkung verloren hat. Der INF-Vertrag, lieber Herr Außenminister, ist tot. Die Amerikaner wollen ihn nicht mehr, und die Russen wollen ihn nicht mehr – nicht, weil sich die Bedrohungssituation in Europa so verändert hätte, dass wir uns feindlich gegenüberstehen, sondern weil beide Länder erkannt haben, dass rund um Europa und Russland neue Mächte Entwicklungen für neue Systeme vollzogen haben, die wir gar nicht mehr kontrollieren können. Das haben Sie, Herr Minister, ja völlig richtig ausgeführt.
Dann ist es doch höchste Zeit, dass wir uns auf das konzentrieren, was sich im außereuropäischen Umfeld entwickelt. Und das können wir nur, wenn wir diejenigen, mit denen wir bis zum Mauerfall und bis zum Fall der Sowjetunion in einer gespannten Atmosphäre lebten, heute mitnehmen.
Ich gebe Ihnen, Herr Maas, ja recht – ich sehe nur keine Taten, von Frau Merkel schon gar nicht –, dass wir auf die Russen zugehen müssen. Und spätestens dann müssen Sie doch sagen: Jetzt beenden wir die Sanktionspolitik und kommen auch in diesem Bereich zu einer Kooperation mit Russland. – Denn nur wenn Sie das hinkriegen, können Sie auch auf den Rest der Welt einwirken. Das ist doch das Allesentscheidende.
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Es ist die Frage gestellt worden: Braucht man jetzt einen neuen NATO-Doppelbeschluss? Nein, ich glaube, einen neuen NATO-Doppelbeschluss braucht man nicht; denn beide Länder sind daran überhaupt nicht interessiert. Die Amerikaner wie die Russen sind nicht an einer Verlängerung von INF interessiert.
Die Herausforderung für uns besteht darin, mit dem russischen Partner in Moskau zu einer Einigung zu kommen, damit wir gemeinsam global wirken – da gebe ich Ihnen völlig recht, Herr Maas –, um auf Länder wie Indien, Pakistan, China und andere Einfluss nehmen zu können. Es muss also nicht unser Ziel sein, eine Konfrontationspolitik mit Russland fortzuführen und die Raketen zu zählen, die eventuell in Königsberg oder Rumänien oder anderswo aufgestellt wurden, im Gegenteil.
Reisen Sie nicht zuerst nach Peking! Reisen Sie zuerst nach Moskau, Herr Maas! Kommen Sie mit den Russen und den Amerikanern dahin gehend ins Gespräch, dass wir uns gemeinsam für eine globale Vereinbarung zur Reduzierung oder gar für die Abschaffung von INF-Waffen einsetzen können! Für Deutschland, für Europa, für Russland und letztendlich zum Segen des Rests der Welt.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Nächster Redner: Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind gerade Zeitzeugen eines beispiellosen Verfalls und Kollapses der internationalen Rüstungsarchitektur. Unsere Aufgabe ist nicht, das zu kommentieren, sondern ist es, handlungsfähig zu bleiben.
Handlungsfähig heißt für uns als Bundesrepublik Deutschland, dass wir uns auf den Dreiklang von nuklearer Rückversicherung, von vertrauensbildenden Maßnahmen und von dem Drängen auf eine funktionierende Rüstungskontrolle besinnen. Diese drei Bereiche bilden die Kernaufgabe, die wir erfüllen müssen, um Rüstungskontrolle zu ermöglichen.
Woran liegt das? In den letzten 30 Jahren hat sich das sicherheitspolitische Umfeld – das haben wir alles gehört; das wissen wir – dramatisch verändert, auch im Bereich der Nuklearfähigkeit bestimmter Länder. Indien, China, Pakistan und Iran verfügen inzwischen über Fähigkeiten, die Bestandteil eines INF-Vertrags sein müssten.
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China hat so viele Raketen. 80 Prozent seines Raketenpotenzials fielen unter einen potenziellen INF-Vertrag.
Aber entscheidender ist, wie sich Russland in den letzten zehn Jahren verhalten hat. Bereits im Jahr 2007, bei der Münchener Sicherheitskonferenz, hat der russische Außenminister Lawrow gesagt: Der INF-Vertrag ist ein Relikt des Kalten Krieges. – Und Putin sagte – ich war damals zugegen –: Das ist universell sowieso nicht einsetzbar. – Das heißt, bereits im Jahr 2007 sagte Russland auf internationaler Bühne, dass der INF-Vertrag obsolet zu werden scheint.
Statt aber die Zeit zu nutzen und mit dem wichtigsten Partner, den USA, in ein Einvernehmen zu kommen, hat Russland in den letzten zehn Jahren eine Entwicklung vorweggenommen, die ein Scheitern des INF-Vertrags einkalkuliert hat.
Bereits im Jahr 2014 hat Obama sehr deutlich gemacht, dass es Verdachtsmomente gibt, dass Russland gegen diesen Vertrag verstößt. Bis zum Frühjahr dieses Jahres hat Russland geleugnet, dass es neue Systeme entwickelt und – wie wir hören – offensichtlich auch disloziert hat. Das bedeutet, dass wir zehn Jahre lang Zeitzeugen geworden sind, wie Russland nicht am Erhalt des INF-Vertrags gearbeitet hat, obwohl die Obama-Administration sehr intensiv darauf hingewirkt hat.
Daraus müssen wir doch Folgerungen ziehen. Eine der Folgerungen ist, dass wir Europäer ein ganz hohes Interesse am Erhalt des INF-Vertrages haben. Wir werden ihn aber nicht erhalten, wenn wir nicht zusammenstehen und wenn wir nicht deutlich machen, dass Russland ihn unterläuft. Deswegen ist unser Rat an die USA – der Außenminister hat es eben angesprochen –, nicht vorzeitig aus dem Vertrag auszusteigen und Russland quasi einen Vorwand für eine offizielle nukleare Aufrüstung zu liefern, sondern alles für den Erhalt des Vertrages zu tun. Ich appelliere auch an Außenminister Lawrow und Präsident Putin: Schaffen Sie Transparenz!
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Stellen Sie das Vertrauen wieder her! Dann sind auch wir bereit, russische Vorwürfe aufzugreifen und zu entkräften. Ich spreche von der Raketenabwehr in Rumänien und einem System, das bis 2020 in Polen aufgestellt wird und eben nicht den Vertrag verletzt. Daraus ergeben sich für mich drei Folgerungen.
Erstens. Wir als CDU/CSU müssen gemeinsam in der Koalition daran arbeiten, dass Europa zusammensteht und dafür kämpft, dass dieser Mittelstreckenabrüstungsvertrag erhalten bleibt.
Zweitens. Wenn wir ihn erhalten wollen, müssen wir ihn vermutlich öffnen. Das ist ein sehr langwieriger Prozess, und es wird sicherlich sehr schwer sein, China und andere – ich habe mit einigen Kollegen die Ehre, Sie, Herr Außenminister, am Wochenende zu begleiten – zu überzeugen. Ich glaube, da überheben wir uns auch ein bisschen. Aber wir haben als Verfechter der regelbasierten internationalen Ordnung auch die Pflicht, China, das sich als neuer Verfechter einer internationalen Handelsordnung begreifen will, daran zu erinnern, dass weltweites Vertrauen nur durch Rüstungskontrolle zu schaffen ist. Das Gefühl von Sicherheit ist notwendig.
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Ein anderer Gedanke: Ich warne davor, in diesem Klima einseitig Nuklearwaffen aus Europa abzuziehen. Wir würden nur eine neue Debatte entfachen.
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Wir würden sie beispielsweise in Polen entfachen. Das ist etwas, was wir nun wirklich überhaupt nicht gebrauchen können.
Das führt mich zu meinem dritten Punkt. Wir sollten uns darauf einstellen, dass der INF-Vertrag womöglich scheitert. Deshalb müssen wir alles tun, dass dies nicht zu einer Nachrüstungsdebatte in Europa führt, sondern zu einer Fähigkeitsdebatte.
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Wir haben heute bereits über das 2‑Prozent-Ziel gesprochen. Zu dieser Fähigkeitsdebatte gehört auch, ballistische Raketenabwehr und Abwehr von Marschflugkörpern zu leisten. Das ist ein hoher Aufwand, das ist kein Pappenstiel; und das müssen wir auch unserer Bevölkerung gegenüber sehr klar vertreten.
Mir kommt es auf Folgendes an, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die letzten zehn Jahre wurden von Russland genutzt, um den Vertrag schleichend zu untergraben. Die Amerikaner sollten sich jetzt nicht unnötigerweise in eine Position bringen, in der sie der Beelzebub für das russische Vorgehen werden. Das sollten wir gemeinsam verhindern. Deshalb sollten wir als Europäer zusammenstehen.
In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Roderich Kiesewetter. – Nächster Redner: Bijan Djir-Sarai für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es direkt auf den Punkt zu bringen: Eine Aufkündigung des INF-Vertrages ist gefährlich für Deutschland, für Europa und für die gesamte internationale Gemeinschaft.
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Lange galt dieser Vertrag als Meilenstein der nuklearen Abrüstung. Er sorgte am Ende des Kalten Krieges für Annährung und Vertrauen. Die Welt von heute und die Konflikte von heute sind aber komplexer geworden. In dieser neuen Welt brauchen wir mehr Abrüstung und mehr Rüstungskontrolle. In dieser gefährlichen Welt braucht die internationale Ordnung mehr Vertrauen und mehr Transparenz. Heute aber stehen wir an einem Scheideweg. Kündigen die Vereinigten Staaten den INF-Vertrag auf, so könnte dies weltweit einen Verlust von Sicherheit und Stabilität zur Folge haben.
Der INF-Vertrag hält nicht mehr, was er einst versprach; denn so bedeutsam der Vertrag in seinen früheren Jahren war, so sehr hat er in den vergangenen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, an seiner Wirkung eingebüßt. Die ursprüngliche Transparenz wird heute von den Vertragspartnern nicht mehr gewährleistet. Das Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen ist schon lange nicht mehr vorhanden. Spätestens seit 2014 steht der Vorwurf im Raum, dass Russland den Vertrag regelmäßig verletzt. Gegenseitige Vorwürfe stehen dabei sowohl in Russland als auch in den USA auf der Tagesordnung. Die Kritik der US-Administration kommt nicht erst seit Präsident Trump; diese Kritik hat es schon unter Präsident Obama gegeben.
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Auch die NATO hat sich in den vergangenen Jahren diesbezüglich kritisch Richtung Russland geäußert. Dass unabhängig davon Staaten wie China, Iran und Pakistan nuklear aufrüsten, stellt die Sinnhaftigkeit des bilateralen INF-Vertrages zudem komplett infrage. Die Zeiten der bipolaren Weltordnung sind vorbei. Dies sollten auch die internationalen Regelwerke widerspiegeln.
Meine Damen und Herren, wir müssen uns mit aller Deutlichkeit fragen, was das Vertragsende für uns, vor allem für uns Europäer, bedeuten könnte. Erstens bleibt festzuhalten, dass russische Mittelstreckensysteme für die USA nur eine sehr indirekte Bedrohung darstellen. Diejenigen, die von der Zerstörungskraft in erster Linie betroffen sind, sind wir Europäer. Zweitens investiert Russland darüber hinaus massiv in die Modernisierung seiner nuklearen Fähigkeiten.
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Diese Strategie darf nicht ignoriert werden.
Die Fragen lauten: Wie geht man künftig mit Russland um? Wie geht man künftig mit China um? Das sind Fragen, die in der Tat auf Ihrer Reise, Herr Minister, eine außerordentlich wichtige Rolle spielen werden. Deutschland und Europa stehen also vor realen nuklearen Bedrohungen, auf die es bislang leider keine Antwort gibt. Hinzu kommt, dass die USA unter Präsident Trump kein Garant mehr für unsere Sicherheit sind. Das ist in letzter Zeit mehr als deutlich geworden.
Der INF-Vertrag ist ein bilateraler Vertrag zwischen den USA und Russland. Wer sich für seinen Erhalt einsetzen möchte, dem bleibt nicht viel mehr, als zwischen beiden Parteien zu vermitteln. Dies scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings nicht sonderlich erfolgreich zu sein. Außerdem steht das Scheitern des Vertrages nicht erst seit kurzem zur Debatte. Jedem war klar, wie Präsident Trump mit internationalen Abkommen umgeht, und jedem war klar, was sein Sicherheitsberater John Bolton von diesem INF-Vertrag hält, nämlich nichts. Wenn sich die Bundesregierung nun also überrascht und betroffen zeigt, dann ist das eher ein Zeichen der Hilflosigkeit. Es ist also höchste Zeit, dass sich Deutschland und Europa endlich der Realität stellen. Das bedeutet, endlich außen- und sicherheitspolitisch erwachsen zu werden. Europa muss die richtigen Schlussfolgerungen aus dieser Debatte ziehen.
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Meine Damen und Herren, die globale Sicherheitslage ist bedenklich; das muss ich hier in diesem Raum niemandem erklären. Das mögliche Scheitern des INF-Vertrages ist nur eine von vielen Baustellen der internationalen Politik. Daher werden auf globaler Ebene neue und zeitgemäße Konzepte notwendig sein. Diese werden benötigt; denn wir brauchen eine Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik im Sinne des Multilateralismus, im Sinne der modernen Politik des 21. Jahrhunderts.
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Denn heute geht es weder ausschließlich um Russland und die USA noch um die altbekannten Waffensysteme. Es geht um neue Akteure auf der internationalen Bühne, und es geht um neue Waffensysteme. Diesen Herausforderungen müssen wir uns als Deutsche, als Europäer, als westliche Allianz stellen. Die Bundesregierung sollte ihren kommenden Sitz im UN-Sicherheitsrat dafür nutzen und die Sicherheit Europas nicht in die Hände anderer legen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Kollege Djir-Sarai. – Nächste Rednerin: Kathrin Vogler für die Fraktion Die Linke.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der INF-Vertrag, über den wir heute reden und den Präsident Trump gerne kündigen möchte, ist ja nicht einfach irgendein Vertrag. Der INF-Vertrag ist deswegen so wichtig, weil er nicht nur Obergrenzen enthält, sondern erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg auch die vollständige Abrüstung einer bestimmten Waffengattung geregelt hat, nämlich der atomaren landgestützten Mittelstreckenraketen. Damit war das Wettrüsten in diesem Bereich beendet und eine Gefahr gebannt, die die Welt mehrfach an den Rand eines alles vernichtenden Atomkriegs geführt hat.
Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich in den 80er-Jahren von Haus zu Haus gelaufen bin und Unterschriften für den Krefelder Appell gesammelt habe. Millionen Unterschriften kamen damals zusammen, und in jedem Dorf gründete sich eine Friedensinitiative. Wir waren entschlossen, die wachsende Atomkriegsgefahr in Europa nicht einfach widerstandslos hinzunehmen. Am Ende hatten die riesigen Demonstrationen, die Appelle, die Blockaden vor Raketenstützpunkten, aber auch die vielen Aktivitäten der Friedensfreundinnen und -freunde in der DDR und in anderen Ostblockstaaten Erfolg.
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Als Michail Gorbatschow und Ronald Reagan 1987 den INF-Vertrag unterzeichneten, taten sie das auch in dem Bewusstsein, dass die wahnsinnige Aufhäufung von atomarem Vernichtungspotenzial in Europa von der Mehrheit der Menschen nicht hingenommen wird. Diese Unterzeichnung machte den Menschen in Ost und West Hoffnung, Hoffnung auf ein Ende der Blockkonfrontation und Hoffnung auf eine Friedenszeit nach dem Kalten Krieg. Dieser Vertrag hat hervorragend funktioniert – bis vor einigen Jahren. Seit der Aufstellung des NATO-Raketenabwehrsystems in Osteuropa kommt es immer wieder zu gegenseitigen Vorwürfen zwischen Russland und den USA, die jeweilige Gegenseite würde den Vertrag verletzen. Allerdings dürfte das kein Grund sein, den gesamten INF-Vertrag infrage zu stellen; denn er enthält ja gute Regelungen für genau diese Art von Konflikten.
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Er hat ein umfassendes Verifikationsregime, und er regelt ganz genau, dass die beiden Seiten gegenseitig ihre Waffensysteme überprüfen können. Doch jetzt hat sich die NATO selbst ein Bein gestellt: Mit ihrer Strategie „no business as usual“, mit der sie nach der Annexion der Krim Russland unter Druck setzen will, behindert sie den militärischen Informationsaustausch und verschüttet die Kommunikationskanäle, die so wichtig wären für solche Verifikationsmaßnahmen. Darauf muss die Bundesregierung meiner Ansicht nach eine Antwort finden. Sie muss darauf drängen, dass diese verhängnisvolle Strategie aufgegeben wird, wenn sie den INF-Vertrag retten will.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde mir wünschen, dass dieses Parlament heute eine klare Botschaft an beide Vertragsparteien sendet, endlich die Verfikationskommission des INF einzuberufen und ernsthaft und zielgerichtet zu verhandeln und so gegenseitige Inspektionen wieder zu ermöglichen. Wir sagen klar und deutlich: Verhandeln ist besser als drohen.
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Allerdings müssen wir leider davon ausgehen, dass ein US-Präsident, der Twittereinträge und Wahlkampfkundgebungen nutzt, um wichtige internationale Verträge aufzukündigen, etwas stärkere Signale benötigt, um wieder zur Vernunft zu kommen. Deswegen fordere ich Sie, Herr Maas, auf, deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, öffentlich klarzustellen, dass eine Stationierung weiterer atomarer Waffen auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland nicht infrage kommt.
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Das deutlichste Zeichen allerdings wäre meiner Ansicht nach, den einmütigen Beschluss dieses Hauses aus dem Jahre 2010 endlich auf den Weg zu bringen, Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen und sich dem Atomwaffenverbotsvertrag der UNO anzuschließen.
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Jetzt werden Sie mir natürlich entgegenhalten, dass es gerade die atomare Teilhabe im Rahmen der NATO sei, die der Bundesrepublik eine Mitsprache über die US-Atomwaffen sichere. Das hören wir immer wieder. Meine Damen und Herren, spätestens heute muss Ihnen doch klar sein, dass das ein Mythos ist und wie wenig weit Ihre Mitsprache reicht.
Wolfgang Ischinger, der Vorsitzende der Sicherheitskonferenz, hat erst kürzlich darauf hingewiesen, wie sehr eine Aufkündigung des INF-Vertages durch die USA die anderen NATO-Staaten brüskiert. Schließlich ist noch in der Abschlusserklärung des Gipfels von Warschau festgelegt worden, dass man sich gemeinsam mit Russland um eine Ausräumung der strittigen Punkte bemühen werde. Aber das scheint die derzeitige US-Regierung nicht die Bohne zu interessieren.
Meine Damen und Herren, die Doomsday Clock, die die Gefahr eines Atomkriegs anzeigt, steht heute auf zwei Minuten vor zwölf. So nah an der Selbstvernichtung der Menschheit durch die zerstörerischsten Instrumente, die sie je erfunden hat, waren wir seit dem Koreakrieg 1953 nicht mehr,
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nicht einmal auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Schon John F. Kennedy hat es auf den Punkt gebracht, als er sagte:
Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.
Lassen wir es nicht so weit kommen.
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Vielen Dank, Kathrin Vogler. – Nächste Rednerin: Katja Keul für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der Kündigung des Klimaabkommens von Paris, dem Austritt aus dem UN-Menschenrechtsrat, aus der UNESCO, der einseitigen Kündigung des Iran-Deals, nun also die Kündigung des INF-Vertrages!
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Es ist der nächste Schritt im konsequenten Ausstieg aus internationalen Verpflichtungen, wobei die Frage der Vertragsverletzung durch andere in der Regel gerade nicht im Zentrum gestanden hat.
Ja, in diesem Fall gibt es tatsächlich Vorwürfe gegenüber Russland, dass neue bodengestützte nuklearfähige Marschflugkörper entwickelt würden, die eine Reichweite von über 500 Kilometern haben und damit gegen den INF-Vertrag verstoßen würden. Diese Vorwürfe werden seit 2014 erhoben und sind sicher keine Erfindung von Trump. Die Republikaner im Kongress machen schon länger Druck, endlich Konsequenzen zu ziehen. Die Frage ist nur, was für Konsequenzen. Was soll es bringen, den Vertrag zu kündigen und damit auch Russland offiziell zu erlauben, unbegrenzt Mittelstreckenraketen zu stationieren, wo immer man gerade will?
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Ein solcher Schritt macht nur Sinn, wenn es einem gar nicht um die Einhaltung durch den Vertragspartner geht, sondern darum, selbst die lästige Verpflichtung unbedingt loszuwerden. Europäische Sicherheitsinteressen spielen dabei leider keine vorrangige Rolle mehr.
Das war nicht immer so. 1987 war ein historischer Moment, der für immer bewiesen hat: Verständigung und Abrüstung sind möglich, wenn man nur will. 2009 hat sich Präsident Obama in einer denkwürdigen Rede zu einer atomwaffenfreien Welt bekannt. Ein Jahr später konnte eine Vereinbarung zur Reduzierung strategischer Atomwaffen erzielt werden. Der Preis dafür war damals allerdings hoch. Obama musste einer künftigen Modernisierung der bestehenden Nuklearwaffen in einem bis dato ungesehenen Ausmaß zustimmen. Außerdem drohte schon damals die Debatte um den Raketenabwehrschirm neues Misstrauen zu schaffen.
Wir Grüne haben bereits 2010 hier im Bundestag gewarnt, dass der Aufbau eines NATO-Raketenabwehrsystems die Gefahr einer weltweiten Rüstungs- und Proliferationsspirale heraufbeschwört, insbesondere gerade dann, wenn die globale Machtverteilung durch aufstrebende Mächte neu bestimmt wird. Außerdem konnte der Vorwurf der Russen, die Raketenabwehrsysteme könnten auch offensiv bestückt werden und seien ebenfalls ein Verstoß gegen den INF-Vertrag, bis heute nicht hieb- und stichfest ausgeräumt werden. Notwendig und hilfreich wären in dieser Lage endlich gegenseitige Inspektionen, wie sie der Vertrag gerade vorsieht,
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und zwar Inspektionen der Raketenabwehrsysteme auf der einen und der umstrittenen russischen SSC-8-Raketen auf der anderen Seite.
Außerdem haben beide Seiten ein gemeinsames Interesse bezüglich der Einbeziehung Chinas. Nur gemeinsam können sie genug Druck aufbauen, um China dazu zu bringen, über Rüstungskontrolle zu reden.
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Solange aber Präsident Trump Tag für Tag bestätigt, dass ihm multilaterale Verpflichtungen lästig sind, dürfte es schwierig sein, überhaupt ernsthafte Verhandlungen mit irgendwem zu führen.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die amerikanische Außenpolitik derzeit von dem Irrglauben geleitet ist, allein auf dieser Welt ohne Partner auskommen zu können. Für uns heißt das, dass wir unsere ureigenen Sicherheitsinteressen selbst vertreten müssen. Wir Grüne erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich klar gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa ausspricht und dass sie sich innerhalb der NATO für die Überwindung einer Politik der nuklearen Abschreckung einsetzt.
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Wir wollen keine neuen Mittelstreckenraketen in Europa, weder russische noch amerikanische. Wir wollen, dass beide Seiten sich an ihre Verpflichtungen halten. Wenn es ihnen gelingt, China mit ins Boot zu holen, umso besser. Wir betrachten den Erhalt des INF-Vertrages als zentrales europäisches Sicherheitsinteresse. All dies muss die Bundesregierung laut und deutlich kommunizieren; denn es gibt im Kongress durchaus noch Partner, die uns verstehen. Bei unserer Parlamentarierreise in der letzten Woche wurde uns von demokratischer Seite geradezu nahegelegt, dies bei jeder Gelegenheit im Kongress anzusprechen.
Die Bundesregierung muss aber auch ihre Handlungsspielräume nutzen, wenn es zum Beispiel darum geht, die 122 Staaten zu unterstützen, die sich für einen Atomwaffenverbotsvertrag ausgesprochen haben.
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Die Produktion von Material für die Nuklearwaffen durch die Firma Urenco und die Belieferung von Atomstaaten muss beendet werden.
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Und mehr denn je fordern wir Grüne jetzt den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland, wie es der Bundestag 2010 einstimmig beschlossen hat.
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Die Modernisierung der Tornados als Trägersysteme muss beendet werden. Das drohende unrühmliche Ende des Mittelstreckenraketenverbotsvertrages belegt einmal mehr: Nukleare Teilhabe und nukleare Abschreckung sind der falsche Weg.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Katja Keul. – Nächster Redner: Nikolas Löbel für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der INF-Vertrag war der Anfang vom Ende des Kalten Krieges. Die einseitige Aufkündigung dieses INF-Vertrages könnte der Anfang vom Ende der friedvollen Welt sein, die ich kennengelernt habe.
Der INF-Vertrag ist der Stabilitätsanker für Frieden und Freiheit auf der Welt und erst recht in Europa. Machen wir uns nichts vor: Der INF-Vertrag steht auf der Kippe. Der amerikanische Präsident hat in der für ihn bekannten intellektuellen Kürze angekündigt, dass die USA ihn einseitig aufkündigen und sich zurückziehen würden. Er hat nicht gesagt, wann, er hat nicht gesagt, wie, und er hat auch nichts zu den in Artikel 15 vorgesehenen Bedingungen dafür gesagt. Doch jenseits dieser Politik der scharfen Rhetorik und der intellektuellen Kürze bedarf es eines tieferen Einblicks in die Materie; denn es ist kein Problem von Donald Trump allein. Das Problem des INF-Vertrages besteht schon eine geraume Zeit.
Ich glaube, das Hauptproblem des INF-Vertrages ist mangelndes Vertrauen, mangelndes Vertrauen zwischen Ost und West, mangelndes Vertrauen zwischen Russland, Europa und Amerika. Schon seit 2006 erleben wir eine Erosion der europäischen Sicherheitsstruktur. Vielleicht müssen wir feststellen, dass Europa ein bisschen zu arrogant war, vielleicht sind wir es manchmal immer noch; denn wir haben die Reformfähigkeit der russischen Armee völlig unterschätzt und die wirtschaftliche Abhängigkeit Russlands von der EU überschätzt. Russland hat sich ganz klar auf den Weg gemacht. Es hat gezeigt, dass es ein gesteigertes Interesse hat, in die militärische Konfrontation zwischen GUS-Staaten einzutreten. Das ist klar gegen den erklärten Willen der NATO und der EU.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist im deutschen und im europäischen Interesse, die Begrenzung von Atomarsenalen und das Verbot von landgestützten Mittelstreckenwaffensystemen zu erhalten und zu sichern. Deswegen ist es wichtig, festzustellen: Der INF-Vertrag ist noch nicht tot, und, Herr Kollege Hampel, wir sollten ihn auch nicht totreden.
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Der INF-Vertrag braucht eine Modernisierung. Warum braucht er eine Modernisierung? Weil es heute nicht mehr zeitgemäß ist, dass er nur Amerika und Russland umfasst. Auch andere Mächte wie China müssen eingebunden werden.
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Wir müssen auch darüber sprechen, dass er nicht mehr zeitgemäß ist in einer Zeit, in der es andere Waffensysteme gibt. Es gibt neue Waffensysteme: Hyperschallwaffen, vollautomatisierte Waffen oder Weltraumwaffen. Wir brauchen eine Überarbeitung, eine Modernisierung des INF-Vertrages.
Wenn es so weit kommen sollte, dass tatsächlich eine einseitige Aufkündigung erfolgt – das müssen wir verhindern –, dann braucht es eine deutsche, eine französische, eine europäische Initiative, um den INF-Vertrag neu auszuhandeln. Das muss unsere Antwort auf die Ankündigung aus den USA sein.
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Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade im Hinblick auf das hundertjährige Jubiläum des Endes des Ersten Weltkriegs am kommenden Wochenende – –
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– Ja, vielleicht ist es nicht Jubiläum zu nennen, aber es ist ein Tag des Innehaltens.
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100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges, Herr Kollege Hampel, sollten wir innehalten. Wir sollten uns gut überlegen: Wie wirken wir für die Zukunft, übrigens auch hier im Parlament? Die Lehre der Geschichte ist, dass wir erkennen müssen, dass mehr Multilateralismus, mehr internationales Vertrauen, mehr internationale, gemeinsame Sicherheitsstruktur die Antwort darauf sein muss, dass das, was vor 100 Jahren geschehen ist, nie wieder passieren darf. Das sind wir nicht nur dieser, sondern auch den kommenden Generationen schuldig. Der INF-Vertrag ist dafür ein Stabilitätsanker.
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Vielen Dank.
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Vielen Dank, Nikolas Löbel. – Herr Hampel, in der Aktuellen Stunde gibt es keine Zwischenfragen.
Nächster Redner: Dr. Roland Hartwig für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach einer langen Zeit erfolgreicher Friedenspolitik in Europa mehren sich leider die Stimmen, die uns am Beginn eines neuen Kalten Krieges sehen. Ich denke, sie haben recht. Keine drei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer geht wieder eine Trennlinie durch Europa, und auch an dieser Trennlinie wird scharf geschossen.
In der Ostukraine sind seit 2014 mehr als 10 000 Menschen ums Leben gekommen. Als Reaktion zeigt die NATO an der Ostgrenze Präsenz und hält gegenwärtig mit 50 000 Soldaten ein Manöver in Norwegen ab. Das ist das größte Manöver seit Ende der Sowjetunion. Die Russen organisieren seit Jahren Großmanöver. Im September haben sie zusammen mit China ein solches mit über 300 000 Soldaten durchgeführt.
Weltweit steigen die Rüstungsausgaben seit Jahren massiv an, und mit Nordkorea ist die Anzahl der potenziellen Atommächte auf mindestens neun gestiegen. De facto sind wir also wieder in einem neuen Rüstungswettlauf. Eine zusätzliche Herausforderung stellen dabei – das ist schon angesprochen worden – neue Waffensysteme dar, wie kleine, technisch hochentwickelte Kernwaffen, Überschallwaffen, Weltraumwaffen, autonome Waffen, aber auch neue Methoden der Kriegsführung, beispielsweise die hybride Kriegsführung.
Wir haben als AfD dem hier diskutierten Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD im Auswärtigen Ausschuss zugestimmt, da die in ihm enthaltenen Forderungen von elementarer Bedeutung für die Sicherheit unseres Landes und in Europa sind. Wir möchten jedoch zu bedenken geben: Die wechselseitigen Anschuldigungen der Russen und der Amerikaner, den INF-Vertrag verletzt zu haben, und die Hinweise auf die nicht im Vertrag berücksichtigten Arsenale anderer Staaten sind klare Anzeichen dafür, dass der INF-Vertrag den aktuellen Anforderungen nicht mehr gerecht wird.
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Von daher erwarten wir, dass der Vertrag aufgekündigt wird. Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation erscheint uns heute ein neues Vertragswerk geboten, das alle relevanten Akteure und auch eventuell neue Waffensysteme mit einbezieht.
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Wir müssen sehen, wie unmittelbar Deutschland und Europa davon betroffen sind; denn der angekündigte Rückzug der Amerikaner aus dem INF-Vertrag macht den Weg wieder frei für die Stationierung landgestützter Mittelstreckenraketen in der EU und in der Kaliningrader Exklave. Es ist wichtig, dass man sich vor Augen hält, dass damit das Risiko steigt, dass Europa wieder ein Schlachtfeld der Nuklearmächte wird.
Keiner von uns hier kann den Anspruch erheben, ein fertiges Konzept zu haben. Aber erlauben Sie mir, einige Ideen zu skizzieren für die Diskussionen, die jetzt wahrscheinlich ihren Auftakt finden werden.
Wir sollten uns bemühen, alle relevanten Staaten – China ist bereits angesprochen worden – für ein neues Vertragswerk zu gewinnen. Ein Vertragswerk, das zwei Hauptakteure und ein Waffensystem untersagt, welches sich andere Akteure in steigender Zahl aneignen, kann langfristig keinen Bestand haben.
Das neue Regime sollte nicht nur auf landgestützte Mittelstreckenraketen beschränkt sein, sondern auch seegestützte Systeme mit einschließen. Auch die Einbeziehung von ballistischen, atomar bewaffnungsfähigen Kurzstreckenraketen wäre zu überlegen.
Wenn wir von der Sicherheit des europäischen Kontinents sprechen, dann sollten wir auch die in Europa gelagerten substrategischen Kernwaffen einer erneuten Betrachtung unterziehen. Ein begrenzter Nuklearkrieg würde letztlich auch zu unseren Lasten gehen.
In diesem Zusammenhang ist es aber auch wichtig, zu erwähnen: Wir brauchen eine überzeugende konventionelle Verteidigung, um im Falle eines Angriffs nicht genötigt zu sein, vorschnell die nukleare Keule einzusetzen.
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Als der „Spiegel“ 1962 mit dem Titel „Bedingt abwehrbereit“ auf die mangelnde Ausstattung der Bundeswehr verwies, wurden die verantwortlichen Journalisten wegen Landesverrats verfolgt. Daraus entwickelte sich damals eine Regierungskrise. Heute ist die mangelhafte Ausrüstung der Bundeswehr für viele ein Problem, aber offensichtlich für niemanden in der Regierung.
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Gorbatschow hat mal gesagt: Wir können einen dauerhaften Frieden in Europa nur dann gewährleisten, wenn auch die westlichen Strukturen, Institutionen und Denkweisen überprüft werden. Auch das sollten wir in Angriff nehmen. Wir können nicht einseitig in Russland einen Feind sehen. Ja, die politischen Wertvorstellungen sind auseinandergedriftet, aber wir müssen wieder den Weg zueinander suchen.
Auch wir in Europa müssen unsere Hausaufgaben machen. Ergreifen wir deshalb die gegenwärtige Krise des INF-Vertrags als Chance, an einem neuen, globalen Vertragswerk mitzuarbeiten, das den Anforderungen der heutigen Zeit wirklich gerecht wird.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Hartwig. – Nächster Redner: Thomas Hitschler für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 22. Oktober 1983 versammelten sich etwa 500 000 Menschen im Bonner Hofgarten, um gegen die Stationierung von Atomraketen in Deutschland und für Frieden und Abrüstung in Europa zu demonstrieren.
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Das waren großartige Bilder, die mit einer klaren Botschaft versehen waren: Wir brauchen in Deutschland nicht mehr Mittel zur Massenvernichtung, wir brauchen weniger.
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Meine Generation – ich bin Jahrgang 1982 – kennt diese Demonstration und den damaligen Grund, nämlich die reale Möglichkeit eines zivilisationsendenden Nuklearkriegs, eigentlich nur aus den Geschichtsbüchern. Dafür bin ich dankbar, Kolleginnen und Kollegen.
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Wir haben gelernt, wie gut und wichtig die Einigung der beiden Supermächte auf den INF-Vertrag 1987 und der erklärte Wille, diese Bedrohung abzubauen, für die damalige Welt waren. Auch aufgrund dieser Entscheidungen hatte meine Generation das Privileg, im Rahmen einer europäischen Friedensordnung aufzuwachsen, die diese Bedrohung nicht kannte, in einer Welt, die nicht bedroht war von nuklearem Overkill und nicht abhängig von einem Gleichgewicht des Schreckens.
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Die aktuelle Entwicklung alarmiert mich deshalb sehr, Kolleginnen und Kollegen.
Meine Generation, die 1983 noch nicht einmal in den Kinderschuhen steckte, hat bislang in allen Bereichen ihres Lebens eine Friedensdividende eingestrichen, auch weil unsere Vorgängerinnen und Vorgänger den Wahnsinn nuklearer Aufrüstung erkannt und sicher auch mit Blick auf ihre eigenen Kinder und Enkelkinder und im Gedanken daran, welche Welt man ihnen hinterlassen sollte, die richtigen Schritte gegangen sind. Die Verantwortung, dieses friedenspolitische Erbe ist jetzt auf uns und auch auf meine Generation übergegangen. Es ist jetzt an uns, das zu bewahren, was damals erreicht wurde, es vielleicht sogar auszubauen und besser zu machen.
Meine Generation hat überhaupt keine Lust, zu überkommenen Denkmustern zurückzukehren, die ich teilweise auch heute wieder gehört habe, und mit den gleichen Antworten des Kalten Krieges auf eine komplett neue Welt zu reagieren: nicht mit neuer nuklearer Aufrüstung, nicht mit neuer Stationierung von Atomwaffen, nicht mit neuem nuklearen Schrecken.
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Das sind die falschen Antworten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Auf der Suche nach den richtigen Antworten stellt man schnell fest, dass die Welt komplizierter geworden ist. Der „Westen“ ist nicht mehr so leicht zu identifizieren. Unser engster Verbündeter, die Vereinigten Staaten, haben sich – so hat es den Anschein – verändert. Der nächste europäische Nachbar, Russland, fährt eine eigene klare machtpolitische Agenda.
China ist zu einer globalen Supermacht erwachsen, die selbst eine starke nukleare Komponente hat. Was sind also die richtigen Antworten?
Erstens. Europa muss geschlossen – einheitlich – mit allen Staaten eine gemeinsame starke Initiative für neue Abrüstungsverträge auf den Weg bringen. Wir müssen klarmachen, dass wir in der Ablehnung möglicher Neustationierungen auf unserem Kontinent einig sind. Keine neuen atomaren Mittelstreckenwaffen in Europa, Kolleginnen und Kollegen!
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Zweitens. Deutschland hat eine besondere Mittlerrolle. Wir kennen die Vereinigten Staaten; wir kennen Russland. Wir wissen, dass Frieden in Europa nicht ohne Russland möglich ist und dass wir eine tiefe freundschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Verbindung mit den Vereinigten Staaten erhalten wollen. Wir wissen, dass dies beides gleichzeitig möglich ist. Daraus wächst eine besondere Verantwortung, wie ich meine, aber gleichzeitig auch eine Chance, zwischen genau diesen beiden Staaten zu vermitteln, für eine neue Politik der Entspannung, die wir alle dringend nötig haben.
Drittens. China muss Teil dieser neuen Überlegungen sein. Das haben wir heute schon mehrfach gehört. Die Welt hat sich in den letzten 35 Jahren radikal verändert, und jedes zukünftige Abkommen muss dies widerspiegeln. Durch die Einbeziehung der Volksrepublik ließe sich auch der Druck von Russlands Südostgrenze nehmen und die gesamte Entscheidung zur Abrüstung erleichtern. Wir müssen also ein Angebot formulieren, einen gemeinsamen Weg aufmachen, anstatt nur Konfrontation zu suchen, Kolleginnen und Kollegen.
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Viertens. Wir müssen neue vertrauensbildende Maßnahmen schaffen. Misstrauen ist das größte Hindernis für ein Fortbestehen des INF-Vertrags oder auch für eine neue Initiative. Wir müssen Wege der Transparenz schaffen, etwa durch gegenseitige Inspektionsbesuche, bei den neuen russischen Raketen, aber auch beim US-Raketenabwehrsystem.
Unsere Vorgängerinnen und Vorgänger haben in ihrer Zeit erkannt, dass die alten Denkmuster nicht mehr funktionieren. Ich bitte Sie daher alle, auch für und im Namen meiner Generation: Lassen Sie uns heute dem drohenden Wahnsinn mit Vernunft begegnen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Volker Ullrich.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Unterzeichnung des INF-Vertrags im Jahr 1987 war in der Tat ein welthistorisches Ereignis. Dem ist ein jahrzehntelanges Ringen um die Sicherheitsarchitektur und um die Rüstungskontrolle in Europa vorausgegangen. Ich darf daran erinnern, dass nach Abrüstungsschritten in den 70er-Jahren die Sowjetunion mit der Ankündigung der Aufstellung von SS-20-Raketen 1979 die Sicherheitsarchitektur in Europa stark gefährdet hat.
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Das westliche Bündnis hat darauf mit Transparenz und Offenheit reagiert, aber auch mit Zusammenhalt im westlichen Bündnis und mit dem Angebot, in Abrüstungsverhandlungen zu treten und gleichzeitig aber Stärke zu beweisen, indem man mit dem NATO-Doppelbeschluss die Stationierung eigener Raketen vorgesehen hat.
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Das hat dazu geführt, dass nach 1983 und nach vielen Debatten in der damaligen Bundesrepublik Deutschland das westliche Bündnis und die Sowjetunion sich 1987 endgültig auf den INF-Vertrag einigen konnten. Es war klar und deutlich, dass dieses Ereignis zu einer stabilen Friedens- und Freiheitsordnung beigetragen hat und dass die Beendigung des Kalten Krieges und gegebenenfalls auch die Überwindung der Teilung Europas und die deutsche Einheit ohne diesen Schritt nicht möglich gewesen wären. Auch daran sollten wir heute erinnern.
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Deswegen ist es umso bitterer, wenn dieser Vertrag infrage steht und wenn die Trump-Administration ankündigt, sich gegebenenfalls aus diesem Vertrag zurückzuziehen. Das macht uns große Sorge, und diese Sorge artikulieren wir auch klar und deutlich.
Aber unsere Sorge betrifft ebenfalls auch Entwicklungen in Russland selbst. Es ist augenfällig, dass hier Entwicklungen vorliegen, die mit dem Vertrag nicht in Einklang zu bringen sind und die wiederum selbst eine Bedrohung für die Sicherheit in Europa darstellen. Auch das muss man klar und deutlich ansprechen.
Russland hat bis heute nicht die Befürchtungen aus dem Weg geräumt, dass sie selber landgestützte Marschflugkörper mit Atomraketen mit über 500 Kilometern Reichweite entwickeln.
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Deswegen muss klar sein, dass Russland diese Befürchtungen und Sorgen des westlichen Bündnisses aus der Welt schaffen muss, und zwar dringend.
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Dafür gibt es innerhalb des Vertrages Mechanismen, und wir fordern, dass diese Mechanismen auch eingesetzt werden.
Die Frage darf nicht sein, wann diese Mechanismen in Kraft treten oder angewandt werden, sondern wann wir Ergebnisse vorliegen haben. Das ist die wichtige Frage, um die es jetzt geht.
Aber wir müssen auf weitere Entwicklungen einen sorgsamen Blick richten. Dabei geht es um die Frage, wie wir mit einer weiteren Aufrüstungsspirale in der Welt umgehen. Die Sicherheitsarchitektur in der Welt hat sich verändert. Es gibt mehr Staaten, die Atomwaffen besitzen, und auch die Frage, inwieweit ein mögliches Atomwaffenarsenal Chinas eine destabilisierende Wirkung auf die Welt hat, muss klar und deutlich angesprochen werden. Wir haben weltweit nicht nur ein Problem mit sogenannten Mini-Nukes mit unter 500 Kilometern Reichweite, sondern auch mit Interkontinentalraketen mit über 5 500 Kilometern Reichweite.
Wir müssen im Rahmen einer globalen Sicherheitsarchitektur auf all diese Aspekte Rücksicht nehmen. Deswegen muss die klare Forderung an die deutsche Politik sein, dass die strategische Rüstungskontrolle zu einem Kernbestandteil unserer Außenpolitik wird und wir alles dafür tun, dass wir im Rahmen von multilateralen Bündnissen auf Abrüstung und eine weitere Kontrolle hinwirken. Das muss der Weg der deutschen Außenpolitik sein.
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Gleichzeitig möchte ich auch sagen, dass unser Weg nach wie vor darin besteht, im westlichen Bündnis zu stehen und dass wir bei der Definition der europäischen Sicherheitsarchitektur auch unsere europäischen Partner im Blick haben müssen. Gerade unsere östlichen Nachbarn haben ein starkes Interesse daran, dass Europa auch zu ihrem Schutz beiträgt und dass die Interessen unserer Nachbarn auch unsere Interessen sind, weil es nur eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur geben kann.
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Meine Damen und Herren, ja, es ist eine der großen Fragen unserer Generation, wie wir mit dem Thema der atomaren Rüstung umgehen. Der Historiker Yuval Harari, einer der klügsten Köpfe unserer Zeit, ist unlängst gefragt worden, was die großen Themen für das 21. Jahrhundert, für unsere Generation, seien. Er nannte ganz am Anfang das Thema der atomaren Abrüstung. Es ist unsere Verpflichtung, die wir klug und besonnen angehen müssen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Als Nächstes für die SPD-Fraktion der Kollege Martin Schulz.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Abschluss des INF-Vertrages war ein historischer Schritt. Es war ein Moment, in dem der Weltfrieden ein Stück sicherer wurde. Ich glaube, dass Reagan und Gorbatschow, als sie diesen Vertrag unterzeichneten – Herr Hitschler hat das, finde ich, eindrucksvoll gesagt –, den folgenden Generationen ein Geschenk gemacht haben, nämlich eine Sicherheit und einen Zusammenhalt, wie wir es vorher nicht kannten.
Aber wir dürfen uns auch keine Illusionen machen. Das Misstrauen, das vor der Vertragsunterzeichnung den Kalten Krieg prägte, kehrt ein Stück weit zurück. Es kehrt zurück, weil wir in den letzten Jahren Entwicklungen haben, die uns besorgt machen müssen, und zwar auf beiden Seiten. Natürlich ist die völkerrechtswidrige Annexion des Territoriums eines souveränen Staates durch einen anderen Staat ein völkerrechtswidriger, aggressiver Akt, der durch den Willen der Russische Föderation begangen wurde. Das ist eine Veränderung der politischen Architektur in Europa, wie wir sie vorher so nicht kannten.
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Ein Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, der ohne Konsultation seiner Nachbarn erklärt: „Wir wollen aus diesem INF-Vertrag aussteigen“, aber gleichzeitig alle multilateralen Strukturen infrage stellt, sät weltweites Misstrauen.
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Das, meine Damen und Herren, ist die Ausgangslage, in der wir uns befinden.
Deshalb, finde ich, hat Heiko Maas mit dem, was er hier vorgetragen hat, den richtigen Weg beschrieben. Der erste Schritt ist doch, dass wir zu dem Ausgangspunkt zurückkehren, dass die Lösung der internationalen Konflikte nicht durch unilaterale Maßnahmen erfolgen darf, sondern dass sie die Stärkung der multilateralen Strukturen zur Grundvoraussetzung hat.
Übrigens: Eine der multilateralen Strukturen, die zum Abschluss des INF-Vertrages führte, war Jahre vorher die Schaffung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa; denn es war jedem klar, dass Europa das Schlachtfeld für eine atomare Auseinandersetzung zwischen der damaligen Sowjetunion und den Vereinigten Staaten gewesen wäre.
Jetzt müssen wir uns ehrlich machen. Sollte es zu einer erneuten Aufrüstungsspirale kommen, weil dieser Vertrag gekündigt wird, wird das Aufmarschgebiet, das Stationierungsgebiet und das potenzielle Schlachtfeld wieder Europa sein, wieder auch unser Land sein. Deshalb ist die Bundesregierung natürlich in besonderer Weise gefordert, und deshalb sind die Roadmap und, damit verbunden, die Dialoge, die Heiko Maas in China führen wird, genau der richtige Weg, den er uns hier gezeigt hat. Herr Minister, ich will mich ausdrücklich auch im Namen meiner Fraktion dafür bei Ihnen bedanken.
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Wir müssen mit Klarheit in diese Auseinandersetzung gehen
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– natürlich, klar, beruhigen Sie sich doch –, und diese Klarheit hat einen besonderen Bezugspunkt.
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Die nukleare Auseinandersetzung der 70er- und 80er-Jahre war eine Auseinandersetzung zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. Die größte nukleare Gefahr, die es im Moment auf dieser Welt gibt, wird durch die Spannungen zwischen den atomgerüsteten Staaten Indien und Pakistan verursacht. Die Frage einer weiteren Aufrüstung im Chinesischen Meer, die Frage einer Konfrontation im pazifischen Raum ist mindestens so dramatisch wie die Frage der eventuellen erneuten Stationierung von Systemen in Europa.
In diesem Lichte ist die mutwillige Zerschlagung der Fähigkeiten der Vereinten Nationen durch einen amerikanischen Präsidenten, der sagt: „Diese Organisation ist obsolet, wir brauchen sie nicht mehr“, eine der größten Gefahren. Deshalb, finde ich, ist das, was der Außenminister unseres Landes eben gesagt hat, der richtige Weg. Wir müssen die Frage über den INF-Vertrag und den Einbezug anderer Atommächte in diesen Vertrag auf die Tagesordnung setzen. Den Dialog mit China darüber zu suchen, den Dialog mit Indien darüber zu suchen, ein weltweites Regime der nuklearen Abrüstung anzustreben, das ist übrigens die Tradition der deutschen Sozialdemokratie seit jeher gewesen.
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Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Hampel, für Ihre Beleidigungen. Von Ihnen beleidigt zu werden, ist die größte Ehre, die einem Demokraten in Deutschland zuteilwerden kann.
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Man muss eine klare Haltung haben. Die Bundesregierung muss als Mittlerin – ich habe im Bundestagswahlkampf dafür geworben, meine Partei tut das auch heute; Herr Hitschler hat das auf den Punkt gebracht – eine eigene Position beziehen. Das heißt, wir wollen vom Grundsatz her keine Atomwaffen auf unserem Territorium, und schon gar keine neuen Systeme. Und wir wollen, dass die, die da sind, abgezogen werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Schulz. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Markus Koob, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Tribünen! Wir erleben heute eine seltene Einmütigkeit in einer strategischen Frage im Rahmen einer Aktuellen Stunde. Dass das so ist, liegt daran – das ist schon oft erwähnt worden –, dass der Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme aus dem Jahr 1987 die Welt tatsächlich verändert und den Kalten Krieg ein Stück weit beendet hat. Wir haben es schon gehört.
Dieser Vertrag hat die Welt berechenbarer und damit auch sicherer gemacht. Er hat für Annäherung gesorgt und Vertrauen zwischen den Großmächten aufgebaut. Der Vertrag wurde damals vor allem deshalb möglich, weil zwei mutige Präsidenten, Ronald Reagan und Michail Gorbatschow, erkannt haben, dass Abrüstung notwendig und dies in einem Vertrag festzuhalten ist.
Wie meine Kolleginnen und Kollegen, die schon vor mir gesprochen haben, bin auch ich ein Verfechter internationaler Lösungen, wenn es um die Frage globaler Herausforderungen geht. Wie auch bei anderen Themen wie Klimawandel, Migration oder Vermüllung der Weltmeere kann nur die Staatengemeinschaft gemeinsam zu einer nachhaltigen Lösung kommen. Auch ich bin daher ein Unterstützer des verfolgten Ziels des bilateralen INF-Vertrags, Test, Entwicklung und Stationierung nuklearer Mittelstreckensysteme zu verbieten, insbesondere auch deshalb, weil die Herausforderungen über die Jahre nicht kleiner, sondern größer geworden sind.
Angesichts zahlreicher technischer Neuerungen – auch das ist heute schon mehrfach angesprochen worden – und der Reduzierung auf nukleare Mittelstreckensysteme hat sich die Bedrohungslage trotz des existierenden INF-Vertrages in den letzten Jahren verschlechtert. Aber auch unabhängig von der technischen Entwicklung steht der Vertrag unter erheblichem Druck. So hat erst vor kurzem Russland die Existenz eines neuen Raketensystems zugegeben. Auch die russische Beschwichtigung, dass diese Systeme lediglich eine Reichweite von unter 500 Kilometern hätten, was nach NATO-Einschätzung nicht der Fall ist, ist für uns Europäer keine beruhigende Nachricht.
Wir haben auch gehört, dass es Vorwürfe gibt, die von Russland bis jetzt leider nicht entkräftet worden sind. Wenn ich von Ihnen, Frau Kollegin Vogler, den Vorwurf höre, dass die NATO nach der völkerrechtlichen Annexion der Krim zu einer „No business as usual“-Politik übergegangen sei, dann ist das ein starkes Stück; denn die völkerrechtswidrige Annexion ist eben „no business as usual“.
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Das ändert nichts daran, dass wir die Dialogstränge brauchen. Es ist übrigens auch im ureigenen amerikanischen Interesse, die Vorwürfe, die es vonseiten Russlands gegenüber den USA gibt, ebenfalls öffentlich und transparent zu entkräften.
Man muss aber kein ausgewiesener Freund der aktuellen US-Regierung sein, um die Sorge und die daraus entstehende Frage der Administration, die es im Übrigen auch schon unter Obama gegeben hat, wie mit der sehr wahrscheinlichen Verletzung des Vertrages durch die russische Seite umzugehen ist, verstehen zu können. Verhandlungen über Verstöße, die wir jetzt führen müssen, machen allerdings nur dann Sinn, wenn sich die russische Seite grundsätzlich gesprächsbereit zeigt. Die diplomatischen Versuche der amerikanischen Administration, die Russen zur Einhaltung des INF-Vertrages zu bewegen, sind in der Vergangenheit leider nicht erfolgreich gewesen.
Es ist bedauerlich, dass der Multilateralismus, der die Sicherheit und die Stabilität auf der Welt stärken soll, so unter Druck steht; denn zum Multilateralismus gibt es gerade in der Sicherheitspolitik keine Alternative. Dennoch sollten wir Europäer uns von dem möglichen Rückzug der USA aus dem INF nicht entmutigen lassen, sondern, wie wir das zum Beispiel auch schon bei dem Atomabkommen mit dem Iran getan haben, versuchen, das Heft des Handelns in die eigene Hand zu nehmen.
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Wir werden zwar das Problem nicht lösen können, aber es liegt an uns, dass wir eigene europäische Initiativen auf den Weg bringen; denn die europäische Sicherheit liegt in allererster Linie im europäischen Interesse. Wir haben viel darüber gesprochen, dass Europa in den letzten Jahren auseinandergedriftet ist, dass wir unterschiedliche Interessen in Ost- und Westeuropa haben. Ich glaube, diese Frage der Sicherheitspolitik ist eine Frage, die Ost- und Westeuropa eint, weil alle europäischen Länder die gleichen Sicherheitsinteressen haben. Das sollten wir nutzen und entsprechend versuchen, in die Verhandlungen einzubringen.
Wir haben schon mehrfach gehört, dass der INF-Vertrag in seiner ursprünglichen Konstruktion als eine bilaterale Vereinbarung zwischen den USA und Russland nicht ausreichen wird, um die Herausforderungen der Zukunft anzugehen. Wir brauchen eine breitere Aufstellung, wir brauchen eine Einbeziehung Chinas, Indiens und Pakistans, und wir brauchen – damit komme ich am Schluss zum Beginn meiner Rede zurück – mutige Präsidenten, die erkennen, dass Abrüstung notwendig ist, wenn wir weiterhin in einer friedlichen und sicheren Welt leben wollen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Koob. – Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde erhält das Wort der Kollege Josip Juratovic, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir Sozialdemokraten, wie bereits von meinen Vorrednern zum Ausdruck gebracht wurde, sehen den künftigen Gesprächen zwischen US-Präsident Donald Trump und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zur Zukunft des INF-Vertrages mit großer Besorgnis entgegen. Die Ankündigung des US-Präsidenten Trump, aus dem Abkommen aussteigen zu wollen, alarmiert mich als Außen- und Verteidigungspolitiker besonders.
Der INF-Vertrag – das wurde hier schon ausführlich benannt – verbietet Russland und den USA unter anderem den Bau und den Besitz landgestützter, atomar bewaffneter Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5 500 Kilometern. Diese Rüstungskontrolle von Kurz- und Mittelstreckenraketen sind der technische Teil des Abkommens.
Doch die politische und hochgradig symbolische Bedeutung dieses Vertrages ist mindestens genauso zentral. Der INF-Vertrag war und ist ein Bekenntnis zum Erhalt des Friedens. Wir erinnern uns: Das Abkommen war eine Wegmarke, der erste Abrüstungsvertrag der Nachkriegsgeschichte, der vor allem für die Sicherheit der Bundesrepublik von großer Bedeutung war.
Ich habe die 80er-Jahre noch vor Augen: die Angst so vieler Menschen in Deutschland vor Eskalation, die dringlichen Appelle der Friedensbewegung, die Massendemonstrationen. Ich selbst wurde als 20-jähriger Soldat infolge des russischen Einmarsches in Afghanistan für drei Monate an die bulgarische Grenze mobilisiert. So greifbar war die Kriegsgefahr. Dieses mulmige Gefühl bin ich bis heute nicht losgeworden.
Dem Abschluss des INF-Vertrags 1987 kam dann eine unschätzbare Bedeutung zu: als erstes deutliches gemeinsames Stoppsignal, als erster deutlicher Beitrag zur realen und verbalen Abrüstung – verbunden mit der Hoffnung, dass es in Europa nie wieder Krieg gibt. Daran erinnere ich nicht aus Sentimentalität – das ist mir ganz wichtig –, sondern mit Blick auf die aktuelle Entwicklung.
Lange war der Frieden nicht mehr so bedroht wie derzeit durch chauvinistisch agierende Großmächte. Putin und Trump – so unterschiedlich sie auch sein mögen, so ähnlich ticken sie im Hinblick auf autokratische Tendenzen. Beide treffen zunehmend eigenmächtige, unilaterale Entscheidungen. Aufgabe der Bundesregierung muss es sein, diesem Handeln im Rahmen einer europäischen Friedenspolitik entgegenzuwirken, den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass Russland das INF-Abkommen verletzt. Russland hat es lange Zeit versäumt, diese Vorwürfe auszuräumen. Doch was muss Konsequenz daraus sein? Aus dem Abrüstungsvertrag auszusteigen? Auf gar keinen Fall.
Aufgabe von uns Deutschen muss es sein, uns gemeinsam mit unseren europäischen Partnern breiter aufzustellen, zu verhandeln, Druck auszuüben. Dabei müssen wir andere Nuklearmächte wie China einbinden, die in diesem Abkommen genau wie Indien und Pakistan überhaupt nicht berücksichtigt sind, die aber auf der internationalen Bühne auch sicherheitspolitisch an Bedeutung gewonnen haben. Unser Ziel ist es, das Abkommen durch Verhandlungen zu verbessern und zeitgemäßer zu machen – nicht der Bruch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD wird nicht tatenlos dabei zuschauen, wie Abkommen aufgelöst werden, ohne dass sie sinnvoll abgelöst werden, ohne dass es einen sicherheitspolitischen Fahrplan gibt. Wir halten die einseitige Auflösung des INF-Abkommens für grob fahrlässig und bitten die Bundesregierung, alles dafür zu tun, dass die Verhandlungspartner Russland und USA sich gemeinsam an einen Tisch setzen, um die Differenzen auszuräumen.
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An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich bei Außenminister Heiko Maas bedanken, der mit dem Ziel einer europäischen Friedenspolitik beharrlich in Europa um Partner wirbt. Kolleginnen und Kollegen, es ist höchste Zeit für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Es ist nicht Zeit für das einseitige Brechen des Abrüstungsabkommens. Gerade heute dürfen wir Brücken nicht abbrechen; wir müssen sie runderneuern, das Fundament stärken, die Pfeiler auf festen Grund stellen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Juratovic. – Damit findet die Aktuelle Stunde ihr Ende.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit Blick auf den Arbeitsmarkt in Deutschland gibt es Grund zur Freude und zum Stolz für unser Land, weil wir auf den ersten Blick eine ausgezeichnete Lage am Arbeitsmarkt haben: den höchsten Stand sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung seit der deutschen Einheit, die zweitniedrigste Erwerbslosenquote in der Europäischen Union.
Aber: Wir haben nach wie vor trotz dieser guten Entwicklung, die maßgeblich auf dem wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre beruht, einen verfestigten Sockel von Langzeitarbeitslosigkeit, von Menschen, die nicht die Chance hatten, von dieser guten wirtschaftlichen Entwicklung zu profitieren. Deshalb ist es richtig, dass wir heute anpacken. Ich bin stolz darauf, dass wir heute den sozialen Arbeitsmarkt im Deutschen Bundestag beschließen werden.
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Wir reden hier über Menschen, die es aus sehr unterschiedlichen Gründen schwer hatten. Darunter sind Menschen, die zwar einmal eine ordentliche Ausbildung abgeschlossen haben, aber deren Betrieb in einer Region, in der es Strukturwandel gegeben hat, eingestellt wurde. Diese Menschen haben den Anschluss verloren. Wir reden auf der anderen Seite über Menschen, die manchmal in zweiter, dritter Generation den Zugang zu Erwerbstätigkeit nicht hatten. Wir reden über alleinerziehende Menschen, über Leute, die ganz lange aus dem Beruf heraus sind und die besondere Hilfen brauchen – und zwar keine kurzatmigen Maßnahmen, sondern eine längerfristige Perspektive auf sozialversicherungspflichtige Arbeit. Diese Perspektive schaffen wir heute mit diesem Gesetz.
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Es geht hier nicht um Scheinbeschäftigung. Denn uns ist klar, dass für die meisten Menschen in Deutschland Arbeit nach wie vor mehr ist als Broterwerb. Es geht um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Es geht darum, Kolleginnen und Kollegen zu haben. Es geht darum, seine Leistung zu spüren. Deshalb, meine Damen und Herren, ist es richtig, dass wir 4 Milliarden Euro investieren, um diesen Menschen jetzt eine Chance zu geben – eine Chance nicht nur auf Arbeit und Einkommen für ihre Familien, sondern eine Chance auch auf soziale Sicherheit und soziale Teilhabe an dieser Gesellschaft.
Ich bin den Parlamentariern der Koalitionsfraktionen im Besonderen außerordentlich dankbar dafür, dass sie im Rahmen der parlamentarischen Beratung dafür gesorgt haben, dass aus einem guten Gesetz
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ein noch besseres geworden ist.
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Sie haben beispielsweise Regelungen durchgesetzt, dass in tarifgebundenen Unternehmen, die Arbeitsplätze anbieten – ob in der freien Wirtschaft, bei Kommunen oder bei Wohlfahrtsverbänden –, nicht nur der Mindestlohn, sondern der Tariflohn gezahlt wird. Es ist eine Frage der praktischen Vernunft, dass uns das gelungen ist.
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Ich möchte mich insbesondere bei den Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen bedanken. Ich sehe zum Beispiel Herrn Weiß, Herrn Stracke, Frau Tack, Frau Mast, Herrn Whittaker und viele andere mehr, die mitgeholfen haben, dass wir auch bei der Frage des Zugangs zu dieser Möglichkeit ein bisschen liberaler geworden sind. Nach sechs Jahren Leistungsbezug innerhalb der letzten sieben Jahre gibt es die Chance auf Förderung. Für Schwerstbehinderte oder Bedarfsgemeinschaften mit Kindern besteht die Möglichkeit, nach fünf Jahren Leistungsbezug diese dauerhafte Förderung der sozialversicherungspflichtigen Arbeit in Anspruch zu nehmen. Das, meine Damen und Herren, sind zwei wesentliche Fortschritte aus der parlamentarischen Beratung.
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Herr Whittaker, man muss es offen sagen: Es ist Ihr Verdienst, dass wir dafür auch den Betreuungsschlüssel verbessert haben, damit wir dieses Instrument in den Jobcentern gut umsetzen. Darauf können Sie stolz sein; das will ich Ihnen einmal sagen. Gemeinsam haben wir etwas Gutes erreicht. Das zeigt: Diese Koalition redet nicht nur, sie streitet manchmal, aber sie sorgt vor allen Dingen für bessere Lebenschancen für Menschen in diesem Land; denn um die geht es. Es geht nicht um parteipolitische Interessen.
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Ab 1. Januar 2019 geht es mit dem sozialen Arbeitsmarkt in Deutschland los. Wir nehmen 4 Milliarden Euro für zwei Instrumente in die Hand, die wir auf den Weg bringen. Jetzt geht es darum, aus diesem Gesetz in Deutschland Realität werden zu lassen: in den Jobcentern, mit den Praktikern.
Mein Appell geht heute an die freie Wirtschaft, an die Kommunen, an die Träger, langzeitarbeitslosen Menschen eine Chance zu geben. Wir werden sie dabei mit Lohnkostenzuschüssen unterstützen. Das ist gut investiertes Geld, weil – ich sage es noch einmal – für Menschen Arbeit mehr ist als Broterwerb, und auch langzeitarbeitslose Menschen haben das Recht, jetzt vom Aufschwung zu profitieren. Dafür sorgt diese Bundesregierung, dafür sorgt diese Koalition.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Minister. – Als Nächstes für die AfD-Fraktion der Kollege Jörg Schneider.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Bevor man eine Reise antritt, sollte man sich eigentlich über das Ziel im Klaren sein. Was das Teilhabechancengesetz betrifft, so habe ich Zweifel, dass Sie überhaupt auch nur diese erste Hürde schaffen.
Ich zitiere. Auf der einen Seite steht: „Ziel ist es“, Langzeitarbeitslosen „wieder eine Perspektive zur Teilhabe am Arbeitsmarkt zu eröffnen.“ Andererseits sagen Sie: „ … arbeitsmarktfernen Personen, die auf absehbare Zeit keine realistische Chance auf eine Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt haben, soziale Teilhabe zu ermöglichen.“ Ja, was wollen Sie denn jetzt eigentlich? Integration in den Arbeitsmarkt oder Beschäftigungstherapie? Sie sind sich über das Ziel nicht im Klaren, Sie gehen aber einfach mal los. So kann das meiner Meinung nach nicht funktionieren.
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In der ersten Lesung hat mein Kollege René Springer ausgeführt: Alle Beschäftigungsprogramme in der Vergangenheit sind grandios gescheitert. Milliarden wurden verbrannt, Erwartungen enttäuscht, und in vielen Fällen wurde sogar die Integration in den Arbeitsmarkt verhindert. – Wir müssen aber gar nicht Jahrzehnte zurückgehen, wir müssen nur ein paar Kilometer nach Süden gehen, nach Österreich. Da gab es im letzten Jahr ein ähnliches Programm. Das hieß „Aktion 20 000“. Man wollte 20 000 vor allen Dingen ältere Langzeitarbeitslose in den Arbeitsmarkt integrieren. Das Projekt ist grandios gescheitert. Wir von der AfD-Fraktion sind nach Wien gefahren
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und haben uns informiert, warum das passiert ist.
Sie wollten ursprünglich Beschäftigung bis zum Mindestlohn fördern. Dafür wurden Sie kritisiert. Jetzt haben Sie das ausgeweitet auf Tariflöhne. Die Österreicher waren viel großzügiger. Die haben bis zur Beitragsbemessungsgrenze von 5 000 Euro im Monat gefördert, und trotzdem haben sie im ersten halben Jahr nur 3 500 Stellen geschaffen. Daraufhin wurde dieses Projekt für gescheitert erklärt und eingestampft. 3 500 Stellen in Österreich bedeuten auf die Bundesrepublik Deutschland übertragen ungefähr 35 000 Stellen im ersten halben Jahr. Was ich mich jetzt frage: 35 000 Stellen im ersten halben Jahr, wäre das jetzt ein Erfolg, oder wäre das ein Misserfolg?
Worauf ich hinauswill: Jedes Start-up muss seinen Geldgebern einen klaren Businessplan vorgeben, in dem drinsteht, welche Zwischenziele man bis wann erreichen will. Bei Ihnen: kein Plan, keine Zahlen, keine konkreten Ziele. Herr Minister, Sie wollen hier zu einem Blindflug starten. Dafür wollen Sie 4 Milliarden Euro von uns haben. Wir von der AfD werden Ihnen die Starterlaubnis zu diesem Blindflug nicht erteilen.
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Auch wir von der AfD sprechen uns dafür aus, Langzeitarbeitslosen zu helfen, sie zu fördern.
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Das muss aber ein klares Ziel haben, und das muss die Integration in den ersten Arbeitsmarkt sein. Sie wollen fünf Jahre lang fördern – fünf Jahre! –, und danach gibt es für die entsprechend subventionierten Arbeitgeber nicht einmal die Pflicht zur Weiterbeschäftigung. Herr Minister, das ist doch keine Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Das, was Sie hier vorhaben, ist, innerhalb dieser Legislaturperiode die Statistiken für Langzeitarbeitslose etwas zu schönen. Das ist keine Perspektive für langzeitarbeitslose Menschen in diesem Land, Herr Minister.
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Herr Minister, Ihr Projekt wird scheitern. Das ist sicher. Dieses Scheitern werden Sie allerdings gut verstecken können; denn es gibt keine klaren Kriterien, an denen wir Ihr Gelingen messen können. Alleine die Verweigerung dieser klaren Kriterien zeigt uns recht deutlich: Sie wissen selber, dass dieses Projekt scheitern wird. Deswegen: Stoppen Sie dieses Projekt! Noch ist Zeit dafür. Wir von der AfD werden Sie gerne dabei unterstützen. Wir werden Ihren Gesetzentwurf deswegen ablehnen.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Schneider. – Als Nächster spricht zu uns für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Peter Weiß.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Deutscher Arbeitsmarkt erreicht Rekordniveau“, das war der Titel der „Wirtschaftswoche“ am letzten Dienstag. Die Dynamik am Arbeitsmarkt sorgt dafür, dass immer mehr Menschen, die arbeitslos waren, wieder in Arbeit kommen. Auch die Langzeitarbeitslosen finden zunehmend Zugang zum Arbeitsmarkt. Aber es gilt nach wie vor die Regel: Je länger arbeitslos, umso schwieriger. Vor allen Dingen bei den Menschen, die fünf Jahre und noch länger langzeitarbeitslos sind, bewegt sich relativ wenig.
Aber wann, wenn nicht jetzt, in dieser hervorragenden konjunkturellen Situation, besteht eine echte Chance, die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit aufzubrechen? Genau das ist das Ziel unseres Gesetzes. Wir wollen die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit aufbrechen und Menschen, die zum Teil schon die Hoffnung aufgegeben haben, dass sie je wieder Beschäftigung finden könnten, in Beschäftigung bringen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, es geht nicht einfach um Beschäftigung irgendwelcher Art, sondern es geht um echte Arbeit, um Teilhabe am Arbeitsleben. Oswald von Nell-Breuning, einer der großen Sozialethiker, hat einmal gesagt:
Arbeit bloß um der „Beschäftigung“ willen wäre Arbeit um ihrer selbst willen. Zur Arbeit gehört ein Sinn oder Ziel, um dessentwillen man arbeitet. Andernfalls ist es keine Arbeit.
Deswegen betone ich: Wir wollen echte Arbeit. „Echte Arbeit“ heißt Geld verdienen mit ordentlicher Leistung, heißt Teilhabe am Arbeitsleben und am gesellschaftlichen Leben, heißt auch, ein Stück weit Selbsterfüllung zu finden, weil man stolz darauf ist, was man arbeitet. Das unterscheidet uns vielleicht von einer anderen Fraktion, die das nicht kapiert hat. Wir haben einen umfassenden Begriff von Arbeit, in dem soziale Teilhabe, gesellschaftliche Teilhabe selbstverständlich zur Arbeit dazugehört.
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Deshalb unterbreiten wir mit diesem Gesetz ein wirklich attraktives und ernstgemeintes Angebot an alle Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in Deutschland, an die Privatwirtschaft wie den öffentlichen Dienst. Wir bieten an, für Menschen, die seit zwei Jahren Arbeitslosengeld II beziehen, über zwei Jahre absteigend, also degressiv gestaltet, einen Lohnkostenzuschuss zu zahlen. Und wir bieten an, für Menschen, die sechs und noch mehr Jahre langzeitarbeitslos sind, über fünf Jahre einen Lohnkostenzuschuss zu zahlen; aber nicht in immer gleicher Höhe, sondern wir fangen in den ersten zwei Jahren mit 100 Prozent an, dann geht es schrittweise nach unten, sodass der Arbeitgeber einen Teil des Lohns selbst bezahlen muss.
Mit diesen beiden Instrumenten eröffnen wir die Möglichkeit, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dass Arbeitgeber sich einen Ruck geben und auch einem Menschen, von dem sie denken: „Das ist ein sehr schwieriger Mensch, mit dem habe ich mehr Mühe“, eine echte Chance am Arbeitsmarkt geben. Wir zählen darauf, dass die deutschen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber gerade angesichts des Fachkräftemangels in unserem Land bereit sind, diesen Menschen eine Chance zu geben. Dafür schaffen wir heute das Instrumentarium.
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Aber – das ist das Entscheidende für uns – Geld allein ist wenig. Wir bieten gleichzeitig an, dass diese Langzeitarbeitslosen durch ein Coaching vorbereitet und begleitet werden, dass jemand ihnen hilft, ihre vielfachen Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen haben, zu überwinden. Wir lassen die Langzeitarbeitslosen nicht alleine.
Hinzu kommt – der Bundesarbeitsminister hat hier zu Recht meinen Kollegen Kai Whittaker angesprochen –: Wir brauchen in den Jobcentern geeignetes Personal, das sich noch konzentrierter um diesen Personenkreis kümmert. Ich freue mich, dass morgen der Verwaltungsausschuss der Bundesagentur für Arbeit einen Haushalt verabschieden wird, in dem noch 400 zusätzliche Stellen für Menschen vorgesehen sind, die in unseren Jobcentern helfen, Langzeitarbeitslosen eine Chance zu geben.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Deswegen fordere ich Sie, liebe Kollegen, auf, heute mit Ihrer Zustimmung zum Teilhabechancengesetz dieser Chance für Langzeitarbeitslose das Tor zu öffnen.
Vielen Dank.
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Ich erteile das Wort nunmehr dem Kollegen Pascal Kober, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Bundesminister! Lieber Hubertus Heil, was Sie mit dem Teilhabechancengesetz vorlegen, ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Aber das ist zu wenig, Sie springen zu kurz; denn wie der Name schon sagt, legen Sie den Schwerpunkt auf Teilhabe und viel zu wenig auf nachhaltige Qualifikation für eine nachhaltige Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Das ist schade; denn Sie nutzen nicht die herausragend gute Lage am Arbeitsmarkt und die Möglichkeit, den Fachkräftemangel zu mindern. Hier hätten Sie ehrgeiziger sein und mehr erreichen können.
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Wir wissen alle, dass nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt am besten durch Qualifikation im ersten Arbeitsmarkt gelingt. Da hätten Sie die Schnittstelle zwischen Jobcenter und erstem Arbeitsmarkt deutlich verbessern müssen, verbessern können. Ich bin gespannt, womit sich die 400 zusätzlich eingestellten Mitarbeiter in Zukunft beschäftigen sollen. Tatsächlich ist es die wichtige Frage, ob wir sogenannte Arbeitgeberservices oder Betriebsakquisiteure stärken können, damit eben die Schnittstelle zwischen Arbeitergebern und erstem Arbeitsmarkt sowie den Jobcentern verbessert wird. Das ist notwendig. Wir müssen Arbeitgeber des ersten Arbeitsmarktes dafür gewinnen, dass sie die Möglichkeiten, die dieses neue Gesetz bietet, für die Qualifikation von Menschen, die langzeitarbeitslos sind, tatsächlich kennenlernen und nutzen.
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So wie das Gesetz im Moment ausgestaltet ist, wird es am Ende vor allen Dingen dazu führen, dass Sozialunternehmen und Kommunen rasch Beschäftigungsangebote machen werden. Das geht schnell. Deshalb werde ich den Verdacht nicht los, dass es Ihnen vor allen Dingen darum geht: um ein schnelles Aufhübschen der Arbeitslosenstatistik, bevor es zur Evaluation der Koalitionsergebnisse durch die SPD kommt.
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Lieber Herr Bundesminister, liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion, ich bin ja froh, dass Sie die Kritik der FDP aus der ersten Lesung mit Ihren Änderungsanträgen aufgegriffen haben und mehr Mittel für die Weiterbildung während der Beschäftigungsphase einplanen. Statt wie ursprünglich maximal 1 000 Euro pro Weiterbildung sind es jetzt 3 000 Euro für den gesamten Zeitraum von fünf Jahren. Das ist sicherlich eine Verbesserung in die richtige Richtung. Aber es wird nicht ausreichen, um abschlussorientierte Weiterbildung zu finanzieren.
Es ist schade, dass wir den Menschen nicht wirklich eine selbstbestimmte Teilnahme am Arbeitsleben ermöglichen. Es muss doch darum gehen, dass die Menschen Fähigkeiten erwerben, mit denen sie sich dann, auf eigenen Beinen stehend, bei verschiedenen Arbeitgebern bewerben können. Es kann nicht ausreichend sein, nur Teilhabe zu finanzieren. Da springen Sie zu kurz. Das ist sehr schade.
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Das zweite ganz große Problem, lieber Martin Rosemann, ist, dass Sie eben keine nachhaltige Sozialpolitik betreiben.
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Es muss doch darum gehen, die Ursachen für Langzeitarbeitslosigkeit früh zu erkennen und früh anzugehen. Wenn nach wie vor 50 000 Schülerinnen und Schüler ohne Schulabschluss die Schule verlassen, Sie aber gleichzeitig in einem Zeitraum von vier Jahren 150 000 Langzeitarbeitslose mit 4 Milliarden Euro fördern wollen, dann geht das mathematisch nicht auf. Ich kann Ihnen da wirklich nur raten, sich an Ihren früheren Bundesvorsitzenden zu erinnern. Er sagte einmal: Wenn man das nebeneinanderlegt, muss man kein Mathematiker sein, da reicht Volksschule Sauerland, um zu wissen, das kann nicht gehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, der Großen Koalition, bemühen Sie sich wirklich einmal um eine nachhaltige Sozialpolitik. Das bedeutet eben, dass man auch an den Ursachen ansetzt und nicht nur später an den Symptomen. Präventive Maßnahmen wären sinnvoll. Der § 16h SGB II beispielsweise wäre zu stärken gewesen.
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Das haben Sie versäumt. Die Mittel für das Bildungs- und Teilhabepaket möchten Sie erst in einem halben Jahr erhöhen. Das sind alles verpasste Chancen für die Jugendlichen von heute, die am Ende vielleicht die Langzeitarbeitslosen von morgen sein werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kober. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wissen Sie, wenn ich Ihnen so zuhöre, dann frage ich mich manchmal: Wie weit weg sind Sie von der Realität?
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Kennen Sie eigentlich die Lebenslagen von langzeiterwerbslosen Menschen?
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Kennen Sie die?
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Herr Whittaker, Sie kommen mir gerade recht, muss ich Ihnen sagen.
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Bei der ersten Lesung – ich hoffe, Sie können sich daran erinnern; wenn nicht, helfe ich Ihnen mal auf die Sprünge – sagten Sie:
Gerade heute war zu lesen, dass 469 000 SGB-II-Bezieher seit dem 1. Januar 2005 im System sind. Wir nennen sie manchmal etwas despektierlich „Gründungsmitglieder“.
Also wissen Sie, ich muss Ihnen ehrlich sagen: „Despektierlich“ heißt den nötigen Respekt vermissen lassen. So sprechen Sie über Langzeiterwerbslose. Sie sollten sich dafür wirklich schämen; das muss ich Ihnen so deutlich sagen.
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Wenn dann noch Minister Heil zu den Arbeitsmarktzahlen und einer gesunkenen Arbeitslosenquote sagt, darauf könne Deutschland stolz sein, dann muss ich Sie fragen, Herr Heil: Worauf bitte? Worauf wollen Sie stolz sein? Millionen Beschäftigte können von ihrer Arbeit nicht leben.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Whittaker?
Ja, gerne.
Dann halte ich die Redezeit an.
Herr Whittaker.
Frau Kollegin, weil Sie mich auf dieses Zitat angesprochen haben: Sind Sie bereit, anzuerkennen, dass das Wort „Gründungsmitglieder“ nicht ein Wort ist, das ich erfunden habe, sondern das in sämtlichen Fachgesprächen, die es unter uns SGB-II-Politikern gibt, ganz bekannt ist? Es heißt deshalb „despektierlich“, weil ich es auch nicht gut finde. So habe ich es gemeint, nicht so, dass ich SGB-II-Empfängern in irgendeiner Form ans Schienbein treten will. Sind Sie bereit, anzuerkennen, dass Sie hier gerade versuchen, eine falsche Intention in die Debatte zu bringen?
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Herr Whittaker, ich kann Ihnen ganz deutlich sagen, was hier steht:
Wir nennen sie manchmal etwas despektierlich „Gründungsmitglieder“.
Das steht hier im Protokoll, lesen Sie es bitte nach. Es heißt „wir“, das sind Sie und niemand anderes. Deswegen finde ich es schon sehr unangemessen, Menschen so zu bezeichnen.
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Ich bin jetzt beim Herrn Heil. Worauf bitte wollen Sie stolz sein? Millionen Beschäftigte können von ihrer Arbeit nicht leben. Sie erhalten ergänzend Hartz IV oder gehen einem Zweit- oder Drittjob nach. Ich denke, Sie kennen die Zahlen: 3,4 Millionen Menschen. Das ist schon sehr viel. Jeder dritte Erwerbslose ist länger als ein Jahr ohne Arbeit. Von den Langzeiterwerbslosen, die ihre Arbeitslosigkeit beenden können, schafft nur jeder achte den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt.
Frau Kollegin, gestatten Sie bitte eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Weiß? Es hält ihn kaum auf den Sitzen.
Ach, Herr Weiß, Sie hatten vorhin schon Ihren Auftritt. Ich glaube, das reicht.
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Erwerbslose Menschen in Deutschland sind im EU-weiten Vergleich am stärksten von Armut bedroht. Das Armutsrisiko liegt bei 70 Prozent. Egal ob mit Arbeit oder ohne Arbeit: Für viele Menschen in unserem Land sind die Aussichten und die Arbeits- und Lebensbedingungen schlecht. Darauf kann man einfach nicht stolz sein, meine Damen und Herren.
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Die Menschen brauchen gute Arbeit, Arbeit, von der sie leben können. Davon gibt es zu wenig. Viel zu viele erwerbslose Menschen werden aufs Abstellgleis geschoben oder im Hartz-IV-System gedemütigt. Darauf, Herr Heil, kann man nicht stolz sein; das muss ich Ihnen auch so deutlich sagen. Das ist nämlich ein Schlag ins Gesicht.
Die Linke fordert schon seit 20 Jahren einen sozialen Arbeitsmarkt. Unsere guten Anträge haben Sie leider immer wieder abgelehnt. Nun endlich wollen Sie einen sozialen Arbeitsmarkt einrichten. Aber ich glaube, dieses Teilhabechancengesetz der Bundesregierung bleibt nur eine Alibipolitik und schafft eben keine Teilhabe auf dem ersten Arbeitsmarkt, Herr Weiß. Sechs Jahre Hartz-IV-Bezug als Voraussetzung grenzt den Großteil aus. Sechs Jahre – das muss man sich mal vorstellen! – müssen Sie langzeiterwerbslos sein, um in den sozialen Arbeitsmarkt zu kommen. Sie machen hier Menschen Hoffnungen, die Sie einfach nicht erfüllen. Die Jobcenter sind finanziell immer noch zu schlecht ausgestattet. Die zusätzlichen Mittel sind nicht zweckgebunden. Somit ist zu befürchten, dass viele Jobcenter die Gelder anderweitig verwenden, zum Beispiel für den Verwaltungsetat.
Besonders unverständlich ist auch, dass beim Teilhabeinstrument keine Beiträge für die Arbeitslosenversicherung vorgesehen sind. Somit handelt es sich um Beschäftigte zweiter Klasse. Das werden wir nicht hinnehmen.
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Sie bleiben vor allem in Ihrem Sanktionsdenken verhaftet. Auch das neue Instrument ist nicht freiwillig, sondern Erwerbslose können wieder zugewiesen werden. Wann verstehen Sie endlich, dass Zwangsmaßnahmen kein Instrument für eine gute Arbeitsmarktpolitik sind? Die Linke fordert die Abschaffung der Sanktionen.
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Ich komme zum Schluss. Dass es bessere Konzepte gibt, zeigt unser Antrag heute. Sie können ihm zustimmen. Wir haben auch einen Änderungsantrag zu Ihrem Gesetzentwurf. Wenn Sie unserem Antrag nicht zustimmen können, Herr Heil, dann können Sie vielleicht unserem Kompromissvorschlag zustimmen. Das würde vor allen Dingen Ihren schlechten Gesetzentwurf wesentlich verbessern.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke das Wort.
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Ich will darauf hinweisen, dass ich die Kurzintervention des Kollegen Weiß, um die er gebeten hat, nicht zulasse, weil Sie, Herr Whittaker, noch reden und die Möglichkeit haben, klarzustellen, was missverständlich geschildert worden ist.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Wenn Menschen lange arbeitslos sind, wenn sie das Gefühl haben, dass sie nicht gebraucht werden, wenn gesellschaftliche Teilhabe, soziale Kontakte und Wertschätzung fehlen, dann macht das etwas mit den Menschen. Deshalb brauchen wir einen Perspektivwechsel hin zu einer solidarischen Arbeitsmarktpolitik. Wir dürfen niemanden alleine lassen und auch niemanden aufgeben. Der soziale Arbeitsmarkt ist genau der richtige Weg.
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Beim sozialen Arbeitsmarkt müssen aber Ziel und Weg zusammenpassen. Sonst scheitert nicht nur das Instrument, sondern auch die Idee. Deshalb waren die Änderungen – Stichwort „Tariflohn“ – dringend notwendig. Aber wir haben noch immer an manchen Stellen Kritik. Zentral bleibt die Frage: Wer profitiert eigentlich vom sozialen Arbeitsmarkt? Es gibt nun eine Härtefallregelung für Schwerbehinderte und Personen mit Kindern. Aber warum nur für diesen Personenkreis? Was ist beispielsweise mit einer Frau, die 54 Jahre alt und bereits fünf Jahre arbeitslos ist? Auch Ältere und Alleinstehende brauchen doch soziale Teilhabe.
Zur neuen Regelung, die sechs Jahre Leistungsbezug als Voraussetzung vorsieht: Wenn die Chancen auf Beschäftigung schon vor den sechs Jahren gering sind, dann bedeutet das lange Warten doch nichts anderes, als dass sich die Langzeitarbeitslosigkeit weiter verfestigt, mit all ihren Folgen. Das macht einfach keinen Sinn. Auch die sechs Jahre sind zu lang.
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Wir kritisieren auch, dass der Lohnkostenzuschuss stark abgesenkt wird, und zwar auf 70 Prozent. Ich habe die Bundesregierung nach den Gründen dafür gefragt. Die Antwort lautet – ich zitiere –: Der Lohnkostenzuschuss ist aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung und Transparenz auf die im Gesetzentwurf genannten Prozentsätze festgesetzt. – Diese Begründung ist fatal. Wie kann man denn Lohnkostenzuschüsse verwaltungstechnisch einfach ausgestalten, wenn es um Chancen und Perspektiven von Menschen geht? Die Menschen sind unterschiedlich. Sie haben unterschiedliche Stärken und Schwächen. Der Zuschuss muss nicht zur Arbeitsverwaltung, sondern – individuell ausgestaltet – zu den Menschen passen. Nur so entstehen neue Chancen.
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Deutliche Kritik haben wir auch beim Thema Zuweisung. Zwang darf es nicht geben. Das verletzt die Würde der Menschen. Auch langzeitarbeitslose Menschen müssen natürlich das Recht haben, sich selbstbestimmt und frei einen Arbeitsplatz auszusuchen. Das gilt im Übrigen auch für die andere Seite. Kein Arbeitgeber wird sich einfach einen Beschäftigten zuweisen lassen. Deshalb fordern wir eine doppelte Freiwilligkeit.
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Sehr geehrte Regierungsfraktionen, beim sozialen Arbeitsmarkt geht es um einen Paradigmenwechsel: statt Programme ein Regelinstrument, nicht kurzfristig, sondern fünf Jahre, keine Maßnahmen, sondern echte Beschäftigung. Wir hätten dem Gesetz trotz aller Kritik gerne zugestimmt; denn der soziale Arbeitsmarkt ist uns ein besonderes Anliegen. Aber dann kam der letzte Änderungsantrag, mit dem Sie das Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ gleich wieder zum 1. Januar 2025 außer Kraft setzen. Das ist für uns in keiner Weise akzeptabel.
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Für den sozialen Arbeitsmarkt müssen in der nächsten Zeit verlässliche Strukturen aufgebaut werden. Dazu braucht es Planungssicherheit. Aber statt Planungssicherheit gibt es jetzt wieder ein Verfallsdatum. Einem sozialen Arbeitsmarkt, der beendet wird, bevor er überhaupt begonnen hat, können wir nicht zustimmen.
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Deshalb werden wir uns enthalten.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes für die SPD-Fraktion der Kollege Dr. Martin Rosemann.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Man kann vorweg sagen: Wir haben im parlamentarischen Verfahren ein richtig gutes Gesetz noch besser gemacht.
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Mit dem Gesetz kommt der soziale Arbeitsmarkt in Deutschland. Das hat die SPD durchgesetzt.
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Wir schaffen damit Teilhabe durch Arbeit für Menschen, die sehr lange draußen sind und die deshalb keine Chancen mehr auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Wir nehmen sehr viel Geld in die Hand, liebe Beate Müller-Gemmeke. Dann muss dieses Geld gerade für diejenigen eingesetzt werden, die trotz bestmöglicher anderweitiger Förderung keine Perspektive auf dem ersten Arbeitsmarkt haben.
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Das muss zielgenau sein. Ich glaube, dass wir das im parlamentarischen Verfahren noch besser hinbekommen haben, weil wir den Jobcentern mehr Flexibilität vor Ort geben. Wer in den letzten sieben Jahren sechs Jahre im Leistungsbezug war, wird gefördert. Es gibt aber Ausnahmeregelungen für Bedarfsgemeinschaften mit Kindern und für Schwerbehinderte. Damit sind wir in der Lage, genau diejenigen zu erreichen, die gerade diese Unterstützung brauchen.
({3})
Wir wollen gute Arbeit fördern. Deswegen wollen wir die ganze Palette der möglichen Arbeitgeber erreichen: Kommunen, Sozialverbände, Privatwirtschaft, insbesondere das Handwerk. Deswegen ist es richtig und notwendig gewesen, dass wir im parlamentarischen Verfahren die Orientierung am Tariflohn durchgesetzt haben, und zwar dort, wo Tariflöhne gezahlt werden.
({4})
Wir wollen sinnvolle Arbeit fördern. Deswegen ist es richtig, dass die Kriterien Zusätzlichkeit, öffentliches Interesse und Wettbewerbsneutralität wegfallen. Wir wollen keine bürokratischen Lösungen mehr durch das Bundesverwaltungsamt, sondern einen örtlichen Konsens mit den Sozialpartnern. Deswegen stärken wir die Rolle der Sozialpartner im Verfahren noch einmal.
({5})
Wir wollen die Leute, die für das Instrument infrage kommen, schon vor der Teilnahme optimal und individuell fördern. Es muss immer genau geprüft werden: Ist das tatsächlich die richtige Förderung? Wer ist tatsächlich der richtige, der passende Arbeitgeber? Ich halte die Diskussion über die Freiwilligkeit für ziemlich abstrakt; denn in der Praxis wird es niemanden geben, der einen Arbeitgeber oder einen potenziell Beschäftigten dazu zwingt, einen bestimmten Arbeitsplatz zu besetzen. Vielmehr wird es darum gehen, für jeden den optimalen Arbeitgeber bzw. optimalen Beschäftigten, den optimalen Arbeitsplatz zu finden.
({6})
Wir wollen auch während des Einsatzes des Instruments die optimale individuelle Unterstützung, eine beschäftigungsbegleitende Betreuung, und zwar individuell und ganzheitlich. Dazu gehört auch das Thema Qualifizierung. Deswegen ist es richtig, dass wir das nicht davon abhängig machen, ob sich der Arbeitgeber beteiligt.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten steht die individuelle Unterstützung im Vordergrund. Das gilt übrigens auch für die Qualifizierung. Deswegen bin ich über das verwundert, was die FDP hier erzählt hat. Wir waren es doch, die in der letzten Legislaturperiode Weiterbildungsprämien im SGB II eingeführt haben.
({7})
Wir sind es jetzt, die den Budgetdeckel für die §§ 16e, f und h im SGB II abschaffen. Das Ganze muss natürlich finanziell hinterlegt werden. Auch hier wundere ich mich. Als ihr das letzte Mal regiert habt, wurde der Eingliederungstitel massiv gekürzt. Wir sind es jetzt, die – damit diese Förderung ermöglicht wird – den Eingliederungstitel, den Verwaltungstitel und den Passiv-Aktiv-Transfer erhöhen und damit Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren.
({8})
Endlich haben wir es geschafft. Der soziale Arbeitsmarkt kommt. Wir packen die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit an.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Zur Frage, ob es richtig ist, das Instrument zu befristen: Wir wollten das nicht. Wir haben viele Verbesserungen durchgesetzt und dafür auch einen Preis gezahlt.
Kommen Sie jetzt zum Schluss.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. – Jedes Instrument muss aber eine parlamentarische Mehrheit im Deutschen Bundestag haben. Deswegen sage ich: Das ist eine Scheindiskussion. Wir schaffen heute ein gutes Instrument. Heute ist ein guter Tag für die Langzeitarbeitslosen in Deutschland, für ein solidarisches Deutschland und für den Sozialstaat als verlässlicher Partner der Beschäftigten und der Arbeitslosen in Deutschland.
Ich danke Ihnen.
({0})
Jetzt als Nächster der Kollege Kai Whittaker, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kollegen! Mich erschreckt die Kleingeistigkeit der Redner hier von der Opposition.
({0})
Ich musste mir hier anhören, Herr Schneider, dass Sie einen Business Case verlangen. Herr Schneider, wir reden hier von Menschen, nicht von Maschinen, die irgendwelche Kennzahlen zu erfüllen haben, und wir versuchen, diese Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Im Übrigen steht in Ihrem Wahlprogramm mehr oder weniger dasselbe. Also stellen Sie sich nicht hierhin, und sagen Sie nicht, Sie wollten dies gar nicht unterstützen.
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Auch was die FDP sagt, wundert mich übrigens. Gestern haben Sie im Ausschuss allen Änderungsanträgen zugestimmt. Die einzige Kritik, die Sie hatten, war, dass im Gesetzentwurf keine Evaluation vorgesehen ist. Die Bundesregierung hat jetzt aber in das Gesetz hineingeschrieben – Herr Rosemann hat es gesagt –, dass die Regelungen Ende 2024 auslaufen, damit der nächste Deutsche Bundestag erneut darüber abstimmen kann. Ihr Kollege Vogel war lange genug bei der BA beschäftigt, um zu wissen, dass eine BA mit ihrem Forschungsinstitut sehr wohl eine Evaluation durchführen wird, bevor sich der Deutsche Bundestag erneut damit beschäftigt. Insofern klammern Sie sich hier an einen Strohhalm, nur um heute nicht zustimmen zu müssen.
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Frau Müller-Gemmeke, noch einmal zur Befristung: Das Ganze läuft bis 2029; so lange werden Menschen durch dieses Instrument tatsächlich gefördert. Das sind elf Jahre. Wenn das keine Langfristigkeit ist, dann weiß ich auch nicht.
Frau Kollegin Zimmermann, Ihnen muss ich sagen – Sie haben Ihre Redezeit für Ihren Antrag gar nicht so richtig verwendet –: Ihr Antrag ist genau das Gegenteil von dem, was wir als Ziel haben, nämlich die Menschen in Arbeit zu bringen.
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Sie wollen die Menschen in irgendwelchen Scheinbeschäftigungsinstituten parken. Das ist es, was Sie tatsächlich vorhaben. Das hilft den Menschen überhaupt nicht; das haben wir zuhauf ausprobiert. Solche Politik brauchen wir in diesem Land nicht.
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Es geht doch darum, hier die große Linie im Blick zu haben. Wir haben in diesem Land knapp über 2 Millionen Arbeitslose.
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So wenig wie noch nie, aber immer noch zu viel. Knapp die Hälfte davon ist länger als ein Jahr arbeitslos, viele von diesen mehrere Jahre. Für diese Menschen schaffen wir heute mit diesem Gesetz ein Recht auf eine zweite Chance, damit sie am Erwerbsleben wieder teilhaben können. Das ist doch die große Aufgabe, die wir heute haben.
Zweitens ist es auch ein Signal an diese Menschen; schließlich werden wir dieses Jahr auch noch ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschließen. Natürlich müssen wir auch den Bürgern in Deutschland ein Signal geben, dass wir sie nicht vergessen haben, sondern sie weiterhin auf unserer Agenda sind. Ich bin sehr froh darüber, dass wir es gemeinsam geschafft haben, einen Schwerpunkt bei Menschen zu setzen, die in Bedarfsgemeinschaften – so nennen wir das – leben, die Kinder haben; denn es ist uns wichtig, den Teufelskreis zu durchbrechen, dass Hartz IV in die nächste und übernächste Generation vererbt wird. Damit muss endlich Schluss sein.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann?
Herzlich gerne. Sie hat mir ja vorhin ebenfalls eine Zwischenfrage gestattet.
Vielen Dank, Herr Whittaker. Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich habe eine ganz einfache Frage. Sie sagten gerade, dass die Erwerbslosen einen Rechtsanspruch haben. Wo haben die Erwerbslosen nach Ihrem Gesetz einen Rechtsanspruch auf eine Stelle im sozialen Arbeitsmarkt?
Also, wir schaffen – –
Ich habe nichts davon gelesen, dass die einen Rechtsanspruch haben; aber ich habe es jetzt gehört. Deswegen wundere ich mich.
({0})
Die Frage ist verstanden worden, Frau Kollegin Zimmermann.
Gut.
Sie müssen mir schon die Chance geben, zu antworten; sonst wird es schwierig.
({0})
Also noch einmal: Wir schaffen ein neues Instrument: § 16i SGB II. Wir sagen: Wer die Kriterien erfüllt – sechs Jahre im System, sieben Jahre erwerbslos –, der hat die Möglichkeit, an diesem Programm teilzunehmen.
({1})
Das ist ein Recht auf eine zweite Chance.
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Ich finde, das ist mehr, als bisher im Gesetz enthalten war. Deshalb finde ich es von Ihnen einfach eine Unverschämtheit, sich hierhinzustellen und zu sagen, diese Menschen würden von uns vergessen. Das ist nicht der Fall.
Ich finde, dass auch das, was Sie vorhin versucht haben zu suggerieren – ich meine diesen kurzen Einwand vorhin, als Sie den Unionsfraktionen vorwarfen, sie hätten keine Ahnung von Arbeitslosen –, unverschämt ist. Wissen Sie, wir beschäftigen uns sehr wohl auch mit diesen Menschen. Es sind nicht nur Sie, die irgendwelche Experten haben und die mit Betroffenen sprechen; es arbeiten auch alle anderen Fraktionen hier ernsthaft an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Ich bin es wirklich leid, dass Sie immer versuchen, zu suggerieren, wir seien irgendwie nicht für die Hartz-IV-Empfänger zuständig oder versuchten nicht, sie in Arbeit zu bringen.
({3})
Das ist wirklich unter der Gürtellinie und ein schlechter Beitrag zur Debattenkultur in diesem Land.
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Ich bin wirklich dankbar, dass wir es nicht nur geschafft haben, mehr Geld in den Haushalt zu packen, sondern dass wir es auch geschafft haben – Herr Minister, Sie haben es angesprochen –, mehr Personal zu bekommen. Die 400 neuen Stellen hat Kollege Weiß schon angesprochen. Dazu kommen noch über 700 sogenannte kw-Stellen. Das sind Stellen, die eigentlich wegfallen sollen. Diese Stellen werden wir beibehalten. Es gibt also zusätzlich über 1 000 Stellen in der Verwaltung. Die Inhaber dieser Stellen müssen sich darum kümmern, Arbeitgeber zu finden, die entsprechende Arbeitsplätze anbieten. Sie müssen dann natürlich auch mit den Coaches und den Arbeitslosen sprechen, um ein gutes System aufzubauen. Für das Erreichte bin ich sehr dankbar. Jetzt hoffe ich, dass wir mit mehr Geld, mit mehr Personal, mit mehr Freiheit auch für die Jobcenter jetzt alle Voraussetzungen dafür geschaffen haben, dass tatsächlich ein Durchbruch im Kampf gegen verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit gelingen kann. Ich bin da sehr zuversichtlich.
Wenn man über den Tag hinausdenkt – Herr Heil, Sie hatten das schon mal angedeutet, auch in der Presse –, erkennt man, dass wir über Hartz IV weiter sprechen müssen. Dieses Gesetz wird nicht das letzte Änderungsgesetz gewesen sein. Da gibt es viel zu tun. Wenn ich an die überbordende Bürokratie denke, wenn ich an gewisse Schwierigkeiten denke, die zum Teil in der Kommunikation zwischen Jugendhilfe, kommunalen Trägern und auch den Jobcentern bestehen, dann ist für mich klar, dass wir dringend etwas tun müssen, um die Verwaltungen zu entlasten, um bei der Vermittlung in Arbeit wirkungsvoller zu werden.
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Ich bin gerne bereit, zusammen mit meiner Fraktion daran zu arbeiten, dass wir Hartz IV nicht rückabwickeln, sondern dass wir es zum Wohle der Menschen in unserem Land weiterentwickeln.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Whittaker. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Stephan Stracke, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben Rekordbeschäftigung in unserem Land. Davon profitieren unvermindert auch Menschen, die schon länger arbeitslos sind. Im letzten Jahr ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen um 93 000 Personen zurückgegangen. Das ist erfreulich. Aber richtig ist auch: Wer länger als drei Jahre arbeitslos ist, hat es schwer, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen; und dies wollen wir ändern.
({0})
Wenn langzeitarbeitslose Menschen das Gefühl haben, keinen Platz in dieser Gesellschaft zu haben, die sich so häufig über das Erwerbsleben beschreibt, dann ist dies auf Dauer keine Situation, die erträglich ist. Darauf geben wir als Koalition nun eine kraftvolle Antwort. Wir setzen bei den Arbeitgebern an, geben hohe Anreize – unterlegt mit viel Geld –, Arbeitsplätze für langzeitarbeitslose Menschen anzubieten. Zentraler Bestandteil unseres Gesetzentwurfs sind dabei zwei Lohnkostenzuschüsse.
Der erste Zuschuss richtet sich an Menschen, die noch relativ arbeitsmarktnah sind. Wir bauen damit eine stabile Brücke in den ersten Arbeitsmarkt. Wir haben dabei durchgesetzt, dass die Jobcenter auch dieses Instrument mit genügend Mitteln ausstatten können. Der Deckel, den es bislang für diese Mittel gab, ist weg. Ich glaube, es ist ein gutes Ergebnis, das wir hier als Koalition insgesamt erzielt haben.
({1})
Wir streichen auch die Nachbeschäftigungspflicht. Damit machen wir dieses Instrument gangbarer und attraktiver. Insofern setzen wir auch große Hoffnungen in diesen Bereich.
Der zweite Lohnkostenzuschuss richtet sich an diejenigen Arbeitslosen, die schon sehr lange arbeitslos sind und oftmals den Halt in ihrem Leben verloren haben. Unser Ziel ist es, dass wir sie wieder auf eigene Beine stellen, sodass sie ihr Leben selbst gestalten können. Arbeit gibt Struktur, Arbeit stärkt das Selbstwertgefühl und die innere Zufriedenheit. Das erfordert Zeit, Kraft und Geduld. Wir wollen Erfolg für unser Gesetz. Deswegen orientieren wir den Zuschuss zunächst am gesetzlichen Mindestlohn. Überall dort, wo die Arbeitgeber Tariflohn zahlen, orientiert sich der Zuschuss am Tariflohn. Das ist sinnvoll, das ist praxistauglich und korrigiert im Übrigen auch das, was die Sozialdemokraten ursprünglich im Koalitionsvertrag haben wollten, nämlich den gesetzlichen Mindestlohn. Das korrigieren wir nun in großer Gemeinsamkeit, weil es richtig ist.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich ist es richtig, dass auf diese Weise der Zuschuss für den einzelnen Förderfall teurer wird. Wir müssen uns natürlich auch die Wirkungen in den Betrieben genauer anschauen. Wenn Beschäftigte, geförderte und ungeförderte, nebeneinanderstehen und unter Umständen genau oder annähernd das Gleiche verdienen, aber eine unterschiedliche Arbeitsleistung erbringen, dann kann dies natürlich auch auf den Betriebsfrieden Wirkungen entfalten; deswegen müssen wir uns das genau anschauen. Deswegen haben wir gesagt: Wir müssen dieses Instrument auch gesetzlich befristen. Wir haben ein gesetzliches Verfallsdatum durchgesetzt. Bis Ende 2024 tritt dieser Lohnkostenzuschuss außer Kraft. Dann ziehen wir Bilanz und sehen, ob das Instrument wirkt oder nicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir lassen die Menschen nicht allein. Wir unterstützen dort gezielt, wo es notwendig ist. Das tun wir mit einer engmaschigen beschäftigungsbegleitenden Betreuung. Wir stärken die Sozialpartner vor Ort und verhindern damit auch Wettbewerbsverzerrungen zwischen geförderter und ungeförderter Beschäftigung. Wir sorgen auch für mehr Personal und mehr finanzielle Spielräume für die Jobcenter. Ich finde, wir haben ein stimmiges Gesamtkonzept vorgelegt. Jetzt kommt der Praxistest. Wir orientieren uns dabei an dem Grundsatz „Fördern und Fordern“. Daran halten wir fest. Er hat sich bewährt. Es gibt nichts Besseres. Ich bitte um Zustimmung zu diesem Gesetzesvorhaben.
Herzliches Dankeschön.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Stracke. – Damit schließe ich die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 10 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Schaffung neuer Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose auf dem allgemeinen und sozialen Arbeitsmarkt. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5588, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/4725 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie drei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wir beginnen mit dem Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/5602. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist dieser Änderungsantrag der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen aller anderen Fraktionen des Hauses abgelehnt.
Wir kommen nun zu den Änderungsanträgen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Änderungsantrag auf Drucksache 19/5603. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen aller anderen Fraktionen des Hauses abgelehnt.
Änderungsantrag auf Drucksache 19/5604. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen, der Fraktion Die Linke und der Fraktion der Freien Demokraten gegen die Stimmen von CDU/CSU, SPD und AfD abgelehnt.
Änderungsantrag auf Drucksache 19/5605. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Das ist auch wieder einfach. Damit ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen aller anderen Fraktionen des Hauses abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von FDP und AfD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf auch in der dritten Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von FDP und AfD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.
({0})
Tagesordnungspunkt 10 b. Wir setzen – –
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– Ich darf die SPD-Fraktion doch bitten, Siegesfeierlichkeiten später zu halten.
Tagesordnungspunkt 10 b. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 19/5588 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/2593 mit dem Titel „Perspektiven für Langzeiterwerbslose durch gute öffentlich geförderte Beschäftigung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller anderen Fraktionen des Hauses angenommen.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/591 mit dem Titel „Neue Perspektiven für langzeitarbeitslose Menschen durch einen Sozialen Arbeitsmarkt ermöglichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Ablehnung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit der Mehrheit der übrigen Fraktionen dieses Hauses angenommen.
({2})
– Ach, meine Fraktion war auch dagegen. Ich bitte vielmals um Entschuldigung, dass ich die FDP übersehen habe. Es wird nie wieder vorkommen.
({3})
Ich glaube, das wird schlimme Folgen haben. – Jedenfalls ist das Ergebnis klar. Auch bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion ist diese Beschlussempfehlung angenommen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt ein kluges Zitat: „Märkte sind wie Fallschirme, sie funktionieren nur, wenn sie sich öffnen.“ Ich frage mal freundlich die SPD-Fraktion: Wer hat es erfunden? Helmut Schmidt, meine Damen und Herren.
({0})
Doch wie ist die Lage im Moment hier in Deutschland? Wir als Liberale haben den Eindruck, der Protektionismus greift langsam sehr stark um sich. Voran gehen zu unserer Verwunderung die Union und Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Das Bekenntnis zur Marktwirtschaft bei der Union ist inzwischen fast schon so Folklore wie die Bergmannskapelle der nordrhein-westfälischen Sozialdemokraten.
({1})
Peter Altmaier träumt von staatlich gelenkter Industriepolitik. Er hat sogar mal die Idee gehabt, zumindest scheinbar, Staatsfonds einzuführen. Das ist inzwischen wieder eingesammelt worden. Er will nicht nur kritische Infrastruktur, sondern auch hochinnovative Unternehmen besonders einer Kontrolle unterwerfen und öffnet damit natürlich Willkür Tür und Tor. Dies bedeutet, meine Damen und Herren, nicht nur Unsicherheit für ausländische Investoren, sondern auch eine hohe Unsicherheit der Eigentümer und Unternehmer hier in Deutschland, die gegebenenfalls ihr Unternehmen veräußern wollen.
({2})
In seiner Regierungserklärung hat Peter Altmaier erklärt, das Ministerium solle zu einem Serviceministerium werden. Es ist nur ein merkwürdiges Verständnis von Service, wenn Wirtschaftsverbände wie BDI, DIHK, BGA und VDMA sich gegen die Verschärfung der Investitionsregeln aussprechen. Der DIHK befürchtet, dass die Verschärfung die ausländischen Investoren abschrecken wird und dass zugleich weitere Hürden aufgebaut werden, vor allen Dingen für deutsche Investoren im Ausland. Dies wäre natürlich fatal; denn unser Wohlstand hängt zum großen Teil natürlich auch davon ab, dass deutsche Unternehmen im Ausland investieren können.
({3})
Die Kritik der Wirtschaftsweisen von diesem Dienstag ist vernichtend. Statt den Zugang zum Standort zu erschweren und ausländische Investoren abzuschrecken, sollte die deutsche Wirtschaftspolitik eher die Standortqualität verbessern und versuchen, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen.
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Der Sachverständigenrat spricht in diesem Zusammenhang schon von Protektionismus. Wer hätte gedacht, dass ein CDU-Wirtschaftsminister mal mit diesem Vorwurf konfrontiert werden kann? Natürlich muss es bei einigen äußerst kritischen Industrien die Möglichkeit staatlicher Eingriffe geben.
({5})
Aber das muss wirklich der allerkleinste Teil sein, über den wir sprechen.
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Wir sehen eben nicht nur das Problem, dass diese Strukturen geschützt werden sollen; wir sehen vor allen Dingen das Problem, dass dann die Eigentumsfrage nicht mehr richtig beantwortet werden kann.
Direktinvestitionen sind keine Einbahnstraße. Deutsche Unternehmen investieren massiv innerhalb und außerhalb Europas. Ihre Investitionen in China liegen weitaus höher als die Investitionen von China, vor dem man offensichtlich besonders Angst hat, hier in Deutschland. Chinesische Investoren sind nicht notwendigerweise schlecht. Wenn Sie sich die Zahlen und Berichte vom bayerischen Automobilzulieferer Grammer ansehen: Der ist sehr zufrieden mit seinem chinesischen Investor.
Deutschland profitiert wie kein anderes Land auf der Welt vom globalen Freihandel. Deswegen sollten wir beim Freihandel besonders Wortführer sein und nicht selbst intern in Deutschland Hürden aufbauen.
({7})
Deswegen unsere Forderung an den Wirtschaftsminister, an die Koalition und an die Bundesregierung: Hören Sie auf die Wirtschaftsförderer und auf die Wirtschaftsforscher! Hören Sie auf die Wirtschaftsverbände! Treten Sie mutig gegenüber China auf! Stärken Sie die WTO! Deutschland braucht Mut zu Innovationen statt Angst vor Investoren.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Houben. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Mark Hauptmann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kollegen! Werte Gäste! Deutschland ist und bleibt eine der offensten und zugänglichsten Volkswirtschaften auf der Welt. Gerade diese Offenheit, die sich in unserem Wirtschaftssystem widerspiegelt, macht es auch so attraktiv für ausländische Direktinvestitionen. Wir in der Union – beginnend mit Peter Altmaier an der Spitze des Bundeswirtschaftsministeriums – bekennen uns explizit zu diesem freien und fairen Welthandel, zu diesen freien und fairen offenen Märkten und dem Zugang dazu, um so die Chancen der Globalisierung im freien Güter- und Kapitalverkehr durch wechselseitige Investitionen und internationale Beteiligungen zu realisieren.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel, Herr Houben, aus meinem Südthüringer Wahlkreis. Mittlerweile ist der größte Arbeitgeber in Südthüringen eine japanische Firma. Dass sich hier ausländisches Kapital in den deutschen Mittelstand eingekauft hat, ist eine Win-win-Situation, ein Geschenk für die vielen Arbeitnehmer in meinem Wahlkreis;
({0})
denn ständig eröffnen wir neue Produktionsstätten.
Ich teile Ihre Einschätzung, werter Herr Kollege, dass wir internationales Kapital in Deutschland brauchen. Ausländische Investitionen sind explizit der Treibstoff für Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze in diesem Land. Aber jetzt kommt der Unterschied zwischen der freien Marktwirtschaft und der sozialen Marktwirtschaft, so wie wir sie in der Union seit Ludwig Erhard verankert sehen. Die soziale Marktwirtschaft ist eben dadurch gekennzeichnet, dass sie den unfairen Wettbewerb international zu unterbinden versucht und dass durch soziale Verankerung dafür gesorgt wird, dass es Spielregeln gerade in einem international bzw. global aufgestellten Finanzsystem gibt.
Sehr geehrter Herr Kollege, diese Regeln sind derzeit in Gefahr. Sie sind in Gefahr durch ausländische Investoren, die massiv staatliche Beteiligung beinhalten. Sie sind dadurch in Gefahr, dass wir sie verschieben und uns nach anderen Spielregeln richten, beispielsweise chinesischen Spielregeln. Sie wissen, was es bedeutet, wenn ein deutsches Unternehmen nicht die Möglichkeit hat, in China eine Firma zu erwerben, sondern einem Joint-Venture-Zwang unterliegt, wenn es keine Rechtsstaatlichkeit, keinen Schutz des geistigen Eigentums gibt, so wie wir ihn hier in Deutschland kennen. Dann verschieben sich diese Marktmechanismen.
({1})
Umgekehrt müssen wir darauf achten, dass wir bei globalen Investoren, die nach Deutschland kommen, anmahnen, sich an diese Regeln zu halten, so wie wir sie in der sozialen Marktwirtschaft mit der Verankerung bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Deutschland haben.
Deswegen gibt es gute Gründe, warum wir aktuell auch verschiedene Stufen von Investitionen überprüfen. Der bekannteste Fall ist natürlich KUKA, ein Unternehmen im Hochtechnologiebereich, in der Robotik, das von einem chinesischen Investor übernommen worden ist. Ich glaube, es erfüllt nicht nur uns in der Unionsfraktion, sondern viele Menschen mit Sorge, wenn die Gefahr besteht, dass man sich in den deutschen Mittelstand, in einen Hochtechnologiebereich einkauft und dieser Bereich möglicherweise verlagert wird, oder wenn die Akteure, die hier investieren, durch staatliche Beteiligung und staatliche Finanzierungen den Wettbewerb ausschalten, gemäß dem sich andere Firmen an solch einer Firma beteiligen könnten.
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Von daher müssen wir gerade in diesem Zusammenhang schauen, dass wir diesen Fairnesscharakter wahren.
Gleiche Spielregeln für alle! Unsere hohen Standards der sozialen Marktwirtschaft auch für andere Länder! Ich glaube, das ist ein ganz wesentlicher Punkt.
Ich möchte allerdings noch einen weiteren Punkt aufgreifen, der über die Anträge der FDP und der Grünen hinausgeht.
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Ich bin nämlich auf der anderen Seite zutiefst davon überzeugt: Wir müssen in Deutschland auch aktiv ausländisches Kapital anwerben. Wo brauchen wir das? Wir waren in den letzten Jahren in diesem Land, gerade auch in der Hauptstadt Berlin, ziemlich erfolgreich darin, in der Breite eine Venture-Capital-Landschaft aufzubauen, die junge, innovative Start-ups und Gründungen unterstützt hat, gerade in der ersten und zweiten Finanzierungsstufe. Wir erkennen allerdings jetzt, dass wir ab der dritten Finanzierungsstufe – da reden wir über Investitionen von 10 Millionen Euro aufwärts – einen Bedarf an zusätzlichem Kapital haben.
Dieses zusätzliche Kapital können wir einerseits durch die Beteiligung beispielsweise von deutschen Fondsgesellschaften decken, durch weitere Family Offices, die hier investieren. Aber ich glaube, dass wir vor allem ausländisches Kapital für die deutsche Venture-Capital-Landschaft anwerben müssen – darin liegt letztendlich auch eine Chance, werte Kollegen –, damit solche Investitionen, die heute schon von israelischen, amerikanischen, norwegischen Firmen geleistet werden, der Wirtschaftlichkeit und dem Wachstumsprozess am deutschen Standort zugutekommen.
Mit dem geschätzten Kollegen Theurer war ich gerade mit dem Bundeswirtschaftsminister in Asien unterwegs. Wir haben die unglaubliche Dynamik gesehen, die sich in der Bevölkerungsregion Nummer eins und der Weltwachstumsregion Nummer eins entfaltet. Jeder in Asien hat den Hochtechnologiestandort Deutschland auf dem Schirm: Qualität „made in Germany“, Produkte, die in ihren Branchen auf dem Weltmarkt führend sind. Keiner in Asien hat den Start-up- und Venture-Capital-Markt auf dem Schirm. Deswegen, glaube ich, ist es unsere Aufgabe, vor allem ausländisches Kapital aus Asien, aus der arabischen Welt für die deutsche Fondslandschaft zu generieren, um hier Wachstumsprozesse zu verwirklichen. Wenn uns das nicht gelingt, dann werden Unternehmen gerade in einer entscheidenden Wachstumsphase, wenn sie die dritte und vierte Finanzierungsstufe durchlaufen, ihren Finanzierungsgebern, maßgeblich amerikanisch geprägten Fonds, über den Atlantik folgen, und wir verlieren die Wertschöpfung, wir verlieren die Steuereinnahmen, das Humankapital und die Wachstumsprozesse, die dahinterstehen.
Von daher ergeben sich aus den heute vorliegenden Anträgen und der heutigen Debatte zwei Chancen, erstens ein Level Playing Field, wie es international heißt, zu schaffen – wir brauchen gleiche Spiegelregeln für Investitionen; wir müssen dafür sorgen, dass wir diese Spielregeln europäisch definieren und auch weltweit exportieren –, zweitens bei der Anwerbung ausländischen Kapitals deutlich zu machen, dass vor allem im Venture-Capital-Bereich, im Hochtechnologie-, im Risikobereich ausländisches Kapital mehr als willkommen ist. So sollten wir diese Debatte in diesem Haus weiterführen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes der Kollege Steffen Kotré, AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Houben, ich würde die Dinge nicht so locker sehen, wie Sie das hier gerade beschrieben haben; denn wenn sich Unternehmen unter staatlichem Einfluss, mit staatlichem Geld hier bei uns einkaufen – in deutsche Mittelständler, in Technologieführer, in andere Unternehmen –, dann besteht die Gefahr, dass Know-how abgesaugt wird, dann besteht die Gefahr, dass wir Patente verlieren, Technologie verlieren, und dann fehlt uns das hier in Deutschland. Das würde ich nicht so gerne beiseitewischen. Wenn wir darauf bestehen, dass das nicht passiert, hat das auch nichts damit zu tun, dass wir Direktinvestitionen hier in Deutschland behindern. Wenn es sich um Schlüsseltechnologien handelt, in die ausländische Unternehmen investieren, um an Know-how ranzukommen, dann verliert unsere Volkswirtschaft wertvolles Vermögen. Wenn es sich um kritische Infrastruktur handelt, dann besteht die Gefahr, dass wir abhängig werden. Wir müssen uns da schon darum kümmern, dass hier kein Ausverkauf stattfindet.
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Wir müssen uns natürlich die Instrumente schaffen, die das verhindern. Sie haben in Ihrem Antrag geschrieben, dass Sie ein solches Instrument, das jetzt in der Diskussion steht, eigentlich nicht haben wollen. Aber da sage ich: Nein, ein solches Instrument ist durchaus sinnvoll. Es ist noch nicht alles; aber es ist durchaus sinnvoll, dass hier die Eingriffsschwellen gesenkt werden und der Staat auch früher intervenieren kann.
Jetzt haben Sie Angst davor, dass ausländisches Kapital ausbleibt; aber das sehe ich nicht. Das sehe ich auch in anderen Ländern nicht. Dort gibt es freien Kapitalverkehr, dort gibt es einen attraktiven Investitionsmarkt, und es gibt gleichzeitig auch einen konsequenten Schutz strategischer Industrien. Schauen Sie in die USA: Dort funktioniert es ja. Und nein, staatliche Intervention zur Verhinderung unerwünschter Investitionen darf nicht Ultima Ratio sein; es sollte Standard sein. Selbstverständlich müssen wir entsprechende Definitionen auf den Weg bringen, was eine unerwünschte Investition ist, das ist völlig klar; aber trotzdem sollte es ein Standard werden.
Diese Definition, von der ich gerade sprach, hat es nicht gegeben. Die Bundesregierung hat es ja bisher abgelehnt, sich darüber Gedanken zu machen, wie wir unsere Volkswirtschaft in diesem Bereich schützen. Die Bundesregierung, so mein Eindruck, ist nicht willens, deutsche Interessen in diesem Bereich ausreichend zu vertreten.
({1})
Es scheint der Bundesregierung auch egal zu sein, wenn hier der Ausverkauf deutscher Schlüsseltechnologien anfängt. Der Kollege hat KUKA erwähnt – das beste Beispiel dafür –: Ein führender Roboterentwickler ist, ich sage mal so, geopfert worden. Und folgerichtig hat die Bundesregierung in ihrer ignoranten Art in der Drucksache 19/4216 auch geschrieben, dass sie ausländische Investitionen in strategischen Bereichen nicht verbieten will. Angeblich stünde dem auch hier wieder das Grundgesetz entgegen. Aber das ist falsch. Das Grundgesetz ist für uns Deutsche gemacht. Ich weiß, das wollen nicht alle hier im Saal hören; es ist aber so, und – da kann sich Frau Merkel auf den Kopf stellen – das bleibt auch so.
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Schauen wir doch mal woanders hin: In den USA gibt es das Committee on Foreign Investments in the United States. Dort wird aktiv daran gearbeitet, Know-how-Abfluss zu verhindern; da sind viele Ministerien und Fachbereiche involviert. Im Gegensatz dazu findet das bei uns so nicht statt: Unsere Gremien sind schwerfällig und passiv. Wir fordern hier ein gleichwertiges Gremium, welches unsere Interessen in diesem Bereich wirklich schützt.
({3})
Aber Strukturen müssen natürlich mit Leben erfüllt werden. Das heißt, wir müssen interessengeleitet vorgehen, und wir müssen diesen scheinbar – mir scheint es manchmal so – krampfhaften Internationalismus endlich ablegen. Eine Prise Patriotismus kann dabei nicht schaden, meine Damen und Herren.
({4})
An diesem Punkt fordere ich die Bundesregierung auf, entsprechende Kriterien aufzustellen, wonach strategische Schlüsselindustrien und -branchen und kritische Infrastrukturen erst mal identifiziert werden. Wir fordern dann natürlich auch dazu auf, dass entsprechende Investitionen in diese Bereiche unterbunden werden.
({5})
Wir brauchen kein zweites KUKA-Fiasko.
({6})
Zu diesem Thema gehört auch, dass einige ausländische Unternehmen in Verruf geraten sind. Es gibt Hinweise, dass Telekommunikationsunternehmen Geräte liefern, die unsere Daten ausspionieren. Auch da erwarte ich Konsequenz von der Bundesregierung, dass sie endlich aus dem Dornröschenschlaf erwacht und unsere Volkswirtschaft entsprechend schützt; denn das ist eine Frage der Souveränität und der Selbstbestimmung, und diese Frage wollen wir einfach in unserem Sinne beantwortet wissen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächstes hat das Wort der Kollege Markus Töns, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Also, Herr Houben, erst mal eine Frage: Was haben Sie gegen das „Steigerlied“?
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Ich kann Ihre Aufregung gar nicht verstehen.
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In dem schönsten Stadion Deutschlands, das in meiner Heimatstadt steht, wird das vor jedem Heimspiel gesungen, und da singen dann nicht nur Sozialdemokraten, da singen 60 000 Menschen. Ich finde, das ist eine schöne Sache; das gehört dazu. Ich habe nichts gegen das „Steigerlied“.
({2})
Es geht in dieser Frage um zwei Sachen: Es geht erstens um Deutschlands Rolle als Wirtschaftsstandort. Unternehmer aus unterschiedlichen Teilen der Welt sind wirtschaftlich in Deutschland tätig; das finden wir gut, und das soll auch so bleiben. Und es geht zweitens – das ist, glaube ich, der entscheidende Punkt; das ist mir besonders wichtig – um den Schutz von Menschen, die in Deutschland kritische Infrastruktur nutzen. Damit sind zum Beispiel eine gesicherte Wasserversorgung, ein funktionierendes Stromnetz und auch der öffentliche Personennahverkehr gemeint. Auch hier muss der Staat genauer hinsehen; darauf werde ich später noch eingehen.
Aber zunächst zu Deutschlands Rolle als Wirtschaftsstandort. Immer mehr ausländische Unternehmer entscheiden sich, sich wirtschaftlich in Deutschland zu betätigen. Das ist auch ein Zeichen des Vertrauens, vor allem in das Know-how deutscher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
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3 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten in Unternehmen mit ausländischer Beteiligung; auch deshalb sind ausländische Investitionen eine Bereicherung für Deutschland. Soweit stimmen wir übrigens mit der FDP überein. Für uns Sozialdemokraten zeigt sich hier aber auch: Unsere sozialen Rechte sind eben kein Wettbewerbsnachteil. Im Gegenteil: Ausländische Unternehmer entscheiden sich bewusst für Deutschland als Investitionsstandort mit einer hochqualifizierten Arbeitnehmerschaft und sozialer Sicherung. Das muss an dieser Stelle mal klar gesagt werden.
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In meiner Heimatstadt – das ist vielleicht ganz interessant – gehören ausländische Direktinvestitionen übrigens zur Stadtgeschichte. Jedes Kind in Gelsenkirchen kennt heute den Namen Thomas Mulvany, ein irischer Ingenieur und Unternehmer, der 1855 in Gelsenkirchen die Zeche Hibernia abgeteuft hat; so nennt man das im Bergbau. So wie Mulvany damals die neueste Technik für den Stollenbau aus England mitgebracht hat, können ausländische Direktinvestitionen auch heute neue Entwicklungen ankurbeln. Mulvany ist – um das auch zu sagen – seit mehr als 100 Jahren Ehrenbürger meiner Stadt.
Ich möchte noch mal betonen: Deutschland ist und bleibt offen für ausländische Investitionen. Das ist auch im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in Unternehmen mit ausländischer Beteiligung arbeiten.
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Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen aber auch – das ist wichtig, Herr Houben –, dass es Bereiche gibt, bei denen wir genauer hinsehen müssen.
Damit komme ich zum zweiten Punkt: dem Schutz der kritischen Infrastruktur. Gemeint sind Waren und Dienstleistungen, die für unser tägliches Zusammenleben unentbehrlich sind. Die Außenwirtschaftsverordnung in Verbindung mit dem Gesetz über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, BSI-Gesetz, bietet eine klare Definition hierfür. Dazu gehören zum Beispiel Strom- und Wasserversorgung, die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten und auch Hochtechnologie. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass diese Dinge zuverlässig verfügbar sind. Ich will es ganz deutlich sagen: Es geht nicht um den Schutz von Wasserrohren und Stromleitungen; es geht um den Schutz der Menschen in diesem Land und der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Deshalb hat das Wirtschaftsministerium übrigens schon 2017, damals unter der Führung der SPD, genau die richtigen Grundlagen geschaffen. Wir haben 2017 überhaupt erst eine Meldepflicht für Übernahmen im Bereich der kritischen Infrastruktur eingeführt. Das geht auf die Initiative der sozialdemokratischen Wirtschaftsminister Gabriel und Zypries zurück. Darauf baut die jetzige Bundesregierung auf, indem sie eine Absenkung der Aufgreifschwelle prüft. Wir sind froh, dass sich Herr Altmaier die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik zum Vorbild nimmt; das ist übrigens immer eine gute Idee, sich Sozialdemokraten zum Vorbild nehmen.
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Wenn die FDP hier von einer Abriegelung gegen ausländisches Kapital spricht, ist das schlichtweg falsch, Herr Houben. Es geht hier doch darum, dass die Bundesregierung in einem Bereich prüft, der für unser Gemeinwesen unglaublich wichtig ist. Das ist kein Protektionismus, wie Sie das sagen. Hier muss die FDP erkennen, dass der Markt eben nicht alles regelt und dass wir einen staatlichen Prüf- und Regulierungsrahmen brauchen. Teile der FDP haben das übrigens auch erkannt und fordern seit Monaten eine Absenkung der Prüfschwelle auf 10 Prozent. In dem Antrag, über den wir heute sprechen, haben Sie diese Forderung abgeräumt. Stattdessen geht es Ihnen nur noch um die Meldepflichten. Das ist doch ein Formelkompromiss Ihrer Fraktion. Die Mutigen in der FDP haben sich dabei wohl nicht durchgesetzt.
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Neben den Bemühungen auf nationaler Ebene müssen wir auch europäisch stärker zusammenarbeiten, wenn es um kritische Infrastruktur geht. Wir haben in der EU seit mehr als einem halben Jahrhundert keine abgeschotteten nationalen Volkswirtschaften mehr. Wir haben einen gemeinsamen Binnenmarkt, und das ist gut so. Deshalb ist es nur konsequent, dass wir auch einen gemeinsamen Rahmen für die Prüfung ausländischer Direktinvestitionen haben. Es ist richtig, dass die Bundesregierung zusammen mit europäischen Partnern den Vorstoß gemacht hat, dass wir uns europäisch stärker koordinieren. Auch das geht auf die Initiative sozialdemokratischer Wirtschaftsminister zurück und ist ein Beispiel für gute deutsch-französische Zusammenarbeit. Aktuell läuft das Gesetzgebungsverfahren dazu auf europäischer Ebene.
Bevor ich zum Schluss komme, noch ein Wort zu Ihnen, Herr Kotré: KUKA ist nun wirklich kein gutes Beispiel dafür; denn es hat keine Investitionsinteressen deutscher Unternehmen bzw. deutscher Investoren bei KUKA gegeben. Die Kanzlerin hat sich darum bemüht; aber es gab sie schlichtweg nicht.
Ich komme zum Schluss, meine Damen und Herren. Ich wiederhole noch einmal: Erstens. Deutschland ist und bleibt offen für ausländische Investitionen. Zweitens. Wir müssen unsere kritische Infrastruktur wirksam schützen. Drittens. Indem wir diese beiden Ziele vereinen, grenzen wir uns klar von protektionistischen Tendenzen ab.
WTO-rechtswidrige Schutzzölle, wie sie die USA aktuell erheben, wird es in der EU nicht geben. Unser Konzept ist Investitionsoffenheit plus Besonnenheit. Ausländische Direktinvestitionen heißen wir willkommen. Und wir prüfen dort, wo es um die Sicherheit und die öffentliche Ordnung in Deutschland geht. Ich denke, das ist eine vernünftige Leitschnur für unsere Wirtschaftspolitik, meine Damen und Herren.
Zum Abschluss: Glück auf!
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Vielen Dank, Herr Kollege Töns. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke der Kollege Pascal Meiser.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Immer mehr Menschen machen sich auch hierzulande zu Recht Sorgen darüber, was eine rücksichtslose Globalisierung mit ihnen und ihrem Leben macht. Diese Sorgen sollten wir ernst nehmen.
Doch worüber macht sich die FDP in dem vorliegenden Antrag Sorgen? Sie sorgt sich, dass ausländische Investoren auch weiterhin möglichst ungestört tun und lassen können, was sie wollen. Das ist doch absurd, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Schauen wir uns einmal die Fakten an: Die Zahl der Unternehmensübernahmen durch ausländische Investoren ist in Deutschland in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Immer öfter geraten dabei auch sensible Infrastruktur und Schlüsseltechnologien ins Visier der Investoren. Und immer mehr Beschäftigte sorgen sich, was mit ihnen und ihren Arbeitsplätzen passiert, wenn strategische Unternehmensentscheidungen künftig irgendwo im fernen New York oder in Shanghai getroffen werden.
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Ich kann diese Sorgen gut verstehen – gleich ob es sich um einen Heuschreckenfonds aus den USA oder um einen chinesischen Staatsfonds handelt. Ja, ausländische Investitionen, die hier Arbeitsplätze schaffen und zum Wohlstand der Mehrheit in unserem Land beitragen, sind auch uns als Linke herzlich willkommen; aber wir müssen Instrumente schärfen, mit denen der Staat dort einschreiten kann, wo solche Investitionen eine Bedrohung für diesen Wohlstand oder gar für die Sicherheit und Ordnung in unserem Land darstellen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Deswegen begrüßen wir es als Linke, wenn es jetzt auf verschiedenen Ebenen zumindest vorsichtige Initiativen gibt, ausländische Investitionen besser zu kontrollieren. Dabei ist es aus unserer Sicht dringend notwendig, die grundsätzliche Schwelle, ab der eine solche Kontrolle überhaupt möglich ist, abzusenken – zumindest auf eine Beteiligung von 10 Prozent der Stimmrechte. Wenn es um Investitionen in zentrale Bereiche unserer Infrastruktur geht – um den Energie-, IT- und, ja, auch um den sensiblen Telekommunikationsbereich –, dann muss wegen der besonderen Relevanz dieser Investitionen künftig jedwede Beteiligung überprüft werden.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, hat übrigens ja auch die CSU in Bayern im Wahlkampf gefordert und sogar im Bundesrat beantragt. Ich bin sehr gespannt, was davon in der Bundesregierung jetzt umgesetzt wird oder ob das einmal mehr nur Wahlkampfgetöse war, wie wir es von der CSU schon kennen.
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– Ich lasse mich gerne überraschen – auch positiv.
Doch ich sage Ihnen auch: Dabei dürfen wir es nicht belassen. Die Instrumente der Investitionskontrolle müssen künftig auch dazu genutzt werden, Unternehmen und deren Beschäftigte bei Bedarf vor sogenannten Heuschreckenfonds zu schützen – Fonds, die nach dem Motto „Kaufen, Plündern, Wegwerfen“ agieren und über gut laufende Unternehmen herfallen.
Ein aktuelles Beispiel, das Sie alle kennen dürften, ist der Automobilzulieferer Neue Halberg Guss. Dieser Automobilzulieferer wurde im Januar dieses Jahres vom Großinvestor Prevent aus Bosnien aufgekauft. Dieser Investor verfährt immer wieder nach dem gleichen Muster: Erst kauft er gutlaufende Zulieferbetriebe auf, um dann die Preise von einem auf den anderen Tag in die Höhe zu treiben. Damit lassen sich kurzfristig massive Extraprofite machen. Doch sobald der Abnehmer abspringt, werden die Werke ihrem Schicksal überlassen oder gleich geschlossen.
Genau so ist es jetzt bei der Neuen Halberg Guss gekommen. Deren Leipziger Werk soll komplett geschlossen werden. Am Standort Saarbrücken stehen etwa 300 Beschäftigte vor dem Aus. Mit sozialer Marktwirtschaft hat das doch wohl ganz sicher nichts mehr zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich sage Ihnen: Wenn Beschäftigte und ihre Betriebsräte in solchen Fällen Alarm schlagen, weil sie die begründete Befürchtung haben, dass ein ausländischer Investor ihren Betrieb für kurzfristige Gewinne plattmachen will, dann muss auch hier künftig eine Überprüfung und gegebenenfalls die Untersagung einer solchen Investition erfolgen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das ist es, was die Beschäftigten in einer solchen Situation zu Recht erwarten können. Lassen Sie uns diesen Erwartungen gemeinsam gerecht werden! Der Antrag der FDP leistet zu diesen Herausforderungen leider nicht den geringsten Beitrag.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Meiser. – Als Nächstes für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Kerstin Andreae.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich meine, es ist ja gut, dass deutsche Unternehmen in China und im Ausland investieren. Es ist auch gut, dass ausländische und chinesische Unternehmer in Deutschland investieren. Wir haben eine vernetzte Welt. Es ist aber eben nicht gut, wenn Standards und Normen verschoben werden, und es ist nicht gut, wenn die Marktbedingungen nicht fair sind. Natürlich sind wir gegen Protektionismus und für offene Märkte; aber eben zu fairen und transparenten Bedingungen auf beiden Seiten. Das ist eine der Voraussetzungen.
({0})
Das Bekenntnis zu offenen Märkten darf uns doch nicht blind für Probleme machen. Der Antrag der FDP redet diese Probleme wirklich klein.
({1})
Es hilft doch nichts, wirtschaftliche Offenheit zu romantisieren, wenn einer der Partner nachweislich unfair spielt.
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Und es hilft auch nichts, die Augen davor zu verschließen, dass die Zahl der prüfungsrelevanten Unternehmenserwerbe seit 2015 deutlich angestiegen ist. Beispiele sind ja genannt worden.
Schaut man sich die Investitionen unter dem Aspekt der Sicherheit an, der ja immer wieder diskutiert wird, sieht man, dass auch Infrastrukturen sicherheitsrelevant sind. Davor verschließt die FDP die Augen. Deswegen können wir diesem Antrag nicht zustimmen.
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Wir begrüßen es, dass sich die Bundesregierung der Aufgabe gestellt hat. Es ist ja nicht einfach. Das ist ja keine banale Diskussion. Es ist nicht damit getan, zu sagen: Wir senken jetzt mal die Schwelle von 25 Prozent auf 15 oder 10 Prozent. Es ist auch keine banale Diskussion, Klarheit darüber zu schaffen, was Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eigentlich bedeutet, angesichts hybrider Investitionen, angesichts von Cyberwirtschaft, angesichts der Infrastrukturfrage. Das ist eine schwierige Aufgabe. Dieser schwierigen Aufgabe muss man sich seriös stellen.
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Das beste Argument gegen Protektionismus ist ein transparenter und klarer Prüfmechanismus ohne Politisierung der Prüfung selbst. Das muss die Bundesregierung leisten.
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Natürlich muss die Höhe der Prüfschwelle gut überlegt werden. Keiner hat ein Interesse daran, dass wir einen Prüfteppich über alle ausländischen Investitionen legen, dass drei Monate Stillstand herrscht, bis diese Investitionen getätigt werden können. Das wäre unglaublich viel Aufwand. Daran hat keiner ein Interesse.
Es gibt eine Strategie der Chinesen, die heißt „Made in China 2025“. Es geht um die Weltmarktführerschaft in zehn Technologien und großen Branchen. Es gibt darauf keine Antwort aus Deutschland; es gibt darauf keine Antwort aus Europa. Wir fordern, dass endlich eine Diskussion über eine europäische Antwort und über eine zukunftsgerichtete europäische Industriepolitik auf den Weg gebracht wird.
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Wir müssen uns doch etwas einfallen lassen, wie wir unsere Wirtschaft stärken – nicht in der Abwehr, sondern indem wir etwas Eigenes entwickeln, indem wir eine europäische Industriepolitik voranbringen. Wir brauchen Investitionen in Zukunftsbranchen – Stichwort „Digitalisierung“ –, vor allem in eine CO 2 -arme und CO 2 -freie Wirtschaft. Die Aufgaben sind zu groß, als dass wir es alleine machen könnten. Deswegen steht Bündnis 90/Die Grünen so sehr für ein geeintes Europa: weil wir diese Frage nur noch europäisch angehen können.
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Wir fordern eine europäische Industriepolitik mit langfristigem Horizont. Wir fordern, dass man sich den veränderten Bedingungen nüchtern, klar und mit Ruhe stellt. Wir fordern, dass die Bundesregierung sich der Diskussion, die auch auf europäischer Ebene geführt wird, im Hinblick auf die Schaffung eines Rahmens – das wird ja übrigens von Herrn Machnig sehr unterstützt – für die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen in der Europäischen Union stellt und dass diese vorangebracht wird. Und wir fordern eine Wirtschaftspolitik, die sowohl nachhaltig als auch vorausschauend ist, aber keineswegs naiv.
Danke schön.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Andreae. – Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Michael Theurer.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Die Kollegin Kerstin Andreae hat hier eine Diskussion eingefordert. Es wäre an der Stelle nur fair gewesen, liebe Kollegin Andreae, wenn Sie darauf hingewiesen hätten, dass diese Diskussion hier heute nur deshalb stattfindet, weil die Freien Demokraten einen Antrag gestellt haben. Sie loben die Bundesregierung. Wir wissen doch überhaupt nicht, was die Bundesregierung konkret vorschlägt. Das soll über den Verordnungsweg geregelt werden, am Parlament vorbei. Wir haben dafür gesorgt, dass hier über diese Frage diskutiert wird.
In der Tat: Wir Freien Demokraten sind der Meinung, dass wir eine europäische Außenwirtschaftsgesetzgebung brauchen, die es dann auch ermöglicht, entsprechende Investitionen ausländischer Investoren zu prüfen, aber eben auf der Grundlage klar nachvollziehbarer Kriterien; denn es kann nicht sein, dass der Staat willkürlich in die Verfügungsautonomie von privaten Eigentümern eingreift. Das wäre eine Abkehr von der Marktwirtschaft, und das ist der falsche Weg.
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Vielen Dank. – Frau Kollegin Andreae, Sie möchten antworten? – Bitte, Sie haben das Wort.
Vielen Dank. – Absolut: Wenn die FDP den Antrag nicht gestellt hätte, hätten wir heute nicht diese Debatte. Es ist richtig, dass die Bundesregierung oftmals die Diskussion mit dem Parlament und mit den Abgeordneten, im Übrigen auch im Ausschuss, dazu nicht sucht. Es wäre wichtig, bei dieser sehr schwierigen Frage in die Diskussion zu gehen. Aber die Antworten, die die FDP gibt, sind eben nicht weitreichend genug. Sie sagen: Wir bleiben bei der Prüfschwelle von 25 Prozent.
Was mich dabei vor allem stört, ist der alte FDP-Reflex, der bei dem Wort „Industriepolitik“ sofort ausgelöst wird. Das ist heute nicht mehr adäquat. Wir werden eine Antwort darauf finden müssen, dass in anderen Ländern, in anderen Regionen, in anderen Teilen der Weltwirtschaft massiv Industriepolitik betrieben wird. Wir wollen keine staatliche, interventionistische Industriepolitik. Aber wir wollen eine kluge Bundesregierung, die sich diesen Herausforderungen stellt, die auf europäischer Ebene fragt: „Welche Branchen brauchen eigentlich Unterstützung?“, und die im Bereich Forschung auch unterstützt und am Ende vielleicht sogar Geld in die Hand nimmt. Wir wollen eine kluge europäische Industriepolitik. Das ist viel mehr, als nur die Frage aufzuwerfen: Was ist mit Prüfschwellen und dem Untersagen von Investitionen?
Insofern: Sie haben recht: Dass Sie die Debatte heute hier angestoßen haben, ist sinnvoll. Ihre Antworten sind aber leider nicht unsere.
Danke schön.
({0})
Dann ist das auch mal gesagt worden. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Mario Mieruch, fraktionsloser Abgeordneter.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Dann kann ich an der Stelle der FDP auch noch einmal danken, dass sie das Thema angestoßen hat. Ich möchte das aber direkt mit einer spannenden Frage verknüpfen. Denn so toll wie es ist, ausländische Investitionen im Land zu haben, sollten wir uns die Frage stellen: Wie viel davon ist für eine Volkswirtschaft, die gleichzeitig auch eine Solidargemeinschaft ist, überhaupt erstrebenswert?
Ich habe mir den Punkt 8 des Antrages der FDP einmal herausgezogen:
… in Kooperation mit der deutschen Wirtschaft Lösungen für den langfristigen Erhalt und die Stärkung innovativer deutscher Unternehmen der Zukunfts- und Schlüsseltechnologien … zu erarbeiten …
Ja, das ist ein sehr wichtiger Punkt. Wenn wir den fokussieren, dann landen wir faktisch eigentlich bei einem Thema, das in der Diskussion viel wichtiger ist, als zu versuchen, mehr ausländisches Kapital hereinzuholen, nämlich der Frage: Wie stärken wir unsere einheimische Industrie? Denn im Idealfall wäre es ja prima, wenn der Konsument – völlig egal, ob national oder international – Wert auf deutsche Qualitätsprodukte legt und diese bevorzugt. „Made in Germany“ hieß das früher, und das war trotz einer harten Währung auch vor dem Euro einmal eine richtig erfolgreiche Sache.
Um die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen – das greift der Punkt 7 Ihres Antrages in Ansätzen auf –, müssen die deutschen Unternehmen mit ihrer Innovationskraft im globalen Wettbewerb immer drei Schritte voraus sein, Stichwort „Technologieführerschaft“. Das lässt sich aber nicht verordnen. Das könnten wir hier aber zumindest erleichtern durch mehr Profitabilität, damit die Unternehmen durch Selbstfinanzierung in Expansion, in Entwicklung investieren können, damit sie gesunde Eigenkapitalquoten erwirtschaften können, um Rezessionen auch ohne massive Verschuldung überstehen zu können. Steuern, Nebenkosten, Bürokratie, Überregulierung wären hier die notwendigen Hebel.
Stichwort „Rezession“, in dieser Diskussion vielleicht auch ganz wichtig. Seit dem Crash 2008 geht es ungebremst bergauf. Diese Entwicklung ist ein klein wenig untypisch für den klassischen Konjunkturzyklus, und sie ist sicherlich endlich. Entweder endet das in einem üblichen Abschwung oder in einer Blase, deren Ende wirklich nicht erstrebenswert wäre. Berücksichtigen Sie also bitte auch diese Aspekte in dieser Diskussion. Bevor wir in die europäische Lösungsfindung einsteigen, wäre es ganz sinnvoll, wenn wir unseren eigenen Regelungsbedarf vorher gemeinsam debattieren und den ersten Schritt vor dem zweiten machen würden.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Mieruch. – Als letzter Redner hat das Wort der Kollege Bernhard Loos, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal hat man ja schon das Gefühl, um mit Karl Valentin zu sprechen: „Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.“ So wird heute für alles eine Lösung geboten, aber auch das Gegenteil davon. Heute überbieten sich ja FDP und Grüne mit eilig geschriebenen Anträgen im Wettbewerb um die Sorge um Investitionen in Deutschland und zugleich um den Bestand deutscher Hightechfirmen, schlagen aber völlig unterschiedliche Lösungen vor.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der FDP und den Grünen, ich darf zu Ihrer aller Beruhigung feststellen: Ihre Zukunftsangst ist in beide Richtungen völlig unbegründet.
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Die Attraktivität Deutschlands für ausländisches Kapital hängt nicht in erster Linie von Eingriffsschwellen oder Meldepflichten ab, sondern von den hervorragenden innovativen Mitarbeitern in meist kleinen und mittelständischen Hightechfirmen und vor allem von einem hohen Bildungsstandard in unserem Land. Allein im letzten Jahr gab es rund 70 Prüfverfahren nach der Außenwirtschaftsverordnung, davon rund die Hälfte China betreffend. Zwischen 2015 und heute verzeichnen wir ein Ansteigen des ausländischen Investitionsvolumens von 500 Millionen auf aktuell 10 Milliarden Euro. Bundesbankpräsident Weidmann aber weist uns darauf hin, dass deutsche Investitionen in China immer noch 16-mal höher sind als umgekehrt.
Zur Sache selbst: Der Bundesrat hat am 27. April 2018 eine Entschließung verabschiedet, nach der die Bundesregierung die sogenannte Eingriffsschwelle des § 56 der Außenwirtschaftsverordnung absenken möge. Die Bundesregierung bereitet deshalb Überlegungen vor, die erstmals im Wirtschaftsausschuss am 26. September 2018 angesprochen wurden. Eine endgültige Festlegung über den Umfang und die konkrete Ausgestaltung von Änderungen der Außenwirtschaftsverordnung gibt es aber noch nicht. Wir debattieren heute also quasi ins Blaue, allein auf der Grundlage von einem, wie Sie von der FDP so schön schreiben, „Wunsch des Bundesrates“. Andere Initiativen, wie zum Beispiel eine EU-weite Verordnung, sind ebenfalls in Entstehung. Das sollten die Grünen, die jetzt gerade das Gegenteil behauptet haben, vielleicht einmal nachlesen.
Deutschland, Italien und Frankreich sind schon im Februar 2017 mit der Bitte an die Europäische Kommission herangetreten, sich zeitnah mit der Frage staatlich gelenkter strategischer Direktinvestitionen von unionsfremden Investoren in europäischen Hochtechnologieunternehmen zu beschäftigen, mit dem Ziel, die Eingriffsbefugnisse der Mitgliedstaaten im Kontext unionsfremder Beteiligungen an sicherheitsrelevanten Schlüsseltechnologieunternehmen zu stärken. Die Europäische Kommission hat dazu am 14. September 2017 einen entsprechenden Verordnungsvorschlag vorgelegt, der jetzt das reguläre Gesetzgebungsverfahren durchläuft. Ein Abschluss des Verfahrens soll noch in diesem Jahr stattfinden. Interessant ist eine Regelung auf EU-Ebene vor allem auch deshalb, weil damit Umgehungen durch Schachtelinvestitionen über EU-Mitgliedsländer zu verhindern wären.
Lassen Sie mich aber noch einige grundsätzliche Anmerkungen machen. Eine Prüfung nach AWV dient der Beantwortung der Frage, ob von solchen Investitionen eine konkrete Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder für wesentliche Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland nach der Außenwirtschaftsverordnung ausgeht.
Die Änderung der Außenwirtschaftsverordnung vom 14. Juli 2017 hat sichergestellt, dass für die Durchführung der Prüfungen ein angemessener zeitlicher Rahmen zur Verfügung steht, dass Übernahmen kritischer Infrastrukturen und bestimmter Schlüsseltechnologien beim BMWI angemeldet werden müssen und dass das Prüfverfahren nicht durch missbräuchliche gesellschaftsrechtliche Gestaltungen ausgehebelt werden kann. Die Bundesregierung prüft deshalb jetzt die vom Bundesrat angeregte Absenkung der Prüfeintrittsschwelle.
Grundsätzlich gilt: Wir müssen offen bleiben für Investitionen in Deutschland durch ausländische Firmen. Deutschland steht als offene Volkswirtschaft für die Freiheit der Wirtschaft, für eine offene Welthandelsordnung, allerdings auch auf Basis der Gegenseitigkeit in Form deutscher Kapitalbeteiligungen im Ausland.
Wir werden das Absenken des Schwellenwertes genau abwägen und eng definieren müssen, welche Bereiche darunterfallen. Dies alles ist ein noch offener Entscheidungsprozess. Ich sage an dieser Stelle für meine Person: Ich betrachte eine Absenkung differenziert. Dies ist aus meiner Sicht kein alleiniger Heilsweg; denn sie wirft weitere Fragen auf, zum Beispiel nach den Eigentumsrechten der Firmeninhaber und der zusätzlichen Bürokratie und Handhabbarkeit.
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Trotzdem haben wir von der CDU/CSU auch große Sympathien für die Aufforderung des Bundesrates.
Noch ein Wort zu China. Es müssen Asymmetrien im chinesischen Marktzugang konsequent abgebaut werden. Es darf keine selektive, sondern es muss eine umfassende Öffnung stattfinden. Gleichbehandlung ausländischer Unternehmen auf dem chinesischen Markt muss gegeben sein. Aber ich halte auch nichts von einer übertriebenen Angstmacherei und zitiere dazu abschließend Bundesbankpräsident Jens Weidmann, der laut Reuters am 20. September 2018 sagte:
Ich meine, wir sollten hier mit Augenmaß vorgehen und uns vor einem Investitionsprotektionismus hüten ... Statt chinesischen Investoren mit besonderen Maßnahmen zu begegnen, wäre es ... besser,
– so Weidmann –
auf die Entwicklung angemessener multilateraler Regeln und auf gegenseitige Gleichbehandlung im Marktzugang hinzuwirken.
Deshalb: Statt der heutigen Schnellschüsse von FDP und Grünen sollten wir also eine gründliche, umfassende Diskussion zu diesen Fragen führen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/4216 und 19/5565 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich meine dringliche Bitte an die Geschäftsführer der Fraktionen wiederholen, sich über den heutigen Ablauf der Tagesordnung noch einmal Gedanken zu machen. Ich persönlich halte es nicht für sinnvoll, dass wir 3 Uhr morgen früh ansteuern.
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Bitte tun Sie sich und uns einen Gefallen: Versuchen Sie, gerade im Hinblick auf den morgigen Tag, die Tagesordnung, was die Reden angeht, etwas zu straffen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 9,8 Milliarden Euro – um diese Summe entlasten wir Familien in Deutschland, mit dieser Summe unterstützen wir Familien in Deutschland. Dies ist ein starkes familienpolitisches Zeichen und deshalb auch ein guter Tag für die Familien in Deutschland.
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Drei Aspekte möchte ich herausheben. Erstens. Nach dem sogenannten Existenzminimumbericht wäre das Kindergeld nur um 3 Euro erhöht worden. Wir erhöhen das Kindergeld als Maßnahme zur finanziellen Stärkung von Familien um spürbare 10 Euro und entsprechend auch den Kinderfreibetrag.
Zweitens. Wir erhöhen den Grundfreibetrag und gleichen die kalte Progression damit aus.
Drittens. Wir tun das weit über das verfassungsrechtlich Notwendige hinaus. Knapp 6 Milliarden Euro sind verfassungsrechtlich nicht erforderlich, darunter auch die Anhebung des Kindergeldes mit 1,5 Milliarden Euro und der Ausgleich der kalten Progression. Die Entlastung ist eine bewusste politische Entscheidung zur Stärkung von Familien und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
({1})
Übrigens: Durch ein Gutachten in der Anhörung ist auch bestätigt, dass Bezieher relativ niedriger Einkommen bis weit in höhere Einkommensbereiche prozentual am stärksten entlastet werden. Besonders kräftig fällt die relative Entlastung für Familien mit Kindern mit geringem Bruttoeinkommen aus, die von der Kindergelderhöhung stark profitieren.
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Gesetze aber sollten immer unter dem Aspekt der Gerechtigkeit betrachtet werden. Wir müssen uns nichts vormachen: Wir hatten in den letzten Jahren mit Blick auf das Kindergeld immer auch die Diskussion über die Anrechnung dieser Leistungen auf die Grundsicherung. Das verstehen viele nicht. Es gibt aber zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Die Opposition wird dies und andere Dinge wahrscheinlich kritisieren. Die Grünen gingen bei der ersten Lesung sogar so weit, zu behaupten, wir würden die Menschen mit diesem Gesetz enttäuschen, falsche Hoffnungen schüren und so das Vertrauen in die Demokratie beschädigen. Man sollte mit solchen Anschuldigungen zunächst einmal sehr vorsichtig umgehen. Daneben fordern Sie – in Ihren Worten – eine Anhebung des Entlastungsbeitrags für Alleinerziehende. Dazu haben Sie einen Änderungsantrag eingebracht. – Das hört sich ja ganz toll an. In Ihrem eigenen Antrag aber schreiben Sie:
Gleichzeitig ist zu beachten, dass diese Form der steuerlichen Entlastung derzeit deutlich weniger als die Hälfte aller Alleinerziehenden erreicht ... Bei einem Großteil wirkt sich die Entlastung mangels entsprechendem Einkommen faktisch nicht aus.
Sie werfen uns vor, wir würden die Menschen täuschen, aber Sie bringen einen Antrag ein und sagen: Es kommt nichts an.
({3})
Wir wissen, dass wir bei Ihrem Antrag über die Frage von steuerlichen Entlastungen sprechen. Wir wollen aber alle erreichen. Die erreichen wir eben nicht mit Ihrem Antrag. Weil wir alle Familien entlasten wollen, bringen wir weitere Maßnahmen auf den Weg. Das Gute-Kita-Gesetz bringt eine Qualitätsoffensive und Gebührensenkungen. Das bringt den Alleinerziehenden etwas.
({4})
Wir gehen an das Ende des Kooperationsverbotes heran für mehr Investitionen in Schulen. Und wir werden mit dem Familienstärkungsgesetz gerade für Familien in der Grundsicherung etwas tun: von kostenloser Schülerbeförderung und kostenlosem Essen in Schulen und Kitas bis hin zum Kinderzuschlag, den wir erhöhen und entbürokratisieren. Wir beantworten diese Gerechtigkeitsfrage, indem wir den Grundsicherungsempfängern dort helfen, wo wir es steuerlich nicht können. Das ist die richtige Antwort auf die Gerechtigkeitsfrage.
({5})
Übrigens: Dieses Familienstärkungsgesetz soll gleichzeitig mit dem vorliegenden Familienentlastungsgesetz zum 1. Juli 2019 in Kraft treten. Während die Opposition noch kritisiert, schnüren wir ein Gesamtpaket für Kinder und Familien in Deutschland und beginnen heute mit einem sehr guten Familienentlastungsgesetz. Für das wünsche ich mir eine breite Zustimmung.
({6})
Vielen Dank. – Der nächste Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Kay Gottschalk.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Liebe Bürger auf den Tribünen! Gestatten Sie zunächst eine Zwischenbemerkung. Ich muss mich langsam als Orakel von Berlin bezeichnen, sagte ich doch am 11. Oktober in meiner Rede zum Familienentlastungsgesetz:
Wir schlagen etwas Unbürokratisches, Faires und Transparentes vor,
– einen Mechanismus, der tatsächlich die kalte Progression beendet und Ihre Steuergier reduzieren würde, meine Damen und Herren von der Regierung –
wie es vielleicht Herr Merz hier vorgetragen hätte; Frau Merkel ist nicht da,
– wie heute auch –
sie bekäme jetzt Pickel, aber vielleicht werden einige Kollegen der CDU in Melancholie schwelgen.
Wohlgemerkt: am 11. Oktober.
({0})
Drei Wochen später war Herr Merz Ihr Kandidat für den Parteivorsitz. Sollte er meine Rede gehört haben und sich dadurch aufgefordert gefühlt haben, so möchte ich mich in aller Form bei Frau Kramp-Karrenbauer entschuldigen.
Okay. Neudeutsch scheine ich nun Influencer zu sein. Dass ich nun, aber auch unsere Partei, die inhaltlichen Leitlinien und die Arbeit der FDP beeinflusse, muss an dieser Stelle schon Erwähnung finden.
Das liegt aber wahrscheinlich an der Inhaltsleere Ihres Kollegen Lindner. Denn keine drei Wochen nachdem ich hier den Vorschlag gemacht habe, dass wir mit einer sehr simplen Formel sozusagen einen Tarif auf Rädern bekommen, indem wir ganz einfach oben im Zähler die vorvorhergehende tatsächliche Veränderungsrate der Preise nehmen, ins Verhältnis setzen zur Quote des Ermittelten und Prognostizierten und das Ganze multiplizieren mit dem Herbstgutachten – –
({1})
– Hören Sie mir doch zu. – Mit der Veränderungsrate würden wir einen Tarif auf Rädern haben, etwas, was Sie hier im Hause seit Jahren diskutieren. Das würde Ihrer Steuergier tatsächlich erstmals einiges aus den Händen schlagen.
Aber in meiner Rede zum Haushalt sagte ich einiges mehr. Ich schlug eine Indexierung der Pendlerpauschale vor.
({2})
Ich schlug gleichzeitig vor, dass man den Arbeitnehmer-Pauschbetrag indexiert. Und siehe da gestern im Finanzausschuss: Die lieben Kollegen von der FDP brachten einen mit heißer Nadel gestrickten Entschließungsantrag ein, der heute im weiteren Verlauf unter dem Tagesordnungspunkt „Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet“ zur Debatte stehen wird.
({3})
Das alles ist nicht schlecht, meine Damen und Herren, für eine Partei, der Sie immer vorwerfen, sie würde sich hier nicht konstruktiv an den Diskussionen beteiligen und nur kritisieren. Nun nehmen die Parteien der Regierungskoalition und der übrigen Oppositionsfraktionen unsere Vorschläge dankbar auf,
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aber sie kritisieren uns trotzdem dafür. Das nenne ich Politikpopulismus.
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Lassen Sie mich noch eines anführen. Hätten wir die Formel bereits in den 60er-Jahren eingeführt – damals lag der Spitzensteuersatz bei dem 15,1-Fachen –, dann wären wir heute nicht in der Situation, dass mittlerweile circa 3,7 Millionen Menschen in Deutschland den Spitzensteuersatz zahlen. Das sind wohlgemerkt 2,5 Millionen mehr als 2002.
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Prognosen zufolge werden es 2020 mehr als 5 Millionen Menschen sein.
Wir kommen also zu dem Ergebnis: Es ist mehr als notwendig, die Formel anzuwenden. Das Familienentlastungsgesetz, Herr Schrodi, verdient den Namen nicht.
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Sie lassen den Familien nur wenig, und das würden Sie ihnen wahrscheinlich auch noch sehr gerne für Ihre rot-schwarzen träumerischen Projekte der EU nehmen.
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Heute ist man mit dem 1,3-Fachen des Durchschnittsverdienstes Spitzenverdiener. Nehmen Sie das zur Kenntnis.
Zu Ihrem jämmerlichen Verhalten gestern in der Cum/Ex-Debatte: Ich kann wirklich verstehen, dass Normalverdiener, die sogenannten Normalos, in diesem Land alles nicht mehr als gerecht empfinden.
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Dennoch: Trotz aller Kritik am vorliegenden Gesetzentwurf – wir könnten das Kindergeld kritisieren;
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in dem 400-seitigen Bericht, den das BMF angefordert hat, wird es als ineffizient bezeichnet – wird meine Fraktion dem Familienentlastungsgesetz zustimmen; denn immerhin lassen Sie den Menschen das, was die kalte Progression ihnen nehmen würde.
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Wir stehen für die Menschen, die da draußen die Werte schaffen und arbeiten. Wir sind die neue Partei des kleinen Mannes, Herr Schrodi, Sie schon lange nicht mehr, und das haben Sie gestern auch gezeigt.
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An dieser Stelle bitte ich zumindest die Kollegen der CDU/CSU und auch der FDP: Machen Sie sich ehrlich. Stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu. Sie haben quasi den gleichen Gesetzentwurf eingebracht und nur das Datum geändert, nämlich auf 2019.
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Beim Solizuschlag hätten Sie uns auch folgen können. Sie wollen bis zum Ablauf des Solidarpaktes warten. Folgen Sie uns auch da und nehmen die Änderungen zum 1. Januar 2019 vor, ehe es die Regierung macht, die die Entscheidung darüber im Finanzausschuss permanent aussetzt.
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Es bleibt das Fazit: Folgen Sie dem Antrag der AfD. Packen Sie die Reform endlich an, und legen Sie Ihre ideologische Brille ab; denn dieses Land hat Reformen bitter nötig. Der Stillstand der Merkel-Ära muss auf jeden Fall beendet werden. Heute haben Sie die Chance dazu. Folgen Sie bitte unserem Vorschlag, und stimmen sie unserem Änderungsantrag zu.
Danke schön.
({15})
Der Kollege Johannes Steiniger ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag für die Kinder, für die Eltern und für die Familien in Deutschland, heute ist ein guter Tag für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland, und heute ist auch ein guter Tag für die Koalition aus CDU, CSU und SPD; denn wir beschließen heute eines der zentralen Entlastungsprojekte dieser Legislatur.
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Wir sind verlässlich und halten das, was wir versprochen haben,
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nämlich eine Entlastung in Höhe von rund 10 Milliarden Euro pro Jahr und von knapp 35 Milliarden Euro bis ins Jahr 2022. Das ist ein kräftiger Schluck aus der Pulle, und das werden viele Bürgerinnen und Bürger spüren, wenn sie am Ende des Jahres mehr Geld in der Tasche haben.
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Wir erhöhen erstens das Kindergeld und den Kinderfreibetrag. Dieses Geld landet sofort in den Taschen der Familien.
Man muss den Familien in Deutschland sagen, dass die AfD das Kindergeld gar nicht haben will. Herr Gottschalk hat in der ersten Lesung darauf hingewiesen, dass man das Kindergeld vielleicht gar nicht braucht. In Ihrem Wahlprogramm kommt der Begriff „Kindergeld“ übrigens nicht vor.
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Auch eben haben wir wieder gehört, man müsste den Begriff eigentlich kritisieren. Das müssen die Menschen in Deutschland wissen. Wir machen genau das Gegenteil: Wir erhöhen das Kindergeld für die Menschen in Deutschland.
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Wir erhöhen zweitens den Grundfreibetrag. Dieses Geld geben wir an alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zurück.
Drittens stellen wir Gerechtigkeit her, indem wir dafür sorgen, dass in den nächsten beiden Jahren die kalte Progression gar nicht erst entsteht. Diese ist nämlich unfair, und deshalb bekämpfen wir sie schon seit Jahren. Es gibt seit 2014 einen Beschluss – Olav Gutting, ein Kollege aus der CDU/CSU-Fraktion, hat sich dafür eingesetzt –, dass wir die Inflation für die nächsten beiden Jahre berechnen lassen und dann die Eckwerte, nicht nur den Grundfreibetrag, entsprechend so verschieben, dass die kalte Progression ausgeglichen wird, und das ist gut so.
Seit dem ersten Referentenentwurf hat die Opposition versucht, den Gesetzentwurf zu zerreden und die Entlastungen kleinzumachen. Da wurde zum Beispiel gesagt: Ihr macht nur das, was ihr verfassungsrechtlich müsst. – Das ist schlichtweg falsch.
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Oder es wurde gesagt: Das sind doch nur „Brotkrumen“ – Zitat eines Kollegen der FDP aus der ersten Lesung –, die ihr verteilt; eine Aussage, die angesichts von 10 Milliarden Euro schlicht von Unkenntnis zeugt.
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Liebe Opposition, gerne zeige ich Ihnen, warum das alles falsch ist; das ist sozusagen Servicekoalition für Sie. Fakt ist: Wir entlasten weit über den Betrag hinaus, der uns durch die Verfassung vorgeschrieben wird. Beim Kinderfreibetrag gehen wir deutlich über das hinaus, was die Bundesregierung in ihrem Existenzminimumbericht berechnet hat. Es wurde darauf hingewiesen: Statt der vorgeschriebenen Erhöhung um 108 Euro, erhöhen wir um 192 Euro. Das sind 80 Prozent mehr als vorgeschrieben.
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Beim Kindergeld haben wir vor Jahren entschieden, dass, obwohl das Verfassungsgericht nichts sagt, das Kindergeld entsprechend angehoben wird. Auch hier machen wir sehr viel mehr, indem wir das Kindergeld um 10 Euro erhöhen werden.
Zum Mitschreiben: Von den 10 Milliarden Euro, die im Gesetzentwurf vorgesehen sind, hat die Koalition rund 6 Milliarden Euro, also 60 Prozent, zusätzlich obendrauf gesetzt. Das ist eine gute politische Leistung. Sie kann sich sehen lassen. Deswegen stimmen wir heute dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zu.
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Aber es geht nicht nur um nackte Zahlen. Die Experten in der Anhörung am Montag haben bestätigt: Es bleibt konkret etwas im Geldbeutel der Menschen in Deutschland hängen.
Nun hört sich das alles – 10 Milliarden, 35 Milliarden, Anhebung des Kindergeldes und anderes – relativ abstrakt an. Was bedeutet das eigentlich für die einzelne Familie? Ich möchte das an zwei Beispielen aufzeigen.
Nehmen wir ein Elternpaar mit zwei Kindern. Beide Eltern sind berufstätig und verdienen im Jahr 40 000 Euro.
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– Jeweils, das habe ich gerade gesagt. – Durch das, was wir heute beschließen, spart diese Familie im Jahr 2020 – halten Sie sich fest – über 600 Euro. Wir verringern deren Steuerlast um knapp 8 Prozent. Das ist eine richtig gute Leistung, die wir und die Regierung bringen.
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Nun kann man natürlich einwenden, dass das ein Extremfall ist, dass das Menschen sind, die viel Steuern bezahlen und entsprechend viel davon profitieren.
Nehmen wir ein zweites Beispiel. Wieder eine Familie mit zwei Kindern. In diesem Fall verdient ein Elternteil 40 000 Euro, und das andere Elternteil kümmert sich Vollzeit um die Kinder. Für diese Familie bedeuten die Maßnahmen, die wir heute beschließen, im Jahr 2020 eine Entlastung um über 450 Euro, die insbesondere bei dieser Familie sehr gut ankommt.
Wir wollen in die Familien in Deutschland investieren, und wir reduzieren deren Steuerlast durch das, was wir heute beschließen. Beide Beispiele zeigen im Übrigen: Das sind keine Brotkrumen, sondern das ist eine richtige Entlastung, die die Familien in Deutschland spüren werden.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, deshalb beschließen wir heute keine Kleinigkeit. Das zeigen nicht nur diese beiden Beispiele – das haben wir auch in der Anhörung am Montag von den Sachverständigen gehört. Wir machen das nicht, weil die Verfassung uns das vorschreibt; denn wir tun mehr als das. Wir machen das, weil die Entlastung der Steuerzahler und der Familien in diesem Land wichtig ist – wichtig deshalb, weil die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land von der guten Konjunktur und von den gefüllten Staatskassen profitieren sollen, wichtig deshalb, weil Mütter und Väter, die ohnehin schon die schwerste Aufgabe überhaupt haben, bei dieser auch unterstützt werden müssen.
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Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Ich bin nachher, beim vorletzten Tagesordnungspunkt um 2.30 Uhr, noch mal mit einer Rede dran. Im Interesse aller –
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Herr Gottschalk hat ja schon Redezeit gehabt – würde ich jetzt keine Zwischenfrage zulassen.
Jawohl, verstanden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch wenn die Inhalte des Gesetzentwurfs sehr viel Gutes bringen, so ist doch eines nicht gut gelaufen: Das Gesetzgebungsverfahren fing viel zu spät an und musste dann im Parlament sehr schnell durchgezogen werden, um die notwendigen Fristen einzuhalten. Bereits im Juni habe ich den Finanzminister auf diese Problematik hingewiesen. Ich bin zwar froh, dass wir den Abschluss in dieser Woche hinkriegen; aber wir sollten schon überlegen, ob wir beim nächsten Mal die Berichte nicht schon sehr viel früher bekommen können, damit Anhörung, Berichterstattergespräch, Abschluss im Ausschuss und die dritte Lesung im Plenum nicht innerhalb von vier Tagen passieren müssen. Das ist meine Anregung und auch meine Forderung an die Regierung.
Zum Abschluss. Ich habe deutlich gemacht: Wir setzen hier mit dem Familienentlastungsgesetz wirklich was auf die Schiene. Wir machen wirklich was für die Eltern, für die Kinder und für die Familien in Deutschland, wir machen was für die Steuerzahler. Deswegen stimmen wir heute gerne zu und werben auch um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Markus Herbrand.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalition feiert heute das sogenannte Familienentlastungsgesetz, aber sie feiert alleine. Die Familien feiern leider nicht mit, weil es einfach zu wenig ist.
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Denn bei dem Gesetz handelt es sich im besten Falle um ein Familienminimalentlastungsgesetz. Es werden fast nur die Mindestanforderungen umgesetzt,
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die aus verfassungsrechtlicher Sicht geboten sind oder sich aus der Selbstverpflichtung des Bundestages ergeben.
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Wir sprechen über die Steuerfreistellung des Existenzminimums und die kalte Progression.
Meine Damen und Herren, für Familien ist es ganz wenig, für einige andere ist es nichts. Die Mehrheit der alleinerziehenden Mütter oder Väter, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, hat nichts von alledem. Sie bekommen die Erhöhung des Kindergeldes am nächsten Tag auf die Leistungen des Staates angerechnet.
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Es fehlt ein Gesamtkonzept zur Entlastung aller.
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Deshalb haben wir da zwei Anträge gestellt. Herr Kollege Gottschalk, den Tarif auf Rädern haben wir schon gefordert, da waren Sie vermutlich noch in der SPD – so lange ist das schon her.
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Deshalb müssen wir uns da nicht rechtfertigen.
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Wir haben den Tarif auf Rädern beantragt – eine ganz alte Forderung von uns.
Wir wollen so erreichen, dass dem Steuerzahler automatisch zurückgegeben wird, was ihm durch das Zusammenspiel aus Preissteigerung und progressivem Steuertarif genommen wird, ohne dass er sich dagegen wehren kann – er ist dem hilflos ausgeliefert.
Von der SPD hörte ich dazu mehrfach, dass die kalte Progression ein Phantom sei.
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Ich habe mal nachgesehen, was ein Phantom ist: eine „unwirkliche Erscheinung“, steht im Internet. Nein, die kalte Progression ist natürlich kein Phantom, sie ist real. Dazu mal ein paar Zahlen: Allein hierdurch generierte der Staat in den Jahren 2011 bis 2015 Mehreinnahmen in Höhe von 28,2 Milliarden Euro, die bis heute nicht ausgeglichen sind,
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trotz permanent steigender, sprudelnder Steuereinnahmen. Man könnte auch von leistungsloser Bereicherung durch den Staat sprechen.
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Wer diese Wirkung in Zweifel zieht – und das tun Sie eigentlich immer –, der verkennt die Realität. Deshalb spreche ich in diesem Zusammenhang gerne von Realitätsverweigerung.
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Diejenigen, die den regelmäßigen Ausgleich der Wirkung der kalten Progression verhindern wollen, wollen damit eigentlich nur eines erreichen: Sie wollen die entsprechenden Mehreinnahmen für neue Ausgabenorgien bereitstellen: Rentenpaket etc.
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Sie wollen halt Jahr für Jahr darüber entscheiden, ob Sie den Menschen das Geld zurückgeben. Wir finden, es gibt gute Gründe dafür, den Tarif auf Rädern einzuführen.
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Dann müssten wir das nicht mehr jährlich entscheiden, auch Sie nicht, Herr Binding, sondern nur einmal.
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Der zweite Antrag betrifft die Kindergelderhöhung. Sie sagen immer: Wir erhöhen das Kindergeld um 10 Euro. – Davon kann zumindest für 2019 überhaupt keine Rede sein;
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denn das Kindergeld wollen Sie ja erst ab dem 1. Juli erhöhen.
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Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein, im Augenblick nicht. – Den Kinderfreibetrag, von dem nur die Besserverdienenden profitieren, erhöhen Sie ab dem 1. Januar. Daraus folgen – ich gebe zu: wirklich in Einzelfällen – Ungerechtigkeiten, die in der öffentlichen Anhörung explizit angesprochen worden sind.
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Deshalb haben wir diesen Antrag gestellt. Sie sind weder selber aktiv geworden, noch haben Sie unserem Antrag dazu zugestimmt. Warum machen Sie das nicht, wenn Sie behaupten, Familien helfen zu wollen?
Ganz klar: Aus unserer Sicht greift das Gesetz zu kurz. Dennoch werden wir ihm zustimmen. Weniger ist einfach besser als nichts.
Danke schön.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Jörg Cezanne.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetz wird das Kindergeld angehoben: im nächsten Jahr um insgesamt 60 Euro und 2020 um insgesamt 120 Euro im Vergleich zu heute. Gleichzeitig steigt der Kinderfreibetrag in der Einkommensteuer, und die Eckwerte werden angepasst,
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was zu einer kleinen Steuererleichterung führen wird.
Der größte Haken – das kann ich Ihnen nicht ersparen –: Eine Entlastung der ärmsten Familien in unserer Gesellschaft wird damit nicht gelingen.
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Wir hatten es schon häufig gesagt: Bezieher von Hartz IV haben von einem höheren Kindergeld gar nichts, weil ihnen das Kindergeld sofort angerechnet wird. Sie zahlen auch keine Steuern. Deshalb haben sie auch von der Steuerentlastung nichts.
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Damit wird das stetig zunehmende Problem der Kinderarmut überhaupt nicht angegangen – ein schwerwiegender Fehler.
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– Das wollen Sie doch auch mit Ihrem Familienstärkungsgesetz gar nicht wirklich ändern.
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Zweiter Haken: Ein Spitzenverdiener hat durch die Steuerentlastung aufgrund des höheren Kinderfreibetrags jährlich 182 Euro mehr im Portemonnaie, das Kindergeld steigt aber nur um 120 Euro. Diese ungerechte Verteilungswirkung steuerlicher Freibeträge ist ein generelles Problem. Es ließe sich allerdings leicht überwinden: Das Kindergeld müsste so hoch angesetzt sein, dass es der Steuerersparnis von Spitzenverdienern entspricht. Das bedeutet: 328 Euro Kindergeld im Monat für alle – auch für Hartz-IV-Bezieher, Alleinerziehende –, und zwar jetzt und sofort. Genau das ist unser Vorschlag.
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Um das Problem grundsätzlich zu lösen, wäre allerdings ein Systemwechsel hin zu einer Kindergrundsicherung der beste Weg. Sie würde unabhängig von der Steuer gezahlt und könnte die verschiedenen Fördermittel – Kindergeld, Kinderzuschlag, Alleinerziehendenzuschlag, Kinderfreibetrag und all das, was es sonst noch gibt – bündeln und ersetzen. Dazu, wie das bezahlt werden kann, haben wir als Linke – zumindest hinsichtlich der Einkommen- und der Vermögensteuer – grundlegende Vorschläge gemacht. Grundgedanke dieser Vorschläge: Bezieher niedriger und vor allem mittlerer Einkommen werden entlastet, Besserverdienende und Reiche zahlen mehr. Nach unserem Vorschlag würden Alleinstehende ohne Kinder mit einem Monatseinkommen von bis zu 7 000 Euro brutto von einer Steuerentlastung profitieren.
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Sie machen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das Gegenteil – der dritte Haken am Gesetz –: Sie ändern nicht die Steuersätze, sie ändern nicht die Verteilung der Steuerbelastung; Sie verschieben nur die Grenzwerte, ab denen ein höherer Steuersatz gezahlt werden muss. Das ist so weit erst mal okay, wenn es um die kalte Progression geht, führt aber – genauso wie der Kinderfreibetrag – zu einer ungerechten Bevorzugung Bezieher hoher Einkommen.
Die Zahlen: Wer 2019 30 000 Euro zu versteuern hat, wird im Vergleich zu 2018 um 77 Euro jährlich entlastet. Wer auf 250 000 Euro Steuern zahlen muss, erzielt einen Steuernachlass in Höhe von 320 Euro. Das ist falsch, und das lehnen wir ab.
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Einen schrägen und aus unserer Sicht falschen Steuertarif auf Räder zu stellen, ändert daran leider nichts, und deshalb werden wir dem auch nicht zustimmen.
Der vorliegende Gesetzentwurf bringt einige Veränderungen. Seinen pompösen Namen „Familienentlastungsgesetz“ hat er nicht verdient. Er geht an verschiedenen Stellen in die falsche Richtung. Bei aller Kritik enthält er mit der Kindergelderhöhung aber eine wichtige Entlastung für Familien. Deshalb werden wir uns bei diesem Gesetzentwurf enthalten.
Danke schön.
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Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen: die Kollegin Lisa Paus.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 3 Millionen Kinder leben in Deutschland in Armut. Sie von der Koalition beschließen heute Ihr sogenanntes Familienentlastungsgesetz mit einem Volumen von 10 Milliarden Euro,
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und ich frage Sie: Was meinen Sie, was die Eltern dieser Kinder empfinden – darunter sind übrigens sehr viele Familien, die arm trotz Arbeit sind –, wenn sie morgen oder schon heute Abend in der Tagesschau hören, dass 10 Milliarden Euro mehr für Familien zur Verfügung gestellt werden, und sie, wenn sie sich erkundigen, was das für sie konkret bedeutet, erfahren, dass sie nicht einen einzigen Euro von diesen 10 Milliarden Euro bekommen werden? Was meinen Sie, was diese Menschen denken? Wir sagen: Alle Kinder von allen Familien gehören in den Mittelpunkt. Wir können nicht einfach 3 Millionen Kinder hinten runterfallen lassen.
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Übrigens: Für diese 3 Millionen Kinder ist es auch überhaupt kein Trost, dass das Gesetz Familienentlastungsgesetz heißt, weil von diesen 10 Milliarden Euro, die Sie immer wieder vor sich hertragen, bestenfalls die Hälfte tatsächlich bei den Familien ankommt. Konkret: Für Kinder sind nur 20 Prozent von dieser Gesamtsumme vorgesehen – und davon eben kein einziger Euro für Kinder, deren Eltern auf Sozialleistungen angewiesen sind.
Sie sagen immer, Sie würden viel mehr machen, als Sie verfassungsrechtlich tun müssten. 5,8 Milliarden Euro mehr: Ja, das stimmt, aber davon kommt eben nur sehr wenig den Familien zugute. Nur ganze 5 Prozent des zusätzlichen Geldes kommen den Kindern zugute, und das ist nach wie vor, liebe Koalition, lächerlich.
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– Herr Schrodi, Sie wissen, ich habe die Bundesregierung gefragt: Können Sie mir sagen, wie viel davon an die Familien geht? Die Bundesregierung hat die Antwort verweigert, und Sie und ich wissen, es gibt einen guten Grund dafür. Es ist nämlich maximal die Hälfte des Gesamtvolumens.
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Im Übrigen: Alleinerziehenden gönnen Sie mit diesem Gesetzentwurf nicht einmal den Inflationsausgleich, und das kann ich nur noch schäbig nennen. Wir haben einen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht, und Sie haben ihn abgelehnt.
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Der Kinderschutzbund hat dann auch gemeinsam mit 14 Verbänden und 13 Wissenschaftlern kritisiert, dass bei diesem Gesetzentwurf die Chance – ich zitiere – „nicht für eine grundsätzliche und nachhaltige Neuausrichtung bei der Förderung ... von Familien genutzt wurde“ – und das, obwohl das der Titel Ihres Gesetzentwurfs eigentlich verspricht. Der Kinderschutzbund sieht einen eklatanten Widerspruch zwischen Ihrem Versprechen, die Kinderarmut prioritär bekämpfen zu wollen, was ja im Koalitionsvertrag steht, und diesem konkreten Gesetzentwurf, in dem es eben heißt: 10 Milliarden Euro für alle anderen, 0 Cent gegen Kinderarmut.
Ein Familienentlastungsgesetz, das den Namen verdient, hätte alle Kinder in allen Familien entlastet. Es hätte endlich die automatisierte und verbesserte Auszahlung des Kinderzuschlages eingeführt und damit gezielt Familien zusätzlich unterstützt, die arm trotz Arbeit sind, und es hätte auch Kinder aus Hartz-IV-Familien bei diesem Entlastungspaket berücksichtigt. Das wäre „Priorität gegen Kinderarmut“ gewesen.
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Es hätte damit die Weichen für eine Kindergrundsicherung für alle Kinder gestellt, unabhängig vom Status ihrer Eltern; denn jedes Kind sollte uns wirklich gleich viel wert sein.
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Wir schlagen mit einem Änderungsantrag außerdem vor, den steuerfreien Grundfreibetrag stärker anzuheben, als Sie das heute tun wollen. Anders als bei Ihrer Regelung zur kalten Progression würden von unserem Vorschlag alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler gleichermaßen profitieren. Gerade die zum Mindestlohn beschäftigte Verkäuferin würde durch unseren Vorschlag doppelt so stark entlastet werden wie bei Ihnen. Sie hätte statt 100 Euro 200 Euro mehr Netto vom Brutto.
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Auch diesen Antrag können Sie jetzt noch annehmen; ich fordere Sie dazu auf. Bisher haben Sie ihn abgelehnt. Mit diesem Gesetzentwurf haben Sie wieder einmal die Chance für mehr soziale Gerechtigkeit in Deutschland verpasst.
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Vielen Dank. – Die nächste Rednerin: Dr. Wiebke Esdar, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Familien zu stärken und Familien zu entlasten: Das war unsere Zusage an die Menschen in diesem Land, und diese werden wir mit diesem Familienentlastungsgesetz jetzt auch einlösen.
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Wir werden erstens das Kindergeld und den Kinderfreibetrag erhöhen, wir werden zweitens den Grundfreibetrag der Einkommensteuer erhöhen, und wir werden drittens die kalte Progression durch die Eckwerteverschiebung ausgleichen. Mit satten 10 Milliarden Euro werden wir die Menschen jährlich entlasten.
An dieser Stelle will ich erst einmal schauen, was das in konkreten Zahlen heißt, und ich will diese Frage mit den Berechnungen beantworten, die Professor Truger für seine Stellungnahme zu unserer öffentlichen Anhörung angefertigt hat.
Betrachten wir das Median-Bruttoeinkommen in Höhe von 45 000 Euro im Jahr: Alleinstehende mit diesem Einkommen entlasten wir zukünftig jeden Monat um 17 Euro. Ein Ehepaar mit dem gleichen Einkommen kommt auf eine Entlastung von 20 Euro pro Monat, und eine Familie mit zwei Kindern und diesem Einkommen entlasten wir um 39 Euro im Monat. Das wird am Ende spürbar bei den Menschen ankommen. Davon bin ich überzeugt.
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Wir haben die gesetzlichen Änderungen so angelegt, dass Bezieher niedriger Einkommen prozentual zu ihrem Bruttoeinkommen am stärksten durch den Gesetzentwurf entlastet werden. Das bedeutet, dass sich die Entlastungen im Bereich „Geringere Bruttoeinkommen“ – insbesondere bei Familien mit Kindern – am stärksten auswirken, sodass diejenigen, die das Geld auch wirklich benötigen, monatlich am meisten davon profitieren. Das ist unser Ziel, und das erreichen wir.
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Dieses Familienentlastungsgesetz – das sage ich jetzt auch noch einmal ganz deutlich an meine Vorrednerin, Frau Paus von den Grünen, gerichtet – ist ein wesentlicher Baustein unserer Strategie zur Stärkung von Familien. Wir werden darüber hinaus aber weitere spürbare finanzielle Entlastungen der Bürgerinnen und Bürger umsetzen.
Die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung haben wir bereits beschlossen. Wir werden die Gleitzone bei den Midijobs verlängern und die Absenkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung anpacken. Wir wollen den Solidaritätszuschlag zwar nicht für die oberen Zehntausend, aber für 90 Prozent der Zahlenden 2021 abschaffen.
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Im Rahmen des Gute-Kita-Gesetzes investiert der Bund 5,5 Milliarden Euro, um die Qualität der Kitas zu erhöhen und Gebührenfreiheit für Kinder aus einkommensschwachen Familien zu erreichen.
Lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein, an dieser Stelle nicht. Wir haben schon gesagt, dass wir nicht bis nachts um 3 Uhr hier sitzen wollen.
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Schließlich werden wir – und darum geht es an der Stelle – den Kinderzuschlag und die Mittel für das Schulstarterpaket erhöhen. Daneben werden wir das Bildungs- und Teilhabepaket endlich entbürokratisieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, das sind dann die Entlastungen, von denen auch diejenigen profitieren, die nicht von Steuerentlastungen profitieren, weil sie keine Einkommensteuer zahlen. Wir sind jetzt in der Steuergesetzgebung, aber wir haben auch die Kinder in Armut, um die es uns ja auch geht, im Blick. Diese werden wir aber eben mit dem Familienstärkungsgesetz, das wir zum 1. Juli 2019 einführen wollen, entlasten.
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– Ja, aber hier sind wir mit dem Arbeitsministerium und dem Familienministerium dran, und ich halte es, ehrlich gesagt, schon für eine Frage von Seriosität. Sie stellen sich hierhin und sagen, wir würden nichts machen, während Ihnen bekannt ist, dass wir mit einem anderen Gesetzgebungsverfahren an dieser Stelle etwas tun.
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Meine Damen und Herren, durch dieses Maßnahmenpaket sorgen wir dafür, dass Familien und Alleinerziehende entlastet werden.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ja. – Das ist finanzpolitisch seriös und am Ende auch sozial gerecht.
Danke schön.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Michelbach. – Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihm zuhören würden. Er hat es als letzter Redner vor der namentlichen Abstimmung ohnehin schwer.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Fast gebetsmühlenartig höre ich von der Opposition, diese Koalition tue ihre Arbeit nicht. Meine Damen und Herren, das ist grundlegend falsch. Diese Koalition muss auch nicht zur Sacharbeit zurückkehren. Heute beweisen wir: Diese Koalition leistet intensive Sacharbeit.
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Ja, wir haben viel Zeit für die Regierungsbildung benötigt. Das hatte die Aufnahme der Gesetzgebungsarbeit etwas verzögert.
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Aber seit dem Sommer geht es mit hoher Intensität voran. Der heute vorliegende Entwurf eines Familienentlastungsgesetzes ist ein Beleg dafür. Auf der Tagesordnung dieser Sitzungswoche finden Sie noch mehr Belege für meine Aussage. Wir haben versprochen, und wir liefern für die Bürger – insbesondere zur Entlastung ihrer Leistungen, meine Damen und Herren.
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Die Koalition kann stolz auf diese Steuerentlastung sein. Das lassen wir uns auch nicht von der Opposition kaputtreden. Tatsachen sind Tatsachen.
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Wir setzen eben nicht nur um, was verfassungsrechtlich ohnehin geboten ist, wie die Opposition zu Unrecht behauptet. Meine Damen und Herren, die Entlastung beträgt in ihrer Gesamtwirkung 9,8 Milliarden Euro jährlich.
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Davon entfallen 4,1 Milliarden Euro auf verfassungsrechtliche Vorgaben. Die restlichen 5,7 Milliarden Euro, also deutlich mehr als die Hälfte, sind die Entlastung, die nicht verfassungsrechtlich geboten ist. In vier Jahren entlasten wir die Bürger in Höhe von 35 Milliarden Euro, meine Damen und Herren.
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Das ist die Wahrheit. Warum erkennen Sie das einfach nicht an?
Es ist ja eigentlich konfus und auch sehr interessant, dass die Grünen von den Steuerzahlern immer mehr fordern, um eine weitere Umverteilung an diejenigen vorzunehmen, die überhaupt keine Steuern zahlen. Steuerentlastung kann nur dort stattfinden, wo Steuern gezahlt werden! Das ist doch ganz selbstverständlich.
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Das muss doch auch Oppositionslogik sein, meine Damen und Herren.
Wir müssen die Spielräume auf der Einnahmenseite nutzen, um die Menschen stärker am Wohlstand zu beteiligen. Die Steuerzahler werden es im Geldbeutel merken. Diese Entlastung ist wichtig und richtig. Sie ist ein Beitrag zur Steuergerechtigkeit und zur Leistungsgerechtigkeit; denn Steuergerechtigkeit heißt auch, dass der Fiskus nicht der Hauptprofiteur von Einkommensverbesserungen sein darf.
Deshalb bekämpfen wir auch die kalte Progression. 32,1 Millionen Steuerzahler werden 2019 für die kalte Progression von 2018 entlastet. Das ist letzten Endes der Weg in die Entlastung der Bürger.
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Leistung – dazu stehen wir – muss sich lohnen, gerade und vor allem bei den Durchschnittsbürgern, die jeden Tag zur Arbeit gehen und von ihrer Arbeit leben müssen, meine Damen und Herren.
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Die Menschen wissen selbst am besten, was sie mit ihrem Geld machen wollen. Das sage ich auch mit Blick auf den Solidaritätszuschlag, dessen ganzheitliche Abschaffung ich aus verfassungsrechtlichen Gründen für unabdingbar halte.
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Ich sage das auch mit Blick auf die Anhörung im Finanzausschuss. Nicht wenige Experten haben dort gefordert, der Gesetzgeber solle sich grundlegend mit dem Tarifverlauf auseinandersetzen. Die höchste Progressionsstufe dürfe nicht schon beim 1,5-Fachen eines Facharbeitergehaltes greifen, so deren Votum bei der Anhörung. Wir sollten diese Mahnung ernst nehmen. Zur Erinnerung: In den Anfangsjahren der Bundesrepublik griff der Spitzensteuersatz erst beim 15-Fachen des Facharbeiterlohns.
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Ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns daranmachen müssen, den Mittelstandsbauch im Einkommensteuertarif kontinuierlich abzuflachen. Dazu gehört natürlich auch Freiraum in den Haushalten. Deswegen kann ich solche Schnellschüsse, die hier stattfinden – Anträge ohne Haushaltstitel –, einfach nicht akzeptieren. Das hier sind Showanträge von der FDP. Ohne Haushaltstitel Forderungen zu stellen, ist unseriös, unsolide, meine Damen und Herren. Das ist die Situation.
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Sie, meine Damen und Herren von der FDP, missbrauchen die Forderung nach der Soliabschaffung inzwischen als eine Art politischen Running Gag.
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Wenn Sie diesen politischen Running Gag jede Woche bringen, dann ist das zur Erreichung des Ziels eher schädlich. Letzten Endes wollen wir diesen Weg gemeinsam mit unserem Koalitionspartner gehen. Deswegen werden wir auch hierzu einen klaren Antrag auf den Weg bringen, meine Damen und Herren. Dafür brauchen wir die FDP nicht.
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Lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein, wir wollen ja irgendwann aufhören.
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Jawohl.
Dieses Familienentlastungsgesetz ist und bleibt ein großer Wurf für unsere Bürger. Es sorgt für Planungssicherheit. Es eröffnet gerade Familien zusätzliche finanzielle Spielräume. Es bringt mehr Netto vom Brutto für alle. Das muss auch für den weiteren Verlauf dieser Legislaturperiode unser Leitsatz bleiben, meine Damen und Herren. Wir liefern heute. Herzlichen Dank für dieses Familienentlastungsgesetz!
Vielen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger auf der Tribüne! Wir kommen heute zu einem sehr wichtigen Gesetz. Es hört sich vielleicht ein bisschen unbedeutend an: „Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften“.
Als das Gesetz eingebracht wurde, haben wir es noch Jahressteuergesetz genannt. Das macht die Bedeutung des Gesetzes ein bisschen deutlicher. Wir ändern nicht nur das Einkommensteuergesetz. Wir ändern auch die Lohnsteuer-Durchführungsverordnung. Wir ändern das Körperschaftsteuergesetz. Wir ändern Teile des Gewerbesteuergesetzes, des Umsatzsteuergesetzes, des Finanzverwaltungsgesetzes, des Zerlegungsgesetzes, des Grunderwerbsteuergesetzes, des Investmentsteuergesetzes und des Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetzes. Wir ändern also sehr viele Dinge, kleine und große, bedeutende und unbedeutende. Ich möchte ein paar Dinge herausgreifen. Die Kollegen können das danach noch ergänzen.
Wir fanden, dass es an der Zeit war, die Elektromobilität stärker zu fördern. Das tun wir mit diesem Gesetz. Die Steuervorteile bei der Dienstwagenbesteuerung werden wir weiter ausbauen. Menschen, die einen elektromotorbetriebenen Dienstwagen fahren, werden eine um 50 Prozent stärkere Entlastung erfahren. Wir werden auch die private Nutzung betrieblicher Elektrofahrräder vollständig steuerbefreien.
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Wir erwarten uns Anreize dafür, dass Menschen umsteigen, die vorher ganz anders unterwegs waren, und sagen: Ja, das ist ein gutes Gesetz. Ich werde mich jetzt umorientieren. Ich werde jetzt entsprechend der Verordnung zum Elektromobilitätsgesetz Elektrofahrzeuge anschaffen und als Arbeitgeber den Arbeitnehmern zur Verfügung stellen; diese können sie dann nutzen.
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Wir werden hierbei keine Pseudoelektromobilität fördern, sondern echte Elektrofahrzeuge.
Das wird Auswirkungen haben. Finanzielle Kosten werden entstehen. Das geht los im Jahre 2019 mit 240 Millionen Euro und geht bis 2022 mit einem Spitzenbetrag von 285 Millionen Euro. Vom Arbeitgeber gewährte Jobtickets und analog auch Bahncards werden ebenfalls steuerfrei gestellt. Das ist ein gutes Gesetz. Wir werden da eine Umsteuerung hinbekommen.
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Ferner werden wir, genauso wie es im Gesetz angedeutet ist, etwas beim Handel mit Waren im Internet verändern. Wir haben im Moment die Situation: Jeder, der irgendwie Handel in Deutschland treibt, ist natürlich umsatzsteuerpflichtig. Auch wenn man Handel auf Plattformen im Internet treibt, muss man Umsatzsteuer zahlen. Es ist allerdings so, dass gerade ausländische Firmen sich dabei so präsentieren, dass es die Kunden nicht merken, und keine Steuern abführen. Das ist ein Problem.
Wir haben uns überlegt: Wie kommen wir diesem Problem bei? Wie schaffen wir es, dass alle, die auf deutschen Plattformen Waren anbieten, steuerpflichtig werden? Wir konnten das nur so hinbekommen: Die Plattformen müssen dafür sorgen, dass die Unternehmen, die bei ihnen handeln, Umsatzsteuer zahlen. Wie kann eine Plattform das tun? Sie kann erst einmal schauen, wer bei ihr handelt. Manche Firmen kennt man, andere Firmen kennt man nicht.
Wir sind der Meinung – nur so geht es –, dass die Plattformen von den Firmen Bescheinigungen anfordern, die ausweisen: Hier wird Umsatzsteuer gezahlt, bzw. hier gibt es eine Umsatzsteuernummer. Das ist ein ganz neues Verfahren. Wir haben keine Erfahrung damit und sind deswegen unterwegs gewesen. Wir haben alle möglichen Firmen vorher informiert.
Wir sind der Meinung, dass es zumutbar ist, dass sich die Firmen, die hier handeln, eine Umsatzsteuernummer besorgen. Eine Umsatzsteuernummer können sie entweder bei ihrem zuständigen Finanzamt oder, wenn es sich um ausländische Firmen handelt, bei Zentralfinanzämtern bekommen. Die Plattformen müssen im Moment die Umsatzsteuernummern noch in Papierform in Erfahrung bringen. Bis wir ein funktionierendes EDV-System haben, werden wir das so praktizieren. Aber es wird nicht lange dauern, dass auch das digital passieren wird; das ist wichtig für uns.
Wir haben Vorbilder: Die Briten machen das schon und nehmen 1 Milliarde Steuern ein. Das ist ein Anreiz für uns, es den Briten gleichzutun. Das sollten wir auch machen.
Das Jahressteuergesetz, dessen Entwurf wir vorlegen, ist gut. Es gibt dort sehr viele Dinge, die wir reparieren und verbessern. Sie sollten zustimmen. Wir werden zusätzliche Einnahmen generieren und Steuerschlupflöcher schließen.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir werden Gerechtigkeit erzeugen. Ich möchte Sie ermutigen, zuzustimmen.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Albrecht Glaser.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Sumerer haben im 3. Jahrtausend vor Christus Gesetze in Stein gemeißelt
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– ich komme auch zum Urknall, kein Problem – und diese Steine öffentlich aufgestellt. Dies war sehr transparent und führte zu großer Rechtssicherheit. Wir sehen hier den Unterschied zwischen einer antiken Hochkultur und einer zeitgenössischen, eher niederen Zivilisation.
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Schon das Etikett „Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen“ ist irreführend; die Kollegin hatte das gerade dargelegt. Denn bei dem Artikelgesetz handelt es sich um das, was man früher „Jahressteuergesetz“ nannte. Da ist vieles drin, und das meiste davon hat mit Umsatzsteuer gar nichts zu tun. Warum nennt man das also so? Schaufenster! Neben dem Umsatzsteuerausfallvermeidungsgesetz wird zudem parallel über das Familienentlastungsgesetz beraten, das in Wahrheit „Gesetz zur Vermeidung heimlicher Steuererhöhungen durch Inflation“ genannt werden müsste. Ich bitte um Entschuldigung, Herr Michelbach, aber es ist so.
Zum Potpourri des Umsatzsteuerausfallvermeidungsgesetzes ein paar Bemerkungen. Am markantesten ist darin die Neuregelung des geldwerten Vorteils für die private Nutzung eines Dienstfahrzeugs. Bekanntlich gibt es seit vielen Jahren die sogenannte 1-Prozent-Regelung, die Sie alle kennen. Zur Klimarettung soll nunmehr die private Nutzung von E-Fahrzeugen und bestimmten Hybriden privilegiert werden durch Halbierung des Zurechnungssatzes. Hier wird wieder einmal das Steuerrecht als Mittel für menschliche Verhaltenskonditionierung missbraucht. In Wahrheit ist das Steuerrecht jedoch ein Instrument der Staatsfinanzierung. Eine solche Dressurvorschrift lehnen wir ab.
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Markant ist weiter – dazu wurde eine Anhörung durchgeführt; übrigens kam auch dieser ganze Vorgang in der Anhörung kritisch zur Sprache – die Einführung einer Haftung der Betreiber von IT-Plattformen, auf denen umsatzsteuerpflichtige Geschäfte abgeschlossen werden. Die Haftung eines Dritten, der nicht Steuerschuldner ist, ist unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten stets eine heikle Sache. Bezüglich außereuropäischer Akteure mag man sich eine Möglichkeit dieser Art vorstellen, ohne Frage. Innereuropäisch und national ist die vorgesehene Regelung als unangemessen und ungerecht abzulehnen, zumal für die Plattformbetreiber erhebliche Kontroll- und Mitteilungspflichten in Papierform zu Hunderttausenden entstehen. Trotz massiver Bedenken aus dem Kreis der Sachverständigen wird das Projekt heute völlig unverändert durchgezogen; es wird geradezu gelobt. Der sehr eingeschränkte Nutzen solcher Anhörungen wird hier erneut deutlich. Die AfD lehnt diesen Haftungszugriff auf Nichtsteuerschuldner, die damit für die Steuern anderer Leute einstehen sollen, ab.
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Die steuerliche Freistellung bestimmter Gesundheitsleistungen von Arbeitgebern an ihre Mitarbeiter ist sachgerecht, weil der allgemeinen Gesundheitsfürsorge dienlich. Ähnliches gilt auch für die Steuerfreistellung von Fahrtkostenzuschüssen von Arbeitgebern an ihre Mitarbeiter; das steht im Gesetzespaket drin. Das finden wir außerordentlich gut.
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– Wir können nicht zustimmen, wenn das Gewicht der Dinge, gegen die wir Bedenken haben, größer ist als das der Dinge, denen wir zustimmen können. Das ist das Problem eines solchen Paketes.
Nicht zu Unrecht taucht das Thema Solidaritätszuschlag als Zusatzantrag nunmehr erneut auf. Dem wird die AfD natürlich auch zustimmen, weil es ihr ureigenes Anliegen ist und mit echter Entlastung für Steuerzahler zu tun hat. Die Verzögerungstaktik der Bundesregierung als ganz spezielle Maßnahme unmittelbar vor der nächsten Bundestagswahl ist intolerabel.
Das Gleiche gilt für die Verzinsung von Steuernachzahlungsansprüchen. Die seit Jahren bestehende Regelung der Abgabenordnung, wonach im Monat 0,5 Prozent, also jährlich 6 Prozent, Zinsen geschuldet werden, war im normalen Zinsumfeld angemessen. In der EZB-Zinswelt stellt sie eine verfassungswidrige Belastung des Steuerbürgers dar. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bereits 2015 in Urteilsbegründungen in dieser Richtung geäußert. Die FDP stellt daher – in der Sache völlig zu Recht – einen Zusatzantrag, die jetzige Regelung durch eine Ankoppelung an den Basiszinssatz des § 247 BGB zu ersetzen. Als der Gerechtigkeit verpflichtete Fraktion werden wir dem zustimmen.
Allerdings muss hinzugefügt werden, dass die AfD eine nahezu gleichartige Regelung in Form eines Gesetzentwurfs unter Drucksache 19/5491 bereits vor längerer Zeit eingebracht hatte, die heute in den Finanzausschuss verwiesen wurde. Wohl in Kenntnis dieses Vorgangs hat die FDP einen früheren allgemeinen Antrag vor wenigen Stunden ebenfalls in einen Gesetzentwurf umgewandelt. Wir haben diese Fraktionsdienstleistung für die FDP gerne erbracht, zumal sie der Gerechtigkeitsfindung dient.
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Das gesamte Gesetzgebungsverfahren bleibt höchst unbefriedigend. Viele weitere Punkte der Novellierung sind öffentlich überhaupt nicht diskutierbar, weil die Zeit nicht reicht – in fünf Minuten schon gar nicht. Es bleibt daher festzustellen: Die Sumerer konnten es besser.
Herzlichen Dank.
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Als Nächstes hat das Wort der Kollege Uwe Feiler, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Onlinehandel treten wir auch als Finanzpolitiker wieder den Beweis an, dass die Struck’sche Regel, nach der kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es eingebracht wurde, auch Jahre nach ihrer Aufstellung noch Gültigkeit besitzt. Das schließt sogar Gesetzentwürfe eines SPD-geführten Finanzministeriums ausdrücklich ein.
20 Änderungen haben wir in den Beratungen innerhalb der Koalition vereinbart, und aus meiner Sicht haben wir zahlreiche Verbesserungen umgesetzt, auf die viele Akteure gewartet haben und die über den Titel des Gesetzes deutlich hinausgehen. Auch die Kolleginnen und Kollegen der Opposition haben sich größtenteils inhaltlich mit dem Gesetzentwurf auseinandergesetzt und sich in das Verfahren eingebracht.
Die beiden Anträge zum Solidaritätszuschlag und zur Verzinsung, über die wir gleich namentlich abstimmen werden, sind trotz aller Sympathie, die ich für sie inhaltlich empfinde, plumpe Versuche, einen Keil in die Koalition zwischen CDU/CSU und SPD zu treiben. Ja, Sie wissen: Wir sind uns dort noch nicht einig. Wir haben dort noch Beratungsbedarf. Sie, meine Damen und Herren von der FDP, hätten es ja auch anders haben können, wenn Sie ein bisschen mehr Mut zur Verantwortung gehabt hätten.
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Wir sind jetzt zusammen mit der SPD in Regierungsverantwortung. Wir sind koalitionstreu, und deswegen und aus Verantwortung für unser Land lehnen wir Ihre beiden Anträge ab.
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In 16 Artikeln ändern wir 15 Finanzgesetze – von der Abgabenordnung über das Einkommensteuergesetz bis hin zum Körperschaftsteuergesetz, sodass der Arbeitstitel „Jahressteuergesetz“ durchaus seine Berechtigung hat.
Bitte sehen Sie mir nach, dass ich nur einige wenige Punkte in meiner Rede aufgreifen werde. Zunächst einmal darf ich auf den Kern des Gesetzes eingehen, der ihm seinen Namen gab. Fraktionsübergreifend bestand Einvernehmen darüber, dass der Fiskus auf das Wachstum im Onlinehandel reagieren muss, um sicherzustellen, dass auch in der digitalen Welt getätigte Umsätze real versteuert werden. Dabei stehen die Betreiber von Handelsplattformen, die mit diesem Geschäftsmodell ihre Umsätze generieren, in der Pflicht, dabei mitzuwirken, dass sich insbesondere im Ausland ansässige Händler nicht dem Zugriff der Finanzbehörden entziehen können. Das sind wir aus Gründen der Steuergerechtigkeit vor allem auch unseren inländischen Unternehmern und dem Einzelhandel schuldig, die der Umsatzsteuer nicht ausweichen können.
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Wir setzen diesen Anspruch mit der Pflicht um, dass nur bei den Finanzbehörden registrierte Händler auf Plattformen handeln dürfen und dass der Plattformbetreiber haftet, wenn er sich diese Registrierung nicht vorlegen lässt bzw. Hinweisen der Finanzverwaltung nicht folgt oder wenn ihm Erkenntnisse vorliegen, die eine offenbare umsatzsteuerliche Pflichtverletzung eines Händlers beinhalten.
Wichtig ist mir dabei insbesondere, dass der Plattformbetreiber hier nicht mit investigativen Methoden aktive Nachforschungen zu seinen Geschäftspartnern anstellen muss, aber sehr wohl Beschwerden von Kunden, zum Beispiel über fehlerhafte Rechnungen oder Ähnliches, nachgehen und entsprechend handeln muss.
Als wenig dienlich erachte ich in diesem Zusammenhang den Vorschlag der Kollegen der FDP, die ausschließlich Unternehmen in Drittstaaten von der Regelung umfasst sehen wollen. Ich stimme Ihnen zwar zu, dass wir den Aufwand für die Unternehmen und die Finanzbehörden senken könnten. Allerdings würden wir uns vieler neuer Briefkastenfirmen in Deutschland erfreuen, die über diesen Weg der Registrierung entkommen wollen, gleichwohl aber ihre Geschäfte über das Ausland abwickeln würden. Zumindest Großbritannien musste diese Erfahrung machen.
Gewünscht hätten wir uns natürlich auch, dass direkt mit Inkrafttreten des Gesetzes ein vollständiges elektronisches Registrierungssystem zur Verfügung stehen würde. Das war jedoch unrealistisch, sodass wir für eine Übergangszeit auf eine Papierbescheinigung zurückgreifen müssen. Das Finanzministerium hat uns in diesem Zusammenhang aber zugesichert, kurzfristig an der Umsetzung einer elektronischen Registrierung zu arbeiten.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz haben wir auch gute Nachrichten für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sogenannte Jobtickets, die Arbeitgeber ihren Angestellten zusätzlich zum Gehalt kostenfrei zur Verfügung stellen, müssen künftig nicht mehr mit dem geldwerten Vorteil versteuert werden, sondern bleiben sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber steuerfrei. Lediglich die Entfernungspauschale wird gekürzt, da steuersystematisch für eine kostenlose und steuerfreie Überlassung eines Tickets schwerlich Aufwendungen entstehen können, die jedoch Voraussetzung dafür sind, diese über die Entfernungspauschale geltend machen zu können. Dennoch werden wir damit einen wichtigen Beitrag zur Steigerung der Attraktivität und der Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs leisten und bürokratische Hemmnisse abbauen.
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Auch der ehrenamtlich getragene Vereinssport profitiert von diesem Gesetz.
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Die Sportdachverbände haben künftig Planungssicherheit, wenn sie ihre Mitgliedsvereine organisatorisch beim Spielbetrieb unterstützen, indem wir weiter von einen Zweckbetrieb ausgehen, wenn jeweils in einer Liga mehrheitlich Amateurspieler zum Einsatz kommen und deren Anzahl gegenüber der an Lizenzspielern überwiegt.
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Meine Damen und Herren, zum Ende meiner Rede möchte ich jedoch die Zeit nutzen, mich bei allen Beteiligten für die guten Beratungen und Hinweise zu bedanken. Mein Dank gilt besonders den Vertreterinnen und Vertretern des Bundesfinanzministeriums, die uns sehr mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Mein Dank gilt natürlich auch meinem Kollegen Fritz Güntzler, der mir heute seine Redezeit geschenkt hat. Vielen Dank, lieber Fritz!
Die Zahl der Änderungsanträge und die intensiven Gespräche im Ausschuss, in Berichterstattergesprächen und in den Anhörungen haben gezeigt, dass Steuerpolitik immer für Diskussionen Anlass bieten kann. Sowohl die Länder als auch das Bundesfinanzministerium haben uns bereits signalisiert, dass wir uns in naher Zukunft mit weiteren Projekten ähnlicher Zielrichtung auseinandersetzen können.
Ich bitte um Zustimmung Ihrerseits zu einem wirklich guten Gesetz und schenke uns die restlichen 30 Sekunden meiner Redezeit.
Vielen Dank.
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Ich bedanke mich auch und rufe auf die Kollegin Katja Hessel von der FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Jahressteuergesetz mit neuem Namen zeigt, dass diese Bundesregierung kein stringentes steuerpolitisches Konzept hat. Sie hat keinen Kompass, sondern sie wuselt sich einfach durch:
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eine kleine Änderung hier, eine kleine Reparatur da, wobei die meisten Reparaturen auch noch nachträglich auf Anregung des Bundesrates erfolgt sind. Eine Entlastung der hart arbeitenden Menschen und Unternehmen durch Bürokratieabbau oder gar Steuersenkung – Fehlanzeige.
Im Gegenteil: In vielen Fällen wird noch mehr Bürokratie aufgebaut. So wird bei der Einführung der sogenannten Plattformhaftung für die Umsatzsteuer – Kollege Feiler hat es ja gerade ausgeführt – auch eine Papierbescheinigung für inländische Unternehmen gefordert. Hierauf hätte man aber so lange verzichten können, solange es kein elektronisches Verfahren gibt, da diese Unternehmen bei uns ja steuerlich erfasst sind. Somit gibt es eine bürokratische Hürde mehr für unsere Unternehmen.
Unterlassen werden hingegen notwendige Änderungen, zu denen wir eigentlich verpflichtet sind. Wir warten mal lieber wieder darauf, dass uns das Bundesverfassungsgericht zu den Anpassungen verpflichtet. Im Steuerrecht ist dies ja leider zwischenzeitlich der Normalfall.
Am 25. April 2018 hat der BFH in einem Beschluss die Verfassungsmäßigkeit der sogenannten Nachzahlungszinsen nach §§ 233a und 238 Abgabenordnung angezweifelt. Aus der hierzu ergangenen Pressemitteilung vom 14. Mai 2018 darf ich wie folgt zitieren:
Der Gesetzgeber sei im Übrigen von Verfassungs wegen gehalten zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung zu der in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelten gesetzlichen Höhe von Nachzahlungszinsen auch bei dauerhafter Verfestigung des Niedrigzinsniveaus aufrechtzuerhalten sei oder die Zinshöhe herabgesetzt werden müsse. Dies habe er selbst auch erkannt, aber gleichwohl bis heute nichts getan ...
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Eben! Eine solche Maßnahme fehlt aber im Jahressteuergesetz. Dort hätte sie hingehört. Wir haben dazu einen Änderungsantrag gestellt, damit wir als Gesetzgeber einmal agieren können und nicht auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts reagieren müssen.
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Aber auch andere für die Steuerpflichtigen notwendige Anpassungen sucht man vergeblich. So sind Pauschbeträge bei der Einkommensteuer für die Steuerpflichtigen schon lange nicht mehr erhöht worden, teilweise sogar noch nie. Gerade in Zeiten, in denen wir über Kosten von Mobilität und Wohnraumknappheit diskutieren, in denen immer mehr Menschen dazu gezwungen werden, ihre Wohnung außerhalb von Ballungsräumen zu suchen, wäre eine Anpassung der Pendlerpauschale dringend erforderlich. Die Pendlerpauschale liegt bei 30 Cent pro Entfernungskilometer auf dem Niveau von 1991. Wir, die Fraktion der Freien Demokraten, haben hierzu einen Entschließungsantrag gestellt, damit die Bundesregierung hier tätig werden kann. Dafür wird aber die sogenannte 1-Prozent-Regelung für Elektroautos halbiert. So richtig das Ziel der Förderung von alternativen Antriebsarten ist, so falsch ist dieser Weg. Hier wäre es viel besser, die hierfür veranschlagten knapp 2 Milliarden Euro in den Ausbau der notwendigen Infrastruktur zu investieren, als eine Mobilitätsideologie zu befördern.
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Über den Solidaritätszuschlag haben wir in diesem Hause in dieser Legislaturperiode schon mehrfach diskutiert, aber noch nie abgestimmt. Heute haben wir die Gelegenheit, dies nachzuholen. Wir haben nämlich unseren Antrag, den Solidaritätszuschlag mit Auslaufen des Solidarpaktes abzuschaffen, zur Abstimmung gestellt. Dies ist für uns eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit und nicht ein Mittel, die Kollegen der Union zu ärgern.
Wir haben durchaus Mut zu vielen Sachen; es ist sicherlich nicht daran gescheitert. Nach Abwägung der Vielzahl von Regelungen, die im Jahressteuergesetz getroffen, nicht getroffen bzw. schlecht getroffen worden sind, entscheidet sich die Fraktion der Freien Demokraten, dem Gesetz nicht zuzustimmen.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Jörg Cezanne.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass das ein Artikelgesetz ist, das verschiedene steuerliche Einzelfragen regelt, haben Sie jetzt schon verstanden. Ich will zu dreien Stellung nehmen.
Erstens. Das Anliegen der Bundesregierung, den Umsatzsteuerbetrug im Onlinehandel einzuschränken, teilen wir voll und ganz. Es ist richtig, dass elektronische Plattformen wie eBay oder Amazon hier stärker in die Pflicht genommen werden. Es ist richtig, dass sie überprüfen sollen, ob die Händler auf ihren Plattformen registriert sind. Es ist richtig, dass sie im schlimmsten Falle auch in Haftung genommen werden können, wenn die Umsatzsteuer hinterzogen wurde.
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Im Gesetzentwurf bleibt allerdings manches unklar. Wir haben zum Beispiel darauf hingewiesen, dass nicht geregelt ist, anhand welcher Kriterien unterschieden werden soll, wann ein Umsatz einer Privatperson privat oder im unternehmerischen Rahmen erzielt worden ist. Diese Unschärfen müssen in der ausstehenden Rechtsverordnung präzise geregelt werden. Und es bedarf mehr und besser qualifizierten Personals in der Steuerverwaltung, damit das alles im Onlinehandel überhaupt vernünftig umgesetzt und kontrolliert werden kann; sonst bleibt alles pure Rhetorik.
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Zum Zweiten. Bei der Dienstwagenbesteuerung haben wir grundlegende Probleme. Deshalb sind wir auch mit der Berücksichtigung der E-Mobilität nicht vollständig zufrieden. Wir brauchen eine Verkehrswende und nicht nur eine Wende in der Antriebstechnik. Deswegen bedarf es einer grundlegenden Reform der Besteuerung von Dienstwagen. Kernpunkt muss dabei sein, dass sich diese Besteuerung am CO 2 -Ausstoß orientiert und man nicht immer größere Autos immer besser finanziert; das geht daneben.
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Steuerbefreiungen für die Nutzung von Fahrrädern oder E-Bikes sind vernünftig. Insbesondere dass das Jobticket herausgenommen wird, ist völlig richtig. Das ändert aber nichts an unserer grundsätzlichen Kritik.
Dritter Punkt. An einer Stelle hat die Große Koalition jetzt aber doch noch ein Steuergeschenk für Unternehmen in den Gesetzentwurf geschmuggelt. Bislang sollte nur ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus Karlsruhe umgesetzt werden, das den sogenannten quotalen Verlustuntergang bis Ende 2015, aber eben nur bis dahin, für verfassungswidrig erklärt hatte und dessen Anwendung zu diesem Zeitpunkt aufhob.
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Es ist eine immer noch verbreitete Steuerpraxis von Unternehmen, Anteile an angeschlagenen anderen Unternehmen allein zu dem Zweck zu erwerben, die eigenen Gewinne mit den Verlusten an anderer Stelle zu verrechnen und so Steuern zu sparen. Dieser quotale Verlustuntergang – Sie müssen sich das nicht merken –
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hat diesen Handel mit Verlustvorträgen eingeschränkt, um dieses Steuerschlupfloch wenigstens zu verkleinern. In der jetzt vorliegenden Fassung des Entwurfs wird der quotale Verlustuntergang – ein schönes Wort, ich finde es immer nur gut –
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nicht nur bis Ende 2015, wie vom Bundesverfassungsgericht geurteilt, sondern eben dauerhaft aufgehoben. Das zwischenzeitlich gestopfte Steuerschlupfloch ist jetzt wieder offen. Das vermiest uns ein wenig die Laune und bringt uns auch dazu, dass wir dem Gesetz nicht zustimmen werden.
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Aber wir enthalten uns, wenn Ihnen das Freude bereitet, weil das mit der Umsatzsteuer eine vernünftige Regelung ist.
Vielen Dank.
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Die Kollegin Lisa Paus hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, tatsächlich hat das diesjährige Jahressteuergesetz viel Licht, aber leider auch sehr viel Schatten. Ich möchte das nur an einem Thema exemplarisch deutlich machen, nämlich an der Neuregelung für die Dienstwagenbesteuerung.
Zum einen gelingt mit dem Gesetz ein echter Durchbruch für Dienstfahrräder, E-Bikes und auch Pedelecs. Es ist jetzt sechs Jahre her, dass wir Grüne mühsam die Akzeptanz dafür hergestellt haben: Ja, Fahrräder können auch Dienstfahrzeuge sein. Heute nun folgt endlich der nächste große Schritt: Der geldwerte Vorteil, der bei der privaten Nutzung von Dienstfahrzeugen entsteht und der normalerweise zu versteuern ist, wird mit diesem Gesetz für Dienstfahrräder steuerfrei gestellt.
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Das heißt, emissionsfreie Dienstfahrräder werden gegenüber Dienstautos sogar bessergestellt. Übrigens gilt die Entgeltumwandlungsmöglichkeit für Sozialversicherungsbeiträge zukünftig auch für Dienstfahrräder. Das sind richtige ökologische Anreize in der Verkehrspolitik. Das begrüßen wir vom Bündnis 90/Die Grünen ganz ausdrücklich, meine Damen und Herren.
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Wir begrüßen auch die ebenfalls neu vorgesehene Steuerfreiheit von Jobtickets. Da diese aber weiterhin mit der Pendlerpauschale verrechnet werden müssen, wird der Effekt vermutlich gering sein. Außerdem lassen Sie die BahnCard weiter außen vor. Wir hätten uns da noch mehr vorstellen können.
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Insgesamt erfolgt aber ein deutlicher Schritt in Richtung Ökologisierung, weil das steuerliche Privileg des Dienstautos gegenüber anderen Verkehrsmitteln zurückgedreht wird. Es gibt also sehr viel Licht in diesem Bereich.
Sehr viel dunkler Schatten aber liegt auf der Neuregelung zum Dienstauto selbst. Sie wissen, wir Grünen setzen uns seit vielen Jahren dafür ein, dass die milliardenschwere steuerliche Subvention von spritschluckenden SUVs und anderen Großlimousinen durch Pauschalbesteuerung endlich beseitigt wird. Das heißt, wir wollen die derzeit sehr niedrige pauschale Besteuerung der Privatnutzung von Dienstwagen in Höhe von 1 Prozent des Listenpreises ökologisieren. Nutzer von Fahrzeugen mit einem hohen CO 2 -Ausstoß wollen wir höher besteuern als die, deren Autos die europäischen Grenzwerte einhalten, um die ökologischen Dreckschleudern endlich zu sanktionieren. Emissionsfreie reine E-Fahrzeuge wollen wir mit 0,5 Prozent besteuern.
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Sie von der Koalition führen jetzt zwar die 0,5-Prozent-Regel für Elektroautos ein, was wir begrüßen; aber Sie reißen mit dem Hintern ein kratergroßes Loch in diese positive Wirkung, weil Sie die neue Regelung für Hybridfahrzeuge öffnen. Das kommt erst mal ganz unscheinbar daher, aber ich sage Ihnen: Das hat das Potenzial, uns nach dem Dieselskandal in den nächsten zwei, drei Jahren den nächsten Skandal zu bescheren, nämlich den Hybridskandal.
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Warum? Das möchte ich Ihnen jetzt am Beispiel des Porsche Cayenne verdeutlichen.
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Ein Porsche Cayenne Benziner hat derzeit, je nach Bauart, einen Ausstoß von 200 bis 270 Gramm CO 2 pro Kilometer. Das ist das Doppelte und mehr des derzeit von der EU vorgesehenen Grenzwerts.
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Seit kurzem gibt es diesen Porsche Cayenne auch als Hybrid, und dieser Hybrid erfüllt die von Ihnen jetzt angeblich so stark verschärften Umweltkriterien.
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Dieses superschwere Auto wird jetzt durch die Batterien noch schwerer und kann dann mit der sehr kleinen Reichweite des eingebauten Elektrohilfsmotors von ganzen 44 Kilometer – immerhin! – elektrisch die nächste Tankstelle erreichen, wenn der Sprittank denn leer ist. Aber dieser Cayenne Hybrid hat nun einen Fahrzeugschein, der ihn plötzlich als Umweltengel ausweist. Aufgrund lobbybeeinflusster Annahmen für das Fahrverhalten
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stößt dieses tonnenschwere Auto angeblich nur noch 72 statt 270 Gramm aus.
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Das ist Greenwashing der allerübelsten Sorte.
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Sie setzen mit diesem Gesetz dem Ganzen auch noch die Krone auf, indem Sie die private Nutzung dieses Porsche Cayenne ab Januar nur noch halb so hoch wie bisher besteuern.
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Das ist Vollgas in die Sackgasse. So führt man Deutschland industriepolitisch weiter in den Irrsinn. Deswegen werden wir da nicht mitmachen.
Solche Licht-und-Schatten-Geschichten gibt es einige in diesem Entwurf. Deswegen werden wir uns bei der Abstimmung über das Gesetz enthalten, meine Damen und Herren.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Michael Schrodi.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit den Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag verbindet mich nicht nur die Leidenschaft für die Politik; mit einigen verbindet mich auch die Leidenschaft fürs Fußballspiel.
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Dieter Janecek winkt schon. Fabio De Masi ist mit dabei, Fritz Güntzler. Ich sehe auch Frank Schäffler hier aus der FDP-Fraktion. Von den Sozialdemokraten sind auch viele dabei, da hinten. Also, es verbindet, für den FC Bundestag Fußball zu spielen. Ich spiele schon länger Fußball, in der Jugend schon, in kleinen Vereinen, beispielsweise in meinem Heimatverein SC Olching, auch im Seniorenbereich.
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Im vorliegenden Gesetzentwurf geht es neben der Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen auch um solche Vereine – ob beim Fußball, beim Handball, beim Eishockey, beim Ringen –, in denen viele ehrenamtlich Tätige ermöglichen, dass Menschen ihrem Sport nachgehen. Der Bundesfinanzhof hat im Jahr 2015 ein Urteil gesprochen, das Probleme bereitet hat. Darin steht, dass es keine steuerliche Begünstigung für Sportdachverbände gibt, wenn sie Ligabetrieb organisieren; ich vereinfache das jetzt mal ein bisschen. Es dauerte einige Zeit, bis klar wurde: Mensch, das betrifft alle Sportarten mit Ligabetrieb. Wenn ein Dachverband wie der Bayerische Fußball-Verband Fußballligen organisiert, Schiedsrichter einteilt, Tabellen führt, dann betrifft ihn das, und die Folgen wären dramatisch gewesen. Vereine hätten, so die Befürchtung, für jedes Spiel trennscharf nachweisen, dokumentieren müssen, welche Spieler teilnehmen, ob sie bezahlt werden oder nicht. Dachverbände hätten die Organisationsleistungen den Vereinen voll in Rechnung stellen müssen. Das heißt, es hätte einen großen bürokratischen und finanziellen Aufwand für die Vereine und für die zahlreichen Ehrenamtlichen, die hier tätig sind, gegeben.
Nun kommt ein Beispiel für das, was „praktizierte Politik“ heißt: Wir haben ein Problem erkannt, und wir haben es gelöst. Wir haben im intensiven Austausch mit den Betroffenen und mit dem Finanzministerium eine Lösung gesucht, die sachgerecht und praktikabel für Vereine ist und übrigens auch die Frage der Steuergerechtigkeit berücksichtigt, nämlich dass nur der Amateursport steuerlich gefördert wird und nicht der Profisport. Es ist uns gelungen, indem wir nun festhalten: Gemeinnützig ist die Organisationsleistung von Dachsportverbänden nur dann, wenn in der Liga überwiegend, das heißt zu mehr als 50 Prozent, Spieler teilnehmen, die keine Lizenzspieler sind. Es ist nur eine kleine Änderung. Dies hat aber eine große und positive Auswirkung für Tausende Vereine und für die Ehrenamtlichen, die hier tätig sind. Auch das ist ein kleiner Grund, dem Gesetz zuzustimmen.
Danke schön.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute können wir in der abschließenden Lesung das Jahressteuergesetz 2018 verabschieden. Dieses Gesetz ist ein gutes Beispiel für die gute Zusammenarbeit mit der Opposition, aber auch für die gute Zusammenarbeit in unserer Koalition.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die eigentliche Arbeit für ein solches Steuergesetz findet im Vorfeld und nicht hier im Plenum statt. Es wurden viele Fachrunden veranstaltet und Fachgespräche geführt. Die AfD hat sich an diesen Fachgesprächen und Fachrunden nicht beteiligt, und das hat man heute auch gemerkt; da fehlt das Hintergrundwissen. Das merkte man auch an der Rede von Ihnen heute, Herr Kollege Glaser.
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Ich habe schon in meiner letzten Haushaltsrede gesagt – das gilt auch für heute –: Raus aus dem Schaufenster und ran an den Schreibtisch! Vielleicht ist das beim nächsten Mal auch für Sie die Devise, und Sie beteiligen sich auch an den Fachrunden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Jahressteuergesetz kann in drei große Bereiche geteilt werden:
Im ersten Bereich wurden viele Fragen geklärt, die sich aufgrund rechtlicher Veränderungen oder aufgrund der Rechtsprechung des BFH ergeben, zum Beispiel die Anpassung an das Zweite Pflegestärkungsgesetz, also zum Beispiel die Umstellung von Pflegestufen auf Pflegegrade – das muss man auch im Steuergesetz abbilden –, oder an das Betriebsrentenstärkungsgesetz. Dieser Bereich wird immer in einem Steuergesetz sein. Insofern werden wir das in den nächsten Jahren fortsetzen.
Der zweite Bereich schließt in diesem Jahr wesentliche Lücken, zum Beispiel im Investmentsteuergesetz durch die Einschränkung der Cum/Cum-Geschäfte und andere notwendige Regelungen. Dazu gehört natürlich auch der Bereich, der dem Gesetz den Namen gibt, nämlich die Vermeidung von Umsatzsteuerbetrug beim Handel mit Waren im Internet. Hier ist die Neuregelung die, dass ein Onlineplattformbetreiber für die Umsatzsteuer haftet, wenn keine Bescheinigung vorgelegt wird. Das betrifft insbesondere die ausländischen Firmen, insbesondere die aus dem Fernen Osten. Deswegen ist eigentlich die Frage, warum Sie das ablehnen. Ich halte die Regelung für gut. Sie wurde mit allen abgestimmt, ist richtig und dafür da, dass wir unser Steuersubstrat in Deutschland bekommen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der dritte Bereich – auf den sind wir mächtig stolz – ist ein Zeichen für eine nachhaltige Verkehrs- und Umweltpolitik. Deswegen ist es umso verwunderlicher, dass die Grünen das Jahressteuergesetz ablehnen;
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denn sie lehnen damit auch den Einstieg in den Umstieg ab.
Schauen wir uns diesen Gesetzentwurf einmal genauer an. Wir führen die Steuerfreiheit für das Jobticket ein. Das Jobticket ist die Fahrkarte für den Arbeitnehmer für den öffentlichen Nahverkehr. Das ist zukünftig wieder steuerfrei und sozialversicherungsfrei. Das macht das Jobticket für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer attraktiv. Wir hatten das von 1994 bis 2004 schon einmal. Das wurde damals von der rot-grünen Regierung leider abgeschafft.
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Es ist jetzt ein richtiges Signal, dass wir das Jobticket wieder freistellen. Damit erreichen wir, dass keine Staus mehr verursacht werden und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer umsteigen. Jeder, der dieses Gesetz ablehnt, lehnt auch die Unterstützung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Bereich ab. Das sollte man beim Jahressteuergesetz 2018 wissen.
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Des Weiteren fördern wir den Umstieg auf moderne Technologien, indem wir die Besteuerung der privaten Nutzung von Firmenautos für diejenigen, die das Auto noch nutzen müssen, von 1 Prozent auf 0,5 Prozent reduzieren. Das gilt für Elektrofahrzeuge und Hybridfahrzeuge. Wir haben uns an das Elektromobilitätsgesetz angelehnt. Darin sind ganz klare Vorgaben, welche Fahrzeuge bevorzugt sind und welche nicht. Damit schaffen wir es, dass Elektro- und Hybridfahrzeuge nur noch halb so teuer sind und der Nutzen doppelt so hoch ist. Ich glaube, das ist ein richtiger und ein notwendiger Schritt in diesem Jahressteuergesetz 2018.
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Ein Weiteres – ich glaube, es ärgert Sie ein bisschen, dass das jetzt die Koalition gemacht hat –: Ich habe schon in meiner letzten Rede zum Jahressteuergesetz gesagt: Wenn wir einen Umstieg auf das Fahrrad, auf E‑Mobilität, auf das E-Bike wollen, dann wollen wir das fördern, indem wir keine Besteuerung der privaten Nutzung vornehmen. Wir haben das gefordert, und wir haben es umgesetzt. Deswegen ist es richtig, dass das in diesem Gesetzentwurf steht.
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Ich glaube, es ist insgesamt ein sehr gutes Jahressteuergesetz 2018. In Kombination mit dem Baukindergeld und dem Familienentlastungsgesetz, das wir vorher beschlossen haben, schaffen wir eine wesentliche Entlastung für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen und für junge Familien in unserem Land. Das ist ein gutes Signal, und deswegen bitte ich auch um Zustimmung.
Auch für den Mittelstand haben wir gute Lösungen gefunden, indem wir den quotalen Verlustuntergang, wie Sie so schön gesagt haben, erhalten haben. Das ist systematisch richtig, und es ist auch vom Gericht so vorgegeben worden. Sanierungsgewinne sind übrigens auch wieder steuerfrei, was im Insolvenzrecht eine wesentliche Rolle spielt. Wir schaffen damit systematisch eine Klarstellung, und wir schaffen damit auch viel Rechtssicherheit in offenen Fällen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben aber noch viel vor. Es liegen weitere wichtige Aufgaben in der Steuergesetzgebung vor uns. Zum einen brauchen wir für die privaten Einkommensteuerbezieher weitere Entlastung. Das heißt, wir müssen auch die nächsten Jahre darauf achten, dass für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer netto mehr bleibt.
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Deswegen brauchen wir für eine deutliche Entlastung eine sukzessive Anhebung des Grundfreibetrags. Zum anderen brauchen wir natürlich auch eine Modernisierung des Unternehmensteuerrechts und der Unternehmensbesteuerung.
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Ich freue mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir hier in den nächsten Wochen und Monaten weiter diskutieren, um deutliche Entlastungen für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland zu schaffen. Lassen Sie uns heute zustimmen! Es ist ein gutes Jahressteuergesetz 2018.
Herzlichen Dank.
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Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Rahile Dawut, 52, international bekannte Professorin, inhaftiert, weil sie zur Kultur der Uiguren forscht. Perhat Tursun, 49, prominenter Schriftsteller, inhaftiert, weil er sich in seinem Werk mit uigurischen Traditionen beschäftigt. Ilham Turdi, Architekt, inhaftiert, weil er mit einer US-Bürgerin verheiratet ist. Erfan Hezim, 19, erfolgreicher Fußballer, inhaftiert, weil er mit seinem Fußballverein im Ausland war. Muyesser Muhemmet, 37, Mutter von drei Kindern, inhaftiert, weil sie die kasachische Staatsbürgerschaft beantragen wollte.
Kolleginnen, Kollegen, das sind nur einige Namen von schätzungsweise 1 Million Menschen, die in Xinjiang, im Nordwesten Chinas, willkürlich, ohne Haftbefehl, ohne Gerichtsverfahren, ohne Kontakt zu Rechtsanwalt oder Familie in einem Internierungslager eingesperrt sind. Ihre Heimat Xinjiang oder Ostturkestan hat sich für die Uiguren und zunehmend auch für die Kasachen in einen Lagerstaat verwandelt, eine „no-rights zone“, ein Gebiet der Rechtlosigkeit, wie die UN im August dieses Jahres in ihrem Bericht festgestellt hat. Die Berichte von Human Rights Watch, den Vereinten Nationen und unabhängigen Forschungsstellen haben die Weltöffentlichkeit aufgeschreckt. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, nennt die Lage in Xinjiang „zutiefst erschütternd“. Das Europaparlament prangert „immer drakonischere Unterdrückungsmaßnahmen“ an.
Kolleginnen und Kollegen, ich fordere Sie dazu auf, diese schweren Menschenrechtsverletzungen klar und deutlich zu benennen und zu verurteilen.
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Und ich fordere die Bundesregierung dazu auf, alle nationalen und internationalen Instrumente zu nutzen, um dazu beizutragen, dass die Lager geschlossen werden, die Verbrechen aufzuklären und zu ahnden.
({1})
Auch außerhalb der Lager in Xinjiang herrscht die totale Kontrolle über die Menschen. Die Sicherheitsbehörden wurden massiv aufgerüstet, mit modernster Technologie wird jeder Schritt erfasst und überwacht. Kinder werden von ihren Eltern getrennt und in Heimen der Gehirnwäsche unterzogen. Beten ist verboten, Moscheen werden niedergerissen. Das Ziel all dieser Maßnahmen: Die Kultur und Identität der muslimischen Minderheiten in Xinjiang soll systematisch ausgelöscht werden.
Kolleginnen und Kollegen, vorgestern musste China vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf Rede und Antwort stehen. Was dort vom Vertreter der chinesischen Regierung zur Situation in Xinjiang geäußert wurde, ist an Zynismus und Menschenverachtung nicht zu überbieten.
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Die Bundesregierung hat in Genf deutliche Kritik geäußert. Das begrüßen wir ausdrücklich, aber dabei darf es nicht bleiben.
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Deshalb fordern wir: Setzen Sie sich gegenüber Peking dafür ein, erstens, dass die Lager geschlossen werden, zweitens, dass unabhängige Beobachter und Journalisten sich vor Ort ungehindert ein Bild von der Lage machen können. Nutzen Sie drittens alle internationalen Möglichkeiten und Instrumente zur Aufklärung und Ahndung der Menschenrechtsverbrechen. Prüfen Sie viertens Sanktionen gegen Unternehmen, die an Unterdrückungsmaßnahmen in Xinjiang beteiligt sind. Und sorgen Sie fünftens dafür, dass uigurische Geflüchtete hier Schutz und Asyl erhalten, ohne Wenn und Aber.
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In den letzten Wochen konnten wir feststellen: Der Druck von außen lässt die chinesische Regierung nicht völlig kalt. Das einzige Mittel, das Wirkung zeigt, ist nicht die Ermahnung im stillen Kämmerlein, sondern die deutliche und öffentliche und mit anderen Ländern koordinierte Kritik.
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Kollegin Bause, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, mein letzter Satz. – Peking mag Menschenrechte der wirtschaftlichen Entwicklung unterordnen. Für Deutschland und für Europa muss gelten: Menschenrechte sind nicht verhandelbar.
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Das Wort hat der Abgeordnete Michael Brand für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tragt Chinas Stimme überall hin. Man muss dem Westen die globale Diskursmacht streitig machen.
So zitiert Kai Strittmatter, einer der besten China-Kenner Deutschlands, der aus Peking berichtet, den Chef der Kommunistischen Partei Xi Jinping. Das tut er in dem gerade neu erschienenen Werk „Die Neuerfindung der Diktatur – Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, genau darum geht es: Die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang haben etwas mit uns hier zu tun, und sie fordern uns hier.
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Sie fordern uns deswegen hier, weil wir kapieren müssen, dass es China nicht allein um wirtschaftliche Dominanz geht, sondern um eine Herausforderung des freiheitlichen westlichen Systems. Mit neuen Abhängigkeiten versucht China, Länder gefügig zu machen, um auch auf internationaler Ebene und bei internationalen Organisationen kritische Stimmen verstummen zu lassen. Die EU braucht auch eine Strategie beim Thema „Neue Seidenstraße“, vor allem wegen ihrer langfristigen wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen auf Europa. China macht mit neuen und verfeinerten Methoden im eigenen Land Repression im Jahr 2018 zu einer Negativ-Perfektion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist unerschrockenen Menschenrechtsaktivisten zu verdanken oder NGOs, wie zum Beispiel der Gesellschaft für bedrohte Völker, der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte oder Human Rights Watch, dass die Welt überhaupt von der Existenz der Internierungslager in der Provinz Xinjiang in China erfahren hat. Mehr als 1 Million Uiguren – Frau Bause hat es angesprochen – werden dort interniert. Die Zahl wird noch einmal bedrückender, wenn man sie herunterbricht. In dieser Provinz Chinas leben 10 Millionen Uiguren. Über 1 Million – vielleicht sind es 1,3 Millionen – sind interniert, das heißt, ungefähr 10 Prozent der Uiguren. Auf Deutschland übertragen wären das 8,2 Millionen Menschen, die interniert wären. Das entspricht der Größe von Niedersachsen – damit man eine Dimension von dem hat, was dort passiert.
Menschen werden dort ohne richterlichen Beschluss hinter Mauern und Stacheldraht festgehalten, in Lagerkleidung und von Bewaffneten beaufsichtigt. Wir haben gestern, Frau Kollegin Bause, gemeinsam mit Aktivisten, mit Uiguren gesprochen, die uns berichtet haben von Willkür, Isolation, Trennung von Familien. Künstliche Intelligenz wird eingesetzt. Diese Lager – das kann man auch sagen – sind zu Versuchslabors der chinesischen Hightechindustrie geworden. In den Lagern gibt es Überwachung 24 Stunden lang, bei Träumen wird geweckt und diejenigen werden zur Rede gestellt, um festzustellen, ob die Gehirnwäsche denn wirklich funktioniert hat. Häuser außerhalb werden mit QR-Codes ausgestattet, damit Sicherheitskräfte die Informationen, die gesammelt wurden, sofort auf einen Blick bekommen. Das ist die Perfektion des brutalen Überwachungs- und Kontrollstaates.
Wenn man sich anschaut, dass die chinesische Führung erst vor kurzem die Existenz nicht mehr leugnen konnte, ist die heutige Antwort der Offiziellen umso perfider und zynisch. Man gesteht ein, es gibt solche Orte, aber die, die dort interniert sind, sind „Nutznießer“ eines angeblich „kostenlosen Berufsbildungsprogramms“. Dank des „Fortbildungsprogramms“ seien die „Auszubildenden nun in der Lage, ihre Fehler zu erkennen“. Wer anderes behauptet, betreibt angeblich Propaganda; es seien nur Missverständnisse, oder man würde eine antichinesische Agenda verfolgen. Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung gibt es brutale Repression und Menschenrechtsverletzungen. Im Übrigen: Schon der Kontakt zu Freunden und Verwandten im Ausland oder regelmäßiges Beten reichen aus, um interniert zu werden.
Der lokale Regierungschef ist so weit gegangen, die Lager als Maßnahme „zum Schutz der Menschenrechte“ zu bezeichnen. Ja, es ist so: Das Schweigen des Westens ist angesichts ernstzunehmender Berichte über Umerziehungs- und Zwangsarbeitslager sowie über Organhandel und den Tod auf Bestellung ziemlich laut. Das Schweigen ist ziemlich laut! Wahr ist auch: Deutschland gehört zu den wenigen Ländern in der Europäischen Union, die offen Kritik äußern. Aber ich will schon sagen: Das wird nicht reichen.
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Das wird im Übrigen auch nicht vor dem UN-Menschenrechtsrat reichen. Ich begrüße, was die Bundesregierung dort vor zwei Tagen vorgetragen hat; man hat ja für dieses Statement nur eine Minute Zeit. Aber, ich glaube, wir müssen neue Zeiten im Umgang mit China einläuten, nämlich deswegen, weil ein Menschenrechtsdialog, den wir ja nur mit China führen, seit über einem Jahr überhaupt nicht stattfindet. Dass er jetzt im Dezember stattfinden soll, finde ich prima. Aber ein Menschenrechtsdialog darf nun wirklich nicht zu einem Feigenblatt werden; denn bislang wird in den letzten Jahren Kritik zwar geäußert, aber es gibt keine Konsequenzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Dialog ohne echte Konsequenzen ist wirkungslos.
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Wenn die stille Diplomatie im Falle Chinas angeblich so zielführend ist, dann muss man schon die Frage stellen, warum eigentlich die Menschenrechtslage in China immer dramatischer wird. Deswegen will ich abschließend sagen: Wir und auch ich beurteilen diesen Antrag der Grünen, der mit vielen Fakten und viel Empathie verfasst worden ist, als einen guten Antrag. Ich will ausdrücklich anbieten – wir als CDU/CSU haben im Menschenrechtsausschuss unser Schwerpunktthema für das nächste Halbjahr festgelegt: „Religionsfreiheit: Die Menschenrechtslage religiöser Minderheiten in China“; der Religionsbeauftragte der Bundesregierung ist bei der Debatte heute auch dabei –, vielleicht einen fraktionsübergreifenden Antrag zu formulieren.
Herr Kollege.
Ich glaube, wir müssen neben der dramatischen Lage der Uiguren auch die Lage der Tibeter, der Kasachen, der Mongolen, weiterer Turkvölker und die religiösen Minderheiten, also die Buddhisten, die Muslime, die Christen, einbeziehen.
Ich will schließen mit dem Zitat einer Wissenschaftlerin, die mir heute zu dieser Debatte gemailt hat. Sie ist deutsche Staatsbürgerin, keine Uigurin, die sich mit China beschäftigt und aus Angst ihren Namen nicht veröffentlicht wissen will.
Das können Sie gerne tun, Sie sprechen aber inzwischen auf Kosten der Redezeit Ihrer Kollegen.
Sie schrieb – das ist mein letzter Satz –: „Wer sein Gesicht nicht verlieren möchte, soll auch keinen Anlass zu Gesichtsverlust geben.“
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Jürgen Braun für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Ihr Antrag, liebe Grüne und Grüninnen, war erst gestern Nachmittag verfügbar. War das nur Schlamperei, oder steckt Absicht dahinter? Reflexartig wird über die AfD hergezogen, wenn auch nur eine Verzögerung behauptet wird. Aber die Regeln gelten hier im Haus offenbar nicht für alle gleichermaßen.
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Es gibt Fraktionen, die nehmen sich heraus, was sie wollen. Das gilt für die Grünen wie für die SPD.
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Herr Schulz kann pöbeln, wie er will, Herr Kahrs pöbelt sogar noch mehr, auch im Ältestenrat.
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Natürlich müssen die Grünen wieder ihre ideologische Weltsicht anbringen.
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In Ihrem Antrag trifft man sofort auf die schlimmste Sprachverhunzung:
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„Uiguren und Uigurinnen“, zweite Zeile, „Kasachen und Kasachinnen“, dritte Zeile.
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Ihr Antrag tut schon beim Lesen weh.
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Als ob es nicht klar wäre, dass auch Frauen inhaftiert werden.
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Mit Ihren Sprachverhunzungen erklären Sie die deutschen Bürger für blöd.
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Ein kommunistisches Gewaltregime tritt in der Region Xinjiang im Nordwesten Chinas die Menschenrechte mit Füßen. Es wäre schön gewesen, wenn Sie in Ihrem Antrag nicht nur lamentieren, sondern Ross und Reiter nennen würden. Kommunisten sind es, die in ganz China seit Generationen ein blutiges Unrechtsregime errichtet haben, die dort foltern und Menschen unter schlimmsten Bedingungen einkerkern. Aber eine Partei, die von kommunistischen Funktionären wie Jürgen Trittin mitgegründet wurde,
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ist auf dem linksextremen Auge eben blind.
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Die Umerziehungslager in China gibt es schon seit Maos Zeiten. Natürlich müssen die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang aufhören. Natürlich müssen wir tun, was wir können, damit das geschieht, aber bitte in ganz China: Zu den verfolgten Hauschristen müssten Sie schauen, zu den Künstlern, die nicht regimetreu sind, zu den Regimekritikern, die den Kommunismus in China satthaben.
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Herr Braun, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Müller-Rosentritt?
Bitte schön, Herr Müller-Rosentritt, gerne.
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Vielen Dank. Ich entscheide das selbst. – Sehr geehrter Kollege, wenn das alles so schlimm ist in China, wie Sie das beschreiben, wie erklären Sie sich dann die Aussage Ihres Kollegen Petr Bystron in der deutsch-chinesischen Parlamentariergruppe, der vor kurzem gegenüber den Chinesen sagte: Seien Sie versichert, liebe Kollegen aus China, wir marschieren Seit’ an Seit’ im Gleichschritt mit Ihnen gemeinsam in die Zukunft.
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Wissen Sie, der Kollege Bystron ist bekannt für einen sehr deftigen Humor.
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Und das sage ich mal ganz deutlich: Wir haben überhaupt kein Interesse daran, an der Seite der Kommunistischen Partei Chinas zu marschieren, ganz gewiss nicht. Ganz gewiss nicht.
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Sie haben doch Ihre alten maoistischen Freunde in allen möglichen Bereichen Ihrer Parteien.
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Bei den Linken und bei den Grünen gehört das doch massiv dazu. Sie verharmlosen doch den Kommunismus auf allen Feldern.
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Komisch, dass die Uhr bei meiner Antwort weiterläuft. Das finde ich ja interessant. Das ist sehr bemerkenswert, wenn ich das so feststellen darf.
Herr Braun, die Uhr hat so lange gestanden, wie der fragende Kollege auch stand und Ihre Antwort entgegennahm. Jetzt bitte ich Sie, Ihre Rede fortzusetzen.
Danke schön, Frau Präsidentin.
Ansonsten haben wir in der Zwischenzeit, wie sich das gehört – auf Initiative auch der CDU-Fraktion –, die überzogene Redezeit anderen Rednern aus der CDU-Fraktion entsprechend abgezogen. Es ist die Aufgabe des Präsidiums, hier die Ordnung, wie sie verabredet ist, entsprechend aufrechtzuerhalten. Ich bitte, jetzt in der Sache weiter zu diskutieren und nicht über solche Dinge.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass ich wieder das Wort habe.
Was Sie vor allem versäumen, das ist der Blick auf den illegalen Organhandel. Ich spreche konkret von der massenhaften Organentnahme bei Häftlingen, die eigens zum Zweck des Organraubs in Lager gesperrt werden. Auch den übrigen Fraktionen waren diese grauenvollen Menschenrechtsverletzungen in den letzten Jahren kein Antrag wert.
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Wer den Kommunismus in China satthat, dessen Leib und Leben ist in Gefahr. Von 60 000 bis 100 000 illegalen Transplantationen sprechen Menschenrechtler. Bestätigt wird diese grausige Zahl auch durch einen offiziellen Bericht des amerikanischen Kongresses von 2016. In China werden Falun-Gong-Anhängern und anderen Gefangenen weiterhin Organe entnommen, und das teilweise ohne Narkose. Wo war in all den Jahren Ihr Antrag zum Thema Organhandel, zum Thema der massenhaften Verstümmelung und Ermordung von Falun-Gong-Anhängern? Wo waren Sie?
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Es ist nichts dagegen einzuwenden, sich für verfolgte Moslems einzusetzen, aber andere Minderheiten, die unterdrückt werden, interessieren Sie nicht so sehr.
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Sie haben offenbar ein besonderes Interesse am Islam.
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Sollten nicht besser die Menschenrechte Ihr Maßstab sein, also die der Uiguren, aber eben auch von Tibetern, Christen, Demokraten? Ihr einseitiges Engagement muss einem Anhänger von Falun Gong oder einem demokratisch gesinnten chinesischen Studenten wie Hohn vorkommen. Sie greifen sich ein spezielles Problem heraus: das der Moslems. Warum nur die?
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Ein Wort an die SPD zum Thema Menschenrechte. Die SPD ist im Übrigen, was Menschenrechte angeht, völlig orientierungslos.
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Da sollte nächsten Montag der Menschenrechtspreis der SPD-Stiftung, bekanntermaßen benannt nach dem großen Friedrich Ebert, an die antisemitische und antiisraelische Organisation Women’s March vergeben werden.
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Das sind verfassungsfeindliche Kräfte, das sind Ihre Freunde.
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Wenn es gegen den frei und demokratisch gewählten Präsidenten Donald Trump geht, ist Ihnen jedes Bündnis recht. Dann arbeiten Sie auch mit antijüdischen Kreisen zusammen. Es gibt ihn eben, den versteckten Linksextremismus in der SPD, von dem Herr Maaßen spricht.
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Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Frank Schwabe das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nur darauf gewartet, zu sprechen, aber eigentlich haben Sie recht: Man sollte nichts dazu sagen. Es ist nämlich immer dasselbe: Am Ende war es immer der Moslem. Das ist eine ziemlich einfache Weltsicht, die Sie haben, egal wie gepeinigt die Menschen sind. Das hat mit Menschenrechten – –
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Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir haben einen Menschenrechtsausschuss des Bundestages. Ziehen Sie doch einfach Ihre Leute ab; denn mit Menschenrechten hat das nichts zu tun, was Sie hier machen, sondern mit dem genauen Gegenteil davon.
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Wir erleben weltweit leider einen Wettbewerb der perfidesten Menschenrechtsverletzungen. Es gibt zahlreiche Beispiele, und in der Tat: China ist einer der Paradestaaten – das muss man leider sagen –, und zwar in negativer Art. Man könnte über vieles reden, zum Beispiel darüber, dass China bei der Zahl der verhängten Todesstrafen weltweit auf Platz eins steht. Wir könnten über die Berichte zum Organhandel und zur Organentnahme reden. Wir könnten diskutieren über die Unterdrückung freier Medien, über das Internet, über soziale Medien, über den Überwachungsstaat, über das, was in Tibet passiert.
Das, was in Xinjiang passiert, was den Uiguren, im Übrigen auch Kasachen und Kirgisen passiert, das setzt dem Ganzen allerdings die negative Krone auf. Ich will mich bei den Grünen bedanken, dass sie das Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben; denn das gibt uns die Gelegenheit, darüber zu reden. Ich konnte es zuerst nicht glauben, als ich gelesen habe, dass Hunderttausende, vielleicht 1 Million Menschen in Umerziehungslagern sind. Vielen Dank an Human Rights Watch und andere, die darüber entsprechend berichten. Es ist mittlerweile sogar regierungsamtlich von China bestätigt, allerdings mit dem zynischen Begriff eines Berufsbildungszentrums versehen.
Wir hatten die Debatte über Religionsfreiheit erst vor kurzem hier geführt. Es ist schön, dass der Beauftragte für weltweite Religionsfreiheit heute bei uns ist. Wir haben festgestellt, dass das Recht, seine Religion auszuüben oder auch nicht auszuüben, jeder Mensch auf der Welt hat. Deswegen haben auch muslimische Uiguren das Recht.
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Es kann nicht sein, dass der Koran verboten wird, dass jemand, der einen Gebetsteppich hat, eigentlich schon unter dem Verdacht des Terrorismus steht.
Es gilt für China das, was für alle auf der Welt gilt: Minderheitenkonflikte löst man nicht durch Repression, sondern dadurch, dass man Menschen integriert, dass man Minderheiten Rechte gibt, dass man Transparenz herstellt und dass man diejenigen stärkt, die für das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft werben.
Frau Kollegin Bause hat eine ganze Reihe von Menschen aufgezählt, die in Gefängnissen sind. Eine dieser Personen ist Professor Ilham Tohti, der sein ganzes Leben darauf verwandt hat, zwischen den Chinesen und den Uiguren Frieden zu stiften. Er sitzt jetzt leider im Gefängnis. Wir sollten alle gemeinsam deutlich machen, dass dieser Mensch freigelassen gehört. Das ist unsere gemeinsame Forderung an China.
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Wenn man die Berichte von Human Rights Watch liest, hat man den Eindruck, dass in Xinjiang eigentlich ein Freiluftgefängnis entstanden ist. Wir reden über eingezogene Pässe und keine Reisefreiheit. Wir reden über Straßenkontrollen, die Feststellung der DNA, über exzessiven Kameraeinsatz, willkürliche Hausdurchsuchungen und – so absurd das ist – den Einsatz von Hausgeräten, um Menschen zu kontrollieren. Auch das geht heute; Kollege Brand hat darüber geredet, was da an Überwachungsmechanismen ausprobiert wird.
Die Forderung ist klar: Wir wollen, dass China die Kampagne einstellt, die in Xinjiang gefahren wird – angeblich, um gegen den Terrorismus vorzugehen. Wir wollen volle Transparenz. Wir wollen, dass alle UN-Menschenrechtsgremien Möglichkeit haben, in Xinjiang vor Ort zu sein. Wir wollen im Übrigen auch, dass eine Delegation des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages dorthin fahren kann,
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und zwar mit dem Programm, das wir uns vorstellen.
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Wir wollen, dass die Lager geschlossen werden, und wir wollen die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen.
Zum Schluss vielleicht ein Hinweis an uns selbst. Ich musste mit Schrecken feststellen, dass wir Uiguren nach China abgeschoben haben. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie so was passieren konnte. Ich halte das für einen Skandal. Es ist richtig, dass mittlerweile dankenswerterweise klargestellt ist: Es darf kein Mensch aus Deutschland nach Xinjiang abgeschoben werden.
Vielen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat nun Gyde Jensen das Wort.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! China ist nicht irgendein Land; das haben wir heute schon mehrfach gehört. Wir müssen, wenn wir über China reden, wissen, mit was wir es eigentlich zu tun haben. China ist ein Land der Gegensätze: Große Armut steht entgrenztem Reichtum gegenüber. Viele Menschen auf dem Land leben so wie wir vor 100 Jahren, und andernorts wachsen die Megacitys aus dem Himmel. Es ist ein Land, das in bipolaren Machtstrukturen denkt, in einem Mächtegleichgewicht zwischen der Volksrepublik und den USA. Dazwischen ist Europa kein machtpolitischer Faktor mehr.
Es ist nicht übertrieben, zu sagen: China ist die größte Herausforderung, wenn es darum geht, die Idee der Menschenrechte, die für jeden Einzelnen gleichermaßen gelten sollten, zu verteidigen, und zwar nicht, weil wir es mit einer kommunistischen Diktatur zu tun haben, sondern weil es prominente Nachahmer gibt – Russland, bald eventuell Brasilien –, die die liberale Weltordnung vollends infrage stellen; Herr Brand hat es auch angesprochen. Die Achse der Illiberalen wächst in einer Welt, die sich zunehmend in diejenigen unterteilt, die einem neuen Staatsautokratismus anhängen, und diejenigen, die sich der liberalen Demokratie verpflichtet fühlen.
China ist doch das beste Beispiel dafür, wie wichtig freiheitliche Werte in einer digital vernetzten Welt sind.
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Schon heute gibt es einen staatlichen Benimmkatalog – wir haben es gehört –, eine gelenkte Staatserziehung, quasi eine „Stasi 4.0“. Das ist nichts anderes als die Perversion liberaler Grundsätze, Grundsätze, für die die Menschenrechte seit 70 Jahren stehen. Das hätte sich George Orwell in „1984“ nicht besser ausdenken können. Wir müssen da ganz klar sein: Eine Trennung von universellen Werten und ökonomischem Profit ist die Kapitulation vor Chinas Staatskapitalismus, ein Freifahrtschein für die Untergrabung der Menschenrechte.
Meine Damen und Herren, die Situation der Uiguren ist symptomatisch für ein Land, das mit allen Mitteln nach Macht strebt. China hat jahrelang über das Bestehen von staatlichen Umerziehungslagern gelogen, sie gar Ausbildungslager genannt, auch gerade erst wieder – ich war da – vor dem UPR, dem Universal Periodic Review, in Genf. Das ist eigentlich eine Frechheit, will man sagen.
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Menschen verschwinden einfach, ohne dass ihre Angehörigen und Freunde wissen, ob sie noch leben und wo sie sich befinden. Millionen Uiguren werden in China – wie auch Tibeter und Mongolen – wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Diese Masseninternierungslager müssen international angeprangert werden, und die Vereinten Nationen müssen ungehinderten Zugang zur Region Xinjiang erhalten. Herr Brand hat es angesprochen: Wir als Menschenrechtsausschuss wollen genau dorthin fahren. Wir wollen nicht akzeptieren, dass wir als einziger Ausschuss keine Einladung der Chinesen bekommen. Ich möchte gerne mit Ihnen, Vertreterinnen und Vertretern des Ausschusses, nach China reisen.
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Im neu aufgenommenen Menschenrechtsdialog mit China müssen deswegen die Bundesregierung und auch die EU mehr Haltung zeigen, genau hinschauen und deutlich kritisieren. Hausarreste, Repressionen gegen Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger, Umerziehungscamps und digitale Sozialüberwachung lassen jede Bereitschaft zur Freiheit vermissen. Aber genau auf diese Freiheit und auf einen klaren Wertekompass kommt es in einer vernetzten Welt an.
Wenn Europa für China kein Machtfaktor ist, wenn wir nicht klarmachen, was wir bei der Umsetzung von Menschenrechten erwarten, dann droht Europa im bipolaren Spiel der Mächte zerrieben zu werden. Das können wir hier nicht hinnehmen, das kann der Deutsche Bundestag nicht hinnehmen; denn Multilateralismus muss auf gemeinsamen Werten aufbauen, Menschenrechte müssen immer Teil der Lösung sein. Nur mit einer wertefesten Europäischen Union können wir diese Aufgabe bewältigen und globale Regeln gestalten.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Willkürliche Verhaftungen, Waterboarding, Schlafentzug, Isolationshaft, Kontaktverbot zur Familie, so etwas darf es nirgends auf der Welt geben. Wir haben Berichte von Human Rights Watch erhalten – wir haben hier darüber gesprochen –, nach denen genau so was 1 Million Menschen in einer chinesischen Provinz, in Xinjiang, angetan wird. Das ist natürlich etwas, was wir nicht akzeptieren können. Vor allem die hohe Zahl der Eingesperrten ist hierbei verstörend. Ich muss sagen: Wir müssen vielleicht mit der Bundesregierung noch mal über die Zahlen sprechen; denn die Bundesregierung hat im August noch von 100 000 Inhaftierten gesprochen, und wenige Wochen später sprach Human Rights Watch von 1 Million.
Am Ende gilt aber: Jeder Einzelne – Frau Bause hat einige erwähnt, Herr Schwabe hat einen erwähnt –, der zu Unrecht oder unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt ist, ist einer zu viel.
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Die aktuelle Debatte, die wir hier über Menschenrechtsverletzungen in China führen, ist nicht die erste, und es wird wahrscheinlich auch nicht die letzte sein. Ich will deshalb einmal zurückschauen; denn es gab da in den letzten Jahren schon eine gewisse Veränderung. Ich bin im Jahr 2009 in den Bundestag gewählt worden. Da habe ich mir hier noch die Debatten über die Nachwirkungen der Olympischen Spiele in Peking angehört. Wenn man sich heute, zehn Jahre später, anschaut, wie über Menschenrechtsverletzungen in China geredet wird, dann erkennt man, dass die Welt nun eine andere ist. Damals haben viele von oben herab auf die Volksrepublik geschaut. Heute hat man manchmal das Gefühl, dass es umgekehrt ist.
Das hat auch Hintergründe: China ist inzwischen das Land mit den meisten Milliardären weltweit – 609 sind es. Es ist auch ein Land, das nicht nur die Oberschicht, sondern auch die Mittelschicht aus der Armut geholt hat. Viele Menschen, die vorher in bitterer Armut gelebt haben, leben jetzt dort besser. Es gibt in China einen riesigen Wirtschaftsaufschwung. All das darf uns aber nicht dazu verführen, auf diesem Auge blind zu sein.
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Unsere gemeinsame Kritik an den Entwicklungen in der Volksrepublik China ist allerdings nur glaubwürdig, wenn wir mit einem Maß messen. Ich weiß, dass der Menschenrechtsausschuss das tut. Aber ich will an der Stelle noch mal sagen: Wenn vermeintliche Islamisten in Guantánamo eingesperrt und gefoltert werden, wenn Sinti und Roma in Mitgliedstaaten der Europäischen Union verfolgt werden, wenn Schwule in Russland verfolgt werden, dann ist das genauso schlimm wie die Verfolgung von Muslimen und anderen in der Volksrepublik China; denn der Kampf für Menschenrechte ist unteilbar.
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Nun weiß ich – viele von Ihnen, die schon mal in China waren, wissen es vielleicht auch –, dass die Angst vor Instabilität und Chaos in China real ist. Das ist nicht einfach Propaganda der Regierung. Es sind tatsächlich Dinge auch geschehen, über die wir auch sprechen müssen: Es sind Hunderte Menschen umgebracht worden von Terroristen mit zum Teil islamistischem Hintergrund auf einem Bauernmarkt, in Polizeistationen, und es sind Tausende von Islamisten aus dieser Region auch an der Seite des IS im Mittleren und Nahen Osten unterwegs. Das sind alles schreckliche Entwicklungen, über die wir hier nicht schweigen dürfen. Und trotzdem: Alles das rechtfertigt keine flächendeckende Überwachung, Bespitzelung, Lager und Folter. Verbrechen und auch Terrorismus müssen mit rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt werden!
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Nun haben die Grünen hier einen Antrag gestellt. Vieles finde ich im Grundsatz richtig – wir müssen darüber im Ausschuss reden, und ich freue mich auch auf die Debatten –, aber es gibt auch Punkte, die ich nicht teile – die will ich hier kurz benennen –: Ich nenne den Hinweis, „alle … Hafteinrichtungen“ in Xinjiang „zu schließen“ und alle „inhaftierten Personen sofort und bedingungslos freizulassen“; darüber müssen wir vielleicht noch mal reden. Ich teile auch nicht die Forderung, dass wir uns nun an der Seite von Kasachstan und der Türkei gegenüber China für den Schutz von Minderheitenrechten einsetzen sollten. Also, ausgerechnet an der Seite der Türkei und der kasachischen Autokratie, das finde ich nun wirklich absurd.
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Trotz dieser Kritik: Ich finde, der Antrag ist eine gute Grundlage für die Debatte, auf die ich mich sehr freue. Ich bin mir sicher, dass alle in diesem Haus – außer der AfD – der Auffassung sind, dass Menschenrechte universell sind.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Sebastian Brehm das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeden Tag erreichen uns Meldungen über schwere Menschenrechtsverletzungen aus den unterschiedlichen Regionen der Welt. Aber was uns aktuell aus China erreicht, macht uns fassungslos: Neben den bereits bekannten Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Tibetern und den Christen werden die Meldungen von Human Rights Watch und der UN über Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Uiguren immer schlimmer.
Die autonome Region Xinjiang im Westen Chinas ist die Heimat von 10 Millionen Uiguren. Schon lange sind die Uiguren der chinesischen Staatsführung ein Dorn im Auge – natürlich: weil große Vorkommen von Erdöl, Kohle, Gold, Uran, Erdgas in dieser Region sind und deswegen diese Region von großer strategischer Bedeutung ist. Die Menschenrechte spielen dabei keinerlei Rolle.
Viele Menschen in unserem Land wissen, glaube ich, gar nicht, was für Zustände dort herrschen. Deswegen ist es gut und richtig, dass die Grünen heute diesen Antrag auf die Tagesordnung haben nehmen lassen. China schreckt in Xinjiang vor nichts zurück: 1 Million Uiguren sind eingesperrt in sogenannten „Umerziehungslagern“, interniert, Bürger zweiter Klasse – jeder zehnte Uigure! Die Behörden setzen polizeiliche, militärische, geheimdienstliche Mittel als Repressalien ein. Die Denk- und Lebensweise der politischen Führung und damit der Kommunistischen Partei in China muss angenommen werden. Modernste Datenüberwachung: mit GPS, Überwachungs-Apps, mit Hightechüberwachung. Es werden Verhaftungen vorgenommen ohne Prozess, psychische und physische Gewalt angewendet und Todesstrafen in zahlreicher Form ausgesprochen.
Und als wäre das nicht schlimm genug: Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte berichtet darüber hinaus, dass insbesondere zum Tode Verurteilte oder Gefangene aus Gewissensgründen, politische Gefangene – das sind vor allem die Uiguren, leider aber auch die Tibeter, Mitglieder der christlichen Hauskirchen, Kasachen, Falun Gong – in großer Anzahl getötet werden, um ihre Organe verkaufen zu können. „Die Welt schaut bei Organraub zu!“, so titelt der Beitrag auf der Internetseite der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein unerträglicher Zustand in Xinjiang!
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Wir müssen dies auf internationaler Ebene thematisieren. Die Europäische Union hat das ja schon gemacht im Jahr 2013, die Amerikaner in 2016. Aber gerade Deutschland als starker Handelspartner von China und als starke Industrienation muss hier ein Zeichen setzen gegen die „Umerziehungslager“ und gegen die Menschenrechtsverletzungen, die in dieser Region immer weiter zunehmen, gerade in den letzten Monaten extrem zugenommen haben.
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Auch unser Vorgehen gegen illegalen Organhandel müssen wir noch stärker in den Vordergrund stellen. Deswegen möchten wir bitten, den Antrag an den Menschenrechtsausschuss zu überweisen, um auch die Aspekte noch in den Antrag mit einzubringen, die derzeit noch fehlen.
Wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt einen langen Sitzungstag und wir diskutieren viele Themen. Jedes Thema – Jahressteuergesetz und andere – hat seine individuelle Berechtigung, selbstverständlich. In der letzten Woche haben wir über Religionsfreiheit als Grundpfeiler der Menschenrechte diskutiert. Wenn wir nun hören, dass Menschen als lebende Organspender benutzt werden, dann ist dies mit unserem christlichen Menschenbild, mit unserem Grundverständnis von Menschenrechten nicht vereinbar. Deswegen ist die heutige Debatte ein wichtiger Beitrag, um dieses Thema wieder mehr in die Öffentlichkeit zu rücken, um auch ein deutliches Zeichen von Deutschland aus zu setzen. Deswegen danke ich Ihnen und freue mich auf die Diskussion im Ausschuss, dass wir auch hier noch mal Nachdruck verleihen können.
Herzlichen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Dr. Daniela De Ridder das Wort.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor allem: Liebe Frau Bause! Herzlichen Dank für diesen Antrag. Der Zeitpunkt könnte nicht besser gewählt sein als mit dem heutigen Abend; denn wir befinden uns quasi am Vorabend der Reise des Außenministers nach China. Ich selber und der Kollege Kiesewetter, der jetzt leider nicht hier sein kann, haben die Gelegenheit, ihn zu begleiten. Allerdings wird auch Frau Weidel mitfahren, und ich bin sehr gespannt. – Herr Braun, Sie sind ja wieder da. Haben Sie Ihr Interview für Ihre Social-Media-Kanäle möglicherweise schon hinter sich gebracht?
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– Dann nehmen Sie doch bitte Platz. Ich würde mich freuen, wenn auch Sie zuhören würden. – Frau Weidel wird auf dieser Reise auch mitfahren. Ich hoffe, dass sie auf dieser Reise, Herr Braun, noch viel lernen wird über Humanität und nicht nur über die Unterdrückung von Muslimen.
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Ich würde mich auch freuen, in der Tat, Frau Jensen, wenn wir dann Gelegenheit haben, das zu thematisieren und auch anzusprechen, dass der Menschenrechtsausschuss dort auch mit empfangen werden sollte.
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Dafür – das dürfen Sie mir abnehmen – werde ich mich ganz persönlich auch gerne verwenden.
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– Ach hören Sie doch auf, zu brüllen! Nur weil Sie laut sind, haben Sie nicht recht, Herr Braun.
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– Ja, natürlich! Natürlich! Sie haben kein Recht auf eigene Fakten!
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Ich will nur sagen: Als ich ein Kind war, galt China als Land des Lächelns. Wenn Sie jetzt glauben, das lächerlich machen zu können, dann sind Sie falsch gewickelt, Herr Braun.
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China ist ein Land der Widersprüche, ja; darauf wurde bereits verwiesen. Ich finde es hochinteressant – auch Frau Jensen hat das ja schon angemerkt –, dass wir dort auch ganz interessante Entwicklungen, beispielsweise in Richtung des Arbeitsschutzgesetzes schon 2008 oder im Bereich des Umweltschutzes haben erleben können. Aber die Menschenrechtsverletzungen, sie wiegen schwerer, und das dürfen wir den Chinesen, gerade wenn sie unsere Freunde sind, auch gerne mit an die Hand geben.
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Aber, Frau Bause, es gibt auch Hoffnung. Sie haben heute vielleicht gelesen, dass das BAMF sich sehr deutlich positioniert hat – sicher auch auf Ihre Anregung hin – und festgestellt hat, dass auch uigurisch zu sein ein Asylgrund sein kann und sein muss und dass die Abschiebungen der Uiguren nach China deshalb eingestellt werden müssen. Ich finde, es ist wirklich wichtig, das an dieser Stelle noch einmal deutlich zu machen. Das BAMF empfiehlt auch ganz dringend, die Uiguren wegen der Lage ihrer Menschenrechte noch einmal sehr viel ernster zu nehmen und den Abschiebestopp hier auch entsprechend zu würdigen.
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Das, finde ich, ist eine ganz wichtige und richtige Entwicklung, und das zeigt eben, dass wir Parlamentarier auf diese Geschehnisse auch Einfluss nehmen können.
Was mich aber noch viel mehr beunruhigt – das hat keineswegs, Herr Braun, nur mit den Muslimen zu tun –, ist das Scoring-System in China. Also, ich finde es unvorstellbar, dass Menschen benotet werden – klassifiziert und gar deklassiert werden –, wenn sie einer bestimmten Glaubensrichtung angehören,
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und deshalb auch diskriminiert werden – wenigstens da haben wir eine Schnittmenge; das freut mich ja, es lässt mich noch hoffen, Herr Braun.
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Auch die wirtschaftliche Lage werden wir natürlich auf dieser Reise besprechen müssen und können. Aber für uns in der SPD – lassen Sie mich das noch einmal ganz ausdrücklich betonen – heißt es nicht nur „Wirtschaft first, Bedenken second“, nein, wir haben dieses alles zu formulieren, und gerade wenn China ein Handelspartner von uns ist, dann müssen wir auch die Menschenrechtsfrage thematisieren.
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Wir werden das mit Sicherheit tun. Lieber Kollege, ich bin auch sehr dafür, dass Sie das mit aufnehmen. Ich denke, es besteht Einigkeit hier im Hause, dass das auch noch in den Menschenrechtsausschuss überwiesen werden sollte, dass es dort thematisiert werden sollte. Ich mache Ihnen das Angebot, dass wir, die wir mitreisen auf dieser Fahrt, dann auch bei Ihnen in den Ausschuss mit eingeladen werden sollten. Vielleicht können wir dann berichten, welches unsere Erfolge in diesem Gespräch waren.
Vielen Dank.
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Das Wort hat Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Menschenrechtsausschuss kriegen wir eine ganze Menge mit. Und eine ganze Menge bringt uns tief zum Nachdenken über unsere Menschlichkeit auf dieser Erde. Die Geschehnisse, die wir unter anderem in dem benannten Frühstück vorgestern gehört haben, machen uns zusätzlich sprachlos. Das ist Ohnmacht im Quadrat.
Dennoch freue ich mich, dass Sie die Debatte angestoßen haben; zwei unserer Kollegen haben das schon gesagt. Ich fasse noch mal zusammen, wovon wir hier reden: Die chinesische Regierung setzt Uiguren wegen ihrer Religionszugehörigkeit Terroristen gleich und sperrt sie in Camps ein, sogenannten Umerziehungslagern, die „Fortbildungszentren“ genannt werden. Diese wachsen; es waren über die letzten Jahre bis zu 1 Million Insassen. Dort werden Personen erzogen und transformiert – ohne Gerichtsverfahren. Schon ein Anzeichen für religiösen Extremismus, wozu bereits das Enthalten von Alkohol zählt, kann einen dort in den Knast bringen. Es gibt den Zwang, Schweinefleisch zu essen, den Zwang, Alkohol zu trinken; Sie wissen: Es sind Muslime. Es wird versucht, das Bewahren der eigenen Sprache zu unterdrücken, also sie zu verbieten. Selbst ein Traum – mein Kollege Brand hat es gesagt – kann gefährlich werden; denn wenn nachts mit den Kameras wahrgenommen wird, dass ich etwas geträumt habe, werde ich morgens zur Befragung gebeten.
Damit verstößt die chinesische Regierung gegen ihre eigene Verfassung und Chinas eigene internationale Menschenrechtsverpflichtungen. Solch ein Verhalten, die eigenen Versprechen zu brechen, sollte uns doch eigentlich an was anderes erinnern, was im Zusammenhang mit China immer zur Sprache kommt. Wenn Sie, Frau De Ridder, dort unterwegs sind und es zu Gesprächen über wirtschaftliche Zusammenarbeit kommt – die darf es ja gerne geben –, nehmen Sie bitte mit: Die Grundlage jeder Wirtschaftsbeziehung basiert auf Vertrauen und Einhalten von Verträgen. Aber wenn die Grundlage fehlt, warum sollten dann Betriebe sich entsprechend verhalten? Vielleicht sollten deshalb der Auswärtige Ausschuss, der Wirtschafts- und der Menschenrechtsausschuss mal enger zusammenarbeiten, vielleicht auch mal gemeinsam nach China oder an einen anderen Ort fliegen, wo es solche Zustände gibt.
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Wir unterstützen von daher den Großteil der Forderungen, die Sie in dem Antrag vorbringen. Ganz besonders sollten wir den nichtständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat der UN dafür nutzen, uns gegen diese Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. Wir sollten uns umfassend – wir sagen das auch immer in der Entwicklungspolitik – für sklavenfreie Lieferketten und Produkte einsetzen, auch gegenüber Firmen
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und in der Öffentlichkeit, und zwar vom Regierungshandeln über unternehmerische Tätigkeiten bis hin zum Kaufverhalten der Kunden.
Und doch sollten wir den Antrag weiterfassen, eben nicht nur auf die Region Xinjiang beschränken. Die kollektiven Rechte werden in China konsequent über die individuellen Rechte gestellt. Eine Ermahnung Chinas sollte sich daher nicht nur auf diese Region beziehen, sondern alle Menschenrechtsverletzungen einbeziehen – und das nicht nur in einer Minute Vortrag vor dem Ausschuss in Genf.
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Ich komme zum Schluss. Wir fordern, dass ungehinderter Zugang gewährt wird, sich zu Menschenrechten bekannt wird und die benannten auch umgesetzt werden. Möglicherweise müssen wir das in der Zukunft zu einer Bedingung für eine Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen machen.
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Denn sonst machen wir uns am Schluss an den Verbrechen und dem vergossenen Blut, vielleicht sogar an einem kulturellen oder tatsächlichen Völkermord bei den Uiguren mitschuldig.
Danke schön.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/5544 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach zweiter und dritter Lesung werden wir heute das Dritte Gesetz zur Änderung des Asylgesetzes beschließen. Es handelt sich um einen weiteren wichtigen Baustein einer Politik, die einerseits das Recht auf Asyl und internationalen Schutz anerkennt, aber andererseits dafür Sorge trägt, dass das Asylrecht nur den Menschen zugutekommt, die auch tatsächlich verfolgt sind.
Je niedriger Sorgfalt und Prüfdichte im Asylverfahren sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit von Fehlentscheidungen. So sah das BAMF in den Jahren 2015 und 2016 bei syrischen und eritreischen Antragstellern sowie bei irakischen Minderheiten grundsätzlich von einer persönlichen Anhörung ab und hat auf der Grundlage eines standardisierten Fragebogens entschieden. Im Wege dieses Verfahrens erhielten dann 247 062 Menschen eine positive Entscheidung. Der Fall des Franco A. zeigt besonders deutlich, welche Fehleranfälligkeit eine solche Vorgehensweise hat: Franco A., Deutscher, Bundeswehrsoldat, erhielt als syrischer Flüchtling Anerkennung, obwohl er kein einziges Wort arabisch spricht und seine Identität und das Fluchtgeschehen völlig frei erfunden waren.
Meine Damen und Herren, wir haben aus derartigen Vorgängen gelernt. Unser Anspruch muss es sein, eine hohe Qualität der Verfahren sicherzustellen. Das BAMF ist mit der neuen Führung in der Verwaltung gut aufgestellt. Es sind organisatorische Veränderungen auf den Weg gebracht. Es findet nunmehr auch eine engmaschige Dienst- und Fachaufsicht statt.
Wichtig ist aber auch, dass wir den Entscheidern die richtigen Instrumente und Befugnisse an die Hand geben. Während im Asylantragsverfahren wie selbstverständlich der Antragsteller zur Mitwirkung verpflichtet ist, gibt es im Verfahren auf Widerruf oder Rücknahme der Entscheidung – das ist spätestens drei Jahre nach Unanfechtbarkeit der Anerkennung durchzuführen – bis heute keine entsprechende Pflicht. Ein stumpfes Schwert, wenn sich der Anerkannte einfach wegducken kann und sagt: Ich wirke nicht mit.
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Besonders deutlich wird die Untauglichkeit der bisherigen Regelung auch bei den krankheitsbedingten Abschiebeverboten. Nach der jetzigen Rechtslage ist es nicht möglich, nach Anerkennung bzw. der Feststellung des Abschiebeverbots ärztliche Dokumente verbindlich anzufordern. Die Behörde kann nur durch Zufall erfahren, ob der Abschiebegrund „Krankheit“ entfallen ist. Deshalb ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung zu begrüßen. Sinnvoll ist auch der Vorschlag des Bundesrats, zum Zweck der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr die Datennutzung zuzulassen. Auch die erkennungsdienstliche Behandlung ist wichtig, sofern nicht bereits im Antragsverfahren die Identität gesichert worden ist. Auch die Vorlage von Dokumenten ist entscheidend. Bis heute können wir das nicht verlangen.
Meine Damen und Herren, die Kritik der Linken, dass das Gesetz überflüssig ist und dass die bisherige Überprüfung im laufenden Jahr nur in 0,7 Prozent der Fälle zu einer Aufhebung geführt hat, ist aus meiner Sicht zweifach falsch.
Erstens. Durch die Gesetzesänderung wird die Behörde gerade erst in die Lage versetzt, im Rücknahme- und Widerrufsverfahren engmaschig zu prüfen und hierdurch weitere Fälle zu ermitteln, bei denen die Bewilligung nicht zutreffend ist, weil falsche Informationen über Identität, Staatsangehörigkeit oder das Fluchtgeschehen zugrunde lagen.
Zweitens. Die Linken, aber leider auch die Grünen, argumentieren stets so, dass sie darauf hinweisen, dass es um geringe Fallzahlen geht. Daraus schließen Sie: Dann brauchen wir nichts zu tun; wir brauchen keine Maßnahmen auf den Weg bringen.
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Ich erinnere an dieser Stelle an die Argumentation im Zusammenhang mit der BAMF-Außenstelle Bremen, bei der Einstufung weiterer Länder als sichere Herkunftsstaaten oder aber jetzt in diesem Fall bei der Rücknahme von Asylbescheiden. Ich vermisse das klare Bekenntnis – Sie können es ja gerne nachholen –, dass der Schutz nur den verfolgten Menschen zugutekommen darf.
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Ich vermisse die klare Aussage, dass auch Sie sich gegen den Missbrauch des Asylrechts durch unberechtigte Personen aussprechen.
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Eins muss doch klar sein: Das Asylrecht dient ausschließlich dem Schutz von Menschen, die verfolgt sind. Ich sage Ihnen: Jeder Fall, den wir falsch entscheiden,
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jeder Fall, in dem wir einem Menschen Schutz zusprechen, der kein Schutz- oder Asylrecht verdient hat, ist ein Fall zu viel. Er sendet das falsche Signal in unsere Gesellschaft.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Lars Herrmann für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eins vorweg: Ich werde den Begriff „Ausländer“ in meiner Rede verwenden. Ich meine ihn als Arbeitsbegriff im Sinne des Asylgesetzes und des Aufenthaltsgesetzes; das muss man heutzutage ja immer und immer wieder betonen.
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Ich hatte bereits in der letzten Debatte zu diesem Thema die Bundesregierung gelobt, weil man eine eklatante Lücke im Asylgesetz endlich schließen möchte. Ich freue mich auch heute wieder darüber, dass die Bundesregierung bezüglich der nachträglichen erkennungsdienstlichen Behandlung im Widerrufsverfahren ebenfalls ein Einsehen hatte. Nun ist nämlich auch angedacht, die Fingerabdrücke von den Ausländern zu nehmen, die zum Zeitpunkt der Widerrufsprüfung das 14. Lebensjahr vollendet haben. Und als ob das alles an Lob und Freude nicht reichen würde, hat die Bundesregierung auch noch unsere Forderung übernommen, den Ermessensspielraum über die Ausübung des Verwaltungszwangs einzuschränken. Damit ist das BAMF künftig dazu angehalten, den Verwaltungszwang als Regel zur Anwendung zu bringen und nicht nur als Ausnahme. AfD wirkt, meine sehr verehrten Damen und Herren!
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Jetzt bedarf es nur noch zweier kleiner Modifikationen, die glücklicherweise allesamt in unserem Änderungsantrag zu finden sind, und dann besteht der Hauch einer Chance, dass die zu bewältigende Aufgabe tatsächlich erfolgreich gemeistert werden kann. Es sei denn, der nächste BAMF-Skandal ist gewünscht.
Folgendes kommt auf uns zu: Durch das Bundesamt wurden im Jahr 2016 insgesamt 369 Regelüberprüfungen durchgeführt. 2017 gab es immerhin schon 1 293 dieser Überprüfungen. In den Jahren 2018 und 2019 müssen noch 550 864 Verfahren überprüft werden, und bis 2020 stehen insgesamt 773 000 Überprüfungen an. Obwohl mangels Mitwirkungspflicht – die gibt es ja bisher noch nicht – 66 Prozent der angeschriebenen Ausländer nicht reagieren, wurden immerhin 349 Widerrufs- und Rücknahmeentscheidungen getroffen. Um diese Herausforderung zu bewältigen und die Widerrufsüberprüfung auch ernsthaft und effektiv durchführen zu können, bedarf es nicht nur einer Mitwirkungspflicht für die Betroffenen, sondern auch einer angemessenen Sanktionierungsmöglichkeit. Der Verwaltungszwang ist eben nur ein Werkzeug und keine Strafe. Ich bitte, das nicht zu vergessen. Aus diesem Grund sollte ein Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe geahndet werden können.
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Losgelöst davon geht es um weitere ganz praxisnahe Änderungen. Beispielsweise macht es mehr als nur Sinn, die Bundespolizei als zuständige Behörde in § 19 Asylgesetz mit aufzunehmen. Wer an dieser Thematik schon mal praktisch Hand angelegt hat, wird kaum zu einem anderen Ergebnis kommen. Die Realität sieht mittlerweile nämlich so aus, dass Ausländer eben nicht mehr an der Grenze festgestellt werden, weil es ganz einfach keine Grenzkontrollen mehr gibt – Stichwort: Schengen.
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Tatsächlich werden diese eben erst im Inland festgestellt, oder sie suchen von selbst die Dienststellen der Bundespolizei, insbesondere am Wochenende und zur Nachtzeit, an großen Bahnhöfen wie Hamburg, Köln, Berlin, Leipzig und Frankfurt auf. Derzeit hat die Bundespolizei keine rechtliche Befugnis, die Ausländer nach dem Asylgesetz erkennungsdienstlich zu behandeln, und darf diese noch nicht einmal auffordern, sich in die zuständige Erstaufnahmeeinrichtung oder Ausländerbehörde zu begeben. Stattdessen wird sich mit umständlichen und oftmals aufwendigen Amtshilfeersuchen beholfen und improvisiert. Deshalb sollte sich auch niemand wundern, wenn ein Asylantragsteller schon beim ersten Gespräch mit einem BAMF-Mitarbeiter mit drei Aliasidentitäten und zwei verschiedenen Fluchtgeschichten aufschlägt.
Ein weiterer praktischer Aspekt, für den Ihnen viele Mitarbeiter beim BAMF, beim BKA, bei der Bundespolizei und den Ausländerbehörden dankbar sein werden, wenn wir es denn beschließen, ist die Anpassung der erkennungsdienstlichen Behandlung im Asylgesetz. Bisher dürfen nämlich nur Lichtbilder gefertigt und die Abdrücke der zehn Finger genommen werden. Zu einer vollständigen erkennungsdienstlichen Behandlung gehören jedoch auch die Abnahme der Handflächenabdrücke, eine vernünftige Personenbeschreibung, die Schuhgröße, körperliche Merkmale usw. Auch das brächte eine enorme Steigerung der Möglichkeiten zur Identifizierung von Asylantragstellern mit sich und wäre damit ein Beitrag zur Gewährleistung einer gesicherten Identitätsfeststellung. Und auch hier könnte man eine effiziente Bearbeitung ermöglichen, wenn man die Asylantragsteller nicht dreimal hintereinander fingert, sondern alle beteiligten Behörden in einem Abwasch wunschlos glücklich machen, indem man nur noch einen Fingerabdruckbogen verwendet. Außerdem, meine sehr geehrten Damen und Herren, so eine erkennungsdienstliche Behandlung tut nicht weh – versprochen!
Vielen Dank.
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Der Abgeordnete Helge Lindh hat für die SPD-Fraktion das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke Ihnen, Herr Herrmann, erst einmal für Ihre wiederholte Erläuterung Ihrer deskriptiven Nutzung des Ausdrucks „Ausländer“. Darf ich daraus schließen, dass Sie damit sagen wollen, dass Ihre Fraktionskollegen den Begriff standardisiert, normativ, diffamierend verwenden? Ich weiß es nicht; aber das könnte ja ein Schluss aus dieser Erklärung sein.
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– Ja, zu viele Fremdwörter, ich weiß. Das schadet Ihrem Deutsch.
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Ich wollte mich eigentlich nicht ärgern. Ich tue es jetzt aber schon wieder. Ich habe mich besonders geärgert über Ihren Antrag zur Altersfeststellung.
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Ich wollte heute aber – und ich bleibe meinen Prinzipien treu – Furor und Empörung
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in der Frage der Integration zurückfahren.
Gerade weil ich Sie aufgrund Ihrer Positionierung besonders wertschätze, Frau Jelpke, muss ich gestehen, dass ich mich besonders geärgert habe, dass Sie in der Debatte über sichere Herkunftsstaaten heute Morgen ausführten, dass wir mit unserem Gesetzentwurf – ich zitiere – „eine eklatante Missachtung der Lehren aus der deutschen Geschichte“ begingen. Ich finde, soweit Sie für sich beanspruchen können, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, können wir das auch tun. Wir können das sowohl zu dem Gesetzentwurf zu den sicheren Herkunftsstaaten tun, aber auch zu dem Gesetzentwurf, um den es jetzt hier geht. Ich denke, wir müssen uns nicht gegenseitig belehren, wer die besseren Lehren aus der Geschichte zieht. Wenn jemand meint, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, ohne jeden Zweifel, ist mir das fremd. Ich nehme für uns in Anspruch, dass wir auch Zweifel haben und dass wir nicht immer alles richtig machen. Ich würde mich freuen, wenn wir auch in Fragen der Integration interfraktionell zu dieser Haltung kämen.
Unabhängig davon sind wir aber der Überzeugung, dass dieser Gesetzentwurf ein guter ist. Wir sehen uns darin durch die Anhörung bestätigt. Manche mögen eine andere Interpretation haben. Die Anhörung hat uns aber gezeigt: Das ist ein vernünftiger Gesetzentwurf. Ein solches Gesetz bedeutet in der Verwaltungspraxis konkret Beschleunigung, aber – das ist ein nicht unerheblicher Grund – eine solche Beschleunigung kann auch eine Zumutung darstellen; das ist gar nicht zu leugnen. Sie bedeutet nämlich einerseits eine zusätzliche Belastung für die Betroffenen, kann andererseits aber auch eine Vereinfachung für die Betroffenen darstellen. Herr Mazanke aus Berlin hat das deutlich geschildert. In der Praxis sieht es dort nämlich so aus, dass viele Verfahren zur Erteilung von Niederlassungserlaubnissen oder zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nicht weiterbehandelt werden können, weil Widerruf- und Rücknahmeverfahren nicht beendet werden können. Er hat anschaulich dargelegt, dass durch dieses Gesetz eine Beschleunigung des Verfahrens möglich ist.
Wenn es uns gelingen kann, sowohl die Verwaltungspraxis zu verbessern als auch eine Verbesserung für die Betroffenen herbeizuführen, die nichts befürchten müssen, wenn sie glaubhafte und wahrhafte Angaben gemacht haben, dann ist das, glaube ich, eine Leistung. Wir sollten also alle daran arbeiten, die Verwaltungspraxis zu beschleunigen und auch in der Hinsicht Lehren aus der Vergangenheit ziehen.
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Wir haben auch Veränderungen vorgenommen, indem wir maßvoll die Ratschläge des Bundesrates in Bezug auf die Datennutzung und in Bezug auf die erkennungsdienstliche Behandlung aufgenommen haben. Wir haben sie aber nur insoweit aufgenommen, wie sie nicht über das Ziel hinausschießen.
Wir haben ebenfalls – auch das kann man deutlich sagen, weil es sonst unehrlich wäre – in der Anhörung erkannt, dass die Möglichkeit besteht, dass eine Welle von Klagen den Gegeneffekt erreicht, nämlich keine Beschleunigung, sondern eine Verlangsamung. Genau aus diesem Grund ist die aufschiebende Wirkung ausgeschlossen, und es greift das einstweilige Verfahren, das sogenannte Eilverfahren.
Sehr geehrte Damen und Herren, Sie können, wenn Sie den Gesetzentwurf ablehnen, für sich in Anspruch nehmen – ich habe es vorhin geschildert –, dass Sie die Maßnahmen für nicht verantwortbar, für ethisch fraglich halten. Ich würde aber behaupten, dass wir als regierungstragende Koalition dasselbe tun können; denn wir gehen davon aus, dass es eben nicht selbstverständlich ist, dass das Asylrecht von der Bevölkerung angenommen wird,
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sondern wir dafür werben müssen, dass möglichst viele Menschen dieses humanitäre Asylrecht und unseren Ansatz eines humanitären Pragmatismus – ich werde das so oft wiederholen, bis Sie es nicht mehr hören können; denn dann habe ich es oft genug gesagt – mittragen. Wenn es uns gelingt, Unklarheiten auszuräumen, das Gefühl und die Überzeugung zu wecken, dass wir das, was 2015/2016 in der Schnelligkeit an Unklarheiten entstanden ist, dass wir Unsicherheiten, Verunsicherung, die populistisch genutzt werden könnten, beseitigen, ist das allein schon ein Mehrwert dieser Gesetzgebung, den man nicht unterschätzen sollte.
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Einen weiteren Punkt wage ich zu erwähnen: Sie wollen ja – das wurde auch schon bei den Anhörungen im Ausschuss gesagt – skandalisieren und erwecken den Eindruck – ich halte das für einen falschen Eindruck –, gegenüber allen anerkannten Asylbewerbern, subsidiär Schutzberechtigten, Genfer Konventionsflüchtlingen werde ein Generalverdacht ausgesprochen und deshalb werde jetzt plötzlich das Widerrufsverfahren eingeführt. Das ist aber nicht der Fall. Es ist bereits standardisiert.
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– Wenn Sie jetzt „anlasslos“ dazwischenrufen, haben Sie dem Vertreter des BAMF vielleicht nicht genau zugehört.
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In der Praxis wird es keineswegs immer so sein, dass in jedem Fall ein ausgedehntes Widerrufsverfahren stattfinden wird.
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Nein, wenn keine Verdachtsmomente und Argumente vorliegen, wird nach Aktenlage entschieden und die Akte geschlossen. Nur wenn es hinreichende Argumente und Fragepunkte gibt, wird überhaupt dieses Verfahren umfassend ausgelöst.
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Es ist also mitnichten eine Masse von Widerrufen zu erwarten. Ich finde, dies können wir in aller Ehrlichkeit und Klarheit aussprechen.
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Ich komme aber nun, nachdem ich versucht habe, zu schildern, warum wir aus ganz pragmatischen Gründen dieses Gesetz vertreten können und es als gutes Gesetz empfinden, doch noch zu dem Zusatzpunkt, der hier mitdebattiert wird – jetzt muss ich wieder zu meinem Ärger kommen –, nämlich der Frage der obligatorischen Altersfeststellung und dem Antrag der AfD.
Ich verstehe gar nicht, warum Sie diesen Antrag stellen;
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denn wir haben eine Gesetzesgrundlage. § 42f SGB VIII sieht ein dreistufiges Verfahren vor: Prüfung von Dokumenten, dann qualifizierte Inaugenscheinnahme und erst als dritte Stufe in besonderen Fällen die medizinische Untersuchung. Das gibt es bereits.
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Es gibt – heiß diskutiert – verschiedene Verfahren, so in Hamburg und im Saarland; das wissen Sie auch. Es gibt zugleich Stimmen – diese muss man ernst nehmen – von Medizinern, von Kinderärztinnen und Kinderärzten, die mit gutem Recht keine erzwungene medizinische Untersuchung wollen. Wollen Sie ernsthaft alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge verpflichten,
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eine schamhafte Untersuchung, die, wenn geröntgt wird, belastend ist oder die beim Zeigen der Genitalien zutiefst in die Integrität der Persönlichkeit eingreift, durchführen zu lassen? Ich halte das für keine sinnvolle Maßnahme.
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Darüber hinaus – das wissen Sie auch – ist die Altersfeststellung ohnehin eine Thematik, die in dem gesamten Zusammenhang zu sehen ist.
Noch verwerflicher aber als dieses standardisierte Verfahren, das Sie vorschlagen, ist aus meiner und aus unserer Sicht die Unterstellung, die Sie damit verbinden und die auch in Ihrem Antrag erkennbar ist. Sie unterstellen im Prinzip allen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, dass sie gar nicht unbegleitet oder zumindest nicht minderjährig seien. Sie unterstellen ihnen allen, potenziell kriminell zu sein. Ihr Hauptargument sind die Kosten. Ich möchte Ihnen aber eins mitteilen: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, ob sie nun tatsächlich minderjährig sind oder doch nicht minderjährig sind, sind zuerst eines – das ist unsere Rede –: Es sind Menschen, die menschenwürdig behandelt werden müssen. Deshalb lehnen wir selbstverständlich Ihren Antrag ab.
Vielen Dank.
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Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Linda Teuteberg.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute vorliegenden Gesetz wird gerade noch rechtzeitig eine wichtige Lücke im Asylrecht geschlossen. Einige Kollegen haben hier den Sachverhalt schon erläutert: Bis 2020 steht die reguläre Überprüfung von fast 800 000 Schutztiteln durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge an. Bei über der Hälfte der Fälle ist davon auszugehen, dass die Identitätsfeststellung im Asylverfahren unzureichend erfolgt ist. Es gibt also wahrlich einen Anlass für dieses Gesetz.
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Angesichts dieser Tatsache ist es aus unserer Sicht zwingend notwendig, sicherzustellen, dass in diesen Fällen nachträglich die Identität der Schutzberechtigten festgestellt wird.
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Dazu bedarf es auch der Mitwirkung der Betroffenen. Genau darum geht es beim vorliegenden Gesetzentwurf. In dem, wie schon im Asylverfahren, eine Mitwirkungspflicht der Betroffenen bei der Identitätsfeststellung vorgeschrieben wird. Das unterstützen wir Freien Demokraten.
Einen deutlichen Kritikpunkt will ich hier allerdings herausstellen. Wir lehnen ab, dass die bei der Identitätsprüfung erfassten Informationen mit anderen Datenbanken zum Zwecke der Strafverfolgung abgeglichen werden. Die damit möglicherweise verbundene erzwungene Selbstbelastung ist bedenklich und mit rechtsstaatlichen Grundsätzen kaum vereinbar.
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Wir hätten uns daher sehr von Ihnen gewünscht – dann hätten wir diesem Gesetzentwurf mit weniger Vorbehalten zugestimmt –, wenn die Koalition auf diese Änderung in letzter Minute verzichtet hätte.
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Trotzdem werden wir im Ergebnis heute zustimmen. Denn die nachträgliche Klärung Hunderttausender ungesicherter Identitäten ist ein wichtiger Beitrag, um Versäumnisse der Vergangenheit zu beheben und Vertrauen in die Integrität der Asylverfahren wiederherzustellen. Ich weiß, die Kolleginnen und Kollegen von den Linken und Grünen sehen das anders. Das ist auch ihr gutes Recht. Demokratie lebt von diesen Unterschieden.
Allerdings – das möchte ich hier auch sagen – verwahre ich mich entschieden gegen die Vorwürfe und Unterstellungen, die Sie mit Ihrer Ablehnung dieses Anliegens verbinden. Das mussten wir gestern auch in den Debatten im Ausschuss erleben, als Sie abstruse Verschwörungstheorien gesponnen haben. Die Überprüfung von 800 000 Schutzberechtigten haben Sie da als eine Abwicklung der Politik von Angela Merkel bezeichnet. Und den Befürwortern des Gesetzes vorgeworfen, unmenschliche Schikanen zu betreiben oder einen Generalverdacht zu erheben. Man kann, ja man muss dieser Koalition vieles vorwerfen. Wir müssen aber auch unterschiedliche Positionen aushalten. Ich finde, man kann der Regierung nicht vorwerfen, dass sie nicht gezeigt hätte, Verfolgten aus aller Welt in Deutschland Zuflucht bieten zu wollen.
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Für uns Freie Demokraten ist die Bewahrung und Verteidigung des Asylrechts ein wichtiges Anliegen. Unsere menschliche, humanitäre Haltung lassen wir uns nicht von Ihnen absprechen.
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Wir wollen Menschen in Not helfen. Aber unsere Überzeugung ist auch, dass wir dazu das Recht politisch so gestalten müssen, dass es nicht nur dem Wunsch, sondern auch der Wirklichkeit genügt. Und dass es dazu beiträgt, Vertrauen und breite Akzeptanz in unser Asylsystem auf Dauer zu sichern. Dem dient nach unserer Überzeugung auch der vorliegende Gesetzentwurf. Darum stimmen wir ihm zu.
Vielen Dank.
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Das Wort hat Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit ihrem Gesetzentwurf will die Bundesregierung eine neue Mitwirkungspflicht für anerkannte – ich betone noch mal: anerkannte – Flüchtlinge im Widerrufsverfahren schaffen. Das ist in der Tat das Gegenteil dessen, was Die Linke seit vielen Jahren fordert. Wir wollen nämlich die Abschaffung der anlasslosen – ich betone noch mal: anlasslosen – Regelüberprüfung nach drei Jahren. Das ist übrigens innerhalb der EU nur in Deutschland und in Österreich so.
Meine Damen und Herren, bereits jetzt ist es so, dass drei Jahre nach der Zuerkennung eines Schutzstatus geprüft wird, ob die Asylgründe fortbestehen,
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und zwar ohne konkreten Anlass. Das halten wir insgesamt für einen bürokratischen Aufwand, der sich eher für qualifizierte Arbeit und die Qualifizierung im BAMF lohnen würde.
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Herr Lindh, ich will Ihnen das gerne anhand einiger Zahlen noch einmal erläutern. Bei 43 000 Entscheidungen im Widerrufsverfahren im ersten Halbjahr 2018 wurde in 99,3 Prozent der Fälle der Schutzstatus bestätigt. Ganz ähnlich sieht die bisherige Bilanz aus, wenn es um die vorgezogenen Widerspruchsprüfungen geht, die sich vor allem auf rein schriftliche Anerkennungsverfahren beziehen. Auch hier hatten nur 1,2 Prozent der bislang überprüften 11 000 Anerkennungsbescheide einen Widerruf oder eine Rücknahme zur Folge. Wie viele Entscheidungen einer gerichtlichen Überprüfung standhalten, wird sich noch zeigen.
Neu ist, dass Flüchtlinge künftig zur sogenannten Mitwirkung verpflichtet werden.
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Wer nicht mitwirkt, soll bestraft werden, bis hin zur Aberkennung des Schutzstatus. Angesichts dessen, dass die allermeisten den Schutzstatus besitzen, ist das doch reine Schikane den Betroffenen gegenüber.
Zwei ganz reale Effekte haben die Widerspruchsprüfungen aber schon. Bei den betroffenen Flüchtlingen und ihren Familien führen sie zu enormen Verunsicherungen. Dabei ist eine Aufenthaltsperspektive eine ganz wichtige Voraussetzung für den Heilungserfolg beispielsweise bei traumatisierten Menschen. Das haben im Übrigen auch viele Sachverständige am Montag betont. Außerdem binden die anlasslosen Widerrufsprüfungen enorme Kapazitäten im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Anstatt mit diesem Unsinn aufzuhören, will die Bundesregierung die Überprüfung sogar noch intensivieren. In ihrem Gesetzentwurf kündigt die Bundesregierung für 2018/2019 insgesamt 500 000 Widerrufsprüfungen an. Bis 2020 sollen es fast 800 000 sein. Es drohen also erneut 100 000-fach sinnlose Verhöre von Schutzsuchenden durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Der Präsident, Herr Sommer, übrigens hat in der Anhörung selbst gesagt, dass das Amt in den nächsten Jahren hauptsächlich mit Widerrufsverfahren beschäftigt sein wird. Selbst er hat vorgeschlagen, wenigstens die Zeit bis zu einer Überprüfung auf fünf Jahre zu verlängern.
Die Konsequenzen sind absehbar. Die Überforderung des BAMF wird wieder zulasten der Qualität der Bescheide gehen. Die Schutzsuchenden sind die Leidtragenden. Deshalb will Die Linke, dass die anlasslosen Widerrufsprüfungen ersatzlos abgeschafft werden. Wenn es einen Anlass gibt, kann jederzeit eine Prüfung durchgeführt werden. Aber das wird hier einfach so vom Tisch gewischt. Hat sich zum Beispiel die Lage im Herkunftsland verändert, oder gibt es tatsächlich Anlässe wie bei Anis Amri? Dann wird in der Tat genau geprüft.
Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. – Herr Seif, es lag im Fall Anis Amri an ganz anderen Fehlern als am Verfahren. Wir reden heute aber über das Verfahren. Polizeiliche, Verfassungsschutzfehler wurden gemacht. Das wissen Sie selber ganz genau.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Polat das Wort.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung erinnert mich doch sehr stark an eine Aussage von Einstein: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ Nichts anderes kann man zu diesem Gesetzentwurf sagen.
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Ich möchte auf die Vorwürfe von Kollegin Teuteberg eingehen. Wir reden hier über einen Gesetzentwurf, der scheinbar sehr technisch daherkommt. Wir ändern ein, zwei Paragrafen im Asylgesetz. Aber wir müssen uns bewusst machen, dass wir hier von den Menschen sprechen, die im Wesentlichen 2015/2016 gekommen sind und mit langen Verfahren konfrontiert waren, weil das BAMF nicht vorbereitet und durch das Bundesministerium des Innern nicht ausreichend mit Personal ausgestattet war, um die Asylverfahren zügig abzuarbeiten. Diese Menschen haben auf den Asylbescheid gewartet und ihn schließlich bekommen. In der Zeit haben Kommunen und Länder kompensiert, auch bei Integrationskursen. Dieser ganze Aufwand sowie die Bemühungen und die Anstrengungen, die wir und vor allem die Länder und Kommunen sowie auch die Mitarbeiter des BAMF unternommen haben, wollen Sie nun sukzessiv infrage stellen.
Denn was besagt dieser Gesetzentwurf? Die Begründung des Gesetzentwurfs und das, was Herr Dr. Sommer, der Präsident des BAMF, in der Anhörung gesagt hat, sind interessant. Asylberechtigte, die eine Anerkennung nach der Genfer Flüchtlingskonvention haben, subsidiär Geschützte und Personen, die ein Abschiebungsverbot erhalten haben, sollen systematisch und – Frau Kollegin Jelpke hat darauf hingewiesen – anlasslos überprüft werden. Das heißt, wir wiederholen das Jahr 2015. Wir schalten auf Reset, und alle werden im Zweifelsfall noch einmal vor das BAMF vorgeladen. Das ist der Wahnsinn! Das können wir so nicht unterstützen.
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Ich möchte auf die europarechtlichen Aspekte, auf die Sie nicht eingegangen sind, zu sprechen kommen. Hier ist die Qualifikationsrichtlinie einschlägig, die ein wesentlicher Bestandteil der Sachverständigenanhörung war. Ich möchte gerne aus der Sachverständigenstellungnahme des Deutschen Anwaltvereins zitieren, wonach „ein Verfahren auf Aberkennung oder Beendigung des internationalen Schutzes erst und nur dann zulässig ist, wenn neue Elemente oder Erkenntnisse zutage treten, die einen Grund für ein Erlöschen oder zumindest eine Überprüfung der Berechtigung des internationalen Schutzes darstellen“. Sie sagen aber einfach: Wir überprüfen alle 800 000, und zwar anlasslos.
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Das Problem an der Sache ist: Sie gehen noch weiter. Sie sagen: Die Personen sollen mitwirken an ihrer Aberkennung.
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Die Betreffenden wissen gar nicht, warum, weil sich die Lage im Herkunftsland gar nicht verändert hat.
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Wenn sie nicht mitwirken an dieser Prüfung, dann können sie mit Zwangsgeld belegt werden.
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Das ist absoluter Irrsinn, meine Damen und Herren, und das können wir so nicht mitmachen.
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Dann zu der Politik, die Sie damit verbinden. Sie sagen, dass Sie der Bevölkerung Sicherheit geben wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie erwecken gerade den Eindruck, dass die Behörden nicht systematisch qualitativ gut gearbeitet haben. Das stimmt sogar. Aber uns wurde bestätigt: Beim vermeintlichen Fall in der Bremer Außenstelle des BAMF, die angeblich systematisch falsche Bescheide ausgestellt haben sollte, ist nichts herausgekommen. Das war nur ein Beispiel.
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Sicherlich ist jeder Einzelfall wichtig. Aber hier hat sich gezeigt, dass trotz des Versagens des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Asylbewerberinnen und Asylbewerber nicht systematische Täuscherinnen und Täuscher sind, wie Sie das hier darstellen.
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Von daher können wir diesen Gesetzentwurf nur ablehnen.
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Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Michael Kuffer.
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Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verfolgen wir als Koalition weiterhin konsequent den Weg einer wirkungsvollen Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung nach Deutschland. Wir schließen damit eine Lücke im bestehenden Regelwerk in Bezug auf die Mitwirkungspflichten von Asylbewerbern im Verfahren und sorgen so für eine konsistente Rechtsordnung. Diese Änderung ist sinnvoll, sie ist stimmig, und sie ist begrüßenswert. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir die Mitwirkung der Antragsteller sowohl im Antragsverfahren als auch bei der Prüfung eines möglichen Widerrufs erwarten dürfen. Es geht nicht nur darum, auf sauberem rechtsstaatlichem Weg das Vorliegen bzw. ein mögliches Entfallen des Asylanspruchs zu prüfen. Vielmehr geht es auch darum – das will ich deutlich sagen –, dass wir von denjenigen, die unsere Hilfe in Anspruch nehmen, ein gewisses Maß an Kooperation und an Loyalität zu dieser unserer Rechtsordnung erwarten und einfordern dürfen.
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Wenn jemand, liebe Kolleginnen und Kollegen, in Deutschland Schutz sucht, kann es nicht zu viel verlangt sein, dass er bei der Prüfung seines Gesuchs die entsprechende Mithilfe leistet.
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Dies erwarten wir, und so ist es für die Asylantragstellung in § 15 Asylgesetz bereits festgeschrieben. Wir dürfen dies auch bei der Prüfung eines möglichen Widerrufs oder einer Rücknahme erwarten.
Die Freiwilligkeit hat hier bisher – das zeigt uns die Praxis – zu wünschen übrig gelassen. Deshalb ist es gut, dass wir mit der heutigen Gesetzesänderung hier ein wenig nachhelfen und damit eine Lücke schließen. Mit Blick auf die nun anstehenden Prüfverfahren der in 2015 und 2016 getroffenen Asylentscheidungen durch das BAMF geben wir dem Amt dafür das nötige Werkzeug in die Hand.
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Um eines noch klarzustellen, was hier in der Debatte immer wieder falsch intoniert worden ist: Mit dem, was wir heute hier beschließen, schaffen wir mitnichten eine neue Rechtslage in Bezug auf die Durchführung der Prüfverfahren. Es ist nichts weiter als eine Falschbehauptung vor allem der Linken, wie sie unter anderem im Innenausschuss von ihnen immer wieder wiederholt worden ist; aber sie ist dadurch nicht richtiger geworden. Deshalb Achtung: Alle Asylentscheidungen stehen bereits heute nach geltendem Recht spätestens nach drei Jahren zur Überprüfung an. In § 73 Absatz 2a Satz 1 Asylgesetz ist das bereits heute kodifiziertes Recht.
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Ich will Ihnen auch sagen, weil Sie immer von anlassloser Überprüfung sprechen: Natürlich gibt es Anlass für diese Überprüfung.
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Da geht es gar nicht um die systematische Unterstellung von Falschbescheiden. Wir haben im Jahr 2015 eine extreme Belastungssituation gehabt. Das Amt hat unter einer immensen Überlastung Entscheidungen treffen müssen. Wir haben von unserer Bevölkerung in Deutschland Loyalität und Hilfsbereitschaft eingefordert. Man kann nicht oft genug wiederholen: Es entspricht der geschuldeten Gegenleistung hierfür von uns als Gesetzgeber, dass wir für das nötige Vertrauen sorgen und sagen: Jetzt, wo die Lage wieder unter Kontrolle ist, werden die Dinge in Ruhe angeschaut und im Nachhinein noch mal einer Überprüfung zugeführt.
({5})
Vielen Dank.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hans-Jürgen Irmer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Seif hat völlig zu Recht darauf hingewiesen: Die Mitwirkungspflicht im Asylbereich gibt es bereits. Wir dehnen sie aus, und zwar auf den Bereich der Widerrufs- und Rücknahmeverfahren. Das ist auch richtig so. Frau Kollegin Polat, wenn Sie Bremen als Beispiel heranziehen: Das ist deshalb untauglich, weil da genau bei diesen Fällen diese Mitwirkungspflicht nicht bestanden hat. Deshalb ist es nicht vergleichbar.
({0})
Meine Damen und Herren, wir sagen auch: Klagen haben keine aufschiebende Wirkung; auch das ist richtig. Wir erweitern die Möglichkeiten der erkennungsdienstlichen Behandlung – auch das ist richtig –, und wir erweitern die Möglichkeiten des Datenaustausches; das ist ebenso richtig. Wir wissen aus der Vergangenheit – es ist mehrfach gesagt worden; gemeint sind die Jahre 2015, 2016 –: Natürlich gab es Missbrauch. Natürlich gab es Täuschungen. Natürlich gab es gefälschte Pässe. Also wir wissen: Es gab Missbrauch. Was wir machen müssen, ist, genau diesen Missbrauch zu verhindern.
({1})
Dem dient dieser Gesetzentwurf.
Eigentlich ist es doch traurig, dass wir etwas regeln müssen, von dem wir erwarten können, dass es selbstverständlich ist. Ich frage mich immer: Was würde ich eigentlich tun, wenn ich in einer Situation wäre, dass ich von Folter, von Verfolgung bedroht wäre, sodass ich mein Haus, meine Wohnung, meine Heimat verlassen müsste? Was würde ich machen, wenn mich ein Land aufnehmen würde? Ich persönlich wäre diesem Land unendlich dankbar dafür, dass es mich aufnimmt, wäre kooperationsbereit und würde selbstverständlich all die Daten zur Verfügung stellen, die genau dieses Land haben will.
({2})
Das erwarten wir logischerweise auch von denen, die jetzt hierhergekommen sind.
({3})
– Sie können jetzt noch so viel dazwischenreden, Frau Kollegin Polat: Das Mikrofon habe ich. Deshalb bin ich ausnahmsweise etwas lauter.
Wir erleben doch Folgendes – es ist nach wie vor aktuell –: Etwa 70 Prozent all derer, die hierherkommen, kommen ohne entsprechende Passpapiere. 80 Prozent der Afghanen, 89 Prozent der Eritreer, 90 bis 97 Prozent derjenigen aus Somalia, Nigeria, Gambia kommen ohne Papiere hierher. Meine Damen und Herren, das ist völlig inakzeptabel.
({4})
Sie machen es aus einem ganz bestimmten Grund – das wissen wir doch –: Der größte Anteil derer, die hierherkommen, kommt aus wirtschaftlichen Gründen. Das ist menschlich durchaus verständlich;
({5})
aber dies ist, Frau Kollegin, nun einmal kein Asylgrund.
({6})
Insofern müssen wir den Missbrauch aus zweierlei Gründen verhindern:
Das eine ist: Viele Menschen in Deutschland gehen jeden Morgen zur Arbeit und bezahlen fleißig Steuern. Sie haben ein Recht darauf, dass wir als Staat mit ihrem Geld anständig und ordnungsgemäß umgehen.
Das Zweite ist: Wir müssen diesen Missbrauch verhindern im Sinne der Asylbewerber, die ihren Antrag völlig zu Recht gestellt haben und entsprechende Leistungen bekommen. Sie leiden mehr unter dem Missbrauch als diejenigen – –
({7})
– Frau Kollegin Polat, Sie müssen schon ertragen, dass ich etwas sage, was viele Menschen in diesem Lande umtreibt – und mich genauso.
({8})
Wenn Sie wollen, dass das Grundrecht auf Asyl in der Bevölkerung auf Dauer Akzeptanz behält – was wir alle wollen; ich sage das ausdrücklich –, dann müssen Sie alles daransetzen, dass dieser Missbrauch verhindert wird.
({9})
Genau diesem Ziel dient dieser Gesetzentwurf. Er ist richtig, er ist gut, und er geht in die richtige Richtung.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Asylgesetzes. Der Ausschuss für Inneres und Heimat empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5590, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/4456 und 19/4548 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der AfD vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 19/5610? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der AfD-Fraktion abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der AfD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der AfD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/5611 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der AfD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Zusatzpunkt 8. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Obligatorische Altersfeststellung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5584, den Antrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/471 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der AfD-Fraktion angenommen.
Ich sage Ja zu deutschem Wasser, meine Damen und Herren – das auch um diese Uhrzeit.
({0})
Späte Stunde! Ein Thema für Feinschmecker; ich bin froh, dass sich noch so viele Feinschmecker hier in diesem Rund finden, meine Damen und Herren.
({1})
Der vorliegende Gesetzentwurf soll die Ruhebezüge des Bundespräsidenten neu regeln. Der Bundespräsident erhält zurzeit nach dem Ausscheiden aus dem Amt lebenslang einen sogenannten Ehrensold – vielleicht sollte man über die Bezeichnung auch noch mal nachdenken; sie ist nicht von uns, sondern steht so drin – von 100 Prozent. Das ist ein Ehrensold von zurzeit rund 20 000 Euro im Monat bis zum Lebensende nach dem Ausscheiden aus dem Amt. Wir von der AfD halten diese Altersversorgung für unangemessen. Solch eine Besserstellung Einzelner auf Kosten der Gemeinschaft ist anstößig, meine Damen und Herren.
({2})
Diese Vollalimentierung ist außerdem unfair gegenüber all denjenigen, die nur mit Abschlägen in Rente gehen können; denn in Deutschland erhält niemand im Ruhestand das, was er zuvor erhielt. Bei uns gilt der Grundsatz: Wer nicht mehr arbeitet, der bekommt weniger. Das sollte auch für den Bundespräsidenten gelten.
({3})
Daher – das wird jetzt vielleicht die Damen und Herren von der linken Seite interessieren – ist dieser Antrag durchaus einer, den man auch unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit subsumieren kann. Deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht, mit dem die Ruhebezüge des Bundespräsidenten vom heutigen Stand aus gesehen halbiert werden sollen. Sie sollen auf den Stand gebracht werden, der bis 1959 bestand. Wir erfinden also das Rad nicht neu; wir greifen das wieder auf, was 1959 geändert wurde. Denn auch 10 000 Euro im Monat sollten reichen, um einen angemessenen Lebensabend zu verbringen, meine Damen und Herren.
({4})
Außerdem wollen wir, dass zukünftig private Einkünfte des Bundespräsidenten im Ruhestand angerechnet werden, also Einkünfte, die er durch einen Beruf, den er danach wieder ergreift oder neu ergreift, bezieht. Auch das ist das Normalste in der Welt.
Wir führen in Deutschland seit vielen Jahren eine Debatte um Altersarmut. Wir streiten über Gerechtigkeit im Rentensystem. Nichts treibt die Bürger draußen so sehr um, meine Damen und Herren – Sie vielleicht nicht; Sie haben Ihre Rente ja sicher –,
({5})
wie die finanzielle Absicherung ihres Lebensabends. Der durchschnittliche Rentner erhält 900 Euro monatlich und damit nicht einmal 10 Prozent dessen, was ein Bundespräsident erhält. Wenn also aus dem Staatsaushalt binnen weniger Jahre Millionenbeträge für die zurzeit drei zu alimentierenden Bundespräsidenten ausgezahlt werden, dann ist das ungerecht. Und wenn ehemalige Repräsentanten unseres Staates nach dem Rückzug aus der Politik weiterhin bezahlten Tätigkeiten nachgehen, ohne dass sie angerechnet werden, dann ist auch das ungerecht. Darüber muss geredet werden, meine Damen und Herren, und das muss abgeschafft werden.
({6})
– Wenn Sie von der FDP klatschen wollen, machen Sie es; haben Sie keine Hemmungen.
Wie oft mussten wir in den vergangenen Tagen und Monaten jedoch hören, dass es sich nicht zieme, über heikle Themen zu sprechen. Offenbar gehören zu den ganz heiklen Themen in diesem Haus auch die Bundespräsidenten. Nachdem wir zu Beginn der Haushaltsverhandlungen über den Einzelplan 01, den Einzelplan des Bundespräsidenten, sprechen wollten, hat der für die Verfassung zuständige Innenminister Seehofer uns vorgeworfen, wir wären „staatszersetzend“ und planten einen Frontalangriff auf den Bundespräsidenten.
({7})
Übrigens haben wir diese Äußerung von Herrn Seehofer vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen. Ich verrate Ihnen mal ein Geheimnis: Das Bundesverfassungsgericht hat heute darüber entschieden und wird morgen veröffentlichen, ob wir von der AfD recht haben oder nicht. Ich habe keinen Zweifel daran, dass wir recht haben.
Meine Damen und Herren, das Amt des Bundespräsidenten soll nicht beschädigt werden. Doch dürfte die Frage berechtigt sein, ob dieses Amt nicht schon längst beschädigt ist.
({8})
Ich erwähne das Verhalten und die Umtriebe des ehemaligen Bundespräsidenten Wulff. Ich erwähne Herrn Gauck, der seine Augen vor gesellschaftlichen Problemen verschloss, solange er im Amt war, und erst danach vor Parallelgesellschaften und den drängenden Problemen draußen warnte.
Dem Ganzen die Krönung aufgesetzt, meine Damen und Herren, hat jedoch Ihr Herr Steinmeier,
({9})
der das Amt so nachhaltig beschädigt hat wie noch keiner seiner Vorgänger.
({10})
Er machte Werbung für sogenannte Musikgruppen, die öffentlich Gewalt gegen Frauen und Polizisten verherrlichen und primitive Gewaltfantasien von den Bühnen heruntergrölen. Ein Bundespräsident, der, statt sich hinter die Staatsgewalt und die öffentliche Ordnung zu stellen, linke und linksextremistische Umtriebe gutheißt und bewirbt.
({11})
Einem solchen Staatsoberhaupt mit Respekt zu begegnen, fällt sehr schwer. Einem Staatsoberhaupt mit Respekt zu begegnen, der seinem Volk nicht mit Respekt begegnet, fällt noch schwerer.
({12})
Meine Damen und Herren, in einer Demokratie muss über alles und jeden gesprochen werden. Dazu gehört auch der Bundespräsident, das, was er so tut, und auch seine Ruhestandsbezüge – deshalb dieser Antrag. Auch wenn Sie hier ein anderes Bild vermitteln: Eigentlich müsste dieser Antrag mehrheitsfähig sein;
({13})
denn auch die SPD, die Linken und die Grünen haben sich schon Gedanken darüber gemacht: Die SPD möchte eine Staffelung nach Amtsdauer, die Linken möchten die Anrechnung der Bezüge des Bundespräsidenten, und auch die Grünen sagen, dass gestaffelt werden sollte, je nachdem, wie lang der Bundespräsident im Amt ist; danach müsste sich die Höhe seiner Bezüge richten.
({14})
Wir haben also das Beste von dem, was Sie in den letzten Jahren dazu gesagt haben, zusammengefasst, meine Damen und Herren, und in unseren Gesetzentwurf gepackt.
({15})
Wir gehen deshalb davon aus, dass, wenn Sie das ernst meinen, was Sie die letzten Jahre erzählt haben, Sie unserem Gesetzentwurf – vielleicht nicht heute, aber nach den Beratungen im zuständigen Ausschuss – zustimmen werden.
({16})
Herr Brandner, ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Ich bin am Ende und verspreche Ihnen auch, dass ich zumindest so lange hier sitzen bleiben werde, bis der Letzte von Ihnen sich zu diesem Thema heute geäußert hat.
({0})
Vielen Dank.
({1})
Der Beitrag des Abgeordneten Marc Henrichmann aus der Unionsfraktion soll zu Protokoll genommen werden. Ich gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Konstantin Kuhle für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn die Äußerungen im Plenum, wenn die Äußerungen im Amt Gradmesser für die Bezahlung sind, dann müssen manche Fraktionen hier im Haus noch Geld mitbringen.
({0})
Eine Bundespräsidentin bzw. ein Bundespräsident, die oder der aus dem Amt scheidet, erhält nach dem Ende der Amtszeit einen Ehrensold in Höhe von rund 200 000 Euro. Das ist eine ganze Stange Geld. Das ist eine solche Stange Geld, dass man das mit Fug und Recht hinterfragen kann, gerade angesichts der Tatsachen, dass die Lebenserwartung steigt, dass wir jüngere Bundespräsidenten haben und dass Amtszeiten kürzer werden. Deswegen ist es auch völlig richtig, darüber zu diskutieren, wie man diese Versorgung ausgestaltet.
Es ist aber nicht richtig, das Ganze isoliert zu betrachten, weil wir gerade angesichts der aufgeheizten Stimmung, die wir im Land haben, insgesamt darüber diskutieren sollten, wie man eigentlich demokratische Institutionen reformiert. Es ist durchaus so, dass wir bestimmte Aspekte aus dem Amt des Bundespräsidenten auf andere Ämter übertragen könnten. Es ist zum Beispiel den Bürgerinnen und Bürgern überhaupt nicht zu vermitteln, warum die Amtszeit eines Bundespräsidenten auf zwei limitiert ist, während der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin immer wiedergewählt werden darf. Bei einer solchen Reform sollten wir also gleich die Begrenzung auf zwei Amtszeiten vom Bundespräsidenten auf die Kanzlerin oder den Kanzler übertragen.
({1})
Das wäre mal ein Beitrag zur Diskussionskultur, zur politischen Kultur,
({2})
und das würde dann auch einen wirklichen Mehrwert bringen.
Meine Damen und Herren, ein zweiter Grund, warum wir an dieser Stelle diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen können, ist der Duktus, mit dem das Ganze vorgetragen ist, und ist der Hintergedanke, ist der Stil, in dem das hier ins Parlament eingebracht wird. Der einzige Grund, warum solche Vorlagen hier vorgelegt werden, ist die Verächtlichmachung demokratischer Institutionen.
({3})
Das muss man am Vorabend des 100. Jubiläums der Ausrufung der Weimarer Republik, die wir morgen hier gemeinsam miteinander noch feiern werden, einmal sagen.
({4})
Die Rechtspopulisten und die rechten Feinde der Republik haben schon in den 20er-Jahren auch nicht vor dem Staatsoberhaupt Friedrich Ebert haltgemacht und ihn in den Dreck gezogen, ihn in Badehose gezeigt, sich über ihn lustig gemacht.
({5})
Weil die Hetze und weil die Häme über das Staatsoberhaupt in der deutschen Geschichte immer auch ein Vehikel war, um die demokratischen Institutionen – Bundesrepublik Deutschland, Weimarer Republik, Verfassung insgesamt – in den Dreck zu ziehen, deswegen ist dieser Gesetzentwurf hier keine gute Diskussionsgrundlage und sollte final abgelehnt werden.
({6})
Helge Lindh spricht nun für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Machen wir es kurz und schmerzlos – Wesentliches hat Herr Kuhle schon gesagt –: Wenn es Ihnen im Übrigen auch um die Sache ginge oder auch nur annähernd um die Fragestellung, hätten Sie auch mal Berichterstatter kontaktieren können, gucken können, wie sich die anderen Fraktionen dazu stellen.
({0})
Darum ging es Ihnen ja gar nicht; denn die eigentliche Zielrichtung ist die Denunzierung dieses Amts und der Demokratie. Das ist auch kein Geheimnis. Sie haben das eben in Ihrer Rede trefflich demonstriert. Davon zeugt auch dieser Gesetzentwurf.
({1})
Zum Zweiten brauchen wir nicht Sie, um Prüfberichte des Bundesgerichtshofs zur Kenntnis zu nehmen.
({2})
Um selber zu überlegen, ob und in welcher Weise es Reformbedarf gibt, dazu braucht es gewiss niemanden und erst recht nicht die AfD-Fraktion.
Es geht aber um noch mehr. Es gibt noch eine Geschichte hinter diesem Ganzen, und das hat nicht nur damit zu tun, die Demokratie oder dieses Amt verächtlich zu machen. Das hat mit Ihrer Grundhaltung gegenüber diesem Parlament zu tun. Ich erinnere mich bestens an die letzten Haushaltsverhandlungen, in denen es einen Antrag von Ihnen gab, den Etat des Verfassungsschutzes auf null zu setzen – auf null!
({3})
Interessanterweise sind Sie ja große Apologeten von Herrn Maaßen. Vielleicht war das auch ein Plan, dann selber nicht beobachtet zu werden.
({4})
Die Begründung von Herrn Boehringer – hören Sie jetzt mal genau zu! – war aber, es sei Protest, weil Sie in Gremien nicht hinreichend berücksichtigt würden. Was für ein Respekt vor dem Haushaltsausschuss, vor dem Parlament, vor Verfassungsorganen spricht daraus?
({5})
Das hat bei Ihnen System.
Stufe zwei: Haushaltsdebatte 11. September. Sie wollten gegen jeden Komment, jeden Usus plötzlich zum Etat des Bundespräsidenten debattieren.
({6})
Was war aber der Grund? Irgendwelche Fragen zu diesem Haushalt? Nein!
({7})
Der einzige Grund war, dass Sie ihn anklagen wollten, denunzieren wollten – wegen des Konzerts in Chemnitz.
({8})
Steinmeier schlechtzumachen, war der einzige Ansatz Ihres Antrags damals, und es ist auch die einzige Absicht, die hinter Ihrem heute vorliegenden Gesetzentwurf steht.
({9})
Ich zitiere mal Herrn Brandner, der ja da ist und bis zum Ende bleibt.
({10})
Am 20. September 2017 haben Sie sich in Erfurt mit der Äußerung berühmt-berüchtigt gemacht, eine syrische Familie – ich zitiere – bestehe aus Mutter, Vater und zwei Ziegen. – So viel zu Ihrem demokratischen Format.
({11})
Zum Bundespräsidenten Steinmeier stellen Sie weiter fest – ich zitiere –:
Außerdem ist er aufgrund seiner offenen Unterstützung einer gegen unsere freiheitlich demokratische Grundordnung kämpfenden Bande nun ein Fall für den Verfassungsschutz!
Das sagen Sie.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ach nee.
Okay.
Nein, es ist nicht nötig.
({0})
Herr Brandner, hören Sie mir zu! Sie lernen fürs Leben, für die Politik. Ich rede weiter.
({1})
Sie weisen an anderer Stelle noch darauf hin, dass Sie an den Artikel 61 unseres Grundgesetzes denken. Sie wollen also womöglich strafrechtlich gegen den Bundespräsidenten vorgehen.
Herr Pazdersky aus Berlin – ich zitiere wiederum –:
Die AfD lehnt Hass und Gewalt ab und verurteilt jede Form, derartige Botschaften zu verbreiten.
Das sind 15 Wörter und 13 Lügen. Das muss man erst mal schaffen.
({2}))
Nächster Satz:
Entsprechend prüfen wir nun mögliche rechtliche Schritte gegen den Bundespräsidenten.
Es geht noch weiter. Frau Weidel – leider nicht da –
({3})
am 23. August dieses Jahres – ich zitiere –:
Die Äußerungen des Bundespräsidenten ... grenzen an Demagogie. Es ist die Politik, die „Bürger erster und zweiter Klasse“ geschaffen hat, indem sie in großem Stil die doppelte Staatsbürgerschaft vor allem bei türkischen Migranten hinnimmt.
Und so weiter, und so fort.
Dann spricht sie im Zusammenhang mit Herrn Steinmeier von dem „unter Rot-Grün beschrittenen Irrweg automatischer Einbürgerungen nach dem Territorialprinzip“.
Sie haben es in Ihrer Rede gezeigt. Sie zeigen es in Ihren Zitaten. Das ist der Inbegriff populistischer Politik: einen Gesetzentwurf zu machen, der vorgibt, sich ernsthaft mit dem Amt des Bundespräsidenten und der Frage des Ehrensolds auseinandersetzen zu wollen. Nicht das ist der Zweck. Der einzige Zweck ist, das Amt des Bundespräsidenten und diese Demokratie infrage zu stellen und in Sonderheit Frank-Walter Steinmeier infrage zu stellen und als Gegner dieses Landes darzustellen. Das wird Ihnen nicht gelingen.
({4})
Herr Steinmeier ist jemand, auf den wir stolz sein können; denn er hat die Stimme gegen Ihren Ungeist erhoben, und er hat zu Recht zum Besuch des Konzerts in Chemnitz aufgerufen. Gut, dass es Steinmeier gibt! Nicht gut, dass es die AfD gibt!
Vielen Dank.
({5})
Zu einer persönlichen Erklärung erteile ich das Wort dem Kollegen Brandner.
Herr Präsident, vielen Dank für die Gelegenheit. – Eine Frage zunächst an Herrn Lindh.
Keine Frage! Sie geben bitte eine persönliche Erklärung ab.
Bin ich falsch informiert, dass die SPD im November 2012 einen ähnlichen Antrag eingebracht hat?
({0})
Herr Kollege Brandner, –
Ich bin dabei.
– eine persönliche Erklärung –
Ja.
– ist keine Frage und auch keine Kurzintervention. Wenn Sie etwas zu erklären haben, machen Sie es bitte.
Herr Lindh, Sie haben hier vorn gerade ein mutmaßliches oder vermeintliches Zitat von mir erwähnt und gesagt, ich hätte gesagt: Eine syrische Familie besteht aus Vater, Mutter und zwei Ziegen. – Herr Lindh, ich weise dieses zurück. Dieses Zitat ist von Ihnen frei erfunden. Das habe ich nie gesagt. Sie haben es aus den Medien abgeschrieben, die seit über einem Jahr dieses falsche Zitat über mich verbreiten.
Das Zitat war sinngemäß – das kann jeder auf Facebook, in den sozialen Medien nachlesen; in die Zeit ab der Minute neun meiner Erfurter Rede fällt das, was ich sage –, und ich sage sinngemäß, dass man nach dem, was der damalige Innenminister de Maizière geäußert hatte, wohl davon ausgehen könne, dass er meine, eine syrische Familie bestünde aus Vater, Mutter und zwei Ziegen.
({0})
Dann geht das Zitat mit mir weiter: Ich hingegen meine: Das ist nicht der Fall. Sondern eine syrische Familie besteht aus Vater, Mutter und Kindern. – Das wäre das korrekte Zitat gewesen, Herr Lindh.
Also, verbreiten Sie hier nicht solche unverschämten erfundenen Lügen über mich!
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Niema Movassat für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Brandner, Sie sagten: Wenn man untätig ist, kriegt man weniger Geld. – Wenn ich mir die Reihen der AfD bei Ihrem eigenen Gesetzentwurf anschaue, müssten da ordentliche Gehaltsabzüge kommen.
({0})
Dann sage ich Ihnen: Sie haben es in Ihrem Gesetzentwurf kaschiert, aber in Ihrer Rede hier gezeigt, um was es Ihnen wirklich geht:
({1})
Ihnen geht es mal wieder darum, politisch Andersdenkende mundtot zu machen.
({2})
Ihnen geht es darum, Bundespräsidenten, die Haltung gegen rechts zeigen, zu attackieren. Dagegen werden wir uns wehren, und deshalb werden wir Ihren Gesetzentwurf natürlich ablehnen.
({3})
Sie stört es, dass ein Bundespräsident Wulff gesagt hat: Der Islam gehört zu Deutschland.
({4})
– Jetzt halten Sie mal den Mund, und hören Sie zu! Dann lernen Sie was.
({5})
Sie stört es, dass der Bundespräsident Wulff gesagt hat: Der Islam gehört zu Deutschland.
({6})
Herr Kollege Braun, Sie können einen Zwischenruf machen, aber nicht niederbrüllen.
({0})
Sie stört es, dass Herr Gauck sich gegen Nazispinner gestellt hat und die Gesellschaft aufgerufen hat, gegen Nazispinner aufzustehen. Sie stört es, dass Herr Steinmeiner gegen Ihre den Hitlergruß zeigenden Freunde in Chemnitz das Wort erhoben hat. Das alles stört Sie, und das ist der Grund für Ihren heute vorliegenden Gesetzentwurf.
({0})
Was das Thema selber angeht, ist es natürlich so, dass man über den Ehrensold reden muss.
({1})
Natürlich ist es in der Gesellschaft nicht nachvollziehbar, wenn jemand sein Leben lang sozusagen volle Bezüge als Rente bekommt. Das ist schwer nachvollziehbar. Darüber muss man nachdenken, weil das den Menschen draußen auf der Straße nicht vermittelbar ist. Aber das Thema eignet sich eben nicht für politische Instrumentalisierung. Und genau diese politische Instrumentalisierung betreiben Sie heute mit Ihrem Gesetzentwurf.
({2})
Wenn man sich ernsthaft mit diesem Thema befassen möchte, dann muss man im Haushaltausschuss – dort gehört es hin – darüber diskutieren und sich um eine gemeinsame Lösung bemühen. Dann geht es nicht nur um den Ehrensold, dann geht es insgesamt um die Frage der Versorgung von Altersbundespräsidenten, um Kosten für Arbeitsräume und für Mitarbeiter. Soweit ich weiß, gibt es ja bei vielen Fraktionen mittlerweile einen Konsens, dass zum Beispiel Altersbundespräsidenten in Räumlichkeiten des Bundestages untergebracht und nicht externe Gebäude teuer angemietet werden. Sie merken: Es bewegt sich schon was. Dafür brauchen wir nicht die politische Show der AfD heute.
({3})
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen. Ich finde es schon sehr amüsant, dass sich ausgerechnet die AfD als Verteidigerin von Steuergeldern aufspielt. Ich meine: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Wer also selber nicht weiß, wie man mit Steuergeldern korrekt umgeht, sollte nicht anfangen, sich zum Verteidiger des Steuerzahlers aufzublasen.
({4})
Denn Sie scheinen mit staatlichen Mitteln, die Ihre Fraktion bekommen hat, teilweise rechtswidrig umgegangen zu sein. Es steht ja sogar der Vorwurf im Raum, dass staatliche Mittel von Ihrer Fraktion veruntreut worden sind.
({5})
Der eigene Wirtschaftsprüfer Ihrer Fraktion attestiert Ihnen massive Ungereimtheiten im Umgang mit Ihren Fraktionsgeldern, die Ihnen ja aus Steuergeldern zufließen. Es ist die Rede von Vettern- und Günstlingswirtschaft.
16 Millionen Euro bekommt die AfD-Bundestagsfraktion jedes Jahr.
({6})
Davon hatten Sie nicht mal ein paar Euro übrig, sich eine vernünftige Buchhaltungssoftware zu kaufen. Sie haben mit Excel-Tabellen 16 Millionen Euro verwaltet. Das ist manipulierbar, und es ist wirklich irre, was Sie da betrieben haben. Ich glaube, jeder Sportverein hat seine Finanzen besser im Griff. Ich sage: Beim AfD-Gesetzentwurf ist es ungefähr so, als würde ein Steuerbetrüger Vorschläge zur Bekämpfung von Steuerschlupflöchern machen. Das ist wirklich Irrsinn, was Sie hier vorgelegt haben. Das werden wir natürlich ablehnen.
Danke.
({7})
Nächste Rednerin: Die Kollegin Britta Haßelmann für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich rate dazu, den Kollegen Brandner hier heute Abend nicht so wichtig zu nehmen. Das ist jemand, der nimmt das Parlament nicht ernst. Er ist in der letzten Sitzungswoche hier nach seiner Rede abgezogen und hat uns bis 1.30 Uhr beraten lassen, hat sich von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Saaldienstes verabschiedet mit den Worten: Schönen Abend noch. – Das ist aus Ihrer Sicht anscheinend ganz besonders witzig; denn diese Leute fahren mit der S-Bahn nach Hause und sind dann nächtens irgendwann da.
({0})
Aber das interessiert Sie ja alles nicht; denn die Verächtlichmachung des Parlamentes ist ja eine Ihrer Spezialitäten.
({1})
Und das sollten all diejenigen wissen, die Ihnen heute Aufmerksamkeit geschenkt haben.
Meine Damen und Herren, gerade aus Respekt nicht nur vor diesem Parlament, auch aus Respekt vor den Bundespräsidenten a. D., vor dem Amt und vor dem jetzigen Amtsinhaber disqualifiziert Sie die Art, der Stil, wie dieser miserable Gesetzentwurf eingebracht wurde, ein zweites Mal.
({2})
Es gibt überhaupt keine Linie bei der AfD. In der einen Woche wird im Haushaltausschuss beantragt, den gesamten Etat für den Bundespräsidenten zu streichen.
({3})
In der nächsten Woche wird ein Gesetzentwurf vorgelegt, in dem der sogenannte Ehrensold kurzerhand halbiert werden soll. Das ist ohne Sinn und Verstand: Schnellschuss statt Sorgfalt. Lassen Sie uns also bitte nicht ernsthaft darüber weiter diskutieren.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will an dieser Stelle sagen: Gerade weil wir darüber nicht sprechen sollten, sollten wir uns aber zwischen demokratischen Fraktionen darüber verständigen, dass es nach dem Bericht des Bundesrechnungshofes klaren Regelungsbedarf gibt.
({5})
Ich finde, dass man an dieser Stelle entsprechende Maßnahmen gemeinsam vereinbaren sollte.
({6})
– Ich will Sie gar nicht dabei haben. Haben Sie das noch nicht gemerkt?
({7})
Und das Allerbeste ist: Auf Sie ist hier im Parlament niemand angewiesen.
({8})
Das ist schon mal ganz klar.
({9})
Wir Grünen sehen Handlungsbedarf. Mein Appell richtet sich an dieser Stelle an die Fraktionen der Union, SPD, FDP und auch der Linken, gemeinsam darüber zu diskutieren, wo Handlungsbedarf besteht.
({10})
Ich glaube, dass es eine klare gesetzliche Grundlage für die amtsbezogene Ausstattung auch nach dem Ausscheiden aus dem Amt braucht.
({11})
Wir haben so etwas im Beamtenrecht. Es gibt klare gesetzliche Regelungen für Abgeordnete und für Ministerbezüge im Amt und nach dem Amt. Deshalb ist es doch eigentlich ein ganz normaler Vorgang, wenn wir das jetzt nach klaren Kriterien ganz sachlich und nüchtern und mit allem Respekt vor dem Amt und den Amtsinhabern gesetzlich regeln.
({12})
Deshalb sage ich: Lassen Sie uns dazu kommen. Der Maßgabebeschluss des Haushaltsausschusses ist dazu keine Alternative; denn wir reden im Jahr 2018 über eigene Maßstäbe und Transparenzanforderungen und nicht über die einer Regelung aus den Jahren 1953 und 1959. Deshalb bitte ich Sie, mit uns in eine Diskussion einzutreten
({13})
und dafür eine klare gesetzliche Grundlage zu schaffen, damit wir das auch aus Respekt vor den demokratischen Institutionen hier im Parlament eindeutig regeln.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({14})
Der nächste Redner ist der Kollege Philipp Amthor, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende dieser Debatte muss man doch schon ein bisschen staunend auf das Ganze schauen. Herr Brandner, Sie haben uns für die AfD hier eine Debatte für Feinschmecker versprochen. Wenn sie das sein soll, kann ich Ihnen nur sagen: Sie sind ein sehr schlechter Koch.
({0})
Im Übrigen: Das Interesse in der AfD-Fraktion für Feinschmeckerdebatten war auch schon mal größer.
Ich sage Ihnen: Ich wundere mich, worüber wir jetzt gesprochen haben.
({1})
Wir haben aus verschiedenen Richtungen darüber gesprochen, ob und inwieweit die AfD ihre Mittel richtig verwendet. Dann haben wir in der Debatte darüber diskutiert, was Sie glauben, was Herr de Maizière glaubt, wie viele Ziegen zu einer syrischen Familie gehören. Ich kann Ihnen nur sagen: Das alles bestätigt mich fest in der Überzeugung, dass Ihr Gesetzentwurf dem Ton der Debatte überhaupt nicht angemessen ist.
({2})
Ich will eines noch sagen: Herr Brandner,
({3})
wenn Sie sich wünschen, dass es eine Feinschmeckerdebatte gibt, dann will ich dazu beitragen; denn ich glaube, Konstantin Kuhle hat auf etwas Richtiges hingewiesen. Wir haben morgen früh eine Gedenkstunde
({4})
zum 9. November 1918. Das ist das 100-jährige Jubiläum der Ausrufung der Weimarer Republik. Und wir werden dann nächstes Jahr das 100-jährige Jubiläum der Weimarer Reichsverfassung feiern. Ich glaube, es ist in diesem Zusammenhang richtig, darauf hinzuweisen, was wir aus Weimar lernen können.
({5})
Auch Sie hätten für Ihren Gesetzentwurf aus Weimar lernen können. Herr Brandner, hören Sie zu: In der Weimarer Reichsverfassung hat der Reichspräsident eine ganz andere Rolle gehabt als der Bundespräsident heute. Haben Sie sich mal mit dem Unterschied beschäftigt?
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Der Reichspräsident stand ganz bewusst inmitten der Staatsorgane; er war Teil der politischen Debatte, und wir wissen auch, wohin das geführt hat.
({7})
Ich sage Ihnen eins: Ich will es mir nicht leicht machen und Ihnen die Nazikeule überziehen
({8})
– ja, ich merke das auch –; aber trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf, Herr Brandner, dass vielleicht die Bürger noch was mitnehmen.
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Aus der Reihe „Was ist der Unterschied zu der Weimarer Reichsverfassung“: Das ist die Rolle des Bundespräsidenten heute. Wir haben bewusst nach der Lehre aus Weimar gesagt: Der Bundespräsident soll ein viel repräsentativeres Amt haben. Er steht zwar teilweise inmitten der Staatsfunktion, aber ein Stück über den Staatsorganen. Wir sollten respektvoll über das Amt des Bundespräsidenten diskutieren.
({10})
Das Bild, das Sie hier mit diesem Gesetzentwurf zeichnen wollen, ist doch ganz klar: Sie wollen den Bundespräsidenten als raffgierigen Typen darstellen, der wie im Schlaraffenland lebt und dem die Hähnchen in den Mund fliegen.
({11})
Das ist nicht die Wahrheit. Vielmehr sind wir überzeugt, dass das Amt des Bundespräsidenten ein Amt ist, das Respekt verdient, über das man stilvoll diskutieren sollte.
({12})
– Es ist ja in Ordnung, Herr Braun. Wir können sehr gerne darüber reden, wie man mit Konzerten umgeht, an denen auch Antifa-nahe Akteure beteiligt sind. Das finde ich auch nicht toll.
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Aber Sie zielen hier auf Einzelpersonen; Sie zielen auf die – in Ihren Worten – Altparteien. Was Sie aber treffen, ist die Würde des Amtes. Und das machen wir nicht mit.
({14})
Wir lehnen das ab. Wir wollen eine würdevolle Diskussion.
Und damit Sie auch noch etwas lernen, gebe ich Ihnen einen kleinen Tipp in Sachen guter Stil. Sie haben die 50er-Jahre zitiert. Herrn Gauland wird das gefallen. Als man 1953 das Gesetz über diese Ruhebezüge geschaffen hat, hat, nachdem man es ausgehandelt hatte, ein Abgeordneter, konsensual, respektvoll über den Bundespräsidenten gesprochen.
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Das wäre die richtige Lehre – auch aus Weimar. Das wäre ein gutes Beispiel für Sie. Wir lehnen Ihren Gesetzentwurf ab.
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Herzlichen Dank.
({17})
Die nächste Rede von Dr. Volker Ullrich geht zu Protokoll. – Ich sehe, Sie sind damit erfreulicherweise einverstanden.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 19/5490 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Liebe Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland steht so lange im Stau wie nie zuvor. Im letzten Jahr verbrachten die Autofahrer 457 000 Stunden stehend auf den Straßen. Staulänge: insgesamt 1,5 Millionen Kilometer. Das ist eine Strecke, die locker dem Weg zweimal zum Mond und zurück entspricht.
Es gibt verschiedene Gründe für den – so muss man ihn wohl bezeichnen – Verkehrsinfarkt in Deutschland. Es liegt einerseits an den vielen Baustellen. Und das ist ja auch eine gute Nachricht; denn wir werden den Investitionsstau irgendwann abgearbeitet haben. Es liegt aber auch daran, dass wir bei vielen dringend benötigten Neubauten, Entlastungsstrecken, Ortsumgehungen, Autobahnen, 20 bis 30 Jahre von der Planung bis zur Freigabe brauchen. 20 bis 30 Jahre – da kann man sagen: Es bleiben ganze Generationen im Stau stecken. Das macht natürlich eine Menge schlechte Laune und bedeutet für Millionen von Menschen sinnlos verplemperte Lebenszeit.
Viele Väter und Mütter würden abends sicher lieber ihre Kinder ins Bett bringen, als auf dem Heimweg auf der Autobahn rumzustehen. Wir brauchen also endlich einen deutlich schnelleren Ausbau unserer Verkehrswege. Das aber werden Sie mit diesem Entwurf nicht schaffen. Auch Experten bestätigen Ihnen, dass mit dem Gesetzentwurf keine nennenswerte Beschleunigung der Planungsverfahren zu erwarten ist. Die Ansätze sind zwar richtig; aber die entscheidenden Schritte fehlen dabei.
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Immerhin wird es eine Straffung der Einspruchsverfahren für wichtige Baumaßnahmen geben. Aber eine Handvoll neuer Richterstellen am Bundesverwaltungsgericht wird wohl nicht ausreichen, um das neue drohende Flaschenhalsproblem zu verhindern.
Viel wichtiger und zielführender wäre es ohnehin, an die Ursachen zu gehen und dafür zu sorgen, dass bei Verkehrsprojekten von vornherein weniger Einsprüche eintrudeln. Die betroffenen Bürger dürfen eben nicht vor vollendete Planungstatsachen gestellt werden. Wir müssen sie vielmehr so frühzeitig einbeziehen, dass der Bürgerwille schon bei der Planung berücksichtigt werden kann. Das würde eine Menge rechtlicher Streitigkeiten und damit auch viel Zeit sparen. Andere Länder bekommen das hin.
In Ihrem Entwurf aber ist das leider nicht vorgesehen. Dabei hat das Verkehrsministerium schon 2014 auf Basis der funktionierenden Verfahren in Dänemark und den Niederlanden ein Handbuch herausgegeben mit wirklich guten Vorschlägen zur besseren Einbindung der Bürger. Schade, dass davon leider nichts umgesetzt wird.
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Sehr sinnvoll wären auch Maßnahmengesetze. Große Infrastrukturprojekte von nationaler Bedeutung sollten hier im Bundestag beschlossen werden. Damit könnten wir den Bau deutlich beschleunigen. Das ist in Ihrem Entwurf leider ebenso wenig vorgesehen. Genau diese beiden Dinge sind es, die vor allem fehlen: eine frühe unkomplizierte Einbindung der Bürger und der Turbo, der über Maßnahmengesetze eingeschaltet werden könnte. Das würde uns beim Infrastrukturausbau wirklich voranbringen. Da müssen wir endlich ran.
Dieser Gesetzentwurf aber wird keinen Durchbruch bringen, auch wenn er tendenziell in die richtige Richtung geht. Hier muss deutlich mehr kommen, um Deutschland wirklich fit für die nächsten Jahrzehnte zu machen.
Danke schön.
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Nächster Redner ist der Kollege Mathias Stein, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben schon heute Morgen als Koalition sehr viele Gesetzespakete auf den Weg gebracht. Das Rentenpaket haben wir beschlossen. Wir haben das Teilhabechancengesetz beschlossen, mit dem wir etwas für Langzeitarbeitslose tun. Und wir tun jetzt etwas beim Thema Planungsbeschleunigung.
Die Koalition ist handlungsfähig; wir tun etwas für die Bürger. Wir Bundestagsabgeordnete der Koalitionsfraktionen machen Sacharbeit, und das seit Monaten.
({0})
Es ist hier im Haus unstrittig – das sehen alle Parteien so –, dass die Planung, die Genehmigung und der Bau von großen Infrastrukturmaßnahmen viel zu lange dauern. Das Gesetz, das wir jetzt vorgelegt haben, ist ein erster wichtiger Schritt. Mit dieser Koalition werden weitere folgen. Seien Sie gewiss, Herr Holm: Diese Koalition wird nicht nur den ersten Schritt gehen, sondern sie wird noch ganz, ganz viele Schritte gehen.
({1})
Da die Koalitionsfraktionen ja auch das von unserem ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Peter Struck formulierte Struck’sche Gesetz berücksichtigen,
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dass nämlich kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es eingebracht worden ist, haben wir das in diesem Fall auch umgesetzt. Wir als SPD haben unsere parlamentarische Verantwortung wahrgenommen und haben diesen Gesetzentwurf noch erheblich verbessert.
Wir haben den Entwurf geprüft. Wir haben eine Anhörung durchgeführt, Kontakte zu verschiedenen Bürgerinitiativen gehabt und Schwachstellen erkannt.
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An zwei zentralen Punkten, haben wir gesagt, muss dieser Gesetzentwurf noch verbessert werden.
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– Mindestens. – Der erste Punkt ist: Das schnellere Planen und die Bürgerbeteiligung dürfen wir nicht gegeneinander ausspielen. Konsens bedeutet schnelle Planung. Es muss mit den Menschen geplant werden.
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Ich will ein paar Punkte nennen, die wir als Änderung eingebracht haben. Zum einen ermöglicht das Gesetz nun die vorläufige Anordnung bei Bau oder Änderung von Straßen und Schienenwegen. Bei den Bundeswasserstraßen besteht diese Möglichkeit bereits. Wir haben festgestellt, dass das positiv ist. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung war das ursprünglich zwar vorgesehen. Es war allerdings so vorgesehen, dass der Rückbau von Teilmaßnahmen nicht möglich gewesen wäre. Wir haben durchgesetzt, dass jetzt nur vorläufige Maßnahmen umgesetzt werden können, die reversibel sind. Das heißt, es wird zum Beispiel keine Rodungen geben. Vielmehr werden zuerst Naturschutzmaßnahmen durchgeführt. Auch Munitionsfunde werden zuerst entsorgt. Das haben wir in diesem Gesetz berücksichtigt.
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– Auch der Denkmalschutz ist ein wichtiger Punkt, der berücksichtigt worden ist. Ich glaube, dass auch das bei der vorläufigen Anordnung berücksichtigt werden muss. Es muss ja im öffentlichen Interesse sein.
Der zweite Punkt. Wir ermöglichen, dass unter bestimmten Bedingungen neue Verkehrsprognosen unberücksichtigt bleiben. Das Ziel ist es, nachträgliche Umplanungen zu vermeiden. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sah zunächst einmal vor, dass sie lediglich ab einer Lärmzunahme von 3 Dezibel unberücksichtigt bleiben. Hieran gab es viel Kritik der Bürgerinitiativen, und diesen Punkt, diese Schwachstelle haben wir im Gesetzentwurf beseitigt. Denn aus unserer Sicht als SPD-Bundestagsfraktion ist Lärmschutz Gesundheitsschutz und Menschenschutz. Insofern ist das für uns wichtig.
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Wir wollen, dass die Menschen ein Recht auf Lärmschutz haben. Deswegen haben wir die Grenzwerte für eine Gesundheitsgefährdung in den Gesetzentwurf hineingeschrieben und festgelegt, dass ab 60 Dezibel in der Nacht und ab 70 Dezibel am Tag Lärmschutzmaßnahmen ergriffen werden müssen. Wenn es um weniger als 3 Dezibel geht, dann verweisen wir auf das Bundes-Immissionsschutzgesetz und werden dadurch auch die Möglichkeit haben, bei Kindergärten und Altenheimen Lärmschutz zu ermöglichen.
({8})
Auch wenn die Lärmschutzverordnung sagt, dass dieser Wert erstmalig überschritten wird, wird es Lärmschutz geben.
Ein weiterer Punkt, den wir im Gesetzentwurf vorgesehen haben: Falls es so sein sollte, dass die Verkehrsprognose sinken würde – auch das gibt es in Deutschland – und der Lärmschutz nicht mehr so nötig sein sollte, wie es ursprünglich angenommen worden ist, dann gibt es keine Verschlechterung. Das kann unter anderem bei der Rheintalbahn so sein. Die Menschen müssen sich auf das verlassen können, was wir im Bürgerverfahren beschlossen haben.
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Ein weiterer Punkt ist: Wir brauchen eine Verkehrswende. Es ist notwendig, dass mehr Menschen im individuellen Verkehr auf die Schiene setzen. Dazu haben wir wichtige Baumaßnahmen im Bereich der Schiene in den Gesetzentwurf hineingeschrieben, für die die erstinstanzliche Zuständigkeit beim Bundesverwaltungsgericht liegt. Wir haben auch festgelegt, dass das Eisenbahn-Bundesamt die zentrale Behörde sein wird, die die Anhörungs- und Planfeststellungsverfahren durchführen soll.
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Das ist besonders gut, weil wir diesbezüglich einiges vorhaben. Ich will allerdings sagen: Wenn das Eisenbahn-Bundesamt zuständig ist, werden wir noch ein paar weitere Maßnahmen ergreifen müssen. Das heißt, das Eisenbahn-Bundesamt braucht Personal. Ich hoffe sehr, dass die Bundesländer dann das Geld, das durch die Einsparungen beim Personal frei wird, auch in die Infrastruktur stecken und dass sie die Mitarbeiter schulen, die für ihren Infrastrukturbereich zuständig sind.
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– Das Bundesverwaltungsgericht muss sicherlich auch besser ausgestattet werden. Ich hoffe, dass die Haushälter sowohl beim EBA als auch beim Bundesverwaltungsgericht – heute ist ja die Nacht der Haushälter – noch einiges drauflegen werden.
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– Ich rechne da auch mit grüner Unterstützung. Vielleicht werden Union und FDP das auch unterstützen. Die ganz rechte Seite wird das wahrscheinlich nicht unterstützen; aber das ist ja nicht anders zu erwarten.
Insgesamt ist dieser Entwurf richtig, und ich freue mich ganz besonders, dass wir es im Ausschuss noch geschafft haben, einen Entschließungsantrag vorzulegen, der auch die Zustimmung der Grünenfraktion gefunden hat. Wir wollen mehr Bürgerbeteiligung. Wir wollen das Raumordnungsverfahren und das Planfeststellungsverfahren zusammenführen. Wir wollen Klagefristen. So kann das Bundesverwaltungsgericht reagieren und auch etwas mit den Stellen machen. Ich hoffe, dass wir als Koalition an dieser Frage weiter arbeiten werden.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Torsten Herbst.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt kleine Schritte in die richtige Richtung. Aber wenn wir ehrlich sind, muss man sagen: Gebraucht hätten wir einen echten, einen mutigen Durchbruch. Davon sind Sie sehr weit entfernt, meine Damen und Herren.
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Die Problematik ist doch klar: Bürgerinnen und Bürger haben zu oft das Gefühl, dass beim Ausbau von Verkehrswegen der Käfer oder die Fledermaus das Tempo vorgeben und nicht die Notwendigkeit oder der Bedarf vor Ort. Das muss sich ändern, meine Damen und Herren.
({1})
Die Frage ist: Wie lange können und wie lange wollen wir uns es noch leisten, dass wir mittlerweile selbst für den Bau eines Radweges über zehn Jahre brauchen? Wie lange wollen wir es uns noch leisten, dass der Bau eines Stücks Autobahn mittlerweile 40 Jahre braucht? Ich glaube, das ist für eine Industrienation längst nicht mehr angemessen.
({2})
Wir wissen, dass Bürger diese Zeiträume sehen, und wenn wir ihnen sagen: „Es dauert vier Jahrzehnte, bis wir ein Stück Autobahn bauen“, dann zweifeln diese Bürger, und sie verzweifeln. Sie zweifeln an Behörden, sie zweifeln an der Handlungsfähigkeit des Staates, und sie zweifeln manchmal leider auch am politischen System. Deswegen ist es immanent, dass wir tatsächlich zu einer echten Beschleunigung beim Bau von Verkehrswegen kommen.
({3})
Vor kurzem haben wir alle im Fernsehen gesehen, dass China eine neue Brücken- und Tunnelverbindung zwischen Hongkong und Macau eröffnet hat,
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55 Kilometer in neun Jahren. Und wir? Wir basteln erfolglos seit 26 Jahren an 13 Kilometern Autobahnumfahrung von Halle – an der A 143.
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Ich finde, das ist nichts, worauf wir stolz sein können, meine Damen und Herren.
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Bevor Sie sich hier alle aufregen: Ich hatte schon in meiner letzten Rede gesagt: Natürlich ist Straßenbau à la China kein Vorbild. Aber ich sage Ihnen sehr klar: Eine kluge und durchdachte Planungsbeschleunigung ist ein wirksames Mittel im Kampf gegen Politikverdrossenheit,
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ist ein wirksames Mittel, das Zutrauen der Bürger in einen handlungsfähigen Staat zu stärken. Auch darüber sollten Sie einmal nachdenken.
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Auch wenn wir uns im Ziel der Baubeschleunigung einig sind, muss man sagen:
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Dieser Gesetzentwurf, meine Damen und Herren, ist mutlos, ist unambitioniert, und er ist ideenlos.
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– Wenn wir nur nörgeln würden, dann müssten Sie ja keinen Entschließungsantrag vorlegen und in diesem Entschließungsantrag schon sagen: Das geht nicht weit genug, wir brauchen sofort ein Planungsbeschleunigungsgesetz II. – Sie selbst stellen also fest, dass das, was Sie vorlegen, nicht ausreichend ist. Das ist doch eine Tatsache.
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Spannend, meine Damen und Herren, ist ja nicht nur, was im Gesetzentwurf steht, sondern vor allem auch das, was nicht im Gesetzentwurf steht. Bürgerbeteiligung vorzuziehen ist ein großes Thema in der Anhörung gewesen. In Ihrem Gesetzentwurf steht davon null. Doppelprüfung konsequent abschaffen, das Pingpong zwischen Landes- und Bundesbehörden verringern, einen digitalen Datenfluss zwischen Behörden und Vorhabenträgern ermöglichen, einzelne Baugesetze zu national wichtigen Verkehrsprojekten im Parlament beschließen oder auch Ersatzneubauten vor allem bei Brücken vereinfachen: All das findet sich nicht in Ihrem Gesetzentwurf. Aber wir helfen Ihnen gern: Das steht nämlich in unserem Entschließungsantrag.
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Meine Damen und Herren, das ist ja auch alles keine Zauberei oder Teufelszeug. Wir brauchen uns ja nur umzuschauen und zu fragen: Wie machen es andere Länder in der EU, unsere Nachbarn?
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Andere Länder brauchen zehn Jahre für die Bauvorbereitung, aber dann rollen dort auch die Bagger. Bei uns rollen nach zehn Jahren die Lkws mit Aktenordnern voll Planungsunterlagen zwischen den Behörden. Das, meine Damen und Herren, ist doch kein Zustand, mit dem wir zufrieden sein können.
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Wer Verkehrsprojekte wirklich beschleunigen will, muss das Bummeltempo verlassen, muss einmal einen echten Sprint einlegen. Das würden wir uns von dieser Regierung wünschen, meine Damen und Herren.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Leidig, Fraktion Die Linke.
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Guten Abend, Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Vorsitzende der Initiative Angermund schreibt über das Gesetz, das hier zur Abstimmung steht, es sei ein „bürgerfeindlicher Etikettenschwindel“. Ich finde, da hat sie völlig recht. „Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich“ steht drauf, aber drin steckt, dass die wenigen Möglichkeiten eingeschränkt werden sollen, die Verbände und Bürgerinitiativen haben, um Einfluss zu nehmen auf geplante Verkehrsprojekte. Das heilen Sie auch nicht mit den Änderungen, die Sie jetzt noch eingebracht haben. Obwohl Sie es sehr eilig gehabt haben, sind etliche Tausend Unterschriften gegen dieses Gesetz zusammengekommen.
({0})
Das zeigt, dass es überhaupt nicht gut ankommt bei den Bürgerinitiativen. Sie unterstellen, dass es die Öffentlichkeitsbeteiligung ist – das hat der Kollege Herbst jetzt noch einmal enorm hervorgehoben –, die dazu führt, dass solche Bauprojekte zu langsam vorankommen. Aber das ist doch falsch.
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Schauen wir auf die Schweiz, dort findet in direktdemokratischen Verfahren die größtmögliche Beteiligung statt und trotzdem oder gerade deshalb werden selbst Großprojekte wie der Gotthard-Basistunnel planmäßig fertig.
Wir meinen, dass ein Hauptproblem in den Ämtern und Behörden liegt. Dort ist zu wenig fachkompetentes Personal vorhanden. Eigentlich müssten die Genehmigungsbehörden die eingereichten Planungsunterlagen fachlich und juristisch kompetent beurteilen und dann dafür sorgen, dass sie entsprechend nachgebessert werden, sodass die Maßnahmen so gut geplant werden, dass viele Einwände einfach gar nicht nötig sind.
({2})
Ich erinnere an das Grundwassermanagement beim Tunnelbahnhof in Stuttgart. Damals haben die Ingenieure gegen Stuttgart 21 von Anfang an darauf hingewiesen, dass es völlig unterdimensioniert ist. Später musste der Bauherr, die Deutsche Bahn AG, zugeben, dass mit 6,8 Millionen Kubikmeter Grundwasser die doppelte Menge entnommen werden muss als beantragt, und dann war ein neues Genehmigungsverfahren nötig. Das hätte man verhindern können.
Die Hälfte aller Klagen von Naturschutzverbänden würde wegfallen, wenn diejenigen, die Autobahnen und Eisenbahnen planen, die geltenden Gesetze und Bestimmungen kennen und einhalten würden. Das heißt, wenn schon bei der Planung die Umweltschutzbehörde einbezogen wird, kann es besser werden und schneller gehen.
Wir sind der Meinung, dass Bürgerinnen und Bürger frühzeitig und umfassend beteiligt werden müssen, wenn vor ihrer Haustür Verkehrswege gebaut werden.
({3})
Wir wollen, dass gerade bei großen Infrastrukturprojekten Alternativen ernsthaft geprüft werden. Bei neuen Bahnstrecken werden jetzt Dialogforen eingerichtet. Das ist gut, aber es ist unverbindlich. Das muss geändert werden. Eigentlich steht es auch in Ihrem Koalitionsvertrag.
Die Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU haben der Bundesregierung mit einem Entschließungsantrag ein paar Prüfaufträge auferlegt. Da kann ich nur sagen: Wenn es meine Regierung wäre, dann würde ich Prüfergebnisse verlangen, bevor ein Gesetz verabschiedet wird.
({4})
Warum haben Sie nicht alles darlegen lassen, was Planungsbeschleunigung, schnelle Planungen und gute Ergebnisse behindert?
Die Grünen haben einen Entschließungsantrag vorgelegt, in dem viel Richtiges steht. Dem können wir gut zustimmen. Wenn es Ihnen wirklich um schnellere Umsetzung, zum Beispiel von sinnvollen Bahnprojekten, geht, dann, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, sorgen Sie dafür, dass es mehr Geld gibt für guten Gesundheits- und Lärmschutz, damit nicht immer wieder das Wohlbefinden der Anlieger gegen die Verkehrsverlagerung auf die Schiene ausgespielt wird. Wir brauchen beides.
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Zum Schluss will ich noch sagen, dass ich es am Schlimmsten finde, welche Botschaft Sie mit diesem Gesetz aussenden. Aktive Bürger und Bürgerinnen, Bürgermeister und Umweltinitiativen werden als Störenfriede dargestellt, die staatliches Handeln erschweren.
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Dabei ist das Gegenteil richtig. Ohne kompetente Menschen, die ihre Bedenken und Vorschläge einbringen, gibt es keine lebendige Demokratie und übrigens auch keine besseren Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen.
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Der nächste Redner ist der Kollege Stephan Kühn, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Marode Brücken, Engpässe im Schienennetz, überlastete Nahverkehrsstrecken, fehlender Lärmschutz – wer den Verkehrskollaps vermeiden und die Verkehrswende vorantreiben will, der muss Planungen von Infrastrukturprojekten beschleunigen.
Im Ziel sind wir uns also einig. Wir müssen aber bei der Frage nach den richtigen Maßnahmen auf die tatsächlichen Gründe schauen, die für zähe Planungsprozesse und jahrelange Verzögerungen verantwortlich sind. So werden Bürger nicht oder erst sehr spät in den Verfahren beteiligt und oft erst, wenn die Grundsatzentscheidungen längst gefallen sind und nur noch Details beeinflusst werden können.
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Für eine frühzeitige Bürgerbeteiligung über das gesetzliche Mindestmaß hinaus fehlt den Behörden Geld und Personal, ja manchmal auch der Wille. Die Bürger werden erst bei der Frage des Wie und nicht schon bei der Frage des Ob beteiligt. Dadurch wird die Akzeptanz für Infrastrukturprojekte gesenkt und das Risiko von Widerständen gegen solche Projekte erhöht.
Meine Damen und Herren, wir brauchen keine chinesischen Verhältnisse. Wir brauchen eine neue Planungskultur.
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Notwendig ist dafür eine verbindliche, umfassende und frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung, bei der auch Alternativen zu Projekten zur Sprache kommen müssen. Neue Planungskultur heißt auch Kooperation statt Konfrontation in der Zusammenarbeit der Behörden mit den Umweltschutzverbänden. Deren Expertise wird, wenn überhaupt, nur am Rande in die Planungen einbezogen. Man sieht sie eher als Gegner, aber nicht als Gesprächspartner auf Augenhöhe. Wenn die Belange des Natur- und Umweltschutzes von Anfang an berücksichtigt werden, kommt man auch mit Planungen schneller zum Ziel. Davon sind wir überzeugt.
({2})
Ebenso gilt: Wer Bürgerinnen und Bürger frühzeitiger und umfassender beteiligt, der verbessert die Planungen, der erhöht die Planungsqualität. Ein Argument, das in der Debatte viel zu selten genannt wird.
Im Gesetzentwurf ist vorgesehen, bei Verkehrsprojekten, bei denen eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden muss, künftig auf eine Erörterung zu verzichten. Der Verzicht auf Erörterungen spart aber keine Zeit, er wird die Planung nicht beschleunigen. Aber er ist ein wichtiger Baustein in der Öffentlichkeitsbeteiligung, der jetzt wegfällt. Vorschläge zu frühzeitiger Bürgerbeteiligung stehen nicht im Gesetzentwurf, sondern nur im Entschließungsantrag der Regierungskoalition. Da muss ich Ihnen sagen: Absichtserklärungen an dieser Stelle reichen nicht aus.
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Gleiches gilt auch für den Nahverkehr. Die Planung und Genehmigung von städtischer Nahverkehrsinfrastruktur tauchen im Planungsbeschleunigungsgesetz ebenfalls nicht auf. Dabei wollen Städte und Kommunen zahlreiche Infrastrukturprojekte vorantreiben, insbesondere im Interesse der Verkehrswende. Deshalb müsste das jetzt schon im Gesetzentwurf stehen.
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Ich erinnere daran: Heute hat wieder ein Gericht Fahrverbote in Städten erlassen, diesmal für Köln und Bonn. Das heißt, die Kommunen können nicht länger auf Ankündigungen warten, sie brauchen endlich substanzielle Unterstützung vom Bund, die Sie mit diesem Gesetz leider versagen.
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Beschleunigte Planungs- und Genehmigungsprozesse für neue Straßenbahnen und S-Bahn- und U-Bahn-Linien wären ein wesentlicher Baustein, der leider in diesem Gesetzentwurf fehlt.
Meine Damen und Herren, jahrelang wurde Personal abgebaut. Die Planungs- und Genehmigungsbehörden sind personell nicht ausreichend ausgestattet, um komplexe Projekte zügig abzuarbeiten. Planer werden händeringend gesucht. Der Arbeitsmarkt ist leergefegt. Projekte bleiben liegen, weil die Fachleute fehlen. Gleiches gilt – das ist schon angesprochen worden – für die Gerichte. Klagen gegen Vorhaben aus dem Bundesverkehrswegeplan sollen künftig einzig beim Bundesverwaltungsgericht möglich sein. Doch ohne zusätzliches Personal für das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig wird sich die Verfahrensdauer nicht verkürzen, sondern sie wird sich eher verlängern.
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Die Einführung verbindlicher Fristen bis zur Eröffnung von Verfahren ist richtig. Aber die personelle Stärkung der Gerichte, wie im Entschließungsantrag vorgeschlagen, nur zu prüfen, liebe Freundinnen und Freunde von der Koalition, ist deutlich zu wenig.
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Wir lehnen den Gesetzentwurf ab. Die Zustimmung zum Entschließungsantrag der Koalition verbinden wir mit der Hoffnung, dass die Umsetzung der geforderten Maßnahmen beschleunigt wird.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Kollege Kühn. – Die nächsten beiden Reden der Kollegen Patrick Schnieder und Karl Holmeier sollen zu Protokoll gegeben werden. Sie sind damit einverstanden? – Dann schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich. Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5580, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/4459 und 19/4731 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ein Handzeichen. – Das sind die AfD, die CDU/CSU-Fraktion und die SPD-Fraktion. Wer ist dagegen? – Dagegen sind Die Linke, die Grünen und die FDP. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalition und die AfD. Wer stimmt dagegen? – Das sind die FDP, die Grünen und Die Linke. Enthaltungen? – Keine. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
({0})
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5580, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das ist die Koalition.
({1})
– Das ist Drucksache 19/5580.
({2})
– Drucksache 19/5580. – Buchstabe b auf Drucksache 19/5580. Haben Sie das nicht?
({3})
Es hilft nichts: Den Buchstaben b müssen Sie in den Unterlagen haben.
({4})
Drucksache 19/5580, haben Sie die?
({5})
Dann stellen wir das zurück und holen die Drucksache.
Zunächst lasse ich über den Entschließungsantrag der FDP auf Drucksache 19/5597 abstimmen. – Haben Sie? –
({6})
Gut. Wer ist dafür? – AfD und FDP. Wer ist dagegen? – Das sind die Koalition, die Grünen und die Linken. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/5598. Wer ist dafür? – Das sind Linke und Grüne. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalition, FDP und AfD. Damit ist auch dieser Entschließungsantrag abgelehnt. – So, und was ist jetzt mit der Drucksache?
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Schauen Sie auf die Drucksache 19/5580, Seite 8: Dort schlägt der Ausschuss unter Buchstabe b vor, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Entschließung? – Das sind die Koalition, die Grünen und die AfD. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Bei Enthaltung von Linken und FDP ist diese Beschlussempfehlung des Ausschusses angenommen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 13. November 2018 entscheidet Special Olympics International über die Vergabe der Special Olympics World Games 2023. Ziel der deutschen Organisation Special Olympics Deutschland ist es, die World Games 2023 nach Berlin zu holen.
Bei den Special Olympics geht es um eine gesellschaftliche Anstrengung zur Förderung der Teilhabe von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Wir Freien Demokraten setzen uns für ein selbstbestimmtes Leben aller Menschen ein und unterstützen daher von Herzen die Bewerbung um die Ausrichtung in Deutschland.
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In der Regel reden wir Sportpolitiker über sportliche Spitzenleistungen, über Medaillen oder über Mittel, die aus dem Bundeshaushalt dafür zur Verfügung gestellt werden. Aber Sport ist weitaus mehr als nur das. Die Unterstützung der Bewerbung durch den Deutschen Bundestag wäre ein nachhaltiges Symbol für die Förderung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.
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Die Special Olympics zeigen, welche besonderen Leistungen der Sport zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen kann. Es werden Menschen zusammengebracht, völlig unabhängig davon, woher sie kommen, wer sie sind und was sie können. Sie erfreuen sich alle am Sport.
Special Olympics Deutschland rechnet bei den World Games mit 7 000 Athletinnen und Athleten aus 180 Ländern, 12 000 Familienmitgliedern, 20 000 freiwilligen Helfern und 500 000 Zuschauern.
Aber die Special Olympics bieten viel mehr als nur sportliche Wettbewerbe: Sie bieten ein umfangreiches, weltweites und ganzjähriges Gesundheitsförderungs- und Präventionsprogramm mit Beratungen, Kontrolluntersuchungen und vielfältigen Fortbildungsangeboten. Sie bieten ein internationales Forum des Austausches für Familien, bei dem sich gegenseitig Unterstützung gegeben wird und neue Freundschaften geknüpft werden.
Beeindruckt sind wir auch davon, wie der Gedanke des Austausches, des Kennenlernens und der Freundschaft mit dem sogenannten Host-Town-Programm ausgedrückt wird. Es wird nicht nur sportliche Veranstaltungen in der Hauptstadt geben, sondern auch in 180 Orten in ganz Deutschland sollen vier Tage lang Athletinnen und Athleten gemeinsam mit ihren Betreuern Deutschland kennenlernen. Außerdem gibt es Schul- und Fanprojekte, ein Kulturprogramm sowie wissenschaftliche Kongresse und Bildungsangebote, ein umfassendes und großartiges Angebot, auf das sich die Freien Demokraten 2023 in Berlin und in 180 Kommunen deutschlandweit freuen.
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Mit den World Games kann in Deutschland das Bewusstsein geschaffen werden, dass Menschen mit geistiger Behinderung am gesellschaftlichen Leben selbstbestimmt teilnehmen können. Gleichzeitig erhoffen wir uns natürlich auch Denkanstöße für all die Sportvereine, sich noch weiter für Menschen mit Behinderungen zu öffnen. Dazu gibt es vorbildliche Modellprojekte, zum Beispiel im Wahlkreis meines Kollegen Jens Beeck im Emsland – Inklusion durch Sport, InduS, heißt dieses wunderbare Projekt –, das der Kreissportbund Emsland seit 2013 durchführt. 70 Vereine bieten 24 unterschiedliche Sportarten für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen in Sport und Kultur an. Wir finden großartig, wie hier Inklusion als Aufgabe aller begriffen wird. Die World Games können ein Beispiel dafür sein, wie der Sport Menschen mit und ohne Behinderung mit Spaß und Erfolg zusammenbringt.
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Wir freuen uns daher sehr über die positiven Signale aus allen Fraktionen und auch über das positive Signal aus dem Bundesinnenministerium, die eine finanzielle Unterstützung der World Games in Aussicht gestellt haben.
Bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und dem Bundesteilhabegesetz können wir zusammen für die Förderung der Inklusion um die besten Lösungen wetteifern, wie wir Menschen mit Behinderungen ein freies Leben in Selbstbestimmung ermöglichen. Bei allen Unterschieden in vielen politischen Fragen können wir mit der Unterstützung der World Games hier bei uns ein gemeinsames Zeichen der Inklusion in Deutschland setzen. Lassen Sie uns dieses Zeichen setzen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dassler.
Die Rede von Eberhard Gienger von der CDU/CSU-Fraktion geht zu Protokoll.
Der nächste Redner ist für die AfD der Kollege Jörn König.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Tribünen, die nicht mehr da sind, und an den Fernsehbildschirmen! Bevor es losgeht, möchte ich eine Sache loswerden. Sie verwenden immer das Wort „demokratisch“, um alle Parteien außer der AfD zu beschreiben. Ich muss Ihnen ganz offen sagen: Sie stellen sich damit in eine Tradition, die hier in Berlin eine wichtige Rolle spielte.
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Bis 1961 hieß es, wenn die S-Bahnen hier in den Bahnhof Friedrichstraße eingefahren sind: Willkommen im demokratischen Sektor. Sie stellen sich mit dieser Aussage in die Tradition der Mauermörderinnenpartei.
({1})
Kommen wir zum Thema.
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– Danke, Herr Özdemir. – Was für ein guter Antrag. Mein ausdrücklicher Dank dafür an die Kollegen von der FDP.
2023 sollen die Special Olympics in Berlin stattfinden. Die Special Olympics sind die Olympischen Spiele der geistig Behinderten und der mehrfach Behinderten. Das Timing für diesen Antrag ist einfach exzellent. In wenigen Tagen entscheidet sich die Vergabe dieser Weltspiele, und der Deutsche Bundestag sollte die Bewerbung dafür einmütig unterstützen.
Die Bewerbung und mehr Support des Sports für Behinderte werden von der AfD-Fraktion uneingeschränkt unterstützt. Ich wage zu behaupten, dass dazu sogar ein Grundkonsens über alle Fraktionen in diesem Hohen Hause hinweg besteht.
Falls die Vergabe an Berlin erfolgt, was wir hoffen, fordere ich die Kollegen auf, sofort nachzulegen. Stand heute ist der Antrag unverbindlich; denn er verpflichtet die Bundesregierung zu nichts. Formal würde das Land Berlin Ausrichter sein, aber Parlament und Bundesregierung müssen dann mit Verpflichtungen ins Boot geholt werden.
Bei dieser Gelegenheit sollten wir das Gesetz überarbeiten, das vorschreibt, dass man Sportgroßveranstaltungen mit allerhöchstens 150 000 Euro aus öffentlichen Mitteln fördern darf. Das ist ein Anachronismus, der abgeschafft gehört.
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Damit die Förderung aber nicht ausufert und nicht für die Selbstdarstellung von Politikern verschwendet wird, müssen die Bewerbung und die Ausrichtung von Sportgroßveranstaltungen absolut transparent sein, und die Bürger müssen von Beginn an aktiv eingebunden werden. Betroffene muss man zu Beteiligten machen. Die Bürger wollen endlich über Sachthemen abstimmen. Liebe Politiker der Altparteien, direkte Demokratie, das ist der Weg.
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Die AfD-Fraktionen im Bundestag und inzwischen in allen Landtagen haben mit ihren sportpolitischen Thesen vom August 2018 den Weg vorgegeben. Wir fordern darin eine Verdoppelung der Sportförderung vom Stand 2017 aus, um die Benachteiligung des Sports der letzten 25 Jahre gegenüber der Kulturförderung sowie „Arbeit und Soziales“ endlich wieder aufzuholen. Das gilt ausdrücklich auch für die Behindertensportler. Ich zitiere aus den Thesen: Behinderte Sportler müssen im gleichen Maße gefördert werden wie nichtbehinderte Sportler.
Wie sieht es aber wirklich aus?
Erstes Beispiel. Der Sportausschuss des Deutschen Bundestages hatte eine auswärtige Sitzung in Kiel – bei den Special Olympics Deutschland – im Mai 2018 zugesagt. Es sollte ein schönes Zeichen an die Behindertensportler werden. Alles war geplant und abgesprochen. Sogar ein Bus sollte angemietet werden. Ganz plötzlich wurde der Termin nach einer Obleuterunde abgesagt.
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Persönliche Belange, wie die Teilnahme an Fraktionssitzungen, waren offensichtlich wichtiger als behinderte Sportler.
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Ja, manchmal muss man Prioritäten setzen.
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Zweites Beispiel. Im September 2018 brachte die AfD-Fraktion neun Änderungsanträge in die Haushaltsberatungen des Sportausschusses ein. Ein Antrag hätte 4 Millionen Euro mehr für behinderte Sportler bedeutet, ein anderer Antrag war explizit für behinderte Spitzensportler. Es ging um 400 000 Euro. 400 000 Euro verbrauchen zwölf Bundestagsabgeordnete zusammen mit ihren Mitarbeitern in einem Monat. Weil einzeln abzustimmen ja so viel Arbeit macht, wurden alle Anträge im Block pauschal von den anderen Parteien abgelehnt. Es ist sogar gesagt worden, die Anträge seien es nicht wert gewesen, sie zu lesen.
Liebe Zuschauer an den Fernsehern und auf der Tribüne,
({8})
so sieht die Wirklichkeit aus. Nach außen wird das Bild vermittelt, dass man sich für die Bürger und für die Schwachen einsetzt, in Wahrheit sind die parteiinternen Belange wichtiger. Liebe Kollegen von CDU/CSU und SPD, ändern Sie diese Einstellung! Dann könnte es eventuell, vielleicht und möglicherweise sogar wieder mit dem Wähler klappen.
({9})
– Vielen Dank.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Frau Merkel wegen ihrer Messertoten als Kanzlerin zurücktreten muss.
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Die nächste Rede von Kollegin Cansel Kiziltepe soll zu Protokoll gegeben werden. – Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. André Hahn, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur ein paar Worte zu Herrn König: Es ist eine schlichte Unverschämtheit, den anderen Fraktionen Behindertenfeindlichkeit oder Ähnliches zu unterstellen. Sie wissen ganz genau, dass es wegen des Haushaltes Sondersitzungen der Fraktionen und von Ausschüssen gegeben hat und dass deshalb einige Kollegen nicht nach Kiel fahren konnten. Wenn Sie hier wider besseres Wissen die Unwahrheit verbreiten, dann weise ich das entschieden zurück.
({0})
Ich habe in der Sportausschusssitzung am 27. Juni 2018 für meine Fraktion erklärt, dass Die Linke die Bewerbung von Special Olympics Deutschland um die World Games 2023 unterstützt, und ich will das hier auch noch mal bekräftigen.
Wir würden es sehr begrüßen, wenn die übernächsten Weltspiele in Berlin stattfinden würden. Dies wäre ein wichtiger Beitrag für die Sportbewegung in Deutschland und vor allem ein klares Bekenntnis für das Recht von Menschen mit geistigen und kognitiven Behinderungen auf volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention, und dazu gehört der Sport eben auch.
({1})
Es wäre im Übrigen auch eine Anerkennung für Special Olympics Deutschland mit seinen 1 110 Mitgliedsorganisationen, für die 40 000 Athletinnen und Athleten, die vielen Trainer, Betreuer, Volunteers, die Familienmitglieder und anderen ehrenamtlichen Helfer sowie die seit vielen Jahren treuen Sponsoren für die geleistete Arbeit. Ob bei den nationalen Spielen oder bei den Sportfesten in Sachsen, die ich besucht habe: Es ist schon beeindruckend, mit welcher Begeisterung und teilweise auch unter welchen Mühen hier Sport und Gemeinsinn organisiert werden.
Leider war die Sitzung des Sportausschusses wieder mal nichtöffentlich.
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Dort haben die Vertreter von Special Olympics Deutschland in überzeugender Weise ihr Konzept zur Ausrichtung der Weltspiele vorgetragen, und sie erhielten die Zustimmung aller Fraktionen. Auch das Berliner Abgeordnetenhaus hat sich damit beschäftigt und diese Bewerbung um die Austragung ebenfalls unterstützt. Insofern ist es gut, dass wir heute, sechs Tage bevor Special Olympics International die Entscheidung über die Vergabe der Weltspiele 2023 fällt, noch einmal ein deutliches Zeichen aus dem Bundestag senden können.
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Allerdings ärgert es mich schon, dass es nicht, wie verabredet, zu einer überfraktionellen Initiative kam, sondern die FDP hier einen Alleingang macht, und dann ist der Antrag leider auch noch schlecht gemacht. So steht zum Beispiel nicht mal drin, dass die Spiele in Berlin stattfinden sollen, und man sollte schon überlegen, wann man das Wort „Inklusion“ korrekterweise verwendet und wo es eben nicht passt.
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Schließlich vermisse ich auch eine klare Aussage zur finanziellen Beteiligung durch den Bund.
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Wir wissen alle: Es gibt einen sehr detaillierten Finanzplan, der vorsieht, dass sich der Bund und das Land Berlin mit jeweils 35 Millionen Euro beteiligen. Ich halte das für gut angelegtes Geld – erst recht, wenn man auch die langfristigen Wirkungen für den Behindertensport und für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft berücksichtigt.
Unstrittig ist, dass in diesem Bereich noch eine Menge zu tun ist. Wir haben das immer wieder thematisiert, auch die deutliche Schlechterstellung des paralympischen Spitzensports im Vergleich zum olympischen Spitzensport durch den Bund, und es gibt auch Zahlen aus dem Breitensport, die zeigen, wo wir in Deutschland stehen.
Laut Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen sind 81 Prozent der Menschen ohne Behinderungen in der Altersgruppe „18 bis 29 Jahre“ sportlich aktiv. Bei den Menschen mit Behinderungen sind es nur 33 Prozent, und bei Menschen mit geistiger Behinderung sind es sogar nur 6 bis 7 Prozent. Das hat kaum etwas mit der Einstellung der einzelnen Personen zum Sport zu tun, sondern mit den bestehenden Rahmenbedingungen, mit fehlenden barrierefreien Sportstätten, mit fehlenden Angeboten in Sportvereinen und auch in Schulen. Es fehlen geeignete Trainerinnen und Trainer, passende Sportgeräte und auch das Geld für notwendige Assistenzleistungen.
Abschließend möchte ich hier Mark Solomeyer, den Athletensprecher von Special Olympics Deutschland, zu Wort kommen lassen. Er schrieb im Bewerbungskonzept – Zitat –:
Wir Athletensprecher von Special Olympics Deutschland wünschen uns die Weltspiele in Deutschland! Wir möchten Menschen aus aller Welt bei uns in Berlin begrüßen. Wir möchten der Welt gemeinsam mit den Athletinnen und Athleten aus 170 Ländern zeigen, dass wir Special Olympics aktiv mitgestalten und unsere Interessen selbst vertreten.
Darin sollten wir die Athleten nach Kräften unterstützen.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Erhard Grundl, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr König, Sie präsentieren sich als ehemaliger Sportler. Ich weiß nicht, wie viel Sportsgeist dahintersteckt; denn die gleichen Unwahrheiten, die Sie heute hier wieder präsentiert haben, hatten Sie ja schon mal in der Vergangenheit öffentlich gemacht, um sie dann im Ausschuss kleinlaut zurückzunehmen und sich zu entschuldigen. Ich erwarte eigentlich das Gleiche heute wieder in der Öffentlichkeit – und nicht nur für Ihre Blase morgen früh auf Ihren Videokanälen.
({0})
Aus Sicht unserer Fraktion ist es gut und wichtig und auch entscheidend, dass sich die Organisation Special Olympics Deutschland um die Weltspiele 2023 bewirbt. Wie die SOD sehen auch wir in einer Bewerbung um die Weltspiele große Chancen für einen Wandel in der Gesellschaft hin zu mehr Inklusion und Teilhabe. Für uns steht auch fest, dass eine Bewerbung nur in einem transparenten Prozess erfolgen kann und ökologische Standards besonders berücksichtigt werden müssen. Dann ist auch eine finanzielle Förderung mit Steuergeldern gerechtfertigt.
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Die vorgelegte Bewerbung um die Weltspiele zeigt eindrücklich, wie eine Sportgroßveranstaltung in Deutschland aussehen kann und auch aussehen sollte. Hier stehen die Athletinnen und Athleten im Vordergrund und nicht sich selbst dienende und bedienende Funktionäre, wie manche bei der FIFA oder beim IOC.
Die Ausrichtung der Weltspiele kann eine große dauerhafte Wirkung für die gesamte deutsche Gesellschaft haben. Sie wird und muss unseren Blick auf all die Bereiche in unserem Land schärfen, in denen wir bei Inklusion und Teilhabe noch lange nicht so weit sind, wie wir es sein könnten.
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Ich denke hier an den Bildungsbereich, aber auch an den öffentlichen Nahverkehr und den Sportstättenbau. In all diesen Bereichen haben wir in Deutschland dringenden Nachholbedarf, was Inklusion und Teilhabe von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung angeht.
Lassen Sie uns die Möglichkeit der Weltspiele daher nutzen, die öffentliche Infrastruktur in Deutschland inklusiv und frei für alle nutzbar zu gestalten; denn auch darum geht es bei den Weltspielen: zu zeigen, dass die Athletinnen und Athleten – ich darf hier die Bewerbung des SOD zitieren – „Gestalter ihrer eigenen Zukunft in allen Lebensfeldern sind“.
Ich freue mich, wenn wir in der Ausschussberatung zu einem fraktionsübergreifenden Beschluss kommen und die Bewerbung um die Special Olympics World Games gemeinsam unterstützen. Die World Games werden erfolgreich sein, wenn die Akteure aus Sport und Politik gemeinsam für dieses großartige Projekt eintreten und die Bevölkerung vor Ort einbinden.
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Ich selbst war im Mai Gast bei den nationalen Special Olympics in Kiel. Als Kulturpolitiker stehe ich musikalischen Gassenhauern normalerweise eher spröde gegenüber. Aber wenn man erlebt hat, wie dort Athletinnen und Athleten, Zuschauer, Funktionäre und Politiker gemeinsam Helene Fischers bekanntesten Hit geschmettert haben, sodass das Dach der Ostseehalle fast weggeflogen ist, dann kann man fast auf die Idee kommen, es könnte gelingen, dass die Special Olympics World Games in Deutschland 2023 in etwa die gleiche mediale Aufmerksamkeit bekommen wie die im Jahr darauf stattfindende Fußballeuropameisterschaft.
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Den Athletinnen und Athleten würde ich es gönnen.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Frank Steffel.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr König, ich weiß langsam wirklich nicht mehr, wie man mit Ihnen noch arbeiten soll.
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Sie behaupten in einer Presseerklärung, dass wir behindertenfeindlich sind, weil die Regierungsfraktionen nicht zu den Special Olympics nach Kiel gefahren sind. In der Obleuterunde sind Sie dann ganz kleinlaut. Sie entschuldigen sich formvollendet im Ausschuss und haben die Impertinenz und Dreistigkeit, hier im Plenum des Deutschen Bundestages genau die gleiche Lüge zu wiederholen.
({1})
Sie wirken ja wie ein Biedermann und machen so einen sympathisch-fröhlichen Eindruck, und dann stellen Sie sich hierhin und enden bei Ihrer Rede zu den Special Olympics World Games – zu der Frage, ob sich die vielen Nationen in Chicago in fünf Tagen dafür entscheiden, Deutschland zum Gastgeber der Special Olympics World Games 2023 zu machen – mit dem Hinweis auf Messertote für Ihre widerwärtige Parteipropaganda. Sie sollten sich wirklich schämen.
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Ich will auch keine Zwischenfrage von Ihnen, weil Sie nämlich eines machen: Sie stellen die ganzen Lügen wieder ins Internet und erwecken damit den Eindruck, dass das, was Sie hier sagen, die Wahrheit ist. Ich lasse mir das von Ihnen nicht mehr bieten. Mir steht es wirklich bis zum Hals.
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Jetzt kurz zur Sache – es ist spät genug –: In fünf Tagen wird in Chicago entschieden, und ich stehe vor Ihnen als Berliner und als Mitglied des Kuratoriums für die Special Olympics World Games 2023 in Berlin. Insofern bin ich natürlich davon überzeugt, dass Berlin ein guter Gastgeber ist und dass es uns gelingen wird, 7 000 Sportlerinnen und Sportler, 3 500 Schiedsrichter, 3 000 Funktionäre und Offizielle und 12 000 Fans – was bei den Special Olympics World Games meistens leider nur Familienangehörige sind – hier in Berlin zu empfangen.
Die Sportstätten sind im Umkreis von 10 Kilometern um den Reichstag herum. Das heißt, es wären wirklich Spiele der kurzen Wege. Alle Sportstätten sind da. Es muss nichts neu gebaut werden.
Also rufe ich den Entscheidern zu: Entscheidet am 13. November für Berlin! Entscheidet für Deutschland! Deutschland wird ein guter Gastgeber für die Teilnehmer der Special Olympics World Games 2023 sein.
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Es ist ein gutes Zeichen, dass gerade in diesen Stunden die Koalitionsfraktionen – ich hoffe, dass die anderen Fraktionen dem zustimmen – in den Haushaltsberatungen abschließend entscheiden, für das Haushaltsjahr 2019 360 000 Euro für die Bewerbungsphase zur Verfügung zu stellen. Das ist das, was Special Olympics Deutschland im Moment braucht, um die Bewerbungsphase anzuschieben, um dann das umzusetzen, was wir hoffentlich am 13. November in Chicago gemeinsam erreichen.
Danach werden wir weitere Entscheidungen treffen müssen, und ich bin sehr zuversichtlich, dass die Koalition, die Freien Demokraten, die Linkspartei und die Grünen diesem Thema dann auch zustimmen und wir gemeinsam dafür sorgen, dass wir 2023 schöne Spiele in der deutschen Hauptstadt Berlin haben werden.
Herzlichen Dank und gute Nacht.
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Vielen Dank, Kollege Steffel. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Mahmut Özdemir, SPD-Fraktion.
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Nicht jede gestörte Wahrnehmung von parlamentarischen Abläufen sollte im Raume stehen bleiben. Eigentlich haben meine Kolleginnen und Kollegen Vorredner alles dazu gesagt.
({0})
Aber ich möchte noch mal aus der Pressemitteilung zitieren, für die sich Ihr Vertreter, Herr König, als Person entschuldigt und der es im Ausschuss gerechtfertigt hat: Das hat ja die Fraktion gemacht; damit habe ich ja eigentlich nichts zu tun.
({1})
– Herr Präsident, würden Sie mal für Ordnung da drüben sorgen?
Reden Sie ruhig weiter.
Vonseiten des Arbeitskreises der AfD-Bundestagsfraktion heißt es:
Wir rufen die Sportpolitiker der anderen Fraktionen auf, wachsamer zu sein und sich entschlossen gegen diese unerträgliche Menschen- und Lebensfeindlichkeit der Regierungsparteien zu stellen.
Mit den Belangen der behinderten Menschen so schändlich Parteipropaganda zu betreiben, ist ekelig, ist unwürdig, und es ist einfach nur beschämend für dieses Haus, was Sie uns hier einbrocken.
({0})
Wenn wir über Inklusion, Behindertenrechtskonvention, die Ratifizierung von Ansprüchen und Veränderungen im Sozialgesetzbuch reden, dann ist das die Wortwahl der Politik und der Verwaltung. Die Wortwahl von Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung ist eine andere: Sie reden über Chancen, über gleichberechtigte Teilhabe, über den Abbau von Hürden, die ihre Berechtigung nur noch in einem völlig überkommenen Behinderungsbegriff finden.
({1})
Sie reden über Anerkennung, Stolz und Leistungsbereitschaft, und zwar für ein selbstbestimmtes Leben, das nur vom eigenen Willen abhängt, trotz oder gerade wegen einer Behinderung.
Gerade deshalb möchte ich hier nicht über die Menschen mit Einschränkungen oder über „diese“ Menschen reden. Denn wir haben nur eine Gesellschaft in diesem Land, und wir werden uns Sonderregeln nicht mehr leisten können.
({2})
Stattdessen müssen wir jedem Menschen in diesem Land die Teilhabe an Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates ermöglichen, und zwar nicht als gebender, sondern als dienender Staat für diese Menschen. Das setzt aber auch die Ermunterung der Menschen zur Leistungsbereitschaft voraus – dass sie mit Erfolgswillen zupacken.
Diese beiden Eigenschaften sind auch Grundpfeiler für den Sport und sportlichen Erfolg. Unser Ziel im Bundestag muss es sein, gemeinsam mit allen Fraktionen einen Staffellauf zu organisieren, um nach den USA, China, Irland, Griechenland und demnächst den Vereinigten Arabischen Emiraten hier in Berlin Gastgeber der Special-Olympics-Weltspiele zu sein.
Für meine Fraktion kann ich sicher zusagen, dass sich gerade zur Stunde – oder zur späteren Stunde – der Berichterstatter Martin Gerster mit ganz viel Herzblut im Haushaltsausschuss dafür einsetzt. Es ist, glaube ich, auch kein Geheimnis, dass es eine Beschlussvorlage der Regierungskoalition von SPD, CDU und CSU gibt, die den Weg dazu bereiten soll, dass der Bund mit 35 Millionen Euro in Summe seinen Beitrag dazu leistet und dieser besonderen Bewerbung mit besonderem Rückenwind in fünf Tagen zum Erfolg verhilft.
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Der Sinn und Zweck, Gastgeber einer solchen sportlichen Großveranstaltung zu sein, ist nicht, dass sich der Staat mit Ruhm schmückt, auch nicht, dass man sich als Land in den Vordergrund drängt, sondern im Vordergrund steht das Sporttreiben dieser besonderen Athleten, denen wir unsere Redebeiträge hier heute widmen.
Der einzige Unterschied ist, dass es keinen Unterschied geben darf. Die Teilhabe von Menschen mit Behinderung in allen Bereichen wird mit einem achttägigen Sportgroßereignis in den Mittelpunkt unserer Gesellschaft gerückt. Dessen wahrer Wert ist es, ein Zeichen dafür zu setzen, die restlichen Tage im Jahr und die Jahre darüber hinaus diesen Geist, den uns diese Sportlerinnen und Sportler einhauchen, weiter zu leben, Ausgrenzung jeder Art abzustellen, im Speziellen aber Ausgrenzung aufgrund von Behinderungen zu verbannen: ein Wettkampf der Verbannung, den wir nur gemeinsam gewinnen können und gemeinsam gewinnen müssen.
Die Special Olympics 2023 hier in Berlin wären ein Wert für sich, mit dem wir durch politisches und gesellschaftliches Handeln weiteren Wert verleihen können. Mich erfüllt die Vorstellung, dass wir im eigenen Land hautnah mit diesen Sportlerinnen und Sportlern um den sportlichen Erfolg mitfiebern können, mit großer Vorfreude. Es wäre wirklich schön, wenn wir das in Berlin hautnah miterleben könnten – in der Mitte der Gesellschaft.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/5219 an den Sportausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie menschlich eine Gesellschaft ist, zeigt sich auch und insbesondere daran, wie sie mit Menschen umgeht, die pflegebedürftig sind. Ob Mitmenschlichkeit und Solidarität zwischen den Generationen in unserer Gesellschaft gelingen, entscheidet sich ganz wesentlich in der Pflegepolitik. Jeder wird in seinem Leben in der einen oder anderen Form mit dieser Hilfebedürftigkeit konfrontiert werden.
Wir wollen, dass die Menschen in diesem Land sich darauf verlassen können, dass es auch in Zukunft eine gute und flächendeckende pflegerische Versorgung geben wird.
({0})
Dazu haben wir bereits in den vergangenen Jahren gesetzliche Änderungen beschlossen. Davon profitieren inzwischen 700 000 Pflegebedürftige zusätzlich, vor allem Demenzkranke und ihre pflegenden Angehörigen.
Die Leistungsverbesserungen der letzten Jahre sind bei den Menschen tatsächlich ganz konkret angekommen.
({1})
Die Leistungsausgaben in der Pflegeversicherung sind seit 2009 von 20 Milliarden auf 35 Milliarden Euro gestiegen.
Aber wir werden dabei nicht stehen bleiben. Wir werden morgen hier im Deutschen Bundestag das Pflegepersonalstärkungsgesetz nach zweiter und dritter Lesung beschließen, und wir geben damit eine ganz starke Antwort auf weitere Herausforderungen im Bereich der Pflege. Wir stellen die Weichen für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen.
Wir sind jetzt mittendrin, die Bedingungen für die Pflegekräfte – für die Stützen der Gesellschaft, und ich sage, für die Heldinnen und Helden des Alltags – zu verbessern: für mehr Pflegekräfte und eine angemessene Bezahlung. Und wir wollen noch mehr tun: bei der Entlastung der Angehörigen, bei der Stärkung der Bezahlung nach Tarif, für die Altenpflegekräfte und bei der Angleichung der Sachleistungen an die Personalentwicklung.
Das alles sind einzelne Rädchen und Schritte. Aber alles zusammen wird – davon bin ich überzeugt – die Lage verbessern, wenn wir uns so gemeinsam auf den Weg machen, wie wir es jetzt begonnen haben.
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Zur Wahrheit gehört aber auch: Das alles gibt es nicht umsonst. Jedem sollte klar sein, dass das, was jetzt gefordert wird, auch etwas kostet. Wir brauchen daher die Erhöhung des Pflegebeitragssatzes um 0,5 Prozentpunkte. Gute Pflege muss uns etwas wert sein, und wir sollten das auch immer ganz offen und ehrlich dazusagen.
Mein Eindruck ist im Übrigen, dass es generationenübergreifend nicht nur einen Wunsch nach guter Pflege, sondern durchaus auch eine hohe Bereitschaft gibt, mehr dafür zu bezahlen.
({3})
Umgekehrt: Wenn wir beim Pflegebeitrag nichts tun, dann läuft die Pflegekasse rasant ins Defizit. Alleine dieses Jahr fehlen 3 Milliarden Euro.
Bei alledem müssen wir natürlich zugleich immer klug und maßvoll vorgehen. Das heißt, das Ziel ist und bleibt auch für die Zukunft, dass wir die Sozialabgaben insgesamt unter 40 Prozent halten.
Meine Damen und Herren, wenn wir eine hochwertige und menschenwürdige Pflege sichern, dann investieren wir damit in die Zukunft, in eine menschliche Zukunft und in den Zusammenhalt dieser Gesellschaft, und das sollte uns etwas wert sein.
Herzlichen Dank.
({4})
Der nächste Redner für die Fraktion der AfD ist der Kollege Jörg Schneider.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! – Zuschauer haben wir keine mehr. – Die Pflegebeiträge sollen erhöht werden. Der Herr Minister ist zwar nicht bereit, uns zu dieser späten Stunde zuzuhören, aber er hat zumindest festgestellt, dass es generationsübergreifend durchaus die Bereitschaft gibt, erhöhte Pflegebeiträge zu akzeptieren.
({0})
– Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, tun Sie das. Aber lassen Sie mich jetzt bitte ohne Unterbrechung reden. Es ist, glaube ich, schon relativ spät.
Die Menschen werden aber durchaus fragen, wofür denn jetzt eigentlich die Pflegeversicherungsbeiträge erhöht werden sollen. Vielleicht für die Defizite der letzten Legislaturperiode? Sie hatten damals im Sozialgesetzbuch XI das Leistungsspektrum erweitert und sich dabei verkalkuliert. Sie haben es eben selber gesagt: um 3 Milliarden Euro. Sollen dafür jetzt erhöhte Pflegebeiträge bezahlt werden?
({1})
Oder soll mehr bezahlt werden für mehr Pflegekräfte? Die müsste man jetzt ja erst mal gewinnen. Dazu müsste man Menschen bewegen, diesen Beruf zu ergreifen, oder man müsste Menschen dazu bringen, von der Teilzeit in die Vollzeit zu wechseln. Das setzt eine bessere Bezahlung voraus.
Sie hatten die Idee einheitlicher Tarifverträge. Das haut aber nicht so ganz hin. Im Sozialgesetzbuch XI sind das alles Einzelvereinbarungen zwischen den Trägern der Sozialversicherung, zwischen den Trägern der Leistungserbringung, zwischen den Versicherungen. Dazu kommen dann noch Sondersituationen für kirchliche Einrichtungen. So einfach ist das alles nicht.
Wir von der AfD hatten vorgeschlagen, Arbeitgeber zu einheitlichen Arbeitsvertragsrichtlinien zu verpflichten. Die gibt es auch schon längst. Das wäre eine Lösung gewesen. Sie haben sich aber schon in Koalitionsverträgen in eine falsche Richtung verrannt, und jetzt fordern Sie höhere Beiträge, um ein Versprechen einzulösen, das Sie gar nicht einlösen können.
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Vielleicht möchten Sie auch höhere Beiträge für die Entwicklung verbindlicher Personalbemessungsinstrumente. Es wurde eine Konzertierte Aktion Pflege aus der Taufe gehoben: 3 Ministerien und 43 gesellschaftliche Institutionen arbeiten jetzt in 5 Arbeitsgruppen. Die Probleme sind eigentlich längst bekannt. Sie werden jetzt noch mal bürokratisch durchgekaut. Sollen die Menschen dafür höhere Beiträge bezahlen?
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Oder sollen sie vielleicht diese höheren Beiträge für die Sicherstellung der Pflege zahlen? Na ja, das wird ungefähr bis zum Ende dieser Legislaturperiode funktionieren.
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Danach gilt doch dann für gute Pflege und für die Absicherung des Pflegerisikos im Alter wiederum die Eigenvorsorge.
Dazu gehört dann auch die Pflege durch Angehörige. Bereits jetzt werden 74 Prozent aller Pflegebedürftigen zu Hause von Angehörigen gepflegt. Das wäre eigentlich der Ansatz, den Sie verfolgen sollten: Es müsste endlich darum gehen, dass wir pflegende Angehörige im Alltag stärken. Wir müssten das gesamte System reformieren, sowohl die Krankenversicherung als auch die Pflegeversicherung.
({5})
Diese Wahrheit hat der Minister längst erkannt. Er wurde am 24. Oktober in der „Berliner Zeitung“ mit den Worten zitiert:
Bei allem notwendigen Engagement für Pflegekräfte: Ohne die gegenseitige Hilfe in den Familien würde unser Pflegesystem zusammenbrechen.
Hier, meine Damen und Herren, ist Unterstützung nötig, und hier bedarf es der Reform. Dafür würde der Bürger dann vielleicht auch gerne höhere Beiträge bezahlen.
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Nur liegt in dieser Hinsicht bisher vom Ministerium und von den Koalitionsparteien relativ wenig auf dem Tisch.
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Ich danke Ihnen.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Heike Baehrens, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schneider, wenn von der AfD nicht regelmäßig nur drei statt fünf Abgeordnete an den Sitzungen des Gesundheitsausschusses teilnehmen würden
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und wenn auch Sie zu denen gehören würden, die regelmäßig teilnehmen, dann hätten Sie nicht in dieser Art und Weise über dieses wichtige Thema palavern müssen.
({1})
Sehr geehrte Damen und Herren, es lohnt sich, in eine gute, menschenwürdige, zukunftsfeste Pflege zu investieren. Die Eltern und Großeltern im Alter gut versorgt zu wissen, keine Angst vor Alter und Pflegebedürftigkeit haben zu müssen, selbst zu bestimmen, wo und wie man gepflegt werden möchte – das wünschen wir uns alle. Darüber gibt es einen breiten Konsens in unserer Gesellschaft, und dafür wurde die soziale Pflegeversicherung geschaffen:
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damit die finanzielle Belastung durch Pflegebedürftigkeit nicht zur Bürde wird.
Aber gute Pflege hat ihren Preis; sie kann nicht billig sein. Nun zeichnet sich ab, dass die Einnahmen nicht ausreichen. Darum ist eine Erhöhung der Beiträge um 0,5 Beitragssatzpunkte angemessen und richtig. Dass die Ausgaben steigen, ist ja nicht einmal ein schlechtes Zeichen. Denn es zeigt: Die Leistungen der Pflegeversicherung kommen an, Pflegebedürftige nutzen die neuen Möglichkeiten und die erweiterten Leistungen, die wir mit den Pflegestärkungsgesetzen geschaffen haben.
Wir haben ganz besonders die Versorgung im ambulanten Bereich gestärkt. Drei von vier Pflegebedürftigen können heute in der vertrauten Wohnung gepflegt werden. Das ist ein großer Erfolg dank der Leistungen der Pflegeversicherung.
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Der pflegebedürftige Rentner, der zu Hause bleiben möchte, aber nicht mehr seine Badewanne besteigen kann, bekommt zum Beispiel bis zu 4 000 Euro, um Barrieren in seiner Wohnung abzubauen oder beispielsweise einen Treppenlift einzubauen.
Wir entlasten Angehörige, die einen großen Teil der Unterstützung und Pflege leisten: Die Tochter, die ihre pflegebedürftige Mutter bei sich zu Hause pflegt und ihren Anspruch auf Verhinderungspflege bereits ausgereizt hat, weil sie womöglich einmal krank geworden ist, kann trotzdem in den wohlverdienten Urlaub fahren und dafür die Leistungen der Kurzzeitpflege in Anspruch nehmen. Wie nötig solche Angebote sind, bestätigt der gerade heute vorgestellte neue „Barmer-Pflegereport“, der deutlich macht, unter welch großen Belastungen pflegende Angehörige stehen. Genau darum müssen wir solche Leistungen zur Entlastung tatsächlich aufbauen.
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Ganz wichtig dabei: Sehr viel mehr pflegende Angehörige nehmen die zusätzlichen Rentenpunkte in Anspruch; denn wer seine Erwerbstätigkeit für die Pflege von Angehörigen reduziert, darf seine eigene Altersversorgung nicht gefährden. Darum ist es so wichtig, dass es diese Leistungen gibt.
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Ein weiterer Grund für die gestiegenen Ausgaben in der Pflegeversicherung: Es profitieren viele von den guten Besitzstandsregelungen, die wir geschaffen haben, als wir den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt und die Umstellung von den Pflegestufen auf die Pflegegrade vorgenommen haben. Und es ist gut – das hat Herr Staatssekretär eben schon gesagt –, dass jetzt vor allem auch Menschen mit demenzieller Erkrankung einen viel rascheren Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung haben.
Die anstehende Beitragssatzerhöhung ist darum angemessen. Die höheren Beiträge von allen sorgen dafür, eine würdevolle Pflege zu gewährleisten, pflegende Angehörige zu entlasten und zu unterstützen und bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege zu ermöglichen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Die nächsten beiden Reden gehen mit Ihrem Einverständnis zu Protokoll, nämlich die Reden von Nicole Westig von der FDP und von Pia Zimmermann von der Fraktion Die Linke.
Das Wort hat als Nächstes die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen von der FDP und von der Linken! Gute Pflege braucht eine gute und solide Finanzierung. Ich glaube, das Thema „gute Pflege“ wird eine der größten Herausforderungen für unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren.
({0})
Allein bis 2035 wird die Zahl der Pflegebedürftigen in unserem Land um fast 50 Prozent steigen. Deswegen lassen Sie mich sagen: Wir brauchen nicht nur eine gute Pflege und eine gute Finanzierung, sondern wir brauchen auch den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
({1})
Wenn ich hier gerade bei den letzten beiden Tagesordnungspunkten die Reden gehört habe, dann sage ich: Wir brauchen den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, damit wir auch für die Pflege gut aufgestellt sind. Wir werden jeden Menschen brauchen, der bereit ist, mit und für Menschen zu arbeiten, und wir alle müssen uns dem Hass und den Lügen derjenigen entgegenstellen, die bewusst versuchen, den Zusammenhalt zu zerstören.
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Zwei Drittel aller Pflegebedürftigen werden heute von ihren Angehörigen gepflegt. Aber wir haben neben dem demografischen auch einen gesellschaftlichen Wandel. Wir haben das Thema „Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf“, wir haben das Thema Mobilität, wir haben das Thema, wie die Menschen überhaupt in Zukunft weiter ihre älteren pflegebedürftigen Angehörigen pflegen können. Deswegen brauchen wir mehr Unterstützung für die Pflegebedürftigen in unserem Land, und deswegen müssen wir uns endlich ehrlich machen, auch was die Herausforderungen bei der Finanzierung der Pflege angeht.
({3})
Wir haben ein Zeitfenster von maximal zehn Jahren, um ein gutes System der Prävention von Pflegebedürftigkeit aufzubauen, gute Versorgungsstrukturen in Stadt und Land zu schaffen, die Vereinbarkeit von Pflege, Beruf und Familie zu organisieren und natürlich auch das Pflegepersonal so aufzubauen und zu unterstützen, sodass hiervon mehr und ausreichend zur Verfügung steht. Meine Damen und Herren, all das sind wichtige Voraussetzungen, und dafür brauchen wir eine solide und gerechte Finanzierung.
({4})
Was die Bundesregierung jetzt hier vorlegt, ist eine Erhöhung um 0,3 Prozentpunkte, die darauf zurückzuführen ist, dass man sich bei den Reformen in der letzten Legislaturperiode nicht darauf eingestellt hatte, in welchem Ausmaß die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen Leistungen in Anspruch nehmen. Das heißt, damit hatte man gar nicht gerechnet.
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Wir wissen doch alle schon jetzt, meine Damen und Herren, dass die 0,2 Prozentpunkte, die Herr Spahn jetzt noch obendrauf gelegt hat, nicht reichen werden. Wir können doch in unserer Gesellschaft nicht von Jahr zu Jahr die Pflegebeiträge erhöhen, sondern wir brauchen tatsächlich eine grundsätzliche Reform der Pflegeversicherung.
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Wir müssen uns, was die Kosten angeht, endlich ehrlich machen. Wir brauchen nicht nur mengenmäßig mehr Pflege, um den Bedarf zu decken, sondern wir brauchen auch mehr Qualität, wir brauchen moderne Pflegekonzepte, und wir müssen uns auch darum kümmern, dass Menschen, die im Pflegeheim sind, durch die Pflege nicht in Armut geraten, weil sie den Eigenanteil nicht mehr finanzieren können.
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Meine Damen und Herren, Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie betrifft die älteren Menschen und ihre Familien, die professionell Pflegenden, die Kommunen und die jüngeren Generationen, die auch in die Versicherung einzahlen müssen und dabei nicht überfordert werden dürfen. Deswegen müssen wir uns bei der Finanzierung der Pflegeversicherung endlich ehrlich machen.
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Wir müssen prüfen, welche Aufgaben Teile der Daseinsvorsorge sind und aus Steuermitteln zu finanzieren sind, und wir brauchen eine nachhaltige, solide, gerechte Finanzierung, eine Versicherung, die die Lasten auf allen Schultern gerecht verteilt. Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Pflege-Bürgerversicherung.
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All das ist die Voraussetzung dafür, dass wir gute Pflege nicht nur organisieren – das müssen wir tun –, sondern sie auch finanzieren können. Wir stehen vor einer riesigen Aufgabe. Wir müssen dabei als gesamte Gesellschaft zusammenhalten. Dazu fordere ich alle demokratischen Parteien, die in diesem Haus vertreten sind, auf. Lassen Sie uns zusammen für gute Pflege kämpfen.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die Reden der Kollegen Tino Sorge, Dirk Heidenblut und Dietrich Monstadt gehen zu Protokoll.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/5464 und 19/5525 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nun fordert Die Linke in ihrem Gleichstellungseifer also auch für den Deutschen Bundestag eine gesetzliche Frauenquote.
({0})
Unterstützt wird sie hierbei von Stimmen aus der SPD,
({1})
Bündnis 90/Die Grünen
({2})
und – man höre! – der CDU. Exemplarisch seien für die CDU Frau Kramp-Karrenbauer und für die SPD Bundesjustizministerin Barley genannt. Um es klar zu sagen: Was hier gefordert wird, ist nichts anderes als die Abschaffung der in Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes garantierten Grundsätze der Freiheit und Gleichheit der Wahl.
({3})
Die ehemalige Bundesjustizministerin Zypries hat vor einigen Jahren in einem juristischen Aufsatz richtigerweise darauf hingewiesen, dass – Zitat – „eine gesetzliche Geschlechterquote einen wichtigen Teil der Wahlentscheidung dem demokratischen Prozess entziehen und damit den Kerngehalt jeder Wahl beeinträchtigen“ würde. Vielleicht sollte die aktuelle Bundesjustizministerin ja einmal das Gespräch mit ihrer Vorgängerin suchen.
({4})
Der gesamte Antrag der Fraktion Die Linke ist von einem verqueren Verständnis unserer Verfassung durchzogen. Das beginnt schon bei der Überschrift: Dort wird von einem „Verfassungsauftrag zu Gleichstellung“ gesprochen. Es gibt keinen Verfassungsauftrag zur Gleichstellung.
({5})
Das Grundgesetz garantiert vielmehr in Artikel 3 die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Gleichberechtigung bedeutet Gleichheit im Recht und räumt Chancengleichheit ein. Gleichstellung dagegen schreibt Ergebnisgleichheit vor und steht somit im logischen Widerspruch zur Gleichberechtigung, ja hebelt diese sogar aus.
({6})
Deswegen wurde im Übrigen im Zuge der 1994 erfolgten Ergänzung des Artikels 3 Absatz 2 das Wort „Gleichstellung“ bewusst vermieden.
Weiter schreibt Die Linke in ihrem Antrag, die „evidente Unterrepräsentanz von Frauen im Deutschen Bundestag“ widerspreche „dem Demokratiekonzept der Verfassung“. Dieses fordere „die Repräsentanz der ganzen Bevölkerung, nicht nur der männlichen Hälfte.“ Die Linke hat ganz offensichtlich das Demokratieprinzip des Grundgesetzes nicht verstanden.
({7})
Die repräsentative Demokratie im Sinne des Grundgesetzes verlangt weder eine das Volk insgesamt noch das Geschlechterverhältnis spiegelnde Zusammensetzung des Parlaments. Alle staatlichen Entscheidungen müssen lediglich den Willen des Volkes repräsentieren, nicht aber das Volk in seiner Zusammensetzung spiegeln.
({8})
Wäre dies anders, müsste eine Regelung weit über die Geschlechterproblematik hinausgehen und auch sonstige Bevölkerungsgruppen erfassen. Das Ergebnis wäre ein Parlament, in dem der Abgeordnete nicht, wie vom Grundgesetz vorgesehen, Vertreter des ganzen Volkes, sondern Repräsentant einer bestimmten Gruppe oder gar nur Interessenvertreter wäre.
({9})
Mit dem Demokratiekonzept des Grundgesetzes hat dies nichts gemein.
({10})
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist verfassungswidrig und undemokratisch. Wir lehnen ihn selbstverständlich ab.
Danke schön.
({11})
Die Rede der Kollegin Daniela Kolbe geht zu Protokoll.
Die nächste Rednerin ist für die FDP die Kollegin Katrin Helling-Plahr.
({0})
Sehr geehrter Präsident! Meine Damen und Herren! Auf den ersten Blick kommt das, was Die Linke hier beantragt, im Wohlfühlgewand daher. Sie erinnern an 100 Jahre Frauenwahlrecht und schreiben von wertschätzendem Umgang mit Frauen. Hinter der harmlosen Tarnung verbirgt sich dann aber die Forderung nach – ich zitiere – einer „gesetzlichen Regelung zur Steigerung des Frauenanteils“ im Deutschen Bundestag, oder deutlicher: nach einer Frauenquote für unser Haus. Sie wollen das Wahlrecht ändern, weil Sie finden, dass unsere Bürgerinnen und Bürger nicht richtig wählen.
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Sehr geehrte Damen und Herren von der Linksfraktion, offenbar muss ich Sie erinnern: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – Artikel 20 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz –, also nicht von uns oder von Ihnen hier, sondern vom Volke.
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Mit einer Quote würden wir dem Volk einen Teil seiner Souveränität nehmen und ein bestimmtes Wahlergebnis erzwingen. Wir dürfen uns aber doch nicht ernsthaft aufschwingen, klüger sein zu wollen als unser Volk.
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Ich erinnere weiter: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“ Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Gleiche Wahlen – das ist genau das, wofür auch die Mütter unseres Grundgesetzes gekämpft haben. Den historischen Befürwortern des Frauenwahlrechts ging es schon davor darum, allen erwachsenen Menschen die gleichen rechtlichen Möglichkeiten zu demokratischen Wahlen zu schaffen, und zwar gerade unabhängig vom Geschlecht. Sie werfen diesen ehernen Grundsatz in die Tonne, weil Ihnen der Wähler bisher nicht geschlechtergleich genug entschieden hat, weil Ihnen die Wahlergebnisse nicht gefallen.
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Sie wollen verhindern, dass jeder Wähler auch künftig Kandidaten gleich welchen Geschlechts frei auswählen kann. Das wäre ein Rückfall in die Zeit vor 1918.
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Um dem Ganzen das Sahnehäubchen aufzusetzen, wollen Sie die Entmachtung unserer Bürgerinnen und Bürger noch mit dem im Grundgesetz verankerten Staatsziel der Gleichberechtigung der Geschlechter legitimieren. Zunächst: Gleichberechtigung bedeutet nicht erzwungene Ergebnisgleichheit, sondern gleiche Rechte.
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Ich verrate Ihnen etwas: Eine Quote wäre nicht Verfassungsauftrag, sondern ein Verfassungsbruch. Welche Denke steckt nun bei Ihnen dahinter? Sie glauben, dass sich Frauen im Politikbetrieb nicht aus eigener Kraft durchsetzen können. Sie stecken uns wieder einmal in die Opferschublade.
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Statt Bevormundung brauchen wir eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und auch Mandat.
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Ich weiß, wovon ich rede. Ich stehe hier um 12 Uhr nachts, spreche zu Ihrem Antrag und hoffe, dass mein knapp 2-jähriger Sohn noch nicht wieder wach geworden ist und nach seiner Mutter fragt. Familienfreundlichere Tagungszeiten für das Parlament erwähnen Sie in Ihrem Antrag mit keinem Wort. Sie schreien nur nach der Quote.
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Im Übrigen, die Frage sei mir noch gestattet: Wie weit wollen Sie mit Ihrer Bevormundung des Wählers eigentlich künftig noch gehen? Welche Quoten fallen Ihnen noch ein? Nach Verabschiedung des GroKo-Rentenpakets heute früh könnten wir über eine Quote für Vertreter der jüngeren Generation nachdenken.
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Andererseits haben die Jüngeren in den anderen Fraktionen heute auch kein Verantwortungsbewusstsein für jüngere Generationen bewiesen. Haben Sie mal darüber nachgedacht, dass vielleicht das gesamte Denken in Gruppenzugehörigkeitsschubladen von gestern sein könnte?
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Linksfraktion, Sie vermarkten Ihre Quotenforderung öffentlich auch unter dem so vornehm klingenden Schlagwort Parité. Während Sie Parité wollen, stehen wir für Liberté und Égalité – für Freiheit und Chancengerechtigkeit.
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Und deshalb lehnen wir diesen Antrag ab.
Danke.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Doris Achelwilm, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, ich muss sagen: Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll,
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vielleicht an der Stelle, dass 2018 tatsächlich ein frauen- und gleichstellungspolitisch besonderes Jahr ist. Das zeigen Kämpfe um die Aufwertung der Pflege, wie wir eben gehört haben, die Abschaffung des § 219a, europaweite Frauenstreiks und auch der 100. Jahrestag des Frauenwahlrechtes am 12. November.
In vielen Städten werden Veranstaltungen zu diesem Thema organisiert. Bürgerliche und revolutionäre Vorkämpferinnen wie Clara Zetkin, Käte Duncker, Auguste Kirchhoff und Hedwig Dohm werden angemessen gewürdigt. Ich finde, dem sollten wir uns hier anschließen.
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Unseren heute vorliegenden Antrag haben wir bereits im Ausschuss diskutiert. Dort zeigten sich zu der Frage der Erhöhung des Frauenanteils im Bundestag ganz unterschiedliche Ansprüche. Es war keine Debatte, wie sie sich hier darstellt, sondern es ging deutlich verständiger zu. Deshalb bin ich auch ein bisschen überrascht. Unstrittig ist auf jeden Fall, dass die Gleichstellung der Geschlechter nie ein Selbstläufer war und dass sie teilweise sehr rasant zurückgeht.
Der Bundestag ist mit einem Frauenanteil von knapp 31 Prozent so weit von einer geschlechterparitätischen Besetzung entfernt wie seit 20 Jahren nicht. Und die Landtage nach den Wahlen in Hessen und Bayern liegen auf einem ähnlichen Niveau. Verwaltungen und Kommunalparlamente liegen oft noch weit darunter. In der Bundesregierung gab es seit 1949 mehr Staatssekretäre, die Hans hießen, also Männer mit zufällig gleichem Vornamen, als Frauen insgesamt in dieser Position. Wie viel deutlicher soll der Handlungsbedarf eigentlich noch werden?
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Die anstehende Wahlrechtsreform bietet nun ein Zeitfenster für Verbesserungen, die absolut notwendig sind. 2018 wäre wirklich ein sehr geeignetes Jahr, um im Bundestag zu beschließen, dass der Frauenanteil bei Wahlmandaten gesetzlich gesteigert werden muss.
Alle der hier im Bundestag vertretenen Parteien sind im Sinne der Geschlechterdemokratie gefordert. Der Frauenanteil in der Mitgliedschaft liegt bei keiner Partei über 40 Prozent, und an der Familien- und Frauenorientiertheit muss in Parteien immer gearbeitet werden. Aktuell haben hier nur Grüne und Linke mehr weibliche als männliche Abgeordnete, weil sie das wollen und umsetzen. Das Problem der sonstigen Unterrepräsentanz von Frauen wird aber bis in die Spitzen von CDU und FDP inzwischen öffentlich erkannt – immerhin. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, geschlechtsspezifische Benachteiligungen und gläserne Decken beiseitezuschieben.
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– Bei Ihnen muss man von Betonmauern sprechen.
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Das ist mit „gläserner Decke“ gar nicht mehr auszudrücken. Aber gut, das ist ja allgemein bekannt und scheint Sie nicht sonderlich zu stören.
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Von daher lege ich meine Hoffnung ganz bestimmt nicht in Ihre Hände, was dieses Thema anbetrifft.
Unsere gemeinsame Aufgabe ist es nichtsdestotrotz, geschlechtsspezifische Benachteiligungen und gläserne Decken beiseitezuschieben. Gesetzgeberische Initiativen haben auch UNO und OECD für Deutschland schon angemahnt, und auf verschiedenen Ebenen wurde damit längst angefangen.
Ich spreche mich hier noch einmal deutlich für quotierte Listenaufstellungen in den Parteien aus; sie bringen schon mal viel. Einige Bundesländer arbeiten an Paritätsgesetzen oder prüfen die landesrechtlichen Voraussetzungen. In Frankreich – das wurde schon angesprochen – gilt seit 2001 ein Parité-Gesetz, das nicht nur den Frauenanteil in den Parlamenten, sondern auch die Wahlbeteiligung deutlich erhöht hat.
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Ohne Frage: Die Bedenken und wahlrechtlichen Hürden zu paritätischen Wahlverfahren sind nicht unerheblich. Es gibt aber auch die Position sehr guter Verfassungsrechtlerinnen, dass das Grundgesetz ein Parité-Gesetz nicht nur zulässt, sondern nahelegt. Seit 1994 haben wir den Verfassungsauftrag in Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz, die Gleichberechtigung der Geschlechter durchzusetzen. Das zu ignorieren, ist, mit der Sozialdemokratin Elisabeth Selbert gesprochen, „Verfassungsbruch in Permanenz“, und ihre Losung ist in diesen Tagen auch auf großflächigen Plakaten des Familienministeriums zu lesen.
In diesem Sinne ist die Frage, die sich heute stellt: Worauf warten wir noch? Als Linksfraktion appellieren wir anlässlich des 100. Jahrestages des Frauenwahlrechts an eine Absichtserklärung aus diesem Parlament. Wir wissen, dass in allen Fraktionen, abgesehen von der rechtsradikalen und frauenfeindlichen AfD,
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Abgeordnete sitzen, die an der derzeitigen Schieflage etwas ändern wollen. Auch wenn die Reform des Wahlrechts komplex ist, sollte der Bundestag heute bekräftigen, Frauen angemessener repräsentieren zu wollen.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin: die Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Da plustert sich doch in aller Ernsthaftigkeit dieser AfD-Typ hier auf
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und sagt, es gebe keinen Gleichstellungsauftrag. Und dann auch noch so tun, als wäre man Jurist.
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Ich glaube, er kennt den Artikel 3 des Grundgesetzes nicht.
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Ich lese Ihnen einmal Absatz 1 und Absatz 2 vor:
Alle Menschen sind gleich vor dem Gesetz. Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Und dann Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz:
Niemand darf wegen seines Geschlechtes ... benachteiligt werden.
Denken Sie mal darüber nach. Es wäre ganz gut.
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Mein Gefühl ist aber: Auch Denken hilft da nicht weiter. So mancher macht das Brett vorm Kopf zur Waffe.
Der Deutsche Bundestag – und jetzt wird es ernst – hat einen Frauenanteil von 30,9 Prozent. Das sind 218 Frauen von 709 Abgeordneten. Zuletzt hatte der Deutsche Bundestag in der 14. Legislaturperiode, nämlich von 1998 bis 2002, einen so geringen Anteil von Frauen im Parlament. Die weibliche Hälfte unserer Gesellschaft ist nicht ausreichend im Parlament vertreten, und das ist ein Unding, mit dem wir uns nicht abfinden sollten.
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Mit der aktuellen Situation mit einem Frauenanteil hier von 30,9 Prozent sollten und dürfen wir uns nicht abfinden, und ich hoffe, dass wir in der Breite des Parlamentes bei den demokratischen Fraktionen Unterstützung von vielen Frauen und Männern finden, die ein Interesse haben, das zu ändern, meine Damen und Herren.
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Über die Einstellung zur Demokratie und zu demokratischen Institutionen brauchen wir sicherlich keine Belehrungen vonseiten der AfD.
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Antifeminismus gehört zum Programm, jeden Tag aufs Neue, und auch das lehrt uns, dass wir in Sachen Gleichstellung einfach jeden Tag klar dastehen müssen und dafür auf allen Ebenen kämpfen müssen.
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Wir brauchen dringend mehr Frauen im Bundestag. Wir Grüne haben den höchsten Frauenanteil aller Fraktionen im Parlament und praktizieren Gleichberechtigung auch bei unseren Listenaufstellungen. Es wäre ein erster Schritt, wenn andere Parteien diesem Beispiel folgen. Aber, meine Damen und Herren, das ist bisher nicht der Fall, und nur auf die Frage der Parteipolitik können wir uns nicht beschränken. Deshalb ist es richtig und wichtig, einen inhaltlichen Prozess zu der Frage Parité-Gesetz, zu der Frage Parteienfinanzierung und zu anderen Fragen anzustoßen und darüber jetzt intensiv zu diskutieren.
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Denn aus Artikel 3 des Grundgesetzes und dem innerparteilichen Demokratiegebot gibt es einen klaren Förderauftrag für uns alle. Das hat eine Fraktion hier im Bundestag negiert. Das sollte uns aber nicht abhalten, daran intensiv zu arbeiten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Trotzdem ist der Antrag der Linken – das will ich an der Stelle sagen –, nämlich die Bundesregierung aufzufordern, uns ein Parité-Gesetz vorzulegen, reichlich unsouverän. Ich verstehe das an der Stelle wirklich nicht. Ich finde, wir sollten darüber reden, aber nicht nur reden – das tun ganz viele öffentlich –, sondern wir sollten auch endlich handeln und schauen, wie wir dazu kommen, ein Parité-Gesetz zu verabschieden.
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Aber ich habe kein Interesse daran, dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordert, uns was vorzulegen. Ich finde, das ist das originäre Recht des Parlaments. Und da sollten wir auch so souverän sein, das zu tun.
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Das stört mich an eurem Antrag; das muss ich ganz ehrlich sagen. Das finde ich ein bisschen zu defensiv.
Lassen Sie mich diese Debatte, die gerade erst anfängt – ich hoffe, dass sie mit aller Intensität in allen Fraktionen geführt wird; bei uns können Sie sich darauf verlassen –, schließen mit einem Zitat von Elisabeth Selbert, einer der Mütter des Grundgesetzes. Sie hat 1981 gesagt: Die geringe Beteiligung von Frauen in Parlamenten ist ein „Verfassungsbruch in Permanenz“. Ich glaube, es ist höchste Zeit, daran zu arbeiten, dass das anders wird.
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Die Rede von Petra Nicolaisen, CDU/CSU-Fraktion, geht zu Protokoll.
Der nächste Redner ist der Kollege Fabian Jacobi, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wird in diesen Tagen viel vom Verfassungsschutz geredet, und so will ich das auch einmal tun. Der Verfassungsschutz, das ist ein Institut, welches sich befassen soll mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen. Schaut man sich um, gewinnt man den Eindruck, dass viele den Begriff „verfassungsfeindlich“ für eine Art Universalbeschimpfung halten, mit der sie alles belegen können, was ihnen irgendwie widerstrebt. Glücklicherweise leben wir aber in einem Rechtsstaat, in dem juristische Begriffe dem Gesetz entnommen werden. Was ist eine verfassungsfeindliche Bestrebung? Das Bundesverfassungsschutzgesetz sagt es: eine Bestrebung, die abzielt auf die Abschaffung oder Außerkraftsetzung wesentlicher Verfassungsgrundsätze. Und was sind die Grundsätze, die abschaffen zu wollen den Verfassungsfeind ausmacht? Auch das steht dort nachzulesen. Gleich der erste, den das Gesetz nennt, ist dieser: das Recht des Volkes auf eine freie und gleiche Wahl der Volksvertretung.
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Es bedarf keiner juristischen Künste, um zu erkennen, dass der Antrag, über den wir gerade reden, die Abschaffung genau dieses Grundsatzes zum Gegenstand hat. Eine Wahl, bei der vorgeschrieben wird, wen das Volk zu wählen hat, die ist alles Mögliche, aber weder frei noch gleich.
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Was wir vor uns haben, ist eine lupenreine verfassungsfeindliche Bestrebung.
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Das ist jetzt nicht gar so überraschend bei einer Partei, die als Fortsetzung einer diktatorischen Staatspartei namens SED wahrlich über genug Erfahrung im Unterbinden freier Wahlen verfügt.
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Viel bedenklicher ist, dass solche verfassungsfeindlichen Bestrebungen auch in den Regierungsparteien im Gange sind: Hat doch ausgerechnet die Bundesministerin der Justiz – sie kommt von der SPD – sich jüngst zu einem Quotenwahlrecht öffentlich bekannt, und hat doch niemand Geringeres als die Generalsekretärin der CDU, die sich anschickt, demnächst Parteivorsitzende zu werden, diese Bestrebungen in einem Buch eigens niedergeschrieben und veröffentlicht. Nun ist sicherlich nicht jedes Mitglied der SPD oder der CDU ein Verfassungsfeind
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– viele teilen diese Ansichten nicht –; aber dass von Ihrer Führungsspitze solche umstürzlerischen Pläne in aller Öffentlichkeit verfolgt werden, das müssen Sie sich zurechnen lassen.
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Bei der SPD ist nicht sehr viel Hoffnung. Wenigstens die CDU aber muss die verfassungsfeindlichen Elemente in ihren Reihen in den Griff bekommen.
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Ansonsten ist unsere Demokratie auf das Schwerste gefährdet. Hoffen wir das Beste!
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Josephine Ortleb, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Fast alle von uns – nach der Rede, die wir jetzt gerade wieder gehört haben, kann ich wirklich leider nur sagen: fast alle von uns –, die wir hier im Hohen Haus sitzen, haben den Anspruch, Politik für jede und für jeden in diesem Land zu machen, weil wir hier alle repräsentieren, die ganze Bevölkerung.
Dieser Anspruch war es auch, der vor 100 Jahren nach langem Kampf zum Frauenwahlrecht führte. Von nun an hatte auch die weibliche Hälfte der Bevölkerung die gleichen staatsbürgerlichen Rechte. Dies hat allerdings nicht dazu geführt, dass die Gleichstellung von Frauen und Männern in unserer Gesellschaft schon vollständig erreicht ist – auch und gerade nicht in den Parlamenten. Wir 709 Abgeordneten im Bundestag bestehen – das haben wir schon gehört – zu 70 Prozent aus Männern und zu 30 Prozent aus Frauen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, über Themen wie zum Beispiel die Abschaffung des Verbots der Werbung für Schwangerschaftsabbrüche, die Vereinbarkeit von Sorgearbeit und Beruf, mehr Frauen in Führungspositionen, über all diese Themen entscheiden mehrheitlich Männer. Diesen Zustand will ich und wollen viele meiner Kolleginnen und Kollegen einfach nicht hinnehmen.
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Frauen müssen sich gleichberechtigt in die Gesetzgebung einbringen können; denn das macht wirklich einen Unterschied. In diesem Parlament hier fehlen rein rechnerisch 140 weibliche Abgeordnete, um Parität herzustellen, 140 Frauen, die einen Platz mit ihrer weiblichen Lebensrealität füllen könnten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wir sind uns eigentlich im Ziel einig; aber der Antrag greift zu kurz. Er ist an die Bundesregierung gerichtet. Was wir aber brauchen, ist eine gut durchdachte Reform des Wahlrechts, und das ist die Aufgabe des Parlamentes, und zwar über die Fraktionen hinweg.
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Die Wahlrechtsreform 1918 war ein historischer Meilenstein in Sachen gleicher Wahlrechte. Die nächste Wahlrechtsreform muss ein Meilenstein in Sachen gleicher politischer Teilhabe werden. Das geht nur mit Parität,
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und das ist eine Frage des politischen Willens. Die letzten 100 Jahre lehren uns: Ohne verbindliche gesetzliche Vorgaben gibt es keinen Fortschritt bei der Gleichstellung der Geschlechter.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, 1949 haben wir uns in unserem Grundgesetz zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern verpflichtet. 1994 haben wir das mit dem aktiven Auftrag zur Durchsetzung dieser Gleichberechtigung ergänzt, weil die Wirklichkeit damals einfach anders aussah. Diese Ergänzung hat viele Gesetzesänderungen ermöglicht und damit die Gleichstellung vorangebracht.
Aber Frauen sind insbesondere in der Politik immer noch unterrepräsentiert, und zwar auf allen Ebenen, in allen Gremien, im Bundestag, in den Landesparlamenten und in den kommunalen Parlamenten. Was mich noch mehr erschrocken macht, ist, dass der Frauenanteil im Moment eher sinkt. Das ist ein Rückschritt und kein Fortschritt. Deshalb muss der Bundestag bei der Wahlrechtsreform die Parität festschreiben – wie es der Deutsche Frauenrat auf Antrag der SPD-Frauen, der Unionsfrauen, der Grünen-Frauen und, was mich jetzt nach dem Redebeitrag der FDP erstaunt, auch der Liberalen-Frauen beschlossen hat,
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genau so, wie die Landesfrauenräte das fordern oder die kommunalen Frauenbeauftragten und alle anderen das auch fordern.
Jede Wahl ist eine Abgabe von Macht auf Zeit. Jeder und jede von uns hat hier vor etwas mehr als einem Jahr ein Stückchen dieser Macht bekommen. Wir wurden ermächtigt, Gesetze zu beschließen, und sind damit ermächtigt, die Lebensrealität zu verändern. Mit verbindlichen gesetzlichen Vorgaben können wir dafür sorgen, dass diese Macht gleichberechtigt verteilt wird. Denn Macht heißt Emanzipation.
Lassen Sie uns gemeinsam, Frauen und Männer, fraktionsübergreifend die Initiative ergreifen, um die gleichberechtigte Teilhabe, politische Teilhabe von Frauen zu ermöglichen – damit nicht länger mehrheitlich Politiker und Parlamentarier über Frauen und Frauenrechte entscheiden, sondern Frauen als Politikerinnen und Parlamentarierinnen über und für sich selbst.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Melanie Bernstein, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kennen das alle: Wenn man sich in der Kommunalpolitik engagieren möchte, dann sollte man sich am späten Nachmittag oder Abend besser nichts vornehmen. Hat man kleine Kinder, so ist man gut beraten, eine flexible Betreuungsmöglichkeit durch die Familie oder einen Babysitter zu haben. Vor traditionell männlich geprägten Stadt- oder Gemeinderatsstrukturen und dem regelmäßigen Grünkohlessen im Winter sollte man sich auch nicht scheuen. Und steht einem dann noch ein Partner zur Seite, der das politische Engagement unterstützt, dann steht einer kommunalpolitischen Karriere eigentlich nichts mehr im Weg – eigentlich.
Für Familien mit kleinen Kindern, in denen beide Partner mitten im Berufsleben stehen, ist ein solches Engagement schlichtweg wenig attraktiv und zeitlich kaum machbar. Oftmals sind die eigenen Arbeitszeiten nicht flexibel genug, um den Nachmittags- oder Feierabendparlamenten dieses Landes gerecht zu werden. Oma und Opa wohnen vielleicht zu weit weg, um regelmäßig auf die Kinder aufzupassen. Eine dauerhafte abendliche Betreuung für die Kinder kann und will sich nicht jede Familie leisten. Erst recht kann man seine Arbeitszeiten nicht nach Belieben reduzieren, nur um Politik zu machen; das macht kein Arbeitgeber lange mit. Und solange Frauen immer noch die Hauptlast im Haushalt, bei der Erziehung der Kinder oder der Pflege von Angehörigen tragen, bleibt neben der Arbeit, selbst wenn diese in Teilzeit ausgeübt wird, schlicht und ergreifend keine Zeit, sich auch noch politisch zu engagieren.
Das sind nur einige Gründe, warum es immer noch zu wenig Frauen in der Politik gibt. Hier setzt auch das eigentliche Problem an: Wie wollen wir mehr Frauen in den Bundestag bekommen, wenn wir die Begeisterung für Politik und Ämter schon auf kommunaler Ebene nicht entfachen können?
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Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Mit einer Frauenquote für den Bundestag schaffen wir das nicht. Aus meiner Sicht kommt vor allem den Orts- und Kreisverbänden eine Schlüsselrolle und auch eine große Chance bei der Förderung von Frauen zu.
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Vor Ort sollte man sich fragen: Wie können wir Frauen grundsätzlich für Politik begeistern? Was können und müssen wir als Parteien tun, damit mehr Frauen Lust auf Politik bekommen?
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Welche Anreize kann man für Frauen schaffen, damit sie sich dauerhaft politisch engagieren?
Die Antworten darauf sind gar nicht so schwer: Es muss auf Themen gesetzt werden, die die Lebenswirklichkeit von Frauen widerspiegeln; das gilt für junge Frauen mit Familie und Alleinerziehende genauso wie für die Rentnerin, die sich politisch einbringen möchte. Frauen müssen gezielt und persönlich angesprochen werden. Den Ausblick auf konkrete Entwicklungsmöglichkeiten halte ich für einen starken Ansatz. Sitzungszeiten müssen generell so angepasst werden, dass Familie, Beruf und Mandat zu vereinbaren sind.
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Allzu oft wird einer Frau automatisch besondere soziale Kompetenz zugeschrieben, und ihre Themenbereiche umfassen dann immer Kindergärten, Seniorenheime oder den Friedhofsausschuss. Das kann es doch nicht sein.
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Frauen müssen dort eingebunden werden, wo ihre tatsächlichen Fähigkeiten und Kompetenzen liegen.
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Grundsätzlich bin ich bei Ihnen, dass wir mehr Frauen für die politische Arbeit gewinnen und dauerhaft begeistern müssen. Auch stimme ich Ihnen zu, dass der Anteil der Frauen im Bundestag nicht repräsentativ für unsere Gesellschaft ist. Aber seien wir doch mal ehrlich: Wenn man sich die beruflichen Hintergründe aller Abgeordneten einmal näher ansieht, dann wird doch schnell klar: Auch das ist nicht repräsentativ – leider. Aber wollen wir hier eine Quote? Das würde niemand ernsthaft fordern. Also lassen Sie uns doch erst einmal alle gemeinsam die Rahmenbedingungen weiter so verbessern, dass sich mehr Frauen in der Politik engagieren, bevor wir wieder die Quotenkeule schwingen.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Verfassungsauftrag zu Gleichstellung erfüllen – Frauenanteil im Deutschen Bundestag erhöhen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/4615, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/962 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die AfD, die FDP, die CDU/CSU und die SPD. Wer stimmt dagegen? – Die Linke. Enthaltung der Grünen. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einen wunderschönen guten Morgen! Wir beraten heute in den frühen Morgenstunden einen Gesetzentwurf der Bundesregierung und einen nachträglichen Änderungsantrag der regierungstragenden Fraktionen der Union und der ehemaligen Arbeiterpartei SPD. Hier soll eine EU-Verordnung aus dem Jahr 2017 in nationales Recht umgesetzt werden, die bereits in weniger als acht Wochen, also im Januar 2019, in Kraft treten soll. Das ist relativ kurzfristig. Wenn Sie mich fragen: Das hätte man frühzeitiger einstielen können.
Worum geht es hier? Um Verbriefungen, eine Änderung des Kreditwesengesetzes, KWG. Verbriefungen können etwas sehr Positives sein. Aber die Verbriefungen waren vor gut zehn Jahren auch schuld daran, dass wir in eine massive Finanzkrise gestürzt wurden. Es ist sehr interessant, jetzt zu beobachten, dass die EU offensichtlich Verbriefungen wieder goutiert. Man möchte einen einheitlichen Rahmen schaffen, einen Rahmen, der den Binnenmarkt reguliert. So etwas kann durchaus sinnvoll sein.
Durch das Instrument der Verbriefung – um es für die, die jetzt zuhören und sich damit nicht so auskennen, zu erklären – hat man die Möglichkeit, Risiken, insbesondere auch Kreditrisiken, auf verschiedene Schultern zu verteilen. Das heißt, man hat die Möglichkeit, Kreditrisiken zu diversifizieren.
Kommen wir zur politischen Einordnung. Was passiert? Die EU drängt immer mehr, sich von Kreditrisiken zu trennen. Die Banken sollen sich von ihren Kreditrisiken trennen, Stichwort „Risikoabbau“. So werden allerdings Banken der Möglichkeit beraubt, an wertberichtigten Krediten durch Wertaufholung zu partizipieren. Die Banken werden gedrängt, Kreditrisiken an Investoren abzutreten, zu verkaufen. Insbesondere angelsächsische Finanzinvestoren sind in der Vergangenheit nicht immer sehr zimperlich mit ihren Kreditnehmern, den Schuldnern, umgegangen.
Stellen wir uns das deutsche Bankgewerbe vor; es betreut sehr stark den deutschen Mittelstand. Daran hängen sehr viele Arbeitsplätze. Wenn ein Unternehmen notleidend geworden ist und zum Sanierungsfall wird, sind die deutschen Banken in der Vergangenheit bei der Begleitung im Sanierungsfall immer sehr großzügig gewesen, um Arbeitsplätze zu sichern und Unternehmen zu erhalten. Diese Möglichkeit und auch die Möglichkeit der Wertaufholung werden hier genommen.
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Wir haben jetzt diesen Antrag vorliegen, und wir fragen die Bundesregierung: Hat die Bundesregierung überhaupt eine Strategie? Möchte sie ein Trennbankensystem, möchte sie damit Risikodiversifizierung? Möchte sie Global Player haben? Auf diese Fragen sehen wir in der Vorlage überhaupt keinen Ansatz. Wir sagen ganz klar: Wir enthalten uns hier. Wir wünschen uns von unserer Bundesregierung ein bisschen mehr Strategie an dieser Stelle.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Sepp Müller, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Um 0.20 Uhr befinden wir uns wahrlich in einer Sternstunde von Europa, nicht nur, weil Manfred Weber gestern zum Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei gewählt wurde,
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nein, sondern weil wir in Europa gelernt haben, aus Fehlern klug zu werden und die richtigen Antworten zu finden. Warum? Wir gehen das Verbriefungspaket an. Was sind Verbriefungen? Grundübel 2008 waren beispielsweise Verbriefungen. Was hat man da gemacht? Der Trucker in Amerika hat sich ein Haus gekauft, von Bank A finanziert. Die Hauspreise sind gestiegen. Die Differenz hat der Trucker als Sicherheit genommen und damit bei Bank C ein Auto finanziert. Der Autohändler – das Geschäft boomte richtig – hat sich eine neue Gewerbeimmobilie zugelegt und sie bei Bank Y finanziert. Bank A, Bank C und Bank Y wurden in einen Topf geworfen und gingen als Verbriefungspakete ab in Richtung Europa. Es gab jemanden, der ein Siegel angebracht und gesagt hat: Dolle Sache.
Dann ist aber Folgendes passiert: Die Zinsen sind gestiegen, die Arbeitslosigkeit ist ebenfalls nach oben gegangen, die Hauskredite sind umgefallen, das Auto konnte nicht mehr finanziert werden, und der Autohändler stand da. Und schon hatten wir die Finanzkrise.
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Was will uns das sagen? Es war auf keinen Fall einfach gewesen, es war auf keinen Fall standardisiert gewesen, und es war auf keinen Fall transparent gewesen, was da gelaufen ist. Deswegen ist Europa gut; denn mit dieser Verbriefungsverordnung werden wir Antworten auf das finden, was damals verkehrt gelaufen ist.
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Darum stehen wir zu Europa. Das ist der richtige Weg.
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Wir werden mit dieser Verbriefungsverordnung Einfachheit fordern. Das heißt, eine Forderung wird verbrieft, nur der Hauskredit. Wir werden es standardisieren, nicht Gewerbeimmobilien und Hauskredite, nein, nur Hauskredite. Und wir werden es transparent machen: Derjenige, der das Verbriefungspaket kauft, darf einsehen, was sich darin versteckt. Das ist der richtige Weg Europas. Wir brauchen einheitliche europäische Regelungen in einer Kapitalmarktunion, damit es Europa besser geht. Darum ist es gut, dass wir uns in der Großen Koalition dazu entschieden haben, Europa auf Kapitel I zu setzen. Denn Europa ist wichtig für die Menschen.
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Als Banker sei mir gestattet, dass ich auf Zahlen zu sprechen komme. In Europa ist der Verbriefungsmarkt seit 2008 um 88 Prozent gesunken, obwohl er in Deutschland von 90 Milliarden Euro auf 130 Milliarden Euro gestiegen ist. Das hört sich sehr technisch an. Was steckt dahinter? Insbesondere unsere südeuropäischen Freunde und deren Wirtschaft haben wahrlich gelitten. Denn der griechische Olivenhändler ist darauf angewiesen, dass er bei seiner Bank vor Ort einen Kredit bekommt. Der italienische Pastahersteller ist darauf angewiesen, dass er vor Ort einen Kredit erhält. Die spanischen Kleidungshersteller sind darauf angewiesen, vor Ort Kredite zu erhalten, um Menschen Arbeit zu geben und gleichzeitig etwas produzieren zu können.
Dieser Kreditmechanismus ist zusammengebrochen. Somit haben unsere griechischen Freunde, unsere italienischen Freunde und unsere spanischen Freunde in Europa gar nicht mehr die Möglichkeit, überhaupt zu investieren. Deswegen ist die Antwort des Verbriefungspaketes richtig. Wir werden mit dieser Vereinfachung, mit dieser Standardisierung und mit diesen transparenten Regeln eines schaffen: 100 bis 150 Milliarden Euro zusätzliches Kreditvolumen insbesondere für unsere südeuropäischen Länder. Das ist ein gutes Signal; denn dort muss die Arbeit brummen, damit es den Menschen dort gut geht, damit sie arbeiten gehen können. Das ist gut für Europa. Deswegen ist das Verbriefungspaket der richtige Weg.
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Darum, meine sehr geehrten Damen und Herren, seien Sie nicht Feiglinge und enthalten sich, sondern stehen Sie zu Europa! Wer griechische Oliven in Supermärkten haben möchte, der muss dafür stimmen,
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wer spanische Kleidung haben möchte, der muss für das Verbriefungspaket stimmen, wer italienische Pasta haben möchte, der sowieso. Ich lade alle herzlich ein: Wer ein einheitliches und starkes Europa haben will, der muss die CDU/CSU wählen mit Manfred Weber an der Spitze. Denn wir sind gut für Europa.
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Die Reden der Kollegen Florian Toncar, Jörg Cezanne, Gerhard Schick und Alexander Radwan gehen zu Protokoll.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung von Finanzmarktgesetzen an die Verordnung (EU) 2017/2402 und an die durch die Verordnung (EU) 2017/2401 geänderte Verordnung (EU) Nr. 575/2013. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5592, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/4460 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ein Handzeichen. – Das sind die FDP, die CDU/CSU und die SPD. Wer ist dagegen? – Das ist Die Linke. Wer enthält sich? – Grüne und AfD. Damit ist der Gesetzentwurf in der zweiten Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – FDP, CDU/CSU und SPD. Gegenprobe! – Dagegen ist die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? – AfD und Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe zwei Zuschauer auf der Tribüne, um 0.24 Uhr noch hier zu sein, ist schon echt toll.
Wir reden heute erneut zum Thema Klimaschutz. Das ist eines der wichtigsten Themen unserer Zeit. Wer nach dem aktuellen Bericht des IPCC noch die Notwendigkeit von Klimaschutz anzweifelt, muss sich fragen lassen, ob er bewusst bösartig handelt oder einfach nur ignorant ist.
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Heute geht es konkret um die Neuregelung des europäischen Emissionshandelssystems in der Emissionshandelsperiode bis 2030. Skizzieren möchte ich nun kurz die Entwicklung des Emissionshandels und wo wir heute stehen. Von 2005 bis 2016 haben sich in der EU insgesamt die Emissionen in den Emissionshandelssektoren bereits um 26 Prozent verringert. Wir haben das EU-Ziel für 2020 also bereits jetzt erreicht. Aber gerade hinter dieser an sich erfreulichen Zahl verbirgt sich der große Schwachpunkt des europäischen Emissionshandels. In der Finanz- und Wirtschaftskrise haben wir einen enormen Überschuss aufgebaut, den wir immer noch mitschleppen. Zu Recht zweifeln Nichtregierungsorganisationen und Klimaexperten anderer Länder, die unser System genau beobachten, ob die erreichten Emissionsminderungen tatsächlich durch den Emissionshandel bewirkt wurden.
Es ist nicht schlimm und es ist unvermeidbar, Fehler zu machen. Aber es wäre schlimm, wenn man daraus keine Konsequenzen ziehen würde. Das jedoch haben wir getan. Die jüngste Novelle der Emissionshandelsrichtlinie hat das System wieder fit gemacht für die vierte Handelsperiode, der Emissionshandel kann bald wieder seine Funktion als Motor des europäischen Klimaschutzes wahrnehmen.
Der bestehende Zertifikateüberschuss wird deutlich schneller und nachhaltiger vom Markt genommen, als dies bislang durch die Regelung zur Marktstabilitätsreserve vorgesehen war. Seit letztem Jahr hat sich der Zertifikationspreis mehr als verdoppelt. Das Vertrauen in die Wirksamkeit des Instruments kehrt zurück.
Doch bei aller Freude über diese Entwicklung muss man gleichzeitig anmerken, dass wir uns mit dem aktuellen Preis gerade wieder erst dem Bereich annähern, in dem der Emissionshandel dazu führen kann, dass Stromerzeuger von Steinkohle zu Erdgas wechseln. Wir sind also auf dem richtigen Weg, aber noch lange nicht in dem Bereich, in dem wir sein müssten, um Investitionen in den Klimaschutz ausreichend anzureizen. Mit der Marktstabilitätsreserve sorgen wir auch dafür, dass ein Nachfragerückgang durch zusätzliche nationale Klimaschutzmaßnahmen abgefedert wird.
Weiterhin schaffen wir mit der Reform des europäischen Emissionshandels und diesem Gesetz eine sinnvolle Grundlage für den Ausstieg aus der Kohle. Mit der Stilllegung eines Kraftwerkes können damit die entsprechenden, freiwerdenden Berechtigungen für Emissionen gelöscht werden. Der sogenannte Wasserbetteffekt wird beendet, sodass freiwerdende Kapazitäten in Deutschland nicht mehr an anderer Stelle in Europa für die Emission von Kohlendioxid genutzt werden. Das ist ein Meilenstein für den Klimaschutz.
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Mit der Umsetzung der EU-Regelung schaffen wir in Deutschland die Voraussetzungen für den angestrebten Konsens in der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“; den sollten wir alle gemeinsam anstreben.
Wir, die Koalition, haben auf die Notwendigkeit einer zügigen Umsetzung des Gesetzentwurfes hingewiesen, da insbesondere die energieintensive Industrie im Jahr 2019 für das Verfahren der Zuteilung die erforderlichen Anträge stellen muss. Die Industrie benötigt Verlässlichkeit. Im Gegenzug erwarten wir von der Industrie natürlich, dass sie entsprechende Anstrengungen zum Klimaschutz unternimmt. Aber ich glaube, da sind wir auch auf einem guten Weg.
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Wir haben im Gesetzgebungsverfahren festgestellt, dass in der Vergangenheit Rechtsstreitigkeiten dazu geführt haben, dass es Schwierigkeiten gab, Zuteilungsansprüche in einer weiteren Handelsperiode zu sichern. Wir, die Koalition, halten es für angebracht, dass die Anlagenbetreiber auch dann die ihnen zustehenden kostenlosen Zuteilungen erhalten, wenn die Handelsperiode bereits abgelaufen ist, sich die Entscheidung durch ein Gerichtsurteil aber verzögert hat. Dies können wir jedoch nicht national regeln. Daher haben wir in einem Entschließungsantrag die Bundesregierung aufgefordert, das europäisch anzugehen. Wir sind optimistisch, dass das funktionieren wird.
Ein weiterer Punkt betrifft die Kleinemittenten. Hier wollen wir durch eine Verordnungsermächtigung mehr Flexibilität für mittelständische Betriebe erreichen. Dies betrifft zum einen die Erleichterung bei der Emissionsberichterstattung für kleine Anlagen, zum anderen die Möglichkeit eines Opt-out. Die mittelständischen Unternehmen haben das Problem, dass sie sich nach dem ursprünglichen Entwurf hätten entscheiden müssen, ob sie am Emissionshandel für die gesamte Periode teilnehmen. Wir geben jetzt die Möglichkeit, das flexibel zu machen und sich an zwei Zeitpunkten zu entscheiden. Das ist etwas, was sehr wichtig ist.
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Ich denke, das ist ein guter, mittelstandsfreundlicher Schritt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den vergangenen Tagen gab es auch Vorwürfe aus der Luftfahrtindustrie, dass wir mit unserem Gesetzentwurf den Luftverkehr stärker regulieren als von der EU vorgegeben. Das ist natürlich Unsinn, da es für den Emissionshandel im Luftverkehr nur noch EU-Regelungen gibt und wir das in unserem Gesetzentwurf gar nicht abweichend regeln können. Offensichtlich haben aber sogar Teile der Opposition diese Behauptung ungeprüft übernommen.
Um was es tatsächlich geht, ist die Tatsache, dass wir für den Bereich des Luftverkehrs zukünftig zwei CO 2 -Instrumente haben werden: die globalmarktbasierte Maßnahme auf ICAO-Ebene – Internationale Zivilluftfahrt-Organisation – und den EU-Emissionshandel. Hier werden wir auf EU-Ebene entscheiden müssen, wie man die beiden Instrumente vernünftig miteinander verzahnen kann. Das ist aber nicht Gegenstand dieses Gesetzentwurfes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der heutige Gesetzentwurf wird einen wichtigen Beitrag für den Klimaschutz leisten, und ich hoffe, dass wir eine breite Unterstützung kriegen. Morgen geht die Arbeit aber schon weiter; denn mit der Umsetzung der Ergebnisse der Strukturwandelkommission und ganz besonders im Nichtemissionshandelsbereich – Stichwort „Effort Sharing“ – wo wir noch vieles zu tun haben, müssen wir weiter für den Klimaschutz arbeiten. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Karsten Hilse, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginn etwas Grundsätzliches: Unsere Redner wurden heute gefragt, ob wir unsere Reden zu Protokoll geben würden. Ich kann hier nur für mich sprechen, aber solange Sie, so wie gestern, alle unsere Abgeordneten in zur Wahl stehende Gremien nicht wählen, braucht zumindest mich niemand mehr zu fragen.
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Lernen Sie endlich, unseren Abgeordneten ihren demokratischen Mitgestaltungsanspruch zu gewähren! Dann kommen Sie auch eher ins Bett.
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Kommen wir zum Thema: Die EU – selbst ein Monstrum mit Zigtausenden Bürokraten – will mal wieder ein bürokratisches Monstrum nach ihren Vorstellungen novellieren, quasi als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Bürokraten.
Ebenso sperrig wie der Titel ist auch der Inhalt. Auf 61 Seiten wird Flickwerk an Flickwerk geheftet, um das Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz zu ändern und vor allem die auch mal wieder geänderte EU-Emissionshandelsrichtlinie in nationales Recht umzusetzen. Beides ist unnötig wie ein Kropf.
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Dabei dient die aktuelle Beschränkung dieser Richtlinie auf die Einbeziehung der Luftverkehrstätigkeiten innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums nur als Vehikel, um viele kleine und größere Änderungen sozusagen automatisiert durchzubringen. Sie sind allesamt in Bezug auf ihre Wirkung vage, sollen aber sozusagen huckepack und ohne ihre Auswirkungen durchschauen, geschweige denn quantifizieren zu können, dafür aber ohne viel Aufhebens, beschlossen werden. Das Parlament als Abnickverein: Das ist es, was dieser Gesetzentwurf benötigt.
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Es ist wie so oft: In Brüssel kommt es zu einem Flatus, und anstatt sich die Nase zuzuhalten, nimmt man einen tiefen Atemzug und erzählt der Öffentlichkeit, dass es Rosenduft sei.
Um dem Bürokratiemonster EU-Emissionshandel ein internationales Mäntelchen umzuhängen, heißt es im Gesetzentwurf, es diene der „Umsetzung eines globalen marktbasierten Mechanismus“ in der internationalen Zivilluftfahrt. Doch das ist nur ein Nebenzweck; denn mit Markt hat das überhaupt nichts zu tun, aber mit Begriffsverwirrung und der Vortäuschung falscher Tatsachen, weil der Hauptteilnehmer – der Staat, meinetwegen auch die EU – als Monopolist die handelbare Menge beliebig verknappen kann. So kann er aus den daraus resultierenden steigenden Preisen beliebig hohe Einnahmen generieren.
Wir lehnen die Novelle ab. Sie schafft ausschließlich deutlich höhere Kosten für Unternehmen und Verbraucher und mehr Bürokratie.
Aber das ist natürlich nicht der Hauptgrund, diese Novelle und mit ihr das ganze Emissionshandelssystem abzulehnen; denn die seit Jahrzehnten offene Frage lautet: Was bringt dieser Emissionshandel dem Klima wirklich und wahrhaftig? Bei realistischer Betrachtung und ohne ideologische Scheuklappen lautet die für viele hier schmerzliche Antwort: Nichts! Nada! Niente! Zero!
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Denn senkte Deutschland seine Emissionen auf null, dann würde die Auswirkung auf die Welttemperatur – nur für den Fall, dass man an diese merkwürdige Klimahypothese glaubt – ganze 0,000653 Grad Celsius betragen.
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Das ist praktisch null. Es gilt nun mal die mathematische Logik und nicht eine Glaubenslehre, auch wenn viele von Ihnen in diesem Hohen Haus das nicht begreifen.
Vielen Dank und eine gute Nacht.
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Die Rede der Kollegin Dr. Anja Weisgerber – immerhin 9 Minuten Redezeit – geht zu Protokoll , und wir machen weiter mit Dr. Lukas Köhler, FDP-Fraktion.
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Meine Damen und Herren, ich hätte jetzt eigentlich einen etwas anderen Einstieg gewählt, aber nach dieser Rede vielleicht doch noch ein paar Worte dazu, und zwar erst einmal zu dem ersten Teil: Liebe AfD, Sie sind zu einer so weinerlichen Partei verkommen. Dieses Mimimimimi, Sie werden unfair behandelt: Ich kann es nicht mehr hören. – Weinen Sie bitte leise, wirklich! Es ist echt fürchterlich geworden.
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Und dann beweisen Sie hier auch noch, dass Sie von Marktwirtschaft wirklich gar keine Ahnung haben. Es ist absolut beeindruckend.
Wir können darüber streiten, ob das Cap hoch genug ist. Wir können auch darüber streiten, ob die Reformen des Zertifikatehandels richtig funktionieren. Worüber wir nicht streiten können, ist, dass wir hier ein marktwirtschaftliches System eingeführt haben. Das ETS schafft dadurch einen künstlichen Markt, dass es externe Kosten internalisiert. Ich erkläre Ihnen das gerne noch mal persönlich. Was hier geschaffen wird, ist die Möglichkeit, die CO 2 -Emissionen anständig und sinnvoll zu reduzieren – und das nicht nur in Deutschland, liebe AfD, sondern europaweit. Deswegen ist es auch eine europäische Richtlinie, die wir hier umsetzen.
Ja, meine Damen und Herren, man kann darüber sprechen, wie viel das ETS erreicht. Es erreicht das, was es tun soll, es reduziert nämlich die Menge genau so, wie es das tun soll. Und das ist der springende Punkt!
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Man hört gerne mal, dass der Preis viel zu niedrig war.
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Liebe Preisfetischisten, ich kann Ihnen nur sagen: Kehrt um vom Weg der Ahnungslosigkeit! Der Preis ist völlig irrelevant. Die Frage ist, ob die Gesamtmenge erreicht wird, und das wird sie.
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Lassen Sie uns doch viel lieber über das Marktdesign sprechen. Lassen Sie uns darüber sprechen, ob und wie wir das Cap anpassen. Aber bevor wir das tun, lasst uns doch darüber sprechen, dass das größte Problem, nämlich die Frage, was wir mit dem Verkehrs- und dem Wärmesektor machen, endlich angegangen werden muss.
Meine Damen und Herren, die Reformen sind gut, aber sie sind ambitionslos. Die Bundesregierung kann hier noch viel mehr tun. Sie könnte endlich den Artikel 24 der EU-ETS-Richtlinie nutzen und den Verkehrs- und Wärmesektor einpreisen. Damit würden wir zu einer wahren Reduktion kommen, und damit hätten wir auch ein übergeordnetes Argument, das dann auch funktioniert.
Wenn wir das haben, dann lassen Sie uns darüber sprechen, dass wir endlich das Pariser Abkommen auch auf das Cap anwenden, um dann auch wirklich die Ziele zu erreichen. Hören Sie aber auf mit den nutzlosen Alibimaßnahmen wie den CO 2 -Grenzwerten!
Wenn Sie so weitermachen, werden Sie die Ziele im Verkehrssektor wieder verfehlen. Wenn die Autos effizienter werden, dann kaufen die Leute größere Autos und fahren mehr. Seit meiner letzten Rede hat mir immer noch niemand erklären können, wie Sie den Rebound-Effekt, der dabei entsteht – das, was ich gerade erklärt habe –, vermeiden können.
Deswegen, meine Damen und Herren: Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu, den wir heute eingebracht haben! Denn der Punkt ist – das hat die Verkehrsministerkonferenz und das haben Ihre Kolleginnen und Kollegen von CDU und SPD bestätigt –: Wenn wir erneuerbare Energien, wie E-Fuels, mit in das System einpreisen, und zwar zu den CO 2 -Flottengrenzwerten, dann können wir einen wahren Klimaschutz erreichen. Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu, und lassen Sie uns am ETS für einen wahren Klimaschutz arbeiten.
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Vielen lieben Dank.
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Nächster Redner: Lorenz Gösta Beutin, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer – zumindest an den Bildschirmen! Und selbstverständlich auch Sie: Schönen guten Abend. Die Polizei hat gestern bundesweit in den Büros von Greenpeace Razzien stattfinden lassen.
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Das Ganze geschah deshalb, weil Greenpeace aus Protest gegen das Verfehlen der Klimaziele und für einen schnellen Kohleausstieg den Kreisverkehr an der Berliner Siegessäule mit gelber Ökofarbe bemalt hat. Ich sage: Gerade vor dem Weltklimagipfel in Polen ist die Kriminalisierung von Aktivistinnen und Aktivisten ein falsches Signal.
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In Polen wird das Demonstrationsrecht eingeschränkt. Die Daten von Klimaschützerinnen und Klimaschützern werden gesammelt. Das ist der wirkliche Skandal.
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– Ich höre selbstverständlich das Gebrüll aus der rechten Ecke, und vielleicht schwillt es ja noch mal an, wenn ich jetzt die Frage stelle: Warum gibt es keine Razzien bei Mercedes, bei BMW, bei RWE oder bei der LEAG in der Lausitz?
Machen wir uns doch mal ehrlich: Es ist diese Autoindustrie, die unser aller Gesundheit durch ihren Schadstoffausstoß gefährdet. Es ist die Braunkohleindustrie, die für den Ausstoß von Quecksilber und für den vorzeitigen Tod von jährlich Tausenden Menschen in der Bundesrepublik Deutschland verantwortlich ist.
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Und wenn wir jetzt mal ganz ehrlich sind, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD: Es ist diese Bundesregierung, die beim Thema Klimaschutz versagt und die in der Klimapolitik nicht so handelt, wie es tatsächlich notwendig wäre und wie es der Weltklimarat jetzt noch mal definiert hat. Indem Sie das tun, machen Sie sich schuldig an unser aller Zukunft. Das ist das Problem, vor dem wir gerade stehen
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Was präsentieren Sie uns heute? Sie präsentieren uns wieder den europäischen Emissionshandel als Lösung der Klimakrise.
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In den letzten Jahren haben wir gesehen: Dieser Emissionshandel ist ein stumpfes Schwert. Wir haben es erlebt: Wir haben zu viele Emissionsrechte im Markt; es erfolgt eine kostenlose Verteilung an die Industrie. Es gibt Betrug mit Zertifikaten, und die Preise am Markt sind weiterhin viel zu niedrig.
Der Emissionshandel wird von der Industrie geliebt. Warum? Weil er ein Ersatz für echten Klimaschutz ist. Deshalb können wir Ihrem Gesetzentwurf heute selbstverständlich nicht zustimmen.
Hören Sie auf die Mehrheit der Bevölkerung! Die Mehrheit der Bevölkerung sagt längst: Wir müssen jetzt echten Klimaschutz wagen. Wir brauchen jetzt den Kohleausstieg. Wir müssen jetzt die zwanzig dreckigsten Kohlekraftwerke dichtmachen. – Das werde ich Ihnen hier immer und immer wieder erzählen, weil das jetzt auf der Tagesordnung steht.
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Vielen Dank.
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Die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt: Lisa Badum, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Es ist schon seltsam: Noch heute Morgen lauschte ich einem Briefing des Bundesumweltministeriums im Vorfeld der Klimakonferenz in Katowice. Einmal mehr durfte ich mir dort von der Bundesregierung die Notwendigkeit eines raschen und ambitionierten Klimaschutzes erklären lassen. Nur ein paar Stunden später diskutieren wir hier im Plenum die Reform des klimapolitischen Instruments der EU, das leider unzureichend ist.
Lieber Kollege Köhler, vielleicht noch kurz zu Ihren Hinweisen zu Verkehr und Wärme: Wenn wir in Ihrer Geschwindigkeit handeln würden, dann würden wir die Strafzahlungen, die uns in den Bereichen Verkehr und Wärme von der EU drohen – diese 30 Milliarden bis 60 Milliarden Euro – nicht abwenden können. Es reicht also nicht, einfach die Hände in den Schoß zu legen. Machen Sie was mit uns zusammen! Das wäre richtig.
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Zurück zur Reform des europäischen Emissionshandels. – Sie war natürlich lange überfällig und ist auch grundsätzlich gut. Leider ist sie aber nur ein Schritt in die richtige Richtung und nicht der große Sprung. Diesen großen Sprung erwarten wir von der Bundesregierung aber auch gar nicht mehr; denn wir wissen, dass die Herren Minister und die Bundeskanzlerin ambitionierte Maßnahmen ausbremsen, sei es bei der Energieeffizienz, dem Ausbau der erneuerbaren Energien, den Emissionsreduktionszielen oder den CO 2 -Standards für Pkw.
Da nutzt es natürlich auch nichts, wenn die Umweltministerin vollmundig dagegenhält. Wenn die Regierung sie nicht stützt, dann werden Worten keine Taten folgen.
Wir begrüßen – hier gebe ich dem Kollegen Mindrup recht – die Verbesserung bei der Marktstabilitätsreserve und die Möglichkeit zur Löschung von überflüssigen Zertifikaten ab 2023.
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Allerdings reicht das nicht aus. Dazu hätten wir alle überschüssigen Zertifikate vom Markt nehmen müssen. Ihre Anzahl war ja auch vor der Reform schon auf eine Höhe von 2 Milliarden aufgelaufen. Das ist einfach viel zu viel.
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Falsch ist auch das Auslaufen der freien Zuteilung für diejenigen Industrien, die nicht im internationalen Wettbewerb stehen. Es sind nur 5 Prozent, die diese kostenlosen Zertifikate nicht mehr bekommen. Insgesamt bekommt die Industrie sogar noch 150 Millionen Zertifikate mehr. Damit bleibt der Anreiz aus, ökologisch zu wirtschaften. Wir wissen doch, dass Unternehmen wie die Salzgitter AG schon heute emissionsfrei wirtschaften und produzieren würden, wenn es irgendeinen Anreiz gäbe. Sie haben uns das gesagt. Aber leider ist dieser Anreiz mit dem derzeitigen ETS nicht zu haben.
Es ist daher ganz klar – wir haben es schon häufig gesagt; Sie haben es auch schon häufig von uns gehört, aber es bleibt immer noch richtig –: Um CO 2 einen wirksamen Preis zu geben, muss die Bundesregierung endlich mit den europäischen Partnern zusammenarbeiten, die ihre Hand längst in diese Richtung ausgestreckt haben, wie Frankreich. Nur dann und mit dieser Flankierung hat das ETS die Chance, eine Lenkungswirkung für eine klimafreundliche und zukunftsorientierte Wirtschaft zu entfalten.
Ich muss sagen, mit den Ankündigungen, die wir in den letzten Wochen und auch in dieser Woche wieder aus dem Umweltministerium zu einem CO 2 -Preis erhalten haben, kann ich, ehrlich gesagt, längst mein Büro tapezieren. Ich sage Ihnen aber, was passiert, wenn ich parlamentarisch nachfrage, was mit dem Thema CO 2 -Preis ist. Erst Ende Oktober habe ich nachfragt:
Welche konkreten Optionen und Modelle für eine wirksame CO 2 -Bepreisung wurden bei dem ersten Treffen der „Meseberger Klima-AG“ mit der französischen Seite diskutiert?
Antwort: „Es wurden keine konkreten Optionen und Modelle diskutiert.“ – Das war erst vor zwei Wochen.
Ich möchte einfach mal Taten sehen. Wenn Sie hier Taten zeigen, dann wollen wir Ihnen auch folgen, aber nur reine Worte und nur ein grünes Mäntelchen werden nicht reichen.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Anpassung der Rechtsgrundlagen für die Fortentwicklung des Europäischen Emissionshandels. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5563, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/4727 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das ist die Koalition. Wer stimmt dagegen? – Das sind Linke und AfD. Enthaltungen? – Die Grünen und die FDP. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Die Koalition. Gegenprobe! Wer ist dagegen? – Linke und AfD. Und ich ahne die Enthaltungen. – Von FDP und Grünen. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5563, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – FDP, CDU/CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? – Die Grünen und die AfD. Enthaltungen? – Die Fraktion Die Linke. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Es gibt einen Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/5631. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das ist die Fraktion der FDP. Wer stimmt dagegen? – Der Rest des Hauses. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe eSport-Community, die uns zu so später Stunde noch zuschaut! Jugend- und Sportkultur ändern sich, und heute gehören Video- und Computerspiele für sehr viele Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene zum Alltag.
eSport ist ein weltweites Phänomen, das mittlerweile Millionen von Menschen begeistert. Vor dieser Entwicklung können Politik und Sport entweder die Augen verschließen, oder wir nehmen die Entwicklung als Realität an und versuchen, die positiven Aspekte zu fördern.
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Wir Grünen wollen gute Rahmenbedingungen für den eSport in Deutschland schaffen.
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Kern unseres Antrages ist daher die Anerkennung der Gemeinnützigkeit für eSport-Vereine. eSport-Vereine sollen die gleichen Vorteile haben wie andere Sportvereine: weniger Bürokratie gegenüber den Behörden, steuerliche Erleichterungen, Zugang zu kommunalen Räumen und vieles mehr.
In meinem Wahlkreis Leipzig gibt es den bisher einzigen eSport-Verein, der gemeinnützig ist. Ich finde, mehr eSport-Vereine sollten von der Gemeinnützigkeit profitieren können.
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Deswegen wollen wir die Abgabenordnung ändern. Denn der eSport bietet viele Vorteile. Menschen mit und ohne Behinderung können hier vergleichsweise einfach an den Wettkämpfen teilnehmen, wenn die Barrierefreiheit gegeben ist. Internationale Grenzen spielen dank dem Internet keine Rolle, und klassische Sportvereine können durch eSport neue Mitglieder gewinnen.
Gleichzeitig sehen wir aber durchaus noch Gestaltungsbedarf im eSport. Zum Beispiel gibt es bisher noch kein einheitliches Antidopingregelwerk mit einem entsprechenden Dopingkontrollsystem. Das muss dringend mit der Nationalen Anti Doping Agentur entwickelt werden.
Außerdem ist der eSport sehr männlich geprägt. Auch da muss sich noch einiges ändern.
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Der eSport-Bund Deutschland hat letzte Woche einen Ethikkodex vorgelegt, den wir sehr begrüßen. Darin finden sich sehr sinnvolle Maßnahmen, die nun umgesetzt werden müssen.
Wenn wir von Computerspielen reden, dürfen wir auch nicht verschweigen, dass es durchaus Suchtpotenzial gibt. Deswegen machen wir in unserem Antrag auch viele Vorschläge zur Prävention.
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Gerade weil wir diese Risiken sehen, wollen wir eSport-Vereine fördern. Denn Vereine bieten eine soziale Struktur mit einem regelmäßigen Training. Und wenn wir medienkompetente Trainerinnen und Trainer ausbilden, dann sind auch Kinder und Jugendliche gut in eSport-Vereinen aufgehoben.
Wir Grünen sagen aber auch ganz bewusst – darin unterscheiden wir uns zum Beispiel vom Koalitionsvertrag –: Ob eSport Sport ist oder nicht, hat nicht die Politik allein zu entscheiden. Denn Sport ist in Deutschland immer noch autonom.
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Der Deutsche Olympische Sportbund entscheidet also eigenständig, welche Verbände er aufnehmen will und welche nicht.
Ich finde es schade, dass sich der DOSB letzte Woche sehr zurückhaltend zum eSport geäußert hat. Denn DOSB und ESBD können wechselseitig durchaus voneinander profitieren. Ich hoffe, dass der Dialog von beiden Verbänden trotzdem fortgesetzt wird.
Die Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag weitreichende Versprechen zum eSport gemacht. Wir Grünen fangen jetzt mit ganz konkreten Vorschlägen an. Ich bin schon sehr gespannt auf die Beratungen jetzt im Plenum und auch im Sportausschuss.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Johannes Steiniger, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zwei Vorbemerkungen:
Erstens. Die Games-Industrie ist für uns als Koalition bzw. als Regierung wichtig. Deswegen kann man heute relativ frisch verkünden, dass der Haushaltsausschuss 50 Millionen Euro für die Förderung der Games-Industrie freigemacht hat. Das ist, glaube ich, erstens ein gutes Zeichen und zweitens ein Lob an die Kollegen in der eigenen Fraktion – Kai Whittacker ist heute auch hier –, die dafür gesorgt haben. Das ist ein gutes Zeichen für die Games-Industrie in Deutschland.
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Zweitens. Auch wenn wir dieses Thema heute relativ spät diskutieren – es ist 0.52 Uhr –, hat das Thema eSport große Aufmerksamkeit in der Szene, in der Community. Wir sehen, dass der Präsident des eSport-Verbands jetzt noch einer der wenigen Gäste hier bei uns. Ich glaube, es ist bisher auch noch nie eine Bundestagsdebatte auf dem Sender Twitch gestreamt worden. Also auch hier machen wir vielleicht ein bisschen politische Bildung; das ist dann ja auch gut so.
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Wir sehen, dass es deshalb richtig war, dass wir in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben haben, Frau Staatsministerin Bär, dass wir den eSport in Deutschland noch besser unterstützen möchten.
Jetzt schreiben Sie in Ihrem Antrag – das könnte fast aus dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD abgeschrieben sein –:
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Wir erkennen die wachsende Bedeutung der E-Sport-Landschaft in Deutschland an. Da E-Sport wichtige Fähigkeiten schult, die nicht nur in der digitalen Welt von Bedeutung sind ...
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Das ist im Grunde genommen genau das, was wir machen wollen.
Wir sehen, dass eSport ein Megatrend in unserer Gesellschaft ist. Das sehen wir, wenn wir uns die Medien und auch die Streams auf Youtube anschauen und wenn Zehntausende von jungen Menschen die Turniere besuchen. Gerade vor kurzem gab es ein großes Turnier in Hamburg.
Aber wir wollen auch in diesem Politikfeld nicht die Socken über die Schuhe ziehen, sondern einen Schritt nach dem anderen machen. Deswegen haben wir von Anfang an klargestellt, dass die Anerkennung einer Sportart – Stichwort „Autonomie des Sports“ – und auch die Debatte dem Deutschen Olympischen Sportbund obliegen.
Wir haben zweitens gesagt, dass wir uns im Sportausschuss mit dem Thema beschäftigen. Wir werden Ende November eine große Anhörung zu diesem Thema machen. Deswegen beschäftigt sich dieses Parlament mit dem Thema eSport, und wir werden mit Vertretern aus dem organisierten Sport und aus der Wissenschaft, mit Athleten und mit Praktikern aus den eSports selbst die Fragen diskutieren und dann auch die aneinandergereihten Forderungen des Grünenantrags durchaus miteinander besprechen.
Nun zur aktuellen Debatte um den eSport selbst. Es wurde genannt: Der Deutsche Olympische Sportbund bezweifelt in seiner Positionierung, dass die Motorik und die Bewegungsabläufe beim eSport mit denen bei anderen Sportarten vergleichbar sind. Er hält in seinem Papier, das wir letzte Woche gelesen haben, fest, dass eine eigenmotorische sportartbestimmende Bewegung beim eSport nicht vorliege.
Es ist verfassungsrechtlich – Stichwort „Autonomie des Sports“ – okay, wenn sich der organisierte Sport hier eine Meinung bildet, auch wenn ich selbst, ehrlich gesagt, anderer Meinung bin. Denn auch zu eSports gibt es Statistiken. Bei 400 Klicks pro Minute braucht man eine gewisse Koordination von Augen und Händen, große Konzentration und eine durchaus starke Rückenmuskulatur, um dies entsprechend machen zu können. Dort wird im Team gespielt. Es geht um Teamgeist. Es muss eine Strategie entwickelt werden. Deswegen kann man, wenn man sich das genau anschaut, schon sagen: eSport ist Sport.
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So wie der organisierte Sport darüber entscheidet, was aus seiner Sicht Sport ist, so ist es dann die Aufgabe der Politik, sich mit so einem gesellschaftlichen Massenphänomen auseinanderzusetzen und zu überlegen, welches die richtigen Rahmenbedingungen für so ein Massenphänomen sind, und eSport ist ein solches Phänomen.
Deswegen bedaure ich es schon. Ich glaube, der Deutsche Olympische Sportbund hat hier eine Chance verpasst; denn wir wollen doch, dass die Kinder und Jugendlichen in Deutschland in unsere Vereine kommen. Und wenn wir sehen, dass wir sie zwar über sportliche Angebote, aber auch über die Möglichkeit, sich in eSports zu engagieren, dazu bekommen, dann wollen wir, dass die Jugendlichen und Kinder dies in den Vereinen in Deutschland auch machen können.
In unseren Vereinen werden ja die Werte des Sports vorgelebt: Respekt, Fairness, Gemeinschaftssinn. Das ist aus meiner Sicht auch ein gesellschaftlicher Mehrwert, ein wahrer Mehrwert für unsere Gesellschaft.
Es wurde eben angesprochen: Wir haben ein Problem beim Thema Gemeinnützigkeit. – Das ist richtig. In Leipzig hat es geklappt. Da ist der Satzungszweck die sogenannte Jugendhilfe. Wir haben aber ein Problem, wenn der Satzungszweck eines Vereins Sport ist und ein solcher Verein eine eSport-Abteilung aufbauen möchte. Da hängt ein Stück weit die Gefahr der Aufhebung der Gemeinnützigkeit als eine Art Damoklesschwert über dem Verein, und wir wollen diese Rechtsunsicherheit beseitigen.
Das ist keine theoretische Diskussion. Ich kann Ihnen ein Beispiel aus meinem Wahlkreis nennen. Da gibt es den TuS Sausenheim, ein Verein mit 900 Mitgliedern. Vertreter des Vereins waren mal auf einem Abenteuerspielplatz und haben die Jugendlichen gefragt: „Würdet ihr denn zu uns kommen, wenn wir eine eSports-Abteilung hätten?“, und sie hätten von heute auf morgen 20 bis 25 Kinder und Jugendliche neu im Verein gehabt, die sie dann natürlich an ehrenamtliche Arbeit heranführen wollen. Mit ihnen soll nicht gezockt, sondern im Wettbewerb gegeneinander angetreten werden, und es soll natürlich auch um körperliche Betätigung gehen.
Ich möchte zum Schluss noch einen Punkt ansprechen: Natürlich ist die Frage nach den Spielinhalten eine, die umstritten ist und die es in der Anhörung auch zu erörtern gilt. Da müssen die Bedenken ernst genommen und diskutiert werden. Klar ist aber auch – das sage ich ganz deutlich –, dass alle Spiele durch die USK, die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle, eine Altersfreigabe erhalten. Natürlich wird auch in einem Sportverein ein 14-Jähriger kein Spiel spielen dürfen, das erst ab 16 Jahren freigegeben ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wollen dem eSport Perspektiven öffnen. Parlamentarisch gehen wir das jetzt an, heute mit dem Antrag der Grünen – herzlichen Dank! –, der sozusagen der Anlass ist, dass wir heute damit starten können, darüber zu diskutieren. Als nächster Schritt folgt die Anhörung. Ich lade alle Kolleginnen und Kollegen ein, sich hier entsprechend zu beteiligen, und dann kriegen wir ein gutes Ergebnis hin.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Joana Cotar, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Liebe Gamer! eSport, der sportliche Wettkampf zwischen Menschen mithilfe von Computerspielen, ist oft mit Vorurteilen behaftet. Gerade Menschen, die nicht spielen, wissen mit dem Thema wenig anzufangen. Der erste Gedanke geht dann oft in Richtung „der einsame Nerd im Keller bei Mama, der gefährliche Spiele zockt und Tiefkühlpizza isst“. Der Wirklichkeit und der Bedeutung des eSports wird das nicht gerecht.
Schauen wir uns die Fakten einmal an: eSport ist längst zu einem Massenphänomen geworden. Über 320 Millionen Zuschauer fiebern oft regelmäßig mit ihren Teams mit. Für das Jahr 2021 werden über 550 Millionen Zuschauer prognostiziert. Der Gesamtumsatz mit eSport wird in zwei Jahren rund 1,4 Milliarden Euro betragen, ein rasant steigender Markt.
eSport-Turniere füllen ganze Stadien. Preisgelder liegen oft in Millionenhöhe. In über 60 Ländern wird eSport von etablierten Verbänden des organisierten Sports anerkannt und teilweise vom Staat gefördert. USA, China, Russland und Großbritannien sind prominente Beispiele dafür. Bei den Asienspielen gehört er ab 2022 zum Programm. In den USA gibt es College-Stipendien, und an einigen Schulen in Norwegen ist eSport sogar Unterrichtsfach.
Deutschland ist noch nicht so weit. Aber bei uns wächst auch die Zahl der eSport-Vereine, der Gamer und der Fans. Die Electronic Sports League veranstaltet Schulmeisterschaften, um Kinder und Jugendliche im verantwortlichen Umgang mit digitalen Medien zu schulen. Auch traditionelle Sportvereine wie der FC Schalke 04 oder der VfL Wolfsburg haben die Bedeutung erkannt und haben eigene eSport-Teams.
Daher begrüße ich den Antrag der Grünen, die Förderung des eSports als Förderung der Allgemeinheit im Sinne des § 52 Absatz 2 AO anzuerkennen. Denn es geht dabei auch und vor allem um den verantwortlichen Umgang mit der digitalen Welt. Es sollen nicht nur Spaß und Zeitvertreib im Vordergrund stehen, auch soziale Dimensionen spielen eine zentrale Rolle. Kontakte zu anderen Spielern, Teamgeist, gegenseitiger Respekt, taktisches und strategisches Handeln, Disziplin, der Umgang mit Sieg und Niederlage – all das wird bei eSport trainiert. Das sind wichtige Kernkompetenzen für junge Leute.
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Für diese Kombination, für diese Vermittlung braucht es geregelte Strukturen. Beim Thema eSport sollte die Gemeinnützigkeit und nicht das Profitdenken im Vordergrund stehen; denn eSport ist vor allem auch Jugendarbeit.
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Professionelle Spieler sind oft junge Leute, für die ein betreuter Rahmen, Training und Ordnung wichtig sind.
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Ein Verein kann diese Werte des Sportes am besten vermitteln und auch den klassischen mit dem eSport zusammenbringen. Ganz nebenbei kann der eSport frischen Wind ins Vereinsleben bringen und dem Mitgliederschwund entgegenwirken. Es gilt hier, die Entwicklungen sinnvoll zu steuern und die Kinder und Jugendlichen eben nicht der Gaming-Industrie zu überlassen.
Der Deutsche Olympische Sportbund verpasst mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber eSport eine Chance, einen gesunden Einfluss auf diese Entwicklung zu nehmen. Denn natürlich gibt es auch beim eSport Probleme. Auch hier gibt es Doping, und es braucht Regeln und Präventionsmaßnahmen. Natürlich ist Sucht ein Thema. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Ihre Vorschläge – und hier zitiere ich Sie – wie beispielsweise „automatische Verlangsamungen bei langer Spieldauer“ sind schlicht absurd. Wie soll denn das aussehen? Ein 200er-Ping nach drei Stunden Spielen?
Genauso unsinnig sind Ihre Einlassungen zur Geschlechtergerechtigkeit, zu Sexismus, zu Hate Speech – NetzDG und Zensur lassen grüßen. Tun Sie uns doch einmal den Gefallen und setzen Sie Ihre ideologische Brille ab und beschäftigen Sie sich mit der Wirklichkeit.
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Die von Ihnen geforderten Social Justice Warriors werden sich in den Spielen nicht durchsetzen. Und das ist auch gut so.
Interessant finde ich Ihren Vorstoß, keine Aufteilung in Frauen- und Männerwettbewerbe vorzunehmen. Ich denke, dass genau so eine Aufteilung mehr Frauen zum Gaming bringen wird. Wenn Sie Frauen fördern wollen, dann doch so.
Für geradezu gefährlich halte ich Ihren Vorschlag, die Altersfreigabe bei eSport-Veranstaltungen aufzuweichen. Sie selbst sprechen im Antrag davon, wie wichtig effektiver Jugendschutz ist. Dann gilt das selbstverständlich auch für Veranstaltungen.
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Mir geht es darum, das Verständnis in der Gesellschaft für eSport auszubauen. Wichtig ist, dass die Spieler gefördert werden, wichtig ist die Gemeinnützigkeit, damit eSport in Vereinen rechtssicher betrieben werden kann. Und wenn Bridgeturniere Sport sind, warum dann nicht auch League of Legends oder Dota 2?
Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag das Versprechen abgegeben, eSport künftig vollständig als eigene Sportart mit Vereins- und Verbandsrecht anzuerkennen. Es ist Zeit, das Versprechen einzulösen. Die AfD stimmt der Überweisung in den Ausschuss zu. Ich freue mich auf die Diskussionen über den Einfluss der Spieleindustrie und die Differenzierung der Spiele.
Jedem, der jetzt eher den Kopf schüttelt und sich denkt „Jetzt droht der Untergang, wenn man eSport nicht ablehnt“, dem empfehle ich einmal den Besuch eines eSport-Turnieres mit Tausenden begeisterten Fans oder das kompetitive Spielen einmal selbst auszuprobieren und dann noch einmal zu urteilen.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion der SPD hat das Wort der Kollege Detlev Pilger.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident vom eSport-Bund! In der heutigen Nacht oder am frühen Morgen, je nachdem, wie man es sieht, beschäftigt uns die Frage: Wie viel Sport steckt im eSport? Im Koalitionsvertrag ist die Absichtserklärung formuliert, eSport künftig vollständig als eigenständige Sportart mit Verbands- und Vereinsrecht anzuerkennen.
Der Deutsche Olympische Sportbund hat dazu jetzt klar Stellung bezogen. Der Dachverband unterscheidet zwischen Sportsimulationen und den eGames mit Strategie- und Actionspielen. Ob nun der DOSB die Game-Szene akzeptiert oder nicht: Die junge Bewegung hat sich längst zu einem Massenphänomen entwickelt. In Deutschland gibt es laut Schätzungen 4 Millionen Gamer. Nochmals 10 Millionen Menschen interessieren sich extrem dafür.
eSport-Veranstaltungen füllen längst große Hallen. Auf großen Leinwänden wird das Spielgeschehen übertragen. Dass der DOSB zwischen Sportsimulationen und Strategie- und Taktikspielen unterscheidet, ist zwar nachvollziehbar, aber aus der Sicht des virtuellen Sports eher altbacken und rückwärtsgewandt. Andere Länder sind da viel weiter, lautet der Vorwurf.
Ich glaube, der eSport braucht den herkömmlichen Sport nicht wirklich, auch nicht die Aufnahme ins olympische Programm, die den Gamern ebenfalls noch verwehrt wird. Die Übertragungen finden bereits im Internet statt. Fernsehen und Radio werden nicht benötigt, und Sponsoren gibt es en masse.
eSport wird auch weiter stetig wachsen, ob nun durch Vereine betreut oder eben nicht. Die Frage muss lauten: Braucht der organisierte Vereinssport den Wachstumsmarkt eSport, um so zumindest den Kontakt zu diesen Kindern und Jugendlichen nicht ganz zu verlieren? Damit junge Gamer innerhalb fester Strukturen, begleitet durch verantwortungsbewusste Vereinsmitglieder, ihren Sport ausüben können, sollten Akzeptanz und Räume geschaffen werden, damit ein Teil einer neuen Jugendkulturbewegung nicht vollkommen abgehängt wird.
Mir stellt sich die Frage: Ist der Sport in unserem Land bereit, sich auf neue Entwicklungen einzulassen und zu fördern, um möglichst viele Menschen in unser gesamtgesellschaftliches System einzubinden? Hierbei spielt der Sport insgesamt eine wichtige Rolle. Das Nein des DOSB darf die Tür für den eSport nicht gänzlich verschließen, und die Verantwortlichen sollten ihre Entscheidungen nochmals überdenken.
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Die diesjährige Game-Messe in Köln war so gut besucht wie noch nie. Zigtausende junge Leute interessierten und begeisterten sich für die neuen Trends und sind aus der Szene nicht mehr wegzudenken. Also, ob nun als Sportart offiziell anerkannt oder nicht: Das Massenphänomen eSport wird sich nicht aufhalten lassen.
Vielen Dank, und ich wünsche Ihnen allen eine gute Nacht.
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Noch nicht, Herr Kollege. Denn jetzt hat das Wort die Kollegin Britta Dassler.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Abschluss des Koalitionsvertrages hat viel Zustimmung in der eSport- und Gaming-Szene hervorgerufen. Doch die im Koalitionsvertrag gemachten Versprechen sind bisher noch nicht umgesetzt worden. Die Koalition versprach, eSport künftig vollständig als eigene Sportart mit Vereins- und Verbandsrecht anzuerkennen und bei der Schaffung einer olympischen Perspektive zu unterstützen. Doch wie das bei dieser Regierung im Moment ja so üblich ist, ist seit der Absichtserklärung leider nicht viel passiert,
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weil man vor allem mit sich selber beschäftigt war und immer noch ist.
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Auf unsere Kleine Anfrage vom August dieses Jahres zur Anerkennung des eSports erinnert sich die Bundesregierung an das Prinzip der Verbandsautonomie und die Autonomie des Sportes und musste dann kleinlaut einräumen, dass die Anerkennung als Sportart ja gar nicht in ihre Kompetenz fällt. Zuständig für die Anerkennung ist allein der Deutsche Olympische Sportbund, meine Damen und Herren.
Auch in den Bereichen, in denen die Bundesregierung eigentlich eindeutig die Kompetenzen hat, ist sie zu zögerlich, etwa wenn es um die Gemeinnützigkeit geht. Wenn die Bundesregierung ihren Koalitionsvertrag ernst nehmen würde, hätte sie schon längst die Gemeinnützigkeit des eSports in Angriff genommen.
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Warum ist also nichts passiert?
Anders geht es doch manchmal auch: In der Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage vom August sah die Bundesregierung noch keine Probleme hinsichtlich der Visa von eSportlern. Im September allerdings hat das Auswärtige Amt jetzt mit seinem neuen Visumhandbuch die Einreise von eSportlern deutlich erleichtert.
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Aber die Lösung geht leider nicht weit genug. Ausländische eSportler zum Beispiel können nicht fest in ein deutsches Team mit Sitz in Deutschland integriert werden. Es zeigt sich also auch im Bereich des eSportes, dass Deutschland unbedingt ein modernes Einwanderungsrecht braucht.
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Der Antrag der Grünen geht daher in die richtige Richtung, und wir freuen uns schon sehr auf die gemeinsamen Beratungen im Sportausschuss, um den eSport in Deutschland voranzubringen. Der weltweite Umsatz des eSports wird auf bis zu 700 Millionen Euro geschätzt. Die jährliche durchschnittliche Wachstumsrate beträgt weltweit in den nächsten fünf Jahren geschätzte 22 Prozent.
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Das heißt, der Umsatz des eSports in Deutschland wird bald anderen Sportarten wie Handball – circa 100 Millionen – oder Eishockey – circa 110 Millionen – den Rang ablaufen.
Der eSport ist schon längst kein Nischenphänomen mehr, sondern begeistert die Massen – Massen von jungen Leuten –, und eSports-Veranstaltungen füllen mit Tausenden begeisterten Zuschauern ganze Arenen und Stadien. Und auch bei Internetübertragungen erreichen eSport-Events schon Reichweiten traditioneller Großveranstaltungen. 2016 schauten zum Beispiel 43 Millionen Menschen online das League-of-Legends-World Championship-Finale. Das entscheidende siebte Finalspiel der NBA sahen dagegen nur 31 Millionen Menschen.
Wir haben es also beim eSport mit einer disruptiven, neuen Sportart zu tun; eSport ist Wettkampf von hochprofessionalisierten Teams und Spielern. Mittlerweile gründen sehr viele traditionelle Sportvereine eSport-Abteilungen. Dabei haben wir, wie in anderen Bereichen der Digitalisierung in Deutschland, jetzt die Wahl, meine Damen und Herren, aktiv an dieser Entwicklung teilzuhaben und damit die Rahmenbedingungen für eine gute Entwicklung des eSports in Deutschland zu schaffen oder wieder einmal abzuwarten, bis andere Länder und Regionen uns auch bei dieser Entwicklung wieder abhängen.
Wir Freien Demokraten unterstützen den eSport und die Gaming-Szene in Deutschland und fordern von der Bundesregierung, unverzüglich die Rahmenbedingungen so zu schaffen, damit Deutschland als Gaming- und eSport-Standort an dieser Entwicklung endlich teilhaben kann.
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Gaming und eSport sind Kulturgut, Bildungswerkzeug und Innovationstreiber. Wenn wir im eSport und der Anerkennung als Sport vorangehen, setzen wir ein gutes Zeichen für die gesamte Game-Industrie und unseren Standort Deutschland.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Petra Sitte, Fraktion Die Linke.
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Moin, Moin, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Virtuelles und Analoges miteinander verschmelzen, entstehen bekanntermaßen neue Lebenswelten. Das mag auf einer Metaebene vollkommen unumstritten sein. Wenn man es aber dann konkret betrachtet, wie beispielsweise beim eSport, zeigen sich verblüffend viele blinde Flecken.
Umso erstaunter – man kann es gar nicht oft genug wiederholen – war ich, als ich dann im Koalitionsvertrag gelesen habe – die Kollegin hat auch schon darauf hingewiesen –, eSport solle „künftig vollständig als eigene Sportart mit Vereins- und Verbandsrecht“ anerkannt und „bei der Schaffung einer olympischen Perspektive“ unterstützt werden. Dann habe ich mir gedacht: Na ja, okay, dann sind ja alle Messen gesungen. Da musst du dich nicht so reinhängen, dafür musst du dich nicht heiß machen. Es ist ja alles klar; die Koalition wird es schon richten.
Das ist aber doch eher ein Trugschluss gewesen, weil es dann relativ lange ruhig war. Wir wissen zwischenzeitlich, warum es relativ lange ruhig war: weil nämlich der DOSB zwischenzeitlich daran gearbeitet hat, seine Position auszuarbeiten und dann eben auch vorzulegen. Die Position des DOSB widerspricht nun aber in großen Zügen dem Koalitionsvertrag. Und nun wird es doch wieder spannend.
Ich komme aus einem Land, Sachsen-Anhalt, in dem wir – in Magdeburg – den größten eSport-Verein Deutschlands haben. Das sollte man nicht denken. Es sind total toughe Jungs und Mädels, die sich dort regelmäßig treffen und spielen. Die sagen natürlich: Was macht ihr da eigentlich? Schaut euch doch an, wie wir uns hier regelmäßig treffen! Hier findet genau das Verbands- und Vereinsleben statt, das auch sonst im Sport stattfindet.
Nun frage ich mich: Bleibt die Bundesregierung bei ihrer Sichtweise, die sie im Koalitionsvertrag aufgeschrieben hat, oder geht sie jetzt den Weg der Auseinandersetzung, folgt sie dem DOSB, was sich über Jahre hinziehen kann, usw. usf.? Wir glauben, dass es notwendig und richtig ist, sich relativ schnell zu entscheiden. Man kann sich auch Fristen setzen und über die Anerkennung des eSports als Sport relativ schnell entscheiden, um Klarheit zu schaffen, um Verlässlichkeit zu schaffen.
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Jetzt dem DOSB zu folgen und es auf die Ebene der Verbände der einzelnen Sportarten zu delegieren, finde ich – das muss ich sagen – unfair. Am Ende kommt dabei nämlich heraus, dass sich unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten und Entwicklungswege ergeben. Nun muss das nicht per se schlecht sein. Es würde aber bedeuten, dass die eSportler in den einzelnen Ländern ständig mit den Einzelverbänden verhandeln müssen, und das halte ich für wenig sinnvoll.
Die zweite zentrale Frage ist hier auch schon angesprochen worden, nämlich die der Gemeinnützigkeit. Hier hätte die Bundesregierung, insbesondere mit Blick auf die breitensportliche Entwicklung, längst initiativ werden können. Sie hätte mit den Ländern Möglichkeiten zur Änderung des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung besprechen können. Man hätte ja auch ein Interesse an einer einheitlichen Rechtsanwendung.
Hierzu muss ich sagen: Die Regelung, die im Detail festlegt, was gemeinnützige Zwecke innerhalb und außerhalb des Sportes sind, ist in sich nicht konsistent – das muss man in diesem Zusammenhang spiegeln –: Ballonfahren ist gemeinnützig, Skat ist nicht gemeinnützig, Eisenbahnmodellbau ist es wiederum, Münzsammeln ist es nicht, Schach ist gemeinnützig, Dart und Billard sind anerkannt. Man mag das für sinnvoll oder nicht sinnvoll halten, aber es wird so gehandhabt. Deshalb sage ich: Man muss sich den neuen Entwicklungen öffnen. Wir haben jetzt auch Drohnenrennsport. Damit müssen wir ebenfalls umgehen, demzufolge auch mit der Entwicklung im eSport. Es lässt sich hier schlecht mit einzelnen Finanzbehörden in den Ländern verhandeln, wenn es nicht wenigstens eine klare Regelung oder eine Übereinkunft zwischen den Bundesländern gibt, um die Rechtsunsicherheiten für die Vereine zu reduzieren.
Zuletzt will ich sagen: Lassen Sie uns auf Augenhöhe mit den Akteuren sprechen, lassen Sie uns mit den Verbänden sprechen, lassen Sie uns um Gottes willen nicht zu früh die Türen zuschlagen. Ich finde, der bündnisgrüne Antrag bietet da einen guten Anlass und einen guten Inhalt.
Danke.
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Vielen Dank. – Die letzten beiden Reden , die Reden von von Kai Whittaker und Saskia Esken, gehen zu Protokoll.
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Ich gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden sind.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/5545 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.